Johann Gottfried Herder (1744–1803) [2 ed.] 9783787330522, 9783787307272

Dieser neunte Band der »Studien zum achtzehnten Jahrhundert« enthält Vorträge, die anlässlich der neunten Jahrestagung d

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German Pages 442 [461] Year 1986

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Johann Gottfried Herder (1744–1803) [2 ed.]
 9783787330522, 9783787307272

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JOHANN GOTTFRIED HERDER 1744-1803 Herausgegeben von Gerhard Sauder

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band9

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

JOHANN GOTTFRIED HERDER 1744-1803 Herausgegeben von Gerhard Sauder

F E LIX MEIN E R VE RLAG

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HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0727-2 ISBN E-Book: 978-3-7873-3052-2 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1987. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Vorwort

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........................................................................

IX

Gerhard Sauder (Saarbrücken) ..................................................................

XI

Herder und Kant . Sprache und >>historischer Sinn>Selbstheit« bei Herder. Anfragen zum Pantheismusverdacht . . . . . . . . . . . . . . . .

14

Tadeusz Namowicz (Warschau) 23

Der Aufklärer Herder, seine Predigten und Schulreden

John Rogerson (Sheffield) Herders >>Gott. Einige GesprächeNatur< und >Vernunft< in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

Wilhelm-Ludwig Federlin (Hesseneck) Das Problem der Bildung in Herders Humanitätsbriefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Michael Maurer (Essen) Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

Gonthier-Louis Fink (Straßburg) Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

VI

Inhalt

Walter D. Wetzeis (Austin) Herders Organismusbegriff und Newtons Allgemeine Mechanik

177

Pierre Penissan (Paris) >>I'önen« bei Rousseau und Herder

186

Yoshinori Shichiji (Tokio) Herders Sprachdenken und Goethes Bildlichkeit der Sprache

194

Ulrich Gaier (Konstanz) Poesie als Metatheorie . Zeichenbegriffe des frühen Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

Peter Michelsen (Heide/berg) Regeln für Genies. Zu Herders »Fragmenten>Ueber die neuere Deutsche Litteratur>Weitstrahlsinnige>Studien zum achtzehnten Jahrhundert>Deutschen Gesellschaft für die Erfor­ schung des achtzehnten Jahrhunderts>Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts> > Keiner unsrer Klassiker bedarf so unumgänglich einer historisch-kritischen Bearbeitung als Herder, keiner belohnt sie in so eminentem Maße, für keinen ist bisher so wenig geschehen. < Mit diesen Worten weist ]ulian Schmidt in den Preußi­ schen Jahrbüchern (Bd . 37, 1876) auf das Erscheinen der Ausgabe hin, die lange von mir vorbereitet, jetzt an die Ö ffentlichkeit gelangt. « Trotz der für das ausgehende Jahrhundert bereits monumentalen Ausgabe von 33 Bänden hat sich an dieser Lage wenig geändert. Rudolf Hayms berühmte Biographie erschien nahezu gleichzeitig mit den ersten Bänden der Suphanschen Ausgabe - ein vergleichbares Werk über Herder ist seither nicht mehr geschrieben worden. Noch 1941 stellte Hans Georg Gadamer in einem Vortrag über >>Volk und Geschichte im Denken Herders« am Deutschen Institut in Paris fest: >> Herder ist unter den ganz Großen unserer Lite­ ratur der einzige, der nicht mehr gelesen wird: kein Gedicht, keine Schrift von ihm weiß derjenige zu nennen, der von Klopstocks Oden, von Lessings Dramen und kritischen Schriften, von Goethe und von Schiller lebendige Vorstellungen hat. « Herders Gesamtwerk ist seiner Vielseitigkeit wegen kaum von einer Disziplin aus zureichend überschaubar. Er war Theologe, Prediger, Pädagoge und bemühte sich als Philosoph um eine Deutung von Geschichte, Kultur- und Naturgeschichte, Kunst und Dichtung. Es war Ethnologe und Mythologe . Als Literaturkritiker, Übersetzer, Sammler von Volksliedern und Autor hat er viele Tendenzen der Auf­ klärung und des Sturm und Drang, der Klassik und Romantik befördert. Als An­ walt nationaler Selbstbesinnung und kulturellen Selbstbewußtseins war seine Wir­ kung auf politische Bestrebungen im 19. Jahrhundert beträchtlich . Die Aktualität seines Werkes besteht nicht zuletzt darin, daß er frühzeitig einsah, in welchem Maße die Aufklärung sich unzureichend über sich selbst aufgeklärt hat, darin eben

XII

Gerhard Sauder

eine »unbefriedigte Aufklärung war. Herder hat bereits zahlreiche Aspekte der Aufklärung kritisiert, die heute in der Diskussion um die »Dialektik der Aufklä­ rung>daß er kein Stern erster oder sonstiger Größe war, sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert [ . . . ] Menschen mit vielartigen Kräften werden immer, die mit einartigen selten verkannt; j ene berüh­ ren alle ihres Gleichen und ihres Ungleichen, diese nur ihres Gleichen. « (Werke, ed. N. Miller, Bd. V, 443) Unabhängig von der Schwierigkeit des vielartigen Herdersehen Werkes stellt die kaum funktionierende Kommunikation unter Herder-Forschern die größte Be­ einträchtigung des Verstehensprozesses dar. Die 1971 von dem Landesbischof von Schaumburg-Lippe, Johann Gottfried Maltusch, initiierten Bückeburger Ge­ spräche über Johann Gottfried Herder wurden mit der Absicht geplant, ein Ge­ sprächsforum für Herder-Forschung der verschiedenen Disziplinen zu bieten . Das Herder-Kolloquium, das 1978 in Weimar von den nationalen Forschungs- und Ge­ denkstätten der klassischen deutschen Literatur in Zusammenarbeit mit der Aka­ demie der Wissenschaften der DDR und anderen Institutionen veranstaltet wurde, zählte 150 Wissenschaftler aus der DDR und 20 Gäste aus dem Ausland . Unter den 53 Beiträgern des Sammelbandes (Weimar 1980) befindet sich kein Herder-Forscher aus der Bundesrepublik. Seit Kriegsende ist hierzulande keine umfassende Gesamtdarstellung mehr er­ schienen, während jedoch entsprechende Monographien von englischen, polni­ schen und DDR-Forschern vorgelegt worden sind . Die Verwendung Herderscher

Zur Einführung

XIII

Gedanken zur Ausstaffierung der synkretistischen nationalsozialistischen Ideolo­ gie war in der Nachkriegszeit gewiß ein wesentlicher Grund, daß Herder vernach­ lässigt wurde. Es brauchte seine Zeit, bis sich die Einsicht durchsetzte, daß nicht Herders Werke, sondern deren Ausbeuter schuld daran waren. Obwohl in den letzten Jahren vor allem von seiten der Philosophie, Theologie und Germanistik - meist in Form von Dissertationen und Aufsätzen - eine Erneue­ rung des Interesses an Herder zu konstatieren war, mangelt es an einer Klärung der verschiedenen wissenschaftlichen Zielsetzungen im gelehrten Gespräch . Ein längst überfälliger Forschungsbericht fehlt. An die Stelle dieses bisher nicht zu­ stande gekommenen wissenschaftlichen Forums kann traditionellerweise zu­ nächst ein Symposion treten. Aus den genannten Gründen und trotz der erfreulichen Tradition der Bückebur­ ger Gespräche wird es die Tagung nicht leicht haben: Zu divergent sind gerade in jüngster Zeit formulierte Forschungspositionen. Es bleibe dahingestellt, ob die Kri­ tik von Herder-Forschern aus der DDR tatsächlich zutrifft, die bürgerliche Inter­ pretation Herders in der Bundesrepublik sei wesentlich theologisch und selektiv orientiert. Aber der Versuch, Herders praktische Tätigkeit im geistlichen Amt als neuen Schlüssel zu Herders Welt zu benutzen, wird nicht allein auf den Wider­ spruch marxistischer, philosophischer und germanistischer Herder-Forscher sto­ ßen - der Gegensatz zu einer diskursanalytischen Herder-Interpretation wird aus­ zutragen sein. Für diese ist es ausgeschlossen, Herders Werk - trotz aller pastoralen Rhetorik - als theologischen Diskurs zu konstituieren. Die Tendenz dieser säkula­ risierten Praxis sei eher pädagogisch als theologisch . Herders Erkenntnis einer ge­ wissen Sprachlosigkeit, sein Eingeständnis eines Nicht-Wissens, das deshalb stets neu das vorhandene Begriffsarsenal mobilisiere, finde die gesuchte Einheit in der Palingenesie der Werke . Ich halte die Formulierung solcher Herder-Thesen für ein Zeichen dafür, daß in die Herder-Forschung Bewegung gekommen ist. Es wird wohl nicht übertrieben sein, geradezu von einem Kairas zu sprechen, der unsere Bemühungen gegenwär­ tig beflügeln könnte: Wenn die Edition von Herders Sämtlichen Werken vor 100 Jahren eine erste Phase der Herder-Philologie überhaupt erst ermöglichte, so be­ finden wir uns derzeit in einer bescheideneren, aber nicht minder bedeutsamen editorisch-philologischen Phase, z. T. auch einer Phase der Werk-Kommentare . Im Zuge der Katalogisierung des handschriftlichen Nachlasses Herders (Adler/ Irmscher) hat es sich gezeigt, daß die ehrwürdige Ausgabe von Bernhard Suphan, deren 33 Bände von 1877 bis 1913 erschienen sind, unvollständig und in der Wie­ dergabe der Texte oft unzuverlässig ist. Eine neue und auf Vollständigkeit ange­ legte Edition wird nirgendwo geplant. Die einzige umfangreichere Neuausgabe stellt noch immer die im Aufbau Verlag Berlin und Weimar erschienene Auswahl in fünf Bänden von Wilhelm Dobbek dar. Der erste Band einer 2 600 Seiten umfassen­ den dreibändigen Ausgabe, herausgegeben von Wolfgand Proß (Nachwort von Pierre Penisson) ist im Sommer 1984 erschienen. In der Reihe der Suhrkamp Klas­ siker sollen Herder zehn Bände gewidmet werden; Band I, herausgegeben von Ulrich Gaier, ist im Herbst 1985 ausgeliefert worden.

XIV

Gerhard Sauder

Erfreulicherweise gibt es von mehreren Werken Herders neuerdings gut kom­ mentierte Einzelausgaben. Sie ersetzen jedoch nicht die notwendige große Edi­ tion, die wohl erst im nächsten Jahrhundert vorliegen wird . Die Briefausgabe ist ­ bis auf den Registerband - erfreulicherweise abgeschlossen: alle acht Bände sind inzwischen erschienen. Herausgeber sind Wilhelm Dobbek und Günter Arnold . Eine wichtige Förderung künftiger Herder-Forschung stellt auch die 1978 erschie­ nene Herder-Bibliographie dar, die von Gottfried Günter, Albina A. Volgina und Siegfried Seifert erarbeitet wurde. Die neue Zuwendung zu den Texten wird zwar die beklagte >>Einseitigkeit« der Forschung nicht aufheben - große Werk-Komplexe wie die Lyrik oder Predigten und Schulreden werden in die Auswahlausgaben nur sporadisch aufgenommen. Aber die Aufmerksamkeit auf Strukturen wie Metaphorik und Analogie, Dialogi­ zität, Pragmatik und Publikumsbezüge, Rhetorik und Ursprungsdenken, Sprach­ theorie, Ästhetik und Kulturanthropologie erlaubt vielleicht, künftig auch wieder in Herder-Studien ausführlicher von seinen Vorstellungen von >>Volk>Na­ tion>Humanität>Deutschen Gesellschaft für die Erfor­ schung des 18. Jahrhunderts>Ich schreibe, was ich kann, und will Euch mit der Humanität so ermüden, dass ihr aus Noth human werden müsst, damit ich nur endlich schweige . >ein Sohn seiner Zeit« und von daher auch die >>Philosophie>historischen« Individuen. Ge­ schichte, die sich zum selbstbewußten Individuum hin entwickelt, ist Geschichte gegen ihren Begriff, d. h. zum nicht zu Antizipierenden, Unvorgreiflichen hin . Daß dies zum Bewußtsein kommt, ist zugleich der Sinn der Geschichte . Er besteht in der Negation der Vorstellung eines allgemeinen Sinns der Geschichte, ja sogar ei­ gentlich in der Negation der Vorstellung der Geschichte als umfassender Einheit überhaupt. Der sich im Lauf der Geschichte entwickelnde historische Sinn läuft auf die Auflösung eines Geschichtsbildes hinaus, nach dem Individuen in sie einge­ bettet seien. Er läuft darauf hinaus, das weltgeschichtliche Individuum in seiner Individualität zu verstehen, d. h. darin als geschichtlich zu verstehen, daß es sich zunehmend selbst als Individuum versteht. Das ist der Fall, wenn es sich selbst als frei gegenüber seiner Zeit versteht. Sich zunehmend als frei gegenüber dem Ge­ meinsamen der Zeit zu wissen, ist als der Gang der Geschichte zu wissen. 6 Bei Herder artikuliert sich dieser Geschichtsbegriff besonders deutlich in Ausein­ andersetzung mit Kant. Im Vordergrund steht dabei der jeweilige Begriff von Zeit. Zeit ist nach Kant aus bestimmten systematischen Gründen, nämlich damit gedacht wer­ den kann, wie synthetische Urteile a priori in objektiver Gültigkeit möglich seien, reine Form der Anschauung. Der Zeitbegriff Kants steht also im Zusammenhang mit einem Interesse an der positiven Antwort auf die Frage nach Bedingungen dieser Möglichkeit. Das Interesse an solch einer Antwort ist das Interesse an der positiven Beantwortung der Frage, ob die Formen unseres Denkens objektiv gültig sind, d. h. ob wir uns in der formalgrammatischen Bildung von Urteilen über etwas auf etwas be­ ziehen oder ob wir dabei nur in die Grammatik unseres Verstandes eingebunden und gerade damit von wahrer Erkenntnis ferngehalten sind.7 5. >>Kraft« im Sinne Herders ist, in Anlehnung an Leibniz, individuelle Kraft. Innerhalb der Kantischen Philosophie hat sie ihre Entsprechung nicht im Verstand, sondern in der >>Urteils­ kraft>das Vermögen>Einbildungskraft>dem Verstande anzupasse n >> (Kant, Kritik der Urteilskraft§ 50), ein individuelles Vermögen ist. 6. Wenn sich bei Hege! Äußerungen finden, nach denen die Geschichte über die Indivi­ duen hinweggehe, so beziehen sie sich auf die sich aufspreizende, ihre eigene Individualität nicht reflektierende und dementsprechend auch andere Individualität nicht anerkennende Individualität. Der Geist der gegenseitigen Anerkennung von Individuen als >>absolut in sich seiender Einzelheit>der absolute GeistWenn von einem Begriff die Rede ist, seines Herolds und Stellvertreters, des ihn bezeichnenden Wortes, schämen>wie wir zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehleWahrscheinlich>Philosophie der menschlichen Sprache>Metakritik>Sprache>Gegenstand>Oft blendend glücklichen Ausdrücken vor­ trägt>Denn>jeder Mensch kann und muß allein in seiner Sprache denken. >transzendentale Gramma­ tik>tran­ szendentalen GrammatikSprachaprioriSubjekt« seine Zeit hat, die es sich nicht selbst zumißt, bestimmt es nicht aus eigenem reflektierbaren, >>subjektiven>kräftig>Hör- und Sichtbares>Namen>ohne daß der Aner­ kennende des Anerkannten innere Natur kannte oder kennen wollte>ihmKonformation>wesentlich und vollständig. V ielmehr ist die eigentliche Bedeutung der Worte ein Riegel gegen ihren Miß-

17. SW XXI, 93 . 18. SW XXI, 101. 19. SW XXI, 101. 20. SW XXI, 101. 21. SW XXI, 102. 22. Die Kantische Kritik der Erkenntnis als Erkenntnis von >>Erscheinungen>transzendentaleninneren Natur>die für dich gehörtein Schauplatz solcher KräfteDas Wirken in oder aus uns bezeichnen>mit Liebe und Leid, mit Teilnehmung oder Entfremdnung. Eine tiefe Innigkeit liegt in diesem Teil der Spra­ che, in jeder nach ihrer Weise . ,,zs Da alles sprachliche Bestimmen letztlich individuell ist, indem es sich der Stärke und Dauer einer bestimmenden Kraft verdankt, so daß es auch nicht als adäquates Bestimmen verstanden werden kann, kann jede Bestimmung >>immer [ . . . ] ge­ nauer genommen oder gedacht werdenUnsere allgemeinsten Begriffe>absoluten vollendeten All war>nie gelegen. Wo er nicht weiter zu zählen nötig fand oder nicht weiter zu zählen hatte, das hieß ihm All, Alles. >alles>unter>Die Handlung des Ver­ standes ist Anerkennung des Eins in Vielem, wobei das All, ein Unendliches, un­ gemessen bleibt, das auch für den Verstand nicht gehört« . 27 Letztes Ziel des Ver­ standes ist nicht zu sagen, wie es ist, sondern zu sagen: >>Ich habe verstanden . «28 >>Innere Denkformen« sind daher als Denkformen a priori ohne Bezug auf Verstan­ denes, das zu einer Zeit verständlich geworden ist, >>schon ihrem Namen nach leere 23. 24. 25 . 26. 27. 28 .

Herder, SW XXI, 103 . SW XXI, 106. SW XXI, 106. SW XXI, 108. SW XXI, 109. SW XXI, 112.

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Josef Sirnon Herder und Kant ·

SchemenDurch eine Metastasis, die wir nicht begreifen, ist uns der Gegenstand ein Gedanke . «30 Es ist der uns zu einer Zeit gelingende und nur in diesem Sinn mögliche Gedanke. >>Unser Begriff«, so wendet Herder gegen Kant ein, >>macht die Sache nicht, weder möglich noch wirklich. Er ist nur eine Kunde derselben, wie wir sie haben können, nach unserm Verstande und unseren Organen. Das Wort macht sie noch weniger. Es soll sie nur aufrufen. «31 Insofern ist die Sprache Spiegel des Verstandes . Sie hält ihm vor, daß die Unter­ schiedenheit der Wörter noch nicht eine definitive U n terschiedenheit und Identität von Begriffen bedeutet, sondern eben nur gegen den >>Mißbrauch« der Wörter selbst steht. Wörter haben ihre Unterschiedenheit voneinander in dem sie unterschei­ denden Gebrauch. Der Sinn eines Wortes ist nicht >>außer und hinter dem Wort, sondern in ihm« zu suchen und >>mittels seiner« sich anzueignen . Er ist sprachim­ manent. Dieser an den Wörtern erfaßte Sinn ist >>ihm«, dem menschlichen Ver­ stand, das >>Ding an sich«32. Was sprachlich unterschieden oder identifiziert ist, kann zwar immer noch anders >>angeeignet« und genauer bestimmt werden, aber dann doch auch immer für eine Position, für die und in deren Sicht es genügend bestimmt ist, wie es jetzt gerade bestimmt ist. Diese hermeneutische Gegenwart gerät Herder nicht aus dem Blick. Sie ist ihm geradezu das Absolute. Das Gegenteil davon ist für Herder >>Wortspekulatismus« . Er besteht darin, von Wörtern auf Begriffe zu schließen und von Begriffen auf Sachen. Diesen >>Wortspe­ kulatismus« hat zwar schon >>die Zeit [ . . . ] in manchem trefflich diszipliniert« . Sie ist über die ihm jeweils entsprechenden dogmatischen Positionen hinweggegan­ gen. >>Hundert Widerstreite in dialektischen Diskussionen, die einst Ruhm brach­ ten, an denen, wie man glaubte, das >Interesse der Vernunft< der Wissenschaften und der Menschen-Glückseligkeit hing, erregen j etzt Scham, Überdruß und Eckel. Andrer jetzt geltenden wird man sich schämen und sie bald zu den Heldenwaffen stellen, die man einst Morgensterne nannte«33, also ins Museum der Philoso­ phie . Aber auch >>die Zeit« darf nach Herder nicht in einem Begriff verabsolutiert oder in einer begrifflichen Definition von Zeit festgelegt werden. >>Da aber, was die Zeit tun soll, nur durch Kräfte in der Zeit bewirkt wird« - sie ist für Herder nichts als die durch individuelle Kräfte ausgefüllte Zeit - >>SO verwalte die Vernunft das Amt der Zeit. Keinen Wortlarven gönne man Raum. «34 Vernunft ist das Wissen darum, daß alles seine Zeit hat und daß Wörter nur in ihrer jeweiligen Fügung als Ausdruck individueller Eindrücke35 Bedeutung haben, d. h. innerhalb von Bestimmungs­ und Orientierungsversuchen, die immer nur für eine gewisse Zeit gelingen. Ver29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.

SW XXI, 117. SW XXI, 117. SW XXI, 123. SW XXI, 174. SW XXI, 270. SW XXI, 270. SW XXI, 106.

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nunft ist damit sozusagen das historische Bewußtsein gegenüber allen Positionen, die eigene und die aus ihr heraus ausgedrückte Überzeugung von der Wahrheit eingeschlossen. >>Mittels der Spracheist ihralles gegeben, was sich durch Sprache im weitesten Sinne des Wortes ausdrücken läßt. Sie selbst ist und heißt Sprache . Bedeutung>Beziehung aufs Objekt>Liebe und Leid« in der Sprache, der Liebe als des Versuchs der Mitteilung und des Leidens an der Unzulänglichkeit darin, als Leiden an der Sprache und an dem zeitbedingten, letztlich individuellen Charakter der >>Konformationallein in der Sprache>Transzen­ denz>Liebe und Leid>ihre>Schulung zurHistorie>der Begriff >Zu­ kunft< >geworfenamor fati>für die Größe am MenschenEntdecker des historischen SinnsUnbestimmtheit der Übersetzung>Liebe und Selbstheit«, das ihn seit dem Erscheinen eines Briefes über das Verlangen (1770) interessierte, bekanntlich explizit aufge­ griffen. Der genannte Brief stammt von dem holländischen Platoniker Franz Hem­ sterhuis . 1781/82 entschloß sich Herder, diesen Brief >>Seines Reichtums an Ideen, seiner Schönheit und Seltenheit wegen>Individuum>Hyperbel>Asymptote>Wenn wir auch die Schöpfer großer Welten würden. Wir nahen uns der Vollkommenheit, unend­ lich vollkommen aber werden wir nie>Selbst>ldeennaturwissenschaftlich aufgefüllter Spinozismus>Der junge Goethe und Spinoza>Theologen des Kartesianismus« in der Aufhebung der Individua­ lität der einzelnen Seele bestehe. In der abschwächenden Fassung von 1778 beruft sich Herder auf Bacon, auch eine Autorität für Hamann: >>prima creatura dei fuit lux sensus: postrema, lux ra­ tionis«. MitHilfe von Jakob Boehme und Oetinger bedient sichHerder in derselben Schrift - aus der Gedankenwelt der Mystik stammender - Bilder, um den Glauben in seiner Erlebnisstruktur gegenüber jedem intellektuellen Mißverständnis abzu­ heben; er verschmäht dabei nicht die Sprache der Natur, ohne damit zu bloßem Empirismus und Sensualismus überzugehen. >>Schon Hippokrates nannte die menschliche Natur einen lebendigen Kreis, und das ist sie. Ein Wagen Gottes, Au­ gen um und um, voll Windes und lebendiger Räder. Man muß sich also vor nichts so sehr als vor dem einseitigen Zerstücken und Zerlegen hüten. «12 1778 wird gegen Spinoza nicht mehr der Vorwurf des Atheismus erhoben; viel­ mehr wird er zum legitimen Zeugen der johanneischen T heologie, weil er von der Identität der höchsten Erkenntnis und des höchsten Affektes als amor intellectu­ alis her einsichtig macht, daß wir >>wandeln im großen Sensorium der Schöpfung Gottes, der Flamme alles Denkens und Empfindens, der Liebe. Sie ist die höchste Vernunft, wie das reinste göttliche Wollen; wollen wir dieses nicht dem Hl. Johan­ nes, so mögen wirs dem ohne Zweifel noch göttlicheren Spinoza glauben, dessen Philosophie und Moral sich ganz um diese Achse beweget.«13 Spinoza als Johannes redivivus! Diese T hese ist bekanntlich einer der verblüf­ Spinoza als Johannes redivivus! Diese T hese ist bekanntlich einer der verblüf­ fenden Einfälle Herders. Er gewinnt noch an Erstaunlichkeit, wenn Herder beiläu­ fig auf Luthers >>De servo arbitrio« verweist. Die Berufung auf Luther erscheint freilich, am authentischen Spinoza gemessen, einsichtiger. Denn ein jeder, so lehrt ja Spinoza, habe die Macht, sich und seine Affekte, wenn auch nicht absolut, so doch zum Teil klar und deutlich zu erkennen und folglich zu bewirken, daß er we­ niger unter ihnen leide. Und zur Not kann man wohl aus Luther heraushören, daß die Seele sich aus Passivität und Fremdbestimmung zur einzig möglichen Freiheit erheben kann, wobei die Begründung dafür bei Luther freilich im Gottesglauben wurzelt, während Spinoza Freiheit als den Zustand begreift, in dem ein endliches 1 1 . SW XIII, 203 . 12. SW VIII, 200 f. 13. SW VIII, 202.

Kantzenbach »SelbstheitKraft>allmächtige Selbstheit« . Wir können es uns sparen, Herders Überlegungen zur Sonderstellung des Men­ schen seit seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache von 1770 und ihre für 14. SW XVI, 541 f.

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Kantzenbach »Selbstheit« bei Herder ·

die anthropologische Diskussion bis zum heutigen Tage so anregenden Aspekte nochmals darzustellen. Man weiß, daß Herder gerade für den naturwissenschaft­ lich geschulten Leser argumentieren will, so daß alle Phänomene Teil eines natür­ lichen Entwicklungsvorgangs sind . Das darf nicht übersehen lassen, daß Herder das religiöse Moment für die Menschwerdung des Menschen hoch einschätzt, und es in der Hauptsache eine die Anthropologie stimulierende neuartige Interpreta­ tion vom Bilde Gottes im Menschen ist, die, kombiniert mit dem Gedanken der Vorsehung Gottes, Herder befähigt, den Menschen vom Tier zu unterscheiden und aus dem Bann des Zufalls zu lösen. Die Gottebenbildlichkeit, eingegraben als Bild in der Seele wie der Umriß einer in dunklem Marmor liegenden Bildsäule, wird als natürliche Anlage dargestellt und ihr Inhalt wird so bestimmt, daß die Gottesbeziehung mit Religion und Humanität verknüpft wird . Hier nun, in den >>Ideen>Von Liebe und Selbst­ heit>Ratio>SelbstheitSelbst>SelbstdenkerSelbstempfinder>Selbstbe­ stimmung>die wir selbst errungen haben>Ja, wer von diesem innern Leben seines Selbst überzeugt ist, dem wer15. 5. Buch, Kapitel 4 f. , SW XIII, 181 ff.

Kantzenbach »Selbstheit« bei Herder ·

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den alle äußern Zustände, in welchen sich der Körper, wie alle Materie, unablässig verändert, mit der Zeit nur Übergänge, die sein Wesen nicht angehn; er schreitet aus dieser Welt in jene so unvermerkt, wie er aus Nacht in Tag und aus einem Le­ bensalter ins andere schreitet. GottebenbildlichkeitGenußOmnium rerum causa immanens>sein wahres Selbst aufweckenSelbstheit>Selbstheit>Selbstheit>ipsius agendi potentiam>die Über­ zeugung von unserem Selbst>als wohin unser Verstand, unsere Ver­ nunft, unsere Phantasie reichet>So ist Lucrez: unter allen Philosophi­ schen Lehrdichtern der erste, den wir haben, und nach meiner Empfindung eben so verehrungswürdig, als ein andres erstes Original in seinem Felde. «27 Schon als Student in Königsberg hatte Herder sich vorgenommen, selbst ein großes Lehrgedicht zu schreiben - eine >Philosophische Epopee über die Mensch­ liche SeeleDe rerum naturaEssay on Man < . Er scheint mindestens drei Ansätze zu diesem Gedicht unternommen zu haben, obgleich keiner über einführende Betrachtungen hinausgelangte . Als Beispiel diene der Anfang der zweiten Fassung in Hexametern (die erste Fassung war in Alexandrinern abge­ faßt) : .

>>Dich selbst! besinge die Welt der Menschheit! singe die Tiefen Die Höhn, die Weiten der Menschennatur, durchsuche den Abgrund Der Leidenschaften und fliege empor, wo Menschengedanken Mit Dädals Flügel sich schwangen: denn sieh die Weiten der Schöpfung, Die Menschenhände gebahnt: faß alle Räume zusammen Und sing vom Menschen ein Lied . So sprach mein Genius - -«29 Das Metrum erinnert an Lukrez, aber auch an Klopstock. Das dritte Fragment, diesmal in freien Rhythmen und mit dem Titel >Die Welt der menschlichen Seele>Es ist die Fortsetzung der Klopstockschen [ . . . ] Schwäche, immer nur in der Welt der Ge­ danken und Empfindungen zu verweilen und sogar seine Gleichnisse aus der Re­ gion des Geistes zu entnehmen. das Aufstossen eines von den Rousseauschen Schriften überladnen MagensDe rerum natura< in Verbindung: dieser Gedanke bildet den Höhepunkt des Abschnittes >Vom lukrezischen Gedicht< in den >Frag­ menten< von 1767. Er scheint seine frühere Hoffnung aufgegeben zu haben, das Gedicht selbst zu schreiben; jetzt ruft er andere dazu auf. Was er jetzt formuliert, ist einer jener universalen Pläne, mit denen er in seiner Frühzeit seine Phantasie so gerne spielen läßt: >>wenn jede große Psychologische Wahrheit sinnliches Leben erhielte: kurz, wenn die ganze Welt der Menschlichen Seele ins Licht des Poeti­ schen Glanzes träte, dessen sie fähig ist: - welch ein Gedicht! [ . ] so wäre dies ein Gedicht, was alle Saiten des Menschlichen Herzens treffen müßte, da Epopee und Drama nur immer eine oder wenige anrühren kannEssay on Man< als ­ allerdings unzulängliches -Vorbild34; das höchste Muster bleibt aber das > De rerum natura>Wenn das Licht der Wahrheit zu unsrer Zeit so sehr zugenommen, und so viele Entdeckungen gemacht sind: in welcher Aonischen Höhle schläft noch die Muse, die diese Wahrheiten, diese Entdeckun­ gen singe?>Woher kommtsdaß noch kein System neuerer Philosophen [ . . . ] eine Darstellung gefunden hat, auf welche, wie auf Luc.

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30. Siehe Von und an Herder, hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder, 3 Bde . , Leipzig, 1861-1862, Bd. 3, S. 308 f; ein weiteres Fragment dieser Fassung ist in Johann Gottfried Herders Lebensbild, hrsg. von Emil Gottfried von Herder, 3 Bde . , Erlangen, 1846, Bd. 1, Abt. I, S. 197 abgedruckt. 31. Rudolf Haym, Herder, 2 Bde . , hrsg. von Wolfgang Harich, Berlin, 1954, Bd. 1, s. 180. 32. Brief an ]. G . Scheffner vom 31. Oktober 1767 in: Briefe, Bd. 1, S . 94. 33. SW I, 474 f. 34. Siehe z. B. SW XVIII, 117 (1796) und SW XXIII, 247 (1801); vgl. SW XI, 360 (1782) . 35 . SW V, 320; vgl. SW V, 295. 36. Siehe z. B. SW XVII, 222 f. (1794); SW XXII, 331 f. (1800) .

Nisbet Herder und Lukrez ·

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rez; die Zeit das Siegel der Vollkommenheit, der unübertreflichen Schönheit ge­ drückt hat?Philosophie der KunstAdrastea< dargelegt hatte (obgleich Schelling natür­ lich seine eigene Terminologie gebraucht): das >absolute Lehrgedicht>Da das Universum der Form und dem Wesen nach nur Eines ist, so kann auch in der Idee nur Ein absolutes Lehrgedicht seyn, von dem alle einzelnen bloße Bruchstücke sind, nämlich das Gedicht von der Natur der Dinge [ . ] und inwiefern das Univer­ sum selbst das Urbild aller Poesie, ja die Poesie des Absoluten selbst ist, so würde die Wissenschaft in j ener Identität mit dem Universum sowohl dem Stoff, als der Form nach an und für sich Poesie seyn und in Poesie sich auflösen. Der Ursprung .

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des absoluten Lehrgedichts oder des speculativen Epos fällt also mit der Vollen­

dung der Wissenschaft in eins zusammen [ . . ] . Nie wird ein Lehr­ dichter feuriger und stärker schreiben, als Lukrez schrieb: denn er glaubte seine Lehre . «45 Diese begeisterte Überzeugung war es eben, die den Lehrdichtern der Aufklärung wie Brockes, Wieland und Creuz abging, als sie sich in der lukrezischen Dichtungsart versuchten. Sie verkündeten keine neue Botschaft, sondern vertei­ digten einen schwindenden Glauben. Und am Ende des achtzehnten Jahrhunderts besaßen diejenigen, die von einem neuen Epos des Weltalls träumten, keine neue Weisheit, um den verlorenen Glauben zu ersetzen - daher die ständigen Hinweise von SeheHing und den Romantikern auf eine unbestimmte Zukunft und auf eine ungewisse neue Mythologie . Manche von ihnen machten sich zwar eine Art von Spinozismus zu eigen, wobei trotz theologischer Bezeichnungen die Natur selbst und ihre unveräridlichen Gesetze die Allmacht behielten. Das konnte man aber um 1800 kaum mehr als neues Evangelium verkünden. Für Europa war die universale Herrschaft des Naturgesetzes als Grundlage der Naturwissenschaft bereits zur Selbstverständlichkeit geworden, und es wurde zugleich immer deutlicher, daß die Naturwissenschaft ihrerseits nicht mehr imstande war, eine Basis für die Mo­ ralphilosophie zu liefern. Das Projekt eines neuen >De rerum natura< wurde somit aufgegeben, und die Entwicklung der Naturwissenschaft seit Herder hat seine Verwirklichung immer unwahrscheinlicher gemacht. Das Werk, das den größten Anspruch erhebt, das moderne >De rerum natura< zu sein, ist vielleicht Alexander von Humboldts >Kos­ mos . Entwurf einer physischen WeltbeschreibungKosmos< ist nicht in Versen, sondern in Prosa geschrieben; es ist keineswegs ein lukrezisches Ge­ dicht. Humboldts Werk zeigt eher den Einfluß von Herder selbst: der Konzeption nach ist es den >Ideen zur Philosophie der Geschichte< verwandt, die ein einheit­ liches Bild von Natur und menschlichem Dasein entwerfen. (Die >Ideen< selbst bie­ ten auch eine gewisse Analogie zu jener universalen >Epopee über den Men­ schen>Kom­ pilator einer Weltgeschichte« plötzlich der >>Komplikator einer Weltgeschichte>Komplikator>Kompilator - Komplikator>WeltbildesKonzentration>universa divinarum atque humanarum rerum notitia demonstrata>Komplikator«, ist zwar ein Genius, aber nur dadurch, daß der Interpret - und dieser ist das eigent­ liche Genie - die Grundstrukturen des Denkens aufdeckt, welche der Autor >>aus Mangel an literarischem Talent«, >>häufig unfähig zu begrifflicher Präzision«, in seiner »schlecht gebändigten Phantastik« und durch die >>Unerschöpfliche Auffül­ lung mit Beispielen und Anspielungen, Parallelen und Assoziationen, die um ein Zentrum obsessiver Wahrnehmungen kreisen«, selbst verschüttet hat. 1 o Gleichlau­ tende Vorwürfe sind in der Herder-Forschung, in massivster Form bereits in Hayms Monographie (1877/85) vorhanden, selbstverständlich und dienen häufig genug, wie im Falle Vicos, nur der Legitimation des gewalttätigen interpretativen Verfahrens. 7. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stutt­ gart 1981 (zu Herder vgl. bes. S. 615-636) . - Hans Aarsleff, »The Tradition of Condillac: The Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in the Berlin Academy before HerderKonzentration>Voll im Gange>Epistemephilologischen>Atomisierung>Konzentration> Ö f­ fentliche Auslegung des SeinsWeltan­ schauung>auf Grund der Kon­ kurrenz vieler Gruppen, die ihre besondere Seinsauslegung durchsetzen wollenatomisierten Konkurrenzmultipolaren WeltsichtZunächst ist die Eigenart dieses Denkens negativ zu erfassen: Es geht [ . . . ] zumeist nicht mehr um eine Eingliederung der neuen Tatsachen in eine vor­ gegebene Ordnung. Im extremen Fall: Kein Glaube und keine Autorität sollen bei der Beurteilung der Dinge führend sein. Darstellung>Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen«. In: Kar! Mannheim, Wissenssoziologie . Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hrsg. von Kurt H. Wolff. Neuwied und Berlin 21970, S. 566-613 . 17. Ebd . , S. 575. 18. Ebd . , S. 586. 19. Ebd . , S. 583 .

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Sozialtheorie und die entstehende Anthropologie ausgreifen. Die entscheidende Einsicht, daß sich neue Erfahrungstatsachen (und dazu zählt auch eine neue und radikal intensivierte Lektüre der antiken Autoren, wie z. B. des Lukrez) nicht mehr vorgegebenen Denkschemata anpassen lassen, ist nicht nur ein Grundzug der na­ turwissenschaftlichen Entwicklung, der Mathematisierung ihrer Bereiche und der Entwicklung neuer experimenteller Techniken, sondern dies betrifft gleicherma­ ßen die Untersuchung der Regeln des sozialen Zusammenlebens und die Festle­ gung seiner ethischen Normen; nicht umsonst berufen sich Pufendorf, Vico und Herder auf Francis Bacon, Adam Smith auf Newton. Die Aufhebung der religiös fundierten Stereotypie und die Entwicklung einer weltangepaßten >>Gesinnungs­ ethikMan wollte voraussetzungslos denken, das will besagen, man wollte nur die unumgänglichen Voraussetzungen mitmachen, die die Vernunft überhaupt setzte. Man war>auf der Suche nach diesen letzten Voraus­ setzungen. Nur langsam setzte sich dieses Programm durch, aber je mehr es sich verwirklichte, um so klarer mußte es werden, daß man de facto gar nicht in denselben Formen dachte . bedeutet ein jeder Lebenskreis zugleich ein an­ deres GesichtsfeldParadigma>die Urerfah­ rung>zum universellen Auslegungsschema zu werdenKonzentrationsphaseprovidentia«-Begriff als die Spreu betrachtet, die vom Weizen zu sondern sei, wobei die juristische Terminologie und Materialverwendung den Pro­ zeß nur erschwere . 23 Im Zyklus der Abfolgen dreier unterschiedlicher juristischer Systeme, die zugleich historische Stadien bedeuten, konstituiert sich die Totalität der Geschichte bei Vico, und diese ist nichts anderes als die Entfaltung der göttli­ chen Rationalität, da die >>providentia« ihre gesamte Entwicklung steuert. Nicht also eine unbegreifliche Antizipation von Fragestellungen des 19. Jahrhunderts liegt hier vor, sondern eine - von Nicola Badaloni in seiner Einleitung zum rechts­ philosophischen Werk (1974) deutlich herausgearbeitete - Abfolge von Rechtszu­ ständen, dem fast animalischen Zustand des >>jus naturale prius«, dem das >>jus gentium«l>>jus civile« (bei Geltung einer >>Iex promiscua«) folgt, bevor der Zustand eines >>jus naturale posterius« (in dem bloß die >>Iex solae rationis« gilt) erreicht wird, bildet den Kern dieser Geschichtsphilosophie, das Zentrum ihrer Konstitu­ tion liegt nicht in einem intuitiven Begreifen, sondern in der Auseinandersetzung mit den juristischen Konzeptionen eines Grotius, Seiden oder Pufendorf oder in der Abwehr der skeptischen Einsichten eines Hobbes oder Bayle. Trotzdem gerät diese Geschichtsphilosophie nicht zur Extension des katholischen Dogmas. Denn, und dies ist das Erstaunliche an Vicos geschichtsphilosophischer Konzeption, die göttliche Rationalität steht nicht am Ursprung des historischen Zyklus . Vico, der den Menschen nach dem Modell der Kulturentstehungslehre des Lukrez in den Zustand tierischer Wildheit (>>ferinitas«) setzt, wie es der Lukrez-Gassendi-Tradi­ tion in Neapel entsprach, läßt die menschlichen Institutionen weder durch Not­ wendigkeit (wie sie Epikur, Macchiavelli, Hobbes, Spinoza oder Bayle angenom­ men hatten) noch durch Nützlichkeit hervorgebracht werden (wie bei Grotius), sondern durch die >>occasio«, die >>Gelegenheit«, den >>Zufall«24; er ist es, der den Menschen zwingt, im Zusammenprall mit der feindlichen Umwelt und den ande­ ren, ebenso isolierten Menschengeschöpfen den Trieb der Selbsterhaltung auszu­ üben, und diese Selbstbetätigung in den drei fundamentalen Institutionen der Re­ ligion, der Ehe und des Leichenbegängnisses führt zur Ausbildung der ersten Ideen von Gott, Staat und Gesellschaft, die keineswegs den jetzt gültigen Normen 23. Berlin, Vico and Herder (Ang. s. Anm. 4), S. 67. 24. Nicola Badaloni, >>lntroduzione« zu OG, S. XXXVII.

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entsprechen müssen. 25 Auf dem Umweg über das rechtshistorische und poetolo­ gische Werk des Landsmannes Gianvincenzo Gravina (Originum Juris Civilis libri tres, 1708; Della ragion poetica, 1708; Delle favole antiche, 1696) begibt sich Vico sogar, worauf Nicola Badaloni hingewiesen hat, in den Bannkreis Spinozas. 26 Es geht um einige Definitionen aus dem zweiten Teil von Spinozas Ethik, der vom Ursprung und der Natur des Geistes handelt (De origine & natura mentis) . Falsche Ideen, sagt dort Spinoza, sind das Resultat eines Mangels an Erkenntnis (einer >>privatioklar und deutlich>menti superiori>Wahrer>menti volgarifalschenUt autem homo intellectu et voluntate constat, 25. Vico, Scienza nuova 1725, L. l . , c. I (OF, S. 173); Scienza nuova 1744 L. I, Sez. terza >>De' principi>lntroduzione>lntroduzione scibile< aut ad rationis necessitatem aut ad auctoritatis arbitrium. Phi­ losophia firmat constantiam rationis: tentemus ut philologia firmet constantiam auctoritatis. «30 Es gibt eine eigene, konsequente Disziplin, die Philosophie, die aus den notwen­ digen Zwängen des Intellekts, seiner Konstitution, seiner Arbeitsweise hervor­ geht; was Vico dieser zur Seite stellt, ist eine >>Philologie«, die auf das andere Ver­ mögen des Menschen rekurriert, seinen Willen, der dieser logischen Kontrolle nicht unterworfen ist; dieser Wille ist das Organ der aus der ursprünglichen Wild­ heit (>>ferinitas«) entstandenen Autorität, d. h. der Recht schaffenden Ausübung von Macht, deren Handlungsweise nicht durch logische Konsequenz, sondern durch Willkür geprägt ist. Aber auch diese >>Willkür« besitzt ihre eigenen Gesetze, und die Methode, diese Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, liegt in der neu zu be­ gründenden >>Philologie« . Diese neue Wissenschaft hebt j edoch den >>ordo philo­ sophandi«, von dem Spinoza und Gravina ausgingen, auf. Im Scholium zur Pro­ positio X des zweiten Buches der Ethik heißt es, daß der Dualismus in der Philoso­ phie, ob die rechte Erkenntnis Gottes die Voraussetzung der wahren Erkenntnis der Dinge darstelle oder nicht (bzw. die Unentschiedenheit der Frage), daher käme, daß manche Philosophen >>den ordnungsgemäßen Gang des Philosophie­ rens« nicht eingehalten hätten: >>Denn die göttliche Natur, die sie vor allem hätten in Betracht ziehen müssen, weil sie sowohl der Erkenntnis als auch der Natur nach die erste ist in der Reihe der Erkenntnis, hielten sie für die letzte, und die Dinge, die Objekte der Sinne genannt werden, hielten sie für die ersten von allen. So kam es, daß sie bei der Betrachtung der natürlichen Dinge an nichts weniger dachten als an die göttliche Natur und daß sie nachher, als sie sich zur Betrachtung der göttlichen Natur wendeten, an nichts weniger denken konnten als an ihre ersten Phantasie­ gebilde, worauf sie die Erkenntnis der natürlichen Dinge gebaut hatten, weil die ihnen nämlich zur Erkenntnis der göttlichen Natur keineswegs helfen konnten. Kein Wunder daher, daß sie sich mitunter widersprochen haben. «31 Vico stürzt diese Hierarchie des Logischen um, indem er der >>Ordnung der Phi­ losophie« die Anordnung der Natur entgegenstellt: >>Perche cosi sta per natura disposto: ehe prima gli uomini abbiano operato le cose per un certo senso umano senza avvertirle; dipoi, ed assai tardi, vi abbiano applicato la riflessione; e ragionan­ do sopra gli effetti, vi abbiano contemplato nelle cagioni. «32 Aber diese neue >>natürliche Anordnung der menschlichen Ideen« beruft sich eben auf das Argument, das Spinoza zur Aufrechterhaltung seiner logischen Hier­ archie einsetzt, daß nämlich die Idee jedes Dinges notwendig das ewige und un­ endliche Wesen Gottes mit einschließt (Ethik II, Prop . XLV), obwohl er zuvor, wie angeführt, die Verworrenheit der menschlichen Ideen (ebd. , Prop . XXVIII und XXIX) als zwangsläufiges Resultat der >>conditio humana« betont hatte . Genau die30. OG, S. 387. 31. Spinoza, Ethik B. II, Scholium zu Prop . X (Ang. s. Anm. 27), S. 135 . 32. Vico, Scienza nuova 1725 (OF), S. 180.

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sen - scheinbaren - Widerspruch sucht Vico zu lösen, indem er die Präsenz der Idee Gottes auch in den verworrensten menschlichen Handlungen und Ideen der Früh­ zeit einerseits als >>unveränderlichuniversal« bezeichnet: >>siccome in noi sono sepolti aleuni semi eterni di vero, ehe tratto tratto dalla fan­ ciullezza si van coltivando, finche con l'eta e con le discipline provengono in ischiaritissime cognizioni di scienze, cosi nel genere umano per lo peccato furono sepolti i semi eterni del giusto, ehe tratto tratto dalla fanciullezza del mondo, col piu e piu spiegarsi la mente umana sopra la sua vera natura, si sono iti spiegando in massime dirnostrate di giustizia. Serbata sempre cotal differenza pero: ehe cio sia proceduto per una via, distinta, nel popolo di Dio, e per un'altra, ordinaria, nelle gentili nazioni. «33 Spinozas Lehrsatz: >>Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge« (Ethik II, Prop . VII) wird von Vico damit aufgegriffen und differenziert: Es gibt diese Erscheinung wahrer göttlicher Ideen, aber nur bei einem, dem auserwählten Volk der Juden; aber die heidnischen Na­ tionen folgen in ihrer Geschichte, trotz ihrer, vom christlichen Standpunkt aus ge­ sehen, >>falschen« Ideen, denselben Prinzipien der Wahrheit, auch wenn es sich hier um einen langsamen Entfaltungsprozeß handelt. In direkter Umwandlung von Spinozas eben zitiertem Lehrsatz, der die Simultaneität der beiden Seinsord­ nungen konstatiert, bezeichnet Vico in der Scienza nuova von 1744 diese Koexistenz als >>Prozeß« : >>L'ordine dell'idee dee procedere secondo l'ordine delle cose . «34 Die Präsenz spinozistischen Gedankenguts in Neapel an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ist, wie Nicola Badaloni, dessen Interpretationsansatz hier weiter­ geführt wurde, wohl weiß, heftig umstritten35, aber ein wohl kaum beachtetes Do­ kument zur Spinoza-Rezeption sei hier angeführt, das diesen Einfluß belegt und vor allem die Art und Weise, in der in Neapel damit verfahren wurde, charakteri­ siert. Antonio Genovesi, der bedeutende Aufklärer der Jahrhundertmitte in Nea­ pel, vor allem durch seine ökonomische Schrift Lezioni di commercio o sia d'economia civile (1765), publizierte erstmals 1751 seine Eiementa Metaphysicae mathematicum in more adornata, in der Spinoza selbstverständlich ein Platz als einem der großen Ket­ zer zukommt, übrigens mit häufigen Textbelegen versehen, was gegen die Un­ kenntnis der Werke spricht. An einer Stelle, in den zusammenfassenden und grundlegenden Scholien der Einleitung, erscheint - ungenannt, und ohne Quel­ lenangabe, was sonst nicht der Fall ist - der »Auctor Tractatus de Emendatione in­ tellectus«, der eine Lehre vertritt, die auch diejenige der antiken Platoniker, des Hl. Augustinus, des Thomas von Aquin und des Philosophen Malebranche gewesen sei, nämlich daß das Kriterium der wahren Erkenntnis darin liege, daß die ewigen Dinge in sich selbst, die geschaffenen aber in ihrer ursächlichen Abhängigkeit von diesen erkannt werden sollten und daß die Evidenz die Richtigkeit der Erkenntnis bestätige. Dieses Kriterium, so Genovesi, sei nicht anzuzweifeln, aber einmal sei 33. Ebd . , S. 190. 34. Scienza nuova 1744, Elemento LXIV (OF), S. 447); Kursivierung vom Vf. 35. Badaloni, >>lntroduzione>verum >Certum >versetur ne inter homines insigne aliquod, tessera, charac­ ter, quo esse possint certi, se veram hanc scientiam acquisivisse?Wahrem>Wahrscheinlichen>alogi­ schen>conditio humanaPotissimae propositiones ontosophicae, et cosmosophicae, Postulata>Menschentier«, den >>uomo bestione>heidnischen>occasio>uomo bestione>clinamensich die Nationen innerhalb bestimmter Normen halten müssen, die hiermit in durchgängiger Weise und auf der Grundlage der allgemein menschli­ chen Verhaltensweisen begründet werden, auf deren Grundlage die Weisheit der Philosophen der Weisheit der Völker die Hand reichen und sie lenken könne>Zustandes der Voll­ kommenheitricorso>ricorso>Pero niuna ancora [sc. scienza] ve n'ha ehe avesse meditato sopra certi principi dell'umanita delle nazioni, dalla quale senza dubbio sono uscite tutte Je scienze, tutte

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lung getroffen, die in dieser Deutlichkeit längst überfällig war, da Vico in den An­ sichten mancher Interpreten bereits zu einer Art Nietzsche des frühen 18. Jahrhun­ derts verkommen ist, daß diese Geschichtsphilosophie eine Anweisung an Natio­ nen und Staatslehrer ist, wie dem Fall nach Erreichen des Höhepunkts zu entgehen sei. Nicht um die >>Lust am Untergangsalvare l'umanita dal >ricorso< era in definitiva il fine ultimo dell'opera sua, evitare la >barbarie ritomata< [ . . . ] >flam­ mantia moenia mundi>Erkenntnishindemisphilogischen>Wah­

renConchiusione« der Scienza nuova von 1744 (OF, S. 699/700) . 40. Giuseppe Giarrizzo, Vico, Ia politica e Ia storia . Napoli 1981; vgl. hierzu S. 21. 41. Vgl. hierzu die einleitenden Bemerkungen zu den Anmerkungen im ersten Band der Ausg. des Vfs . : Hanser l, S. 849-853.

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gesprochen wurde, und für die etwa der Umgang Herders mit Süßmilchs Argu­ menten in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache ein beredtes Beispiel zu geben vermag. 42 Darüber hinaus: nicht nur arbeitet Herder nicht mehr allein mit Aussagen, die sich der Logik des Satzes vom Widerspruch zu entziehen scheinen, sondern er bedient sich ständig einer >>Metabasis eis allo genosil diritto natural delle genti egli e un diritto eterno ehe corre in tempo>Übersicht der allgemeinen Entdeckungen>Un'istoria ideale eterna descritta sull'idea della provvedenza, sopra la quale corrono in tempo tutte le storie particolari delle nazioni ne'loro sorgimenti, progressi, stati, decadenze e fini. Die meisten Dinge in der Welt wer­ den durch ein Ohngefähr, und nicht durch abgezweckte Versuche hervor- weiter­ herauf- und heruntergebracht: und wo will ich nun mit meinen Vermutungen hin, in einem Zauberlande des Zufalls, wo nichts nach Grundsätzen geschieht, wo alles auf das sprödeste sich den Gesetzen der Willkür und des Zweckmäßigen entziehet: wo alles, das Meiste und Kostbarste dem Gott des Ungefährs in die Hände fällt. 42. Vgl . hierzu neuerdings den vorzüglichen Aufsatz von Bruce Kieffer, >>Herder's Treat­ ment of Süssmilch' s Theory of the Origin of Language in the Abhandlung über den Ursprung der Sprache: A Re-evaluationVico as Philosoph er of Metabasis>Beobachtungen zur Funk­ tion der Analogie im Denken HerdersIm Stuffengange der Menschlichen Sinnlichkeit wird diese Sache erklärbar, aber nicht in der Logik des höhern Geistes . Zusammenhangist keine einfache Reihe oder Reihenfolge im Rahmen einer einmaligen Ordnung von Dingen; sie ist vielmehr eine Verbindung von un­ endlich Reihen, die miteinander gemischt und verflochten sind . Findet man denn auf unserer Erde - um ihr Bereich nicht ganz zu verlassen - nicht eine unzählbare Menge von zufälligen Dingen, ganz gleich, ob wir die Zusammensetzung der Sub­ stanzen betrachten oder ob wir ihre Umwandlung beobachten? Ja noch mehr: j ede einzelne Reihe von zufälligen Dingen läßt sich offensichtlich in mehrere andere unterteilen. ,, so Diderot hat damit die >>Atomisierung>Strahlen der Dinge>Cudworth'sche Moralien>Estque intellectus humanus instar speculi inaequalis ad radios rerum, qui suam naturam naturae rerum immiscet, eamque distorquet et inficit. >Cognitio est interior mentis nostrae virtus, quae a rebus externis haud proficiscitur. « Dagegen steht: >>Hinc probatum simul dedimus, nullam rem corpoream & compositam, cu­ iuscumque fit naturae & generis, a sensu intellegi, neque speciem eius extrinsecus a visis obiectis animo imprimi, verum unice ab amplissima, quae menti est, res di­ versas sociandi facultate comprehendi & ex innata eius virtute gigni. «53 Denn der erste Satz stellt nur, in Analogie zum cartesianischen >>Cogito, ergo sum«, die Aussage dar, daß der Mensch ein inneres Erkenntnisvermögen besitzt, eine >>FähigkeitÜber die drei Grundgefühle der neueren PhilosophieMißgebur­ tenAuxesisEt­ was außer mir, mit der Empfindsamkeit meiner Organe zu fühlen, war Gefühl; die mindste Unterscheidung in diesem Etwas, schon Urteil; die mindste deutliche Un­ terscheidung in dem, was erst Urteil hieß, ist eine Doppelreflexion der Würkung der Seele und also schon Schluß, Vernunftschluß . ,,ss Naturae Rerum Originibus Commentarii, quibus omnis eorum philosophia, qui deum esse negant, funditus evertitur. Accedunt reliqua eius opuscula . Ioannes Laurentius Mosheimius omnia ex Anglico latine vertit, recensuit, variisque observationibus et dissertationibus illust­ ravit et auxit. Ienae MDCCXXXIII . Vgl. Bd. II, S. 1-88 (übrigens ist jeder der folgenden Trak­ tate wieder neu paginiert) . 53. Systema Intellectuale, Tom . II: Oe aeterna et immutabili rei moralis natura (Ang. s . Anm. 51): Die Zitate entstammen d e r Zusammenfassung der Paragraphen am Beginn von L. IV, c. I, S. 38 und L. IV, c. II, § XI, S. 51. 54. Herder, Viertes kritisches Wäldchen; vgl. Hanser II, Erstes Stück, 1 . Abschnitt, S. 59-65 . Vgl . S. 61 : >>Unmittelbar, durch ein inners Gefühl bin ich eigentlich von nichts in der Welt überzeugt, als daß ich bin, als daß ich mich fühle. « Diese Abwandlung des cartesischen Lehrsatzes beinhaltet keineswegs, daß dieses unmittelbare Gefühl - es ist kein Denken - ohne Vernunftschlüsse bereits von einer Wahrheit, die auf etwas außerhalb des Ich bezogen wäre, überzeugen könnte (vgl. S. 65) . Beim Modell der >>Auxesis« innerhalb der >>Geschichte des Menschlichen Verstandes«, die Herders fernere Konzeption seiner anthropologischen Schrif­ ten leiten wird, spielt Condillacs Statuen-Modell eine wichtige Rolle; vgl. dazu das Nachwort zu Hanser II. 55. Ebd . , S . 62. Hiermit ist bereits das Grundmodell der Sprachgenese gegeben; vgl . auch die Interpretation des Vfs . in der Ausgabe von 1978 (Ang. s. Anm. 5), S. 145/46.

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Die »dunkelsten Gefühle« des Selbstbewußtseins können unmöglich gleichzei­ tig identisch mit den >> Zusammengesetztesten und verwickeltsten Fertigkeiten der Seele>Grundkräften> Horizonthöhe des Erkennens>daß wir uns unserer Urteile und Schlüsse nicht immer deutlich bewußt sein, daß wir ohne dieses Bewußtsein [ . . . ] lebhafter erkennen und fühlen und wählen, weil wir voll vom Objekt die die Mittel unsrer Würkung gleichsam vergessen, und des Formellen unsrer Erkenntnis un­ bewußt, das Materielle so lebhafter umfassen>daß die Natur gut gehandelt, daß sie den mittlern Grad der Menschheit auch auf dieser mittlern Stufe von gewohnter Fassung der Seele, zwischen dunkeln und deutlichen Ideen stehen lasse: daß dieser mittlere lebhafte Grad eben die Horizonthöhe sei, die wir gewöhnlich in Sachen der Erkenntnis Sensus communis, in Sachen des Rechts und Unrechts Gewissen, bei Gegenständen des Schönen Geschmack nennen: daß diese Ausdrücke nichts als ein Habituelles Anwenden unsres Urteils auf Gegenstände verschiedner Art bedeuten _ ,, ss Schon in der umgearbeiteten Fassung der Fragmente hatte Herder hervorgeho­ ben, daß das Denken >>meistens symbolisch>Natür­ lichem>Künstlichem>orthographischen Pro­ jektionHöhe>Erkenntnislage>HabituellenHöhe>Horizont­ höhe>Philo­ logische>psychologische« Hypothesen sind untrennbar in Herders Früh­ werk verbunden, um das zu ermöglichen, was er im Shakespear-Aufsatz und in Auch eine Philosophie den >>Allanblick>Man wird Genese Einer Sache durch die Andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr Dieselbe bleibt. Pam­ phlet>Statt j ener unnützen, Teillosen Obelisken wandte sich die Baukunst, auf Teilvolle, und in jedem Teil nutzbare Schiffe . >Das Auge sieht die Menschen, aus denen die Ansammlung der Mitglieder des Staates besteht, bzw. es sieht ihre äu­ ßere Erscheinung; aber wer erwirbt durch den Gesichtssinn allein die Idee der Ver­ bindung selbst, die sie zusammenbringt, was ja nichts anderes ist als die Verbin­ dung oder Totalität, in der sich diese vereinzelten Geschöpfe konstituieren, oder wer wird die innere Art der bürgerlichen Gesellschaftsform in ihnen mit dem Blick wahrnehmen können?>natürlichen>vortex«, Abgrund, Untiefe, in der sich der menschliche Geist verliert, in ei­ nem ist (in Auch eine Philosophie wird Herder vom >>Abgrund, worin ich von allen Seiten verloren steheReflexion« im buchstäblichen Sinn ist - nicht stattfinden kann, sowie die Inak­ tivität des Geistes, der im Grunde nur der passive Träger dieser Ordnungsvor­ stellungen ist, die ihn ohne sein Zutun steuern. Für Herder ist die Seele etwas unmittelbar Aktives: Sie ist es, die den Körper baut, d. h. in der Materie wirksam wird, und zwar innerhalb der unauflöslichen Doppelexistenz von Materie-Geist, die die >conditio humana< bestimmt. In der von Hans Dietrich Irmscher erstmals edierten Skizze Zum Sinn des Gefühls findet sich ein Satz, der die Motivierung Herders, Cudworths Idee einer Totalität in anderer Form beizubehalten, erklärt und gleichzeitig das merkwürdige Beispiel der Verwandlung von Obelisk in Schiff illustriert: >>Kraft: wäre: ich denke; darum würke ich ins Universum darum bin ich Körper«. 64 Zwar steht an dieser Stelle das cartesische >>cogito« statt des erwarteten >>ich fühle«, aber der Kontext, der Ausdruck vom >>Sinn des Gefühls« und die in der ersten Plastik (1770) getroffene Aussage: >>erste Känntnis ist eigentlicher Begriff, Ideen durchs Gefühl« läßt keinen Zweifel über die Bedeutung, die Herder der car­ tesianischen Grunderfahrung gibt. Denken und Fühlen sind Synonyme, denn das bloße Dasein ist >>fast ein theoretischer Instinkt«, wie es im Versuch über das Sein geheißen hatte . 65 Herders Paradigma des Anfangs der Erkenntnis und der kultu­ rellen Tätigkeit erinnert an Vicos bereits erläutertes Konzept der >>occasio«, des Zusammenstoßes des >>Uomo bestione« mit der physischen Natur und den Mitmen­ schen, der den Kulturprozeß in Gang setzt. Bei Herder ist der Prozeß um die Er­ kenntnis der Hallersehen Physiologie bereichert, und deren Lehre vom Reiz ersetzt die Funktion der stoischen >>conatus«-Lehre, die bei Vico in der Schrift De antiquis­ sima den erkenntnispsychologischen Ansatz begründen hilft. 66 Auch bei Herder 63 . Ich fasse hier die Aussagen Cudworths in Buch IV, c. II, §§ VIII-XI von De aeterna et immutabili rei moralis [ . . . ] natura zusammen (Ang. s. Anm. 51; vgl . dort S. 49-51). - Die zit. Herder-Stelle findet sich in Hanser I, S. 660. 64. Hanser II, S. 244. 65. Hanser II (Plastik 1770), S. 408; Hanser I (Versuch über das Sein), S. 577. 66. Zur Bedeutung der >>conatus«-Lehre bei Vico vgl . ansatzweise Attila F>Menschliche Pflanze>Menschlichen Tier>Bei j eder sinnlichen Empfin­ dung wird er, wie aus einem tiefen Traume geweckt, und durch einen empfindba­ ren Stoß lebhafter an eine Idee erinnert, die seine gegenwärtige Lage in der Welt veranlasset. Da entwickeln sich seine innere Kräfte durch eine Beschränkung von Außen, durch ein leidendes Gefühl von andern [ sc. Gegenständen] [ . . ] . Hier sind z. E. zwo gleiche Empfindungen: gleich? dieselben? so wird das erste Urteil gebil­ det, daß das Wiederholte dieselbe Empfindung sei. Die Form des Urteils blieb dun­ kel und mußte verlöscht werden, denn sie sollte Urteil zu sein aufhören; sie soll die Bestandheit eines unmittelbaren Gefühls erhalten: sie soll die Grundlage, die ewig gesicherte Grundlage aller der Urteile und Schlüsse werden, daß es sinnliche Wahr­ heit außer uns gebe. habituellerGott ist so mit dem Ganzen der Welt beschäftigt, wie wir mit dem Ganzen unseres Körpers . Tech­ nik>funktionalistisch>Einfachen>Vielfa­ chen>teillosen>teil vollen>Kraft>vis essentialis>Metabasis>Ursprung>Me­ tamorphoseDie Vorstellungen die sich die Seele vom Universum gesammlet hat sind sie verloren, oder nicht verloren? Da müssen wir auf Vorstellungen zurückgehen. Eine Kraft, die ihrer Natur nach immer würk69. Vgl. hierzu Johann Winkelmanns Geschichte der Kunst des Altertums . Wien 1776. Er­ ster Theil, Erstes Kapitel: Von dem Ursprung und Anfang der Kunst, S. 8-9; sowie Isaak lselin über die Geschichte der Menschheit. Carlsruhe 1784. Erster Bd . , Drittes Buch, 19. Haupt­ stück: Von dem Aberglauben der Barbaren, S. 342-361 (Iselin widmet sich ausführlich der Darstellung des Fetischismus) . 70. Antoine-Yves Goguet, De l'origine des Ioix, des arts et des sciences. Paris 1758. Vgl. L. II, eh. V: De l'origine du dessein, de Ia gravure, de l'orfevrerie et de Ia sculpture .

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sam sein muß, muß auch immer fortwürken, aber wächst sie indem sie würkt? oder bleibt sie nur immer, was sie ist? Ich glaube das Letzte! Vernunft< ·

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sehen, die schon Herders anthropologischer Sprachursprungstheorie zugrunde lag, führt auch in den »Ideen« zur Wesensbestimmung des Menschen im Unter­ schied zum Tier und zur Vorstellung einer vernünftig-humanen Perfektibilität. Die Emanzipation des Menschen aus den Naturzwängen - er ist »der erste Freigelassene der Schöpfung>Corruptibilität« (SW XIII, llO) aber durch die naturanaloge Bestimmung des Menschen zum >>allgemeinen Besten>IdeenAussichten in die Ewigkeit< zu ver­ schaffen und >>am Himmel die glänzenden Bücher der Unsterblichkeit>göttlichen Einsetzung>Wahrlich Affe und Mensch sind nie Ein' und dieselbe Gattung ge­ wesen und ich wünschte jeden kleinen Rest der Sage berichtigt, daß sie irgend wo auf der Erde in gewöhnlicher fruchtbarer Gemeinschaft leben« (SW XIII, 257) . Die Geltung der lex continui, d. h. der Zusammenhang der tierischen Natur des Men­ schen mit seiner geistigen scheint hier aufgekündigt, das entwicklungsgeschicht­ liche Band zwischen dem Menschen und >>seinen Brüdern, den Erdthieren« (SW XIII, 445) zerrissen zu sein. Insoweit ist es durchaus noch konsequent, wenn Her­ der die Vernunft als einen >>künstlichen Instinkt> Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet wor24. Vgl. Beate Monika Dreike, Herders Naturauffassung in ihrer Beeinflussung durch Leib­ niz' Philosophie, Wiesbaden 1973, S. 93 ff.

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Bollacher >Natur< und >Vernunft< ·

den>menschlich>Philosoph der Natur>himmlischen Feuerstrom>Vorsehung>in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern sich hineinglauben>Luft­ fahrt>Ideen>Analogon des Todes>nach irgend einer Analogie der sichtbaren Erzeugung geschlossen werden kann. un­ sinnigen UnsterblichkeitsmythosIdeenUrsprung aller menschlichen Dichtung>Ueber Bild, Dichtung und Fabel>jener wirksame Trieb in uns, Analogieen zu schaffenIdeenNatur< und >Vernunft< ·

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Menschheit eine Philosophie und Wissenschaft zu begründen. Mag Herder gerade in den »Ideen« der Gefahr nicht entgangen sein, die Analogie bei seinem Blick über die Grenzen der Menschheit hina1,1s nur noch als »Zauberstab«28 zu gebrauchen ­ in seiner Deutung des Menschen als eines »Microcosmus« (SW XIII, 23) der ganzen Erdenschöpfung und in seiner Verschmelzung von Natur- und Menschenge­ schichte bewährt sich seine poetische Philosophie des >Als ob< gerade auch gegen­ über den Einwürfen Kants. Die Hauptstoßrichtung von Kants Kritik an den »Ideen« zielt ja nicht auf Herders Argumentation aus bloßen, nicht mehr an der sinnlichen Erfahrung orientierten Begriffen, sondern auf die pantheistisch unter­ legte Perspektive einer genetischen Verwandtschaft und naturgeschichtlichen Ent­ wicklung der >Arten naiv>großen Analogie der Natur« entwirft er ein Bild der Wirklichkeit und der menschlichen Geschichte, das kraft einer ungeteilten Anschauung den >esprit de geometrie< mit dem >esprit de finesse< zu versöhnen sucht. So entfaltet es, um nochmals Jung-Stilling zu zitieren, den einen Gedanken der ganzen Welt, das Natur und deutende Vernunft miteinander verbindende Prinzip des >hen kai pan>Ideen« und der Spinoza-Gespräche, zur selben Zeit in der Botanik entdeckte . 31 Der >>Gang Gottes in der Natur« (SW XIII, 9), dem Herder nachsinnt, ist auch ein Gang Gottes in der Geschichte, so wie um­ gekehrt der Gott, den der Verfasser der >>Ideen« >>in der Geschichte« sucht, derselbe sein muß, >>der er in der Natur ist« (SW XIV, 244), und als eine in poetischen Bildern sich ausdrückende geschichtsphilosophische Sinndeutung steht der gewaltige Entwurf der >>Ideen« keineswegs im Schatten des Zeitgeistes . Das Buch, nach Goethes Urteil >>durchaus köstlich gedacht und geschrieben«32 und das, wie Her­ der sich gegenüber Hamann äußert, dem >>kalten, leeren Eishimmel«33 der Speku­ lation mit der wärmenden Flamme des historischen Denkens begegnet, antwortet auf das existentielle Bedürfnis des Menschen, sich nicht nur im Denken, sondern auch in der Geschichte des menschlichen Denkens und Handeins zu orientieren und das Tun des Menschen im Zusammenhang der Naturgegebenheiten zu inter­ pretieren . » Gott ist Alles in seinen Werken« (SW XIII, 10), bekennt Herder, und es ist merkwürdig zu sehen, wie gerade diese Maxime der Weltfrömmigkeit in das 19. Jahrhundert hineinwirkt und bei dem Hegel-Schüler Heine sich zum Glauben 28. Novalis, Schriften, hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 3, Darmstadt: WB 1968, S. 518 (»Die Christenheit oder Europa«). 29. Vgl . Heinz Stolpe, Herder und die Ansätze einer naturgeschichtlichen Entwicklungs­ lehre im 18. Jahrhundert, in: Neue Beiträge zur Literatur der Aufklärung, hrsg. von Werner Krauss und Walter Dietze, Berlin 1964 ( = Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 21), s. 303 ff. 30. Kant, Werke, Bd. 10, S. 796. 31. Goethes Werke, Bd. 11, S . 387, S. 395, S. 417, S . 419 f. 32. Ebd . , S. 419. 33. Brief an Johann Georg Hamann, Weimar, 28. Februar 1785 (Herder, Briefe, Bd. 5, s. 1 1 1 ) .

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Bollacher >Natur< und >Vernunft< ·

an den >>Dieu-progres«34 wandelt: •• [ . . ] Gott ist Alles; [ . . . ] Gott manifestirt sich in den Dingen mehr oder minder, er lebt in dieser beständigen Manifestazion, Gott ist in der Bewegung, in der Handlung, in der Zeit, sein heiliger Odem weht durch die Blätter der Geschichte, letztere ist das eigentliche Buch Gottes . «35 Heines Worte dürfen auch als Hommage an Herder verstanden werden; denn er ist es gewesen, der zuerst das Buch Gottes, das Buch der Schöpfung als ein menschliches Buch, als die Geschichte der Natur und die natürliche Geschichte des Menschen lesen gelehrt hatte. Denn der Zweck des Menschen ist der Mensch, und kein genius malignus hat ihn zur tantalischen Qual der Vergeblichkeit verdammen können. So hält Herder, gegen alle scheinbare Vergänglichkeit und Nichtigkeit der menschlichen Dinge, an seinem Humanitäts-Credo fest: >>Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eig­ nes Schicksal in die Hände gegeben« (SW XIV, 207) . .

34. Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 811, Harnburg 1979, S. 467 (Textvariante zur >>Romantischen Schule«). 35. Ebd . , S. 154.

Wilhelm-Ludwig Federlin (Hesseneck) Das Problem der Bildung in Herders Humanitätsbriefen

I. Zur Rezeptionsproblematik von Herders Humanitätsbriefen Schon Johann Georg Müller konnte mit den Humanitätsbriefen Herders nur wenig anfangen. Kurz nach dem Erscheinen der beiden ersten Bändchen stellt er 1793 in einem Brief an seinen Bruder Johannes fest, daß dieses Buch mit wenigen Ausnah­ men >>nicht sehr wichtig ist>wie bei einem altem­ den ManneDenkart>Polygraph zuletzt wiederholen wirdWeinstöcken und Feigenbäumen, zu erfreuen, zu stärken auf Jahrhunderte>Abt St. Pierre sagte, daß er dieselben Worte so lange wiederho­ len wollte, bis die Menschen sie, aus Überdruß zu hören, ins Werk setzenEuch mit der Humani­ tät so ermüden, daß Ihr aus Noth human werden müßt, damit ich nur endlich schweige>schöner und majestätischer>melodischer>HaugPro­ jekt von altem Datumrückgängigals empfindliche Schwächeäußere Einflüsseden Einfluß der literarischen PolizeiMannheit>in einen Dialog mit abschwächenden Einwürfen und GegenredenAndeutungsverfah­ renNot­ behelfNie­ dergang von Herders Schriftstellerei>geistiger Frische und Energie>Amts- und Krank­ heitsnoth>jugendlichen Art>Ganzen und Vollensie [die Humanitätsbriefe] wenden die gewonnenen Ideen nur an, wiederholen dieselben und breiten sie ausohne irgend über das dort Gesagte hinauszugelangen>Zauberformel der Humanitätweiten Mantelden großen politischen Prozeßauf keine Weise [ . . . ] mit dem Problem ins Klare ge­ kommen, wie sich die Politik mit der Moral, staatlicher Zwang mit individueller Freiheit, Staats- und Standesrechte mit den Rechten der Menschheit und Mensch­ lichkeit in Zusammenhang bringen ließen>innerenUnsicherheit>praktisch-politischemWechsel­ rede>Andeutungs- und Anspielungskunst der Heyneschen Gelehrsam­ keit> leisetretende Vorsichtprincipal themeordinary mortalsphilosophersWhere the Ideen remain abstract, the Humanitätsbriefe are gratifyingly specific. geschichtsbildenden Rolle der produktiven Arbeitein gewichtiges Zeugnis für Herders unbeirrbaren Fortschrittsoptimismus>Pöbel und Tyrann« (SW XVII, 88-91) und schließlich zum politischen Nationalcharakter von »Deutschland« (SW XVII, 91-92) .

2. Die moralisch-politische Autorität Luthers Die Autorität dazu, der eigenen Zeit politische Entscheidungsgrundlage zu sein, hat Luther für Herder darin: (a) Luther war selbst »Reformator« (SW XVII, 82) . Er gehörte in Person, sozusa­ gen als erster Mann, zu den Veranlassern jener 2. Epoche des Europäischen Zeit­ geistes . (b ) Luther ist als »patriotischer großer MannFriedens-Gesinnungen« (SW XVIII, 268)55 Eu­ ropa literarisch nahezubringen.

TV.

Die Rede als Medium moralisch-politischer Erziehung zur Humanität

Herder ist die Position innerhalb der deutschen Aufklärung, die die politische Praktikabilität der Humanität unter Besinnung und unbeirrter Praktizierung einer mehrfachen Strategie ihrer Vermittlung erprobt: in den Volksbildungsinstitutio­ nen Kirche und Schule, aber auch in der Volksbildungsinstitution Literatur. Her­ der war zeit seines Lebens deshalb praktizierender Theologe und Lehrer, aber auch Schriftsteller. In dieser amtlichen Praxis bringt Herder zum Ausdruck: Die Humanität bleibt als Idee politisch unfruchtbar! Da jedoch die Moral der Huma­ nität nicht als Menschen und Volk fremde Lebens- und Sittenregeln, sondern als deren ureigenste Bestimmtheit zu freiem Vernunftgebrauch, zu selbstbestimmter Gewissensentscheidung und zu selbstübernommener Verläßlichkeit zu vermit­ teln ist, eignet sich dafür nicht jedes herkömmliche Medium, sondern vornehm­ lich die >>Sprache einer Nation« (SW XVIII, 384) als das >>ächte Mobil zu Beförderung der Humanität in jeder Menschenclaße >RedeZU fürchten>>gleich auf sein gut Gewissen verlassen kann und sich keines bösen Anschlags wider den Tyrannen bewußt ist< >Von der Verbreitung der Humanität durch Briefe>ErzählungRede>Schrift>Geschichte wird unsere Erfahrung; aus Erfahrung bildet sich der lebendigste Theil unsrer Vernunft. Wer nicht zu hören versteht, versteht auch nicht zu bemerken; und aus dem Erzählen zeigt sich, ob j emand zu hören gewußt habe. Franklins beste Einkleidungen gingen aus solchen verständig-angehörten lebendigen Thatsachen hervor; von ihnen empfingen sie ihre gefällige Gestalt, ihre leichte Wendung. In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten; so ists noch in allen Materien, die aus lebendiger Ansicht menschlicher Dinge entspringen müssen und dahin wirken>Schrift und Rede>weit von einander getrennt seien>Bücher oft Leichname oder Mumien, nicht lebendig-beseelte Körper>sprechende oder gar handelnde Personen>der Geist der Rede und Handlung athmet also auch in ihren Schriften>Ueberhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Hu­ manität mehr sprechend und handelnd, als schreibend . Wohl dem Menschen, der in lobwürdiger und angenehmer lebendiger Geschichte lebet!>Zeitungen, Kalender, einzelne BlätterIdeen unter das VolkBriefe« für das >>Wirksame>Gesinnungen der Humanität>Herz>Schriftendie Briefgestalt selbst ward zur glücklichen Form, milde Gesinnungen über einzelne Vorfälle so­ wohl, als über Lehren und Personen, Freunden oder dem Publicum verständlich 56. Vgl . Wilhelm-Ludwig Federlin, Predigt und Volksbildung. Marginalien zu J. G. Her­ ders Predigtverständnis, in: Deutsches Pfarrerblatt 11, 1981, Sp . 506-514. 57. Vgl. dazu auch Herders Aufsatz über die öffentliche Redefähigkeit der Deutschen, der unter dem Titel >> Über die Fähigkeit zu sprechen und zu höreneines humanisirten Vortrages durch Briefe sehr ausge­ bildet« hätte, wobei man auf Plinius und Phalaris zurückgegriffen hätte mit der Konsequenz in England, daß >>Seit Addison ihre Wochenschriften, seit Richardson ihre Romane vorzüglich die Gestalt der Briefe liebten. Die französischen Briefein­ kleidungen« seien darüber hinaus »Jedermann bekannt« . Herder formuliert den Nutzen dieser Briefgestalt so: >>Durch Einkleidungen sol­ cher Art gewann nicht nur die Sprache, sondern auch der denkende Geist Leich­ tigkeit und Freiheit. Ohne eine Abhandlung oder Deduction schreiben zu wollen, konnte man Gedanken, Empfindungen äußern, seinen Verstand berichtigen, sein Urtheil am Urtheile des anderen schärfen und prüfen« (SW XVII, 275) . Diese Her­ der vorschwebende Briefgestalt, die in Deutschland noch nicht vollkommen ent­ wickelt sei, dient ihm also zu einer Inkraftsetzung der moralischen Urteilskraft des Menschen und ist insofern, eben als >>humanisirter Vortrag«, die literarisch mögli­ che Inszenierung von Humanität selbst. Sie geht über die dramatische und dich­ terische Rede insofern hinaus, als sie die Humanität weder in eine >>Sensuelle« noch in eine >>sensitive«59 Illusion bindet, sondern deren notwendig reflexives Moment und selbstbestimmten Anteil garantiert und freisetzt. Sie unterscheidet sich von der politischen Rede und demagogischer Agitation dadurch, daß sie die Verwirk­ lichung von Humanität nicht der Leidenschaft und unüberlegten Tat überläßt, son­ dern den reifen Entschluß vor diese Tat setzt. Sie unterscheidet sich von der Moral­ predigt insofern, als sie die Schärfung und Prüfung der Urteilskraft der Menschen an das Gefühl und die Empfindungen (verständige Vernehmung) bindet, ohne die der Mensch eine Handlung im Geiste der Humanität, also eine gute Handlung nie wollen, geschweige denn tun kann. 60 Für Herder, der sich als weiteres Werk dieser Briefgestalt auch >>eine Auswahl treffender Stellen aus den wahren Briefen merkwürdiger und großer Männer« (SW XVII, 275)61 aus den eben dargestellten Gründen und Zwecken seinen Briefen zur Seite wünschte und darin >>die lehrreichste Unterhaltung« über >>Merkwürdiges, Ange­ nehmes und Nützliches« für das >>Wahre Wohl der Menschheit« sieht, bleibt fest­ zuhalten: (a) Die Briefgestalt der Humanitätsbriefe ist keine Verlegenheitslösung, Verstel­ lung oder >>Verkleidung« Herders .

59. SW II, 241 . 60. Dieter Kimpel, Philosophie, Ä sthetik, Literaturtheorie, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. v. H. A. Glaser, Bd. 4, Reinbek 1980, S. 114 und Der Roman der Auf­ klärung, 2. Auf! . , Stuttgart 1977, S . 52 ff. weisen als Hintergrund für die Entstehung der Brief­ rede als neuer literarischer Form auch bei Geliert, Klopstock und Wieland auf die zeitgenös­ sische Empfindsamkeit und deren literarisches Bildungsprogramm einer gefühlsevidenten Moral hin. Als philosophiegeschichtlichen Hintergrund benennt Kimpel die >>Aufwertung der Ä sthetik gegenüber der LogikEinkleidung>didaktischen« Funktion des Dialogs in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts, insbe­ sondere der Popularphilosophie, vgl . Gert Ueding, Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik 1, 1980, S. 130-132. 63. So noch Dietrich Harth, Ä sthetik der »ganzen Seele«. Versuch über Herders Konzept der literarischen Bildung, in: Bückeburger Gespräche 1971, Bückeburg 1973 (Schaumburger Studien H. 33), S. 139.

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Federlin Bildung in Herders Humanitätsbriefen ·

(1) gegenüber der Urfassung der Briefe ein Fortschritt, weil Herder in Kenntnis des moralischen Lernprozesses auf j egliches Einstürmen, demagogisches Agitie­ ren und Herbeizwingen einer moralisch-politischen Entscheidung verzichtet, viel­ mehr den europäischen Zeitgeist in die Breite und Tiefe seiner wahrzunehmenden geschichtlichen Entwicklung stellt und vor allem den Freiheitsraum einer selbstbe­ stimmten Entscheidung und selbstübernommenen Tat seinem Publikum wahrt und auf­

bürdet. (2) Sie ist gegenüber den >>IdeenPhilosophie der Geschichte« war von Voltaire geprägt worden, und eine Schrift mit dem Titel >>Auch eine Philosophie der Ge­ schichte« versprach einen Gegenentwurf oder einen neuen, anderen Entwurf ei­ ner Philosophie der Geschichte. Durch die Beifügung des Untertitels >> Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts« war dagegen gleich schon eine Erweiterung vorgenommen worden: Wenn es auch in erster Linie gegen Voltaire gehen mochte, so war doch mehr als eine persönliche Polemik beabsichtigt. Schließlich der Begriff des >>Jahrhunderts« : Damit war nicht nur ein bloßer Zeitabschnitt gemeint. >>Jahr­ hundert« - in diesem Wort schwang seit Voltaire ein bestimmtes Epochenbewußt­ sein mit, mit dem sich der Autor, sei es zustimmend oder ablehnend, auseinan­ dersetzen zu wollen schien. Das >>Jahrhundert«, klassisch seit Voltaires >>Siede de Louis XIV«, bedeutete einen Höhepunkt europäischer Kultur französischer Prä­ gung und damit der Kultur schlechthin. >>Bildung der Menschheit« zielte nach zeit­ genössischem Sprachgebrauch weniger auf eine beabsichtigte didaktische Wir­ kung der vorgelegten Schrift, sondern in erster Linie war dies eine Aussage über den Gang der Geschichte . >>Bildung der Menschheit« wird verstanden als Entwick­ lung der Menschheit von den ersten Anfängen bis zum anvisierten Höhepunkt des aufgeklärten Jahrhunderts, zu dessen Selbstverständnis und Geschichtsphiloso­ phie die Schrift einen Beitrag versprach. Die nachfolgenden Ausführungen unter der Themenstellung >>Die Geschichts­ philosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung« beziehen sich auf die genannte Schrift Herders als Hauptquelle und versuchen die durch Titel und Untertitel angedeutete Spannung einer Schrift gegen Voltaire als den heraus­ ragendsten Exponenten der Aufklärung einerseits und gegen die anderen ge­ schichtsphilosophischen Ansätze der Aufklärung andererseits in zwei Schritten zu behandeln. Im Hauptteil sollen dann wesentliche Kennzeichen der Herdersehen Geschichtsphilosophie herausgearbeitet und gedeutet werden, was in den Ver­ such einer Neubestimmung des Verhältnisses Herders zur Aufklärung münden wird.

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II. Die Bedeu tung Voltaires Voltaires Tat war es, einem Diktum Friedrich Meineckes zufolge, >>ein neues uni­ versales Kulturideal zu stützen durch eine neue Deutung der Universalge­ schichteder Beginn einer neuen Ära des abendländischen Geistes überhaupt« . 1 Dies ist der geeignete Ansatzpunkt einer Darstellung der Geschichtsphilosophie Voltaires im Hinblick auf Herder, weil das Verhältnis Herders zu Voltaire als solches schon belegt, was Meinecke an der zitierten Stelle postuliert: >>Der Kampf um die Deutung der weltgeschichtlichen Vergangenheit begleitete fortan alle Kämpfe um die Gestaltung der Zukunft, und diese waren ohne jenen nicht mehr zu führen. Voltaires weltgeschichtliches Ver­ dienst also war es, der abendländischen Menschheit die Überzeugung mitzuge­ ben, daß jedes neue große Ideal einer umfassenden geschichtlichen Begründung bedürfe, die Gegner der neuen, die Erhalter der alten Ideale aber erst recht dadurch zu zwingen, sich geschichtlich zu rechtfertigen. Discours sur l'histoire universelle>magistra vitae>L'homme, en general, a toujours ete ce qu'il est . . . Nützliche Wahrheiten« sind für Voltaire insbesondere die Meilensteine der jusqu'au fond de l'Europe, crurent en general une vie a venir [ . . ]« (Voltaire, a. a . 0 . , Bd. 1, s. 94) . 7. Es berührt sonderbar, daß ein berufener Interpret, der Voltaires Bedeutung für die Ge­ schichtswissenschaft ausführlich würdigt, dieses Motiv nicht zur Kenntnis genommen hat: Moriz Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an den führenden Werken be­ trachtet, München und Berlin 1919, S. 232-256. - Die gründlichste Untersuchung von Voltai­ res Stärken und Schwächen als Historiker bleibt wohl J. H. Brumfitt, Voltaire Historian, Lon­ don 1958. 8. Vgl. Basil Guy, The French Image of China before and after Voltaire, Genf 1963 ( Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 21). Für Deutschland vergleiche man exempla­ risch Christian Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen/Oratio de Sinarum philosophia practica (1721), zweisprachige Neuausgabe von Michael Albrecht, Harnburg 1985. 9. Die seit dem 17. Jahrhundert immer mehr anschwellende Reiseliteratur machte es auf Dauer unausweichlich, die außereuropäischen Nationen im europäischen Geschichtsbild zu berücksichtigen. Trotz vieler einzelner Arbeiten (z. B. P. F. Lafitau, Mreurs des Sauvages Americains comparees aux mreurs des premiers temps, 2 Bde . , Paris 1724) ist Voltaire der erste, der diese Berichte für die Universalgeschichte als ganze fruchtbar zu machen bestrebt war. 10. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt vor allem Kaegi, a. a. 0 . 11. Remarques pour servir de supplement a I ' essai sur ! e s mreurs (vor allem die erste: Vol­ taire, a. a. 0 . , Bd. 2, S. 900-904) . 12. Das eindrücklichste Beispiel ist sein roter Faden für die Geschichte des Mittelalters: >>On remarque d'abord que depuis Charlemagne, dans Ia partie catholique de notre Europe chretienne Ia guerre de I' empire et du sacerdoce fut, jusqu'a nos derniers temps, Je principe de .

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Menschheitsentwicklung, nämlich Revolutionen des Denkens, technische Erfin­ dungen und bleibende Kulturschöpfungen. Die Kriegstaten und Machtkämpfe der fürstlichen Repräsentanten der Menschheit erscheinen im Vergleich damit un­ wichtig; sie können in Vergessenheit geraten. l 3 4. Geschichte hat Sinn als Kulturentwicklung. Gerade das Gewirr und die Un­ sicherheit historischer Fakten zwingt zu wertendem Akzentuieren und zum Auf­ bau eines neuen Geschichtsbildes, in dem die für das Verstehen unabdingbaren Prozesse aus der Distanz der Gegenwart dargestellt und mit Lob und Tadel bedacht werden. Die entscheidenden Knotenpunkte der Geschichte sind dabei nicht die wesentlichen Tatsachen eines göttlichen Heilsplans mit den Menschen und auch nicht die Abfolge politischer Dynastien. Gipfelepochen der Weltgeschichte sind vielmehr die Blütezeiten der Kultur, und das bedeutet immer ein glückliches Zu­ sammentreffen geistig fruchtbarer Situationen mit günstigen politischen Rahmen­ bedingungen, in denen sich dann eine Fülle kreativer Leistungen verschiedener Art gleichzeitig zeigt. Voltaire kennt vier solcher Gipfelepochen: Griechenland zur Zeit von Perlkies und Alexander, Rom unter Caesar und Augustus, das Florenz der Medici und schließlich Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV. 14 5. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Problem des Fortschritts . Man hat Voltoutes !es revolutions; c' est Ia Je fil qui conduit dans Je Iabyrinthe de l'histoire moderne>Und so wurde denn schließlich der Geist der Zeiten, den er jeweilig schilderte, nichts anderes als die jeweilige Abrechnung ihres Ver­ nunft- und Unvernunftkontos gemäß der Valuta der Aufklärung« (a. a . 0 . , S. 104) . 18. Dazu Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, a. a. 0 . , 5. 105 .

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gemeinsames Kennzeichen dieser älteren Geschichtsdenker der Aufklärung, daß sie stärkere Realisten waren als die jüngeren. 19 Der erste, der mit dieser Tradition brach, war Turgot mit seinem genialen Jugendentwurf. Von Turgot war dann Con­ dorcet beeinflußt, der unter dem Eindruck der Ereignisse von 1789 den unge­ hemmten Fortschritt propagierte . Die glückliche Zeit schien angebrochen, in der die Vernunft selbst die Gesetze gab . 20 Herder teilte die geschichtsphilosophischen Anschauungen der Aufklärung in zwei Klassen ein: >>Wers bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen [ . . . ] und so hat man >von der all­ gemeinfortgehenden Verbeßerung der Welt< Romane gemacht - die keiner glaubte, wenigstens nicht der wahre Schüler der Geschichte und des Menschlichen Her­ zens . Andre die das Leidige dieses Traums sahen, und nichts beßers wusten - sahen Laster und Tugenden, wie Klimaten, wechseln, Vollkommenheiten, wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, Menschliche Sitten und Neigun­ gen, wie Blätter des Schicksals fliegen, sich umschlagen - kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution - Weben und Aufreißen! Penelopische Arbeit!«21 Doch an welche Historiker dachte Herder? Die Aufklärer, die seinen Widerspruch hervorriefen, sind in der Schrift explizit genannt: >>Hume! Voltäre ! Robertsons! klaßische Gespenster der Dämmerung! was seid ihr im Lichte der Wahrheit? «22 Diese Stelle steht in Zusammenhang mit seinem Spott über die >>Schöne Dichtkunst, ein Lieblingsvolk der Erde, in übermenschli­ chen Glanz zu zaubern«, mit seiner Verhöhnung der Dichter, welche Geschichts­ schreiber und Philosophen sein wollen, und doch >>nach der einen Form ihrer Zeit [ . . . ] alle Jahrhunderte modeln! «23 Bei einem ähnlichen Ausfall gegen jeden >>Schöndenker, der die Policirung unsers Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit hält«, ereifert er sich über die >>Bücher unsrer Voltaire und Hume, Ro­ bertsons und Iselins« . 24 Wir erfahren also ganz genau, wen Herder außer Voltaire noch im Auge hat. Das allen Genannten Gemeinsame liegt erstens in der Gegner­ schaft gegen Rousseau und seinen Preis des Naturzustands und zweitens in ihrer Verherrlichung des eigenen Jahrhunderts, in einem ausgeprägten Epochenbe­ wußtsein. Besondere Erwähnung verdient hier Isaak Iselin, weil er sich eines Schemas be­ diente, das Herder aufgriff und in einer Weise veränderte, welche entscheidenden 19. Ich folge mit diesen Aussagen im wesentlichen Meinecke, a. a. 0. 20. Vgl . Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain!Ent­ wurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geschlechts (1794) . Hrsg. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963. 21 . Ich zitiere Herders Schrift >>Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit