John Maynard Keynes als »Psychologe« [1 ed.] 9783428413423, 9783428013425

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John Maynard Keynes als »Psychologe« [1 ed.]
 9783428413423, 9783428013425

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G. Schmölders - R. Sehröder - H. St. Seidenfus

John Maynard Keynes als "Psychologe"

John Maynard Keynes als "Psychologe"

Von

G. Schmölders - R. Sehröder - H. St. Seidenfus

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1956 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1956 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin SW 29

Inhaltsverzeichnis G. Sdlmölders, J. M. Keynes' Beitrag zur .,ökonomisdlen Verbaltensforsdlung" I. Der Ausgangspunkt: Die Ungewißheit der Zukunft . . . . . . . . . . . . . .

8

II. Menschliche Verhaltensweisen als Daten im Wirtschaftsablauf . . . .

11

III. Keynes und Marshall: ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

IV. Verhaltensforsdlung als Ergänzung der Wirtschaftstheorie . . . . . .

18

R. Sduöder, J. M. Keynes als .. Psydlologe" I. Psychologisches in der bisherigen Wirtschaftstheorie II. Wirtschaftstheorie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 28

III. Die Frage der ökonomischen Motive auf dem Hintergrund der 35 psychologischen Triebtheorien IV. Die Bedeutung der Institutionen für die Klärung der Frage nach den ökonomischen Motiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 V. Der Ort der "psychologischen" Annahme im Gesamtsystem von J. M. Keynes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 VI. Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung . .

54

VII. Das sogenannte "Fundamentale Psychologische Gesetz" . . . . . . . .

72

VIII. Die von Keynes angeführten ökonomischen Motive . . . . . . . . . . . . . .

81

1. Motive von Einzelnen: Die subjektiven Antriebe, die zum

Sparen und Konsumieren veranlassen 2. Motive und Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 85

IX. Zusammenfassung der Resultate der Auseinandersetzung mit den 89 "psychologischen" Annahmen von Keynes

H. SL Seldenfus, Zur Theorie der Erwartungen 97

Vorbemerkung

I. Die Rolle der Erwartungen in den ökonomischen Theorien . . . . . . 100 1. Die Erörterung bis zu Keynes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

2. Das Problem der Erwartungen bei Keynes . ............. .. . . 104 3. Auf dem Wege zu einer Theorie der Erwartungen

. . . . . . . . . . 110

II. Das Phänomen der Erwartungen (Ein Beitrag zur Sozialpsychologie der Wirtschaftssubjekte) ................. . . .. . . ......... .. .. 126 1. Der Begriff der Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

2. Die Erwartungen als institutionell gebundene, sozialpsycholo-

gische Komponente menschlichen Handeins ....... .. : . . . . . . 132 3. Die institutionelle Gebundenheit der Erwartungen . . . . . . . . . . 147

ur.

Schluß

153

Literaturverzeichnis

159

N amensverzeidlnis

163

Sachverzeidlnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

J. M. Keynes' Beitrag

zur "ökonomischen Verhaltensforschung" G.Schmölders Am 21. April 1956 jährt sich der Todestag von J. M. Keynes zum zehnten Male; die "Keynes-Revolution", der neue Start ökonomischen Denkens, der 1936 mit seiner "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" begann, liegt über zwei Jahrzehnte zurück. Wie die Londoner "Times" in ihrem Nachruf schrieb, muß man bis zu Adam Smith zurückgehen, um einen Nationalökonomen von vergleichbarem Einfluß auf das Denken seiner Zeit zu finden; Keynes selbst nannte seine "Allgemeine Theorie" einen Überfall auf den Leser, einen Kampf um Befreiung von gewohnten Formen des Denkens und des Ausdrucks, und bekannte: "Ich selbst habe mich während vieler Jahre mit Überzeugung an die Theorien gehalten, die ich jetzt angreife." Aber es ging ihm darum, "die tiefen Meinungsverschiedenheiten" zur Entscheidung zu bringen, "die zur Zeit den praktischen Einfluß der wirtschaftlichen Theorie fast zerstört haben und dies weiterhin tun werden, bis sie gelöst sind"; und er betonte: ,.Die umstrittenen Gegenstände sind von einer Wichtigkeit, die nicht überschätzt werden kann1 ."

Über die "Neue Wirtschaftslehre", die aJUS dieser Revolution des ökonomischen Denkens entstanden ist, gibt es inzwischen eine unübersehbare Literatur. Die Spezialisierung, die, wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen, heute auch in den Staats- und Sozialwissenschaften Platz gegriffen hat, spiegelt sich in der Tatsache wider, daß die neuen Gedanken, mit denen Keynes diese Wissenschaften befruchtet hat, überwiegend mehr im Rahmen ihrer engeren fachlichen Spezialproblematik als vom methodischen Standpunkt aus behandelt wurden, und vollends die Praxis der Finanz- und Wirtschaftspolitik begnügte sich meist durchaus mit ihren Folgerungen, ohne viel nach ihren Voraussetzungen zu fragen. 1

Keynes, J . M., IV, (Vorwort zur englischen Ausgabe).

8

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

Keynes' Eintreten für einen niedrigen Zinsfuß hat die Geld- und Kreditpolitik vieler Länder lange Jahre hindurch im Sinne einer Rechtfertigung der Politik des "billigen Geldes" beeinftußt, seine Lehre von der "Nachfragelücke", die durch die Ausgabenpolitik der öffentlichen Hand geschlossen werden könne und müsse, hat der Finanzpolitik der ersten Nachkriegszeit unverkennbar ihren Stempel aufgeprägt, und die Wirtschaftspolitik des kriegswirtschaftlichen "New Deal" und "Fair Deal" ist nicht mit Unrecht geradezu als Versuchsfeld Keynes'scher Gedanken bezeichnet worden. Die Statistik des Volkseinkommens und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen hat von den Keynes'schen Begrüfen und Grundgleichungen profitiert, die Geldtheorie ebenso wie die Konjunkturtheorie, die in weiten Bereichen schlechthin zur "Beschäftigungstheorie" umformuliert wurde; die Außenhandels- ebenso wie die Preis- und Wertlehre, die Kapital- und Zinstheorie, die Lohntheorie und die Finanzwissenschaft sind durch Keynes bereichert und zu erneutem Durchdenken der Zusammenhänge herausgefordert worden, aber sein neuer methodischer Ansatz hat wenig Beachtung gefunden. Dabei ist es Keynes, im ganzen betrachtet, ungeachtet des ungeheuren Widerhalls, den s.e ine Gedanken allenthalben ausgelöst haben, kaum sehr viel anders gegangen, als er es von jenen Kritikern befürchtete, die "zwischen d er Überzeugung schwanken, daß ich völlig im Unrecht sei, und der Überzeugung, daß ich nichts Neues sage", während es sein Anliegen war, seine Fachkollegen dazu zu bewegen, "gewisse ihrer grundlegenden VoraussetZllll1gen kritisch zu überprüfen; ... wenn die orthodoxe Wirtschaftslehre auf falscher Fährte ist, so liegt der Fehler nicht im Überbau, der mit großer Sorge für logische Geschlossenheit errichtet ist, sondern in einem Mangel an Klarheit und Allgemeingültigkeit in den Voraussetzungen2".

I. Der Ausgangspunkt: Die Ungewißheit der Zukunft Darüber, welches die grundlegenden Voraussetzungen waren, um deren Revision es ihm ging, hat sich Keynes in der großen Debatte um seine "General Theory" im "Quarterly Journal of Economics" im Februar 1937 selbst geäußert; die herrschende Lehre gehe von einem Wirtschaftsablauf aus, in dem alle ökonomischen Größen und sonstigen maßgebenden Faktoren als bekannt vorausgesetzt würden, während die wirtschaftenden Menschen in Wirklichkeit "kaum eine vage Vor2

Keynes, J . M., IV, a.a.O.

Der Ausgangspunkt: Die Ungewißheit der Zukunft

g

stellung auch Il!Ur von den nächstliegenden Folgen ihres Handelns" besäßen. "Der Zwang zum Handeln und zu Entscheidungen alle1 Art veranlaßt uns als praktische Leute, dies·e peinliche Tatsache z.u übersehen und uns genau so zu verhalten, als ob wir im Besitz einer vollgültigen Bentham'schen Bilanz aller zu erwartenden Vor- und Nachteile mit allen ihren Wahrscheinlichkeitskoeffizienten wären, die es nur noch zu saldieren geltes." Er klagte die klassische Schule an, daß ihre Theorie nichts anderes sei "als eine hübsche, glatte Technik, die die Gegenwart ohne Rücksicht darauf zu erklären versucht, daß wir über die Zukunft sehr wenig wissen. . . . Die Hypothese, die Zukunft sei berechenbar, führt zu einer falschen Deutung der Verhaltensmaximen, die der Zwang 7ltlm Handeln uns aufnötigt, und zu einer Vernachlässigung der verborgenen Einflüsse des Zweifels, der Unsicherheit, der Hoffnung und der Furcht4 ". Keynes hat sich mit der "Ungewißheit der Zukunft" in jüngeren Jahren sehr gründl;clJ. beschäftigt; seine Preisschrift über Wahrscheinlichkeitsrechnung (1921) ist 1926 auch in deutscher Sprache erschienen5 . In dieser Schrift setzte er sich, durch Leibniz {de incerti aestimatione, 1678) dazu angeregt, insbesondere auch mit den Erwartungen ("mathematical expectation") auseinander, die er von dem wissenschaftlichen Studium des Spiels herleitet und als das Produkt aus dem möglichen Gewinn und der Wahrschdnlichkeit bezeichnet, ihn zu erreichen: "Wenn wir einen Maßstab dafür erhalten wollen, was wir im Hinblick auf verschiedene alternative Handlungsverläufe tun sollen, dann müssen wir für jeden Handlungsverlauf eine Serie von Größen aufstellen, die den Aufwand ausdrücken, der zu den einzelnen möglichen Ergebnissen des Handlungsverlaufs notwendig ist, und jede mit der ihr angemessenen Wahrscheinlichkeit multiplizieren&.'' Seine Auseinandersetzung mit dieser Theorie, in der er sich u. a. unter Hinweis auf das "Risiko", mit dem alle menschlichen Handlungen behaftet sind, vornehmlich gegen eine numerische Auswertung der "mathematical expectation" zugunsten des mehr symbolischen Charakters der mathematischen Zeichen wendet, hat später in der "Allgemeinen Theorie" ihren logischen Niederschlag gefunden; es lag für ihn Keynes, J . M., V. Keynes, J . M., V. Keynes, J . M., I. 6 Keynes, J. M., I, S. 311 ff. "In order to obtain, therefore, a measure of what ought to be our preference in regard to various alternative courses of actlon, we must sum for each course of action a series of terms made up of the amounts of good which may attach to each of its possible consequences, each multiplied by its appropriate probability". 3

4 5

10

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

nahe, seine Kritik am klassischen Schema der Wirtschaftstheorie an dieser Stelle anzusetzen und hler, im Gegensatz noch zu seinem Buch über das Geld, "das wirtschaftliche Verhalten der Gegenwart unter dem Einfluß sich ändernder Vorstellungen über die Zukunft zu analysieren", wie das Vorwort hervorhebt. Für eine "Theorie der Zukunft", nicht nur der Gegenwart, .bedürfe es aber einer Deutung des wirtschaftlichen Verhaltens der Menschen, die von "unbestimmten angstvollen Befürchtungen" und ebenso unbestimmten "grundlosen Hoffnungen" beseelt sind, die .beide "kaum eingelullt knapp unter der Oberfläche ihres Verhaltens lauern7". Diese Imponderabilien, von denen die bisherige Wirtschaftstheorie nichts wissen wollte, erscheinen jetzt unvermittelt als selbständige Daten im Wirtschaftsablauf; das Menschlich-Allzumenschliche kommt zu seinem Recht. Die neuen Begriffe, die Keynes in diesem Zusammenhang in die Wirtschaftstheorie einführt, tragen Namen wie "Erwartungen", "Vorausschätzungen", "Ungewißheit", "Risiko", "Liquiditätsvorliebe" und "Hang zum Verbrauch"B; er spricht von einem "fundamentalen psychologischen Gesetz'' und von der "Eigenart der menschlichen Natur'', die rz:u spontaner Aktivität um des bloßen Handeins willen neige, ja er geht so weit, auf diesen "spontaneous urge to action rather than inaction", die meisten (!) unserer zukunftsbezogenen Entschlüsse zurückzuführen, "während wir so tun, als lägen unserem Handeln gesicherte Ergebnisse sorgfältig abgewogener Wahrscheinlichkeitsberechnungen zugrunde". Mit dem Problem der "Erwartungen", dem theoretischen Ort der sich aus der Ungewißheit der Zukunft ergebenden Einflüsse auf den Wirtschaftsablauf, beschäftigt sich ein anderer Beitrag dieses Sammelbandes ausführlich9 • Vor Keynes und seit Keynes hat die Wirtschaftstheorie mit diesem Problem gerungen, dessen Bedeutung als Grundvoraussetzung ihrer Modelle erst verhältnismäßig spät erkannt worden ist; in der heutigen Wirtschaftswelt mit ihren unabsehbaren Bedrohungen und ungeahnten Möglichkeiten tritt die Ungewißheit der Zukunft imKeynes, J. M., V. Das der deutschen Ausgabe des Beschäftigungsbuches beigegebene Vokabularium nennt als ständig wiederkehrende Ausdrücke für psychische Vorgänge u. a. Bearishness (Baissestinunung), Confidence, Disposition (to save), Elasticity (of demand), Expectation, lncentive, Inducement (to inflation), Motive (of enterprise, of liquidity, of improvement), Precautionary motive, Preference (Liquidity, Time), Propensity, (to save, to hoard, to consume), Prospective yield, Prudence (flnancial), Readiness (to save, to spend), Sacrifice, Security motive), Speculative motive, State of expectation, Utility, Waiting (supply u . demand for) u. a. m. • Vgl. unten S. 97 ff. 1

8

Menschliche Verhaltensweisen als Daten im Wirtschaftsablauf

11

mer mehr in die vorderste Reihe der Probleme, mit denen sich eine realistische Wirtschaftstheorie auseinanderzusetzen hat. Der Versuch, dieses Probl-em durch hypothetische Formeln, abstrakte Quantifizierung oder funktionelle Datensetzung zu bewältigen, scheitert an der realen Aufgabe, die wirklichen Ursachen, Triebkräfte und Strebungendes menschlichen Verhaltens zu erkennen, mag es sich um das Verhalten der Unternehmer, der Sparer, der Käufer oder der Politiker handeln, um den sozialen und institutionellen Rahmen, in dem es sich vollzieht, oder um den Anteil irrationaler Elemente traditioneller, emotionaler oder intellektueller Natur, die daran mitwirken; es bedarf einer grundlegend neuen, anthropologisch-sozialpsychologischen Deutung des menschlichen Verhaltens, um der Lösung dieser Aufgabe näherzukommen, einer Deutung, wie sie in der Forderung nach einer "ökonomischen Verhaltensforschung" an anderer Stelle skizziert worden ist1o. In unserem Zusammenhang kann auf die methodischen Ansätze, die diese Arbeitsrichtung bei Keynes trotz aller notwendigen Vorbehalte finden kann und finden sollte, nur in aller Kürze zusammenfassend eingegang€71 werden; Sache der weiteren Keynes-Forschung muß es sein, den Anregungen, die der "ökonomischen Verhaltensforschung" in seinem Lebenswerk geboten werden, im einzelnen näher nachzugehen.

II. Menschliche Verhaltensweisen als Daten im Wirtschaftsablauf Bildet die "Ungewißheit der Zukunft" den Ausgangspunkt für die neuartige Relativierung der Grundvoraussetzungen des Wirtschaftsablaufs, von denen später noch zu sprechen sein wii'd, so ist die "Theorie der Erwartungen", die diese Ungewißheit zu bewältigen sucht, keineswegs der einzige Beitrag der "Allgemeinen Theorie" zur ökonomischen Verhaltensforschung in der Richtung einer Suche nach soziologischen, psychologischen und sonstigen anthropologischen Erklärungen für das Handeln wirtschaftlich tätiger Menschen. "Keynes, en effet, a largement ouvert la voie aux sciences de l'homme, par les perspectives qu'il a decouvertes. Son oeuvre, dans le domaine qui nous interesse, apparait comme une ,transition' entre l'ancienne psychologie empirique des economistes et la nouvelle economic qui s'appuie sur la psychologie scientifique11." 10

11

Schmölders, G., I.

Reynaud, P. C., Il.

12

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

Diese Zwischenstellung der Keynes'schen Verhaltenslehre, zwischen der schematisierenden Empirie der "klassischen" Wirtschaftstheorie und der Anwendung gesicherter Er,gebnisse der modernen wissenschaftlichen Psychologie, wird in dem folgenden Beitrag zu diesem Sammelband vom Standpunkt der Psychologie aus kritisch gewürdigt. Die als "psychologisch" bezeichneten Bemerkungen Keynes sind danach nicht viel mehr als literarische Verarbeitungen subjektiv-er Eindrücke "vorwissenschaftlicher" Art; sie sind weder Resultate methodischer Untersuchungen mit den analytischen Werkzeugen der wissenschaftlichen Psychologie, noch lassen sie sich mit ihren Maßstäben messen oder in ihre Kategorien einordnen. Insbesondere das "fundamentale psychologische Gesetz", das eine so zentrale Rolle im System seiner Beschäftigungstheorie spielt, ist keinem Psychologen der Welt bekannt oder auch nur verständlich, zumal es eine gänzlich "monothematische" Triebstruktur der Verbraucher und Sparer voraussetzt, deren geniale Einseitigkeit selbst die Freud'sche Libidokonzeption in den Schatten stellt; die "Liquiditätsvorliebe", der "Hang zum Verbrauch", die "generelle Kurzsichtigkeit" der "Spekulanten" im Vergleich mit der "Voraussicht" der "Investoren" und viele andere als "psychologisch" etikettierte Antriebe seiner Wirtschaftsmenschen sind nichts weiter als Verallgemeinerungen von subjektiven Eindrücken des welterfahrenen Fünfzigers, der es verschmähte, von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Psychologie, ja sogar wichtiger Teile der außerenglischen Nationalökonomie und Soziologie überhaupt Kenntnis zu nehmen12. Diese bedenkenlose Mißachtung der Arbeitsmethoden und Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie, deren bloßer Name dazu herhalten mußte, kühne Verallgemeinerungen höchst subjektiver Eindrücke zu decken, erklärt sich aus dem guten Gewissen eines Mannes, der sich bewußt war, wirklich etwas Neuesund Wesentliches zum Thema sagen zu können, und der sich nicht damit abgeben mochte, literarische Nachweise für die Richtigkeit dessen beizubringen, was ihm als Lösung vieler bisher ungelöster Rätsel der Wirtschaftstheorie unmittelbar einsichtig erschien; mochten sich andere, mochten sich die Epigonen und späteren Generationen um die Verifizierung seiner Einsichten bemühen, wenn diese nur erst einmal im Zusammenhang dagestellt und vor12 "As is generally recogn1zed, Keynes was inclined to exaggerate the novelty of bis approach. Hansen has striven for a rehabilitation of neglected authors and mentions, among others, the contributions by Aftalion, J. M. Clark, Spiethoff and Tugan-Baranowsky of which Keynes said nothing ... . It was not necessary at all for Keynes to turn to Mandeville, Silvio Gesell, Major Douglas or Hobsan in order to receive support for his ideas." (H. Hegeland in einer Besprechung von A. H. Hansens "Guide to Keynes" in Kyklos, Bd. VI, 1954.)

Menschliche Verhaltensweisen als Daten im Wirtschaftsablauf

13

getragen waren. Seine Liebe galt unter den Forschern nicht den korrekten Federfuchsern, sondern denen, "die, indem sie ihren Eingebungen folgten, es vorzogen, lieber die Wahrheit unklar und unvollständig zu sehen, als Irrtum aufrechtzuerhalten, der zwar mit Klarheit, Konsequenz und billiger Logik erreicht würde, aber auf Grund von Hypothesen, die den Tatsachen nicht angepaßt waren13". Keynes folgte selbst ebenfalls seinen "Eingebungen", wenn er zahlreiche vom hedonistischen Grundkonzept der früheren Wirtschaftslehre abweichende menschliche Verhaltensweisen in den Datenkranz der ökonomischen Theorie einreihte, und er nahm es .in Kauf, "die Wahrheit unklar und unvollständig zu sehen", wenn seine Hypothesen dafür den Tatsachen entsprachen; in dri.esem Sinne ist sein Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung zu verstehen. Sein sogenanntes "fundamentales psychologisches Gesetz", ·n ach dem "die Menschen in der Regel und im Durchschnitt geneigt sind, ihren Verbrauch mit der Zunahme ihres Einkommens zu vermehren, aber nicht im vollen Maße dieser Zunahme"14, begründet er lediglich mit der allgemeinen Lebenserfahrung; es erscheint ihm als ein "technisches Gesetz, auf das wir uns von vornherein sowohl auf Grund unserer Kenntnis der menschlichen Natur als auch der einzelnen Erfahrungstatsachen mit großer Zuversicht stützen können15". Keynes kannte die "Natur des Menschen" und zögerte nicht, von dieser Kenntnis auch für die Erklärung ihres wirtschaftlichen Verhaltens Gebrauch zu machen; er sprach von der Macht der Gewohnheit als einer psychischen Eigenart der Verbraucher und als Beweggrund für ihr Handeln, andererseits von dem "angeborenen Drang zur Tätigkeit, der die Räder in Bewegung setzt"16 und von den "animal spirits", die der Unternehmungslust zugrunde liegen und für den "spontanen Optimismus" verantwortlich sind, der der Entschlußkraft d er wirtschaftlich tätigen Menschen zur Hilfe kommt, "so daß der Gedanke eines schließliehen Verlustes, der Wegbereiter, wie die Erfahrung unzweifelhaft uns und sie lehrt, oft befällt, beiseite geschoben wird wie von einem gesunden Menschen der Gedanke an den Tod. . . . In der Schätzung der Aussichten einer Investition müssen wir daher die Nerven und die Hysterien, sogar die Verdauung und die Wetterabhängigkeit jener berücksichtigen, auf deren plötzliche Tätigkeit sie zum großen Teil angewiesen ist17". 1s 14 15

1a 17

Keynes, Keynes, Keynes, Keynes, Keynes,

J. J. J. J. J.

M., IV, S. 313. M., IV, S. 83. M., IV, S. 83. M., IV, S. 137. M., IV, S. 137.

14

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

Dieser Rückgriff auf irrationale menschliche Verhaltensweisen erspart Keynes manche theoretische Ableitung, auf die die ältere und neuere Wirtschaftstheorie viel Fleiß und Mühe verwendet hatte; derartige Verhaltensweisen treten als neue, zusätzliche Daten in einem Wirtschaftsablauf ein, der im Ganzen dennoch im Sinne einer makroökonomischen Eigengesetzlichkeit verläuft. Mit Recht rühmt J. Schumpeter die glänzende theoretische Leistung, die Keynes "mit so behelfsmäßigen Werkzeugen" wie der Verbrauchsfunktion, der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und der" Liquiditätspräferenz" geschaffen hat. Keynes bietet keine zusammenhängende Wirtschaftspsychologie; der Gesamtzusammenhang des Wirtschaftsgeschehens bleibt bei ihm vielmehr durchaus ökonomisch determiniert. Im Gegenteil sind die zahlreichen, über den ganzen Gedankengang verstreuten Hinweise auf menschlichallzumenschliche Verhaltensweisen der wirtschaftlich tätigen Menschen untereinander vielfach zusammenhanglos und sogar widerspruchsvoll; man hat den Eindruck, daß das Psychologische immer dann als Erklärungsgrund herangezogen wird, wenn die Wirklichkeit mit dem Schema des Rationalverhaltens der Wirtschaftssubjekte zu kollidieren droht. Von den Erwartungen war schon mehrfach die Rede; das "Bündel unbestimmter und verschiedener Möglichkeiten", die den von Keynes sogenannten "Erwartungszustand" des Unternehmers ausmachen, umfaßt keineswegs nur psychische Faktoren in der Brust des Unternehmers, sondern auch sedne Einschätzung der Verhaltensweise seiner Abnehmer, Arbeiter und Lieferanten. So kommt es zu einer zweiten Ebene Keynes'scher "Psychologie"; der "Hang zum Verbrauch" wird neben sechs objektiven durch acht subjektive Faktoren bestimmt, die sich in d.em Verhalten der Verbraucher niederschlagen, sowie durch die entgegengesetzt wirkenden Antriebskräfte der "Liquiditätsvorliebe" mit ihren vier Motiven "Vorsicht", "VoraU.9Sicht", "Berechnung" und "Verbesserung". Die Motive "Unabhängigkeit", "Unternehmungslust", "Stolz" und "Geiz" kämpfen auf dieser Ebene mit "Genußstreben", "Kurzsichtigkeit", "Freigebigkeit", "Fehlrechnung", "Prahlerei'' und "Verschwendung"; das "Einkommens-" und das "Geschäftsmotiv" tritt dem "Vorsichts-" und "Spekulationsmotiv" gegenüber, wahrlich eine reichhaltige Blütenlese von Psychologismen, die eklektisch aneinandergereiht sind, wie das logische Bedürfnis des Ökonomen sie benötigt, aber keine zusammenhängende oder gar systematische Psychologie im wissenschaftlichen Sinne; Keynes war nicht "Psychologe", aber er erkannte die ausschlaggebende, ökonomisch relevante Rolle der menschlichen Verhaltensweisen, die er freilich noch ganz subjektiv-vorwissen-

Keynes und Marshall: ein Vergleich

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schaftlieh darstellt. Seine Art, "Psychologie" zu treiben, wird unter psychologisch-fachlichen Gesichtspunkten in dem folgenden Beitrag dieses Bandes kritisch behandelt.

111. Keynes und Marshall: ein Vergleich Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner "Allgemeinen Theorie" erwähnt Keynes Alfred Marshall, nach dessen Lehrbuch "Principles of Economics" alle zeitgenössischen englischen Ökonomen ausgebildet worden seien, und fügt hinzu: "In dieser Atmosphäre bin ich erzogen worden." Sein späterer "Abfall" von Marshall, seine "Untreue" gegenüber seinem Lehrer ist oft beschrieben worden; "nach. 1930", schreibt J. Schumpeter, "kündigte Keynes seine Gefolgschaft auf18", nicht nur gegenüber Marshall, sondern gegenüber der gesamten auf den Bahnen der Klassiker wandelnden Wirtschaftstheorie seiner Zeit, der er vorwarf, die Grundvoraussetzungen ihrer Deduktionen stimmten mit der Wirklichkeit nicht überein. Das Neue an der Keynes'schen Auffassung tritt infolgedessen besonders anschaulich hervor, wenn man diese Grundvoraussetzungen, insbesondere sein Bild vom Menschen, mit dem Marshall's vergleicht; von Marshall stammt bekanntlich die Auffassung der Wirtschaftstheorie als eines besonderen Zweiges der Psychologie, die es mit den in Geld und Geldeswert in Erscheinung tretenden und dadurch meßbaren Verhaltensweisen der wirtschaftenden Menschen zu tun habe. Über diese Vorstellung seines Lehrers ist Keynes, wie zu zeigen sein wird, in seiner Verhaltenslehre weit hinausgewachsen; das Bild von Menschen, mit dem es die Wirtschaftswissenschaft zu tun hat, unterscheidet sich bei beiden Forschern 'i n sehr charakteristischer Weise. "Economics is a study of men as they live and move and think in the ordinary business of life." So beginnt Alfred Marshall das zweite Kapitel seiner "Principles", in dem er "The Substance of Economics" behandelt19 , und er fährt fort: "But it concerns itself chiefly with those motives which affect, most powerfully and most steadily, man' s conduct in the business part of his life. Everyone who is worth anything carries his higher nature with him into business; and, there as elsewhere, he is influenced by his personal affections, by his conceptions of duty and his reverence for high ideals. And it is true that the best ener.gies of the ablest inventors and organizers of improved methods are stimulated by a noble emulation more than by any love of wealth for its own sake." 18 19

Schumpeter, J., II, S. 833. Marshall, A., Principles of Economics, ate Auflage, London 1938, S. 14.

16

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

So weit entfemt von der Fiktion des "homo oeconomicus" scheint der akademische Lehrer der Keynes-Generation; mehr als vom Streben nach W ohlstan.d "um seiner selbst willen" sind die großen Erfinder und Untemehmer von den Antriebskräften ihrer "höheren Natur" und von dem "edlen Wettstreit" befeuert, ihr Bestes zu leisten. Freilich, "the steadiest motive to ordinary business work is the desire for the pay which is the material reward of work"; "and it is this definite and exact money measurement of the steadiest motives in business life, which has enabled economics far to outrun every other branch of the study of man". Ob die Volkswirtschaftslehre den stolzen Anspruch, die exakteste der anthropologischen Wissenschaften zu sein, nach den Erfahrungen des inzwischen vergangenen halben Jahrhunderts aufrecht erhalten kann, soll hier dahingestellt bleiben; daß die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, zu den "steadiest motives in business life" gehört, kann nicht bezweifelt werden. Die Frage allerdings, ob damit bereits die entscheidende Verhaltenskonstante des wirtschaftlich tätigen Menschen erfaßt ist, hat Marshall hier weder gestellt noch beantwortet; nicht die Motive des Verhaltens, sondem nur ihre manifeste Intensität maß er an der Geldsumme, die der Mensch hinzugeben bereit ist, um ein Bedürfnis zu befriedigen, oder die ihn veranlaßt, sich einer bestimmten Arbeitsmühe zu unterziehenzo. Durch diesen Kunstgriff gelang es Marshall, die Frage nach den menschlichen Verhaltensweisen im allgemeinen und nach den mannigfaltigen Motiven des wirtschaftlichen Handeins im besonderen für die angelsächsische Wirtschaftstheorie auf viele Jahrzehnte hinaus praktisch auszuklammem. Diese ablehnende Haltung der englischen Volkswirtschaftslehre gegen die Einbeziehung des "Menschlich-Allzumenschlichen" ist um so verwunderlicher, als am Anfang der Nationalökonomie durchaus entschiedene Neigung dazu bestand, gerade die menschliche Natur zum Ausgangspunkt wirtschaftstheoretischer Gedankengänge zu wählen. Adam Smith hielt bekanntlich seine Theorie der ethischen Gefühle für wesentlich bedeutender als sein späteres wirtschaftswissenschaftliches Werk21 ; Ricardos Vorstellung vom wirtschaftenden Mensch·en fußte auf der handfesten utilitaristischen Psychologie Benthams, und der Hedonismus hat noch zu einer Zeit, als er in der Philosophie und Psychologie längst überwunden war, die Auffassungen der Ökonomen vom menschlichen Handeln maßgebend bestimmt. So baute Marshall, A., S. 15. Schachtschabel, Einführung zu A. Smith, Theorie der ethischen Frankfurt 1949. 20

21

~fühle,

Keynes und Marshall: ein Vergleich

17

Jevons die Grenznutzenlehre noch ganz auf der hedonistischen Grundvorstellung auf, daß das größte Gesamtwohl erreicht werde, wenn jedes Individuum einem Maximum an Lust oder doch einem Minimum an Unlust zustrebe. 0. Morgenstern hat darauf hingewiesen, daß es an der Sache nichts ändert, wenn man "Lust" mit "Nutzen" oder "Nutzen" mit "Ophelimität" (Pareto) oder die "Nutz.enrechnung" schlechthin mit "Rechnung" bezeichnet; und auch Alired Marshall selbst mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, er habe in seinen "Principles" lediglich das Wort "pleasure" durch "satisfaction" ersetzt, "as if such verbal changes cleaned his shirts of hedonism"22. Das Bild des Menschen, von dem die Wirtschaftstheorie Alfred Marshalls ausgeht, ist ·also das der klassischen Nationalökonomie; der wirtschaftende Mensch ist zwar von mannigfaltigen Motiven, Trieben und Regungen beherrscht, aber der dauerhafteste und stärkste Antrieb seines Alltagsstrebens ist letztlich doch "the desire for the pay which is the material reward of work". Fragt man danach, wie sich die Verhaltenslehre der Beschäftigungstheorie von dieser Vorstellung unterscheidet, so kommt man wieder auf die Erwartungen als den eigentlichen Ausgangspunkt der Keynes'schen Dynamik zurück. Nicht Preise, Gewinne, Löhne und Zinsen bestimmen bei Keynes das wirtschaftliche Verhalten der Unternehmer, Sparer und Investoren, sondern Preisund Gewinnerwartungen, Risikoerwägungen und die Furcht vor Verlusten. "Die Menge der Beschäftigung sowohl in jeder einzelnen Firma und Industrie wie auch im ganzen" stützt sich auf den Betrag des Erlöses, "den die Unternehmen von der entsprechenden Produktion zu erhalten erwarten"28. Mit der Einführung der Erwartungen, die ihrerseits wieder in kurzfristige und I.angfristige eingeteilt und in mannigfacher Weise näher qualifiziert werden, ist nun allerdings unvennerkt eine Konstante des menschlichen Verhaltens, Marshalls "steadiest motive to ordinary business work", zu einer Variablen des Wirtschaftsablaufs geworden; nicht Preise und Löhne als Resultanten aus der konstanten Verhaltensweis·e der Unternehmer, Verbraucher und Arbeiter, sondern die jeweils erwarteten Preise, Zinsen und Einkommen bestimmen bei Keynes ihrerseits das Verhalten der Wirtschaftssubjekte schon in der Gegenwart. Dem Kunstgriff seines Lehrers Marshall, die Motive wirtschaftlichen Handelns lediglich summarisch hinsichtlich ihrer Intensität an ihren meßbaren Effekten zu studieren, stellt Keynes somit den Versuch ent2!

Mitchell, W., S. 14f.

u Keynes, J. M., IV, S. 21.

2 Keynes als Psychologe

18

J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

gegen, diese Motive menschlichen Verhaltens in ihrer Abhängigkeit von den erwarteten Preisen und Gewinnen zu relativieren; sind Preise und Gewinne bei Marshall lediglich eine Folge des wirtschaftlich determinierten Verhaltens der Menschen, so findet man bei Keynes gewissermaßen eine Umkehrung dieser Beziehung insofern als Möglichkeit anerkannt, als das Verhalten im wirtschaftlich·en Bereich weitgehend von bloßen Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Preis- und Gewinnentwicklung mitbestimmt erscheint. Der Fortschritt dieser Lehre über die Marshall'sche Verallgemeinerung des Erwerbsmotivs, das sich in den Preisen und Löhnen manifestiert, so daß die menschliche Antriebsstruktur für die Wirtschaftstheorie nur noch mittelbares Interesse bietet, ist evident; über die Marshall'schen Begriffe utility und disutility, effort und sacrifice hinaus erscheint bei Keynes eine große Anzahl selbständiger Antriebe und subjektiver Motive, die das Verhalten seiner Verbraucher und Sparer, Unternehmer und Spekulanten bestimmen und seiner Beschreibung des Wirtschaftsablaufs ein hohes Maß an Lebensnähe verleihen. Nur ist natürlich mit dieser Relativierung der Grundvoraussetzungen der Bereich der ökonomischen Theorie verlassen, die auf Grund einiger weniger Konstanten ein einheitliches Bild von dem gesamten Wirtschaftsablauf aufgebaut hatte; mit der Idee des "homo oeconomicus" steht und fällt die ökonomische Theorie als solche, um einer anthropologisch-sozialpsychologischen Theorie des Gesamtverhaltens der in die Institutionen des wirtschaftlichen Lebens eingespannten Menschen und Gruppen Platz zu machen. Für eine solche Theorie des menschlichen Verhaltens reichen nun allerdings die eklektisch herbeigezogenen unverbunden nebeneinandergestellten Antriebe und Motive des Keynes'schen "Systems" keineswegs aus; lehrte Marshall noch "Wirtschaftstheorie", so gehört die Keynes'sche Beschäftigungstheorie streng genommen nicht mehr in diesen Bereich, aber auch nicht in den der Soziologie oder Sozialpsychologie, deren Kategorien von Vorstellungen über das Gesamtverhalten der Menschen als solcher, nicht über vereinzelte Handlungsweisen und Verhaltensmotive "der" Sparer, "der" Unternehmer und "der" Spekulanten bestimmt sind.,

IV. Verhaltensforschung als Ergänzung der Wirtschaftstheorie Über den punktuellen, eklektischen Psychologismus, in den sich der Marshall'sche Grundgedanke bei Keynes verwandelt hat, kann nur eine entschlossene Hinwendung zur ökonomischen Verhaltensforschung hin-

Verhaltensforschung als Ergänzung der Wirtschaftstheorie

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weghelien, die sich der reichen, inzwischen gesammelten Erfahrungen der anthropologischen Wissenschaften im weitesten Sinne bedient24 . Der Ausdruck "Verhaltensforschung" könnte mißverstanden und mit der hauptsächlich in den Vereinigten Staaten zur Geltung gelangten Schule des "Behaviorismus" verwechselt werden. Es empfiehlt sich daher, von vornherein klarzustellen, daß die neue ökonomische Verhaltensforschung grundsätzlich die Gesamtheit der anthropologischen Wissenschaften zur Auskunft über die Antriebe des wirtschaftlichen oder wirtschaftlich relevanten menschlichen Handeins heranziehen will, von der Psychologie des Bewußten und Unbewußten (einschließlich der behavioristischen) über die Biologie bis zur Hirnforschung einerseits, von der Soziologie und Geschichtswissenschaft über die Sozialanthropologie bis hinüber zur Sprachwissenschaft und zur vergleichenden Tierethologie und -soziologie andererseits. Der Nutzen dieser erweiterten Fragestellung liegt gerade in der Aufgeschlossenheit gegenüber Ergebnissen und Ansätzen anderer Fachwissenschaften vom Menschen: ihre Grundlage ist die Erkenntnis, daß Wirtschaften menschliches Handeln, menschliches Handeln aber keineswegs nur das Wirtschaften ist, so daß es absurd wäre, es lediglich mit wirtschaftlichen Kategorien erklären oder auf den Bereich der Wirtschaft beschränken zu wollen. Gegen die damit provozierte Miteinbeziehung des in den Lehrbüchern meist ausdrücklich oder stillschweigend ausgeklammerten "menschlichen Elements" in den Kreis der ökonomischen Forschungsgegenstände besteht in der Wirtschaftswissenschaft bisher noch überwiegend ein ausgesprochenes· Vorurteil. Die Verfechter einer "exakten" ökonomischen Theorie lassen sich nur zu leicht dazu verleiten, das psychologische Gebiet überheblich als "happy hunting ground of the charlatan and the quack" abzutun25 oder es den "minds averse to the effort of exact thought" zu überlassen26. Zum mindesten beherrscht die Grundkonzeption des rational handelnden "homo oeconomicu.s" die Theorie noch so weit, daß sie es der Zukunft zuschiebt, andere als die rationalen Handlungsweisen zu erforschen, "when the technique of economic analysis will be sufficiently adv.anced to analyse the results of neuroses and confused thinking"27. Auf der anderen Seite führt "die Analyse des Wirtschaftsablaufs unter bewußt abstrakt gehalten€n Voraussetzungen zu einem Punkt, an 24

25 28 27

2*

Schmölders, G., I., S. 203-244. Robbins, L., S. 83. Robbins, L., S. 83. Robinson, J., S. 10.

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J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

dem sich dieser Voraussetzungskreis als zu eng ·erweist"28• Die determinierende Rolle des menschlichen Verhaltens und, in der tieferen Schicht, der Determinanten eben dieses Verhaltens sind in der Wirtschaftswissenschaft allzulange vernachlässigt worden. "Wer ,reine' Wirtschaftstheorie formuliert, versucht wie Allee im Wunderland ohne fixierte Punkte Croquet zu spielen" 2 9; die festen Punkte, die uns bisher fehlen, sind die "Gesetze der menschlichen Natur", m. a. W. die Konstanten des Verhaltens der wirtschaftenden Menschen, um die sich die Verhaltensforschung bemühen muß. Ansätze zu einer in diesem Sinne breiteren Fundierung der Wirtschaftstheorie finden sich im Institutionalismus, der die moderne, im Zusammenhang mit dem amerikanischen Pragmatismus entwickelte Sozialpsychologie für die Wirtschaftstheorie fruchtbar zu machen bemüht ist; erst mit der Erforschung der Institutionen gewinnen wir jene für jede Prognose unentbehrlichen Konstanten, die die abstrakte Gleichgewichtstheorie nicht zu bieten vermag. Eine Anleihe bei der psychologischen Anthropologie bestätigt diesen Sachverhalt; A. Gehlen stellt die gerade für unseT Prognosenproblem wichtige Frage: "Wie bringt es denn der Menschangesichts seiner Weltoffenheit und der Instinktreduktion bei aller potentiell in ihm enthaltenen, unwahrscheinlichen Plastizität und Unstabilität eigentlich zu einem voraussehbaren, regelmäßigen, bei gegebenen Bedingungen denn doch mit einiger Sicherheit provozierbaren Verhalten, also zu einem solchen, das man quasiinstinktiv oder quasiautomatisch nennen könnte, das bei ihm an Stelle des echt instinktiven steht und das offenbar den stabilen sozialen Zusammenhang erst definiert? So fragen, heißt das Problem der Institutionen stellen. Man kann geradezu sagen, wie die tierischen Gruppen und Symbiosen durch Auslöser und durch Instinktbewegungen zusammengehalten werden, so die menschlichen .durch Institutionen und die darin erst "sich feststellenden" quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertensund Handelns, die allein als institutionell gefaßte sich vereinseitigen, habitualisieren und damit stabilisieren. Erst so werden sie - . . . einigermaßen . . . voraussehbar30. Erst mit der Zerschlagung der Institutionen wird nach Gehlen auch das menschlich.e Verhalten triebhaft. Wie Gehlen, so legt auch die amerikanische Anthropologie den Akzent auf die institutionelle Formung der an sich plastischen menschts

10 39

Wessels, Th., 1951. Chase, St., S. 287. Gehlen, A., II, S. 84.

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liehen Antriebsstruktur31 • Mit der Tatsache, daß der menschliche Charakter ein "Zuchtprodukt der Gesellschaft" ist, tritt das Faktum der "Geschichtlichkeit des Menschen" in den Blickpunkt, das vor allem Dilthey und die auf seinen Spuren wandelnde Lebensphilosophie - in Spanien z. B. Jose Ortega y Gasset - in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen32. Existenz und Gefüge einer Institution, die ja in hohem Maße charakterformend wirkt, sind besonders den Wechselfällen der Gesichte ausgesetzt; dtas bedeutet aber, daß auch die sozialen und historischen "Gesetzmäßigkeiten", die ja auf institutionelle Tatbestände zurückführbar sind, historisch relativiert werden. Der amerikanische Institutionalismus hat daraus den Schluß gezogen, daß es keine allgemeine, für alle Zeiten gültige - d. h. absolute ökonomisch·e Theorie geben kann; diese Schule fordert daher "eine Theorie für die amerikanische Wirtschaft des 20. Jahrhunderts"33. Die Ähnlichkeit dieses Ergebnisses mit den Lehren der deutscllen "historischen Schule" ist offensichtlich; ohne viel gelehrtes Beiwerk haben SchmolleT und Wagner, Roseher und ihre Nachfolger die "Gesetzmäßigkeit" des wirtschaftlichen Geschehens aus den historisch gewordenen Umweltbedingungen und den darin wirkenden Verhaltensweisen der wirtschaftenden Menschen abgeleitet. Die für jegliche Prognose unerläßlichen konstanten Verhaltensweisen lassen sich jedenfalls offenbar am ehesten aus den geschichtlich gewordenen Institutionen ableiten; alle in einem bestimmten institutionellen Rahmen lebenden Menschen unterliegen dieser determinierenden Wirkung, wobei Einflüsse aus vielen Institutionen zusammenkommen und solche von außen, etwa aus benachbarten Kulturen, gegebenenfalls modifizierend wirken. Die deutsche historische Schule mit ihrer Zeit- und Wirklichkeitsnähe erhält von dieser Erkenntnis eine neue, nicht zu übersehende Rechtfertigung. Dagegen könnten die Funktionalzusammenhänge der modernen Theorie für die Aufgabe der Wirtschaftsprognose nur unter der Voraussetzung brauchbar sein, daß sie invariante Beziehungen zum Ausdruck bringen. Diese Funktionen sind jedoch offensichtlich so ausgewählt, wie es vom Standpunkt des ökonomischen Denkens am be31 Siehe z. B. Ruth Benedict, Patterns of Culture, Mentor Books, vor allem Kap. 1 "The Science of Custom", und Margaret Mead, Sex and Temperament in three primitive Societles, Mentor Books. 32 Siehe dazu Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Metaphysik, Harnburg 1949, S. 22 ff. 3 ~ Siehe z. B. Ellan G. Gruchy, Modern Economic Thought, The American Contribution, New York 1948; der Verfasser behandelt die sechs wichtigsten Vertreter des Institutionalismus, zeigt ihre philosophische und sozialpsychologische Grundkonzeption und gibt zum Schluß eine Zusammenfassung des Hauptinhalts ihrer Lehren.

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J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

quemsten erscheint; sie bringen jeweils zwei Faktoren miteinander in Verbindung, die beide Geldgrößencharakter haben, so beispielsweise in der Konsumfunktion den Geldeinkommenszuwachs mit dem Konsumausgabenzuwachs oder in der Investitionsfunktion den Zins und das investierte GeldkapitaL Diese Funktionen ließen sich nur dann für die Prognose fruchtbar machen, wenn sich gerade im Bereich dieser Größen echte Verhaltenskonstanten feststellen ließen, was jedoch erst noch zu beweisen wäre; die Vermutung spricht auch durchaus dagegen, daß solche Konstanten ausschließlich und gerade nur im Bereich dieser ökonomisch leicht definierbaren Größen zu finden sein sollten. Erfolgversprechender erscheint es, nicht in der Richtung von "oben" nach "unten" gerade da nach solchen Konstanten zu suchen, wo man sie am besten gebrauchen kann, sondern umgekehrt zu ermitteln, inwieweit das menschliche Verhalten überhaupt invariante Strukturen aufweist; wenn man auf diese Weise Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Verhaltens findet, so ist es dann ein Leichtes, diese auf ihre ökonomische Relevanz hin zu untersuchen. Mag man sich dieser oder einer anderen Deutung zuwenden, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß in dem umfangreichen Material der Psychologie aller Richtungen und Schulen eine Fundgrube auch und gerade für die ökonomische Verhaltensforschung geboten wird, die reiche Schätze der Erkenntnis vermuten läßt. Insbesondere vermag die Heranziehung dieses Materials der Wirtschaftswissenschaft über den punktuellen, eklektischen "Psychologismus" hinwegzuhelfen, der aus dem großen zusammenhängenden Kräftespiel von Lebensangst und Lebenslust, introvertierten und extravertierten Individuen, Gruppen und Massen, dem Bewußtsein und dem, was man als "Unterbewußtsein" oder "Unbewußtes" bei den einzelnen "Rational-" oder "Primitivpersonen" bezeichnet hat, willkürlich einzelne ökonomisch relevante Teilmotivationen, wie "Liquiditätsvorliebe" und "Spartrieb" einerseits, "Investitionslust" und "Neigung zum Konsum" andererseits aussondert, sie unversehens verabsolutiert, quantifiziert und mit ihnen "rechnet", als seien es selbständige Größen, eigenständige Daten oder allgemeine Motive, neben denen andere konstante Haltungs- oder variable Stimmungsfaktoren der wirtschaftlich handelnden Menschen, die sich vielleicht weniger glatt in das vorbereitete Schema einfügen lassen, an Bedeutung zurückzutreten hätten. Neben der Psychologie kommt, wie erwähnt, für die ökonomische Verhaltensforschung eine Vielzahl weiter Spezialdisziplinen als Materialquelle in Betracht; das menschliche Verhalten wird von vielen Faktoren mitbestimmt, die in den verschiedensten Zusammenhängen

Verhaltensforschung als Ergänzung der Wirtschaftstheorie

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Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind. Beispielsweise hat die Ethnologie, worauf GerZoff aufmerksam macht, bei der Erforschung primitiver Kulturen einen dem "homo oeconomicus" durchaus entgegengesetzten Typus ·ermittelt, nämlich den von dem ungeschriebenen Sittengesetz und der überkommenen Tradition geleiteten "homo institutionalis", dessen Handlungsweise keineswegs von seinem ökonomischen Eigeninteresse, aber auch nicht etwa von dem jeweils geltenden Gesetzesrecht beherrscht wird34 • Hinzuweisen ist hier auch auf die sog. Tierethologie ( Tierpsychologie), beispielsweise ·auf den von R. Yerkes durchgeführten Schimpansenversuch mit Automatenmünzen, der zeigt, daß Geldgier und Erwerbsstreben, ja wgar Hortungsstreben und "Liquiditätsneigung" durchaus auch im tierischen Verhalten anzutreffen sind35. Unvoreingenommenheit in der Fragestellung und Aufgeschlossenheit für fremde Gedankengänge können zur Entwicklung einer wirklichkeitsnäheren Wirtschaftswissenschaft mehr beitragen als esoterische Vertiefung und eklektische Verengung einer auf den engen "ökonomischen" Datenkranz beschränkten reinen Theorie36. Es bleibt das Verdienst von J. M. Keynes, dieser wirklichkeitsnahen Fragestellung, die für die Analyse des wirtschaftlichen Verhaltens lebendiger Menschen die Forschungsergebnisse derjenigen Wissenschaften heranzieht, ·die das menschliche Verhalten zum Gegenstand haben, in der ökonomischen Theorie den Weg gebahnt zu haben; so unsystematisch, ja un- und vorwissenschaftlich Keynes' eigene "Psychologie" zweifellos noch ist, so aufrüttelnd wirkt sein Bekenntnis, daß die Wirtschaftstheorie auf falscher Fährte ist, wenn sie das wechselnde Verhalten ihrer Wirtschaftssubjekte und die sie bestimmenden Faktoren nicht berücksichtigt, und sein Versuch, einige dieser Faktoren des menschlichen Verhaltens aus der eigenen Lebenserfahrung abzuleiten3 7. Mit der realistischen Theorie der Erwartungen, die im dritten Abschnitt dieses Bandes veröffentlicht werden, soll dieses Anliegen der ökono14

Vgl. Pinney, A, The Institutional Man, Journal of Political Economy

1940,

s.

543.

Tinkel, W., Die Menschenaffen, Stimmen der Zeit, Bd. 147, zit. nach Taeuber, Psychologie des Geldes, Jahrb. f. Psychologie und Psychotherapie 1952, Heft 1. ss Näheres bei Schmölders, G., I. 37 Höchst bezeichnend ist die scharfe Stellungnahme des "dialektischen Materialismus" gegen Keynes, dessen "dauernde Berufung auf die Eigenschaften einer frei erfundenen (!) abstrakten menschlichen Natur" .. . "der Kunstgriff" ist, "mit dessen Hilfe er auf jede Weise versucht, den scharfen Klassena ntagonismus des modernen Kapitalismus zu verdecken", vgl. Wolodin, W. S ., S. 28. 33

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J. M. Keynes Beitrag zur ökonomischen Verhaltensforschung

mischen Verhaltensforschung an einem zentralen Problem der Keynes'schen Ar.gu.mentation dargestellt und die Fruchtbarkeit ihrer Fragestellung veranschaulicht werden; für einen Großen im Reiche des Geistes ist die Aufnahme und Weiterführung seiner Gedanken die schönste posthume Anerkennung und Ehrung.

John Maynard Keynes als "Psychologe" R. Sehröder

I. Psychologisches in der bisherigen Wirtschaftstheorie Zwischen der Wirtschaftstheorie und der Psychologie haben von altersher nur lockere Beziehungen bestanden, die zudem nicht sonderlich glücklich waren. Zwar sind immer wieder Voraussetzungen psychologischer Art in populärer Form in die nationalökonomischen Gedankengebäude aufgenommen worden; doch wurden sie oft noch beibehalten, nachdem die Psychologie und ihre wissenschaftlichen Vorläufer diese als unrealistisch fallengelassen hatten. Hinsichtlich der hedonistischen und ultilitaristischen Vorstellungen ist dies allgemein bekannt. Als weiteres Beispiel kann die Assoziationspsychologie genannt werden, die in der subjektiven Wertlehre fortlebte, obwohl die Schule der "Gestaltpsychologie" in zahlreichen experimentellen Untersuchungen eindeutig bewies und schon bewiesen hatte, daß sich das Seelische nicht aus Elementen summativ zusammensetzt, es demgemäß auch keine isolierbaren und quantifizierbaren psychischen Größen geben kann. Auch der Behaviorismus, die Lehre vom Verhalten, hat in der Nationalökonomie eine derartige Rolle gespielt. - Darauf sei kurz eingegangen. Der Amerikaner J. B. Watson entwickelte die Lehre des Behaviorismus aus einer kritischen Einstellung zu einer Psychologie heraus, die allzu großzügig die Selbstbeobachtung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis verwertet und sich nicht gescheut hatte, selbst Tieren menschliche Seelenregungen zuzuschreiben. Der Behaviorismus erklärte derartiges als absolut unzulässig. Alle Beschreibungen innerseelischer Phänomene und Geschehnisse wurden als unwissenschaftlich abgelehnt, Bezeichnungen wie Denken, Fühlen, Wollen, Empfinden, Bedürd'nis usw. aus dem Repertoire psychologischer Termini gestrichen. Die psychologische Forschung sollte sich darauf beschränken, Menschen und Tiere in bestimmte nach ihren wichtigen Merkmalen genau kontrollierbare Situationen zu bringen, um zu sehen, wie sie reagieren. Das gezeigte Verhalten sollte von verschiedenen Personen, die sich jeder Deutung

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John Maynard Keynes als Psychologe

zu enthalten hätten, beobachtet und registriert werden, wie man etwa physikalische Abläufe feststellt. Allein, es erwies sich, daß man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hatte. Nicht nur, daß der Bereich der psychologischen Forschung eine starke Verarmung erfuhr, es zeigte sich, daß man bei den Verhaltensbeschreibungen um Deutungen wie "es sieht so aus, als ob das Kind greift" nicht herumkam, wenn man mehr gewinnen wollte als ein Protokoll von zusammenhanglosem Nebeneinander einzelner kleiner Bewegungsphasen. Aus diesen Gründen wurde der Behaviorismus in seiner radikalen Form aus der Psychologie herauskomplimentiert. In der Nationalökonomie haben sich entsprechende Gedankengänge, wie Mackenroth zeigt, zumindest insofern als fruchtbar erwiesen, als sie eine Kritik der Nutzen- und Grenznutzenlehre brachten. (Theorie der Wahlakte.) Denn "selbst wenn der Behaviourismus nur als Methode genommen wird" und "es dahingestellt bleibt, ob es Nutzen und Arbeitsleid gibt oder nicht", "behauptet er zumindest, daß so etwas nicht faßbar ist und man sich deshalb daran desinteressieren muß" 1 . Aufschlußreich und bemerkenswert ist, daß gleiche Schwierigkeiten, die dem radikalen Behaviorismus schon allein als Methode in der Psychologie zum Verhängnis wurden, auch in der Nationalökonomie auftraten, indem man sich nämlich doch nicht völlig auf äußere Registrierung des Verhaltens beschränkten konnte. So führte Pareto den Begriff der "ophelimite" ein. Die ophelimite ist natürlich der alte Nutzenbegriff in anderem sprachlichen Gewande und bleibt es auch, wenn Pareto sich bemüht, durch Definitionen ihn von allem psychologischen Inhalt zu befreien. Gänzlich befreit hat er ihn aber erst, wenn er ihn tautologisch formuliert und damit völlig inhaltslos macht. Wenn ophelimite nicht mehr etwas Psychologisches ist, sondern das, was die Menschen wirklich wollen, sei es, was es sei, so ist das eine tautologische Formulierung und wird damit für die Erklärung des Verhaltens unbrauchbar, weil inhaltslos 2 • Der Versuch, das "Psychologische" völlig zu eliminieren, endet also damit, daß entweder tautologische Formulierungen benutzt werden oder "es" sich durch die Hintertür doch wieder hereinschleicht. Eine analoge Situation läßt sich auch in der von Ludwig von Mises entwickelten Lehre vom Vorziehen, der sogenannten Katallaktik, aufweisen, die ein Bestandteil der Praxieologie, einer Theorie des menschlichen Handelns, istS. Auch hier ist das Psychologische stillschweigend t Mackenroth, G. z Mackenroth, G., S. 35. 3 Mises, L. v., Human Action.

Psychologisches in der bisherigen Wirtschaftstheorie

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mithineingenommen wo:rden. Denn wie kann man wissen, daß ein bestimmtes Verhalten Vorziehen ist, wenn man jegliche Psychologie ausschalten will? Nur die Deutung eines betreffenden Verhaltens kann darüber Aufschluß geben. Nachdem das Vorziehen erst einmal unterstellt ist, gibt es dann, wie Mackenroth nachweist, wieder einen Zirkelschluß. Der Mensch zieht vor; "was er vorzieht, wird dem Verhalten abgelesen und das Verhalten dann aus dem Vorziehen erklärt""· All diese Beispiele machen deutlich, daß das Fortleben von psychologischen Vorstellungen und Methoden in der Nationalökonomie, die in der Psychologie als unhaltbar erkannt wurden, auch der Wirtschaftstheorie nicht helfen konnte. So nimmt es denn nicht wunder, daß in neuerer Zeit wiederholt gefordert worden ist, die Beziehungen zwischen Wirtschaftstheorie und Psychologie sowie den anderen Wissenschaften vom Menschen enger zu gestalten. Zur Illustration mag ein Zitat von J . M. Clark wiedergegeben werden, das auch wegen der in ihm enthaltenen Begründung interessant ist. Clark schrieb schon im Jahre 1918: "The economist may attempt to ignore psychology, but it is sheer impossibility for him to ignore human nature. . . If the economist bonows his conception of man from the psychologist, his constructive work may have some chance of remaining purely economic in character. But if he does not, he will not thereby avoid psychology. Rather, he will force hirnself to make his own, and it will be bad psychology5." Hinzugefügt sei, daß auch W. C. Mitchell, E. R. Walter und andere sich entsprechend geäußert haben {siehe Schmölders, Ökonomische Verhaltensforschung, ORDO, Bd. V, 1953, p. 206 ff.). Im Zusammenhang solcher Bestrebungen, die Beziehungen zwischen der Wirtschaftstheorie und den Wissenschaften vom Menschen enger zu gestalten, ist auch der folgende Versuch zu verstehen, der zum Gegenstand hat, die psychologischen Annahmen, die J. M. Keynes in seinem Hauptwerk "Allgemeine Theorie der Beschäftigung des Zinses und des Geldes" machte, einmal von psychologischer, soziologischer und anthropologischer Warte her zu beleuchten. Dabei wird das Bestreben obwalten, die Literatur dieser Gebiete - soweit sie zugänglich war selbst in starkem Maße zu Worte kommen zu lassen, um- im Rahmen der gemäß dem Thema zu behandelnden Fragen- sichtbar zu machen, wie weit die Ergebnisse der genannten Wissenschaften für die ökonomische Theorie und speziell für die Datenforschung von Interesse sein können. Mackenroth, G., S. 35. "Economics and modern Psychology", Journal of Political Economy, Vol. 26 p 4 zit. Katona. c

6

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II. Wirtschaftstheorie und Psychologie Ein Unternehmen wie das beabsichtigte ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, die darin wurzeln, daß die Wissenschaftsdisziplinen Psychologie und Wirtschaftstheorie nach Aufbau und Methoden sehr voneinander abweichen. Die Lösung der Aufgabe kann nicht einfach so erfolgen, daß die im System von Keynes enthaltenen psychologischen Annahmen mit entsprechenden Teilen "der" psychologischen Theorie verglichen und erforderlichenfalls durch diese ersetzt werden; denn es gibt in der Psychologie noch nicht eine allumfassende, mehr oder weniger geschlossene Theorie, die mit der Wirtschaftstheorie verglichen werden könnte. Das hat verschiedene Gründe. Dazu gehören unter anderem, daß die Psychologie eine verhältnismäßig junge Wissenschaft ist und daß sie unter den Wissenschaften eine besondere, nur ihr eigentümliche Stellung einnimmt. Um Mißverständnissen vorzubeugen und für die weitere Untersuchung eine Basis zu schaffen, wil'd im folgenden ein produktiver Umweg beschritten. Auf diesem soll klar gemacht werden, worin Wirtschaftstheorie und Psychologie sich unterscheiden. Auch wird etwas herausgestellt werden, was die beiden Disziplinen gemeinsam haben. Im Anschluß daran wird die Frage der ökonomischen Motive erörtert. Es wird sich dabei erweisen, daß soziologische Begrüfe mit in die Untersuchung eingehen müssen. - Diese Skizzierung des produktiven Umweges mag genügen. Es wird auf ihm Material erarbeitet werden, das als Ausgangspunkt und als Grundlage der eigentlichen Auseinandersetzung mit den psychologischen Bemerkungen von Keynes dienen kann. Zunächst einiges zur Wirtschaftstheorie: Die Wirtschaftstheorie ist die älteste und in formeller Hinsicht am weitesten ausgefeilte Disziplin unter den Sozialwissenschaften. Sie ist eine Wissenschaft, die auf hoher Abstraktionsstufe arbeitet. Ihre Entwicklung zeigt einen Weg, der von der Aufstellung einer zunächst beschränkten Anzahl Voraussetzungen ausgeht und sich der Wirklichkeit durch Hinzunahme von der Realität mehr entsprechenden Voraussetzungen anzunähern sucht mit dem Ziel, auf diese Weise Aussagen möglich zu machen, ,die für das tatsächliche Wirtschaftsgeschehen Gültigkeit haben. Die "Methode" besteht darin, an konstruierten Modellen gedankliche Änderungen vorzunehmen und diese auf ihre Konsequenzen zu überprüfen. Die "Sätze", die benutzt werden, sind Konditionalsätze wie z. B.: Wenn die Investitionen zunehmen - unter sonst gleichen Bedingungen -, ist eine Vermehrung der Beschäftigung die Folge. Es liegt diesen Bestrebungen das Ideal zugrunde, ein durchsichtiges, vollkomm~:m definiertes Begriff.ssystem

Wirtschaftstheorie und Psychologie

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von interdependenten Variablen zu schaffen, mit dessen Hilfe man zu gültigen Aussagen über den Ablauf des tatsächlichen Wirtschaftsgeschehens kommen kann. Während die Wirtschaftstheorie nach Aufbau, Methode, Forschungsrichtung usw. verhältnismäßig knapp umrissen werden kann, ist dies bei der Psychologie nicht möglich. Bei dem Versuch, ein Bild ihrer Denkschemata, Methoden, Theorien, Hauptprobleme und besonderen Schwierigkeiten zu geben, blei:bt nichts anderes übrig, als ausführlicher zu werden. Der Weg, der hier beschritten wird, besteht darin, daß die historische Entwicklung der Hauptrichtungen, die sich mit dem Psychischen beschäftigen, mit Hilfe einiger Angaben aufgezeichnet wird. Obwohl dies~ sehr viel mehr Raum beansprucht, als die Ausführungen zur Wirtschaftstheorie eingenommen haben, muß es dennoch eine Skizze bleiben. Die Vorläufer der Psychologie reichen bis ins Altertum. - Meist waren es Philosophen, die sich im Rahmen ihrer Systeme auch mit Fragen psychologischer Natur beschäftigten. Unter ihnen befanden sich: Aristoteles, Augustin, Thomas von Aquin, Leibniz, Christian Wolff, Francis Bacon, John Locke, Berkeley, David Hume, Fries, Herbart und andere. Die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft begann aber erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und ist an die Namen Wilhelm Wundt und Sigmund Freud geknüpft. Wundt gründete im Jahre 1879 in Leipzig das erste psychologische Institut der Welt und Freud gab zusammen mit Breuer 1895 ein Buch mit dem Titel "Studien über Hysterie" heraus, das als Ausgangspunkt der Psychoanalyse und der aus ihr entwickelten Lehren angesehen wird. Seitdem hat die Psychologie eine sehr rege Entwicklung genommen, und heute bestehen bereits zahlreiche Unterdisziplinen. Will man über die verschiedenen Richtungen und Strömungen, die

das Psychische zum Gegenstand haben, einen Überblick gewinnen,

empfiehlt es sich, zunächst in einer groben Einteilung drei große Gebiete zu untersch.eiden: Die Psychologie im engeren Sinne, auch Normalpsychologie genannt, die Tiefenpsychologie (Psychoanalyse, Psychotherapie) und die Psychiatrie. Die Entwicklung ist in diesen drei Bereichen stark voneinander getrennt verlaufen, da die darin Tätigen jeweils durch bestimmte Problemkreise in Anspruch genommen waren, wie auch aus den folgenden Bemerkungen noch weiter ersichtlich ist. So ist es zu verstehen, daß man wissenschaftlich voneinander relativ wenig Notiz genommen hat.

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Die Psychiatrie, vc:m. der bisher noch nicht die Rede war, ist ein Zweig der Medizin und hat sich mit dieser entwickelt. Ihr Gegenstand ist das qualitativ und quantitativ seelisch Abnorme sowie die zugrunde liegenden körperlichen Schäden. Die Psychiatrie ist für den weiteren Verlauf der Untersuchung nicht von Belang. Sie braucht daher nicht näher behandelt zu werden. Die Tiefenpsychologie, die zu ihren Begründern neben Freud vor allem Jung und Adler zählt, ist eine Trieb- und Bedürfnispsychologie. Andere Seiten des Seelischen werden von ihr kaum bearbeitet. Ihr eigentlicher Gegenstand ist die Behandlung der sogenannten Neurosen, die man als "Folgen der Störung von Erlebnisverarbeitungen" definiert hat (Speer). Die "Hauptmethode" besteht darin, den Patienten in eine ruhige Lage zu bringen und ihn anzuregen, alles wiederzugeben, was ihm einfällt, ganz gleich, welcher Art es sein sollte. Das so gewonnene Material dient dem Analytiker als Grundlage für die Diagnose und die Therapie. Es ist ersichtlich, daß die Tiefenpsychologie ihre Theorien aus den Erfahrungen ableitet, die im Verhältnis zwischen Arzt und Patient gewonnen werden. Sie geht also von abnormen seelischen Zuständen aus, wie diese sich in einer sozialen Sondersituation zeigen. Das sollte eigentlich daran hindern, die von ihr gewonnenen Ergebnisse zu sehr - wie es oft geschieht - auch an das "sogenannte Normale, Durchschnittliche heranzutragen", wie Bürger-Prinz bemerkt6 • Ein Beispiel für derartige Tendenzen sind die Versuche, allein mit tiefenpsychologischen Konzeptionen soziale und kulturelle Phänomene erklären zu wollen. So ist z. B. von einigen "psychoanalytischen Amateursoziologen" der Kapitalismus als eine Manifestation des Analcharakters gedeutet worden. "There is certainly a grain of truth in this idea, but hardly rnore", sagt Talcott Parsons dazu. "It completely overlooks the focal problerns of the organisation of the social systern7." Als letztes der drei Hauptgebiete ist die Psychologie zu erwähnen, die in den Instituten der Hochschulen betrieben wird und als einer deren namhaftesten Vertreter Wilhelrn Wundt genannt wurde. Ursprünglich gab es darin zwei Hauptrichtungen, eine vom Biologischen ausgehende und demgemäß naturwissenschaftlich arbeitende und eine geisteswissenschaftliche. Zwischen beiden wurde viel Kritik ausgetauscht. Der Hauptstreit ging darum, ob das "Erklären" oder das "Verstehen", die kausale oder finale Betrachtungsweise, die adäquate Form der Be8 Bürger-Prinz, H., Psychiatrie und Soziologie, in: Soziologie und Leben, Tübingen 1952. 7 Parsons, T., 111.

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arbeitung psychologischer Probleme sei. Dieser Streit ist jetzt überholt, wie die folgenden Ausführungen des Psychologen Oswald Kroh bestätigen, der dazu sagt: "Heute ist der Streit um Erklären und Verstehen, der noch in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts kräftig nachhallte, unwichtig ,geworden. In dem Grade, in dem alle Psychologie den Aspekt der Ganzheit in sich aufgenommen hat, hat in allen psychologischen Lagern die Erkenntnis Platz gegriffen, daß jeder seelische Vorgang vielfältig bedingt sei, wobei die Bedingungen ebenso sehr formal in Anlage, Entwicklungsschicksal und Erziehung wie inhaltlich in Motiven, Einstellungen und Grundhaltungen gesucht werden müssen. Eindeutigkeit der erkennenden Zuordnung konkreter psychischer Vorgänge ist deshalb immer nur da erreichbar, wo das ganze Gefüge der jeweils wirksamen Bedingungen deutlich gemacht wird. Wo auf diesem Wege Eindeutigkeit erreicht wird, kann von kausaler Betrachtung ebensowenig die Rede sein wie von ausschließlich finaler Betrachtung8." Es muß also auf dem Gebiete der Psychologie eine Denkform angewendet werden, die den Gegensatz zwischen naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise und geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise überwunden hat. "Der Ansatz zu einer solchen Denkform liegt in einem Denken, das überall von sinnvollen Ganzes-Teil-Zusammenhängen bestimmt ist, und in einer Betrachtungsweise, die mit den jeweils aktivierten Funktionen auch die Gehalte erfaßt, an denen sich die Funktionen betätigen8 ." Soweit der Streit um Erklären und Verstehen. Insgesamt gesehen kann man zu der jetzigen Form dieser Hauptrichtung wissenschaftlicher Betätigung auf dem Gebiete des Psychischen ~agen, daß sie empirisch ausgerichtet ist. Aufgestellte Hypothesen werden - sofern es eben geht -durch Experimente und andere Arten von kontrollierten Beobachtungen überprüft. Man ist bemüht, vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden. Der Abrundung halber sei noch erwähnt, daß man heute folgende Zweige dieser Hauptrichtung untersche1det: Allgemeine Psychologie (Wahrnehmung, Denken, Handlung usw.), Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Charakterologie, Völkerpsychologie und ferner die zahlreichen Anwendungsgebiete der praktischen Psychologie, wie Betriebspsychologie, Forensische Psychologie, Pädagogische Psychologie. Es sei hinzugefügt, daß die Mitverwendung psychologischer Erkenntnisse im Rahmen wirtschaftstheoretischer Grundlagenforschung (Datenforschung) nicht als eine Art angewandter Psychologie betrachtet werden kann; denn die vorhandenen psychologischen Erkenntnisfe lassen 8

Kroh, 0 ., Psychologie, in: Universitas Litterarum, 4. Lieferung, Berlin

1954.

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sich hier nicht ohne weiteres unmittelbar "anwenden". Da sie in Situationen der "Handlungsh.em.mung" gewonnen werden und nicht in solchen, die den konkreten, in sich vielschichtigen "Handlungssituationen der Wirklichkeit" entsprechen, müssen sie umgedacht werden, wobei andere Gesichtfpunkte, insbesondere soziologische, in starkem Maße zu berücksichtigen sind. Die psychologischen Erkenntnisse finden hier also Anwendung in einem Ansatz eigener Art, der den Ansätzen der angewandten Psychologie nicht analog ist. Es ließen sich noch eine Reihe von Gründen aufführen, die diese Auffasfung stützen. Doch würde das in diesem Zusammenhang zu weit führen.- Damit sei die Skizzierung der drei großen Gebiete der Psychologie abgeschlossen. Es soll jetzt noch einiges zu dem Verhältnis zwischen der zweiten und der dritten Richtung, der Tiefenpsychologie und der akademi~chen Psychologie, gesagt werden. Die wissenschaftliche Verbindung zwischen beiden fehlt noch fast völlig. Der Gestaltpsychologe Kurt Lewin glaubte, von der von ihm entwickelten sogenannten topalogischen Psychologie aus - einem Ableger der Gestaltpsychologie, welcher daf Spiel seelischer Kräfte mit Hilfe des als Topologie bezeichneten Zweigs der Geometrie darstellt -, tiefenpsychologische Fragen in Angriff nehmen zu können. Leider ist er nicht mehr dazu gekommen. Einen Versuch, das zwischen beiden Richtungen bestehende Verhältnis verständlich zu machen, lieferte L. Binswanger. In der Psychiatrie hatte man festgestellt, daß zwischen der seelischen Funktionsweise des Organismus und ihrer Störung einerseits und der Aufeinanderfolge der Inhalte seelischen Erlebens und deren Störung andererseits unterschieden werden muß. In Anlehnung daran kann man nach Binswanger den Unterschied so sehen, daß es die akademische Psychologie vorwiegend mit der Erfassung der Lebensfunktionen (z. B. Wahrnehmen, Denken usw.) zu tun hat, die Tiefenpsychologie dagegen mit der "inneren Lebensgeschichte" der Menschen und ihrer Störung. Dabei wird die "innere Lebensgeschichte" als eine Geschichte von Erlebnissen der Bedürfnisbefriedigung und der Bedürfnisversagung angesehen. In bezug auf die Vergangenheit und im Groben gesehen mag dieser Vergleich zutreffen. Wie jedoch die zitierten Ausführungen von Kroh zeigen, wird heute ebenfalls in der akademischen Psychologie beachtet, daß zu den Bedingungen seelischer Vorgänge auch Motive, Einstellungen und Grundhaltungen zählen, wobei deren Zustandekommen freilich nicht so weit zurückverfolgt und bis in die Tiefen aufgehellt wird, wie es in der Tiefenpsychologie üblich ist. Andererseits wird von Seiten der Hochschulpsychologie in zunehmendem Maße die kulturelle und soziale Bedingtheit vieler seelischer Phänomene anerkannt - wie neue Ver-

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öffentlichungen auf dem Gebiete der Sozialpsychologie zeigen - , während man sich in der Tiefenpsychologie offensichtlich vielfach noch kaum bewußt ist, wie weit die von ihr ins Auge gefaßten seelischen Phänomene und Störungen insbesondere in Großstädten auftretende Folgen der modernen Wirtschaftsgesellschaft sind und mit deren Wandel den Boden wieder verlieren können. Diese Ausführungen über die Lage auf dem Gebiete der Psychologie sind immer noch sehr unvollkommen, obgleich sie ausführlicher sind als die zur Wirtschaftstheorie gemachten. Doch mögen sie genügen, um zu zeigen, daß die Psychologie in bezug auf Entwicklung, Theorienbildung und Methoden wesentlich anders beschaffen ist als die Wirtschaftstheorie. Im Gegensatz zu dieser ist die Psychologie- wie anfangs schon erwähnt- eine relativ junge Wissenschaft, die nicht- wie die Nationalökonomie in starkem Maße - deduktiv, sondern induktiv arbeitet und sich durch einen der Eigenart des Seelischen adäquaten methodischen Pluralismus auszeichnet. Ihre Begriffe sind teilweise rein formaler Art und zu einem guten Stück durchdefiniert (z. B. Begabung ist die psychische Grundlage der Entwicklungsmöglichkeit von Leistungen), teilweise aber auch stark anschauungsgeladen und neben der Erfassung der angegebenen Merkmale ohne zusätzliche intuitive Erfassung nicht voll zu verstehen. Zur Bildung einer zusammenhängenden, allumfassenden Theorie ist es noch nicht gekommen. Es gibt sogar Autoren, die bezweifeln, daß dies je der Fall sein kann, und statt dessen einen "Aspektivismus" vertreten, nach dem auf bestimmte psychologische Grundfragen verschiedene, nicht aufeinander rückführbare, sich gegenseitig ergänzende Antworten gegeben werden können. So könne man, um ein handliches Beispiel zu e,r wähnen, zum Thema Liebe zwischen den Geschlechtern von einer musischen oder soziologischen oder biologischen Seite her "psych-ologisch" Stellung nehmen, ohne daß diese Stellungnahmen aufeinander rückführbar sind. (Siehe Hofstätter "Psy. chologie und Leben", S. 34.) Beiall diesen Verschiedenheiten gibt es aber in der Psychologie und in der Wirtschaftstheorie auch gleichgelagerte Probleme. Als Beispiel kann die Problematik genannt werden, die mit der Frage Statik oder Dynamik verbunden ist. Als ein Beleg aus dem Gebiete der Psychologie sei der Psychologe David Katz zitiert, bei dem es heißt: "Die dynamische Betrachtungsweise ist ja das, was die Psychologie unserer Tage auszeichnet vor einer mehr statischen Auffassung, die man jetzt retrospektiv in etwas summarischer Weise als assoziationspsychologisch bezeichnetD." Unter der heute wohl weit überwiegenden Zahl von Psychologen 9

Katz, D.

3 Keynes als Psychologe

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mit dynamischer Betrachtungsweise gibt es zwei Richtungen, von denen die eine einer statischen Betrachtungsweise noch näher steht und den Gleichgewichtsgedanken verwendet, während die zweite Richtung diesen als zu physikalistisch und den Lebensvorgängen inadäquat ablehnt. Als ein Vertreter der ersten Gruppe sei Kurt Lewin genannt, der im Jahre 1926 schrieb: "Die psychologischen Prozesse lassen sich (wie überhaupt die biologischen Prozesse und analog die physikalischen, ökonomischen oder sonstigen Prozesse) bei Anwendung gewisser Gesichtspunkte vielfach aus der Tendenz zur Herstellung eines Gleichgewichts ableiten. Der Übergang von einem Ruhestand zu einem Geschehen, sowie die Veränderung eines stationären Geschehens lassen sich darauf zurückführen, daß das Gleichgewicht an gewissen Punkten gestört ist und nun ein Geschehen in der Richtung auf einen neuen Gleichgewichtszustand hin einsetztlO." Im Hinblick auf die Anwendung dieses Gedankens erwähnt Lewin allerdings noch einige Vorbehalte, die hier aber nicht mehr angeführt zu werden brauchen. - Auch heute noch gibt es Psychologen, welche die Anschauung von Lewin teilen. Piaget z. B. sieht in der Tendenz zum Gleichgewicht das eigentliche Kriterium der Intelligenz und den Motor der geistigen Entwicklung11 • Meili kommentiert dies mit den Worten: "Und wenn die direkten Beweise für das Wirken dieser ganz allgemeinen Gesetzlichkeit zur Zeit auch nicht sehr zahlreich sind, so wird die ... Betrachtung der Denkvorgänge beim produktiven Denken doch die Nützlichkeit dieses Begriffes erweisen12." - Die zweite Gruppe von Psychologen, die den Gleich.gewichtsgedanken nicht mehr verwendet, sieht das seelische Geschehen als einen ständigen Prozeß an, der phasenhaft zwischen Spannungen und Lösungen schwingt. Dementsprechend äußerte sich z. B. von Allesch. Ein Vergleich der mehr statischen oder dynamischen Theorien der Psychologie mit den Statik-Dynamik-Interpretationen der Wirtschaftstheorie ist nicht ganz einfach, da es deren ja auch verschiedene gibt. Am ehesten ließe sich noch eine Parallele zwischen den Erklärungen der ersten Gruppe von Psychologen (Lewin, Piaget, Meili) und denjenigen Wirtschaftstheoretikern ziehen, nach denen die statische Theorie Gleichgewichtszustände und Anpassungsvorgänge an einen Gleichgewichtszustand untersucht (z. B. Marshall). Zum anderen könnte eine Analogie zwischen der Auffassung der zweiten Gruppe von Psychologen und denjenigen Wirtschaftstheoretikern gesehen werden, nach denen mit "dynamisch" eine "evolutorische" Wirtschaft bezeichnet wird, in der to Lewin, K., S. 33. 11 Siehe Meili, R., in: Katz, D ., S. 162. 12 Meili, R.

Ökonomische Motive und Triebtheorien

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sich die Daten dauernd ändern und die entweder expandiert oder kontrahiert (z. B. Harrod, Schumpeter). Soviel zu der Problematik Statik - Dynamik in der Psychologie und der Wirtschaftstheorie. Um es zum Abschluß noch einmal zu sagen: Es ist in diesem Kapitel dargelegt worden, inwiefern sich Wirtschaftstheorie und Psychologie nach Aufbau, Methoden, Entwicklungsgang unterscheiden. Ferner wurde erwähnt, daß in beiden Wissenschaften auch analoge Probleme vorhanden sind. Das Ganze diente dazu, den Hintergrund aufzuhellen, auf dem die Anknüpfung von Beziehungen zwischen Wirtschaftstheorie und Psychologie vonstatten .g ehen, damit Mißverständnisse vermieden, keine falschen Perspektiven gewonnen und keine Irrwege beschritten werden.- Nun mag sich der Einwand aufdrängen, daß keine Besprechung der Triebe, Bedürfnisse und Motivationen stattgefunden hat. Angesichts der These, nach der man als Wirtschaften jedes menschliche Handeln bezeichnet, welches auf Verringerung der Diskrepanz zwischen den unersättlichen Bedürfnissen und der Knappheit der Güter gerichtet ist, liegt es nahe, daß gerade diese Gegenstände der Psychologie einer Erörterung bedürfen. Darauf ist zu antworten, daß sie das nächste Thema sind, dem ein eigener Abschnitt gewidmet ist, zumal eine Erörterung der Triebe, Instinkte, Bedürfnisse und Motivationen bei einer Untersuchung der psychologischen Annahmen von Keynes unerläßlich ist.

111. Die Frage der ökonomischen Motive auf dem Hintergrund der psychologischen Triebtheorien J. M. Keynes führt in der "Allgemeinen Theorie" eine Reihe von ökonomischen Motiven an. So spricht er z. B. von den "subjektiven und gesellschaftlichen Antrieben", die zum Sparen und Konsumieren veranlassen. Und bei der Erörterung des Problems, wodurch der Zins bestimmt wird, spricht er von einer sogenannten Liquiditätsvorliebe. Diese setzt sich nach seiner Auffassung aus vier Motiven zusammen, die er mit Einkommensmotiv, Geschäftsmotiv, Vorsichtsmotiv und Spekulationsmotiv benennt. Eine Auseinandersetzung mit den "psychologischen Annahmen" von Keynes wirft also die Frage nach den ökonomischen Motiven auf. Wie sind diese zu verstehen? Was sagt die Psychologie dazu? - Die Ausführungen dieses und des folgenden Kapitels haben den Zweck, Material zu erarbeiten, das einer Klärung der Probleme und Beantwortung solcher Fragen dienlich ist. Die Entwicklung der Psychologie hat zu der Erkenntnis geführt, daß der Mensch nicht etwa als bloßes Resultat von unmittelbar~n Umwelt3*

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John Maynard Keynes als Psychologe

einwirkungen verstanden werden kann, sondern daß gerichtete, auf Bedürfnissen fußende Spannungen in ihm angenommen werden müssen, an die sein äußeres Agieren und sein Erleben gebunden sind. "Bedürfnisse interpretieren das Reizmaterial und machen es erst zu Erfahrungen, sie sind auch die entscheidenden Faktoren bei der Entwicklung und Auswahl jener Gegebenheiten, welchen das Lebewesen überhaupt Beachtung schenkt13." Freilich hat dieser Gedanke in der Geschichte der Psychologie und ihrer Vorläufer sehr unterschiedliche Ausprägung gefunden. In dem Bestreben, äußeres Verhalten und inneres Erleben mit Hilfe von Antriebskräften verständlich zu machen, ist man durch die vielfältigen Antriebserlebnisse und die Unzahl von möglichen Zielen zu einer Metaphysik der Instinkte und Triebe verleitet worden. In einem logischen Kurzschluß wurden hinter allen möglichen Verhaltensweisen Kräfte angenommen, hypostasiert und die Verhaltensweise, von der man ausgegangen war, wieder aus den angenommenen Kräften abgeleitet, so daß der Ausspruch getan werden konnte, es hätte eigentlich auch der Daumendrehinstinkt entdeckt werden müssen. In diesen Tendenzen lebte die sogenannte "Vermögenspsychologie" wieder auf, die hinter allen Verhaltensweisen ein spezifisches, seelisches "Vermögen" vermutet hatte, z. B hinter dem Klavierspielen das seelische Vermögen, Klavier zu spielen usw. Die Folge war, daß eine Unzahl von Instinkt- und Triebkatalogen entstand, so daß Bernard (1924) zu der Berechnung kam, mehrere hundert Autoren hätten zusammen 14 046 instinktive Verhaltensweisen herausgefunden. Die meisten dieser Kataloge beschränkten sich auf die bloße Angabe einer Reihe von Instinkten, ohne etwas über deren gegenseitige Beziehungen und inneren Zusammenhang auszusagen. Das gilt übrigens auch für die acht "Kräfte subjektiver Art", die nach. Keynes den einzelnen zum Sparen veranlassen. Die Vielzahl der Versuche, die menschlichen Instinkte und Triebe zu spezifizieren und zusammenzustellen, läßt sich nach Lersch in drei Gruppen einteilen: 1. "Monothematische" Theorien, 2. "Polythematische" Theorien, 3. "Athematische" Theorien14 . Als ein Vertreter der "monothematischen" Gruppe ist Freud z;u nennen, der die "libido", d€n Trieb nach sexueller Lust, als Grundtrieb des Menschen annahm (wobei er allerdings mit sexuell nicht das meinte, was gemeinhin darunter verstanden wird; letzteres bezeichnete er als u Thomae, H. 14 Lersch, Ph.

Ökonomische Motive und Triebtheorien

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Genitalität). Ferner gehören neben anderen Thomas Hobbes, Pareto und Alfred Adler hierher, der das Streben nach Macht und Geltung als Grundtrieb annahm. Als ein bekannter Vertreter der "potythematischen" Gruppe ist McDougall anzuführen, der schon auf 18 Triebkräfte kam und dabei auch das Besitzenwollen erwähnte. Ferner sind die Psychologen William Stern, Thorndike und Cattell hier zu nennen. - Alle vier richteten sich bei der Aufstellung ihrer Listen nach folgenden von McDougall angegebenen Kriterien15: 1. Gibt es ein ähnliches Verhalten bei den höheren Wirbeltieren? 2. Ist das Verhalten generell? 3. Zeigt das Verhalten die McDougall.sche Dreiteilung (1. Erkennen eines Objektes, 2. darauf gerichtetes Fühlen, 3. Streben zu diesem Objekt)? 4. Wird das Verhalten durch ein Gefühl begleitet, das durch Ausdruckserscheinungen erkennbar ist? 5. Ist das Verhalten mit Hilfe von Introspektion durchschaubar? 6. Ist das Verhalten schon bei der Geburt vorhanden? 7. Sind Umwelteinflüsse relativ machtlos, wenn man das bestimmte Verhalten ändern will? 8. Gibt es extreme, als seelisch krank zu bezeichnende Verhaltensweisen, auf die hier Bezug genommen wird? Mit Hilfe solcher Gesichtspunkte will man herausfinden, was es an Trieb- und Instinktresiduen im Menschen gibt. Dabei ist man jedodl bisher zu keinem endgültigen Resultat gekommen. Die Bemühungen sind noch im Gange. In der damit verbundenen Diskussion mehren sich allerdings die Stimmen, die ein solches Suchen überhaupt für sinnlos halten. (Siehe Argumente der dritten Gruppe.) Daß die Diskussion noch im Fluß ist, gilt selbst für die Definitionen der Termini Trieb und Instinkt. Auch in dieser Hinsicht hat sich noch keine herrschende Auffassung durchgesetzt. Immerhin kann festgestellt werden, daß im allgemeinen Triebbegriffe das Merkmal "Richtungsdisposition" und Instinktbegriffe das Merkmal "Rüstungsdisposition" enthalten.Als dritte Gruppe der Triebtheorien war die "athematische" genannt worden. Diese anerkannt zwar "eine Vielheit von Triebregungen, erklärt aber eine Spezifizierung und systematische Gliederung dieser Mannigfaltigkeit für unmöglich"16. Als Beispiel ist Gehlen zu nennen. 16 18

Wilde, K.

Lersch, Ph.

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John Maynard Keynes als Psychologe

Nach seiner Auffassung setzen die Trieblehren fälschlich einzelne Antriebe als bleibende Eigenschaften, während sie in Wirklichkeit alle durch das institutionelle System der jeweiligen Gesellschaft implizit mitdefiniert seien17. Eine andere sehr interessante Begründung der Ablehnung von Triebkatalogen - auf die Lersch ebenfalls verweist -stammt von R. Rudert, der von einer Kulissenhaftigkeit der Triebzelle spricht. "Wenn wir -so argumentierter-etwa vom Nahrungstrieb sprechen, dann bezeichnen wir die Nahrung als das eigentliche TriebzieL Wir können aber ebenso sagen: Das Triebziel ist nicht die Nahrung als Gegenstand, sondern das Verzehren als Zustand.... In solcher Weise, so sagt Rudert, öffnet sich, wenn wir im konkreten Fall nach dem Ziel eines Strebens fragen, hinter diesem Ziel ein Hintergrund, der als eigentliches Ziel angesprochen werden kann. Aber wenn wir dieses Ziel wiederum auf seine Eigentümlichkeit prüfen, dann ergeht es uns genau so, d. h. es rückt etwas in den Blick, was nun neuerdings wieder als Triebziel angesprochen werden kann. Dieser Prozeß kommt nie zu Ende: Das, was ich als Ziel in den Blick bekomme, bleibt immer nur Vordergrund, Kulisse. Die Triebziele sind ineinander geschachtelt wie die Schalen einer ZwiebeJ18." - Diese Kulissenhaftigkeit der Ziele zeigt sich nach Lersch aber nur, solange man im Bereich der subjektiv-innerseelischen Erfahrung bleibt. Stelle man aber die Frage, was - um beim Beispiel zu bleiben - der Nahrungstrieb über die Wirklichkeit des menschlichen Daseins und seine Verwirklichung in der Welt aussagt, zeige sich, daß er im Dienste der allgemeinen menschlichen Tendenz stehe, sich am Leben zu erhalten. Soweit die monothematischen, athematischen und polythematischen Triebtheorien. Es ist jetzt festzustellen, welcher Nutzen aus diesen drei Gruppen von psychologischen Triebtheorien in bezug auf die Klärung der Frage nach den ökonomischen Motiven gezogen werden kann: Die monothematischen Theorien sind ohne heuristischen Wert. Nach ihnen könnten ökonomische Motive höchstens Sonderfälle eines Grundtriebes sein. Es wäre dann immer noch zu klären, wie und warum es zu den speziellen Ausprägungen im Sinne der ökonomischen Motive kommt. Das könnte nicht mehr allein vom einzigen Grundtrieb her verstanden werden; Umwelteinflüsse müßten zrur Erklärung herangezogen werden. Damit wäre es zugleich unmöglich geworden, die ökonomischen Motive 17

18

Gehlen, A., III. Lersch, Ph., S. 88.

ökonomische Motive und Triebtheorien

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als konstante, angeborene Triebkräfte zu verstehen. - Nach den athematischen Theorien ist es unsinnig, einzelne Triebkräfte - wie die ökonomischen Motive -als bleibende Eigenschaften anzusprechen, weil diese abhängige Variable der verschiedenen Gesellschaftssysteme sind. Ergebnisse kulturanthropologischer Untersuchungen sprechen stark für diese Theorien. - Bleiben noch die polythematischen Theorien: Selbst wenn man anninunt, daß es möglich ist, an Hand von Kriterien nach McDougall Instinktresiduen zu finden und einen Katalog aufzustellen, ist es doch äußerst unwahrscheinlich, daß zu den ökonomischen Verhaltensweisen, für die z. B. Keynes jeweils ein Motiv nannte, auch jeweils ein spezifisches Instinktresiduum gefunden würde. Angesichts der Vielzahl der sonst noch möglichen Verhaltensweisen müßten die Kataloge äußerst umfangreich werden. Mit Notwendigkeit würden derartige Tendenzen schließlich wieder dazu führen, daß "Instinkte" gefunden würden, deren wissenschaftliche Dignität ebenso hoch ist, wie der von einem amerikanischen PsycholO>gen entdeckte Instinkt, mit einem Finger in schmale Ritzen zu fahren, um darin v·e rborgene Tierchen zu verscheuchen. Wenn sich tatsächlich Instinktresiduen einwandfrei feststellen lassen, werden bei dem Versuch, die instinktive Basis eines bestimmten ökonomischen Verhaltens zu ermitteln, deren immer mehrere herangezogen werden müssen. -Weiterhin ist zu sagen, daß eben nur Residuen von Instinkten entdeckt werden können und keine Instinkte, die allein hinreichen, um ein bestimmtes soz1al relevantes Verhalten voll verständlich zu machen. Das menschliche Verhalten ist eben auch ein Ergebnis mannigfacher formender und überlagernder Einflüsse kultureller und sozialer Art. Deren Wirkung ist stärker, als im allgemeinen angenommen wird, wie kulturanthropologische Vergleiche zwischen verschiedenen Kulturen ergeben haben. Manche Verhaltensweise, die man in von Weißen bewohnten Bereichen als angeboren oder gar geschlechtsgebunden angesehen hatte, erwies sich als völlig von der kulturellen Umgebung abhängig. Alle drei Gruppen von psychologischen Triebtheorien legen hinsichtlich der Frage nach den ökonomischen Motiven zwei Punkte nahe: 1. Ein bestimmtes ökonomisches Verhalten kann nicht auf einen Antrieb allein zurückgeführt werden; vielmehr müssen jeweils mehrere Antriebe angenommen werden.

2. Selbst wenn Instinktresiduen einwandfrei feststellbar sind, genügen diese allein nicht, um a) die "Motivation" eines in einer bestimmten Gesellschaft auftretenden Verhaltens und

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b) das "Verhalten selbst" voll verstehen zu können; denn beides wird in starkem Maße durch kulturelle und soziale Einflüsse .geprägt. Angesichts dieses Resultates nimmt es nicht wunder, daß sich eine Reihe bekannter Anthropologen, Psychologen und Soziologen im Sinne des ersten, des zweiten oder beider Punkte ausgesprochen hat. Als Beleg seien vier Autoren zitiert, die sich über ökonomische Motive -meist über das Erwerbsstreben- äußerten: Nach Gehlen setzt sich die instinktive Basis des Erwerbsstrebens aus mehreren Instinktresiduen zusammen, die dauernd und gleichzeitig um dasselbe Ausdrucksfe1d, den Handlungsbereich, konkurrieren19. Der Soziologe Morris Ginsberg drückt sich folgendermaßen aus: "Ob der Mensch eine instinktive Tendenz rum Erwerb und Besitz hat, ist eine Angelegenheit, die unter den Psychologen diskutiert wird. Aber auf jeden Fall ist das Interesse an Eigentum sehr komplex und hat seine Wurzel in verschiedenen fundamentalen Bedürfnissen." "Psychologisch betrachtet entsteht das Eigentum nicht aus einem direkten Bedürfnis zum Erwerben und zum Besitzen, sondern aus dem Sichverweben anderer grundsätzlicher Interessen mit Selbstachtung und Selbstbehauptung20." Und der Psychologe Katona sagt im Hinblick auf das Konsumentenverhalten: " ... it is improbable that there exists just one motive in a given instance. There may be such instances, but they will not be the rule. Multiplicity of motives, some reinforcing one another and some conflicting with one another is much more common21 ." Schließlich sei noch Talcott Parsons erwähnt, bei dem es heißt: "Some psychologists have spoken of a primary acquisitive drive or instinct. Whatever the major orientation pattern of the modern businessmen may be, it is not in any simple sense a manifestation of such a drive22." In den Rahmen einer Erörterung der ökonomischen Motive auf dem Hintergrund psychologischer Triebtheorien gehört nun noch ein anderer Be.griff, welcher die Beziehungen zwischen den psychischen Antrieben der Individuen und ihren Verhaltensweisen zu bestimmten Gegenständen betrüft. Es ist der Begriff der "Attitüde". In jüngerer Zeit hat man bei der Analyse menschlicher Handlungen diese im Zusammenhang mit "Einstellungen", "seelischen Dispositionen" gesehen. Danach erfolgt das Handeln aus Einstellungen heraus, die das Individuum zu bestimmten Gegenständen und Situationen hat. Solche Einstellungen n Gehlen, A., I, S. 840. Ginsberg, M., S. 191/92.

20

u

12

Katona, G., I, S. 71. Parsons, T., III, S. 243.

ökonomische Motive und Triebtheorien

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sind von Individuum zu Individuum mit mehr oder weniger großen Abweichungen verschieden organisiert; sie wel"den von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Triebkräften .g espeist. Diese Einstellungen sind ·es, die man mit Attitüden bezeichnet. Allport definiert diesen Begriff wie folgt: "Eine Attitüde ist ein geistiger und nervenphysiologischer Zustand (Bereitschaft), der durch die individuelle Erfahrung organisiert ist und der einen steuernden oder dynamischen Einfluß darauf ausübt, wie das Individuum auf alle Objekte und Situationen reagiert, auf welche die Attitüde bezogen ist23." Als Beispiele könnten die Attitüden zum Film, zum Geschäftsfreund, zu den Steuern genannt werden, wobei die letztere etwa als unter anderem an das Bedürfnis nach Sicherheit, Nahrung und Selbstbehauptung gebunden gedacht werden könnte. Solche Attitüden werden entweder als etwas Fertiges von der Umgebung übernommen, oder sie entstammen persönlicher Erfahrung verschiedenster Art. Der psychologische Begriff der Attitüde impliziert zwei Hauptmerkmale: "Die individuelle Organisation der Antriebe" und "die Beeinflussung des Verhaltens zu bestimmten Gegenständen und Situationen". Das erstere wil"d im Vergleich von Individuum zu Individuum oft Unterschiede aufweisen. Dagegen wird die Zahl der Unterschiede in den gezeigten Verhaltensweisen zu bestimmten Gegenständen und in für alle identisci).e Situationen sehr viel geringer sein. Viele Personen werden sich in einer bestimmten wirtschaftlichen Situation zu einem allen bekannten Menschen, zu einer politischen Partei usw. gleichartig verhalten, wenn auch die Triebgrundlage ihres Verhaltens jeweils verschieden organisiert sein mag. Es ist anzunehmen, daß sich solche Verhaltensweisen in Gruppen ordnen lassen. In bezug auf die diesen Darlegungen zugrundeliegende Frage, wie die Motivation ökonomischer Handlungen zu verstehen ist, ergibt sich, daß aufschlußreicher als die Suche nach den unter Umständen von Individuum zu Individuum wechselnden Antrieben der ökonomischen Verhaltensweisen die Untersuchung der Attitüden ist. Wie kann man Attitüden feststellen? Welche Attitüden zu bestimmten wirtschaftlich relevanten Sachverhalten gibt es? An welche Bedingungen ist ihr Zustandekommen geknüpft? Sind sie relativ konstant oder mehr oder weniger flüchtig? Wodurch werden sie abgeändert oder zerstört? Das sind Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Ihre Lösung kann nicht immer allein im Bereiche der Psychologie und mit den Methoden dieser Wissenschaft erfolgen. Soziologische Gegebenheiten müssen dabei beachtet werden. 2S

Katz, D.,

s.

310.

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John Maynard Keynes als Psychologe

Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß Gunnar Myrdal bereits in seinem 1932 ins Deutsche übersetzte Buch "Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung" 24 eine Ermittlung von Attitüden forderte. Dabei dachte er freilich an die speziellen Attitüden, die verschiedene soziale Gruppen gegenüber konkreten politischen Problemen haben würden, vorausgesetzt, daß ihre ökonomisch·en Einsichten so vollständig und richtig wie möglich sind. Solche Attitüden -sagte er müsse die Wirtschaftstechnologie als gegebene Daten hinnehmen und von ihnen ausgehen; denn "die Wirtschaftstechnologie wurzelt ... in der modernen, sozialpsychologisch eingestellten Soziologie". In diesem Kapitel ist die Frage nach den Motiven ökonomischen Verhaltens in einer rein psychologischen Perspektive, man kann sagen von innen heraus, beleuchtet worden. Die Untersuchung endete bei den Attitüden, von denen es hieß, daß sie vom Individuum entweder als etwas Fertiges übernommen oder durch individuelle Erfahrung organisiert werden. Woher werden sie nun übernommen und an welche Art von äußeren Bedingungen ist die Gewinnung solcher Erfahrungen gebunden? Auf diese Fragen wird im folgenden Kapitel eingegangen. Dabei wird die Untersuchung in einer soziologischen Perspektive erfolgen und demgemäß einen Weg in entgegengesetzter Richtung zu der bisherigen, d. h. von außen nach innen, einschlagen. Es soll nämlich gezeigt werden, inwiefern der "institutionelle Rahmen", in dem sich ein Individuum befindet, und die "Rolle", in die es hineinwächst, auf sein ökonomisches Verhalten und die motivierenden Kräfte einwirkt.

IV. Die Bedeutung der Institutionen für die Klärung der Frage nach den ökonomischen Motiven Es mag Zweifel entstehen, ob eine Erörterung der Institutionen noch zu dem gehört, was eingangs als produktiver Umweg bezeichnet wurde. Jedoch läßt sich zeigen, daß es nur noch eines einzigen Schrittes bedarf, um unmittelbar bei Keynes zu sein. Was nämlich J. M. Keynes mit "psychologisch" und "subjektiv" bezeichnet, ist nicht immer etwas Psychologisches im Sinne dieser Wissenschaft, sondern sehr oft auch etwas Soziologisches. Er benutzt, wie sich leicht nachweisen läßt, diese Ausdrücke mit wechselndem Sinngehalt. So teilt er z. B. auf Seite 23 (Allgemeine Theorie) die "subjektiven Faktoren" in "psychologische" Eigenheiten der menschlichen 24

Myrdal, G., I.

Ökonomische Motive und Institutionen

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Natur einerseits und "gesellschaftliche Gebräuche und Einrichtun,g en" andererseits ein. Hierbei wird mit psychologisch etwas Psychologisches im Sinne dieser Wissenschaft gemeint und das Gesellschaftliche davon getrennt. (Was er mit "gesellschaftlich" meinte, hat er an anderer Stelle ausführlich dargelegt; Zitate weiter unten.) Aber z. B. auf Seite 206 (Allgemeine Theorie) spricht er von den drei grundlegenden "psychologischen Faktoren", zu denen er u. a. den psycholo,g ischen Hang zum Verbrauch zählt, dem - ebenso wie dem Hang zum Sparen - nach den Ausführungen auf Seite 92 (AlLgemeine Theorie) subjektive und gesellschaftliche Antriebe entsprechen. Im zweiten Fall hat "psychologisch" also eine weitere Bedeutung, da es auch Gesellschaftliches miteinbezieht. Desgleichen geht aus den vorangegangenen Angaben hervor, daß analog zum Worte psychologisch das Wort subjektiv einmal in einem engeren und einmal in einem weiteren Sinne ge.b raucht wird. Die angegebenen Textstellen sind keine Sonderfälle, sondern nur Beispiele, die durch eine ganze Reihe anderer ersetzt werden könnten. Ein anderer Fall wird im Zusammenhang mit der Erörterung des "psychologischen" Gesetzes erwähnt werden. Eine Betrachtung, die J. M. Keynes als "Psychologen" zum Gegenstand hat, muß sich mit dem befassen, was Keynes mit "psychologisch" bezeichnet. Da nun dazu häufig auch soziologische Tatbestände gehören, sind auch diese zu behandeln. Das ist aber nur ein Grund, weshalb eine Auseinandersetzung mit Keynes als Psychologen auch die Institutionen mit einbezieht, und nicht der wichtigste. Wichtiger noch ist, daß die ökonomischen Motive ohne Berücksichtigung des Institutionellen nicht verstanden werden können, wie auch im vorangegangenen Kapitel angedeutet wuroe. Im folgenden wird einiges zu dem Zusammenhang zwischen Institutionen und den ökonomischen Motiven gesagt werden. Dabei wird meist das "Profitmotiv" als Modellfall herangezogen. Es könnte stattdessen aber auch- mutatis mutandis- ein Motiv von Keynes stehen. Schon bei Max Weber finden sich nach Gehlen Bemerkun.gen, von denen her man das Erwerbsstreben eines Unternehmers einmal von innen und zum anderen von außen her betrachten kann. Den Ausführungen des vorangegangenen Kapitels lag die Schau "von innen her" zugrunde, worauf hingewiesen wurde. "Von außen her" gesehen ist Erwerbsstreben etwas, was jemandem, der in einem Unternehmen an führender Stelle steht, durch die Sachbedingungen des Untemehmens, das Bestandteil einer Wettbewerbswirtschaft ist, vorgeschrieben wird.

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Wie kommt das sachbedingte Vor,geschriebensein zustande? - Der Vorgang läßt sich an Hand des Beispiels der Entstehung einer Aktiengesellschaft folgendermaßen darstellen: "Einer der wichtigsten und bekanntlich am schwersten begrifflich faßbaren sozialen Vorgänge besteht in dem Umschlagen eines ·durch irgendwelche Handlungen in Gang gesetzten Prozesses zur Eigenges·etzlichkeit. Man kann z. B. durchaus gewisse Einrichtungen aus den rationellen Zwecken der Einzelnen erklären wie einen Fabrikbetrieb aus den Interessen der Gründer an der Auswertung eines neuartigen Verfahrens. Dann schlägt es um und man muß die Interessen und Verhaltensweisen, die zur Erscheinung kommen, aus der Gesetzlichkeit des Betriebes selbst ableiten." "Die ganze laufende und gut funktionierende Organisation selber schlägt um in eine Selbstwertgeltung, die ihrerseits die Einstellungen und Handlungsweisen der darin Tätigen bestimmt, und zwar in Hinsicht der Unterordnung und Verpflichtung unter diese selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit ... " Und zur Erläuterung: "Wenn die Aktionäre bei der Gründung des Unternehmens je ihre rationalen und individuellen Zwecke verfolgten, nämlich eine aussichtsreiche Kapitalanlage, und wenn der Vorstand z. B. in der Rücklagenpolitik gegen sie das Eigeninteresse des Unternehmens geltend macht, so ist dies für die ersteren ein unvorhergesehenes Resultat25." Diese Darlegungen machen klar, wie aus der Verfolgung von Zwecken durch Einzelne heraus gesellschaftliche Einrichtungen entstehen, diese eine eigene Schwerkraft gewinnen und durch die ihnen immanenten Sachbedingungen Ziele und Handlungen derjenigen, welche in den Einrichtungen tätig sind, rahmenhaft vorschreiben. Es kommt, wie T. Parsons es ausdrückt, durch die gesellschaftlichen Einrichtungen zu einer "strukturellen Generalisierung von Zielen" und anderer "Aspekte der Orientierung", wodurch die "Situation der Handlung definiert wird26." Sobald einmal eine Situation institutionell definiert und das Definierte durch ein in angemessener Weise integriertes System von Sanktionen gestützt ist, wird die Handlung eine Vielfalt von Motivationselementen in ihren Dienst stellen. Um beim Beispiel des Profitmotivs zu bleiben: Die durch das Profitmotiv bewirkte Handlung wird sowohl durch "disinterested" als auch "self-interested elements of motivation" gespeist werden, die dabei die gleiche Richtung gewinnen, also miteinander harmonieren. So gesehen ist es zu verstehen, daß das Profitmotiv keineswegs eine psychologische Kategorie ist. "Die richtige Ansicht viel26

as

Gehlen, A., Ill, S. 29. Parsons, T., I, S. 37 .

Ökonomische Motive und Institutionen

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mehr ist, daß ein System der freien Unternehmung in einer Geld- und Marktwirtschaft die Situation für diejenigen, welche die Geschäftsunternehmungen leiten oder deren Leitung anstreben, so definiert, daß sie den Profit als eine Bedingung des Fortlebens und als einen Maßstab für ihre Aktivität anstreben müssen. Deshalb werden bei der Durchführung die Interessen des Individuums, welche es auch immer sein mögen, wie Selbstachtung, die Bewunderung anderer usw., ganz zu schweigen von dem, was man mit Geld kaufen kann, in die profitmaking activity hineinkanalisiert. In einer anders definierten Situation würden die~elben fundamentalen Motive zu einer völlig anderen Art von Aktivität führen27 ." Das Profitmotiv ist also nicht etwas allgemein Menschliches, "sondern in sehr spezifischer Weise an bestimmte, in spezifischen sozialen Systemen existierende Typen von Rollen kulturgebunden". "Es gibt viele Gesellschaften, in denen die Orientierung nach günstigen Tauschbedingungen sogar in der höchst allgemeinen bargeldlosen Art relativ minimale Bedeutung hat2s." Zur Illustration sei auf die Zuni- und Hopi-Indianer verwiesen, die den in Neu-Mexiko ansässigen Pueblo-Indianern angehören. Diese leben in einer Kultur, deren Leitmotiv die selbstlose Teilnahme an den Belangen der Gemeinschaft ist. Das private Eigentum spielt bei ihnen nur eine sehr geringe Rolle29. Demgemäß sind auch zugeordnete Motive, wie das Profitmotiv, für sie nicht bedeutsam. Vergleicht man den Inhalt der voranstehenden Ausführungen mit dem, was bei der Erörterung der gleichen Frage auf dem Hintergrund der psychologischen Triebtheorien gesagt wurde, zeigt sich, daß die Ergebnisse miteinander in Einklang stehen. Auf dem Wege von innen her war festgestellt worden, daß ein Verhalten, wie das zum Eigentum, nicht auf einen einzigen Trieb zurückgeführt werden kann, sondern daß eine ganze Reihe von Bedürfnissen darin eingeht. Ferner wurde ausgeführt, daß selbst dann, wenn Instinktresiduen feststellbar sind, diese für sich nicht genügen, um das betreffende Verhalten und seine Motivation voll verstehen zu können. Schließlich wurde gezeigt, daß die Bedürfnisse die Triebgrundlage von mit Hilfe von Erfahrungen organisierten Einstellungen - Attitüden genannt -bilden, die einen steuernden und dynamischen Einfluß darauf ausüben, wie ein Individuum auf Situationen ·u nd Gegenstände reagiert, auf welche die Attitüde bezogen ist. Von außen her kommend wurde dargelegt, daß die Ziele und Handlungen derjenigen, die in bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen tT 28

29

Parsons, T., I, S. 38. Parsons, T., III, S. 243. Hofstätter, P. R., III, S. 117/18.

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tätig sind, durch diese Einrichtungen rahmenhaft vorgeschrieben werden und daß in diese Rahmen die mannigfachen psychischen Antriebe hineinkanalisiert werden. Beide Darlegungen haben gemeinsam, daß "profit making activity" -wie andere ökonomische Motive- nicht allein vom Psychologischen her und als Äußerung eines einzigen Triebes verstanden werden kann, sondern rahmenhaft vorbestimmt ist, vom Individuum durch Erfahrung übernommen und mit den jeweils individuellen Antrieben gespeist wird. Damit sind die Zusammenhänge von Institution, Profitmotiv, seelischen Antrieben und Bedürfnissen in großen Zügen umrissen. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß nun die diesbezüglichen Probleme alle geklärt sind. Das aufgezeichnete Schema bedarf der Ergänzung. Es kann nur als Ausgangspunkt für Untersuchungen und Erörterungen der noch offen stehenden Fragen ·gelten. Auf einige der zu behandelnden Probleme weist auch T. Parsans hin. So erwähnt er z. B., daß seiner Analyse ein institutionell integriertes soziales System zugrundeliegt. Tatsächlich seien soziale Systeme aber in sehr verschiedenem Maße integriert. "Zuweilen ist die sGziale Struktur so schlecht integriert, daß wesentliche, inkompatible Dinge vom selben Individuum erwartet werden30. " Die gewöhnliche seelische Reaktion auf solche Konfliktsituationen sei ein Zustand innerer Unsicherheit, der bei den betroffenen Individuen mehr oder weniger neurotische Reaktionen zur Folge habe. In einem solchen Falle werde die Identität der Richtung, in welche die "disinterested and self-interested elements of motivation" die menschliche Handlung treiben, nicht von Dauer sein. Eine Theorie, die einer derartigen Situation mehr adäquat sei, müßte noch entwickelt werden. Andere Fragen ergeben sich hinsichtlich der Übernahme der durch die sozialen Systeme rahmenhaft vorgeschriebenen Handlungen und der generalisierten Ziele, auf welche diese Handlungen gerichtet sind, durch die Individuen. Ein In-sich-aufnehmen eines sogenannten "cultural pattern" (Struktur der sozialen Umwelt einer Gemeinschaft) sowie von "value-orientations" und "expressive symbols" (Formen und Stile) bezeichnet Parsans als "internalization". Das ist ein Begriff, der dem von dem Psychologen William Stern geprägten Begriff "Introzeption" entspricht. Dieser beinhaltet, daß "ein Individuum kulturelle Normen (Konventionen, Moralgebote, Ideale) in sein persönliches System der Motive und Wünsche aufnimmt ...31 ". Demgemäß wird etwa ein guter n Parsons, T., I, S. 215. Allport, G. W., S. 609.

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Kirchgänger die Lehren seiner Kirche oder ein Arzt das Ethos seines Berufsstandes introzipieren. Dabei wird etwas, was zunächst vielleicht "äußerlich und fremd war, innerlich und dynamisch". Die Introzeption oder Internalisierung wird von Seiten des Individuums durch verschiedene seelische Prozesse bewerkstelligt. Allport zählt u. a. erstens Nachahmung, zweitens Lernen, drittens suggestive Beeinflussung, viertens Identifizierung, fünftens Phantasietätigkeit und sechstens die von ihm sogenannte "funktionelle Autonomie der Motive" auf. Darunter versteht er, daß die Motive des Erwachsenen unendlich verschiedenartige und sich selbst tragende, in der Gegenwart bestehende Systeme bilden, die zwar vorhergegangenen Systemen entwachsen, aber funktionell von ihnen unabhängig sind, genau so wie ein Kind von den Eltern unabhängig und selbständig wird32• Es gibt in bezug auf das mit Hilfe solcher seelischer Vorgänge sich vollziehende Aufnehmen von kulturellen Normen u. ä. noch manches zu klären. In diesem Zusammenhang sei ein Beispiel erwähnt, das einmal an einem anderen Fall als dem der kulturellen Normen zeigt, wie weit eine bestimmte soziale und kulturelle Umgebung auf ein Individuum einzuwirken vermag. Bruner und Postman führten eine experimentelle Untersuchung durch, bei der sie Personen aus einkommensmäßig unterschiedlichem Milieu einen optischen Vergleich von Geldmünzen mit meßbaren Vergleichsgrößen durchführen ließen. Dabei wurde festgestellt, daß arme Personen eher als reiche dazu neigten, Münzen größer zu sehen als sie tatsächlich warenss. Dies ist so zu erklären, daß die Wahrnehmung, als Grundlage der Orientierung eines Lebewesens, in erhöhtem Maße auf solche Reize anspricht, die für das Lebewesen besonders bedeutsam sind. Und was besonders bedeutsam ist, hängt mit von der Lebenseinstellung ab, die wiederum durch das kulturelle und soziale Milieu, in dem jemand aufwächst, geprägt wird. Selbst so einE1 elementare seelische Funktion wie die der Wahrnehmung wird also durch die soziale Umgebung, in der ein Individuum lebt, beeinflußt. Zur Ergänzung der Ausführungen über die Zusammenhänge zwischen Institution, Profitmotiv, seelischen Antrieben und Bedürfnissen sei noch ein anderes Ergebnis der Prägung und Beeinflussung menschlichen Verhaltens durch die soziale und kulturelle Umgebung erwähnt. In verschiedenen Untersystemen des gesellschaftlichen Gesamtsystems bilden sich spezifische, genormte Formen des Verhaltens sowohl Sachanfor" Allport, G. W., S. 194. 33 Cattell, R. B., S. 445.

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derungen als auch Mitmenschen gegenüber heraus, die man als "Rollen" bezeichnet. "Jede überhaupt gut begründete Funktion der wirtschaftlichen Arbeitsteilung kommt dazu, institutionell definierte Rollen in sich einzuschließen, solche wie Bankier, Unternehmensleiter, Handwerker, Bauer oder sonstige. In Verbindung mit solch einer Rolle ergibt sich ein Muster von institutionell definierten Erwartungen positiver und negativer Art34 ." Man hat daher eine Rolle auch als die Summe der von einem Individuum erwarteten Verhaltensweisen bezeiclmet, auf die das Verhalten anderer abgestimmt ist35. Bisher ist an Hand einer Erörterung der "profit making aktivity" gezeigt worden, daß bestimmte soziale Einrichtungen besonderer Gesellschaften Handlungen rahmenhaft vorschreiben, die sowohl ichbezogene als auch nicht-ichbezogene Motive der Hingabe in ihren Dienst stellen. Weiter ist gezeigt worden, daß die verschiedenen sozialen Einrichtungen dieser besonderen Gesellschaften, die ja jeweils eine Funktion in der wirtschaftlichen Arbeitsteilung darstellen, Rollen in sich einschließen. Es ist jetzt an der Zeit, darauf hinzuweisen, daß das Vorhandensein des institutionellen Rahmens und der Rollen natürlich nicht bedeutet, daß verschiedene Individuen etwa eine bestimmte Chance, Profit zu machen, jeweils in gleicher Weise wahrnehmen würden. In einer gegebenen Rolle, so drückt es Parsans aus, ist Raum für eine Vielheit verschiedener Nuancen persönlicher Orientierung und für verschiedene Attitüden dem Geld gegenüber. Mit dem Stichwort Attitüden ist ein weiterer Punkt genannt, der einer Erläuterung bedarf. Im vorangegangenen Kapitel war die Attitüde als eine seelische Einstellung zu bestimmten Gegenständen und Situationen bezeichnet worden, die durch individuelle Erfahrung organisiert ist und einen steuernden Einfluß darauf ausübt, wie das Individuum auf die betreffenden Gegenstände und Situationen reagiert. Weiter war gesagt worden, daß diese Attitüden bei verschiedenen Individuen mit verschiedenen Triebkräften besetzt sein können. In diesem Kapitel ist ausgeführt worden, daß die von Individuum zu Individuum verschieden o11ganisierten Attitüden auf Grund ihrer Unterschiedlichkeit eine verschiedene Nuancierung gegebener Rollen bewirken, die - um es noch einmal zu sagen - institutionell definiert sind und eine Funktion in der wirtschaftlichen Arbeitsteilung des gesellschaftlichen Gesamtsystems ausüben. Es muß angenommen werden, daß die Reaktionen aus den Attitüden derjenigen, die in eine Rolle als Bankier, Handwerker, Unternehmens34 3~

Parsons, T., I, S. 205. Hofstätter, P. R., III, S. 372.

"Psychologische" Annahmen im Gesamtsystem von J. M. Keynes

4:g

leiter usw. hineingewachsen sind, auf die spezifischen, in diesen Rollen zu bewältigenden, immer wieder auftretenden Anforderungen im allgemeinen nicht weit voneinander abweichen. Ansonsten könnte ja auch nicht von .gleichartigen Rollen gesprochen werden. - Soviel zu der Beziehung zwischen Rollen und Attitüden. Damit seien die Erörterungen der Zusammenhänge zwischen den In.&titutionen, den ökonomischen Handlungen und Motiven, den Rollen und den Attitüden abgeschlossen. Der Umstand, daß d.as Gesagte nicht als etwas Endgültiges gelten kann und noch manche Frage offen ist, hindert nicht daran, zu den von Keynes angeführten Motiven Stellung zu nehmen. Die bisher getroffenen Feststellungen liefern dafür eine ganze Reihe von Gesichtspunkten. Die Auseinandersetzung könnte infolgedessen unmittelbar folgen. Aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit geschieht dies jedoch weiter unten; denn zuvor muß erst einmal gezeigt werden, welche "psychologischen Annahmen" Keynes außer den genannten ökonomischen Motiven noch getroffen hat und wie alle psychologischen Annahmen in seinem Gesamtsystem verankert sind.

V. Der Ort der "psychologischen" Annahme im Gesamtsystem von J. M. Keynes Nachfolgend wird das Keynes'sche System in großen Zügen umrissen und gezeigt, wie die psychologischen Annahmen mit den anderen Größen des Systems zusammenhängen. Wegen der dabei gebotenen Kürze muß die Darstellung des teilweise recht komplizierten Sachverhaltes notgedrungen unvollkommen bleiben. Das Hauptanliegen der "Allgemeinen Theorie der Beschäftigung des Zinses und des Geldes36 " besteht nach Keynes darin, zu zeigen, welche Kräfte die möglichen verschieden hohen Grade der Produktion und der Beschäftigung von Arbeitskräften in einer Volkswirtschaft bestimmen. Zunächst hängen Produktion und Beschäftigung insbesondere davon ab, was von den Privatunternehmern in dieser Hinsicht geboten wird. Die privaten Unternehmer richten sich in ihren Entschlüssen nach der sogenannten. "wirksamen Nachfrage". Diese definiert Paulsen als "eine Erwartung künftiger Nachfrageverhältnisse, die sich zwar an der tatsächlich gegebenen Nachfrage orientiert, daneben aber selbständigen, teilweise psychologischen Einflüssen unterliegt"37. n 37

Keynes, J. M., IV. Paulsen, A., I.

4 Keynes als Psychologe

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Es besteht, was die Erwartung künftiger Nachfrageverhältnisse anbelangt, zwischen der Konsumgüterindustrie und der Kapitalgüterindustrie ·e in Unterschied. Die Unternehmer der Konsumgüterindustrie richten sich hinsichtlich des von ihnen aufrechterhaltenen Produktionsumfanges nach der "in näherer" Zukunft erwarteten Nachfrage. Die Unternehmer der Kapitalgüterindustrie dagegen werden durch die "in fernerer" Zukunft erwartete Nachfrage nach Konsumgütern beeinfiußt, weil davon abhängt, was die Unternehmer der Konsumgüterindustrie an Kapitalgütern nachfragen werden. So ist die ganze wirksame Nachfrage zusammengesetzt aus der wirksamen Nachfrage nach Konsumgütern einerseits und der wirksamen Nachfrage nach Kapitalgütern andererseits. Zur Nachfrage nach "Konsumgütern": Der Betrag, den ein Gemeinwesen für den Konsum auszugeben bereit ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, deren Betrachtung Keynes dadurch erleichterte, daß er sie nach "objektiv" und "subjektiv" voneinander schied. Als "objektiv" werden diejenigen Bestimmungsgründe bezeichnet, die nicht in den wirtschaftenden Personen liegen, sondern von außen an sie herantreten und sie zu einem bestimmten Handeln veranlassen oder nicht. Als hauptsächlicher objektiver Faktor ist die jeweilige Einkommenshöhe anzuführe n; die "subjektiven" Faktoren machen sich im "Hang zum Konsum" und im "Hang zum Sparen" geltend, die angeben, welcher Anteil des jeweiligen Einkommens konsumiert bzw. gespart wird. "Die Psychologie der Bevölkerung" ist - wie Keynes es ausdrückt "derart, daß bei einer Zunahme des gesamten Realeinkommens auch der gesamte Konsum zunimmt38. " Dabei sind die Menschen "in der Regel und im Durchschnitt" zwar "geneigt, ihren Konsum mit der Zunahme in ihrem Einkommen zu vermehren, aber nicht im vollen Maße dieser Zunahme" 39. Das letztere bezeichnet Keynes als das "grundlegende psychologische Gesetz". Ihm kommt innerhalb seines Systems große Bedeutung zu. Mit den Stichworten "subjektive Faktoren", "Hang zum Konsum", "Hang zum Sparen", "Psychologisches Gesetz" ist ·ein erster Kreis von psychologischen Hypothesen aufgewiesen worden, den es - dem Thema dieser Untersuchung gemäß -näher zu erörtern gilt. Hier sei nur soviel gesagt, daß Keynes diese subjektiven Momente zwar nicht für unwandelbar hält, jedoch von der Voraussetzung ausgeht, daß sie sich "während eines kurzen Zeitabschnittes, von anomalen as so

Keynes, J. M., IV, S. 23. Keynes, J. M., IV, S. 83.

"Psychologische" Annahmen im Gesamtsystem von J. M. Keynes

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und umstürzlerischen Umständen abgesehen, wahrscheinlich doch nicht ändern werden"40. Als zweiter Bestandteil der - für die Höhe der von den Unternehmern gebotenen Beschäftigung maßgebenden- wirksamen Nachfrage war die wirksame Nachfrage nach "Kapitalgütern" angeführt worden, die gleichbedeutend ist mit der erwarteten künftigen Investition. Bevor gezeigt wird, wodurch diese bestimmt wird, sei zunächst kurz erwähnt, welche Wirkungen und welche Bedeutung den Investitionen im Keynes'schen System zugeschrieben werden. Es wurde zu Beginn dieses Abschnittes ausgeführt, daß Keynes zeigen wollte, welche Kräfte den Beschäftigungstand in einer Volkswirtschaft bestimmen. Dem kann nun erweiternd hinzugefügt werden, daß der jeweils vorhandene Beschäftigungstand beibehalten wird, wenn in einer Volkswirtschaft ebensoviel investiert wird, wie vom Gesamteinkommen gespart wird. Denn unter diesen Umständen wird sich der Gesamteinkommensstrom weder verschmälern noch verbreitern, die Unternehmen in ihrer Gesamtheit werden nicht weniger vereinnahmen, als sie verausgabt haben, so daß der Beschäftigungsstand beibehalten werden kann. Die Investitionen sind also entscheidend. Werden sie erhöht, so wird durch den sogenannten Multiplikatoreffekt das Gesamteinkommen ausgedehnt, bis die Gleichheit von Sparen und Investieren wiederhergestellt ist. Bei Abnahme der Investitionen wird sich entsprechend eine Gleichheit von Sparquote und Investitionsquote auf geringerem Einkommensniveau ergeben. - Soviel zu den Wirkungen und der Bedeutung der Investitionen.

Wodurch werden nun die Investitionen bestimmt? - Darauf antwortet Keynes: "Die Menge der laufenden Investitionen wird wiederum von dem abhängen, was wir die Veranlassung zur Investition nennen werden, und wir werden finden, daß die Veranlassung zur Investition vom Verhältnis zwischen dem Schema der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und dem Komplex der Zinssätze für Anleihen verschiedener Fälligkeiten und Risiken abhängt41." Etwas anders ausgedrückt: Bei der Investitionsentscheidung wird der Gegenwartswert des voraussichtlichen Erträgnisses eines Kapitalgutes als Zins der Anschaffungskosten des Kapitalgutes verstanden und mit dem Zinssatz des Marktes verglichen. Je nachdem ob der Gegenwartswert eines Kapitalgutertrages größer oder kleiner ist als der Marktzins, werden die auf die Rentabilität bedachten Vermögensbesitzer investieren oder Wertpapiere kaufen. 'Q

41

Keynes, J. M., IV, S. 23. Keynes, J. M., IV, S. 24.

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"Erwartete Erträge sind also - neben dem geltenden Zinssatz für d:ie Größe der Nachfrage nach Realkapital und damit für die Beschäftigung der Investitionsgüterproduktion entscheidend, die für das Ausmaß der Gesamtbeschäftigung eine Schlüsselstellung hat. Ein psychologischer, nicht rationalisierbarer Faktor ist damit in das System hineingenommen42 ." Denn: "Die Erwägungen, auf die sich die Erwartungen des voraussichtlichen Erträgnisses stützen, umfassen teilweise bestehende Tatsachen, die wir mehr oder weniger als sicher bekannt voraussetzen können, und teilweise zukünftige Ereignisse, die nur mit mehr oder weniger Zuversicht vennutet werden können43." Zu den letzteren gehören zukünftige Änderungen im Geschmack der Verbraucher, die Stärke der während der Lebensdauer der in Betracht gezogenen Investition jeweils vorhandenen Nachfrage u. a. In bezugauf diese vermuteten zukünftigen Ereignisse, die für die erwarteten Erträge ausschlaggebend sind, herrscht ein mehr oder weniger großer "Zustand des Vertrauens", wie Keynes es ausdrückt. Darüber könne aber a priori nicht viel ausgesagt werden. Seine diesbezügliche Auffassung zieht er aus der "Beobachtung der Märkte und der Geschäftspsychologie", über die er sich ausführlicher ausläßt. Damit wäre ein zweiter Kreis abgesteckt, den es zu untersuchen gilt und der durch die Stichworte "Verhalten der Investoren" und "Problem der Erwartungen" gekennzeichnet werden kann. Als dritter, später zu erörternder Gegenstand ist die sogenannte "Liquiditätsvorliebe" anzuführen. Damit hat es folgendes auf sich: Der Marktzins, mit dem die Vermögensbesitzer bei der Investitionsentscheidung den Gegenwartswert der zukünftigen Erträge des Kapitalgutes vergleichen, wurde bei der obigen Erörterung zunächst als "gegeben" vorausgesetzt. Es kann nun ergänzend erwähnt werden, daß er in seiner Höhe durch die Geldmenge und die sogenannte Liquiditätsvorliebe bestimmt wird. Mit Liquiditätsvorliebe wird hier das Motiv gemeint, Geld möglichst bar zu halten, um die mit einer Anlage des Geldes verbundenen Risiken zu vermeiden. Dieses Motiv wird auch als Liquiditätsvorliebe im engeren Sdnne oder Spekulationsmotiv bezeichnet. Es ist eines der vier Motive c~r Liquiditätsvorliebe im weiteren Sinne, von denen noch Einkommensmotiv, Geschäftsmotiv, Vorsichtsmotiv zu nennen sind. 42 43

Paulsen, A., S. 131. Keynes, J . M., IV, S. 124.

"Psychologische" Annahmen im Gesamtsystem von J. M. Keynes

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Die Beziehungen zwischen Zins, Liquiditätsvorliebe im engeren Sinne und der Geldmenge sind derart, daß der Zins der Preis für das Opfer an Liquidität ist. Das heißt: "Der Zinssatz ist nicht der Preis, welcher die Nachfrage nach Geldmitteln zu Investitionszwecken ins Gleichgewicht bringt zur Bereitwilligkeit, sich gegenwärtigen Verbrauchs zu enthalten. Er ist der Preis, der den Wunsch, Vermögen in Geldform zu halten, mit dem verfügbaren Bestand an Geld ausgleicht44 ." Wichtiger noch als der gegenwärtige Zins ist aber der in Zukunft erwartete Zins, weil bei einem Steigen des Zinses der Zinsgewinn durch den Kursverlust des Wertpapieres leicht übertroffen wird. Wenn also erwogen wird, ob das Opfer an Liquidität erbracht und Vermögen angelegt werden kann oder nicht, spielt wieder - wie bei den Investitionen - das psychologische Moment der Zukunftserwartungen eine Rolle. Hinsichtlich der Geldmenge ist der Vollständigkeit halber noch hinzuzufügen, daß die durch das Bankensystem mit der Zentralbank kontrollierte Geldmenge natürlich ebenfalls Einfluß auf die Zinshöhe hat. Eine Zunahme der Geldmenge wird - gleiche Liquiditätsvorliebe vorausgesetzt - den Zinssatz senken. Damit wäre dann eine günstige Voraussetzung für künftige Investitionen geschaffen, weil nun die erwartete Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals eher höher sein kann als der Zins. Diese günstige Wirkung der Geldvermehrung kann allerdings durch mancherlei gestört werden, so z. B. durch den Umstand, daß die erwartete Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals schneller fällt als der Zins. Deshalb bezeichnet Keynes das Geld zwar als den Trank, der das Wirtschaftsleben zur Tätigkeit anregt, fügt aber hinzu, daß sich auf dem Wege des Bechers zu den Lippen noch viel ereignen könne. Diesen Abschnitt abschließend ist festzustellen, daß sich die von Keynes mit "psychologisch" bezeichneten Annahmen in drei Fragenkomplexe aufteilen lassen, die wie folgt bezeichnet werden können: 1. Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartungen. 2. Das Verhalten der Konsumenten. 3. Die vier Motive der Liquiditätsvorliebe. Der Erörterung des Inhaltes dieser drei Komplexe sind die folgenden Kapitel dieser Untersuchung gewidmet. Dabei wird aus Zweckmäßigkeitsgründen von der voranstehenden Einteilung etwas abgewichen. " Keynes, J . M., 111, S. 167.

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VI. Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung Es war dargelegt worden, daß bei den Investitionsentscheidungen der Gegenwartswert des voraussichtlichen Erträgnisses eines Kapitalgutes als Zins der Anschaffungskosten des Kapitalgutes verstanden und mit dem Zinssatz des Marktes verglichen wird. Die dabei mitspielenden Erwartungen bezeichnet Keynes als "langfristige" Erwartungen zur Unterscheidung von den "kurzfristigen" Erwartungen, die sich nicht auf die Erstellung neuen Realkapitals beziehen, sondern darauf, welche Erträge mit der schon bestehenden Kapitalausrüstung erzielt werden könnten. Wie ennittelt man nun die künftigen Erträgnisse eines Kapitalgutes und wovon hängen die dabei mitwirkenden Erwartungen ab? - Keynes bemerkt dazu folgendes: Es sei das übliche Verfahren, "die gegenwärtige Lage zu nehmen, in die Zukunft zu verlängern und sie nur in dem Maße abzuändern, in welchem mehr oder weniger bestimmte Gründe für die Erwartung einer Änderung" bestehen45 • Wenn man ehrlich sei, müsse man zugeben, daß die Grundlage der Schätzung des zukünftigen Erträgnisses eines Unternehmers sehr fragwürdig und manchmal gleich null sei46. Die langfristige Erwartung, auf die sich die Entscheidungen stützten, beruhe daher nicht nur auf der wahrscheinlichsten Voraussage, sondern insbesondere auch auf dem Vertrau,en, mit dem man die Voraussage mache. Dieser "Zustand des Vertrauens" sei von den Ökonomen nicht sorgfältig genug analysiert worden. Insbesondere habe man nicht klar gemacht, daß er einer der Rauptbestimmungsgründe der Tabelle der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals und damit der Investitionen sei. Über den Zustand des Vertrauens -so heißt es weiter -könne man a priori nicht viel aussagen. Man müsse seine Folgerungen hauptsächlich auf die tatsächliche Beobachtung der Märkte und die Geschäftspsychologie stützen, Die von ihm bei seinen Beobachtungen gewonnenen Eindrücke schildert Keynes ausführlich. Dabei beschreibt er einmal die Entwicklung der organisierten Investitionsmärkte, deren Wirkungen auf die Investitionen sowie das Verhalten der Spekulanten und zum anderen die Art der Motivation der Nichtspekulanten unter den Investoren. Das wichtigste kann wie folgt wiedergegeben werden: In früheren Zeiten, als die Unternehmen hauptsächlich von denen geleitet wurden, die ihre Eigentümer waren, "stützte sich die Investition auf ein genügendes An.gebot von Einzelnen von sanguinischer Veran~ ~6

Keynes, J. M., IV, S. 125. Siehe Fußnote 45.

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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lagung und schöpferischen Eingebungen" 47• Die Entscheidungen waren zwn großen Teil sowohl für das Gemeinwesen als auch für den Einzelnen unwiderruflich. Die heute vorherrschende Trennung von Eigentum und Leitung hat dies geändert. Der Einzelne hat Gelegenheit, durch die an den Börsen stattfindende ständige Neubewertung der Investitionen seine Beteiligung leicht zu ändern. "Es ist so", sagt Keynes, "als ob ein Bauer, nachdem er nach dem Frühstück aufs Barometer geklopft hat, zwischen 10 und 11 Uhr vormittags sich entscheiden könnte, sein Kapital vom Bauerngeschäft zurückzuziehen und gegen Ende der Woche neu erwägen könnte ,ob er es wieder einsetzen soll48." Unvermeidlicherweise wird durch diese tägliche Neubewertung, die an sich der leichteren Übertragung der Investitionen dient, ein entscheidender Einfluß auf die Rate der laufenden Investition ausgeübt. "Denn es hat keinen Sinn, für eine Investition 25 zu bezahlen, von der man glaubt, daß ihr voraussichtliches Erträgnis einen Wert von 30 rechtfertigt, wenn man gleichzeitig der Meinung ist, daß der Markt sie nach drei Monaten mit 20 bewerten wird49. " "Dagegen besteht Veranlassung, für ein neues ProjP.kt eine übertrieben scheinende Summe auszugeben, wenn es an der Börse mit sofortigem Gewinn flott gemacht werden kann51)." So ist es zu verstehen, daß ein großer Teil der Investitionen nicht durch die echten Erwartungen beruflicher Unternehmer, sondern durch die Erwartungen jener bestimmt werden, die an der Börse handeln. Wie werden an der Börse die ständigen Neubewertungen bestehender Investitionen vorgenommen und welcher Art sind die Erwartungen der Spekulanten? -Die beruflichen Investoren oder Spekulanten befassen sich im allgemeinen nicht damit, das voraussichtliche Erträgnis einer Investition langfristig vorauszusehen. Ihr Tun ist vielmehr darauf gerichtet, in einem "Wettkampf der Gerissenheit" die zukünftigen Änderungen der "konventionellen Bewertung" der Wertpapiere zu erkennen, bevor diese von der großen Menge des Publikums erlaßt werden. Demgemäß sind sie bestrebt, die Einflüsse der Umwelt auf die "Massenpsychologie des Marktes" 51 vorwegzunehmen. Und da das für alle gilt, sucht man herauszufinden, was die Mehrheit darüber denkt, wie die Mehrheit beeinftußt werden wil'd. Weil aber auch das viele tun, wird es manche geben, die diese Tendenz wiederum zu übersteigen versuchen. Keynes, Keynes, 49 Keynes, so Keynes, st Keynes, 4t

48

J. J. J. J. J.

M., IV, M., IV, M., IV, M., IV, M., IV,

S. S. S. S. S.

126. 127. 131. 127. 131.

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Und ich glaube, bemerkt Keynes, daß es sogar einige gibt, welche den Tierten, fünften und noch höhere Grade erreichen. Auf Grund der geschilderten Vorgänge kommt Keynes zu dem Ausspruch, daß von den Leitsätzen orthodoxer Finanzpolitik sicherlich keiner antisozialer sei als der "Fetisch der Liquidität". Ursprünglich hätten geschickte Investitionen dem sozialen Zweck zu dienen, die "dunklen Kräfte der Zeit und der Unwissenheit zu überwinden, die unsere Zukunft einhüllen". Der tatsächliche Zweck der geschicktesten Investition von heute aber sei, "der Kugel vorauszueilen- to beat the gun, wie es die Amerikaner so trefflich ausdrückten - schlauer zu sein als die Masse" und "den schwarzen Peter an seine Nachbarn weiterzugeben, bevor die Partie aus ist" 52• Soweit Keynes zur Börsentätigkeit, deren großen Einfluß auf die Investition und der speziellen Art von Erwartungen der Spekulanten. Es ist noch zu ergänzen, welche Art von Einfluß er den Kreditinstituten zuschreibt. Da die Spekulanten nicht unbegrenzt über Geld zum Marktzins verfügen, werden sie sich in vielen Fällen etwas leihen müssen und so von den Bedingungen der Kreditinstitute abhängig werden. Infolgedessen wird auch das Vertrauen, welch·es diese zu ihren Gläubigem haben, auf die Investitionstätigkeit einwirken. Eine Änderung im Preis der Wertpapiere kann also sowohl durch eine Schwankung des Vertrauens der Spekulanten als auch des ihrer Kreditgeber verursacht worden sein.

Nachdem gezeigt worden ist, in welcher Weise die Spekulation Unbeständigkeiten in der Investitionstätigkeit hervorruft, ist noch hinzuzufügen, inwiefern auch die Tätigkeit der Nichtspekulanten, derjenigen also, die sich tatsächlich bemühen, die Erträgnisse von Kapitalanlagen im voraus einzuschätzen, nach Keynes eine Quelle der Unbeständigkeit ist. Einiges wurde anfangs schon dazu gesagt. Es ist hier zu el'lgänzen. Die Eigenheit der menschlichen Natur bewirkt - so etwa drückt Keynes sich aus -, daß ein großer Teil unserer Tätigkeiten mehr die Folge von spontanem Optimismus als von mathematischen Erwartungen ist. Die "Untemehmenslust" werde zwar mit Hilfe der Angaben begründet, die im Prospekt stehen und durchaus ehrlich gemeint sind. In Wirklichkeit aber sei es der allgemeine Drang zur Aktivität und eine positive Stimmung, die uns zu unseren Entschlüssen bewege. Sinke die Grundstimmung und schwinde der Optimismus, so daß nur noch die nackte mathematische Erwartung bleibe, werde man auch die Unternehmenslust verlieren. Unglücklicherweise bedeute dies, daß sowohl 12

Keynes, J. M., IV,

~.

131.

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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Niedergänge als auch Aufschwünge übermäßig von den politischen und gesellschaftlichen Stimmungen der Geschäftsleute abhängig sind. Dennoch dürfe daraus nicht geschlossen werden, daß alles von Wellen irrationaler "Psychologie" abhänge. Vielmehr sei der Zustand der langfristigen Erwartung oft beständig, zumal andere Faktoren eine ausgleichende Wirkung ausübten. Und wörtlich: "Wir wollen uns lediglich erinnern, daß menschliche Entscheidungen, welche die Zukunft beeinflussen, ob persönlicher, politischer oder wirtschaftlicher Art, sich nicht auf eine streng mathematische Erwartung stützen können, weil die Grundlage für solche Berechnungen nicht besteht; und daß es unser angeborener Drang zur Tätigkeit ist, der die Räder in Bewegung setzt, wobei unser vernünftiges Ich nach bestem Können seine Wahl trifft, rechnend, wo es rechnen kann, aber oft hinsichtlich seiner Beweggründe auf Laune, Gefühl oder Zufall zurückfallendss." Soweit Keynes. - - Es wird nun der Versuch unternommen, die Ausführungen von Keynes zum Problem der Erwartungen und dem Verhalten der Investoren und Spekulanten von psychologischer und anthropologischer Seite her zu beleuchten. Dabei soll - wie auch in den folgenden Kapiteln - festgestellt werden, welche wissenschaftliche Dignität die Darlegungen von Keynes haben, ob sie inhaltlich ausreichen, die Gegenstände in einem genügenden Maße verständlich zu machen, ob sie mit psychologischen Arbeiten in Einklang stehen und welcher Realitätsgehalt ihnen zugeschrieben werden kann. Die Feststellung des letzteren ist natürlich nur soweit möglich, wie andere Unterlagen eine solche Beurteilung erlauben. Eine derartige Untersuchung kann nicht einfach - worauf eingangs schon hingewiesen wurde- darin bestehen, ohne weiteres die Keynes'schen Annahmen zu den in Frage stehenden Phänomenen einerseits mit entsprechenden psychologischen Untersuchungen andererseits zu vergleichen. Das liegt einmal daran, daß man sich von der Seite der Psychologie her speziell mit den ökonomischen Erwartungen und dem, was damit zusammenhängt, nicht befaßt hat - ausgenommen Katona, der angeführt wel'den wird. Es ist daher zunächst erforderlich, vorhandene psychologische Arbeiten so auszuwerten, daß eine Konzeption der Erwartungen gewonnen wird, von der her eine Beurteilung der Ansichten von Keynes möglich ist. Zum anderen ist eine Untersuchung der Ausführungen von Keynes unter den skizzierten Gesichtspunkten auch. dadurch mit Schwierigkeiten verbunden, daß die genaue Ansicht von Keynes aus dem Text nicht immer eindeutig zu entnehmen ist. Es ss

Keynes, J . M., IV, S. 137.

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sind an verschiedenen Stellen stehende Aussagen zu finden, die sich gegenseitig einschränken. So heißt es z. B. auf Seite 124/25 (Allgemeine Theorie) hinsichtlich der Erwartungen, daß es einfältig sei, bei der Bildung von Erwartungen "zuviel Gewicht auf ungewisse Faktoren" zu legen, und daß es aus diesem Grunde unser "übliches Verfahren" sei, "die gegenwärtige Lage zu nehmen, in die Zukunft zu verlängern und sie nur in dem Maße abzuändern, in welchem . . . mehr oder weniger bestimmte Gründe für die Erwartung einer Änderung bestehen". Und auf Seite 267 wird gesagt, daß die Erwartungen auf Grund dessen, daß "sie sich auf wandeLbares und unzuverlässiges Beweismaterial stützten", "plötzlichen und heftigen Änderungen unterworfen" seien. (. . . they are subject to sudden and violent changes" p. 315 General Theory.) Abgesehen davon, daß auf Seite 125 die "Änderung einer Erwartung" durch die "Erwartung einer Änderung" erklärt wird, sind beim Vergleich, der beiden Stellen auch noch andere Unklarheiten zu finden. Wird bei der Bildung von Erwartungen nun Gewicht auf ,.ungewisse Faktoren", auf "unzuverlässiges und wandelbares Beweismaterial" gelegt oder nicht? Auf den Seiten 124/25 wird dies, weil es einfältig sei, ausgeschlossen; auf Seite 267 dagegen ist es unterstellt. Wird bei der Bildung von Erwartungen die gegenwärtige Lage in die Zukunft verlängert und die so gewonnene Erwartung nur in solchen Fällen ausgewechselt, in denen mehr oder weniger bestimmte Gründe den Anstoß dazu geben, oder ist die Lage so, daß mit "plötzlichen und heftigen" Schwankungen zu rechnen ist? Wenn das erstere das letztere auch nicht völlig ausschließt, ist es doch sehr wichtig klarzustellen, in welcher Häufigkeit "plötzliche Schwankungen" eine Rolle spielen. Nach den Ausführungen von Seite 125 müßte man annehmen, daß sie nur selten auftreten. Ist es so? -Das sind alles Fragen, die der Text von Keynes offenläßt, obwohl ihre klare Beantwortung wichtig ist. Das Vorhandensein dieser Fragen macht zugleich deutlich, weshalb ein Vergleich der Keynes'schen Ausführungen mit Arbeiten der Psychologie auch von der Keynes'schen Seite her mit Schwierigkeiten verbunden ist. Die auf S. 68 folgende Darstellung einer psychologischen Konzeption der Erwartungen wiro zu entscheiden haben, welcher der Aussagen von Keynes der Vorzug gegeben werden muß. Noch einmal gesagt: Es werden im folgenden zunächst die von K eynes bei seinen Auslassungen über die Erwartungen berührten Phänomene und Fragen an Hand von Ausführungen aus den Gebieten der Psychologie und Anthropologie dargestellt und untersucht. Dabei wird vom Allgemeinen zum Speziellen fortgeschritten, indem z,u nächst an Hand einiger Merkmale Unterschiede zwischen Tier und Mensch herausge-

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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stellt werden, um mit Hilfe dieser Unterscheidung zu veroeutlichen, wie sich aus der speziellen Situation des Menschen heraus das Problem der Erwartungen ergibt; nachfolgend wird dieses dann psychologisch analysiert. Sodann soll gezeigt werden, wie sich von den gewonnenen Ergebnissen her gesehen die Bemerkungen von Keynes ausnehmen. Jedes Lebewe5€n existiert, wie J. von Uexküll in seinen Forschungen gezeigt hat, in einer art-spezifischen Umwelt. Die verschiedenen Tierarten reagieren nicht auf alle tatsächlich vorhandenen physikalisch registrierbaren Reize, sondern nur auf diejenigen, die für sie bedeutsam sind. Eine Eidechse z. B. läßt einen Pistolenschuß völlig unbeachtet, während ein leises Rascheln sie zu einer sofortigen Reaktion veranlaßt. Denn ihr Verhalten wird- ebenso wie das der anderen Tiere- nur durch die artspezifischen Auslöseschemata gesteuert, während andere Reizkonstellationen unbeantwortet bleiben. Eine objektiv gleiche Welt liefert also verschiedenen Lebewesen ve rschiedene Umwelten. Eidechsen leben in der Eidechsenwelt, Hunde in der Hundewelt usw. Diese artspezifischen Welten der Tiere haben gemeinsam, daß sie sogenannte "animalische Nahwelten" sind, d. h. Welten, die nur aus Handlungsdingen und Gerätedingen bestehen. Die Tiere leben in diesen Welten ganz im Banne ilwer Instinkte und Triebe. Je nach der Bedürfnislage wird die jeweilige Nahwelt verschieden erlebt, haben ihre Gegenstände eine verschieden starke Anziehungskraft. Einem solchen Leben in der Nah-welt entspricht, daß die Handlungen nur eine kleine Spannweite haben. Wie ist nun die artspezifische Umwelt der Menschen beschaffen? Der Mensch lebt nicht in einer animalischen Nahwelt, sondern in einer relativen Fern-welt. Er ist nicht, völlig im Banne von Trieben und Instinkten, im unmittelbar Gegebenen befangen. Er vermag sich davon zu distanzieren. Das unmittelbar Gegebene kann als eingebettet erlebt werden in einen unendlichen Raum und in eine unendliche Zeit. Dabei wirkt die Symbol-funktion der Menschen mit. Etwas, was nicht unmittelbar gegeben ist, wird symbolisch erlebt mit Hilfe von dinglichen Bildern, Schemata und sprachlichen Lautgebilden. Die Symbolfunktion ist etwas spezifisch Menschliches. Hier interessiert an der Fernwelt insbesondere das zeitliche Moment. Der Mensch vermag das Gegenwärtige als eingebettet in eine Aufeinanderfolge von Ereignissen zu erleben, die, aus einem Unendlichen kommend, über das gegenwärtige Ereignis unendlich weiter hinauslaufen wird. Das heißt jedoch nicht, daß sein "zeitlicher Gesichtskreis", den man mit Katona auch "Zeit-Perspektive" (time-perspective) nennen

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kann, ständig soweit ausgedehnt ist. Im allgemeinen wird dieser innerhalb relativ naher Grenzen schwanken. Die Möglichkeit, den Gesichtskreis zeitlich auszudehnen, dient dem Menschen, als Handelnden, zur Orientierung. Er wird dadurch in die Lage versetzt, in seinen Handlungen beträchtlich über das unmittelbar Gegebene hinausgreifen zu können. Neben der Möglichkeit, in die Vergangenheit und in die Zukunft zu blicken, stehen im Dienste der Orientierung des Handelnden ferner die Lernvorgänge. Lernvorgänge in natürlich~n Situationen wird man nach Klee "als Glied eines Handlungsvollzuges entdecken, wobei die Gerichtetheit auf ein Ziel, das Vorhandensein eines Motivs, die Voraussetzung des Erlernten .bildet"54. Die Möglichkeit, durch Erweiterung des zeitlichen Gesichtskreises in die Vergangenheit Zusammenhänge zu überschauen, und die Möglichkeit des Lernens erlauben dem einzelnen, Erfahrungen zu gewinnen. Der Besitz von Erfahrungen und die Möglichkeit, den Blick in di~ Zukunft zu richten, sind die Bedingungen der sich in den verschiedenen Lebensbereichen bildenden, mannigfachen, mehr oder weniger präzisen, Erwartungen.

Das im vorangegangenen Absatz Gesagte ist ein grober Abriß. Ohne die Dinge unnötig komplizieren zu wollen, muß noch etwas spezifiziert werden, weil ansonsten das Problem der Erwartungen nicht klar wird. Es muß nämlich ~rwähnt werden, daß man zwischen zwei Formen des Lernens unterscheiden kann: 1. Lernen durch Wiederholung, 2. Lernen durch Einsicht. - Katona bezeichnet die zweite Form als "learning through understanding". Es wurde hier mit Bedacht die Bezeichnung "Lernen durch Einsicht" gewählt, weil eine Übersetzung mit "Lernen durch Verstehen" ohne nähere Erläuterung leicht zu Mißverständnissen führt. Überdies haben auch englisch schreibende Autoren von "insight" gesprochen, so z. B. Carl J. Hovland55. - Ausführlichere Angaben über die beiden Formen des Lernens folgen. Hier soll zunächst festgestellt wer·den: Wenn der Besitz von Erfahrungen eine Bedingung der Erwartungen ist, die Erfahrungen aber durch zwei Formen des Lernens erworben werden, dann ist klar, daß es - genauer gesagt - zwei Arten von Erfahrungen geben muß und zwei Arten von Erwartungen auftreten können. Dementsprechend heißt es bei Katona: "The study of expectations .forms are part of the psychology of learning, since expectations are not innate or instinctive forms of behaviour but rather ;;4

55

Thomae, H., S. 33.

Hovland, C., J .

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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the result of experience. Therefore, expectations are explained by the same two principles by which alllearning is explained, that is, by repitltion or understanding (or :both)"56. In den Ausführungen der drei voraufgehenden Absätze ist ein Schema entworfen worden, das den Gang und die Gegenstände der unmittelbar folgenden Erörterungen vorschreibt; denn es gilt jetzt, dieses Schema auszufüllen und in einem höheren Maße transparent zu machen. Dabei tritt die anthropologische Perspektive, d. h. diejenige, die den Menschen in seiner Gesamtheit als körperlich-seelisches und am Geistigen teilhabendes Wesen betrachtet und von der her der Eingang in das Problem der Erwartungen gesucht wurde, weitgehend in den Hintergrund. Stattdessen werden vorwiegend solche Fragen behandelt werden, die mit den innerseelischen Vorgängen verbunden, also psychologischer Natur sind. Demgemäß entstammen auch die verwendeten Begriffe und Termini zum großen Teil dem Arsenal der Psychologie. Die Erörterungen betreffen insbesondere zwei Formen des Lernens, die durch sie bedingten zwei Arten von Erwartungen sowie die Zusammenhänge zwischen ihnen und den Handlungen. Es wird in ihrem Verlaufe an einigen Stellen noch weiter unterteilt werden müssen. Bei der ersten Art von Erwartungen, die ja auf Erfahrungen fußt, welche mit Hilfe des Lernvorganges der "Wiederholung" gewonnen wurden, wird der Eintritt bestimmter Ereignisse erwartet, weil man ihr Auftreten in bestimmten Zusammenhängen häufig erlebte. Wenn etwa - wie Katona in einem Beispiel schildert - jemand eine Reihe von Malen die Aufeinanderfolge von a - b - c - d - erlebte, wird er "lernen", daß auf a-b weiter c - d folgt. Die so gewonnene "Erfahrung" setzt ilm in den Stand, bei einem neuen Auftreten von a-b die Folgec-d zu "erwarten". Die Stärke der Erwartung wird dabei von der Häufigkeit der Erfahrung abhängen. Diese Art von Erwartung ist im täglichen Leben sehr häufig anzutreffen. Der überwiegende Teil unserer Erwartungen ist so beschaffen, wie sich leicht nachweisen läßt. Das gilt auch für Unternehmer und andere Wirtschaftssubjekte. Es entspricht diesem Typ von Erwartung ein "gewohnheitsmäßiges" Handeln, das nach einem sogenannten "Vollzugsschema" abläuft. Das gewohnheitsmäßige Handeln erfordert keine neuen Entschlüsse. Es kann schließlich so eingebahnt sein, daß ihm g.a r nicht mehr "bewußte" Erwartungen vorausgehen.

" Katona, G., I, S. 53.

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Die zweite Art von Erwartungen wurzelt im "Lernen durch Einsicht". Dieses liegt - kurz gesagt - dann vor, wenn ein entstandenes "Problem durch Erfassung eines generellen Prinzips oder einer Methode gelöst wird" 57• In Anknüpfung an das bei der Erläuterung des ersten Typs der Erwartungen Gesagte sind die seelischen Vorgänge, in deren Rahmen es zum "Lernen durch Einsicht" kommt, so darzustellen: Der Eintritt eines Ereignisses ist erkannt worden, das dem bisher gewohnten Ablauf der Erscheinungen nicht entspricht und daher nicht sofort intellektuell voll eingegliedert werden kann. Die in solcher Weise aufgetretene Schwierigkeit stellt dem davon Betroffenen die Frage, die einen Denkprozeß auslöst, der erst einen Abschluß findet, wenn das Individuum zu einem "Gewißheitserlebnis" gelangt. Die mit Hilfe dieses Lernvorganges durch Einsicht gewonnenen Aufschlüsse sind die Bedingungen einer neuen, ursprünglichen und inhaltlich vom bisher Gewohnten abweichenden Erwartung. Da unterstellt wird, daß der ganze geschilderte seelische Vorgang in einer - wie es oben genannt wurde - natürlichen Situation auftritt, ist er dementsprechend Glied eines Handlungsvollzuges. Es ist also weiter anzuführen, daß die neue Erwartung denjenigen, der sie hat, nötigt, vom gewohnheitsmäßigen und jetzt inadäquat gewordenen Verhalten Abstand zu nehmen und auch eine neuartige Handlung vorzunehmen, die der neuen Erwartung angemessen ist. Es bedarf zu dieser Handlungsumorientierung einer echten Entscheidung, einer "genuinen" Entscheidung, wie Katona es nennt.- Um das Ganze noch einmal mit anderen Worten auszudrücken, sei eine Bemerkung von Thomae angeführt, in der es heißt: "Denken und Sichentscheiden sind Orientierungs- und Lösungsversuche von gestellten Problemen, welche sich in jeweils neuartigen Lagen ergeben und zu ihrer Beendigung dieser Neuartigkeit Rechnung tragen müssen. Sie sind beide Formen und Folgen einer Distanzierung vom Eingeschliffenen und Bewährtenss." Zur Illustration einer derartigen Situation des Erwägens und der Entschlußd'assung sei ein Beispiel angeführt: "Man versetze sich etwa in die Lage eines nicht sonderlich wege- und wetterkundigen Bergsteigers, der sich allein a.uf eine Hochtour begeben hat und auf Grund bestimmter Wolkenbildungen am Himmel zu entscheiden sucht, ob er weiter aufsteigen kann oder ob er umkehren soll. Im einen Augenblick gelten dabei die gleichen atmosphärischen Gebilde als drohende Anzeichen eines Wetters, im anderen sind sie bloße Hitzewirkungen und damit gefahrlose Erscheinungen59." &7

&~ &t

Hovland, C., J., S. 152. Thomae, H., S. 40. Thomae, H., S. 39.

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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Aus der geschilderten Situation ist zu entnehmen: Eine Erscheinung ist aufgetaucht, die nicht sofort intellektuell eingegliedert werden kann und den Handlungsablauf hemmt. Dadurch wird eine Frage aufgeworfen, die einen Vorgang des Erwägens auslöst, an dessen Ende eine bestimmte Beurteilung der Lage steht, positiver oder negativer Art. Aus dieser wird wiederum die Erwartung abgeleitet, von welcher der Entschluß abhängt, der das weitere Handeln bestimmt. Es ist nun hinsichtlich dieser Art von Erwartungsbildung noch eine Unterscheidung einzuführen: (1) Der Beurteilungsvorgang, der ja den Zweck hat, die zweifelbeladene Erscheinung intellektuell einzugliedem, wird je nach der Lage mehr oder weniger brauchbare Anhaltspunkte haben. Sind die Gegebenheiten ausreichend und eindeutig genug, um zu einer klaren Schlußfolgerung kommen zu können, wird auch eine ganz bestimmte Erwartung gewonnen werden, welche die Entscheidung leicht macht. Dies ist an sich der einzige Fall, in dem wirklich eine ganz bestimmte und sicher erscheinende Erwartung gebildet wird. Die Wirklichkeit zeigt jedoch, daß er nicht sehr häufig ist. In reiner Form kommt so etwas wohl nur als Erwartung des Ergebnisses eines ausgelösten Naturprozesses vor, wenn man die Größen, die ihn determinieren, und die Gesetzlichkeiten, nach denen er abläuft, kennt. - Die Möglichkeit, derartig eindeutige Schlüsse (hier nicht logisch, sondem psychologisch, d. h. als Bestandteil seelischen Geschehens gemeint; logisch gesehen sind Schlüsse eindeutig oder keine) und der sich darauf stützenden Erwartungen kann in bezug auf Vorgänge im Raume des Sozialen, bei denen ja das Verhalten anderer Akteure miteinkalkuliert werden muß, nicht angenommen werden, wie auch im folgenden noch gezeigt wird. Es sei hier erwähnt, daß Jöhr im Rahmen seiner Untersuchungen der Konjunkturschwankungen zu einem gleichen Resultat kommt. Als Beleg sei ein Zitat angeführt: "Von größter Bedeutung ist sodann der Umstand, daß das Wirtschaftssubjekt sich in seinen Entschlüssen von Erwartungen leiten läßt und daß diese Erwartungen ihm als ungewiß erscheinen. Zahlreiche Versuche wurden besprochen, welche diese Ungewißheit so interpretieren oder transformieren wollen, daß das Subjekt in der Lage wäre, eine eindeutige Entscheidung abzuleiten. Diese Versuche vermochten aber nicht zu befriedigen und noch weniger konnte angenommen werden, daß die Wirtschaftssubjekte tatsächlich sich gemäß einer dieser Theorien verhalten ... uo." eo

Jöhr, W. A., S. 459.

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John Maynard Keynes als Psychologe

(2) Nun zur anderen und für die Sozialwissenschaften wichtigeren Variante des geschilderten Orientierungsvorganges. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Gegebenheiten der Beurteilung nur wenige Anhaltspunkte liefern. Daß diese Variante einer Aufhellung bedarf, hat Jöhr folgendermaßen ausgedrückt: "Es ist Aufgabe der Psychologie, die Tatsache zu erklären, daß der Mensch Entscheidungen fällt, obwohl er die Möglichkeiten nicht besitzt, mit den Mitteln der Introspektion und der Ratio die Ungewißheit aufzulösen61 ." Dazu ist zu sagen, daß dieser Tatbestand wohl nicht allein psychologisch, sondern nur anthropologisch voll einsichtig gemacht werden kann. Aus der Struktur des Menschen heraus verstanden, der nach Gehlen ein Handelnder ist, welcher die Mängel seiner biologischen Ausstattung in Chancen der Lebensfristung umzuarbeiten hat, zeigt sich die geschilderte Art von Entsch.e idungen als eine Gegebenheit zwanghafter Art. Das ist übrigens nicht erst jetzt erkannt worden. Schon Kant hat, wie Gehlen bemerkt, den vom Standpunkt aller Rationalisten aus paradoxen Sachverhalt gesehen, den man so ausdrücken könne, daß "die Notwendigkeit zu handeln weiter reicht, als die Möglichkeit, zu erkennen"62. Eine These, mit der übrigens die Keynessche Ansicht, daß menschliche Entscheidungen, welche die Zukunft betreffen, sich nicht auf strenge mathematische Erwartung stützen können, weil die Grundlage für solche Berechnung fehlt, zu vereinbaren ist. Psychologisch gesehen ist zu dem angeschnittenen Problem zu sagen: Situationen, in denen Entscheidungen zum Handeln getroffen werden müssen, ohne daß die Gegebenheiten voll übersehen werden, d. h. also, ohne daß sich weitere Erwartungen auf Grund klarer Schlußfolgerungen bilden können, sind - wie experimentell nachgewiesen wurde - für das betroffene Individuum mit starken und unangenehmen Spannungserlebnissen verbunden. Diese verringern sich sofort, wenn von dem betroffenen Individuum bei der Beurteilung der Lage eine "Patentlösung" übernommen wird, anstatt im Stadium des Nichtwissens oder bei einer selbstgebildeten, aber mit Zweifel belasteten Ansicht zu bleiben. Von daher ist die in Situationen der Ungewißheit vorherrschende Tendenz zu verstehen, auf "allgemeine Prinzipien" oder gängige Meinungen und Auffassungen, sogenannte Stereotype, zurückzugreifen6'. Der unsichere und durch die Ungewißheit innerlich beunruhigte Einzelne kommt auf diese Weise doch noch dazu, sein Bedürfnis nach Gewißheit zu befriedigen und Halt zu finden. 11 81 83

Jöhr, W . A., S. 413. Gehlen, A., 11, S. 328; (Sperrschrift nicht im Text). Hofstätter, P. R., I.

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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Während bei der zuvor geschilderten Variante der Erwartungsbildung, bei der auf Grund der gegebenen Daten klare Folgerungen möglich sind, der Akzent auf dem Beurteilungsvorgang liegt und die Entscheidung wegen der kLaren Schlüsse leicht fällt, ist es bei der zweiten Variante anders. Bei ihr liegt der Akzent auf dem Entschluß, der Entscheidung. "Denn die Steigerung des Ungewißheitsfaktors, das Gestelltsein ins ,Leere' ist es, was das Spezifische des Entscheidungsvorganges ausmacht64." Tritt ein solcher Fall, bei dem der Entschluß gegenüber dem Urteilenkönnen überwiegt, im Bereich des Ökonomischen auf, was ja häufig ist, so heißt das, daß ein "Wagnis" eingegangen wird. Um die Übernahme von Stereotypen in Situationen der Ungewißheit

zu veranschaulichen, sei noch einmal das Beispiel vom Bergsteiger

herangezogen. Dieser wird etwa - wie Thomae ausführt - auf so allgemeine Redensarten zurückgreifen wie: "Was kann mir schon passieren?" Oder aber :"Ach was, für einen Gipfel riskiert man doch nicht sein Leben65 !" Bei solcher Art von Erwartungsbildung und Enschlußfassung kommen ferner "Stimmungen" ins Spiel, und zwar um so mehr, je unklarer die Gegebenheiten sind. Neben individuellen Stimmungen (wie etwa bei dem Bergsteiger) werden vor allem kollektive einen Einfluß ausüben. Herrscht gerade eine pessimistisch getönte Stimmung, so überwiegen in der Gruppe oder in der öffentlichen Meinung auch die negativen und zur Vorsicht ratenden Stereotypen. Das bei der Entschlußfassung auf Anlehnung bedachte Individuum wird dann auf diese zurückgreüen und sie verstärken. Es kommt auf diese Weise zu einer "Gleichrichtung des Handelns", die nach' Jöhr für das Verständnis der Konjunkturbewegungen wichtig ist66. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, daß die seelischen Vorgänge der beiden Varianten der Erwartungsbildung und der Entschlußfassung in den einzelnen Individuen nicht in der sukzessiven Fonn vonstatten gehen müssen, in der die beiden Varianten dargestellt worden sind. Vielmehr werden Stadien, die in der Darstellung aufeinanderfolgen, in der Wirklichkeit oft unmittelbar miteinander verbunden sein. So heißt es auch bei Thomae im Rahmen seiner Analyse des von ihm angeführten Beispiels vom Bergsteiger einmal: "Die zugehörige Reaktion folgt dem getroffenen Urteil oder Schluß unmittelbar67." Thornae, H., S. 41. aa Thomae, H., S. 41. " Jöhr, W. A., S. 617.

84

11

Thomae, H., S. 40.

5 Keynes als Psychologe

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Der Vollständigkeit halber sei schließlich noch hinzugefügt, daß die Alleignung eines Stereotyps meist unbeabsichtigt und .u nbewußt vonstatten geht6B. Man glaubt, ganz selbständig zu dieser oder jener Auffassung der Lage und zu dem bestimmten Entschluß gekommen zu sein und gibt oft nachträglich Gründe an. Doch handelt es sich meist um sogenannte "sekundäre Rationalisierung", d. h. um später herangezogene Begründungen, die im Augenblick der Entschlußfassung keine Rolle spielten. Die Erörterungen abschließend kann zusammenfassend festgestellt werden, daß es zwei HaUlptarten von Erwartungen gibt. (I) Eine wurzelt im Lernvorgang der Wiederholung. Es entspricht ihr ein Handeln gewohnheitsmäßiger Art, das sehr häufig vorkommt. Das gewohnheitsmäßige Handeln kann schließlich so schematisch vonstatten gehen, daß die Erwartungen verblassen und gar nicht mehr jedesmal zuvor im Bewußtsein sind. (II) Die andere Hauptart der Erwartungen kommt mit Hilfe von Lernen durch Einsicht zustande. Dazu bedarf es eines stärkeren äußeren Anstoßes, indem ein neuartiges Problem, eine Frage auftritt, die zu lösen ist. Die BiLdung solcher Erwartungen ist mit größerem seelischen Energieaufwand verbunden. Dementsprechend und erfahrungsgemäß kommt sie nicht oft vor. - Ferner ist anzuführen, daß bei der zweiten Art von Erwartungen zwei Varianten zu unterscheiden sind. (1) Die Gegebenheiten lassen klare und eindeutige Schlußfolgerung zu. Das ist innerhalb der ohnehin schon für beide Varianten geltenden Einschränkung selten der Fall. Im Raume des Sozialen gibt es so etwas wohl nur in dem Sinne, daß etwa im Rahmen vertraglicher Abmachungen bestimmte Details mit großefl Wahrscheinlichkeit erwartet werden können oder daß etwa auf Grund eines eingetretenen Ereignisses mit Sicherheit angenommen werden kann, daß der gewohnte Ablauf der Ereignisse sich nicht wiederholen wird, ohne daß man mit gleicher Sicherheit sagen kann, was stattdessen passieren wird. (2) Bei der anderen, für die Sozialwissenschaften wesentlicheren Variante der im Lernvorgang der Einsicht wurzelnden Erwartungen spielen Beurteilungsvorgänge eine geringere Rolle. Stattdessen liegt der Akzent auf der Entscheidung, die mit der Übernahme eines mehr optimistisch oder pessimistisch getönten Stereotyps unmittelbar verbunden ist. ~aßt man das Ergebnis noch allgemeiner, kann man sagen, daß die Bildung echter, originärer Erwartungen und die damit ver:bundenen es

Hofstätter, P. R., I, S. 7.

Das Verhalten der Investoren und das Problem der Erwartung

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Handlungsumorientierungen zwar nicht fehlen, doch selten sind. Im allgemeinen wird gewohnheitsmäßig gehandelt, wobei den Erwartungen ~ sofern sie überhaupt jedesmal gebildet wer.den - die Annahme zugrunde liegt, auf a---,b werde wieder c--d folgen. In ähnlicher Form drückt es Katona aus, dem in diesem Zusammenhang die Feststellung gerechtfertigt erscheint, daß auch Handlungen im Geschäftsleben oft routiniert sind in dem Sinne, daß Erwartungen und Erwartungswechsel kaum eine determinierende Rolle spielen. - Gäbe es aber tatsächlich einmal einen Erwartungswechsel, dann sei er auch radikal und bei verschiedenen Individuen gleichzeitig. Zur Illustration führt er die Ergebnisse einer Untersuchung des Geschäftsverhaltens unter Preiskontrolle an, bei der gefunden wurde, daß "1. Geschäftsleute bestimmte Preis-, Verkaufs- oder Profiterwartungen nur zu bestimmten Zeiten und nicht zu allen hatten; 2. auftretende neue Erwartungen (d.aß die Preiskontrolle zusammenbrechen würde oder ,the line would be held') gewöhnlich radikale Änderungen der Orientierung darstellten; 3. solche Umorientierungen häufig unter vielen Geschäftsleuten zur gleichen Zeit geschahen69." Nun wteder zu Keynes. Es war angekündigt worden, daß nach einer Darstellung des Problems der Erwartungen mit Hilfe psychologischer und anthropologischer Begriffe gezeigt werden sollte, wie sich die Keynesschen Ausführungen in ihrem Lichte ausnehmen. Es .kann jetzt festgestellt werden, daß die Keynesschen Darlegungen zu roh, zu global und zu lückenhaft gehalten sind, um die berührten Phänomene und die angeschnittenen Fragen in einem befriedigenden Maße verständlich machen zu können. So ist z. B. die von Keynes getroffene Einteilung der Erwartungen in langfristige und kurzfristige nicht ausreich·end, angesichts der vorhandenen Tatbestände. Ferner ist zu beanstanden, daß in einer Reihe von Fällen die Angabe notwendiger näherer Erläuterungen durch bildhafte Ausdrücke ersetzt worden ist. Die Charakterisierungen "Allgemeiner Drang zur Aktivität" und "Positive Stimmung", um ein Beispiel zu nennen, genügen nicht, um einsichtig machen zu können, wie und warum es zu bestimmten Entscheidungen kommt. Und wenn gesagt wird, daß Niedergänge und Aufschwünge übermäßig von den Stimmungen der Geschäftsleute abhängen, SOl wird. aber nicht deutlich gemacht, wie diese Abhängigkeit zustande kommt. Beispiele ähnlicher Art ließen sich anreihen. 89

B*

Katona, G., I, S. 55.

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Eine Angelegenheit bedarf noch der Klärung. Es handelt sich um die beiden oben angeführten und gegenübergestellten Zitate von Keynes. Nach diesen ist es einmal unser übliches Verfahren- auf Grund dessen, daß es einfältig ist, zu viel Gewicht .auf ungewisse Faktoren zu legen-, bei der Bildung von Erwartungen die gegenwärtige Lage in die Zukunft zu verlängern und sie nur in dem Maße abzuändern, in dem bestimmte Gründe dafür sprechen; zum anderen ist es so, daß die Erwartungen wegen ihrer unzuverlässigen Grundlage plötzlichen und heftigen Schwankungen unterworfen sind. Angesichts der Resultate der anthropologischen und psychologischen Analyse der Erwartungen kann jetzt festgestellt werden: Da im allgemeinen gewohnheitsmäßig gehandelt wird und die .Bildung echter Erwartungen und die damit verbundene Handlungsumorientierun.g selten sind, ist der ersten Bemerkung vologischen Ausprägung beträchtlich differieren, so daß eine Vielzahl von Institutionen untersucht werden muß. Jeder Mensch steht ja darüberhinaus "im Schnittpunkt mehrerer Institutionen" 74 • Weiterhin muß man berücksichtigen, daß angesichts des Pluralismus der gesellschaftlichen Kräfte spezielle Untersuchungen der in ihrer inneren Struktur oftmals Eigengesetzlichkeiten unterworfenen verschiedenen sozialen Schichten, Klassen, Stände usw. eine große Rolle spielen werden. Jedoch stellt sich dieser Pluralismus der Gesellschaftskräfte bei einer mehr dynamischen Betrachtung als Ergebnis des allgemeinen sozialen Prozesses dar; die Emanzipation des Individuums aus einem traditionalen, relativ stabilen Normensystem, führte über die Ausdehnung der sozialen Mobilität zu einer wachsenden Differenzierung unserer Gesellschaft. Dabei konnte sich das individualistische Moment je nach der jeweiligen Intensität der traditionalen Gebundenheit mehr oder weniger rasch entfalten, in den Städten mehr als auf dem Lande, in katholischen Gegenden weniger als in protestantischen, in der Neuen Welt auf Grund des geringen Geschichtsbewußtseins mehr als in der Alten Welt usw. Da auf diese Weise innerhalb der sozialen Entwicklung immer wieder rhythmische Verschiebungen, "Verspätungen" und "Verfrühungen" einzelner Teilprozesse konstatiert werden können, vereinfacht sich die Aufgabenstellung insofern, als die Verschiedenheit der nebeneinander bestehenden Normengefüge von Gruppen und Teilsektoren der Gesellschaft letztlich auf graduelle Unterschiede in der allgemeinen sozialen und institutionellen Entwicklung selbst rückführbar ist. Darüber hinaus scheint das Problem im rein wirtschaftlichen Bereich weniger kompliziert zu sein, da sich (neben dem alten mikrosoziologischen Partikularismus) innerhalb der modernen europäisch-amerikanischen Wirtschaftsgesellschaft eine Vereinheitlichung und Normierung des ökonomischen Verhaltens auf breitester Basis andeutet. Es entstehen dabei sog. "Leitbilder", deren Ausbildung und Wirksamkeit von der spezifischen sozialgeschichtlichen Situation der einzelnen Gruppen, Schichten, Völker usw. abhängig ist. Die entsprechend des Abbaues traditionell überkommener Gewohnheiten und Verhaltensweisen mehr 74

Gehlen, A., III, S. 30.

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Zur Theorie der Erwartungen

oder minder ausgeprägte individualistisch-isolierte Einstellung läßt nämlich bestimmte "Entlastungen" 75, in Form neuer allgemeiner NormOrientierung um so dringlicher werden, je größer die partikularistischen Überschneidungen und Normenkonflikte der Teilsektoren sind. Dabei dürfte andererseits den sich so bildenden institutionellen wirtschaftlichen Verhaltensweisen eine Art Sachzwang anhaften, d. h. sie scheinen durch eine "operational authority" unseres arbeitsteiligen ökonomischen Systems bedingt zu sein, die mit der Entwicklung der Massenindustrien und der damit verbundenen Standardisierung und Normierung notwendigerweise eine Schematisierung des Bedarfs wie der Produktion herbeiführt. Dabei gilt es zu beachten, daß durch den beschleunigten und oft sprunghaften Entwicklungsprozeß eines ökonomischen Teilsektors bereits ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten erforderlich und entsprechend dem Sachzwang realisiert werden kann, während in anderen Teilsektoren auf Grund ihrer relativen "Verspätung" noch die "alten", d. h. noch nicht angepaßten Einstellungen, Meinungen, Wertvorstellungen usw. vorherrschen76• Eben auf Grund dieser Erscheinung ist es möglich, daß die durch die "operational authority" bedingten wirtschaftlichen Verhaltensnormen zu den speziellen Leitbildern der einzelnen Gruppen, Schichten usw. in vieler Hinsicht in Widerspruch stehen können, wobei jedoch für den wirtschaftlichen Bereich die Tendenz zu einer "Synchronisierung" der verschiedenen Teilprozesse, einer Angleichung der verschiedenen Gruppennormen und die dominante makrosoziologische Idee gar nicht zu übersehen ist. Berücksichtigt man innerhalb dieser vorstehenden, sozialpsychologischen Analyse die psychologischen und soziologischen Gesetzlichkeiten, die den menschlichen Einstellungen, Überzeugungen und den daraus resultierenden Erwartungen inne wohnen, wenn man m. a. W. also das Individuum in dem "field of interpersonal relations of a particular culture" sieht, dann wird es gelingen können, bis zu einem gewissen Umfang, "to anticipate or ,predict' human behavior which includes the interaction of the individual with his specific human and non-human environment"77, 75 Dieses psychologische Phänomen wurde von Hofstätter in seiner "Psychologie der öffentlichen Meinung" auch für allgemein geistige Bezirke nachgewiesen. Eine Orientierung an vorgedachten Gedanken und Schlagworten (Meinungsstereotype) tritt dabei um so leichter ein, je größer der Unlustzustand des Zweifels bzw. die Konfliktspannung virtueller Motive ist (Angsttheorie). 10 König, R., S. 98. 77 Knapp, K. W., "Economics and the Behavioral Sciences", in: ,K.yklos. Vol. 7, 1954, S. 221.

Schluß

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Es soll hier darauf verzichtet werden, weiter auf die Bedeutung der Erwartungen im Wirtschaftsprozeß einzugehen. Für die Probleme, die sich bei Spar-, Konsum- und Investitionsentscheidungen und den Erwartungen im Konjunkturverlauf ergeben, sind spezielle Untersuchungen nötig. Es ging hier ja nur darum, die grundsätzlichen Zusammenhänge und die Abhängigkeiten der Erwartungsbildung zu zeigen, auf denen derartige Untersuchungen aufgebaut sein müssen. Es soll abschließend nun noch darauf hingewiesen werden, daß die Probleme der Entstehung bestimmter Erwartungen natürlich gerade für die Wirtschaftspolitik von großer Bedeutung sind. Ist es doch bei allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen einigermaßen wichtig zu wissen, welche Erwartungen durch sie bei den Wirtschaftssubjekten ausgelöst werden. Es ist dies ein wechselseitiges Problem. Einerseits beeinflussen die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte, gemessen an den daraus resultierenden Entscheidungen und Handlungen, den Einsatz wirtschaftspolitischer Maßnahmen, andererseits induzieren diese Maßnahmen wieder bestimmte Erwartungen bei den Wirtschaftssubjekten. Gerade für das Ziel einer relativ stabilen Wirtschaft, sind gleichbleibende Erwartungen von .g roßer Bedeutung. "If individuals knew in advance precisely what to expect, personally, at all points in time relevant to their existence, it might be a dull wor1d but certainly a highly stable one78." Daher sind verschiedene "programs of social guidance" entwickelt worden, "to bring up society in the way in which it should go, and the project always runs into difficulties"79 • - In der Tat erscheint es richtiger, die Erwartungen von Produzenten und Konsumenten durch ein gleichmäßig hohes Beschäftigungs- und Einkommensniveau zu stabilisieren, dann würde ihr eigenes, auf solchermaßen stabilisierten Erwartungen beruhenden Verhalten seinerseits in hohem Maße zu Erreichung der Stabilität beitragen; denn die Wirtschaftspolitik ist nichts anderes als Ausdruck eines institutionellen Faktors, über dessen determinierende Bedeutung gesprochen ist.

111. Schluß Man kann die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Theorie der menschlichen Handlungen aufzustellen, innerhalb deren die drei generellen Bedingungen des menschlichen Handelns1 : "uneasi78

7' 1

Holbrook-Working, S. 102. Knight, F. H., zit. bei Holbrook-Working, S. 102. v. Mises, L., S. 14.

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Zur Theorie der Erwartungen

ness", "the image of a more satisfactory state" und "the expectation that purposeful behavior has the power to remove or at least to alleviate the feit uneasiness" die ihnen gebührende Beachtung finden. Man mag bezweifeln, daß dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt sein kann, und darauf hinweisen, daß die individuellen Motivationen, die zu Erstellung eines bestimmten Erwartungsbildes führen, viel zu verschieden sind, als daß die Möglichkeit bestände, ein bestimmtes Verhalten vorauszusagen. Dem läßt sich zusammenfassend folgendes entgegenhalten: 1. Wenn man versucht, eine Theorie der menschlichen Handlungen aufzustellen, dann muß man zunächst davon ausgehen, daß den menschlichen Handlungen insofern eine bestimmte Ordnung innewohnt, als man sie fast alle mit Hilfe eines bestimmten Begriffsapparates allgemeiner Prinzipien erfassen und beschreiben kann. Diese Annahme erscheint realistisch, da gründliche empirische Untersuchungen es nahezu stets erlauben, den Ursachen einer bestimmten Handlung nachzugehen. 2. Man muß dann mit einiger Aussicht auf Erfolg menschliches Handeln mit Hilfe dieser Theorie vorhersagen lernen. Und dies ist - trotz der Mannigfaltigkeit individueller Lebens- und Ausdrucksformen möglich im Hinblick auf die zusammengefaßte Wirkung der Handlungen mehrerer Personen. Die divergierenden, differenzierten Individualhandlungen konvergieren zu "Durchschnittshandlungen", deren Wirkung sich mit Hilfe der Anwendung bestimmter Erfahrensregeln, bestimmter genereller Prinzipien durchaus vorhersagen läßt, gemäß der Ordnung, die jene Prinzipien im Hinblick auf die Motivationen und Beeinflussungen der menschlichen Handlungen ausdrücken. Es ist leicht einzusehen, daß dieses gedankliche Schema sowohl auf Handlungen anwendbar ist, die bewußt, zweckhaftvorgenommen werden, als auch auf solche, die "refiex"artigen Charakter haben, also- in einem gewissen Sinne - "unbewußt" ausgeführt werden, allevdings spielen diese bei unserer Analyse der Erwartungen eine geringere Rolle; hier ist es ja vor allem jenes als "purposeful behavior" bezeichnete Verhalten, dessen Verursachung nachgeforscht werden muß. Und dies, um es noch einmal zusammenzufassen, auf den drei Ebenen sozialpsychologischer Betrachtungsweise, damit das Ordnungsgefüge des homo agens sichtbar wird. 1. Die individualpsychologische Ebene. Die individualpsychologische Determiniertheit der Handlungen ist die erste Stufe, auf der gewisse Regelmäßigkeiten der Erwartungsbildung festzustellen sind, die vorwiegend aus Ego-bezogenen, triebhaften Tendenzen und Gewohnheiten

Schluß

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herrühren. Es ist so möglich - mit allen Vorbehalten - , eine Art "Normallinie" festzulegen, auf der sich die ErwartungsbildWlg vollzieht. Genau wie aus dieser Normallinie eine "Ordnung" der Handlungen abzuleiten ist, lassen sich auch die "Abweichungen" in eine Ordnung einfügen, so daß sich also die möglichen Varianten, d. h. die verschiedenartigen Komponenten, die auf die GestaltWlg der Erwartungen einwirken, soweit sie individualpsychologisch bedingt sind, bis zu einem gewissen Grade übersehen und damit vorhersehen lassen. Dies ist der erste Schritt. 2. Die soziologische Ebene. Sie bedeutet eine Erweiterung der bisherigen BetrachtWlgsweise, stellt die einzelmenschliche HandlWlg in den soziologischen Zusammenhang. Die menschliche Handlung wird unter dem Einfluß ihrer sie gestaltenden soziologischen Komponente gesehen. Dies ist notwendig, da das Verhalten in einer "Situations-Dynamik"2 nicht nur von der angeborenen, inneren Konstitution, sondern auch "hinsichtlich der Bewertung des ... Verhaltens ... in der Gesellschaft" bestimmt wird. Hier existieren bestimmte Normen und Werteinstellungen, die eine Ordnung der menschlichen Handlungen, bzw. der ihnen vorausgehenden Erwartungsbildung begründen. Weitere Faktoren wie Prestige, Suggestion, Autorität, "massenhafte" Erscheinungen usw. ergänzen das Bi1d. Somit stellt die soziologische Fragestellung die erste notwendige Ergänzung der psychologischen Betrachtungsweise dar. 3. Die institutionelle Ebene. Hier endlich wird es möglich, die Verhaltenskonstanten in der sozialen Sphäre herauszuarbeiten. "In der sozialen Sphäre bestehen die Ausdruckszusammenhänge in jenen zwei großen Gruppen, den in Verhaltenskonstanten ausgeformten folkways, moresund institutionsundden zu ihnen gehörigen Objektivationen wie Werkzeugen, Bauten u. a.3." Die Institution stellt sich vom sozial- und kulturanthropologischen Standpunkt aus dar als ein Ordnungsprinzip menschlichen Handelns, das n icht im Handelnden direkt bzw. in der Situation, in der er sich befindet, ruht. Es leitet sich vielmehr ab aus historisch überlieferten Formen, die bestimmte Situationen zu institutions werden lassen. Innerhalb dieser kommt es dazu, daß verschiedene Handlungsträger ein gleiches oder nahezu gleiches Verhalten an den Tag legen. "These similar actions are said to be institutionalized if the actors expect them to occur und there are cultural sanctions opposing nonconformity with expectations4." Das Verhalten wird innerhalb dieser sozialen Lebensformen gewissermaßen erst "vorgeformt" in tra2

3 4

Hofstätter, P. R., S. 16. Mackenroth, G., S. 187. Parsons, T. und Shils, E. A., S. 40.

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Zur

Theorie der Erwartungen

dierte Verhaltenskonstanten- "Verhalten dabei in weitestem Sinne begriffen und .einschließend sowohl di.e motorische Sphäre wie Verhaltenskonstanten des Denkensund Wertens" 5 • Die menschlichen Erwartungen werden in ihrer individuellen Ausgestaltung eingeengt und in die Richtung dieser historisch gewordenen Formen gelenkt, in denen sich letztlich die seelisch.en Gehalte eines Volkes, eines Zeitalters- kurzum der "Zeitgeist" ausdrücken. Die soziale Form, der "der Prägungscharakter unserer Kultur" (Rothacker) diesen Zeitgeist am stärksten aufzustempeln wußte, so daß seine Grundgestalt am reinsten zum Ausdruck kommt, "assimiliert sich gleiche Ausdrucksformen über die Grenzen der Sozialsphären hinweg, die gleiche architektonisch-e Grundgestalt kehrt wieder im politischen Bereich, . . . in Wirtschaft und Religion und schließlich im Lebensstil des Alltags ... ". Die Erwartungen sowie die auf ihnen gründenden Verhaltenskonstanten stehen in diesem großen Zusammenhang, innerhalb dessen jede Tat Form intendiert, und alles Getan-e die Kraft hat, sich weiteres eigenes und fremdes Tun zu assimilieren. Nur aus diesem Gesamtzusammenhang können die Erwartungsbilder, können die m-enschlichen Handlungen verstanden und - innerhalb gewisser Grenzen - vorhergesagt werden. - Man kann es sicherlich als bleibendes Verdienst der Arbeit von John M. Keynes bezeichnen, in seinem Untersuchungsfeld diese Problematik ausführlich berücksichtigt zu haben. Wenn seinem Hauptwerk zu Recht das Attr1but einer "Allgemeinen Theorie" zukommen soll, dann wohl in dem Sinne, daß er damit den Anstoß zu einer "Allgemein-en Diskussion allgemeiner ökonomischer Gesamtzusammenhänge" gegeben hat, indem er auf - allerdings nach einem unvollständigen und im Grunde heuristischen Prinzip ausgewählte - Tatbestände hingewiesen hat (Problematik kurz- und langfristiger Erwartungen und Spekulation, Konvention, Vertrauen usw.), die man nicht übersehen darf. Es verwundert in dies·em Zusammenhang sehr, wenn Wissler in einer Besprechung Schumpeters "History of Economic Analysis" feststellt 6 , . .. "Die Zuordnung von Empirie und Theorie in der ganzen Geschichte unseres Faches ist evident, ebenso evident wie die Belanglosigkeit oder die sogar oft störende, aber nie aufklärende Rolle der gelegentlich einbrechenden ,höheren' Fächer Theologie, Philosophie, Soziologie und Psychologie." Er glaubt sich darin durch Schumpeter bestärkt, der den Kreuzungsversuchen der Nationalökonomie mit diesen Wissenschaftsdisziplinen skeptisch gegenübersteht und darauf hinweist, daß ihre Folgen leicht .eine Unfruchtbarkeit des ökonomischen Denkens heraufs Mackenroth, G., S. 191 ff. u. passim. 6 Wissler, A., S. 57 und 59.

Schluß

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beschwören könnten. - Dieser Skeptizismus Schumpeters scheint berechtigt. Aber, - und das sollte man in aller Schärfe unterscheiden lernen-, er weist uns auf ein Problem hin, das nicht in der Natur der Sache, ·also der Verknüpfun:g der einzelnen Wissenschaften vom Menschen, liegt. Das Problem liegt vielmehr darin begründet, daß diese Versuche einer koordinierten Erweiterung der Nationalökonomie bislang fast ausschließlich von Nationalökonomen mit sehr unzureichenden Mitteln und wohl auch unzureichendem Wissen angestellt wurden. Der vorhergehende Beitrag zeigte deutlich, wie dies im Falle Keynes zu Irrtümern über den psychologischen Gehalt eines Theoriesystems führen kann. Aber die bisher sicherlich häufig fragwürdigen "Erkenntnisse" dieses Verschmelzungsprozesses berechtigen keineswegs, die Versuche mit dem Hinweis " ... cross-fertilization might easily result in crosssterilization"7 als beLanglos oder gar störend abzutun, wenn man weiß, daß die mangelhaften Ergebnisse auf unsachgemäße Anwendung nicht genügend bekannter Werkzeuge zurückzuführen sind. Der ökonometrische Standpunkt, von d.em der Reszensent offenbar seine Kritik ableitet, vermag diesen V ersuchen gegenüber keineswegs als erfolgversprechender angesehen werden. Hat doch selbst de Falco in einer kürzlichen Besprechung des "modello descrittivo quello dell'analisi delle interdipendenze stutturali del Leontief"S zugeben müssen, daß die statistischen Modelle nur in den Sektoren anwendbar seien, in denen die ökonomischen Wahlhandlungen der Wirtschaftssubjekte keine Rolle spielen, so z. B. im Rahmen der Planungen eines Kriegsministeriums usw. Es weist ausdrücklich darauf hin, daß: die ökonomischen Modelle lediglich die quantitativen Phänomene, die der statistischen Erhebung zugänglich sind, in Betracht ziehen, und dabei jene Variablen vernachlässigen, die die Wahlhandlungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte determinieren9 • Er führt weiter aus1°: "Es ist zutreffend, daß in den ökonometrischen Modellen Gleichungen gebildet werden, die dem Tatbestand der wirtschaftlichen Voraussicht Rechnung tragen sollen. Sie enthalten Korrelationen zwischen den Werten der Variablen in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten. Aber die Hypothese, daß die Voraussicht immer durch die a-posteriori-Fakten bestätigt werde, steht im Widerspruch zur Struktur und zur Dynamik des ökonomischen Systems. Tatsächlich rührt die Bedeutung, die in dem heutigen ökonomischen System 7 Schumpeter, II, S. 27. s De Falco, S. 487 ff. 9 De Falco, S. 500, "S'iccome nei modelli econometrici si prendono in considerazione soltanto fenomeni quantitativi rilevabili statisticamente, si trascurano le variabili determinanti le scelte dei singoli operatori economici." IQ De Falco, ebenda (übersetzt v. Verf.).

Zur Theorie der Erwartungen

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den Wahlhandlungen der Kreditvermittler sowie denen, die auf dem Gütermarkt vorgenommen werden, beizumessen ist, von der Ungewißheit der ökonomischen Voraussicht und der unterschiedlichen Art der Voraussichtsbildung her." "Dariiberhinaus ist die Ungewißheit der ökonomischen Voraussicht Ursache der Dynamik, die nicht in den Modellen zum Ausdruck kommt, da diese in Wirklichkeit den Wellen des Vertrauens oder Mißtrauens nicht Rechnung tragen ... "Wir vermeinen im Gegensatz zu Wissler, daß erst eine sinnvolle Zueinanderordnung der von ihm als "höhere" Fächer bezeichneten Disziplinen der ökonomischen Theorie das Maß an Wirklichkeitsnähe vermitteln kann, das ihren eigentlichen Wert als Grundlage wirtschaftspolitischer Maßnahmen begründen wird. Es geht hier ja nicht um eine Auffrischung des methodischen Streits um Empirie und Theorie, sondern um die Einsicht in allgemein-menschliche Zusammenhänge, die im ökonomischen Bereich ebensosehr Gültigkeit haben wie im kulturellethischen des Lebens. Aber wir sollten doch der Worte L. v. Miseseingedenk bleiben: "Economics does not follow the procedure of logic and mathematics. It does not present an integrated system of pure aprioristic ratiocination severed from any reference to reality 11 ." -Wir meinen -zu unserer großen Erleichterung - auch folgender Behauptung nicht folgen zu können12 : "Die Theorie schreitet immer mehr zur Begrenzung ihres Bereichs auf das Gebiet des Quantitativ-Meßbaren als des allein der exakten Durehrlenkung Zugänglichen." Es zeigen sich ganz im Gegenteil immer mehr Ansätze zu einer Verknüpfung der einzelnen Wissenschaften vom Menschen .. . wohl um den Preis exakter Ergebnisse aus mathematischem FormelspieL Dennoch glauben wir uns hier auf einem richtigeren Weg; denn wir erinnern uns der Worte, mit denen Aristoteles seine Nikomachische Ethik beginnt: "Es gehört zur BiLdung, auf jedem Gebiet nur den Grad von Exaktheit zu erwarten, den die Natur des Gegenstandes gestattet."

11

u

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