This collection of articles assembles substantial studies on Johann Christoph Gottsched (1700-1766). The detailed invest
386 104 81MB
German Pages 459 [460] Year 2007
Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen
Bildanhang
Ein Leipziger Dichterstreit: Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici
Quellenanhang
„Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer“. Einblicke in Leben und Werk des Gottsched-Korrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (1709–1764)
Quellenanhang
Bildanhang
Gottscheds Tod und Begräbnis
Nachleben im Bild: ein Überblick über posthume Bildnisse und Beurteilungen Gottscheds
Bildanhang
Abkürzungsverzeichnis
Personenverzeichnis
Autorenverzeichnis
Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung
Herausgegeben von Manfred Rudersdorf
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019490-6 Bibliograßsche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt
Vorwort des Herausgebers RÜDIGER OTTO Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen Bildanhang
VII
l 76
RÜDIGER OTTO
Ein Leipziger Dichterstreit: Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici Quellenanhang
92 143
MICHAEL SCHLOTT „Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer". Einblicke in Leben und Werk des Gottsched-Korrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (l 709-1764) 155 Quellenanhang
225
Bildanhang
325
DETLEF DÖRING Gottscheds Tod und Begräbnis
338
RÜDIGER OTTO Nachleben im Bild: ein Überblick über posthume Bildnisse und Beurteilungen Gottscheds
375
Bildanhang
419
VI
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
431
Personenverzeichnis
433
Autorenverzeichnis
441
Vorwort des Herausgebers Johann Christoph Gottsched (1700-1766) gehört nicht nur in die vorderste Reihe der prominenten Professoren der Leipziger Universität im Ancien regime, sondern auch zu den interessantesten und innovativsten Literatur- und Sprachwissenschaftlern, die den gelehrten Diskurs im damaligen deutschsprachigen Kommunikationsraum an führender Stelle mitbestimmt haben. Der Sohn eines Pfarrers aus Königsberg im Herzogtum Preußen, der an der dortigen „Albertina" Theologie und Philosophie studiert hatte, kam 1724 nicht ganz freiwillig nach Leipzig, als er für sich den Entschluß faßte, der drohenden Einziehung in die gefürchtete Armee des mächtigen Soldatenkönigs zu entgehen. Geprägt von der Philosophie Christian Wolffs und Gottfried Wilhelm Leibniz' bot ihm die Universitätsstadt Leipzig von Anfang an überaus günstige Voraussetzungen, sein kultur- und wissenschaftspolitisches Reformprogramm Schritt für Schritt durchzusetzen, das nicht nur auf eine deutsche Nationalsprache und Nationalliteratur abzielte, sondern auch klarlinig gegen Aberglaube und Orthodoxie gerichtet war. Die Bekanntschaft mit dem einflußreichen Herausgeber der Acta eruditorum, Johann Burkhard Mencke, war für ihn von Beginn an eine große Hilfe in der Pleißestadt, sich einem breiteren Publikum zu präsentieren. Durch ihn kam Gottsched in die „Deutschübende poetische Gesellschaft", die er, als ihr Senior, 1727 in die „Deutsche Gesellschaft in Leipzig" umbildete und zu einem vielbeachteten Forum und Instrument seines sprach- und dichtungsreformatorischen Wirkens machte. DETLEF DÖRJNG hat dieser frühen Seite seiner Tätigkeit im Jahre 2002 eine umfassende quellenkritische Darstellung gewidmet.1 Aber auch als Zeitschriftenherausgeber hat Gottsched dem literarischen Leben der frühen Aufklärung schon bald nachhaltige und kräftige Impulse verliehen. Er veröffentlichte zwei Moralische Wochenschriften („Die Vernünftigen Tadlerinnen", 1725/26, sowie „Der Biedermann", 1727—29) und drei literaturkritische Journale („Beyträge zur Critischen Historic der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit", 1732-44; „Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste", 1745-50; „Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit", 1751-62). Die Journale waren an ein überwiegend bürgerliches Publikum adressiert, das für die medialen Neuerungen offen und empfänglich war. Gottscheds l
Detief Döring, Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002.
VIII
Vorwort des Herausgebers
„Hauptmitarbeiterin" war später seine Ehefrau Luise Adelgunde Victorie, eine Tochter des Danziger Arztes Johann Georg Kulmus. Die „Gottschedin" arbeitete hauptsächlich als Übersetzerin, Rezensentin und Dramenautorin und half ihrem Mann bei der Bewältigung seiner ausgedehnten Korrespondenz, die er mit zahlreichen Gelehrten und neugegründeten Sozietäten in Deutschland und ganz Europa unterhielt. Erst in Leipzig begann der steile Aufstieg Gottscheds zu einer kritischen Autorität auf dem Gebiet seiner literatur- und sprachwissenschaftlichen Profession. Hier entfaltete er mit bemerkenswerter Energie und Zielstrebigkeit eine ausgebreitete literarische Tätigkeit, deren Prinzip die Aufklärung des Verstandes, oder anders gesagt: die „vernünftige" Grundlegung aller Bereiche der Kultur, des Geistes und der Zivilisation war. Gottsched wirkte von 1724 bis zu seinem Tod fast 42 Jahre lang an der Leipziger Universität, seit 1730 als Professor der Poesie, seit 1734 gleichzeitig als Professor der Logik und der Metaphysik. Seine Reputation als akademischer Lehrer und universitärer Organisator zeigte sich in der mehrfachen Wahl zum Rector magnificus seiner Alma mater Lipsiensis. Mit dem prominenten mitteldeutschen Standort Leipzig verfügte Gottsched zweifellos über ein ausgezeichnetes urbanes Umfeld, das sich im 18. Jahrhundert nicht nur zum Zentralort des deutschen Buchhandels entwickelte, sondern durch Universität, Gelehrtensozietäten, Handelsmessen, Musikleben und Kaffeehauskultur zu einem der bedeutendsten Kristallisationspunkte der Aufklärung in Deutschland wurde. Zurecht gilt Gottsched daher als eine Schlüsselfigur der deutschen Aufklärung und der deutschen Literaturgeschichte, deren vielfältiges Wirken nicht nur in Sachsen und Deutschland im Zeichen des späten Ancien regime rezipiert wurde, sondern darüberhinaus eine breite gesamteuropäische Bedeutung und geistige Strahlkraft besaß. So war Gottsched einer der wichtigsten Vermittler des Gedankengutes der Aufklärung nach Skandinavien und Ostmitteleuropa sowie nach Südost- und Osteuropa. Die Rezeption der französischen und englischen Aufklärung ist eng mit seinem Wirken verbunden, vor allem durch die von ihm veranlaßten Übersetzungen zentraler Werke des westeuropäischen Geisteslebens. Sein Name stand gleichermaßen für die Popularisierung der Aufklärungsphilosophie von Leibniz und Wolff, für die Reform der deutschen Dichtung, die Förderung und Normierung der deutschen Sprache, für die Pionierarbeiten zur Erschließung der deutschen Literaturgeschichte, für die Herausbildung der Frauenliteratur, für die zeitgenössische Theaterreform, schließlich für die Genese und unverwechselbare Ausprägung des urbanen gelehrten Sozietätswesens in Mitteleuropa sowie für die Herausgabe mehrerer Moralischer Wochenschriften und anderer vorbildhaft wirkender Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Es sind dies ausnahmslos
Vorwort des Herausgebers
IX
Themenfelder von Gewicht, die ohne eine angemessene Berücksichtigung von Gottscheds Wirken historiographisch wohl kaum sachgerecht zu behandeln wären. Angesichts dieser zentralen Bedeutung, die das schöpferische Schaffen des nicht unumstrittenen Leipziger „Literaturpapstes" rezeptions- und wirkungsgeschichtlich beanspruchen darf, mutet es erstaunlich an, daß sein Werk und Wirken, von gewichtigen Ausnahmen abgesehen, von der Forschung insgesamt eher verhalten aufgenommen und wahrgenommen wurde. Erst in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts ist eine dichtere empirische Beschäftigung mit dem großen Leipziger Aufklärungsprotagonisten zu konstatieren. Gefördert wurde diese vor allem durch die zwischen 1968 bis 1995 erschienene mehrbändige Edition ausgewählter Werke Gottscheds (hrsg. von Joachim Birke, danach von Phillip Marshall Mitchell), in der allerdings der Briefwechsel Gottscheds keine Berücksichtigung fand. Es zeigte sich schon bald, daß für eine quellennahe seriöse Rekonstruktion des Wirkens Gottscheds die fundierte Erschliessung seiner ausgedehnten Korrespondenz für die einschlägige, interdisziplinär und international ausgerichtete Aufklärungsforschung von unerläßlicher Notwendigkeit war. Mehr als vierzig Jahre lang korrespondierte Gottsched von Leipzig aus mit Gelehrten, Schriftstellern und Schriftstellerinnen, Geistlichen, Lehrern, Theatermachern, Juristen und Politikern bürgerlicher und adliger Herkunft in fast allen deutschen Territorien und in zahlreichen europäischen Staaten, darunter auch in den Ländern des katholisch geprägten habsburgischen Machtbereichs. Der überlieferte Korrespondenzbestand bietet jedoch nicht nur reichhaltiges Quellenmaterial für die Beschäftigung mit dem Leben und Wirken Gottscheds, mit seinen Plänen und Ideen, seinen Publikationen und literaturtheoretischen Zielvorstellungen. Er vermag in hohem Maße auch Auskunft über die Kommunikationsstrukturen und intellektuellen Netzwerke der Aufklärung, über den Wandel der gelehrten Briefkultur im 18. Jahrhundert, über die zeitgenössische Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte sowie über die akademische wie populäre Kulturgeschichte der vormodernen, vorindustriellen Welt insgesamt zu geben. So ist es angesichts des Wirkungsortes Gottscheds kein Zufall, daß es gerade die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig war, die sich dem Anliegen der Gottschedschen Briefedition als besonders förderungswürdigem Vorhaben geöffnet und sich der Herausforderung einer Großedition gestellt hat. Seit Anfang des Jahres 2000 ist das Projekt unter dem Titel Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched bei der Sächsischen Akademie der Wissenschaften fest verankert. Das Projekt verfolgt die Aufgabe, in chronologischer Folge die gesamte aktive und passive Korrespondenz Gottscheds und seiner Ehefrau Luise Adelgunde
X
Vorwort des Herausgebers
Victorie in einer historisch-kritischen Volltextausgabe zu erfassen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sukzessive vorzulegen. Dabei handelt es sich um die keineswegs geringe Zahl von circa 6.000 Briefen, die in der Leipziger Universitätsbibliothek bzw. Leipziger Akademie der wissenschaftlichen Erschließung und Bearbeitung harren. Soeben ist der erste Band der Briefedition im Walter de Gruyter Verlag in Berlin und New York erschienen, der die Jahre 1722 bis 1730 umfaßt und 212 kritisch edierte und kommentierte Stücke enthält. Die projektierte Gesamtausgabe des Briefwechsels von Gottsched und seiner Frau ist auf insgesamt 25 Bände angelegt.2 Transparent herausarbeiten läßt sich ohne Zweifel die breitgefächerte Intention, um die es Gottsched in seinem Briefwechsel in Variationen immer wieder geht: um die Propagierung und Verteidigung seiner wissenschaftlichen Lehren, um die Gewinnung von gleichrangigen Verbündeten, um die Protektion seiner universitären Schüler und um die Suche nach Unterstützung einflußreicher Personen, Meinungsführer und aufgeklärter Kreise in Politik, Kultur und Ökonomie. So läßt bereits der erste Band der Edition den Impuls deutlich erkennen, der von der kompletten Edition der Gottschedkorrespondenz auf die verschiedensten mit der Aufklärungszeit befaßten Forschungsrichtungen ausgehen wird. Damit ist jetzt ein konkreter Anfang gemacht worden, ein weiteres wichtiges der unerschlossenen großen Briefkorpora des 18. Jahrhunderts in rascher Abfolge der geistes- und literaturwissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es ist vor allem ein Verdienst der Wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Projektstelle der Akademie, daß die systematische Erschließung und Bearbeitung des Briefwechsels von Gottsched in den letzten Jahren einen großen Sprung nach vorne gemacht hat. Ohne die kontinuierliche Projektarbeit des Arbeitsstellenleiters Professor Dr. theol. Dr. phil. DETLEF DÖRING, der Wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. theol. RÜDIGER OTTO und Dr. phil. MICHAEL SCHLOTT sowie der Wissenschaftlich-technischen Mitarbeiterin Frau FRANZISKA MENZEL M. A. hätte die Edition nicht den hohen Standard an Professionalität und Präzision erreicht, den sie auf Dauer benötigt, um im Konzert der anderen Großeditionen zur „aufgeklärten" Welt des 18. Jahrhunderts konkurrenz- und wettbewerbsfähig zu bleiben. Auf diese Weise ist es den Editoren quasi „nebenbei" gelungen, pointiert in den eigenwilligen Kosmos der frühneuzeitlichen Leipziger Johann Christoph Gottsched, Briefwechsel, Historisch-kritische Ausgabe im Auftrage der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben von Detlef Döring und Manfred Rudersdorf, Band 1: 1722-1730, herausgegeben und bearbeitet von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott unter Mitarbeit von Franziska Menzel. Berlin; New York 2007.
Vorwort des Herausgebers
XI
Aufklärungsgesellschaft einzuführen und dabei zugleich den geistigen Horizont Gottscheds in seiner kreativen Vielfalt und Breite, aber auch in seiner bisweilen fragmentierten Begrenztheit und intellektuellen Abgehobenheit differenziert aufzuspüren und zur Darstellung zu bringen.
Vor diesem konkreten Hintergrund sind die fünf in diesem Sammelband vereinigten Beiträge der Mitarbeiter des Leipziger Akademie-Projekts entstanden - buchstäblich als geistig-literarische Produkte einer kritischen Editionstätigkeit, die sich im täglichen Umgang mit dem primären Quellenbefund „Brief" und seiner historischen Kontextualisierung stets von neuem zu bewähren hat. Damit wird hier ein exemplarisches Stück angewandter empirischer Grundlagenforschung eines aktuellen „akademischen" Langzeitprojektes vorgestellt, das im wissenschaftlichen Programm der Sächsischen Akademie zu Leipzig einen hohen symbolischen Stellenwert als Identitätsträger, als eines der „Flaggschiffe" der Akademie nach außen wahrnimmt. Die Beiträge dieses Sammelbandes sind durchweg Originalbeiträge, die bislang nicht an anderer Stelle publiziert worden sind. Briefedition und Sammelband hängen kausal auf das engste zusammen. So scheint also nur auf den ersten Blick eine gewisse inhaltliche Disparität der behandelten Themen gegeben zu sein. Der zweite Blick läßt bei genauerer Betrachtung eine innere Systematik erkennen, die konsequent dem chronologischen Prinzip der Biographie der Hauptperson folgt. So erstreckt sich der erste Beitrag in seiner Perspektive über das gesamte Leben Gottscheds, danach werden einzelne Lebensabschnitte thematisiert, mit unterschiedlicher Gewichtung und wechselnder Optik, bis hin zum Tod und zum Nachleben des großen Leipziger Protagonisten. Den Anfang macht RÜDIGER OTTO mit seinem Beitrag Johann Christoph und Louise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen. Ziel dieses Beitrages ist es, mit Hilfe des Briefwechsels sämtliche bei Lebzeiten entstandene Abbildungen (Gemälde und Stiche) Gottscheds und seiner Gemahlin zu identifizieren und ihre Entstehungsbedingungen zu beleuchten. Damit wird zugleich eine Art Bestandsaufnahme der bildlichen Darstellungen vorgenommen. Dem Autor geht es keineswegs darum, das Ingenium der Dargestellten zum Ausdruck zu bringen, wie dies etwa in Veröffentlichungen über die Bildnisse von Goethe, Leibniz und Bach der Fall ist, sondern die Entstehungsgeschichte der einzelnen Abbildungen anhand der Korrespondenz authentisch zu verfolgen. Dabei offenbart sich schon bald eine merkwürdige Ambivalenz: Einige Bilder werden in den Briefen erwähnt, existieren aber nicht mehr. Andererseits gibt es
XII
Vorwort des Herausgebers
Bilder, die Gottsched und seine Frau darstellen, aber in der Korrespondenz keine Spuren hinterlassen haben, wobei in Rechnung zu stellen ist, daß die Korrespondenz noch nicht vollständig erschlossen worden ist. Zwar wurden für den Beitrag alle Briefe in Augenschein genommen, bei denen Hinweise auf einschlägige Angaben zu erwarten waren — im Verlaufe dieser Recherchen wurde der Druck eines unbekannten Gottschedbriefes entdeckt —, aber es ist nicht auszuschließen, daß sich weitere Angaben in den unbekannten Briefen finden werden. Die numerische Anordnung der Beschreibungen folgt, soweit möglich, dem chronologischen Prinzip. Die überlieferten Bilder einerseits und die nichtexistenten, nur durch schriftliche Zeugnisse bekannten Bilder andererseits werden gleichrangig behandelt. Der illustrative Abbildungsteil schließlich enthält alle überlieferten Bilder. In einem zweiten Beitrag ganz anderer Art befaßt sich RÜDIGER OTTO mit dem Thema Ein l^eip^iger Dichterstreit: Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici. Ausgangspunkt der Erörterungen über das Verhältnis Gottscheds zu dem Leipziger Poeten Henrici, genannt Picander, war die sich aus der Recherche nach Gottschedautographen ergebende Entdeckung einer Handschrift aus dem Jahre 1729, die den Text einer Satire Henricis gegen Gottscheds Moralische Wochenschrift „Der Biedermann" enthält. Gottsched ist gegen die Satire juristisch vorgegangen. Bislang wußte man bestenfalls, daß eine solche Satire veröffentlicht worden war. Der Text selbst war unbekannt, gedruckte Exemplare sind bislang nicht zum Vorschein gekommen. Darüber hinaus enthält die Handschrift eine kurze Beschreibung der in Folge der Publikation entstandenen juristischen Auseinandersetzung und einen Rechtfertigungsbrief Henricis. Dem Abdruck dieser Texte wird eine zunächst verlaufsgeschichtliche Darstellung des von Spannungen geprägten Verhältnisses zwischen Gottsched und Henrici vorangestellt. Letzterer genoß als Gelegenheitsdichter in Leipzig und weit darüberhinaus zweifellos ein großes Ansehen und stellt als Textdichter der Matthäuspassion und mehrerer Bachkantaten in der Bachforschung beileibe keine unbekannte Größe dar. Im zweiten Teil des Beitrages wird nach den Handlungsbedingungen und Handlungskonzepten der Akteure gefragt. Es zeigt sich, daß Gottscheds offensive und auf Verdrängung zielende Strategie Henrici als Autor und die in seinen Augen literarisch wertlose und unsittliche Produktion Henricis prinzipiell diskreditieren sollte. Gottscheds didaktisch-moralische Bewertung der Literatur, die auch die Auseinandersetzung um die Oper und um die zweite schlesische Schule kennzeichnen, hat zur langfristigen Ächtung erotischer Literatur nicht nur der Machart Henricis beigetragen.
Vorwort des Herausgebers
XIII
Einem interessanten Perspektivenwechsel verschafft MICHAEL SCHLOTT in seinem Beitrag „Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer" — Einblicke in Leben und Werk des Gottsched-Korrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (1709-1764) Gehör: Der Aufsatz befaßt sich mit der Korrespondenz zwischen Gottsched und einem seiner ersten Leipziger Schüler, dem aus Rauten in Schlesien stammenden Rosenberg. Dieser gehörte zum Kreis der Gründergeneration von Gottscheds „Nachmittäglicher Rednergesellschaft". Viele der Mitglieder hielten nach ihrem Austritt brieflichen Kontakt mit Gottsched, einige von ihnen bis hinein in die letzte Lebensphase ihres ehemaligen Lehrers. Abraham Gottlob Rosenberg, ein Student der Theologie und Philosophie, gehörte zu den Mitgliedern der ersten Stunde - neben Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem aus Osnabrück, den Brüdern Ernesti aus Tennstedt in Thüringen, Johann Heinrich Winkler aus der Lausitz, David Heinrich Günther aus der Neumark und Johann Adam Löw aus Sangerhausen in Thüringen. 28 Briefe Rosenbergs an Gottsched aus den Jahren 1730 bis 1756 befinden sich unter Gottscheds nachgelassenen Briefen. Rückschauend bezeichnet Gottsched Rosenberg als einen seiner „damaligen geschicktesten Zuhörer", und zahlreich sind die brieflichen Zeugnisse für die uneingeschränkte Verehrung und Wertschätzung, die Rosenberg seinem Leipziger Lehrer entgegenbrachte. Der evangelisch-lutherische Pastor Rosenberg wurde 1738 in Schlesien zum Senioratsadministrator des Mertschützer Kreises ernannt. In Deutschland hat er sich einen Namen als Übersetzer der Predigten des berühmten reformierten Geistlichen Jacques Saurin gemacht. Die Anregung zu Rosenbergs Lebenswerk stammt von Gottsched selbst und läßt sich bis in die Leipziger Studienzeit zurückverfolgen. Saurins homiletische Arbeit steht in einer Linie mit der von England, besonders durch Tillotson, beeinflußten Predigtreform, die wiederum durch die literarische Vermittlung Johann Lorenz Mosheims in Deutschland Fuß fassen konnte. Der erste Teil des Aufsatzes gibt einen Überblick über die komplizierte Überlieferungs-, Druck- und Rezeptionsgeschichte von Rosenbergs Saurin-Übersetzung und verdeutlicht in exemplarischen Konstellationen die konzeptionellen und inhaldichen Bezugspunkte zu Gottscheds weltlicher und homiletischer Redekunst. Im zweiten Teil wird ausführlich auf eine bislang vollkommen unbemerkt gebliebene Forschungstätigkeit Rosenbergs eingegangen. Dieser legte 1745 — als die Berliner Akademie eine entsprechende Preisfrage ausgeschrieben hatte — einen Traktat über die Ursachen der Elektrizität vor. Er zeigte sich darin einerseits als hervorragender Kenner der empirischen Erkenntnisse der Experimentalphysik (Elektrisiermaschinen), andererseits als ebenso kompetenter Theoretiker der Elektrizitätslehre, die sich in diesem „vorparadigmatischen" Stadium noch auf der Erkenntnisebene der sogenannten imponderabilen fluida bewegt.
XTV
Vorwort des Herausgebers
Stark vereinfacht formuliert stellt Rosenbergs Traktat einen der letzten Versuche dar, die ausufernde experimentalphysikalische Empirie auf der Grundlage Wölfischer Vernunftschlüsse zu regulieren und die Theorie der Elektrizität auf eine Grundursache zurückzuführen. Dabei zeigt sich, daß Rosenberg mit seiner Annahme des „elementarischen Feuers" wesentlich von den damaligen Forschungsansätzen des mährischen Geistlichen Procopius Divis und des französischen Geistlichen Jean Antoine Nollet profitiert hat. Im dritten Teil des Aufsatzes wird anhand von Rosenbergs Schrift „Erbauliche Briefe von der Religion" aus dem Jahre 1753 die „überwölbende" physikotheologische Konzeption der speziellen Elektrizitätsforschungen Rosenbergs dargelegt und im zeitgenössischen philosophisch-theologischen Diskurs kontextualisiert. Alle genannten Untersuchungsgegenstände werden in der Korrespondenz zwischen Rosenberg und seinem Lehrer Gottsched eingehend thematisiert und gewinnen im Lichte dieses „Hintergrund-Wissens" ein zusätzliches Interpretationsprofil, das über die bislang bestehenden sehr spärlichen Linienführungen weit hinausführt und nicht zuletzt die zeitgenössische Wirkungsbreite der Leipziger Gottsched-Schule eindrucksvoll dokumentiert. Ein umfänglicher philologischer Quellenanhang ergänzt die Aussagen des Textes. Wiederum anders ist der methodisch-theoretische Zugang, den DETLEF DURING in seinem Beitrag über Gottscheds Tod und Begräbnis zugrundegelegt hat. In konziser Form behandelt sein Aufsatz Gottscheds letzte Lebensjahre in Leipzig, seinen großen Bekanntenkreis und seine zweite Ehe. Danach wird über seinen Tod berichtet, wobei die lange Krankheitsgeschichte - Gottsched litt an der Wassersucht - ausführlich einbezogen wird. Es folgen Ausführungen über die Reaktionen der Zeitgenossen innerhalb und außerhalb Leipzigs auf die Nachricht vom Ableben Gottscheds. Sie belegen, daß vor allem auswärts die Reputation des Leipziger Gelehrten in seinen letzten Jahren stark gesunken war. Den Abschluß bilden Darlegungen zu Gottscheds Bestattung und zum Ort seiner Beerdigung. Gerade letztere Frage bildet den eigentlichen Ausgangspunkt des Aufsatzes, die Frage nämlich, wo Gottsched und seine Frau bestattet worden sind, und ferner, ob es in der Universitätskirche ein Professorenepitaph für ihn gegeben habe. DETLEF DÖRING vermag darauf eine eindeutige quellenfundierte Antwort zu geben. Er kann auch belegen, daß bei der Sprengung der Paulinerkirche im Jahre 1968 die Gebeine Gottscheds und seiner Frau nicht mehr in der Kirche auffindbar waren. In diesem Zusammenhang wird das sonst kaum berücksichtigte Thema „Gräber und Denkmäler der Professoren" über den prominenten Einzelfall Gottsched hinaus relativ breit und ausführlich behandelt, so daß DÖRINGS Beitrag eine beachtenswerte komparatistische Dimension im
Vorwort des Herausgebers
XV
Rahmen der Universitäten Memorialkultur und ihrer personengeschichtlichen Orientierung beizumessen ist. Der Kreis schließt sich, indem zum Schluß noch einmal pointiert auf den Anfang hingewiesen und damit die Gattung der „Bildquellen" erneut in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Noch einmal kommt RÜDIGER OTTO zu Wort, jetzt mit seinem Beitrag Nachleben im Bild: ein Überblick überposthume Bildnisse und Beurteilungen Gottscheds. Der Autor führt aus, daß für die Sammlung von Abbildungen Gottscheds neben den zeitgenössischen und authentischen auch solche Bilder ermittelt worden sind, die nach Gottscheds Tod entstanden waren. Der ursprüngliche Plan, sie bruchlos an die authentischen Bilder anzugliedern und zu beschreiben, erwies sich freilich als untauglich: zu sehr sind ihr Wert und ihre Aussagefähigkeit von den zu Gottscheds Lebzeiten entstandenen Portraits unterschieden. Sollte dieses Bildmaterial überhaupt aufbereitet werden, so müssen andere Zugangswege und andere Betrachtungsweisen für diese Bilder gefunden werden. Angesichts einer fast standardisierten Betrachtung der Wirkungs- und Forschungsgeschichte Gottscheds, die als Aufstieg, als Fall und als langanhaltende Geringschätzung im Bereich der Literaturgeschichtsschreibung beschrieben wird, stellt sich die Frage, ob die, allerdings nicht sonderlich zahlreichen, Bilder diese Verlaufsgeschichte tatsächlich bestätigen. Die Bilder bieten sich als Einstiegsobjekte an, um die Akteure und das literarisch-journalistische bzw. forschungsgeschichtliche Umfeld, dem sie entstammten, näher zu untersuchen. Dabei stellt sich heraus, daß im späten 18. Jahrhundert auch im Einzugsbereich der modernen Literatur ein partielles Verständnis für Gottscheds Leistung als Theater- und Dichtungsreformator bestand. Der Gottsched-Apologet Eugen Reichel hat sich im Kontext der Denkmalsbestrebungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit bescheidenem Erfolg für die Präsenz Gottscheds im öffentlichen Raum eingesetzt, immerhin sind Abbildungen von Entwürfen des Berliner Bildhauers Emil Hundrieser überliefert. Aufschlußreich ist auch der Blick auf die nationalpädagogisch ausgerichteten Bildnisvitenbücher, die als eigene Gattung offenbar bislang noch nicht zusammenhängend das Interesse der Forschung auf sich gezogen haben. Gottsched ist in dieser Gattung, deren Genese nicht zuletzt auf seine Anregung zurückgeht, dank der von Goethe und Lessing geprägten Stereotypen zunächst gar nicht, dann eher unter Vorbehalt berücksichtigt worden. Die in der Zeit des Nationalsozialismus entstandenen Veröffentlichungen dieser Art operieren, soweit sie systemkonform sind, mit einem idealtypischen und ahistorischen Begriff des Deutschen, der Gottsched offenbar von der historischen Würdigung ausschließt.
XVI
Vorwort des Herausgebers
Die vorliegenden fünf in ihrer Substanz hier knapp zusammengefaßten Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung Johann Christoph Gottscheds sollen für sich sprechen. Auf unterschiedliche methodische Weise sind hier Teilaspekte der Biographie eines langen Gelehrtenlebens im Zeichen einer kraftvollen bürgerlichen, ja urbanen Aufklärungsbewegung zusammengeführt worden, die sowohl die internen Leipziger Spezifika als auch die überregionalen deutschen und europäischen Antriebskräfte jener glanzvollen Kulturepoche im Herbst des Ancien regime differenziert hervortreten läßt. Da die fünf Teilstudien allesamt aus der Editionsarbeit in der Leipziger Projektstelle der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erwachsen sind, bedarf es eigentlich keiner weiteren Begründung mehr, um den hohen Stellenwert der empirischen Aussagekraft der Briefe und Briefwechsel gerade des 18. Jahrhunderts für die alteuropäische Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte prononciert hervorzuheben. Viele Vorgänge und Phänomene der aufgeklärten Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte in der Vormoderne wären ohne die Heranziehung und analysierende Auswertung gelehrter Briefkorrespondenzen kaum angemessen erklärbar und schwer einzuordnen. So bedarf es am Schluß noch einmal der ausdrücklichen Anerkennung für die Autoren dieses Sammelbandes, daß sie es neben ihrer primären Editionstätigkeit in der Akademie in kurzer Zeit geschafft haben, neue und originelle Forschungsergebnisse in Aufsatzform vorzulegen, die über die spezialisierte Gottschedforschung hinaus auch Bedeutung für andere Wissenschaftszweige in der Erforschung des 18. Jahrhunderts erlangen könnten. Es ist mir nach dem Gesagten eine angenehme Pflicht, insbesondere der Wissenschaftlich-technischen Mitarbeiterin des Leipziger GottschedProjektes, Frau FRANZISKA MENZEL M. A., sehr herzlich für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts sowie des Personenregisters zu danken. Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. EBERHARD FISCHER für seine Unterstützung bei der Satzherstellung und der Bildbearbeitung. In gleicher Weise gilt mein Dank dem Cheflektor des Walter de Gruyter Verlags für Sprach- und Literaturwissenschaft, Herrn Dr. HEIKO HARTMANN, der nicht nur günstige verlegerische Rahmenbedingungen gewährleistete, sondern auch von Beginn an die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm entschieden befürwortete. Sein guter Rat in allen Fragen der Gestaltung des Bandes war erneut sehr wertvoll und weiterführend. Zum Schluß geht — wie immer — ein besonderer Dank an die Leitung der Sächsischen Akademie der Wissenschaften sowie an die Mitglieder der vorhabenbegleitenden Kommission für ihre Unterstützung im Hinblick auf die wissenschaftliche Projektarbeit. Dem Herausgeber ist es schließlich ein Anliegen festzuhalten, daß die Arbeit an der Gottschedschen Brief-
Vorwort des Herausgebers
XVII
edition auch eine große Phase der älteren Leipziger Universitätsgeschichte in der Vormoderne umfaßt, an deren Erforschung die Sächsische Akademie seit langem beteiligt ist. Leipzig, am 31. Juli 2007 Univ.-Professor Dr. Manfred Rudersdorf Ordendiches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Projektleiter
Johann Christoph und Luise Adelgunde Victoria Gottsched in bildlichen Darstellungen1 RÜDIGER OTTO Bildnisse Johann Christoph Gottscheds und seiner Frau Luise Adelgunde Victorie sind vermutlich jedem, der sich mit Literatur- und Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts befaßt, schon begegnet.2 Sie finden sich in Bilddarstellungen zur Geschichte der Städte und Universitäten Leipzig3 Für Auskünfte, Hinweise auf Bilder und Texte, Unterstützung und Belehrung danke ich Prof. Dr. Günter Brilla (Bonn), Dr. Marita von Cieminski (Halle), Prof. Dr. Detlef Döring (Leipzig), Ciaire Harteveld (Fribourg), Dr. Hartmut Hecht (Berlin), Annelies Hüssy (Bern), Cornelia Junge (Leipzig), Franziska Menzel (Leipzig), Dr. Rainer Michaelis (Berlin), Peter Mortzfeld (Wolfenbüttel), Susanne Petri (Leipzig), Dr. Michael Schlott (Leipzig), Dr. Birgit Verwiebe (Berlin). Eine kleine Auswahl an einschlägiger Literatur (die eingeklammerte Nummernangabe bezeichnet jeweils die Bildnumerierung im vorliegenden Text): Gustav Könnecke: Bilderadas zur Geschichte der Deutschen Nationallitteratur. Marburg 1887, S. 146 (Nr. 21 und Nr. 14); Oskar Walzel: Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart. Potsdam 1927, S. 33 (Nr. 16) und S. 85 (Nr. 22); Paul Fechter: Dichtung der Deutschen. Berlin 1932, S. 279 (Nr. 16); Gero von Wilpert: Deutsche Literatur in Bildern. 2., erw. Auflage. Stuttgart 1965, S. 124, Nr. 328 (Nr. 16) und 330 (Nr. 5); Günter Albrecht u. a.: Deutsche Literaturgeschichte in Büdern. Leipzig 1969, S, 181 Nr. 331 (Nr. 21); Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis 1789. Berlin 1979, S. 177 (Nr. 15) und S. 191 (Nr. 13); Weltliteratur: Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar 1982, S. 65 (Nr. 7) und 68 (Nr. 22); Dichter-Porträts. Bilder und Daten. Stuttgart 1996, S. 54 (Nr. 21), S. 60 (Nr. 13). Gustav Wustmann: Bilderbuch aus der Geschichte der Stadt Leipzig. Leipzig 1897 (Nachdruck Leipzig 1990), S. 84 (Nr. 13) und S. 85 (Nr. 15). Im Leipziger Kalender von 1907 heißt es, es seien die in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrten „beiden Ölgemälde von ihm und seiner Frau, die wir hier in Abbildung wiedergeben". Benno Hilliger: Gottsched. In: Leipziger Kalender 4 (1907), S. 59-64. Tatsächlich aber stammen die Stiche aus Jakob Brucker; Johann Jakob Haid: Bilder=sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter Schrifft=steller; in welchem derselbigen nach wahren original=malereyen entworfene Bildnisse in schwarzer Kunst, in natürlicher Aehnlichkeit vorgestellet, und ihre Lebens=umstände, Verdienste um die Wissenschafften, und Schrifften aus glaubwürdigen Nachrichten erzählet werden. Erstes bis zehntes Zehend. Augsburg: Johann Jakob Haid, 1741-1755; vgl. Nr. 13 und 15. Das literarische Leipzig. Leipzig 1995, S. 88 (Nr. 16). Uwe Hentschel: Von Thomasius bis E. T. A. Hoffmann: Leipziger Literaturgeschichte^) des 18. Jahrhunderts. Radebeul 2002, S. 29 (Nr. 19); Rudolf Kittel: Die Universität Leipzig und ihre Stellung im Kulturleben. Dresden 1924, S. 17 (Nr. 18); Kunstschätze
2
RÜDIGER OTTO
und Königsberg,4 zur (Kultur-)Geschichte Sachsens5 und zur allgemeinen Geschichte der Neuzeit.6 Die Gottscheds gehörten zum lebensgeschichtlichen Umfeld Johann Sebastian Bachs (1685-1750).7 Gottschedbilder sind in Biographien Leipziger Studenten enthalten, zu denen unbekanntere Personen wie der spätere Direktor der russischen Akademie der Künste Jakob von Stählin (1709-1785)8 und das frühverstorbene „Genie des Ärgernisses" Christlob Mylius (1722-1754)9 ebenso gehören wie die allbekannten Lessing (l729-178l)10 und Goethe (1749-1832).» Veröffentlichungen zur Literatur- oder Kulturgeschichte der Frau in Deutschland — oder in Leipzig — enthalten nicht selten Abbildungen der Frau Gottsched,12 und auch in illustrierten lexikalischen Werken kann man auf entder Karl-Marx-Universität Leipzig. Leipzig 1981, S. lOOf. bzw. Nr. 82 (Nr. 16); Lothar Rathmann (Hg.): Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig. Leipzig 1984, S. 98, Abb. 36 (Nr. 16); 450 Jahre Universitätsbibliothek Leipzig 1543-1993. 2., überarb. Auflage. Leipzig 1994, S. 68f. (Nr. 12 und 18); Ludwig Stockinger: Johann Christoph Gottsched. Zum 375. [275.] Jahrestag seiner Ernennung zum Professor. In: Rektor der Universität Leipzig (Hg.): Universität Leipzig. Jubiläen 2005, Personen, Ereignisse. Leipzig 2005, S. 111-114,111 (Nr. 15). 4 Walther Hubatsch: Die Albertus-Universität zu Königsberg/ Preussen in Bildern. Würzburg 1966, S. 99 Abb. 63 (Nr. 16); Kasimir Lawrynowicz: Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Berlin 1999, S. 186 Abb. 36 (Nr. 16). 5 Unter einer Krone: Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union. Leipzig 1997, S. 157 (Nr. 15); Reiner Groß: Geschichte Sachsens. 2. Auflage. Leipzig 2002, S. 143, bezeichnet als „Kupferstich von Anna Maria Wernerin, um 1755" (Nr. 15). Passage FrankreichSachsen: Kulturgeschichte einer Beziehung 1700 bis 2000: Katalog zur gleichnamigen Ausstellung ... Halle 2004, S. 156 (Nr. 12) und 159 (Nr. 18). 6 Wilhelm Oncken: Das Zeitalter Friedrich des Großen. Band 1. Leipzig 1881, S. 531 (Nr. 10); Martin Philippson: Geschichte der Neueren Zeit. 3. Teil. Berlin 1889, S. 147 (Nr. 10); Bernhard Erdmannsdörffer: Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrich's des Großen 1648-1740. Band 2, Berün 1893, S. 399 (Nr. 15). 7 Bernhard Knick (Hg.): St. Thomas zu Leipzig Schule und Chor. Stätte des Wirkens von Johann Sebastian Bach. Wiesbaden 1963, S. 172 (Nr. 21); Werner Neumann: Bilddokumente zur Lebensgeschichtejohann Sebastian Bachs. Kassel u. a. 1979, Nr. 310 (Nr. 11), 311 (Nr. 13), 330 (Nr. 16). 8 Karl Stählin: Aus den Papieren Jacob von Stählins. Ein biographischer Beitrag zur deutschrussischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Königsberg; Berlin 1926, S. 23 (Nr. 15). 9 Dieter Hildebrandt: Chrisdob Mylius. Ein Genie des Ärgernisses. Berlin 1981, S. 9 (Zitat) und S. 28 (Nr. 5). 10 Siegfried Seidel: Gotthold Ephraim Lessing. Leipzig 1983, S. 18; bezeichnet als „Stich von Bause nach einem Gemälde von E. G. Hausmann" (Nr. 15). 11 Johann Wolfgang Goethe und Leipzig. Beiträge und Katalog zur Ausstellung. Leipzig 1999, S. 52 (Nr. 16) und 53 (Nr. 12). 12 Heinrich Groß: Deutsche Dichterinnen und Schriftstellerinnen in Wort und Bild. 3 Bände. Berlin 1885, l, S. 27^3 (Nr. 13); Kurt Pfister: Die Gottschedin. In: Ina Seidel (Hg.): Deutsche Frauen. Bildnisse und Lebensbeschreibungen. Berlin 1939, S. 71-73, Abbildung vor S. 81 (Nr. 14); Lydia Ganzer-Gottschewski: Das deutsche Frauenantlitz. Bildnisse aus allen Jahrhunderten deutschen Lebens. München; Berlin 1939, S. 54 (Nr. 12); Barbara Becker-
Gottsched-Bildnisse
3
sprechende Abbildungen stoßen.13 Die Aufzählung der einschlägigen Themenbereiche ist bei weitem nicht vollständig, ganz abgesehen davon, daß für jedes Thema nur einige exemplarische Titel genannt wurden und eine systematische Suche eine weitaus größere Zahl an Abbildungen erbringen würde. Den Betrachtern könnte aufgefallen sein, daß der Fundus an Bildern Gottscheds und seiner Frau nicht sonderlich groß ist. Soweit es die authentischen, d. h. die bei Lebzeiten entstandenen graphischen Darstellungen betrifft, sind sie nahezu vollständig in dem von Peter Mortzfeld erstellten Katalog der Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel enthalten.14 Auch die beiden Gemälde Gottscheds (Nr. 16 Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit: Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. Zuerst Stuttgart 1987; München 1989. Das Büd der Frau Gottsched (vor S. 240) schmückt auch den Umschlag (Nr. 13); Friderun Bodeit (Hg.): Ich muß mich ganz hingeben können. Frauen in Leipzig. Leipzig 1990, zwischen S. 32 und 33 (Nr. 12); Elke Clauss: Frau und Brief im 18. Jahrhundert. In: Heide von Felden (Hg.): ... greifen zur Feder und denken die Welt ... Frauen - Literatur - Büdung. Oldenburg 1991, S. 65-78, 67 (Nr. 13); Leipziger Frauengeschichten. Ein historischer Stadtrundgang. Leipzig 1995, S. 88 (Nr. 12); Gelehrte Frauen. Frauenbiographien vom 10. bis zum 20. Jahrhundert. Wien 1996, S. 125 (Nr. 13); Katherine R. Goodman: Amazons and apprentices: Women and the German Parnassus in the early Enlightenment. Rochester 1999, vor S. l (Nr. 13); Gerhart Söhn: Die stille Revolution der Weiber. Frauen der Aufklärung und Romantik. Leipzig 2003, S. 22 (Nr. 13). 13 Der Große Brockhaus. 15. Auflage. Band 7. Leipzig 1930, S. 537 (Ausschnitt aus Nr. 16); Musik in Geschichte und Gegenwart 5 (1956), Sp. 575 (Nr. 16), Sp. 576 (Nr. 12). 14 Die Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bearbeitet von Peter Mortzfeld. Reihe A. Band 9. München u. a. 1989, Nr. 8038-8043 (Gottsched), 8044 (Luise Adelgunde Victorie Gottsched); darauf bezogen: Die Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Bearbeitet von Peter Mortzfeld. Biographische und bibliographische Beschreibungen mit Künstlerregister. Band 3. München 1998. Reihe B, Porträts aus Druckschriften, ist noch nicht begonnen; folgende Kataloge wurden ebenfalls konsultiert: Wilhelm Eduard Drugulin: Allgemeiner Portrait-Katalog. Band 1: A-K. Leipzig 1859, S. 285f., Nr. 7733-7737; Verzeichniss von Portraits zur Geschichte des Theaters und der Musik, welche zu den beigesetzten Preisen von dem Leipziger Kunst-Comptoir (W. Drugulin) zu beziehen sind. Leipzig 1864 (Nachdruck Walluf 1973), S. 60 Nr. 21132122; Woldemar von Seidlitz: Allgemeines historisches Porträtwerk. Eine Sammlung von über 600 Porträts der berühmtesten Personen aller Nationen von c. 1300 bis c. 1840. München 1884-1890, Serie V/VII: Dichter und Schriftsteller. 1887, Bl. 15 (Nr. 21); William Coolidge Lane; Nina E. Browne: Portrait Index. Index to portraits contained in printed books and periodicals. Washington 1906; Friedrich Schwarz: Verzeichnis der in der Stadtbibliothek Danzig vorhandenen Porträts Danziger Persönlichkeiten. In: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins 50 (1908), S.131-171, S. 145, Nr. 108 und 109; Hans Dietrich von Diepenbroick-Grüter: Allgemeiner Porträt-Katalog. Hamburg 1931—1933 (Nachdruck Hildesheim u. a. 2000), S. 289, Nr. 9718-9723; Hans Wolfgang Singer: Neuer Bildniskatalog. Band 2. Leipzig 1937, S. 167, Nr. 13271-13276, zu den hier verzeichneten Gottsched-Bildern von Eugen Urban und Adam Manyoki (Nr. 13273, 13275, 13276) vgl. unten Anm. 121; Annegrete Janda-Bux: Katalog des Kunstbesitzes der Universität Leipzig mit besonderer Berücksichtigung der Gelehrtenbildnisse. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 4 (1954/55), gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, H. 1/2, S. 169-197, Personenregister (zu ergänzen ist die im Register fehlende Nr.
4
RÜDIGER OTTO
und 17), das Bild seiner Gemahlin (Nr. 12) und ein weiteres Bild, das das junge Ehepaar darstellen soll (Nr. 5), wurden häufig als Illustration wiedergegeben. Die folgende Darstellung kann diesen Bestand an bekannten Bildern nicht erweitern. Es wird auch nicht beabsichtigt, die Bilder nach den Regeln kunsthistorischer Analyse zu beschreiben, für den Nichtfachmann ist hier Zurückhaltung geboten. Infolgedessen entfallen auch ästhetische Erwägungen über die Qualität der Bilder und die physiognomische Frage danach, inwieweit in den Bildern das Charakteristische oder der Genius des Dargestellten zum Ausdruck komme.15 Der Beitrag verfolgt vielmehr zuerst das Ziel, die Abbildungen des Ehepaares Gottsched vollständig zu erfassen.16 Das betrifft die erwähnten Gemälde und graphischen Wiedergaben, erstreckt sich auf Bilder, die nach späterer Zuschreibung Gottsched bzw. Luise Adelgunde Victorie Gottsched darstellen sollen, und umfaßt auch die Bilder, deren Existenz nur durch Briefzeugnisse erschlossen werden kann. Soweit dies möglich ist, wurde versucht, den Kontext der Bildentstehung zu vergegenwärtigen, d. h. die Lebensstationen der Gottscheds und die Beziehung zu den Personen vorzustellen, denen einzelne Bilder ihre Entstehung verdanken. Bei diesem Versuch kommt der Korrespondenz Gottscheds eine vorrangige Bedeutung zu, die allerdings auch gewisse Eigentümlichkeiten der Darstellung bedingt: Nicht in allen Fällen geben Briefe Auskunft über die Entstehung von Bildern und nur in wenigen Fällen reichlich. Der Umfang der jeweiligen Ausführungen ist abhängig von diesen Mitteilungen; im übrigen kann nicht ausgeschlossen werden, daß in der bei weitem noch nicht vollständig ausgewerteten Briefsammlung weitere Hinweise enthalten sind. Die Abfolge der Beschreibungen und die entsprechende Numerierung orientiert sich an der Chronologie, die durch das Datum der Erwähnung von Bildern in Briefen, durch exakte Datierungen auf Bildern bzw. Kupferstichen oder
15 16
40); Günter Schöne: Porträt-Katalog des Theatermuseums München. Teil 1,1. Wilhelmshaven 1978, S. 870, Nr. 856-857; Roswitha Platz (Bearb.): Theaterhistorische Porträtgraphik. Ein Katalog aus den Beständen der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. Berlin 1995, Nr. 1853-1856. Diese Frage bildet das Leitmotiv in Hans Wahl: Goethe im Bildnis. Leipzig [1930]. Der Beitrag schließt damit an eine ganze Reihe von Darstellungen an, die sich auf je unterschiedliche Weise die Erschließung bildlicher Darstellungen namhafter Personen des 18. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt haben. Um nur einige zu nennen: Artur Weese: Die Bildnisse Albrecht von Hallers. Bern 1909; Karl Heinz Glasen: Kant-Bildnisse. Königsberg 1924; Manfred Kahler: Johann Gottfried Herder. Bildserie. Weimar 1978; Gertrud RudloffHille: Die authentischen Bildnisse Gotthold Ephraim Lessings: Zusammenfassende Darstellung der bis heute bekannt gewordenen Lessing-Porträts. Kamenz 1983; Gisbert Porstmann: Moses Mendelssohn. Porträts und Bilddokumente. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997; zu Goethe existieren verschiedene Bildwerke, zuletzt: Emil Schaeffer und Jörn Göres (Hg.): Goethe. Seine äußere Erscheinung. Literarische und künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Frankfurt am Main; Leipzig 1999.
Gottsched-Bildnisse
durch andere Hinweise bekannt ist. Jedes Bild in dieser chronologischen Reihe wird mit einer Nummer versehen, unabhängig davon, ob es überliefert oder nur erwähnt ist. Im Abbildungsteil wird diese Reihenfolge unter Aussparung der nicht verfügbaren Abbildungen beibehalten.
Nr. l und 2. Miniaturbildnisse des jungen Gottsched und seiner Frau In der großen Gottsched-Biographie Eugen Reicheis sind zwei Miniaturen nach Vorlagen aus der Sammlung der Königsberger Altertumsgesellschaft Prussia abgebildet. Nach Auskunft Reicheis stellen sie Gottsched als Mann von 30 Jahren bzw. Luise Adelgunde Victorie Gottsched dar.17 Sofern die Angabe stimmt und die Porträts nach den lebenden Modellen gemalt sind, müßte das Bild Gottscheds um 1730,18 das seiner Gemahlin frühestens 1735 — vorher hätte sie als L. A. V. Kulmus bezeichnet werden müssen - entstanden sein. Da jede Angabe über den Urheber, die Entstehungszeit und die Authentizität der Dargestellten fehlt, fällt es schwer, die Zuschreibung vorbehaltlos zu akzeptieren. Die Sammlung der Prussia ist wahrscheinlich gegen Ende des 2. Weltkrieges zerstört oder zerstreut worden, über den Verbleib der Originale ist nichts bekannt.19 In den älteren Inventaren konnten keine Belege über den Ankauf, geschweige denn 17
18
19
Eugen Reichel: Gottsched. Band 1. Berlin 1908, Frontispiz (Gottsched), nach S. 736 (L. A. V. Gottsched); die Gottsched-Darstellung auch in Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Berlin 1972, nach S. 56 und in Martin Stuber, Stefan Hächler und Luc Lienhard (Hg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. Basel 2005, S. 139. Dieser Abbildung liegt eine Vorlage aus der Burgerbibliothek Bern, Sammlung Volmar, zugrunde; nach Auskunft von Frau Annelies Hüssy (Bern) handelt es sich um eine Reproduktion. In Leipzig übten in dieser Zeit Johann Christoph Freund und Ludolf Lafontaine „die besondere, damals dort höchst selten vertretene Kunst der Miniaturmalerei aus". Ernst Sigismund: Der Porträtmaler Elias Gotdob Haußmann und seine Zeit; die Bachbildnisse. In: Zeitschrift für Kunst 4 (1950), S. 126-135,129. Die Sammlung galt nach dem 2. Weltkrieg als verschollen. Tatsächlich war die Schausammlung in Königsberg verblieben und befand sich noch im März 1945 in einem nahezu unversehrten Zustand, ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Anders der andere Teil der Sammlung: „Ein großer Teil der Studiensammlung und des zugehörigen Fundarchivs befindet sich heute im Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz." Christine Reich: Die Prussia-Sammlung im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte: Geschichte und Stand der Bearbeitung. In: Preußenland 41 (2003), S. 1-8, 1. Ich danke Herrn Prof. Dr. Günter Brilla (Bonn), Präsident der Prussia Gesellschaft für Heimatkunde Ost- und Westpreußens e. V. in Duisburg, für seine Auskunft vom 5. Oktober 2003 und für seine weiteren Erkundigungen zum Verbleib. Er schließt nicht aus, daß die Bilder und andere Kunstgegenstände der Sammlung in Thorn oder in anderen polnischen Sammlungen aufbewahrt werden.
6
RÜDIGER OTTO
über Herkunft, Entstehung und Künstler gefunden werden. Die Zeitschrift Altpreußische Monatsschrift berichtete indes seit 1866 ausführlich über die Aktivitäten der Altertumsgesellschaft Prussia und informierte auch über ihre durch Ankauf und Schenkungen in beachtlichem Tempo wachsende Sammlung, zu der neben einer reichen Kollektion an Bodenfunden eine Bibliothek, eine Münz- und eine Porträtsammlung gehörten, die beispielsweise mit Bildnissen Immanuel Kants reich bestückt gewesen sein muß. Im Bericht über die Aktivitäten des Jahres 1881 findet sich die Notiz: „Aus dem Nachlass des Stifters der Prussia des Geheimraths E. August Hagen wurde ein Portrait Gottsched's und seiner Schwester ... angekauft."20 Ernst August Hagen (1797-1880), Professor für Kunstgeschichte an der Universität Königsberg, war der Mitbegründer und Spiritus rector der Prussia und für die Enstehung der Sammlung maßgebend.21 Es ist anzunehmen, daß die von Reichel wiedergegebenen Bilder mit den hier genannten identisch sind. Daß das als Bild der Schwester angekaufte Stück bei Reichel als Bild der Frau Gottsched wiederkehrt, könnte auf einem Mißverständnis beruhen, wenn man nicht annehmen will, daß sich die Zuschreibung Reicheis, soweit es Gottschediana betrifft, kreativem Umgang mit den Fakten verdankt.22 Wenn über die Herkunft der Bilder keine Angaben erfolgen, obwohl Hagen als ein mit der Geschichte Königsbergs vertrauter Kunsthistoriker sicher der beste Kenner der Materie war, so kann das nur bedeuten, daß darüber schon damals nichts in Erfahrung zu bringen war. Ob sie tatsächlich etwas mit Gottsched und seiner Frau zu tun haben, ob der Künstler, wenn auch nicht durch unmittelbare Anschauung, zu welcher Entstehungszeit auch immer, tatsächlich die Genannten porträtieren wollte oder ob der Name Gottsched erst später damit in Verbindung gebracht wurde, wann sie entstanden sind, von welchem Vorbesitzer Hagen sie gekauft hat — dies und anderes ist unbekannt. Solange keine weiteren Indizien bekannt werden, gibt es weder für noch gegen die Authentizität plausible Argumente.
20 21 22
Altpreußische Monatsschrift 18 (1881), S. 500. Über Hagen vgl. Altpreußische Biographie l (1974), S. 244 und Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg. Band 2. Köln; Graz 1968, S. 453f. Über Reichel vgl. im vorliegenden Band Rüdiger Otto: Nachleben im Bild, Abschnitt 3. An anderer Stelle schreibt Reichel über das Bild: „Das Jugendbild, welches wir von Gottsched besitzen, lässt uns, abgesehen von allem ändern, ahnen, wie der jüngste Magister der Albertina damals auf seine Umgebung gewirkt haben muss. Man denkt unwillkürlich an den jungen Goethe, wenn man das Haupt mit den gutmütigen blauen Augen, der breiten Stirn und dem sprechenden Munde betrachtet; nur dass ein tiefer Ernst, eine grosse sachliche Tiefe aus dem offen in die Welt schauenden Antlitz spricht, das einer gewissen freyen Schönheit nicht entbehrt." Eugen Reichel: Gottscheds Spiel- und Lehrjahre. In: Kleine GottschedHalle l (1904), S. 1-32,21.
Gottsched-Bildnisse
7
Nr. 3. Gottscheds Bild für seine Braut Das erste sicher bezeugte Bildnis Gottscheds entstand in den letzten Monaten des Jahres 1731. In einem Brief vom 15. Dezember 1731 schreibt seine spätere Gemahlin Luise Adelgunde Victorie Kulmus: „Ihr Bild wird mir sehr angenehm seyn: ich werde mich oft mit demselben unterhalten, und ihm alles klagen, was ich dem Originale nicht sagen kann."23 Der Brief reagierte auf ein nicht erhaltenes Schreiben, in dem Gottsched um ihre Hand angehalten und zugleich sein Bildnis in Aussicht gestellt hatte. Leider sind Gottscheds Briefe an seine Braut, die Gottsched nach ihrem Tod noch besaß,24 nicht erhalten, so daß mögliche Hinweise auf die Entstehungsumstände und den Maler nicht existieren. Es ist nur das Begleitgedicht überliefert, in dem der Absender, nachdem er das Versprechen ewiger Treue abgelegt hat, die Authentizität des Bildes betont.25 In ihrem nächsten Brief bestätigt die Danzigerin die Ankunft des Bildes und stellt ihrerseits die Ähnlichkeit von Porträt und Porträtiertem heraus: „Kein angenehmeres Geschenk, als Ihr Bild, konnte ich von Ihnen bekommen. Ich danke Ihnen recht sehr dafür. Das Gemähide ist vortreflich. Es ist dem mir ewig werthen Originale durch den Mahler weder ein Abbruch, noch durch seine Kunst ein unnöthiger Zusatz geschehen."26 Da die Genauigkeit von beiden Seiten ausdrücklich hervorgehoben wird, dürfte das Porträt ein zuverlässiges Bild des dreißigjährigen Gottsched vermitteln. Der Verlust des Bildes - ob irgendein Zusammenhang zu dem unter Nr. l aufgeführten Porträt besteht, ist nicht zu entscheiden — ist insofern sehr zu bedauern. Angaben über den Urheber fehlen. Gottsched stand in dieser Zeit in Verbindung zur Dresdner Malerin Anna Maria Werner, die ihn nachweislich porträtierte (vgl. Nr. 6). Da im Brief ein „Mahler" und keine weibliche Urheberin erwähnt wird, kommt, vorausgesetzt, Gottsched hat den Künstler überhaupt erwähnt bzw. nicht zur Vermeidung von Irrita23 24
25
26
Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig den 15. Dezember 1731. In: Kording, Louise Gottsched, S. 27. Nach dem Tod seiner Frau berichtete Gottsched, er habe ihre Briefe „mit den seinigen noch alle in Händen, und diese würden dereinst kein übles Muster von einem unschuldig zärdichen Briefwechsel abgeben". Johann Christoph Gottsched: Leben der ... sei. Frau, Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn, geb. Kulmus, aus Danzig. In: Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Sämmtliche Kleinere Gedichte. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1763, [1. Paginierung] S. 5r-[******8v], **r (AW 10/2, S. 512). „Nimm, Schönste, die mein Herz zur Freundinn auserlesen,/ Nimm Deines Dieners Bild mit holden Händen an:/ Und wie Dir die Person vorlängst geweiht gewesen;/ So glaube, daß Sie Dir nie untreu werden kann./ Besiehst Du manchesmal die Züge, so nur gleichen;/ So glaube nur gewiß: Dein Freund gedenkt an Dich" usw. Gottsched: Bey Uebersendung seines Bildnisses. In: L. A. V. Gottsched, Kleinere Gedichte (Anm. 24), S. 196. Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig, 9. Januar 1732. In: Kording, Louise Gottsched, S. 27.
8
RÜDIGER OTTO
tionen die weibliche Urheberschaft verschwiegen, eher ein Mann in Betracht. Über Gottscheds Beziehungen zu Künstlern ist kaum etwas bekannt. Aus einem Brief des Wittenberger Historikers und GottschedVertrauten Johann Gottlieb Krause (1684—1736) vom November 1734 an Gottsched läßt sich entnehmen, daß Kontakte zu dem Leipziger Maler Johannes Baptist Herbst bestanden. Krause wollte Korrekturen an einem Porträt vornehmen lassen, das der Leipziger Kupferstecherjohann Martin Bernigeroth (1713-1767)27 von ihm angefertigt hatte, und bat Gottsched: „Könnten Ew. HochEdl. Herr Herbsten persvadiren, daß er, als ein Kunstverständiger, Herr Bernigerodten an die Hand gäbe, wie den Mängeln abzu helffen, würde ich davor sehr verbunden seyn. Sonst wünschte, daß sich H. Herbst, so bald möglich über die Copie meines Bildes machte, wo er mit 4 r. vor seine Mühe will vorlieb nehmen."28 Krause, der bis 1727 in Leipzig gelebt und auch nach seiner Übersiedlung nach Wittenberg Gottsched häufig besucht hatte, war mit Gottscheds Verhältnissen vertraut, so daß der Hinweis auf Herbst ein Indiz auf die im Umkreis Gottscheds bekannten Künstier ist.29 Über Herbst ist nahezu nichts bekannt.30 Aber daß sich Christiana Mariana von Ziegler (1695-1760), Tochter des grandiosen und gescheiterten Leipziger Bürgermeisters Franz Konrad Romanus (1671—1746), mit 27 Jahren zweifache Witwe, Schriftstellerin und als Mittelpunkt des von ihr unterhaltenen Salons eine der wichtigen Personen des Leipziger künstlerisch-geselligen Lebens,31 von ihm in die-
27 28 29
30
31
Über die Künstlerfamilie Bernigeroth vgl. Gustav Wustmann: Der Leipziger Kupferstich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1907, S. 33-57. Johann Gottlieb Krause an Gottsched, Wittenberg, 12. November 1734, UBL, 0342 III, Bl. 165-166,166r. Auch aus Briefen Johann Friedrich Mays, eines der engsten Freunde Gottscheds in Leipzig, geht hervor, daß Herbst zum Kreis um Gottsched zählte; vgl. UBL, 0342 III, Bl. 114-115, llSrund Bl. 153-154,153v. Vgl. Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker (künftig Thieme/Becker) 16 (1923), S. 453; im Leipziger Adreßverzeichnis der Jahre 1732 und 1736 ist er verzeichnet als „Johann Herbst, auf der Niclas=Strasse, im goldenen Hörn"; vgl. Das jetzt lebende und jetzt florirende Leipzig. Leipzig: Joh. Theodori Boetii seel. Tochter, 1732, S. 106 (1736, S. 112). Im Adreßverzeichnis 1723 wird er noch nicht, im handschriftlichen Adreßbuch von 1740 nicht mehr genannt; vgl. Leipzig, Stadtarchiv, Gottfried Geißler: Lebendes Leipzig ... von anno 1740 biß anno 1744. Susanne Schneider: Christiana Mariana von Ziegler (1695—1760). In: Kerstin Merkel; Heide Wunder: Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2000, S. 139-152; zuletzt Cornelia Caroline Köhler: Frauengelehrsamkeit im Leipzig der Frühaufklärung. Möglichkeiten und Grenzen am Fallbeispiel des Schmähschriftenprozesses im Zusammenhang mit der Dichterkrönung Christiana Mariana von Zieglers. Leipzig, Universität, Philologische Fakultät, Dissertation, 2006.
Gottsched-Bildnisse
9
sen Jahren porträtieren ließ,32 spricht dafür, in Herbst einen der bevorzugten Leipziger Maler zu sehen. Da überdies Gottsched zu dieser Zeit enge Kontakte zu Frau von Ziegler pflegte, könnte Herbst tatsächlich der Hausmaler des Gottschedkreises und Urheber des ersten Gottschedporträts gewesen sein.
Nr. 4. Das Bild der Luise Adelgunde Victorie Kulmus für Gottsched Gottsched hatte die Zusendung mit dem Wunsch verbunden, seinerseits eine Abbildung seiner Braut zu erhalten.33 Nach mehreren Monaten vergeblichen Wartens scheint Gottsched die Bitte um Zusendung eines Bildes erneuert und dringlicher formuliert zu haben, ohne Erfolg. Luise Adelgunde Victorie Kulmus begründete ihre Zurückhaltung mit dem Gram, der sich ihrem Gesicht durch den Kummer über die Abwesenheit des Geliebten eingezeichnet habe34 und vertröstete Gottsched: „Haben Sie nur eine kurze Zeit Gedult. Die Hoffnung Sie bald, und Sie vergnügt zu sehen, wird mein ganzes Gemüth aufheitern, und einen starken Einfluß in meine Züge haben. Aller Gram wird verschwinden, Freude und Zufriedenheit werden Sie aus meinen Augen lesen, und in dieser Verfassung will ich Ihnen mein Bild schicken. Es soll der stumme Redner meiner Empfindungen seyn."35 Die Argumentation scheint den Bittsteller nicht überzeugt zu haben. Er griff zu einem bewährten Mittel und nahm den Jahrestag der Zusendung seines Bildes zum Anlaß, die Bitte in Versform und dringlicher vorzutragen:
32
33
34
35
Vgl. Sammlung der Schriften und Gedichte welche auf die Poetische Krönung Der ... Christianen Marianen von Ziegler ... verfertiget worden. Mit einer Vorrede zum Druck befördert von Jacob Friedrich Lamprecht. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1734, Frontispiz: „Herbst pinx. Bernigeroth fil. sc. Lips.", vgl. auch Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 24794. Das Bild selbst ist nicht überliefert, entgegen den unterschiedlichen Angaben in der einschlägigen Literatur wird man zur Entstehungszeit nur sagen können, daß es 1734 oder zuvor entstanden ist. „Sie verlangen, daß ich Ihnen auch eine Copey von meinem Gesichte schicken soll". Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig 9. Januar 1732. In: Kording, Louise Gottsched, S. 27f., 28. „Warum ich Ihnen mein Bild noch nicht geschickt? ... ich habe mein armes Gesichte noch keinem Mahler in dem Zustande zeigen wollen, worein es durch die lange Trennung von meinem Freund gesetzet worden. Der größte Künstler möchte in seinem Colorit die Farben nicht finden, welche die Traurigkeit und der Gram in die Farben meines Gesichts gemischet haben." Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig 15. Oktober 1732. In: Kording, Louise Gottsched, S. 36f., 37. Kording, Louise Gottsched, S. 37.
10
RÜDIGER OTTO
„Ein Jahr ist hin, o Schönste! daß mein Bild/ Sich schon bey dir zum Opfer eingefunden:/ Doch ist mein Wunsch nach deinem nicht erfüllt;/ So sehr seit dem die Herzen sich verbunden."
Er beteuerte, daß der „Freund, der nur durch dich noch lebt", sich an dem Bild in „manchem Gram" erquicken wolle, und verlieh seinem Wunsch Nachdruck, indem er die Nichtgewährung als Liebesentzug und schlechtes Omen für die Zukunft darstellte: „Victoria! mein Leben, Herz und Licht!/ Fleh ich umsonst um deinen bloßen Schatten;/ So schmäuchle mir mit deiner Liebe nicht:/ Wie schwer wird sich das Wesen selber galten?"36
Die bedrohliche Unterstellung hat nichts gefruchtet. Es verging ein weiteres Jahr, bis das Bild eintraf.37 Begleitet war es von einem lakonischen Schreiben, das einige Verse enthielt: „Blickt Treu und Zärtlichkeit hier nicht aus allen Zügen;/ Der einzge Werth, der mich dir einst empfahl:/ So strafe die Copey nur Lügen,/ Und glaube dem Original."
Über den Maler, die Entstehungsumstände oder über Gründe für die verzögerte Zusendung verlautet nichts. Es ist merkwürdig, daß alle Angaben darüber fehlen, da doch die Entstehung eines Bildes für ein der räumlichen Trennung ausgesetztes Liebespaar ein bemerkenswerter Erzählgegenstand sein sollte. Die Briefe der Luise Adelgunde Victorie waren dem glättenden Zugriff der ersten Herausgeberin Dorothea Henriette von Runckel ausgesetzt,38 so daß nicht zu entscheiden ist, ob mit diesen Versen tatsächlich alles zur Entstehung dieser ersten Darstellung gesagt war. Allerdings hatte auch Gottsched sein Bild mit Versen, und vielleicht nur mit Versen begleitet, so daß neben den Versen als emphatischer Aussage weitere Mitteilungen beim Austausch der Bilder möglicherweise als überflüssig angesehen wurden. Auch auf die Zusendung des Bildes seiner Braut reagierte Gottsched mit einem, noch dazu sehr umfänglichen, Gedicht, aus dem die Verse zitiert werden sollen, die neben der Begeisterung des Bildempfängers zumindest die Kenntnis darüber vermitteln, welche Körperpartien dargestellt waren: „Mein Engelskind! entzückende Louise!/ Wie reizend ist Dein Angesicht! Der Wangen Feld blüht gleich dem Paradiese,/ Das lauter Glück und Lust verspricht./ Dein herrschendes, doch sanftes Augenpaar,/ Verletzt mein Herz auch
36 AW l, S. 403. 37 38
„Ich erfülle Ihr Verlangen und sende Ihnen mein Bild." Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig 17. Februar 1734. In: Kording, Louise Gottsched, S. 56. Vgl. Magdalene Heuser: Neuedition der Briefe von Louise Adelgunde Gottsched. In: Hans-Gert Roioff (Hg.): Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Beiträge zur Tagung der Kommission für die Edition von Texten der Frühen Neuzeit. Amsterdam 1997, S. 319— 339, vor allem 325f.
Gottsched-Bildnisse
11
hier im Schatten;/ Und stellt mir noch die alte Wirkung dar,/ Als sie den Einfluß selber hatten./ Du Nektarquell! Ihr sanften Rosenlippen,/ Wie freundlich seyd ihr anzusehen!/ Eröffnet euch und zeigt die schönen Klippen,/ Daran mein Schiffbruch ist geschehn./ Du weißer Hals, Du stolzerhabne Brust,/ Du schlanker Leib, ihr adasweichen Hände!/ Mich überströmt ein ganzes Meer voll Lust,/ Bevor ich euren Abriß ende./ .../ Du freundlich=lockende Blondine! Ach! daß ich dich nicht wirklich küssen kann!/ O daß der Tag nur bald erschiene!"39
Die Angedichtete reagierte freundlich-lakonisch: „Bester Freund, Ich habe nicht gezweifelt, daß mein Bild würde gut aufgenommen werden. Ich danke Ihnen für alle Schmeicheleyen, die Sie mir darüber sagen."40
Nr. 5. Gottsched und Luise Adelgunde Victorie Gottsched als Paar Liegen für die zwei letzten Porträts authentische Nachrichten über Bildnisse vor, die wir nicht kennen, so ist dieses Bild wiederum durch das Gegenteil gekennzeichnet: Es existiert ein Gemälde, das das Ehepaar Gottsched darstellen soll, aber es gibt vorläufig kein Zeugnis, das diese Zuschreibung verbindlich machen könnte, und da auch der Maler nicht bekannt ist, ist die zeitliche Eingrenzung seiner Entstehung nur anhand stilistischer Kriterien möglich. Es wird auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datiert.41 Daß es hier in der Mitte der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts und vor dem sicher zu datierenden Kupferstich von 1736 (Nr. 7) eingeordnet wird, ist nicht als Vorschlag zur Datierung zu verstehen und auch nicht als Versuch, eine Übereinstimmung zwischen dem wahrscheinlichen Lebensalter der dargestellten Personen und dem realen Alter der Gottscheds herzustellen. Es ist eine willkürliche Entscheidung, die auf dem Datum der Eheschließung — 19. April 1735 — als frühestmöglichem Entstehungszeitpunkt beruht. Soweit ich sehe, wurde das Bild erstmals 1948 in einem kurzen Aufsatz Paul Ortwin Raves mit dem Titel „Der Gelehrte in seiner Welt" veröffentlicht. Er enthält einige Abbildungen, die auf exemplarische Weise das Selbstverständnis und den Stil ihrer Zeit zum Ausdruck bringen sollen. Das Bild der Gottscheds ist nach Rave eine Versinnbildlichung der „rokokohaften Daseinssättigung und Herrlichkeit, [...] 39 40 41
Gottsched: Dankgedicht, an die unvergleichliche Victoria, für Dero überschicktes Bildniß. In: L. A. V. Gottsched, Kleinere Gedichte (Anm. 24), S. 199-203, 200f. Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig 13. März 1734. In: Kording, Louise Gottsched, S. 57. Frank Möbus und Friederike Schmidt-Möbus (Hg.): Dichterbilder von Walther von der Vogelweide bis Elfriede Jelinek. Stuttgart 2003, S. 28; es wurde auch vermutet, daß es „bald nach der Eheschließung 1735 gemalt worden" sei. Birgit Verwiebe (Hg.): „Classizismus und Romantizimus". Kunst der Goethezeit. Berlin 1999, S. 48.
12
RÜDIGER OTTO
Behagen und Lebensgenuß".42 Einen größeren Bekanntheitsgrad erreichte es durch Raves im folgenden Jahr erschienene Sammlung von „338 Porträts berühmter Männer und Frauen" des 18. und 19. Jahrhunderts43 und seither ist es wiederholt wiedergegeben worden.44 Zur Geschichte des Bildes läßt sich einstweilen nur mitteilen, daß es 1938 von der Nationalgalerie, deren kommissarischer Leiter Paul Ortwin Rave damals war, gegen zwei Gemälde des Kaiser-Friedrich-Museums (heute Bodemuseum) ertauscht wurde.45 Wüßte man mehr über den Vorgang, über den Vorbesitzer und die Herkunft des Bildes, könnten vielleicht auch verläßlichere Aussagen darüber getroffen werden, ob tatsächlich das Ehepaar Gottsched dargestellt sein soll, ob das Ehepaar für das Bild Modell gesessen hat oder ob das Bild als Kompilation aus verschiedenen Abbildungen entstanden ist.46
Nr. 6. Gottscheds Porträt — gemalt von Anna Maria Werner Aus dem Jahr 1736 stammt die erste authentische überlieferte Abbildung Gottscheds, ein Kupferstich, der als Frontispiz der ersten Gedichtsammlung Gottscheds vorangestellt wurde (vgl. Nr. 7). Der Kupferstich basiert 42
43
44
45
46
Paul Ortwin Rave: Der Gelehrte in seiner Welt. In: Büd der Wissenschaft l (1948), S. 2126, 26, Abbildung auf S. 24; vgl. auch Paul Ortwin Rave: National-Galerie. Gemälde Zeichnungen Bildwerke. Berlin 1949, S. 15 und 51. Paul Ortwin Rave: Das geistige Deutschland im Bildnis. Das Jahrhundert Goethes. Berlin 1949, S. If. (Neudruck unter dem Titel Das Jahrhundert Goethes in 338 Porträts berühmter Männer und Frauen. Köln 1999). Nach Raves Plan sollte dieser Band den mittleren Teil einer dreibändige Reihe mit Abbildungen von Dürer bis Nietzsche darstellen; vgl. S. XXIf. Die anderen beiden Bände sind nicht erschienen. Vgl. z. B. Hildebrandt, Mylius (Anm. 9), S. 28; Jost Hermand: Die deutschen Dichterbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln; Weimar; Wien 1998, S. 49. In: Kording, Louise Gottsched, vor S. 1; Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Stuttgart; Leipzig 2000, vor dem Titelblatt; Dichterbilder (vgl. Anm. 41), S. 29; Katherine R. Goodman: Gottsched's Literary Reforms: The beginning of Modern German Literature. In: German Literature of the Eighteenth Century. The Enlightenment and Sensibility. Ed. by Barbara Becker-Cantarino. Rochester, 2005, S. 55-76, Abbildung S. 54. Die Information über den Tausch verdanke ich Frau Dr. Birgit Verwiebe, Berlin, die am 5. 11. 2004 die entsprechenden Angaben des elektronischen Bestandskatalogs mitgeteilt hat, dort zur Provenienz: „1938 im Tausch erworben (gegen zwei Gemälde des Kaiser-Friedrich-Museums)". Die Ähnlichkeit der auf dem Bild dargestellten weiblichen Person mit dem Bild Elias Gottlob Haußmanns (Nr. 12) ist auffällig, der Dreispitz auf dem Kopf des Mannes ist eine Bildbeigabe mehrerer Abbildungen Gottscheds (Nr. 7, 16, 17), die Kopfbedeckung wird dort unterm Arm angedeutet.
Gottsched-Bildnisse
13
auf einem Gemälde der Anna Maria Werner (1689-1753), die seit 1720 (1721) als königliche Hofzeichnerin in Dresden angestellt war.47 Gottsched war seit längerer Zeit mit ihr bekannt; schon im Jahr 1729 verfaßte er ein Gedicht, in dem er sie zur zehnten Muse erklärte, ihre Fähigkeiten über die des legendären griechischen Malers Appelles und über alle künstlerisch tätigen Frauen der Geschichte stellte und den Ewigkeitswert ihrer Kunst beschwor.48 Die Verbindung hatte lebenslang Bestand, das Ehepaar Gottsched logierte während verschiedener Dresdenaufenthalte im Wernerschen Hause,49 von Gottsched stammt die einzige umfangreichere Lebensbeschreibung der Anna Maria Werner.50 Das Wernersche Gemälde ist nicht erhalten. Bedauerlicherweise ist in Gottscheds Nachlaß noch nicht einmal ein Brief der Frau Werner überliefert,51 so daß auf diesem Wege nichts über die Entstehung der Kupferstichvorlage ermittelt werden kann. Ob der Hinweis auf eine Zeichnung vom September 173452 in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kupfer von 1736 steht, ist ungewiß, da über die Zeichnung nichts bekannt ist. Ein Anhaltspunkt liegt allerdings in einer Dichtung vor, die Gottsched offenbar kurz nach der Rückkehr aus Dresden verfaßt hat: Er kann sich in Leipzig - „an der Pleißen" - das Wernersche Haus „noch nicht aus den Gedanken reißen". Offenbar hatte sie ihn in Dresden porträtiert, denn er dankt ihr, daß „die werthe
47
48 49 50
51
52
Vgl. Thieme/Becker (Anm. 30) 35 (1942), S. 402; Eleonora Höschele: Leben und Werk der Dresdener Hofzeichnerin Anna Maria Werner. Halle, Martin-Luther-Universität, Fachbereich Kunst- und Altertumswissenschaften, Institut für Kunstgeschichte, Diplomarbeit, 1995, 4 Bde.; Eleonora Höschele: Von „gunst zur Wahrheit angetrieben": Leben und Werk der Dresdner Hofzeichnerin Anna Maria Werner. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 28 (2000), S. 33^6. An die Königl. und Churfi. Sachs. Hofmalerinn, Frau Wernerinn. In: Gottsched: Gedichte. 2 Teile. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1751, 2, S. 571-576. Über die Beziehung zu Gottsched und seiner Frau vgl. Höschele, Leben und Werk (Anm. 47), Band l, S. 57-63 u. ö.; Höschele, Von „gunst" (Anm. 47), vor allem S. 39f. Gottsched: Leben Frau Annen Marien Wernerinn, gebohrner Haydinn. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1754, S. 601-611, vgl. auch Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig: Caspar Fritsch, 1760, Sp. 1650f. Auch die drei Briefe der Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Anna Maria Werner, geschrieben während Gottscheds Aufenthalt in Dresden im September 1737 und 1742 bzw. 1743 nach einem längeren gemeinsamen Aufenthalt im Wernerschen Haus, enthalten keine Anhaltspunkte zur Entstehung einer Malerei; vgl. Kording, Louise Gottsched, S. 98f. 109-111. Gottscheds Vertrauter Johann Friedrich May (l 697-1762) besuchte im September 1734 seine Heimatstadt Zittau und suchte auf der Durchreise das Wernersche Haus auf. Er schreibt: „P. S. Weil alle deutsche Briefe ein P. S. haben müßen, so [hat] mir Madame Wernerin aufgetragen, zu melden, daß die Zeichnung soll fertig seyn, wann ich wieder von Zittau kommen werde." May an Gottsched, Dresden 7. September 1734, UBL, 0342 III, Bl. 114-115,115v.
14
RÜDIGER OTTO
Meisterhand ... so viel auf mich verwandt".53 Dieses Gedicht Gottscheds trägt kein Datum. Es ist gelegentlich auf das Jahr 1742 datiert worden, das Bild wäre dann im selben Jahr entstanden,54 aber da es bereits in der ersten Sammlung Gottschedscher Gedichte von 1736 enthalten ist, kann es nicht nach 1736 verfaßt worden sein.55 Da nach dem Wortlaut der Verse die andere berühmte Tochter Danzigs, Luise Adelgunde Victorie, inzwischen als Ehefrau an Gottscheds Seite lebte56 - Frau Werner war als Anna Maria Haid 1689 ebenfalls in Danzig geboren worden —, steht wiederum der Mai 1735 als terminus post quem fest: Das junge Ehepaar war am 14. Mai 1735 in Leipzig eingetroffen.57 Die Briefsammlung der Frau Gottsched vermittelt den Eindruck, daß Gottsched seine Ehefrau erstmals im September 1737 allein in Leipzig zurückgelassen hat, da seit seinem Eintreffen in Danzig im April 1735 und diesem Termin zweieinhalb Jahre später kein Brief der Luise Adelgunde Victorie an ihn mitgeteilt wird. Gottsched war 1737 nach Dresden zitiert worden, um sich vor dem Oberkonsistorium wegen seiner Redekunst zu verantworten,58 und ihre Briefe sind von Sorge und Wehmut wegen der Trennung und des Ungewissen Ausgangs der Angelegenheit bestimmt. Durch die Briefe des Dresdener Hof- und Justizienrats Johann Christian Benemann (1683-1744)59 — er sollte in Dresden eine Zeitlang als Anwalt der Leipziger Deutschen Gesellschaft bei Hof agieren und hat bis an seinen Tod mit Gottsched korrespondiert60 - ist jedoch gesichert, daß Gottsched zwischen Eheschließung und September 1737 in Dresden war. Am 1. März 1736 schreibt Benemann, er „höre, daß wir das Glück haben werden, Sie bald
53 54
AW l, S. 139-141,139. Vgl. Moritz Stübel: Der Landschaftsmaler Johann Alexander Thiele und seine sächsischen Prospekte. Leipzig; Berlin 1914, S. 26—27. Tatsächlich hielt sich Gottsched in Begleitung seiner Frau in dieser Zeit in Universitätsangelegenheiten im Hause Werner auf; Stübel folgend datiert Höschele die Entstehung des Bildes auf 1742: Von „gunst" (Anm. 47), S. 39f. 55 Vgl. Gottsched: Gedichte, gesammlet und herausgegeben von Johann Joachim Schwabe. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1736, S. 207-208. 56 „Auch die, der ich ganz eigen lebe,/ Vereinigt ihren Kiel mit mir:/ Wenn ich dich nun nicht gnug erhebe,/ So hoffe doch das Lob, das dir gebührt, von ihr./ Sie schreibet, wie dein Pinsel malet,/ Ihr beyde ziert zugleich die große Weichselstadt;/ Dein Danzig, das zwo Töchter hat". AW l, S. 140f. 57 Am „14. May kamen sie über Stargard, Berlin und Wittenberg glücklich in Leipzig an". Gottsched, Leben (Anm. 24), S. **v (AW 10/2, S. 513). 58 Vgl. Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Weimar 1988, S. 158-160 u. 268-276; Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1999, S. 75-82 und 141-152. 59 Vgl. Hallische Beyträge zu der Juristischen Gelehrten Historie. Halle: Renger. Band 2, 1758,5. 460f. 60 Dedef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Tübingen 2002, S. 288f. 350-352.
Gottsched-Bildnisse
15
selbst hier zu sehen."61 Der nächste Brief vom 11. Mai 1736 teilt uns dankenswerter Weise den Vollzug dieser Ankündigung mit. Benemann erinnert an die „Stunde, als Ew. HochEdl. mich jungsthin verließen".62 Es spricht alles dafür, diesen Aufenthalt als Termin für die Entstehung des Bildes wie des nachfolgenden Gedichts anzusehen. Vor allem kommt die geplante Ausgabe der Gedichte als konkreter Anlaß für die Entstehung des Gemäldes in Betracht. Die Ausgabe wurde von Gottscheds Schüler und Verehrer Johann Joachim Schwabe (1714—1784) veranstaltet. Er berichtet im Vorwort zur Entstehung der Sammlung: „Der vertraute Umgang, dessen ich von dem Herrn Verfasser gewürdiget werde, hat mich in den Stand gesetzt, daß ich viele Stücke mit einrücken können, die mir sonst wohl nicht zu Gesichte gekommen wären."63 Sie ist also in Abstimmung mit Gottsched entstanden. Der Gedanke an eine Ausstattung mit dem Bild des Dichters könnte im Laufe der Vorbereitung entstanden sein und den Anlaß für die Anfertigung des Gemäldes zu diesem Zeitpunkt gegeben haben.64 Das nicht erhaltene Bild diente als Vorlage für das Frontispiz vor der ersten Sammlung von Gottscheds Gedichten (Nr. 7) und wurde Jahre später dem Schabkunstblatt im Bilder= sal zugrundegelegt (Nr. 15).
61 Benemann an Gottsched, Dresden l. März 1736, UBL, 0342 III, Bl. 343-344, 343rf. 62 Benemann an Gottsched, Dresden 11. Mai 1736, UBL, 0342 III, Bl. 397-398, 397r. 63 Johann Joachim Schwabe: Vorrede. In: Gottsched, Gedichte 1736 (Anm. 55), S. b3v. 64 Die Widmung der Ausgabe ist auf September 1736 datiert, bereits Ende September 1736 konnte die Ausgabe angezeigt werden; vgl. Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 1736 (Nr. 78 vom 27. September), S. 696.
16
RÜDIGER OTTO
Nr. 7. Gottscheds Porträt als Frontispiz vor Gottscheds Gedichtsammlung von 173665 — Kupferstich von Johann Christoph Sysang Der Kupferstich wurde von Johann Christoph Sysang (1703—1757)66 nach der Vorlage der Anna Maria Werner angefertigt. Sysang war einer der Schüler des namhaften Leipziger Kupferstechers Martin Bernigeroth (1670-1733)67 und ein sehr produktiver Künstler: Über die Hälfte der Titelporträts in Zedlers Universallexicon stammen von ihm.68 Daß er das Porträt seines Meisters Bernigeroth nach einem Gemälde des Dresdner Hofmalers Adam Manyoki (1673-1756) stechen durfte,69 bezeugt ein gutes Einvernehmen und Bernigeroths Wertschätzung des Jüngeren. Gottsched scheint diese Wertschätzung geteilt zu haben. Dafür sprechen vor allem die erst durch Sysangs Tod abgebrochene Zusammenarbeit Gottscheds mit dem Kupferstecher. Sysang hat nach 1739 noch ein weiteres Porträt Gottscheds gestochen (Nr. 11). Der Druck von Gottscheds Rede auf Martin Opitz ist mit seinem Kupferstich des Dichters Opitz versehen,70 die in ihrer Ausstattung anspruchsvolle Sammlung der Reden Gott65
66 67
68 69 70
Gottsched, Gedichte 1736 (Anm. 55), Frontispiz. Ein im Besitz der Universitätsbibliothek Leipzig befindliches nicht signiertes Exemplar des Kupferstichs enthält auf der Deckplatte des Ehrenaltars den handschriftlichen Eintrag: ad p. 327. Möglicherweise ist dies ein Hinweis auf einen weiteren Druck, die entsprechende Seite der Gedichtausgabe selbst kann damit nicht gemeint sein. Vgl. auch Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 8038; das Exemplar Halle, Franckesche Stiftungen, Böttichersche Sammlung C 713 enthält die Bildunterschrift: „Wie man die Zunge soll geschicklich lernen falten,/ Und was ein Reimgedicht für Fuß u. Maaß muß halten/ Das wieß ich euch gescheut ihr Pleißens=Soehne an/ Drum bleibt für beydes mir in Liebe zugethan." Zum Autorporträt vgl. Bruno Weber: Vom Sinn und Charakter der Porträts in Druckschriften. In: Peter Berghaus (Hg.): Graphische Porträts in Büchern des 15. bis 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1995, S. 9-30, 10, 14, 17. Auch der zweiten Auflage der Gedichte (Anm. 48) soll der Kupferstich beigegeben worden sein: „Gottsched's Bildniß, gestochen von Sysang, befindet sich vor seinen von J. J. Schwabe herausgegebenen Gedichten (Leipzig 1751. 8.)." Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. 1. Sektion, 36. Theil. Leipzig 1863,5.219. Thieme/Becker (Anm. 30) 32 (1938), S. 367f; Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 67-69 u. ö. Bernigeroth „brachte es endlich so hoch, daß man ihm ohnstreitig in Porträten den Ruhm eines der besten Künstler in Deutschland beylegen muß". Kern=Historie aller Freien Künste und Schönen Wissenschaften, Vom Anfang der Welt bis auf unsere Zeiten. Leipzig: Wolffgang Deer, Theil 2,1749, S. 120. Vgl. Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 69. Im Universalkxicon selbst hat Sysang keinen Eintrag erhalten. Vgl. die Wiedergabe des Kupfers vor dem Titelblatt von Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27). Gottsched: Lob= und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzen von Boberfeld. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1739.
Gottsched-Bildnisse
17
scheds71 enthält Arbeiten Sysangs,72 und schließlich hat Sysang bis 1754 Kupfer zu Gottscheds monadich erscheinender Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751-1762) beigesteuert, die Arbeit wurde im Anschluß von seiner Tochter Johanna Dorothea Sysang (1729—1791) übernommen.73 Die Überzeugung von der Qualität des Sysangschen Werkes hat Gottsched in seiner Rezension von Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst zum Ausdruck gebracht. Sysang wird dort neben anderen Leipziger Künstlern seiner Zeit als Beweis für den gelingenden künsderischen Anschluß der Deutschen an das internationale Niveau genannt. „Wenn das so fortgeht, werden wir bald auswärtigen Völkern nichts beneiden dörfen."74 Ein schönes Zeugnis für die Aufnahme des ersten Gottschedporträtkupfers liegt im Brief des schlesischen Gottsched-Korrespondenten Adam Bernhard Pantke (1709-1774) vor. Er berichtete, daß Gottscheds Gedichte seinen „angenehmsten Zeitvertreib ruhiger Stunden" ausmachen und rühmte das vorgesetzte „Kupfer, worinnen Natur und Kunst umb den Vorzug streiten". Diese Abbildung mache ihm „das äuserliche Außehen Dero hochschätzbarsten Person ungemein lebhafft". Als Ausdruck seiner Hochachtung notierte er in seinem Exemplar Verse, die er Gottsched freimütig mitteilte: „Kein Wunder! daß durch dich das Reich der Dichter blüht;/ Kein Wunder! daß dein Fleiß geschickte Redner zieht;/ Da dir der Philosoph aus beyden Augen sieht.""
Nr. 8. und 9. Parallelporträts der Eheleute Gottsched Im März 1739 erhielt Luise Adelgunde Victorie Gottsched einen Brief aus Berlin, in dem der adlige Förderer des Ehepaares Gottsched, Ernst Christoph Graf von Manteuffel (1676—1749), seinem Wunsch nach Porträtgemälden der Gottscheds Ausdruck verlieh.76 Manteuffel hatte zwei Jahre 71
72 73 74 75 76
„Hinsichtlich der künsderischen Ausstattung übertrifft die Originalausgabe dieses Bandes alle anderen selbständigen Schriften Gottscheds." Rosemary Scholl: Zum Text. In: AW 9/2, S. 630. Vgl. Gottsched: Gesammlete Reden. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1749, S. 71, 93,175. Vgl. Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 70. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 537-544, 544; vgl. auch 1753, S. 492. Adam Bernhard Pantke an Gottsched, Klein-Kniegnitz 12. Dezember 1736, UBL, 0342 III, Bl. 502r. Ernst Christoph Graf von Manteuffel an L. A. V. Gottsched, Berlin 7. März 1739, UBL, 0342 V, Bl. 43—44; über Manteuffel vgl. Johannes Bronisch: Ernst Christoph Graf von
18
RÜDIGER OTTO
zuvor in Berlin die Gesellschaft der Alethophüen gegründet, deren vornehmstes Ziel in der Verteidigung und Ausbreitung der Philosophie Christian Wolffs bestand.77 Über die Mitglieder und die Organisationsform der Berliner Alethophüen ist vor allem bekannt, daß Manteuffel als Stifter, der angesehene Probst Johann Gustav Reinbeck (1683—1741) als „Primipilaire" und der Verleger Ambrosius Haude (1690-1748) als „Doryphore" ihre Hauptakteure bildeten. Gottsched und seine Frau zählten neben anderen zu den abwesenden Mitgliedern.78 Aus Manteuffels Brief geht hervor, daß regelmäßige Zusammenkünfte in einem „Sanctuaire" stattfanden, neben dem sich ein mit Porträts ausgestatteter Konferenzsaal befand. Es ist nicht klar zu bestimmen, ob diese Räume zum Haus Manteuffels oder zu Haudes Anwesen gehörten.79 Anläßlich der Zusammenkunft vom 6. März 1739 jedenfalls stellte Reinbeck fest, daß die dort hängenden Porträts - wen sie abbilden, erfährt man nicht - nicht in einen Konferenzsaal der Alethophüen gehören und durch Büder von Wahrheits freunden ersetzt werden sollten. Manteuffel nahm den Gedanken auf und erbat Büder des Ehepaares Gottsched. Er schlug auch sogleich vor, daß Gottsched, der im Wintersemester 1738/39 erstmals das Rektorat der Leipziger Universität innehatte, im Ornat des Rektors und seine Gemahlin mit den
77
78 79
Manteuffel und der Wolffianismus 1738—1749. Mäzenatentum, Adel und Aufklärung. Leipzig, Universität, Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften, Historisches Seminar, Magisterarbeit, 2004; Johannes Bronisch: "La trompette de la verite". Zur Korrespondenz Ernst Christoph Graf von Manteuffels mit Christian Wolff 1738-1748. In: Ivo German und Lubos Velek (Hg.): Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und die Folgen. München 2006, S. 257-278. Vgl. [Carl Günter Ludovici:] Wahrheitsliebende Gesellschaft. In: Zedler 52 (1747), Sp. 947-954; Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben. 1. Band. Leipzig; Kiel 1895, S. 215-222; Die Gesellschaft der Alethophüen in Berlin: In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 23 (1906), S. 122-124; Detlef Döring: Beiträge zur Geschichte der Alethophüen in Leipzig. In: Detlef Döring und Kurt Nowak (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650-1820). Teü 1. Leipzig 2000, S. 95150, 90-105; Bronisch, Manteuffel (Anm. 76), S. 17-21, 49-51 u. ö. Gottscheds gehörte seit Sommer 1738 zur Gesellschaft der Alethophüen; vgl. Danzel, S. 35. Für Haude spricht Manteuffels Hinweis, daß Haude den „Sanctuaire" behaglich eingerichtet habe. Außerdem hatte Haude einst selbst geschrieben: „Ich wünschte das Vergnügen zu haben, Sie Abends in meiner Stube zu sehn, wenn wir drey bey einer Pfeiffe Toback allerhand Vorwürffe der Gelehrsamkeit beleuchten." Haude an Gottsched, Berlin Dezember 1737, UBL, 0342 IV, Bl. 227-228, 227r. „Nous fumes hier en dispute Id dessus chez le Doryphore." Ernst Christoph Graf von Manteuffel an Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Berlin 21. Oktober 1739; UBL, 0342 V, Bl. 287-290, 289v; andererseits notierte Jean des Champs (1707—1767), Journalist, Prediger und Mitglied der Alethophüen, 1740 anläßlich von Manteuffels Weggang aus Berlin: „La Maison de ce Seigneur etoit depuis 7 a 8 ans le Rendez-vous de tous les savans, et de tous les gens d'Esprit de Berlin." UtaJanssens-Knorsch: The Life and „Memoires secrets" of Jean des Champs (1707-1767). Amsterdam 1990, S. 180; vgl. auch: Introduction, S. 1-56, 23.
Gottsched-Bildnisse
19
Insignien der schreibenden Zunft ausgestattet sein sollten.80 Gottsched reagierte rasch und versprach: „Ich habe bereits Anstalt gemacht einem so gnädigen Befehle ein Gnügen zu thun, und innerhalb acht Tagen, sollen beyde Schildereyen fertig seyn, so gut sie unser bester Apelles wird liefern können."81 Der Leipziger Maler, den Gottsched mit dem Namen des legendären griechischen Künstlers bezeichnet, ist Elias Gottlob Haußmann (l695-1774).82 Als „der fruchtbarste Porträtmaler Leipzigs gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts"83 hat er die akademische, geistliche und städtische Leipziger Elite gemalt, und unter seinen Bildnissen ist mindestens eines, dem bleibende Aufmerksamkeit gesichert ist, nicht sowohl wegen seiner ästhetischen Vorzüge als wegen der Einzigartigkeit der dargestellten Person: Johann Sebastian Bach. Haußmanns Bachbild entstand 1746 und ist das einzige zweifelsfrei authentische Bild des Komponisten.84 Insgesamt sind aus dem Zeitraum 1725-1771 über hundert Bildnisse Haußmanns be80
81 82 83
84
„II fit quelque chose de plus hier aus soir. Nous avions passe une couple d'heures ensemble a nötre rendevous ordinaire; c. ä. d. dans le Sanctuaire des Alethophiles, que notre Doryphore | rsoit dit en passant: | a fait accommoder fort proprement; quand, en passant par notre sale des conferences, le Primipilaire observa, qu'on y avoit place les portraits de quelques personnes, qui ne luy sembloient pas meriter tout a fait, de figurer parmi les Defenseurs de la Verite. Cest ce qui luy fit naitre une idee, qui nous etoit echappee jusques lä. ,11 ne convient pas, dit-il, que la sale des Alethophiles soit ornee de portraits, dont les originaux n'y sauroient etre admis. Le merite qu'ils ont d'ailleurs sera suffisament honore, lorsque nous leur assignerons notre Anti-chambre. Pour la sale de la Societe, eile ne sauroit etre dignement garnie, que par les portraits de nos veritables confreres absens.' La conclusion de cet entretien fut, que je me chargerois de sollicker ces portraits, et que je tacherois avant toutes choses d'obtenir celuy de l'Auteur du discours Horacien, et celuy de votre ami: Le dernier, parceque votre ami est, pour ainsi dire, un pilier ne, et notoirement declare de la Societe: L'autre, parceque cet excellent auteur en est le principal ornement. Or, comme je ne connois pas de meilleur moien, pour obtenir cette double faveur, que de m'adresser a vous, Madame, j'ose vous prier de me la procurer, et de faire en sorte que ces portraits puissent etre prets a la fin de la foire prochaine. J'en paierai avec plaisir la .H faut cependant que je prenne la liberte de vous recommander 3. choses: 1.) il faut que ce soient des busies d'une grandeur ordinaire et egale, 2.) que votre ami se fasse peindre avec ses ornemens Rectoraux, et 3.) que l'auteur homelitique le soit avec quelqu'habillement historique, qu'il vous plaira inventer, et avec quelque livre, ou quelque papier a la main." Ernst Christoph Graf von Manteuffel an Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Berlin 7. März 1739, UBL, 0342 V, Bl. 43^4,43r-44r. Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 28. März 1739; UBL, 0342 V, Bl. 71-72, 72v. Thieme/Becker (Anm. 30) 16 (1923) S. 145£; Sigismund, Haußmann (Anm. 18). Katalog der Sonderausstellung „Die Leipziger Bildnismalerei von 1700 bis 1850". Leipzig, Altes Rathaus 9. Juni bis 28. Juli 1912, S. 40. Über die zahlreichen von Haußmann porträtierten namhaften Leipziger und auswärtigen Personen vgl. Sigismund, Haußmann (Anm. 18), S. 134f. Vgl. Werner Neumann: Bilddokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs. Leipzig 1979, S. 11-13 (Haußmann-Büd und Repliken) und S. 357-359 (Erläuterungen), vgl. auch Heike Lüddemann: Zwillinge aus einer Hand: die Bachportraits von Elias Gottlob Haussmann. In: Bach Magazin l (2003), Heft 2, S. 5-8.
20
RÜDIGER OTTO
kannt.85 Stellt man Gottscheds Angabe in Rechnung, nach der Haußmann in wenigen Wochen Gemälde beider Gottscheds fertiggestellt hat, so dürfte, gleichbleibende Produktivität vorausgesetzt, die Zahl der Bilder noch wesentlich höher gewesen sein. Über Gottscheds persönliches Verhältnis zu Haußmann ist nichts bekannt. Da aber Haußmann auch Personen aus dem Umkreis des jungen Gottsched porträtiert hat, z. B. seinen Mentor, den Geschichtsprofessor, Poeten und Zeitschriftenunternehmer Johann Burkhard Mencke (1674—1732),86 und 1727, also zu Beginn der mit den Namen Gottscheds und der Neuberin verknüpften theaterreformerischen Bestrebungen, die Prinzipalin und Schauspielerin Friederike Caroline Neuber (1697-1760),87 kann man zumindest voraussetzen, daß ihm Haußmanns Name früh geläufig war. Als Auftragnehmer für die Professorenschaft dürfte Haußmann ohnehin zu den akademischen Kreisen und vielleicht auch zu Gottsched Kontakte gepflegt haben, in deren Folge auch Manteuffels Anfrage auf direktem Weg in einen Auftrag an Haußmann überführt werden konnte. Wie schon Sysang zählte auch Haußmann in Gottscheds Sicht zu den Künstlern, mit denen Deutschland seine internationale Konkurrenzfähigkeit unter Beweis gestellt hat.88 Am 28. März 1739, am selben Tag, an dem Gottsched über die Arbeit an den Bildern informierte, beschrieb Frau Gottsched in ihrem Brief bereits die für das Bild vorgesehene Kleidung; einigermaßen rätselhaft heißt es, sie habe eine Tracht gewählt, in der ein „Koller", gemeint ist hier vermutlich die bei Leipziger Predigern anzutreffende breite Halskrause,89 „statt haben könnte". Außerdem halte sie einen Horaz-Band in der Hand.90 Die Wahl dieser Motive erklärt sich daraus, daß L. A. V. Gott85 86
87
88 89
90
Sigismund, Haußmann (Anm. 18), S. 133f. Vgl. Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 13906 und die Abbildung bei Annegrete Janda-Bux: Die Entstehung der Bildnissammlung an der Universität Leipzig und ihre Bedeutung für die Geschichte des Gelehrtenporträts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 4 (1954/55), gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, H. 1/2, S. 143— 168, nach S. 168, Abb. 10. Sigismund, Haußmann (Anm. 18), S. 135. Vgl. die Wiedergabe einer Graphik nach dem Gemälde in: Manfred Barthel (Hg.): Theater in Briefen. Von der Neuberin bis Josef Kainz. München 1983, nach S. 34, Tafel 1. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 537-544, 544. Im Chorraum der Leipziger Thomaskirche hängen die Bildnisse der Superintendenten, die Mehrzahl mit Halskrause, darunter die von Haußmann gemalten Salomon Deyling (l 677— 1755) und Johann Friedrich Bahrdt (1713-1775); vgl. Stadt Leipzig: Die Sakralbauten. Bearb. von Heinrich Magirius u. a. Band 1. München; Berlin 1995, S. 288£, Nr. 64 und 69 (Beschreibung), und S. 288, Abbildung 234: Salomon Deyling. Über weitere Pastorengemälde Haußmanns in der Thomaskirche vgl. S. 292f, Nr. 85-89, über weitere Haußmann-Porträts in Leipziger Kirchen S. 667f. und 769f. Wie in den Briefen an Manteuffel aus dieser Zeit nicht selten pflegt L. A. V. Gottsched eine Maskerade und spricht von sich in der männlichen dritten Person: „da nun ein Koller ein wesentliches Stücke der heil. Homiletick ist: So hat er auch eine Tracht erwählet darin-
Gottsched-Bildnisse
21
sched zu gleicher Zeit eine im Briefwechsel zuvor mehrfach erörterte Satire beendet und Manteuffel zugesandt hatte, in der ein fiktiver Prediger von einem Horazzitat ausgehend und die traditionelle Leipziger Predigtmethode parodierend umständliche Klagen über die moderne LeibnizWolffsche Philosophie anstimmt.91 Manteuffel bekundete die Vorfreude der Berliner Alethophilen auf die angekündigten Bilder.92 Damit endet dieses Thema in der Korrespondenz. Manteuffel hatte nicht umsonst um die Fertigstellung bis zur Messe gebeten. Zu diesem Zeitpunkt, Ende April bis Mai 1739, hielt er sich in Leipzig auf, und es spricht alles dafür, daß er die Bilder bei dieser Gelegenheit entgegengenommen und nach Berlin verbracht hat. Über ihren Verbleib kann man nur spekulieren: Das einzige überlieferte Porträtgemälde der Frau Gottsched stammt tatsächlich von Haußmann (Nr. 12). Allerdings enthält die Darstellung kein Buch, so daß, wenn die Bildbeschreibung vom 28. März 1739 zutrifft und die Ausführung den Vorstellungen entsprochen hat, beide Bilder nicht identisch sind. Man ist lange davon ausgegangen, daß ein im Besitz der Leipziger Universitätsbibliothek befindliches Bild Gottscheds von Haußmann stammt, bis sich 1912 bei der Restaurierung herausstellte, daß der Maler des 1744 entstandenen Bildes Leonhard Schorer ist (Nr. 16). Da das der HaußmannSchule zugewiesene zweite Bild der Universitätsbibliothek (Nr. 18) eindeutig nach dem Schorer-Bildnis gefertigt ist, kann eine Identität mit dem Bild für die Alethophilen ebenfalls ausgeschlossen werden.
91
92
nen dasselbe statt haben könnte. Anfangs war er fast gesonnen sich einen Zettel in die Hand malen zu laßen, und darauf aus Wiedemanns Kanzelredner folgende Verse setzen zu lassen: ... Er hat sich aber gefürchtet daß es wieder würde müssen ausgestrichen werden, und sich also nur den Horaz in die Hand malen lassen, weil er glaubt daß es auch hiermit heissen werde: Sapienti sät!" Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 28. März 1739, UBL, 0342 V, Bl. 69-70,70rf. [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Horatii, Als Eines Wohlerfahrnen Schiffers, treumeynender Zuruff An alle Wolfianer, In einer Rede über die Worte der XIV. Ode des l ten Buchs betrachtet; Wobey zugleich die neuere Wolfische Philosophie gründlich wiederleget wird. 1739. Zur Enstehung der Schrift vgl. Gottsched, Leben (Anm. 24), S. [**6v]-[**7v] (AW 10/2, S. 523f.); zum Kontext vgl. Andres Straßberger: „Auf-Klärung" durch Satire?: Beobachtungen zu Form und Gegenstand einer satirischen Predigt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched. In: Albrecht Beutel und Volker Leppin (Hg.): Religion und Aufklärung: Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen". Leipzig 2004, S. 59-80. „Le petit troupeau des Alethophiles se fait d'ailleurs une grande joie des deux portraits, que vous luy promettez." Ernst Christoph von Manteuffel an Gottsched, Berlin 30. März 1739, UBL, 0342 V, Bl. 73-74, 74r.
22
RÜDIGER OTTO
Nr. 10. Gottsched während seines ersten Rektorats (Wintersemester 1738/39) - Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth93 Die für die Berliner Alethophilen angefertigte Darstellung sollte Gottsched mit den Insignien des Rektors darstellen. Tatsächlich existiert ein Kupferstich, der neben den äußeren Merkmalen auch durch die Datierung exakt auf den in Rede stehenden Zeitraum, Gottscheds erstes Rektorat, verweist und daher mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit die Vorlage wiedergibt, die im Konferenzraum der Berliner Alethophilen ihren Platz finden sollte. Gottsched trägt einen pelzbesetzten Umhang. Vor ihm liegt das Szepter als offizielles Amtszeichen der Universität.94 Angefertigt wurde der Stich von Johann Martin Bernigeroth, dem älteren Sohn Martin Bernigeroths, der wie auch sein Bruder Johann Benedikt (1716—1764) in die Fußstapfen des Vaters getreten war.95 Anders als der 93
94
95
Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 8040; auch in Halle, Franckesche Stiftungen, Böttichersche Sammlung P 112; verzeichnet bei Weidler, Bernigeroth (Anm. 93), S. 71. In der Ausgabe von Gottscheds Redekunst im Rahmen der Ausgewählten Werke Gottscheds notierte Bearbeiterin Rosemary Scholl zur dritten Auflage von 1743: „Das Exemplar der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin enthält als Titelkupfer ein Porträt von Gottsched, das nach einem Gemälde von Elias Gottlob Hausmann 1739 von Johann Martin Bernigerothe gestochen wurde. Das Datum läßt vermuten, daß dieser Kupferstich für die vorhergehende Auflage vorbereitet wurde." AW 7/3, S. 253. Die Hervorhebung des Berliner Exemplars — für die Kopie des Titelblatts danke ich Frau Sabine Kannegießer (Berlin) — kann als Hinweis darauf gelten, daß auch nur wenige Exemplare dieser dritten Auflage einen Kupferstich enthalten. Ein Korrespondent Gottscheds erwähnt eines „de vos portraits que j'ai vu devant quelques exemplaires de votre Redekunst" und gibt damit zu verstehen, daß es nicht vor allen Exemplaren zu finden ist; Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Dresden 16. Januar 1754. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 63-64, 64. Rosemary Scholls Vermutung über den Zusammenhang von Kupferstich und zweiter Auflage wird durch die Abbildung von Frontispiz und Titelblatt der zweiten Auflage bestätigt, die der Seltenheit wegen im Abbildungsteil Nr. 10 zusätzlich aufgenommen wurde. Ich danke Frau Ciaire Harteveld, Harteveld Rare Books (Fribourg, Schweiz), für die großzügige Bereitstellung der Kopie. Über Tracht und Szepter als Insignien des Rektors vgl. Cornelia Junge: Zier und Zeichen 150 Jahre Rektorkette. In: Zier und Zeichen: Kabinettausstellung zum 150. Jubiläum der Rektorkette. Begleitheft zur Ausstellung in der Studiensammlung ... 2005, S. 13-37, vor allem S. 14; eine farbige Wiedergabe des auch im Gottsched-Kupfer dargestellten pelzbesetzten Rektormantels auf S. 15; da die wenigen Leipziger Rektorenporträts nur selten mit Szepter dargestellt sind (S. 17), ist dessen Einbindung auf dem Kupfer eine Rarität, die sich möglicherweise nur dem Wunsch Manteuffels verdankt. Vgl. Rainer A. Müller: Geschichte der Universität. München 1990, S. 23. Die heutige Rektorkette wurde erst 1855 gestiftet; vgl. Cornelia Junge: Ein wahrhaft königliches Geschenk. Die Leipziger Rektorkette wird 150 Jahre alt. In: Universität Leipzig Journal Heft 5/2005, S. 39^0, S. 41 Abbildung der Rektorkette. Zur Künstlerfamilie Bernigeroth vgl. Allgemeines Künstlerlexikon 9 (1994), S. 605f. Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 33-58; Weidler, Bernigeroth (Anm. 93).
Gottsched-Bildnisse
23
Vater betrieben die Söhne keine fabrikmäßige Produktion von Kupferstichen, nach Wustmanns Urteil zum Vorteil der Stiche. Die Brüder arbeiteten ohne Mitarbeiter unter Leitung Johann Martin Bernigeroths.96 Gottsched hat dessen Vorzüge herausgestellt: Er sei im Stande, seinen Vater „vielleicht noch zu übertreffen". Bei gleicher Gelegenheit wird auch wieder der Vergleich mit dem Ausland bemüht: Gottsched rühmt Bernigeroths Kupferstich mit dem Porträt des Herzogs Johann Adolf II. von Sachsen-Weißenfels (1685—1746) und erklärt, wenn weitere Stücke dieser Art zum Vorschein kommen, werden „wir allmählich auch in diesem Stücke den französischen Künstlern beherzt unter die Augen sehen können".97 Aus der Kenntnis des Manteuffel-Briefwechsels läßt sich die Entstehungszeit der Graphik noch eingrenzen: Da Gottsched am 28. März die Fertigstellung der „Schildereyen" für die kommende Messe (Oster- bzw. Jubilatemesse 1739) ankündigt und Manteuffel Leipzig im Mai, vermutlich im letzten Drittel, wieder verließ — sein erster Brief aus Berlin datiert vom 30. Mai 1739 —,98 ist Bernigeroths Arbeit im April oder in den ersten Maiwochen entstanden. Stellt man darüber hinaus in Rechnung, daß eine Graphik mit dem Bildnis des Rektors Gottsched sinnvollerweise innerhalb seiner Amtszeit vollendet sein sollte, könnte dies den Entstehungszeitraum noch einmal präzisieren. Die Wahl für den Rektor des Sommersemesters fand am Georgstag,99 also am 23. April statt. Mit diesem Tag endete das erste Rektorat Gottscheds, und möglicherweise hielt er zu diesem Zeitpunkt das Dokument seiner rektoralen Würde bereits in Händen. Abgesehen davon war der Kupferstichzumindest einigen Exemplaren der zweiten Auflage von Gottscheds Redekunst beigegeben,100 die im Mai oder Juni erschienen war.101 96 97
Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 55. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 2 (1746), S. 287f. Vgl. auch die Urteile über beide Brüder Bernigeroth in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1751, S. 310, 1755, S. 544, 1760, S. 892, 1762, S. 454. Kurzbiographien auch in Gottsched, Handlexicon (Anm. 50), Sp. 220-222. 98 UBL, 0342 V, Bl. 123-124. 99 Wahltag für den Rektor des Sommerhalbjahres, vgl. Carl Christian Carus Gretschel: Leipzig und seine Umgebungen. Leipzig 1836 (Nachdruck 1982), S. 291. 100 Vgl. Anm. 93. Mit Blick auf diese Ausgabe schrieb der Meusehvitzer Pfarrer und GräflichSeckendorfsche Hofprediger Heinrich Cornelius Hecker (1699-1743) in einem launigen Brief an Gottsched, der im Wintersemester 1740/41 sein zweites Rektorat innehatte: „Ich demüthige mich demnach erstlich vor Ew. Magnificence als Regierer der Universität. Ich lege zu Erweckung mehrerer Ehrfurcht das schöne Bild vor Dero neuern Ausgabe der Redekunst mir vor Augen, um vor dem Hut mich tief zu neigen, und den Scepter nach den Regeln der alten zu küssen." Heinrich Cornelius Hecker an Gottsched, Meuselwitz 13. April 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 86-87, 86r. 101 Dies ergibt sich aus dem Datum der Anzeige; vgl. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen 1739 Nr. 51 vom 25. Juni, S. 457f. Ein Titelkupfer wird nicht erwähnt.
24
RÜDIGER OTTO
Nr. 11. Gottsched - Kupferstich Johann Christoph Sysangs als Frontispiz vor dem 238. Stück der Deutschen Acta Eruditorum Im Jahr 1739 entstand ein weiteres Kupfer Gottscheds, das, anders als das seltenere Rektorbild, einer größeren Öffentlichkeit zugänglich war, da es als Frontispiz den Deutschen Acta Eruditorum beigegeben war.102 Beigabe von Titelkupfern gehörten im 18. Jahrhundert zur Ausstattung mehrerer Zeitschriften,103 wenn auch andererseits finanzielle Beweggründe manchen Verleger daran gehindert haben mochten, diesen kostspieligen Zusatz anzubieten. So kündigte die erste theologische, durch ihren Herausgeber Valentin Ernst Löscher lutherisch-orthodox geprägte, Zeitschrift Unschuldige Nachrichten, nachdem das erste Jahrzehnt der Zeitschrift ohne Abbildung erschienen war, im 11. Jahr eine Änderung an: „Das vorgesetzte Kupffer=Bild wird iedesmahl Gelegenheit geben von einer nützlichen Sache zu handeln".104 Fortan erschienen vor jedem Teil Bilder von Personen der Kirchen- und Theologiegeschichte, die jeweils durch historisch-biographische Beiträge erläutert wurden. Neben Abbildungen der Reformatoren finden sich solche des Ablaßhändlers und LutherGegners Johann Tetzel (ca. 1465-1519) oder der legendären Päpstin Johanna. Aus dem im Lager der Orthodoxie verpönten Kreis mystischspiritualistischer Autoren sind beispielsweise Jakob Böhme (1575—1624) und die extrem orthodoxiekritischen Quirinus Kuhlmann (1651-1689) und Johann Konrad Dippel (1672—1734) vertreten.105 Als der Theologe und Gelehrte Michael Lilienthal (1686-1750)106 das Amt des Königsberger Stadtbibliothekars antrat und eine Kupferstichsammlung von 4000
102 Deutsche Acta Eruditorum, oder Geschichte der Gelehrten, welche den gegenwärtigen Zustande der Litteratur in Europa begreifen. 240 Teile in 20 Bänden. Leipzig 1712-1739, seit 1720 war Christian Gotdieb Jöcher alleiniger Redakteur, vgl. Johann Daniel Schulze: Abriß einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts, Leipzig 1802, S. 146f. Gottscheds Büd erscheint in Band 20 (1738/39) als Frontispiz zum 238. Teil; Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 8039. 103 Vgl. Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 189-204. 104 Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen 1711, S. 9. 105 Die Abbildungen in der oben genannten Reihenfolge sind als Frontispiz vor einzelnen Teilen zu finden: Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen 1717, Nr. 5,1724, Nr. 5,1724 Nr. 2,1711, Nr. 6,1712, Nr. 6. 106 Vgl. Renate Knoll: Michael Lilienthal. Ein Vermittler zwischen den Kulturen als Mitglied der Petersburger Akademie. In: Joseph Können (Hg.): Königsberg-Studien. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. und angehenden 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u. a. 1998, S. 329-343.
Gottsched-Bildnisse
25
Blättern übernahm, dachte er an die Erweiterung der Sammlung und erbat sich von seinem Landsmann Gottsched in Leipzig neben zahlreichen anderen die genannten Kupferstiche und bemerkte allgemein: „Es fehlen uns aber die Eruditi nostri temporis, die guten theils in den Deutschen Actis Eruditorum, und für denen Unschuldigen Nachrichten erscheinen."107 Neben den Unschuldigen Nachrichten waren demnach die Deutschen Acta Eruditorum ein Reservoir für Kupferstichsammler: Man wird Lilienthals Aussage sicher als exemplarisch ansehen können, zumal sie von anderer Stelle bestätigt wird.108 Von dem nachlassenden Interesse an Theologenbildern109 dürften die Deutschen Acta Eruditorum zusätzlich profitiert haben. Seit dem Start der Zeitschrift im Jahre 1712 gehörten Abbildungen zum Programm, das ganz unspektakulär und ohne inhaltlichkonzeptionelle Ansprüche angekündigt wurde: „Vor ieden Theil soll ein Kupffer eines gelehrten Mannes gesetzet werden, dabey man iedoch zwischen Lebenden und Verstorbenen keinen Unterschied machen, auch den Rang nicht observiren wird, sondern es sollen allezeit diejenige Portraite genommen werden, welche am ersten zu haben seyn."110 Ganz so beliebig, wie es den Anschein hat, ist man jedoch zumindest in den Anfängen nicht vorgegangen. Der erste Teil enthält mit der Abbildung Otto Menckes (1644—1707), des Begründers und ersten Herausgebers der (lateinischen) Acta Eruditorum, eine Reverenz an einen Großen des eigenen Fachs. Sein Sohn und Nachfolger Johann Burkhard Mencke (1674—1732), dem sich die Verfasser der Deutschen Acta verpfliehtet fühlten, folgte im 2. Teil. Im weiteren Verlauf werden dem ersten Band Abbildungen u. a. Christian Thomasius' (1655—1728) und seines Vaters Jakob Thomasius (1622-1684) beigegeben, der als Leipziger Professor der Lehrer Leibniz' (1646-1716) war. Soweit es sich beurteilen läßt, entfallen alsbald tatsächlich fachliche oder regionale Auswahlkriterien. Wer oder was über die Aufnahme entschied, bleibt undurchsichtig. Möglicherweise gab es von Anfang an die Praxis, daß Auswärtige ihr eigenes oder das Bild von nahestehenden Gelehrten abdrucken ließen und dafür die Kosten für die Kupferplatte übernahmen.111 Nach dem Urteil Jakob Bruckers war die Zeitschrift nicht zuletzt 107 Michael Lilienthal an Gottsched, Königsberg 17. September 1728. UBL, 0342 I, B1. 74-75, 74v-75r. 108 Vgl. Anm. 136 und den dort nachgewiesenen Text. 109 Brucker berichtete Anfang 1744 an Gottsched, daß „die Kupferhändler zumahl in Holland uns warnen, nur keine Gottesgelehrte zunehmen". Jakob Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 1. Januar 1744, UBL, 0342 IX, Bl. l^t, Iv. 110 Deutsche Acta Eruditorum l (1712), Vorbericht. 111 „Haben Dieselben eine communication mit denen H. Verfaßern derer Zuverläßigen Nachrichten, welche an die Stelle derer Deutschen Act. Erud. getreten, so wollte durch Dero gütige Vermittlung gebeten haben, dem Manne, deßen Bildniß beylieget, die Liebe zu erzei-
26
RÜDIGER OTTO
wegen dieser Bildnisse von Zeitgenossen sehr beliebt.112 Unter den dargestellten Personen waren internationale Größen wie Jonathan Swift (1667— 1745),113 Emanuel Swedenborg (1688-1772)114 oder Voltaire (16941778).115 Den weitaus größten Anteil der dargestellten Personen nahmen jedoch deutsche Gelehrte ein, unter ihnen zahlreiche Professoren der Leipziger Universität. Daß Gottsched erst im 1739 und damit kurz vor der Einstellung der Zeitschrift berücksichtigt wurde, könnte als ein Akt demonstrativer Ignoranz im eigenen Umfeld angesehen werden, wenn nicht Indizien dafür vorhanden wären, daß Gottsched mit dem Herausgeber der Deutschen Acta Eruditorum, seinem Fakultätskollegen Christian Gottlieb Jöcher (1694—1758), in einem freundschaftlichen Verhältnis stand.116 Da aus anderen Hinweisen bekannt ist, daß Gottsched gegen Darstellungen oder Würdigungen dieser Art eine gewisse Reserviertheit zeigte,117 geht die späte Abbildung innerhalb der Acta vermutlich auch auf Gottscheds Haltung zurück. Soweit sie signiert sind, nennen die Abbildungen in den letzten Bänden der Deutschen Acta Eruditorum zumeist Johann Martin Bernigeroth als Urheber, auch die meisten nicht signierten Stiche stammen von Bernigeroth.118 In den letzten drei Bänden sind nur drei Kupfer ausgewie-
112
113 114 115 116
117 118
gen, und bey einem Stück deßen Contrefaite vorzusetzen: ich verspreche die KupfferPlatte franco zu procuriren, so bald ich hören werde, daß es beliebt worden." Johann Gottlieb Biedermann an Gottsched, Naumburg 19. Juli 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 243-244, 243v. Vgl. Bilder=sal l (Anna. 3), Vorrede, S. [4]; die Porträts in Zeitschriften und anderen Drucken reagierten auf eine große Nachfrage, es gab aber auch kritische Stimmen, vgl. Eckhard Schinkel: Sammeln, Ordnen und Studieren. Sozialgeschichtliche Aspekte zur Verwendung von Graphik und Porträts im 18. Jahrhundert. In: Porträt 1: Der Herrscher: Graphische Bildnisse des 16.-19. Jahrhunderts aus der Porträtgalerie Diepenbroick. Münster 1977, S. 47-64, 55. Deutsche Acta Eruditorum 13 (1729/30), Frontispiz zum 153. Teü. Deutsche Acta Eruditorum 16 (1734/35), Frontispiz zum 186. Teil. Deutsche Acta Eruditorum 19 (1737/38), Frontispiz zum 224. Teil. Anläßlich der theologischen Doktorpromotion Jöchers im Jahre 1734 verfertigte Gottsched ein Gedicht, das diese Freundschaft widerspiegelt, vgl. Johann Christoph Gottsched: Gedichte, 1751, (Anm. 48), l, S. 583-586; Jöchers vier Briefe an Gottsched bzw. seine Frau (vgl. Wolfram Suchier: Gottscheds Korrespondenten. Leipzig 1971, S. 51) sind für die Bestimmung ihres Verhältnisses nicht aussagefähig. Sie behandeln universitäre Angelegenheiten, sind also dienstlicher Natur. Vgl. die Ausführungen zu Nr. 15. Von den 12 Stichen des Bandes 18 sind 11 von Bernigeroth, einer von Christian Fritzsch, im Band 19 sind 7 Bilder nicht signiert, 4 Signaturen verweisen auf Bernigeroth, eine auf Christian Fritzsch. Band 20 schließlich enthält neben den 6 unsignierten Stichen 5 von Bernigeroth, und das von Sysang gestochene Frontispiz Gottscheds. Die nicht signierten Stücke sind, mit einer Ausnahme, im Werkverzeichnis Bernigeroths aufgeführt; vgl. Weidler, Bernigeroth (Anm. 93). In der Zuschreibung der anonymen Stiche folgt Weidler einem Zeitgenossen Bernigeroths, der sich auf dessen persönliche Mitteilungen stützen konnte (S. 18).
Gottsched-Bildnisse
27
sen, die nicht von Bernigeroth ausgeführt waren, nämlich zwei vergleichsweise reicher und genauer ausgeführte Stiche des Hamburger Kupferstechers Christian Fritzsch (1695-1769)119 und das Kupfer Gottscheds. Man muß keine Entscheidung Gottscheds zuungunsten Bernigeroths unterstellen. Da Bernigeroth 1739 bereits ein Kupfer Gottscheds gestochen hatte (Nr. 10), wurde ein anderer Künstler, vielleicht unter dem Gesichtspunkt der Variatio, bevorzugt. Sysang hatte freilich auch schon Gottscheds Porträt gestochen (Nr. 7), aber dem Kupferstich von 1739 lag ein anderes Bild zugrunde. Welches Bild dies war, ist auf dem Stich nicht angegeben. Der Vergleich mit Bernigeroths Abbildung zeigt, daß beide Stiche auf dasselbe Bild Elias Gottiob Haußmanns zurückgehen. Nur enthält der Stich in den Deutschen A.cta Eruditorum keinen Hinweis auf das Rektorenamt: das 238. Stück erschien im Herbst 1739 und damit zu einem Zeitpunkt, an dem Gottsched das Amt längst niedergelegt hatte. Sofern allerdings die Annahme stimmt, daß das Bild Haußmanns bereits im Mai 1739 von Ernst Christoph von Manteuffel nach Berlin befördert wurde, ist Sysangs Stich möglicherweise nicht nach dem Bild, sondern nach dem Abbild des Bilds, also nach dem Kupferstich Bernigeroths, angefertigt worden.120
Nr. 12. Luise Adelgunde Victorie Gottsched — Gemälde von Elias Gottlob Haußmann Aus dem Briefwechsel mit Ernst Christoph von Manteuffel war zu erfahren, daß der Leipziger Maler Elias Gottlob Haußmann im März/April 1739 Bilder Gottscheds und seiner Frau angefertigt hat, die nach Berlin verbracht werden sollten (vgl. oben Nr. 8 und 9). Es liegt zunächst nahe, das Bild der Frau Gottsched, das zwar keine Signatur trägt, aber durch die Zuschreibungen der nach diesem Bild gefertigten Graphiken eindeutig als Werk Elias Gottlob Haußmanns bestimmt werden kann,121 mit dem im 119 Deutsche Acta Eruditorum 18 (1736/37), Frontispiz zum 212. Teü und 19 (1737/38), Frontispiz zum 219. Teil. 120 Es war nicht außergewöhnlich, Kupfer nach Stichen anzufertigen; vgl. unten Anm. 197. 121 Alle Graphiken der Frau Gottsched (Nr. 13, 14 und 22) basieren auf dem Bild Haußmanns und enthalten den Hinweis auf den Namen des Malers. Irrtümlich wird das Büd seit 1912 bisweilen Leonhard Schorer zugeschrieben; vgl. die Ausführungen unter Nr. 17 und Anm. 222. Daß in Singers Katalog der ungarische Maler am Dresdner Hof Adam Manyoki neben Haußmann als, wenn auch fraglicher, Urheber eines Bildes der Frau Gottsched genannt wird, beruht ebenfalls auf einem Irrtum; vgl. Singer, Neuer Bildniskatalog (Anm. 14), Nr. 13275f. Singer hat für seinen Katalog ein maschinenschriftliches Verzeichnis der Leipziger Universitätsbibliothek benutzt: Felix Becker: Gemälde, Skulpturen und Reliefs in der Universitäts-Bibliothek zu Leipzig. Leipzig 1917 (Exemplar der Universitäts-
28
RÜDIGER OTTO
Brief erwähnten Gemälde zu identifizieren. Zwei Gründe indes sprechen dagegen und bilden den Anlaß, das erwähnte und das überlieferte Gemälde zu unterscheiden. 1. Die Beschreibung, nach der Frau Gottsched mit Koller und einem Buch in der Hand gemalt wurde, entspricht nicht dem Bild. Es ist freilich nicht auszuschließen, daß diese Beschreibung nicht den Endzustand wiedergibt. Manteuffel hat auf die Ankündigung des Bildes auf eine Weise reagiert, die kaum als uneingeschränkte Zustimmung zur Motivwahl zu verstehen ist. Gegenüber Gottsched beteuerte er, daß die Kleidung seiner Gemahlin sicher gut gewählt sei, vorausgesetzt, sie verleugne nicht das Geschlecht der Dargestellten.122 Es ist gut möglich, daß die verhaltene Kritik ernst genommen und die ursprüngliche Darstellung mit Koller und Horaz-Lektüre zugunsten einer konventionelleren Form geändert wurde. Allerdings gibt es dafür keine Belege. 2. Nach allem, was wir wissen, wurde das in den Briefen erwähnte Gemälde im Mai 1739 nach Berlin verbracht. Das überlieferte Gemälde jedoch bildete die Vorlage für den Stich im Bilder=sal (Nr. 13), und war zu diesem Zweck im August 1740 nach Augsburg verschickt worden. Denkbar ist, daß das in Berlin befindliche Porträt für den Stich in Augsburg ausgeliehen wurde. Aber gerade für den Zeitraum von Manteuffels Leipzigbesuch im Mai 1739 bis zum 13. August 1740, dem Tag, an dem Brukker den Eingang des Gemäldes bestätigt, ist die Überlieferung der Korrespondenz zwischen Manteuffel und den Gottscheds äußerst dicht. Ins-
bibliothek mit handschriftlichen Eintragungen Hist. Sax. 1074ub). Dort wird das nicht signierte Bild Haußmanns, das 1912 falschlich als Bild Schorers bezeichnet wurde, S. 34 folgendermaßen beschrieben: „Blühende Frau von etwa 30 Jahren, in gepudertem Haar mit Blumen geschmückt in ausgeschnittenem, blauseidenen Kleide mit roter Manteldrapierung. Ein Blumenstrauss am Busen. .../ Höchstwahrscheinlich nach den Farben und Auffassung von Maniocky./ Nicht signiert./ Oel auf Leinwand. 80 c. hoch, 64,5 c. br. Goldrahmen/ Rentoiliert von Walter Kühn. Rückseite verklebt." Offenbar hat Singer, der sein Werk aus verschiedenen Katalogen zusammengestellt hat und für dieses Vorgehen kritisiert wurde (vgl. Sigfrid Steinberg: Das Porträt als historische Quelle. In: Hans Dietrich von Diepenbroick-Grüter: Allgemeiner Porträt-Katalog. Erster Nachtrag. Hamburg 1933—1939 [Nachdruck Hildesheim u. a. 2000], S. III-IX, VIII), sowohl diese Zuschreibung Beckers übernommen als auch, einer anderen Vorlage folgend, das Bild Haußmanns aufgeführt (Nr. 13274), so daß dasselbe Bild in seinem Katalog zweimal als Werk verschiedener Maler erscheint. Eugen Urbans Kopie des Manyoki- oder richtig Haußmann-Bildes (vgl. Singer, Neuer Bildniskatalog Nr. 13276 und Janda-Bux, Katalog [Anm. 14], Nr. 624) ist nach Auskunft von Cornelia Junge, Kustodie der Universität Leipzig, seit dem 2. Wehkrieg verschollen. Eine weitere Kopie, die vermutlich von dem Leipziger Restaurator Walther Kühn angefertigt worden war, hing neben dem Bild Johann Christoph Gottscheds im Rektorat der Gottschedschule; vgl. die Wiedergabe in: Die Gottschedschule 2 (1931), Nr. 3, S. 1. 122 ,Je ne doute pas qu'ils ne reussissent, ny que l'habillement de votre compagnon ne soit bien choisi, pourvu qu'il ne demente pas son Sexe." Ernst Christoph Graf von Manteuffel an Gottsched, Berlin 30. März 1739, UBL, 0342 V, Bl. 73-74, 74r.
Gottsched-Bildnisse
29
gesamt wurden 143 Briefe geschrieben,123 in denen keinerlei Hinweise auf die Bilder enthalten sind. Eine Ausleihe ist damit ausgeschlossen.124 Nicht auszuschließen ist jedoch, daß Manteuffel die Bilder, aus welchen Gründen auch immer, nicht mit nach Berlin genommen hat. In diesem Fall ist die Unterscheidung eines Leipziger und eines im Besitz der Berliner Alethophilen befindlichen Haußmannbildes hinfällig. Es wäre dann allerdings schwer zu erklären, warum Haußmanns Gottsched-Bild nicht überliefert und in die Leipziger Universitätsbibliothek gelangt ist, während der gleichzeitige Verlust beider Bilder in Berlin eher nachvollziehbar ist. Die Übergabe des Bildes seiner Gemahlin an die Leipziger Universitätsbibliothek wurde schon von Gottsched selbst angekündigt,125 einige Jahre später konnten die Besucher es dort betrachten.126
123 Gottsched an Manteuffel: 38, L. A. V. Gottsched an Manteuffel: 30, Manteuffel an Gottsched: 41, Manteuffel an L. A. V. Gottsched: 34. 124 1744 schrieb Haude, nachdem das Ehepaar Gottsched auf der Rückreise von Königsberg Berlin besucht hatte, an Gottsched: „Dero Verlangen gemäß, überschicke ich hierbey das begehrte portrait und hoffe, daß es wohl und unversehrt ankommen werde, wenigstens habe ich alle Sorgfalt angewendet, daß ihm kein Leyd wiederfahren soll." Ambrosius Haude an Gottsched, Berlin 8. Oktober 1744, UBL, 0342 IX, Bl. 210-211, 210r-v. Manteuffel lebte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Berlin. Ob irgendein Zusammenhang zu den Bildnissen Haußmanns besteht, läßt sich der knappen Bemerkung nicht entnehmen. 125 „Ein gemahltes Bild von ihr, das von unsers Hofmalers Hrn. Hausmanns Pinsel kömmt, soll unsre Pauliner=Bibliothek aufzubewahren bekommen; und wird sie destomehr zieren, da es das einzige und erste Frauenbild auf derselben seyn wird." Gottsched, Leben (Anm. 24), S. [******6r] (AW 10/2, S. 579). 126 Eine Beschreibung von 1779 enthält auch Hinweise auf die Bilder der Leipziger Universitätsbibliothek, in einem der Bibliotheksräume befand sich „Inwendig über der Thüre selbst: Ludovica Adelgunde Victoria Gottschedin". Johann Heinrich Jugler: Leipzig und seine Universität vor hundert Jahren. Aus den gleichzeitigen Aufzeichnungen eines Leipziger Studenten jetzo zuerst an's Licht gestellt. [Hg. von Friedrich Zarncke]. Leipzig 1879, S. 68. Vgl. auch Gottlieb Siegmund Corvinus: Nutzbares, galantes und curieuses Frauenzimmer Lexicon. Dritte Auflage. Leipzig: Gleditsch, 1773, Sp. 1197: „auch befindet sich ihr Portrait, sehr gut getroffen, bey der Universitätsbibliothek, und steht mitten unter den berühmten Lehrern der Akademie."
30
RÜDIGER OTTO
Nr. 13. Luise Adelgunde Victorie Gottsched - Schabkunst Johann Jakob Haids nach einem Gemälde Elias Gottlob Haußmanns im Wilder—sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter Schnfft—steller Mit dem Gemälde Haußmanns verfügten zwar das Gottschedsche Haus über eine bildliche Darstellung und - vielleicht — die Berliner Alethophilengesellschaft über die Möglichkeit, sich ihre Leipziger Mitstreiterin im Kampf für die Wahrheit auch ohne persönliche Begegnung zu vergegenwärtigen. Der Öffentlichkeit blieb die äußere Gestalt der Leipziger Dichterin und gelehrten Muse unbekannt. Der Vorschlag, durch den Augsburger Kupferstecher Gustav Andreas Wolfgang (1692-1775) eine Graphik seiner Gemahlin anfertigen zu lassen, kam Gottsched daher gerade gelegen. Er stammte von Jakob Brucker (1696—1770), damals Pfarrer in Kaufbeuren und berühmt insbesondere durch seine Historia critica philosophiae, mit der er die Philosophiegeschichtsschreibung auf eine neue Basis stellte.127 Brucker korrespondierte seit 1736 mit Gottsched und war ein eifriger Autor der Beyträge %ur Critischen Histone der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Da Gottsched seine Bitten um die Vermittlung von Verlagsangelegenheiten immer zuverlässig erfüllte, stellte sich allmählich ein vertrautes Verhältnis her, das von Bruckers Wertschätzung der wissenschaftlichen Leistung Gottscheds begleitet war. Das Thema Kupferstiche kam in der Korrespondenz zur Sprache, als Brucker beabsichtigte, den ersten Band der Historia critica philosophiae mit seinem Kupfer zu schmükken. Sein Verleger Bernhard Christoph Breitkopf (1695—1777) unterstützte diesen Plan, er wollte aber nicht mehr als 20 Reichtstaler für die Herstellung der Kupferplatte aufwenden. Breitkopf orientierte sich bei seinen Kalkulationen an den Preisen des Leipziger Kupferstechers Johann Martin Bernigeroth. Ein Kupfer Wolfgangs dagegen war mehr als doppelt so teuer, 50 Reichstaler. Brucker interessierte sich nicht für die Kosten. Ihm lag nur an der Qualität, und deshalb plädierte er für Wolfgang.128 Dieses entschiedene Votum scheint Gottscheds Interesse an einem Kupferstich Wolfgangs geweckt zu haben. Als Gottsched sich jedoch in die127 Vgl. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt 1990, S. 131-150. 128 Brucker an Gottsched, 17. Februar 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 63f. Bernigeroth hatte einen Kupferstich Bruckers angefertigt, der dem 216. Teil der Deutschen Acta Eruditorum vorangestellt wurde; vgl. die Abbildung wie auch die der Kupferstiche Wolfgangs und Haids in: Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 2909-2911 und dazu Mortzfeld, Beschreibungen (Anm. 14). Bruckers lateinische Philosophiegeschichte wurde tatsächlich mit dem Stich Wolfgangs von 1740 nach einem Gemälde Johann Jakob Haids eröffnet; vgl. Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. Tomus primus. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1742, Frontispiz; Wiedergabe bei Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 2909.
Gottsched-Bildnisse
31
sem Sinne äußerte, verfolgte Brucker inzwischen einen ganz anderen Plan. Er unterrichtete Gottsched von einer Idee, die der Augsburger Verleger und Maler Johann Jakob Haid (1704—1767) soeben an ihn herangetragen hatte: „Er will nemlich die Bildniße der berühmten Gelehrten unserer Zeit, so sich in Schrifften hervorgethan, und einen berühmten Nahmen gemacht und noch im Leben sind, nach ihren Original Mahlereyen in gedachter schwarzer Kunst,129 in medianfolio in Kupfer stechen, und damit wahre Originale der Welt vor Augen legen, da die auf den Büchern stehende gemeinigl. schlecht und übel gerathen sind, weil die Buchhändler wenig daran wenden. Er hat meine Wenigkeit ersehen, eine nervös gefaste Lebensbeschreibung und verdiente Lobes-abschilderung, nebst erzählung der vornehmsten Schrifften derselbigen hinzuzufügen."130 Das ist in wenigen Worten der Entwurf für eines der großen Porträtwerke des 18. Jahrhunderts,131 das ihre Urheber mehr als ein Jahrzehnt beschäftigen und, wie die zahlreichen Klagen über ausbleibende Unterstützung seitens der ausgewählten Personen in den Bruckers Briefen dieser Jahre zeigen, belasten sollte.132 Der Bi/der=sa/ heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter S chrifft—steller erschien im Augsburger Verlag Haids von 1741 bis 1755. Programmatische Ausführungen zur Unternehmung sind in der Vorrede zum ersten Band enthalten.133 Brucker verwies auf die identitätsstiftende Funktion, die die Bilder bedeutender Personen schon in der Antike hatten. Abbildungen und Statuen — von Kriegern und Regenten, später von Philosophen und Dichtern - schmückten öffentliche Räume und regten die Betrachter zur Verehrung und Nachahmung an.134 In der Neuzeit 129 Vgl. zu diesem Schabkunstverfahren, das auch Mezzotinto oder Sammetstich genannt wird, die Ausführungen von Wolfgang Augustyn: Augsburger Buchillustration im 18. Jahrhundert. In: Helmut Gier und Johannes Janota (Hg.): Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 790—861, 802. 130 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117,115v. 131 Vgl. Christoph Schreckenberg: Die Gelehrtenbildnisse in Jacob Bruckers und Johann Jacob Haids Bilder-sal Augsburg 1741-1755. In: Peter Berghaus (Hg.): Graphische Porträts in Büchern des 15. bis 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1995, S. 139-147; Roland Kanz: Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18. Jahrhunderts. München 1993, S. 50-54. 132 Zur Illustration: „Ew. Hochedelgeb. glauben nicht wie schwehr mir u. H. Haiden dieses Werck von dem Eigensinn, Nachlaßigkeit und auch wohl Undanckbarkeit einiger Gelehrten gemacht wird, so daß wir mehr als einmal lust bekommen es liegen zu laßen." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 14. August 1743, UBL, 0342 VIII, Bl. 191-192,192r. 133 Zur Tradition der Bildnisvitenbücher bis hin zum Bilder=sal vgl. auch Rave, Das geistige Deutschland (Anm. 43), S. XIV—XVI; Ernst Zinner: Gelehrtenbildnisse in Büchern. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 10 (1954), S. 21f.; Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 46-56. 134 Brucker; Haid, Bilder=sal (Anm. 3), 1. Zehend, S. [lf.]. Wie der Begriff des Zehend schon nahelegt, wurden in jedem Band 10 Abbildungen und Biographien mitgeteilt. Die einzelnen Zehende sind weder paginiert noch enthalten sie eine Bogenzählung; Zitate werden durch
32
RÜDIGER OTTO
waren durch die technische Reproduzierbarkeit durch Holz- und Kupferstich die Bildnisse in ungleich größeren Mengen verfügbar. Auch die zahlreichen neuzeitlichen vornehmlich an den Heroen der Gelehrsamkeit ausgerichteten Sammelwerke dienten nach Brucker der „Gemüths=ergözung", vor allem aber dazu, Hochachtung zu erzeugen, die Lektüre der Schriften der Dargestellten zu befördern und die Leser - oder Betrachter — zur Nachfolge zu motivieren.135 Brucker führte eine lange Liste an Bildwerken der jüngeren Vergangenheit an, in deren Tradition die Augsburger Veröffentlichung steht. Die Entscheidung, lebende Gelehrte in Bild und Wort vorzustellen, wurde aber insbesondere vom Erfolg zweier zeitgenössischer Publikationen stimuliert. Brucker konstatierte, daß die den Deutschen Acta Eruditorum vorangestellten Bildnisse lebender Gelehrter große Aufmerksamkeit gefunden haben — ihnen wurde aber keine Vita beigegeben - und daß Gabriel Wilhelms Goettens Jet^t lebendes Europa, in dem ausschließlich zeitgenössische Autoren und Gelehrte ohne Bild vorgestellt wurden, ebenfalls sehr erfolgreich war.136 Der Bilder= sal verknüpfte durch die Abstimmung von Bild und Text beide Erfolgsmodelle. Wie für diese beiden Vorbilder war das Aufnahmekriterium des Bilder=sals ausschließlich die wissenschaftliche Reputation der aufzunehmenden Personen. Brucker hob dieses Kriterium in den Briefen an Gottsched137 und in der Vorrede zum ersten Zehend ausdrücklich hervor und betonte, daß Religion bzw. Konfession, Nation und auch das Geschlecht dank dieser Ausrichtung für die Aufnahme gegenstandlos würden.138 Zumindest in der Theorie war damit in der Gelehrtenrepublik ein eigenes, von traditionellen Differenzen und Hierarchien emanzipiertes Wertesystem etabliert. Allerdings sollte jedem Band auch ein Mäzen beigegeben werden, also Bild und
135 136 137
138
Angabe des Zehends, die Nennung des Abschnitts (Vorrede bzw. die jeweilige Biographie) und in eckigen Klammern durch Angabe der selbst ermittelten Seite nachgewiesen. Vgl. Brucker; Haid, Bilder=sal (Anm. 3) l, Vorrede, S. [3]. Vgl. Bilder=sal (Anm. 3) l, Vorrede, S. [4]. Es soll in dem Werk „keine Religion betrachtet, sondern auf die Verdienste der Gelehrten allein gesehen, und auch Ausländern darinnen eine Stelle eingeräumet werden". Brucker an Gottsched, 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117, 116r. Die Auswahl der Personen oblag Brucker allein, vgl. Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 24. April 1740, UBL, 0342 VIa,Bl. 158-160,159r. „Wobey dann weder auf Religion, noch Stand, Rang und Titul, noch sonst einen politischen Unterschied, sondern allein auf die um die gelehrte Welt in den Wissenschafften erworbene Verdienste und Ruhm gesehen werden sollte. ... Weil unsere Zeiten das Glück haben, daß sich hin und wider [ein] Frauenzimmer auf der gelehrten Schaubühne mit Ruhme zeiget, so ist auch demselbigen eine Stelle in dieser Sammlung eingeräumet worden." Büder=sal (Anm. 3) l, Vorrede, S. [5]. Brucker begriff andererseits die gelehrte Frau als Ausnahmeerscheinung, nicht weil es den Frauen an natürlichen Fähigkeiten mangele, sondern weil „die Verfassung der menschlichen Gesellschafft dieselbige zu was anders berufe". Bilder=sal (Anm. 3) l, Luise Adelgunde Victoria Gottsched, S. [1].
Gottsched-Bildnisse
33
Biographie einer adligen Person, die ihre Einflußmöglichkeiten zur Förderung der Wissenschaften eingesetzt hatte: Auf sinnfällige Weise wird dadurch die Angewiesenheit der Wissenschaft auf Protektion und damit ein gewisses Gefalle der sozialen Rangordnung dargestellt. Brucker versäumte allerdings nicht, auf die „Vortheile" hinzuweisen, die für die „Länder aus dem Flor" der Wissenschaften entstünden.139 Eine vielleicht eine Wertabstufung implizierende, vermutlich aber eher pragmatische Entscheidung zeigt sich bei der Anordnung der Personen: Zuerst kommt der Mäzen, die Gelehrten werden nach der Ordnung der Fakultäten - Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie — dargestellt, die Frau rangiert am Ende.140 Freilich ist dieser klare Aufbau nur im ersten Zehend zu finden. Er wird hier durch das Inhaltsverzeichnis nahegelegt, andere Vorgaben zur Reihenfolge gibt es nicht, denn eine Seiten- oder Blattzählung ist im ersten und in den weiteren Teilen nicht anzutreffen. Da vom zweiten Zehend an auch kein Inhaltsverzeichnis mehr mitgeteilt wird, ist die Anordnung in das Belieben des Sammlers gestellt, und der Vergleich unterschiedlicher Exemplare zeigt, daß die Reihenfolge der Personen tatsächlich nicht einheitlich ist.141 Für Brucker war diese Anordnung ohnehin nicht von essentieller Bedeutung. Wie aus einem Brief deutlich wird, geht sie vielmehr auf eine Anregung Gottscheds zurück,142 und Brucker konnte nur betonen, daß er nach Kräften Gottscheds Rat befolgt habe, wie man am ersten Zehend erkennen könne, aber die mangelhafte Kooperationsbereitschaft der für die Aufnahme vorgesehenen Gelehrten stehe einer für 139 Bilder=sal (Anm. 3) l, Samuel Freyherr von Cocceji, [S. 1]. 140 Die Ordnung nach den Fakultäten wird in Sigmund Jakob Apins Anleitung wie man die Bildnüsse berühmter und gelehrter Männer mit Nutzen sammlen ... soll, die 1728 in Nürnberg erschienen und Brucker, wie aus der Vorrede zum ersten Zehend ersichdich, bekannt war, unter dem Gesichtspunkt der Organisation einer Sammlung gegen alternative Prinzipien etwa bloßes Anhäufen oder Ordnung einer Sammlung nach Schulen oder Künstlern — empfohlen, und das ganz offenbar nicht unter fakultätshierarchischen Gesichtspunkten, sondern um auf ein bekanntes und praktikables Klassifikationsschema zurückgreifen zu können; vgl. Elizabeth M. Hajos: Sigmund Jakob Apins Handbuch für den Sammler von Bildnisstichen. In: Philobiblon 12 (1969), H. l, S. 3-26. Die Ordnung nach Künstlern wird abgelehnt, weil der Sinn des Sammeins nicht primär ein ästhetischer ist, sondern in der Vergegenwärtigung der Gelehrtenpersönlichkeit durch ein möglichst authentisches Bild besteht (S. 5f., über den Sinn des Sammeins vgl. S. 12—14). Schon Apin empfahl auch die Aufnahme gelehrter Frauen (S. 11). 141 Zum Vergleich dienten Exemplare der Anna Amalia Bibliothek Weimar (4, 39 [a]), der Universitätsbibliothek Halle (Nv 350 a, 2°), der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle (85 A 21) und der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (Biogr. erud. A. 11); das Register der Gelehrten in der Vorrede zum 5. Zehend verweist nur auf die jeweiligen Zehende, gibt also auch keine Seiten bzw. Reihenfolge an. 142 Brucker pflichtete Gottscheds entsprechendem Vorschlag bei, sah aber auch Schwierigkeiten, ihn konsequent zu verfolgen; Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 24. April 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 158-160,159v.
34
RÜDIGER OTTO
alle Teile gleichbleibenden und planbaren Anordnung im Wege. Der Einbeziehung ausländischer Gelehrter korrespondiert die Absicht, den Bilder^sal auch im Ausland zugänglich zu machen. Daß dabei die besseren Absatzmöglichkeiten eine Rolle spielen, betonte Brucker ausdrücklich.143 Aus diesem Grunde wurde neben der deutschen eine lateinische Version veröffentlicht, offenbar mit mäßigem Erfolg, denn Brucker erklärte später, daß nur wenige lateinische Exemplare verkauft wurden und „nach Holland, Schweden und Ungarn deutsche gesendet werden müßen".144 Da bereits im ersten Band die angekündigte Vielfalt auch tatsächlich sichtbar werden soll, hat Brucker seine Gedanken „auch auf ein Gelehrtes Frauenzimmer gerichtet" und er hat dabei, wie er an Gottsched schreibt „nirgend hin beßer dencken können als auf die Fr. Gemahlin".145 Er bat Gottsched, daß von seiner Frau ein „Portrait gemahlt, über einen Stock gerollt, und mit Wachstuch eingemacht" an Haid in Augsburg geschickt werde.146 Am 17. Juli bestätigte Brucker, daß das Bild bei Johann Jakob Haid eingegangen sei, und stellte die Zusendung eines Probedruckes in Aussicht. Welches Bild nach Augsburg geschickt wurde, ist den Briefen zwar nicht direkt zu entnehmen, aber auf der Signatur des fertigen Blattes wird Haußmann als Maler genannt, sein uns bekanntes Bild (Nr. 12) diente als Vorlage. Das Gemälde ist ein Brustbild, während der Stich eine stehende Figur darstellt, die im Rahmen bis unterhalb der Hüfte zu sehen ist. Diese Erweiterung der Komposition geht jedoch auf das Konto Haids. Wie alle anderen Bilder sollte auch das der Frau Gottsched „nicht in einem Brust= sondern Kniestücke" wiedergegeben werden, wie Brucker nach Empfang des Bildes und im Hinblick auf die zu erwartende Darstellung schrieb.147 Bei gleicher Gelegenheit versicherte er, daß „an der Natur u. Ähnlichkeit nicht das geringste geändert werden" solle. Mit diesen Worten repetierte Brucker ein Thema, das den Wilder-sal von Anfang an begleitete. In der Vorrede zum gesamten Werk wird als Grundsatz proklamiert: „Es ist nemlich die Absicht dieses Werckes, wahre und nach den Originalen gemachte und mit allem möglichsten Fleisse verfertigte Bildnisse der Ge143 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 24. April 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 158-160, 160r. Später erklärte Brucker sogar: „Daß ich Ausländer mitnehme, ist vornehm!, dem H. Verleger zugefallen geschehen, damit es in Frankr. und Italien auch Abgang haben möge." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 14. Oktober 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 351-352, 352r. Vgl. auch Schreckenberg, Gelehrtenbildnisse (Anm. 131), S. 140. 144 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 22. September 1744, UBL, 0342 IX, Bl. 195-197,195v. 145 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117,116r. 146 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117,116v. 147 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 17. August 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 283-284, 283v. Auch Haid rechtfertigte sich, nachdem seine Ausführung bemängelt wurde, damit, daß nur ein „bruststük gesandt worden, ich aber Kniestüke mitzutheilen persuadirt worden". Johann Jakob Haid an Gottsched, Augsburg 14. Januar 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 12-13,12v.
Gottsched-Bildnisse
35
lehrten zu liefern: ...; daher man gewiß seyn kan, daß hierinnen nichts als wahre Abschilderungen zu finden seyen."148 Die unbedingte Authentizität war damit zum Charakteristikum und zum Unterscheidungsmerkmal gegen großzügiger verfahrende zeitgenössische Bildwiedergaben deklariert. Diese Qualitätszusage konnte freilich nur bedeuten, daß der Kupferstich der Bildvorlage genau entsprechen sollte.149 Ein Vergleich des Bildes mit der dargestellten Person und die Korrektur des Kupfers lag außerhalb der Möglichkeiten der Augsburger, die die Personen in den meisten Fälle von Angesicht nicht kannten. Entsprechend konnte Brucker nach der Fertigstellung des Kupfers dessen Qualität nur im Vergleich zur Bildvorlage rühmen: „So der Mahlerey zutrauen, so ist es vollkommen ähnl."150 Im Hause Gottsched war man mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden und monierte offenbar, daß die Figur zu massiv dargestellt sei,151 denn Brucker schreibt zur Rechtfertigung: „Was das Bildniß u. beygefügte desideria selbst betrifft, so hat sich H. Haid an das Portrait genau gehalten, von welchem auch die Masgabe der Stärcke hergenommen ist. Es scheinet aber nur deswegen stärcker, weil es ein Kniestück ist".152 Auch Haid selbst räumt den Fehler ein, er habe „Dero HochEdelgebohren hochgel: Frau GeMahlin in ihrer Distanz zu hochgestellt, mit dem Kurtzen arm hingegen anzeigen wollen, daß die Persohn selbsten nicht groß seye", hofft 148 Bilder=sal (Anm. 3) l, Vorrede, S. [4]. Weil diese Echtheit dort nicht gewährleistet werden kann, problematisiert Brucker einen späteren Vorschlag Gottscheds, auch eine Bildsammlung verstorbener Gelehrter zu veröffentlichen: „Der Vorschlag von gestorbnen gelehrten, und auch Künstlern gieng mir gar wohl ein, wann er nicht zu weitläufftig wäre, und ähnl. Originale nicht gar selten von verstorbnen aufzutreiben wären, wenigstens man nicht wißen kan, ob sie getroffen sind." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 91-93, 92v. 149 Nach Waetzoldt äußert sich im Bedürfnis nach Ähnlichkeit der „nüchterne, praktische Sinn einer bürgerlichen Generation ... Diese Gesinnung verlangt von der Welt nicht mehr, als sie bietet, und erwartet auch von der Kunst nur ein getreues, ein wirklichkeitsgemäßes Abbüd des Seienden". Wilhelm Waetzoldt: Die Kunst des Porträts. Leipzig 1908, S. 83. Bruckers Intention dürfte dem entgegenstehen: Das Bild soll über das Gesicht das Werk erschließen helfen oder zum Werk hinführen, sie beruht auf der unausgesprochenen physiognomischen Voraussetzung einer Korrelation von Antlitz und Geist eines Autors. 150 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 29. November 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 443-444, 443r. 151 Die Sorgfalt, mit der vor dem Abdruck jedes Detail eines Stiches begutachtet wurde, dokumentiert ein Brief des Landkammerrats Karl Friedrich von Kregel (1717—1789), den Gottsched um ein Urteil über den Kupferstich gebeten hatte, der seiner Biographie Christian Wolffs beigefügt werden sollte. Kregel wünschte Änderungen am Gewand, am Vorhang, am Schatten der Bibliothek, und schlug vor, „die Stickerey am Rande des Gewandes wegzuschleifen", da sie der Simplizität des Ganzen widerstreite, auch „Wäre die ganze Krause mit dem Polierstahle zu überarbeiten, damit sie gelinder und klärer würde: denn auf diese Art sieht sie harte und schmutzig" u. a. m. Karl Friedrich von Kregel an Gottsched, Leipzig 28. März 1755, UBL, 0342 XX, Bl. 163-164,163v-164r. 152 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 11. Januar 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 5-7, 5v.
36
RÜDIGER OTTO
jedoch „ein jeder werde dieses also entschuldigen, ich wills wohl probiren ob ich in der Stärcke etwas benehmen könne".153 Er versichert ferner, er wolle, „was der H. Mahler am gesichte bemercket nicht nur bestens beobachten, u. corrigiren, sondern auch was wegen der Bibliotheque gngst: desideriret worden, nach klugen Erinnerungen u. Befehl" beachten.154 Offenbar hatten Gottscheds den Probedruck dem Maler Haußmann zur Begutachtung vorgelegt, und dieser hatte detaillierte Änderungsvorschläge unterbreitet, die Haid ausführte.155 Auch das korrigierte Exemplar fand keine uneingeschränkte Zustimmung. Nachdem das erste Zehend des Bilder=sals in der endgültigen Fassung eingetroffen war,156 schickte das Ehepaar Gottsched den Kupferstich Bernigeroths (Nr. 14) an Brucker und stellte ihn offenbar als eine gelungenere Wiedergabe dem Abdruck des Bilder—sals gegenüber. Brucker nahm seinen Mitarbeiter Haid in Schutz und argumentierte mit dem Urteil der Experten. Er habe, schrieb er an Gottsched, „nicht ermangelt", Gottscheds Votum „samt beygelegten Bernigerodischen Drucke des Bildnißes der Fr. Gemahlin ... H. Haiden selbst zuzustellen; bey dem just ein paar geschickte Portrait-Kupferstecher waren, deren einer auch die Mahlerey gesehen. Sie verwunderten sich, daß der Bernig. Stich der Mahlerey vollkommen ähnl. seyn sollte, da sie mich alle versicherten, es seye das Gemähide also in haidischen Kupfer in alle der Austheilung ausgedruckt als wie die Mahlerey angezeigt, und deren Verfertiger hernach selbst corrigirt überschickt hat. Sie meinten H. Bernigerode hätte das lebendige Original zuhülfe genommen ... Es ist eine mißliche Sache nach Mahlerey zu arbeiten, wo man das leb. Original nicht dabeyhat."157 Wenn allerdings Kupferstiche, die nach Gemälden und ohne Kenntnis der dargestellten Person gearbeitet sind, prinzipiell problematisch sind, dann wäre ein Unternehmen wie der Eilder=sal, das als Markenzeichen die Ähnlichkeit der Abbildungen mit den Abgebildeten proklamiert hatte, in einer ungünstigen Position gewesen.158 Brucker behan-
153 Johann Jakob Haid an Gottsched, Augsburg 14. Januar 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 12-13, 12v. 154 Johann Jakob Haid an Gottsched, Augsburg 14. Januar 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 12-13, 12r. 155 Daß die Vorschläge berücksichtigt wurden, ist Bruckers späteren Ausführungen zu entnehmen, „es seye das Gemähide" — also das Bild Haußmanns - „also in haidischen Kupfer in alle der Austheilung ausgedruckt als wie die Mahlerey angezeigt, und deren Verfertiger selbst corrigirt überschickt hat." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 19. Juni 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 160-162,160v. 156 Brucker schickte das Exemplar am 3. April 1741, vgl. Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 3. April 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 84-85, 84r. 157 Brucker an Gottsched, Augsburg 19. Juni 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 160-162,160v-161r. 158 Die Möglichkeit, den Stich an der dargestellten Person zu überprüfen, bestand kaum, vgl. Erich Trunz: Deutsche Schriftsteller des Barock und ihr Umkreis in zeitgenössischen Kup-
Gottsched-Bildnisse
37
delte deshalb das Kupfer der Frau Gottsched als Ausnahme und betonte: „H. Haid hat sonst auch die Vorsicht gebraucht, daß er die Malerey mit s. Kupfern durch solche Personen vergleichen laßen, welche diese berühmte Person selbst im Leben gesehen." Allerdings fügte er sogleich hinzu: „Aber auch darauf ist sich nicht allzeit zuverlaßen. Ich habe diese Woche jemand im Buchladen gesprochen, der die Fr. Gemahlin, zu kennen u. offt zusehen in Leipzig die Ehre gehabt, welcher in dem Bernigerod. Stiche keine Ähnlichkeit finden wollen. So schwehr ist es, es überal zutreffen, u. so ungleich sind auch die Urtheile in dieser Materie."159 Offensichtlich sollte damit die Bevorzugung des Bernigeroth-Stichs, die Brucker nach seiner — oben erwähnten - dezidierten Geringschätzung der Fähigkeiten Bernigeroths empfindlich berühren mußte, relativiert werden.160 Daß damit Gottscheds Beurteilungsvermögen im Blick auf das Aussehen seiner Gemahlin zugleich in Zweifel gezogen war, ist Brucker möglicherweise nicht bewußt gewesen. Es spricht allerdings für die Ernsthaftigkeit des Bemühens um zuverlässige Abbildungen, daß Haid die Beanstandungen trotz des Abschlusses der ersten Serie zum Anlaß für Nachbesserungen nahm. „H. Haid aber hat sich nicht verdrießen laßen, weil dermalen noch nicht mehr portraite abgedruckt sind, als Exemplaria verschickt worden, folglich die meisten noch ungedruckt sind, es nach diesem Stiche nochmalen durchzugehen und zu ändern, um soviel möglich diese Sammlung vollkommen zumachen, wovon er einen Probdruck zu überschicken sich die Freyheit nehmen wird."161 Der Probedruck scheint Zustimmung beim Ehepaar Gottsched gefunden zu haben, denn Brucker schrieb am 13. September 1741: „Daß H. Haiden verbeßerung des Ebenbildes Ew. HochEdelgb. Fr. Gemahlin ihr einige mehrere ahnlichkeit gegeben, ist ihme und mir sehr angenehm."162 Nach diesen Angaben ist der von Haid gefertigte Kupferstich in mindestens zwei oder, wenn man davon ausgeht, daß auch vom ersten Probedruck bereits mehrere Exemplare angefertigt worden und in die Öffentlichkeit gelangt sind, drei verschiedenen Versionen im Umlauf. Auf jeden Fall wurden Exemplare des Bi/äer=sa/s „verschickt", bevor Haid erneut Verbesserungen vorgenommen hat. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurden von dieser Version auch Separatdrucke angefertigt, da deren Herstellung von vornherein geplant war: Nach Bruk-
159 160
161 162
ferstichen. In: Nobilitas literaria. Dichter, Künstler und Gelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts in zeitgenössischen Kupferstichen. Heide in Holstein 1990, S. 7—28,12. Brucker an Gottsched, Augsburg 19. Juni 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 160-162,161r-161v. Im Gegensatz zu Brucker hielt Gottsched große Stücke auf Bernigeroth, und er hat dies öffentlich zum Ausdruck gebracht, vgl. Weidler, Bernigeroth (wie Anm. 93), S. 14; eine Zusammenstellung von häufig ungünstigen Urteilen S. 11-19. Brucker an Gottsched, Augsburg 19. Juni 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 160-162,161r. Brucker an Gottsched, 13. September 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 211-212, 211v. Ein Begleitschreiben Haids zum Probedruck ist nicht überliefert.
38
RÜDIGER OTTO
kers Mitteilung wird „H. Haid nicht ermangeln, soviele erste Drücke, so am schönsten ausfallen, zuliefern, als verlangt werden dürffen".163 Später wird dies dahingehend präzisiert, daß Haid als Gegenleistung dafür, daß ihm ein Porträtgemälde als Kupferstichvorlage zur Verfügung gestellt wurde, entweder ein Exemplar des ersten Zehends oder 12 Kupferstiche liefern wolle.164 Wenn eine höhere Stückzahl gewünscht werde, schrieb Brucker, „so müssen sie in Zeitz bestellet165 werden." Seine anschließende Bemerkung, „es verlohnt sich jeder Mühe, dieses Portrait in allen Studier Stuben zuhaben",166 ist sicher nicht so zu verstehen, daß Gottsched für die weitere Verteilung an Interessenten Sorge tragen solle, sondern kann als Indiz angesehen werden, daß Brucker, der gar nicht selten Komplimente an die Frau Gottsched einfließen ließ, die ihre Einzigartigkeit als Frau und Schriftstellerin herausstellten, mit einer starken Nachfrage nach einzelnen Stichen für Kupferstichsammlungen oder, wie Bruckers Äußerung nahelegt, für eine individuelle Galerie außergewöhnlicher Köpfe rechnete.167 Jedenfalls ist Bruckers Hinweis ein Zeugnis für die Praxis, mit Kupfern exemplarischer Gestalten die Wände von Bibliotheken und Arbeitskabinetten zu gestalten,168 und zugleich für die Annahme, daß unter diesen allgemeinen Bedingungen für das Porträt der Frau Gottsched eine große Nachfrage zu erwarten war.169 Die in den Briefen der Frau Gott163 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 17. August 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 283-284, 283r. 164 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 29. November 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 443-444, 444r. Die ursprüngliche Gegenleistung für die Bereitstellung eines Gemäldes war noch etwas großzügiger: „Er wird dafür mit einem completen Ex. des Theils, wo ihr Portrait hineinkommt aufwarten: und wo sie besondere einzele Abdrücke von ihrem Portrait von sich verlangen, gegen gar billigen Preiß sie Ihnen besonders zukommen laßen." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117,115vf. 165 Als Buchdrucker in Zeitz, der offenbar mit Haid kooperierte, kommt Johann Christian Hucho in Frage; vgl. Christian Friedrich Geßner: Die so nöthig als nützliche Buchdruckerkunst und Schriftgießerey. 3. Theil. Leipzig: Christian Friedrich Geßner, 1741, S. 502. 166 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 29. November 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 443-144, 444r. 167 Der Anzahl der Abdrucke waren technische Grenzen gesetzt: „Drei- bis vierhundert Abzüge waren wohl die Regel, eine obere Grenze mag etwa bei eintausend Kupferstichabdrucken liegen." Walter Koschatzky: Die Kunst der Graphik. 12. Auflage. München 1997, S. 101. Es scheint auch vorgekommen zu sein, daß die Bildnisse aus dem Bilder^sal entfernt bzw. Text und Abbildung getrennt aufbewahrt wurden; das Exemplar der Franckeschen Stiftungen enthält keine Bilder. Apins Anleitung empfiehlt die Herauslösung der Stiche aus Büchern und betont nur, „die Bücher ,müssen aber nicht geborgt, sondern dein eigen seyn'" Hajos (Anm. 140), S. 6. 168 Vgl. Peter Berghaus: Vorwort, in: Porträt 1: Der Herrscher (Anm. 112), S. 7f., 7 und Schinkel, Sammeln (Anm. 112), S. 56—58. 169 Ein Zeugnis dafür, daß das Bild der erwarteten Bestimmung tatsächlich zugeführt wurde, ist besonders deshalb bemerkenswert, weil es auf die enge Verflechtung der Wertschätzung des schriftstellerischen Werkes und der Vergegenwärtigung im Bild verweist. Der Schweizer Theologe und Philologe Johann Georg Altmann (1695-1758) schrieb nach dem Emp-
Gottsched-Bildnisse
39
sched enthaltenen spärlichen Hinweise auf den Umgang mit den Kupferstichen geben allerdings keine Einblicke in die von Brucker angeregte und erwartete Praxis der Bilderbehandlung im gelehrten Kontext. Sie verweisen jedoch auf eine private unter dem Vorzeichen des Freundschaftskultes stehende Aneignung. An ihre vertrauteste Freundin Dorothea Henriette von Runckel (l 724-1800)17° schreibt sie im Mai 1753: „Die kleine Abgötterey, welche Sie mit meinem Bilde treiben, ist schmeichelhaft für mich. Ihr Gemahl könnte mir dabey einen großen Gefallen thun, wenn er diesen Kupferstich in den Camin würfe; und auf diese Weise ein Blatt aus der Welt schaffte, darüber ich von Herzen neidisch und eifersüchtig bin."171 Das Bild wird zum Gegenstand der Verehrung und umgekehrt der Eifersucht aufgewertet und wird auf diese Weise zum Symbol, mittels dessen die korrespondierenden Frauen ihre Gefühle artikulieren können. Ein reichliches Jahr später schickt Frau Gottsched, nachdem sie ihre Freundin in Görlitz besucht hatte, ein weiteres Bild und schreibt: „Hier folget der verlangte mir einzig ähnliche Kupferstich. Er bittet um Verzeihung, daß er en Saloppe erscheinet. Niemals hat er sich eingebildet in dem Tempel der Freundschaft einen so vorzüglichen Platz zu erhalten, sonst würde er sich von dem ersten Augenblicke seiner Existenz an, dieses Platzes werth zu seyn, geschonet haben."172 Nach unseren Kenntnissen gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als zwei verschiedene Kupferstiche der Frau Gottsched (Nr. 13 und 14), deren Entstehung 1754 über 10 Jahre zurücklag. Da jetzt erst der „einzig ähnliche Kupferstich" verschickt wurde und nicht anzunehmen ist, daß Frau Gottsched zunächst einen unähnlichen Stich verschickt hat, dürfte der im Brief vom Mai 1753 erwähnte Kupferstich nicht als persönliches Geschenk der Porträtierten an Frau Runckel gelangt sein. Welcher der beiden Graphiken der Vorzug gegeben wird, läßt sich nicht mit Bestimmtheit behaupten. Da aber Gottsched ehedem den Kupfang eines Briefes der Frau Gottsched: „Die exempel sind sehr rar, daß man ein schreiben von einem so liebenswürdigem Frauenzimmer aufweisen kann, von der man zugleich so viele Treffliche und geistreiche geteutschte Schrifften in Seiner Bibliothec zustehen hatt. Ich bin von natur nicht unempfindl. und bitte einem wittwer zu erlauben, daß ich das vergnügen habe Ihr Bildniß, wie solches Hr. Haid gestochen, also in meinem Zimmer aufzusetzen, daß es allen denen die mich besuchen in die äugen falle, darbey mir alle Zeit der angenehme anlaß gegeben wird Ihre Verdienste zu preisen." Altmann an L. A. V. Gottsched, Bern 1. November 1741. In: Danzel, S. 238. 170 Frau von Runckel hatte das Ehepaar im Sommer 1752 kennengelernt; vgl. Magdalena Heuser: „Das die Sprache meines Geschlechts niemahls reicher als im Widersprechen ist": Dorothea Henriette von Runckels Briefe an Johann Christoph Gottsched 1753—1756. In: Lichtenberg-Jahrbuch 1996, S. 51-89, 52. 171 Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig, 26. Mai 1753. In: Kording, Louise Gottsched, S. 180f. 172 Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig, 2. Oktober 1754. In: Kording, Louise Gottsched, S. 217.
40
RÜDIGER OTTO
ferstich Bernigeroths zur Korrektur des Haidschen Blattes an Brucker geschickt hatte, darf man annehmen, daß im Hause Gottsched Bernigeroths Arbeit bevorzugt wurde.173 Frau Runckel, die, von ihrer Freundin legitimiert,174 die Briefe der Luise Adelgunde Victorie Gottsched nach deren Tod edierte, notierte zur Aussage, daß der Kupferstich bei frühzeitigem Wissen um seine Bestimmung geschont worden wäre: „Dieser Kupferstich hatte einige Flecken bekommen."175 Frau Gottsched hätte gewiß kein versehrtes Exemplar verschickt, wenn ihr noch weitere Abzüge aus privatem Besitz oder in Bernigeroths Werkstatt zur Verfügung gestanden hätten. Offenbar war der Bestand im Laufe der Jahre zur Neige gegangen. Die vielleicht interessanteste Bemerkung im Briefe der Frau Gottsched ist die vom „Tempel der Freundschaft", der ihr Bild beherbergen wird. Der Begriff ist vor allem bekannt als Bezeichnung für die seit etwa 1745 angelegte Bildersammlung des Halberstädter Dichters und Domkapitelsekretärs Johann Wühelm Ludwig Gleim (1719-1803).176 Als größte und
173 Brucker an Gottsched, 19. Juni 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 160-162,160v-161r. 174 Vgl. Dorothee Henriette von Runckel: Vorbericht. In: Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Briefe. 1. Theil. Dresden: Harpeter, 1771, S. *2r-[*8v, 7r] ; Gottsched wollte schon 1734 die Briefe seiner Braut veröffentlichen. Ihre Reaktion: „Alles, was ich Sie bitte, ist dieses: Verhindern Sie den Druck dieser Briefe, oder verschieben ihn, bis nach meinem Tode." Luise Adelgunde Victorie Kulmus an Gottsched, Danzig 30. August 1734. In: Kording, Louise Gottsched, S. 67f., 68. Merkwürdigerweise wurde für 1771 von anderer Seite ebenfalls eine der Runckelschen ganz ähnliche Ausgabe mit Briefen der Frau Gottsched angekündigt: „Der Vestungs=Bau Prediger in Dresden, Tit. M. Joh. Sam. Gotdob Flemming, ist entschlossen, eine Sammlung auserlesener Briefe, die die verstorbene Fr. Gottsched zur Verfasserinn haben, der Welt zu liefern. Alle sind Originale, und können zum Muster in ihrer Art dienen. Einige 100 hat man beysammen, die diese verewigte Frau mit eigener Hand an verschiedene Personen geschrieben. Es sollen diesen noch einige andere theils poetische, theils prosaische Stücke von ihrer Feder beygefügt •werden. Das ganze Werk soll in 3 Theilen, und mit aller möglichen Sorgfalt, auch in Ansehung des Aeußerlichen erscheinen ... , auf fein Schreibpapier, mit säubern Druck - Bis zu Ende des Sept. wird l Rthl. Pränumeration angenommen, und bey der Ablieferung, die zur Neujahrsmesse 1771. geschieht, l Rthl. 8 gr. nachgezahlet. — In Budißin bey Hrn. Subrect. Faber: in Görlitz bey Hrn. Zolleinnehm. Willers jun. und auch in der Buchdrucker=Officin; in Lauban bey Hr. Past. Dietmann, wird Pränumeration angenommen." Lausitzisches Magazin 3 (1770), S. 244. Ob die dreibändige Runckel-Ausgabe, die nach eigener Zählung 222 Briefe (und nicht „Einige 100") enthält, die andere Ausgabe verhindert hat oder ob es dank der räumlichen Nähe zu einer Zusammenarbeit gekommen ist, läßt sich nicht beurteilen; der einzige Hinweis auf Unterstützung findet sich im Vorbericht des l. Teils: „Ich statte hierdurch denen würdigen Personen, die meine Sammlung, durch die Einsendung einiger Briefe von meiner Freundin, bereichert haben, öffendich den verbindlichsten Dank ab." Runkkel, Vorbericht, S. [*7r]. 175 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Briefe. 2. Theil. Dresden: Harpeter, 1771, S. 237. 176 Zum ideellen Umfeld, zur Entstehung der Sammlung und zu den einzelnen Bildern vgl. die Beiträge in: Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt: Porträts des 18. Jahrhunderts; Bestandskatalog. Bearb. von Horst Scholke. Leipzig 2000; vgl. auch Gotthardt Frühsorge: Freundschafdiche Bilder. Zur historischen Bedeutung der Bildnissammlung im
Gottsched-Bildnisse
41
bekannteste, gleichwohl nicht einzige Sammlung ihrer Art charakterisiert der Freundschaftstempel auf der Ebene der Bildbehandlung einen künstlerischen und mentalen Wandel, der durch Begriffe wie Geselligkeit, Freundschaftskult, Empfindsamkeit u. a. bezeichnet wird. Sie sollen das Phänomen einer gesteigerten und bekenntnishaft inszenierten Emodonalität erfassen, das an die Vernunft- und Tugendrhetorik der früheren Aufklärungszeit anschließt und sie überhöht. Daß Frau Gottsched an dieser Entwicklung, besonders in ihren Briefen an Frau von Runckel, Anteil hatte, ist bekannt. Die Anspielung auf den „Tempel der Freundschaft" zeigt, daß auch die Praxis der über das Bild vermittelten Intimität geübt wurde, wenn auch unbekannt ist, ob das betreffende Gemach der Briefempfängerin dem Porträt der Frau Gottsched vorbehalten war oder ein größeres Ensemble von Freundschaftsbildern beherbergte.
Nr. 14. Luise Adelgunde Victorie Gottsched — Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth als Frontispiz vor dem 14. Stück der Zuverläßigen Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften^11 Mit dem Jahr 1739 stellten die Deutschen Acta Hruditorum ihr Erscheinen ein, nachdem in fast 30jähriger Erscheinungsdauer 240 Teile in zwanzig Bänden veröffentlicht worden waren. Als Grund für die Einstellung wurde die lange Erscheinungsdauer angegeben. Nach Auskunft des Herausgebers stellte sie für die Gewinnung neuer Abonnenten ein Hindernis dar, weil sie ihnen die Entscheidung abverlangte, bei einem späten Einstieg in den Bezug der Zeitschrift sämdiche älteren Bände zu kaufen. Offenbar wurde bei potentiellen Käufern die Neigung vorausgesetzt, Zeitschriften entweder ganz oder gar nicht zu erwerben, und offenbar ging man davon aus, daß das Problem behoben wäre, wenn ein neuer Name vergeben und die Zeitschrift wieder bei Jahrgang l beginnen würde.178 Christian GottGleimhaus zu Halberstadt. In: Theatrum Euopaeum. Festschrift für Elida Maria Szarota. München 1982, S. 429-452; Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 121-151. 177 Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 8044. 178 „Die deutschen Acta Eruditorum sind vor wenig Wochen mit dem zweyhundert und vierzigstem Theile beschlossen worden, nachdem sie nunmehro zwantzig Bände ausmachen. Kein gelehrtes Tage=Buch in unserer Sprache, wenn wir die unschuldigen Nachrichten ausnehmen, kan sich des Vortheils rühmen, daß es so lange, als dieselben gedauret, und mit so gutem Beyfall der Kenner aufgenommen worden. Aber eben die Grosse dieser Schrifft wurde derselben zur Last, und es fiel verschiedenen, welche sie zu brauchen wünschten, beschwerlich, wenn sie zwantzig solche Bände zugleich kauffen sollen. Dieses
42
RÜDIGER OTTO
lieb Jöcher, in dessen Händen die Edition der Deutschen Acta Eruditorum seit 1720 lag, begann ohne Pause die Edition einer neuen Zeitschrift mit dem Titel Zuverläßige Nachnchten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften.™ Sie knüpfte in jeder Beziehung an die Deutschen Acta Eruditorum und setzte auch die Tradition der Beigabe von Bildern zeitgenössischer Gelehrter fort. Im zweiten Jahrgang der monatlich erscheinenden Zeitschrift wurde als Frontispiz zum 14. Teil ein Kupferstich der Luise Adelgunde Victorie Gottsched von Johann Martin Bernigeroth180 wiedergegeben. Der Kupferstich wurde nach dem Gemälde Haußmanns (Nr. 12) angefertigt. Warum das Kupfer ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, in der Phase kurz vor Auslieferung des ersten Teils des Bilder=sals, veröffentlicht wurde, läßt sich ohne Kenntnis entsprechender Zeugnisse nicht zweifelsfrei klären. Es spricht aber einiges dafür, daß man in Leipzig den Augsburgern bewußt zuvorkommen wollte: Wie erwähnt, hatte Jakob Brucker gegenüber seinem Verleger Breitkopf trotz mehr als doppelter Kosten auf einem Kupferstich seines Landsmannes Wolfgang bestanden, da er die Qualität der Bernigerothschen Stiche für unzulänglich hielt. Gegenüber Gottsched hatte er sich im gleichen Sinne geäußert. Daß Bernigeroth oder Jöcher, der als Herausgeber der Deutschen Acta Eruditorum wie der Zuverläßigen Nachnchten Auftraggeber Bernigeroths war, von dieser Geringschätzung nichts erfahren haben sollten, ist unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, daß Gottsched seinem Fakultätskollegen Jöcher nichts über die Augsburger Aktivitäten und die bevorstehende Veröffentlichung des Bildes seiner Frau gesagt haben sollte, zumal spätestens nach der Publikation seines eigenen Kupfers in den Deutschen Acta Eruditorum ein gemeinsames Interesse an Veröffentlichungen dieser Art angenommen werden kann.181 ist die eintzige Ursache, welche uns veranlasset, gedachte Acta Eruditorum zu beschliessen. Jedoch es haben weder die Verfasser noch der Verleger den Vorsatz fahren lassen, denen Liebhabern gelehrter Geschichte, mit einer denen Actis ähnlichen Monath=Schafft ferner zu statten zu kommen: und wir werden von der Beschaffenheit dieser neuen Nachrichten vollkommen Rechenschafft geben, wenn wir versichern, daß in denenselben die Einrichtung, die Absicht, der Vortrag und die Verfasser, mit der Einrichtung, Absicht, Vortrag und den Verfassern der Actor. Erudit. gäntzlich einerley sind." Zuverläßige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften. 1. Teil. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, 1740, S. A2rf. Auch Gottsched erklärte im Rückblick auf seine Zeitschrift Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften undfrejen Künste, die von 1745—1750 in zehn Bänden erschienen war, er habe sie mit dem 10. Band abgeschlossen, „um den Lesern und Käufern ... den Ankauf der ersten Theile derselben nicht zu schwer zu machen." Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1762, S. 940. 179 Die Vorrede zum ersten Teil ist auf den 30. Januar 1740 datiert. 180 Nicht verzeichnet bei Weidler, Bernigeroth (Anm. 93), S. 98. 181 Schon Jahre zuvor hatte Johann Gottlieb Krause, als sein Rektorat in Wittenberg im September 1734 dem Ende entgegenging und er sich spontan dazu entschlossen hatte, aus diesem Anlaß sein Kupferstichporträt in die Deutschen Acta Eruditorum setzen zu lassen, Gott-
Gottsched-Bildnisse
43
Soviel steht fest: Bis dahin war noch kein Bild der Frau Gottsched im Umlauf, während sie andererseits durch ihre Veröffentlichungen schon einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt hatte und in einschlägigen lexikalischen Werken in den Rang einer bedeutenden Zeitgenossin erhoben worden war.182 Wenn man überhaupt meinte, daß an Bildern berühmter Personen im Publikum Bedarf besteht, und genau dies dürfte die Auffassung Jöchers und seiner Mitstreiter gewesen sein, denn warum sonst hätten sie über Jahrzehnte und auch bei den neu gegründeten Zuverläßigen Nachrichten an der kostspieligen Praxis der Porträtbeigabe festgehalten, dann war dieser Bedarf im besonderen Maße im Hinblick auf die Ausnahmefrau Luise Adelgunde Victorie Gottsched vorauszusetzen. Mit der Erstveröffentlichung ihres Bildes wären die von ihrer Überlegenheit ohnehin überzeugten Augsburger ausgerechnet bei der Präsentation der berühmten Leipziger Dichterin den Leipzigern zuvorgekommen. Diese Lagebeschreibung mag zugespitzt wirken, die Daten sprechen jedoch dafür: Das Gemälde, das Gottsched nach Augsburg gesandt hatte, wurde von Brucker am 21. Dezember 1740 nach Leipzig zurückgeschickt183 und ist frühestens zum Jahreswechsel in Leipzig eingetroffen. Die Zuverläßigen Nachrichten erschienen monatlich, der 14. Teil wurde demnach im Laufe des Februar 1741 veröffendicht. Stellt man einen Planungs- und Bearbeitungsvorlauf für jedes Heft der Zeitschrift in Rechnung, so dürfte das Gemälde nach seiner Wiederkehr aus Augsburg umgehend für das Titelkupfer des nächsten, noch nicht verplanten Teils der Zeitschrift verwendet worden sein, und auf diese Weise ist es tatsächlich vor dem Schabkunstblatt des Bilder=sals erschienen.184 Spätestens im April waren die Zuverläßigen Nachrichten mit sched erfolgreich um Vermittlung bei Jöcher gebeten; Johann Gottlieb Krause an Gottsched, Wittenberg, 5. September 1734, UBL, 0342 III, Bl. 112-113, 112v. Aus dem nach Gottscheds Tod für die Versteigerung seiner Bibliothek angelegten Katalog ist zu erkennen, daß Gottsched selbst eine beträchtliche Anzahl von Kupferstichen sein eigen nannte, die in unserem Kontext genannten Künstler Bernigerodi, Wolfgang und Haid sind dort mit zahlreichen Blättern vertreten; vgl. Catalogue bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius ... collegit atque reliquit. Leipzig [1767], S. 183-194. 182 Gabriel Wilhelm Goetten: Das Jetztlebende Gelehrte Europa. Theil 2. Braunschweig; Hüdesheim: Ludolph Schröder, 1736 (Nachdruck Hildesheim; New York 1975), S. 93-95; Johann Jacob Gottschald: Allerhand Lieder—Remarquen. Andere Piece. Leipzig: Johann Christian Martini, 1738, S. 130-133 (2. Auflage mit identischen Seitenzahlen: 1747); Amaranthes [= Gottlieb Siegmund Corvinus]: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer=Lexicon. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch und Sohn, 1739, Sp. 584f. 183 Vgl. Brucker an Gottsched, UBL, 0342 Via, Bl. 467f. 184 Der 14. Teil der Zuverläßigen Nachrichten wurde angezeigt in: Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 1741 (Nr. 21 vom 13. März), S. 192; das erste Zehend des BiUer—sals, heißt es im selben Publikationsorgan, habe Haid „in vergangner Ostermesse wirklich ausliefern lassen". Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 1741 (Nr. 48 vom 15. Juni), S. 428-431. Angekündigt wurde die Bildersammlung bereits 1740, S. 706; überdies hat Gottsched, nachdem das fertige Exemplar des Bilder=sais in Leipzig eingetroffen war, den Kupferstich
44
RÜDIGER OTTO
Bild bei den Abonnenten angelangt, wovon ein Zeugnis in der Gottschedkorrespondenz vorhanden ist, das exemplarisch das Renommee der Gottscheds und zugleich auch den Bedarf an anschaulicher Vergegenwärtigung des Ehepaares im Kreis der Verehrer zum Ausdruck bringt. Es stammt von einem siebzehnjährigen Regensburger Gymnasiasten, dem eine große Zukunft beschieden war, Friedrich Melchior Grimm (1723— 1807). Der spätere Freund Diderots (1712-1784) und, bis zum Bruch, Rousseaus (1712—1778), der Liebling der Pariser Salons, der die großen europäischen Monarchen mit Nachrichten aus Paris versorgte, war als Jugendlicher und Student ein glühender Verehrer Gottscheds.185 In einem instruktiven Brief an Gottsched vom 19. April 1741, in dem Grimm beschreibt, wie er mit seinem Altersgenossen Gottlob Ludwig von Schönberg (1726—1796), dem Sohn des kursächsischen Gesandten am Regensburger Reichstag, durch die gemeinsame Lektüre gottschedscher Schriften zur intellektuellen Selbständigkeit und kritischen Beurteilung literarischer und rhetorischer Phänomene gelangt und zur literarischen Produktion angeregt worden ist, trug er den Wunsch vor, ihn „mit dem Bildnisse Dero unvergleichlichen Kulmus zu beehren", ein Wunsch, der durch die Lektüre ihrer Schrift Triumph der Weltweisheit angeregt worden war.186 „Ew. Magnificen^ Bildniß besitze ich bereits in einem Buche: Daher habe ich so großes Verlangen, auch eine Abschilderung von Dero gelehrten Freundinn zu haben: Damit ich inzwischen, bis ich das Urbild sehe, einen Abriß von Derienigen besitze, welche unserm Vaterlande soviel Ruhm macht." Er bittet nicht nur für sich, sondern auch für seinen inzwischen in Paris weilenden Freund Schönberg, der ihn „alle Postage (erinnert), ich soll ihm
Bernigerodts als besser gelungene Darstellung an Brucker gesandt, damit Haid mit seiner Hilfe noch einige Verbesserungen an seinem Werk anbringen könnte; vgl. den in Anm. 157 nachgewiesenen Text. 185 Karl August Georges: Friedrich Melchior Grimm als Kritiker der zeitgenössischen Literatur in seiner „Correspondence litteraire" (1753—1770). Leipzig, Universität, Philosophische Fakultät, Dissertation, 1904, S. 1—7; Kurt Schnelle: Friedrich Melchior Grimms Bildungswege in Deutschland. Zur Vorgeschichte der Correspondance litteraire. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig; gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe; 16 (1967), S. 17-31. 186 Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Regensburg 19. April 1741. In: Friedrich Melchior Grimm: Briefe an Johann Christoph Gottsched. Hg. von Jochen Schlobach und Silvia Eichhorn-Jung. St. Ingbert 1998, S. 7-15; im gleichen Jahr bat auch ein weiterer Korrespondent, Ludolph Bernhard Kemna (1713—1758), der durch Gottscheds Vermittlung eine Stelle als Rektor an der Danziger Marienschule erhalten hatte, um die Bilder: „wo ich mich mit einer Bitte erkühnen darf; so ersuche ergebenst, mich [...], woran mir am meisten gelegen ist, mit dem Kupfer, von Dero hochwehrtesten Person und Dero hochgeschätzten Frau Gemahlin gütigst zu beschenken", Ludolph Bernhard Kemna an Gottsched, Danzig 4. September 1741, UBL, 0342 VIb, Bl. 205-206, 206v.
Gottsched-Bildnisse
45
auch dieses gelehrte Paar verschaffen."187 Grimm hatte den Brief schon beendet, als ihn die unerwartete Erfüllung seiner Wünsche noch zu einer Nachschrift veranlaßte: „Eben schickt mir mein Buchhändler, da ich siegeln will, den vierzehnden Theil der Zuverläßigen Nachrichten. Und ich erblicke unserer gelehrter Kulmus Bildniß darauf."188 Über die Wirkung des Bildes verlautet nichts, aber das fraternisierende Wort von „unserer ... Kulmus" bringt pointiert zum Ausdruck, was den Inhalt des Briefes insgesamt auszeichnet: Gottsched und seine Frau sind für Grimm Identifikationsgrößen und Verkörperung der kulturellen Gleichwertigkeit Deutschlands gegenüber den großen Namen des Auslandes wie Newton (1642— 1727), Voltaire oder Laura Maria Catarina Bassi (1711-1778), die nach einer Disputation 1732 an der Universität Bologna promoviert und dadurch eine europäische Berühmtheit wurde.189 Grimm hat die Wertschätzung Gottscheds in moderater Form beibehalten und erheblich dazu beigetragen, Gottscheds Namen in Frankreich bekannt zu machen. Erst nachdem Gottsched in einem Artikel des Mercure de France als notorischer Verächter der französischen Kultur vorgeführt worden war, kündigte Grimm seinem alten Idol die Freundschaft.190
187 Grimm an Gottsched, Regensburg 19. April 1741. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 7-15, 9. 188 Grimm an Gottsched, Regensburg 19. April 1741. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 7-15,10. 189 „Wir können aber gegen einen Boileau, Rollin, Fontanelle, Fenelon, Voltaire, und kurz gegen alle große Lichter dieses Reiches unsern Gottsched setzen. Was Engelland in seinem Newton, Addison, Steelen u.a.m. bewundert, das verehren wir noch itzt in unserm unsterblichen Gottsched. In diesen einigen finden wir alles dasienige, was in Italien, Frankreich, Engelland, und ändern Reichen so viele zertheilt besitzen. Pralt Italien mit seiner Bassi; Frankreich mit seiner Dacier: So können wir uns mit unserer Kulmus groß machen." Grimm an Gottsched, Regensburg 19. April 1741. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 7-15, 8. 190 Theodor Süpfle: Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich mit besonderer Berücksichtigung der literarischen Einwirkung. Band 1. Gotha 1886, S. 128f. Vgl. auch den Text unter Nr. 20.
46
RÜDIGER OTTO
Nr. 15. Gottsched - Schabkunst Johann Jakob Haids nach einem Gemälde der Anna Maria Werner im Bilder= sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter S chnfft—steiler^1 Nachdem im ersten Zehend Frau Gottsched abgebildet worden war, sollte auch Gottsched selbst im Brucker-Haidschen Bi/der—sa/ vorgestellt werden. Die Absicht, sein Bild im 2. Band aufzunehmen, wurde nicht verwirklicht.192 Am 27. März 1742 bat Brucker Gottsched, sein „eigenes Bildniß zum dritten Zehnd mitzutheilen ... Länger wollte ich diese Zierde dem Bildersal nicht gerne entzihen."193 Gottsched scheint seine Zustimmung zunächst verweigert zu haben, so wie er Jahre zuvor auf den Wunsch Gabriel Wilhelm Goettens (1708-1781), den Gottschedschen Lebenslauf in seine Sammlung zeitgenössischer Biographien zu integrieren, zunächst entgegnet hatte, er sei „einer von denen, die nicht eben verdienen, daß man die Welt von Ihren Umständen so genau benachrichtige".194 Goettens anschließender Protest dürfte nicht ganz unerwartet gekommen sein, Gottsched fügte sich.195 Brucker reagierte auf die Zurückweisung nach dem gleichen Muster: „Aber, redl. zu sagen, ich kan unmögl. verschmerzen, daß mir Ew. HochEdelgeb. Dero eigenes Bildnis versagen. Soll ich denjenigen der Nachwelt anzupreisen länger anstehen laßen, der uns Deutschen von dem wilden und ungereimten Geschmack auf Vernunfft und Wolstand geleitet hat. Ich nehme keine abschlägige Antwort an, und bitte mit Anführung aller Rechte einer gütigen und edeln Freundschafft, mir nicht aus Händen zu gehen, und mir kein solches peccatum omissionis aufzubürden: ich werde doch mit bitten nicht aussezen."196 Nach diesen Worten vom 30. Mai 1742 hielt Brucker Anfang August zwei Kupferstiche Gottscheds nach den Bildern Haußmanns und der Frau Werner in Händen (Nummer 7 und 10 oder 11). Warum Gottsched zwei 191 Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 8041 und 8042. Das Exemplar der Franckeschen Stiftungen, Böttichersche Sammlung C 712 trägt die Bildunterschrift: „Die Redekunst erhub mich auf den HElicon/ Die Klugheit machte mich zu einen Salomon/ Durch beyde wurde mir/ Der Schlüßel zu der Thür/ Die Ansehn, Ehre, Ruhm, Applausum, Reichthum, Leben,/ Eröfnet, zum Gebrauch in meine Hand gegeben." 192 Brucker hofft, „Dero hochverdienten Person in der Dec. II. gleiches Ehrendenckmal zu stiffen". Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1740, UBL, 0342 Via, Bl. 114-117, Bl. 116v. 193 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 27. März 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 91-93, 92r. 194 Gabriel Wilhelm Goetten an Gottsched, Hildesheim 29. September 1734; UBL, 0342 III, Bl. 139-140,140r. 195 Vgl. den Abdruck der -Bibliographie: Goetten, Europa (Anm. 182), S. 76-92. 196 Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 30. Mai 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 169-170,169v.
Gottsched-Bildnisse
47
Kupfer statt eines Gemäldes geschickt hat, und was Brucker damit anstellen sollte, ist nicht zu erkennen. Sollte Haid einen der beiden Kupferstiche als Stichvorlage wählen197 oder aus beiden ein Idealbildnis erstellen?198 Sollte Brucker, der Gottsched nie persönlich getroffen hatte, einer der Arbeiten den Vorzug geben? Brucker ließ sich darauf nicht ein, stellte vielmehr fest, daß die Kupfer „einander nicht gar ähnl. sehen" und forderte Gottsched auf, „mit dem ersten Postwagen eine von den Mahlereyen, welche am ähnlichsten ist, die Wernerische oder Hausmännische ... an H. Haiden zusenden".199 Gottsched entschied sich für das Bild der Frau Werner (Nr. 6), vielleicht deshalb, weil sich das Bild Haußmanns in Berlin befand und nicht verfügbar war. Wie der erste Abdruck der Frau Gottsched fiel auch der Probeabzug des Gottsched-Kupfers „etwas starck" aus, und Brucker rechtfertigte die Ausführung mit demselben Argument wie ehedem, mit der Differenz zwischen Brust- und Kniestück.200 Haid führte die gewünschte Korrektur aus,201 und dies offenbar zu Gottscheds Zufriedenheit. Wir erfahren aus Bruckers Reaktion zwar nur, wie Gottsched das dritte Zehend des Bilder=sals insgesamt aufgenommen hat, aber daß dieses Urteil auch und vor allem der Darstellung seiner Person in
197 Haid hatte zunächst nur nach Gemälden Stichvorlagen angefertigt, hat sich aber, wie es scheint auf Gottscheds Rat, später auch darauf eingestellt, nach Kupferstichvorlagen zu arbeiten, da dadurch der kostspielige Transport der Gemälde vermieden werden konnte und weil, wie Brucker an Gottsched schrieb, nach einem guten „Kupfer [...] beßer zuarbeiten, als nach einer schlechten Malerey, welches H. Haid offt erfahren". Brucker an Gottsched, Kaufbeuren I.Januar 1744, UBL, 0342 IX, Bl. \-\. l v. 198 Das erste Kupfer Ernst Christoph von Manteuffels ist allerdings auch als eine Art Kompilation entstanden. Haid gelangte an ein Bild, das „allem Ansehen nach Kopetzki gemahlet". Brucker an Gottsched, 1. August 1742, UBL, 0342 VTI, Bl. 268-269, 268v. Er fertigte davon einen Kupferstich an, nahm allerdings die Abbildung Manteuffels im 24. Band des Zedlerschen Universalkxicons von 1740 zu Hilfe. Das Ergebnis sprach gegen diese Machart. Brucker bat Gottsched, bei Manteuffel eine bessere Vorlage für Haid zu erwirken, der „das Gesicht neu ausarbeiten will, um die Ähnlichkeit zuerhalten", mit der Bedingung allerdings, daß das Bild der Anlage des Kupfers entspreche, da Haid sonst ganz von vorn beginnen müsse. Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 14. Oktober 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 351-352, 352r. 199 „Und da Ew. HochEdelgeb. schon so gütig gewesen, und mir Dero Portrait theils zugesagt, theils durch H. Breitkopf die beyde Kupfer gütig communicirt, selbige aber einander nicht gar ähnl. sehen, als wäre auf diesen Fall höchstnöthig mit dem ersten Postwagen eine von den Mahlereyen, welche am ähnlichsten ist, die Wernerische oder Hausmännische, nebst biographic, lat. script, und Wapen an H. Haiden zusenden". Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 1. August 1742, UBL, 0342 VII, Bl. 268-269, 269r. 200 „Daß die Bilder aber etwas starck aussehen, macht, weil es Kniestücke sind, welche den ganzen Leib darstellen, da die Portraite meistens nur Bruststücke sind." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 14. August 1743, UBL, 0342 VIII, Bl. 191-192, 191r. 201 „Das Bildnis EU. Hochedelgeb. ist auch schmäler gemachet, und damit der OriginalMalerey, die ich zu sehen selbst Gelegenheit gehabt ähnlicher gemachet worden." Brucker an Gottsched, Kaufbeuren 21. September 1743, UBL, 0342 VIII, Bl. 233-236, 233v.
48
RÜDIGER OTTO
Wort und Bild gegolten hat, ist eine naheliegende Vermutung: „Es kan mir nicht änderst als höchstvergnügt seyn, daß das III. Zehend des BüderSaals das Glück gehabt Ew. HochEdelgeb. nicht zu mißfallen. Dieses einige Urtheil sezet mich in eine Zufriedenheit, welche sonst nur der Beyfall der ganzen Gelehrten Welt verschaffen kan".202 Die von Peter Mortzfeld mitgeteilten zwei Versionen des Bildes repräsentieren vermudich diese beiden Versuche. Nach Mortzfelds Beschreibung stellt Nr. 8041 die sorgfältiger ausgearbeitete Version dar.203 Auch die Aufnahme der Haidschen Gottsched-Blätter läßt sich anhand der Korrespondenz belegen. Gottscheds langjähriger Königsberger Freund und Verehrer, der Professor für Beredsamkeit Cölestin Christian Flottwell (1711—1759), dessen mühsam zu lesende Briefe für die Königsberger Stadt- und Universitätsgeschichte eine noch kaum ausgeschöpfte Quelle sind,204 schilderte in der seinen Briefen, wenn es um die Würdigung Gottscheds geht, eigentümlichen Übertreibung in dramatischer Weise den Bedarf an Bildnissen: „ich beschwöre sie theurer Gönner, und ihre theureste freundinn, [...] mir ehestens ihre beyde Kupferstiche von letzt übersandten Art205 in einigen Exemplarien herunterzuschiken. Eine Fräulein vS.206 hat mir mein Exempl. mit Gewalt genommen v. ich finde mich verpflichtet, Dero Andenken bey unseren Landesleuten zu verewigen. Laßen Sie uns die todte obgleich kändiche Farben im Schatten, wenn uns gleich Sachsen den Körper raubet."207 Gottsched reagierte sofort. „Die 202 Brücket an Gottsched, Kaufbeuren I.Januar 1744, UBL, 0342 IX, Bl. l^t, l r. 203 Mortzfeld, Beschreibungen (Anm. 14), Band 3 (1998), S. 335. Über Drucke und Aufbewahrungsorte des Schabblattes vgl. Höschele, Leben (Anm. 47), Band 2, S. 167. 204 Von den insgesamt 133 teilweise umfangreichen Briefen Flottwells sind 16 gedruckt, die übrigen sind weitgehend unbekannt; vgl. Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Festschrift zur Erinnerung an das 150 jährige Bestehen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen. Leipzig 1893. Auf der Basis dieser Veröffentlichung schon wurde geurteilt, daß Flottwells Briefe „für die Kulturgeschichte der Provinz Preußen während der Jahre 1736—56 eine Quelle von solcher Ursprünglichkeit und Fülle ausmachen, daß ihr in dieser Hinsicht nichts gleichwerthig an die Seite gesetzt werden kann". Hans Prutz: Gottsched und die „Königliche Deutsche Gesellschaft" in Königsberg. In: National-Zeitung 46 (1893), Nr. 674 vom 3. Dezember, [S. 1], 205 Im Namen der Deutschen Gesellschaft in Königsberg schrieben George Rump und Reiffenstein am 10. Mai 1743, sie schätzten es als Vorzug „ein Geschenk zu erhalten worinn das Bild eines gelehrten Gottscheds und einer beredten Kulmus in der vortreflichsten Entschärfung abgeschildert ist. Die Einweihung dieser neuen Geselschafts Bibliothec soll uns ein Landtag werden". Reiffenstein und Rump an Gottsched, Königsberg 10. Mai 1743, UBL, 0342 VIII, Bl. 132-133,133v. 206 Vermutlich eine der Töchter des Professors der Jurisprudenz Reinhold Friedrich von Sahme (1682-1753). 207 Flottwell an Gottsched, 17. November 1744. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 180-185,181.
Gottsched-Bildnisse
49
verlangten Bildnisse, so schlecht sie sind, folgen auch hierbey; und wir schätzen dieselben glücklich, daß sie von so schönen Händen eines Raubes würdig geachtet worden".208 Anders als im Falle Grimms sollten die Bilder in Königsberg nicht dazu dienen, eine erste Anschauung von dem in der Ferne lebenden berühmten Landsmann mit seiner Gemahlin zu gewinnen. Vielmehr bewahrten sie das Andenken an eine persönliche Verbindung, die eben erst entstanden war, als Gottsched und seine Frau im Juli 1744 anläßlich des Gründungsjubiläums der Universität mehrere Wochen in Königsberg zu Gast waren.
Nr. 16. Gottsched — gemalt von Leonhard Schorer (1715-1777) Gottsched hatte angesichts des bevorstehenden Jubiläums zum 200. Jahrestag der Gründung der Universität Königsberg den Besuch seiner alten Heimat frühzeitig geplant. Er ermahnte auch seine Königsberger Getreuen, die Vorbereitungen des Jubiläums beizeiten in Angriff zu nehmen, stiftete einen Preis für das Mitglied der Königsberger Königlichen Deutschen Gesellschaft,209 das die beste Rede auf den Universitätsgründer Albrecht von Preußen (1490—1568) vorlegen würde, und schlug Cölestin Christian Flottwell vor, „eine historische Beschreibung aller Professoren, die von Anfange der Königsbergischen Universität, auf derselben gelebet und gelehret haben" anzufertigen.210 Nach Gottscheds Vorstellungen sollte die Ignoranz der gelehrten Welt gegen die Universität Königsberg dadurch behoben werden. Als besonderen Beweis ihrer Leistungsfähigkeit sollten darüber hinaus die Namen berühmter preußischer Wissenschaftler präsentiert werden. Neben etlichen anderen nannte Gottsched Daniel Gabriel Fahrenheit (1686—1736) und den Mathematiker Christian Goldbach (1690-1764), und er machte deutlich, daß seine Aufzählung den Fundus
208 Gottsched an Flottwell, Leipzig 1. Dezember 1744. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 185-196, 190. Bei gleicher Gelegenheit schickte Gottsched an eine Verehrerin seiner Frau deren Übersetzung von Alexander Popes Lockenraub und bittet darum, dies „nebst ihrem inliegenden Kupfer zu übergeben" S. 189. 209 Die Königsberger entstand 1741 nach dem Vorbild der Leipziger Deutschen Gesellschaft, 1743 erhielt sie ein königliches Privileg, der Präses Flottwell unterrichtete Gottsched, dem die Rolle eines Mentors zuerkannt wurde, fortlaufend über ihre Aktivitäten; vgl. Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 28-31; Thomas Charles Rauter: The eighteenthcentury „Deutsche Gesellschaft": a literary society of the german middle class. Urbana, Illinois, University, Thesis, 1970, S. 180-212. 210 Gottsched an Flottwell, Leipzig 21. August 1743. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 132-136,133.
50
RÜDIGER OTTO
preußischer Berühmtheiten noch nicht erschöpft habe.211 Dahinter steht vielleicht die Aufforderung an Flottwell, auch den Preußen Gottsched gebührend zu würdigen, und es kann sein, daß Gottsched mit dem Plan seiner Reise die Erwartung verband, als ruhmreicher Absolvent der Königsberger Universität am Glanz der Jubiläumsfeier zu partizipieren. Als die Gottscheds im Juni 1744 bereits in Richtung Königsberg unterwegs waren und in Danzig einen längeren Zwischenaufenthalt eingelegt hatten, erreichte Gottsched die Nachricht, daß Friedrich II. keine finanziellen Zuschüsse für das Jubiläum aufbringen wolle. Der König ereiferte sich wegen der geplanten „pompeusen Vanitäten" und legte dem Direktor Reinhold Friedrich von Sahme (1682—1753) nahe, er solle „mehr auf Studia, mores der Jugend als Cerimonien u. Verschwendung sehen".212 Ausserdem sollten die bescheidenen Feierlichkeiten erst am 27. August stattfinden, zu einem Zeitpunkt, an dem Gottsched bereits wieder in Leipzig sein wollte. Man reiste gleichwohl nach Königsberg, brachte die Julitage vorwiegend im Kreise der Deutschen Gesellschaft zu und brach gegen Ende des Monats wieder auf.213 Während des Aufenthalts entstand das einzige überlieferte Porträtgemälde, für das Gottsched selbst Modell gestanden hatte. Es trägt die Aufschrift: „L. Schorer pinxit Regiom. 1744" Schorer hat es 1744 in Königsberg gemalt. Bedauerlicherweise gibt es in der dicht eingehenden Korrespondenz aus Königsberg in diesen in Betracht kommenden Jahren keinen einzigen Hinweis auf Schorer, geschweige denn auf die Entstehung des Bildes. Es ist überhaupt kaum möglich, Informationen über Schorers Wirken in Königsberg und danach zu finden. Die Angaben in Thieme/Becker sind knapp und, was das Ehepaar Gottsched angeht, nicht zutreffend, denn es wird unter den im Besitz der Leipziger Universitätsbibliothek befindlichen Werken Schorers neben dem Gottsched-Gemälde auch ein Bild der Frau Gottsched erwähnt.214 Schorer wurde 1715 in Königsberg geboren, wirkte dort,215 in Dresden und von 1748 bis an sein Lebensende im kurländischen Mitau. Dort scheint er sehr
211 Gottsched an Flottwell, Leipzig 21. August 1743. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 132-136,134. 212 Cölestin Christian Flottwell an Gottsched, Königsberg 12. Juni 1744. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 149-152,150. 213 Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 154; vgl. über die Reise auch Gottsched, Leben (Anm. 24), S. ***5v (AW 10/2, S. 534f.). 214 Thieme/Becker (Anm. 30) 30 (1936), S. 264; zur Ursache dieser Fehlzuschreibung vgl. die Ausführungen unter Nr. 17 und Anm. 222. 215 In Königsberg entstand das Porträt des prominenten Literarhistorikers und Predigers Michael Lilienthal (vgl. Anm. 106), Vorlage für den schönen Kupferstich Johann Georg Wolfgangs (1662-1744) von 1734; vgl. Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 12528.
Gottsched-Bildnisse
51
produktiv und ein gefragter und geachteter Maler gewesen zu sein.216 Eine längerfristige Wirkung ist von ihm nicht ausgegangen. Jedenfalls gibt es keinerlei Untersuchungen zu Person und Werk, und der Lexikograph für die baltischen Künstler fällt über seine Porträts das vernichtende Urteil, daß sie in „ihrer trockenen Behandlung trotz fleißiger Durchführung doch nicht über das Mittelmaß hinausragen".217
Nr. 17. Gottsched im Alter von 46 Jahren Das übermalte Schorer-Bild Daß die Person Schorers auch im Umfeld Gottscheds keine Kontur gewinnt, liegt möglicherweise an einer gewissen Unzufriedenheit Gottscheds mit dem in Königsberg angefertigten Gemälde, zumindest mit dem Tatbestand, daß Schorers Name auf dem Bild in sehr markanter Weise gegenwärtig war. Gottsched muß sich daran gestört haben. Anders ist es nicht zu erklären, daß er schon zwei Jahre nach der Entstehung eine drastische Änderung vornehmen und den Namenszug Schorers übermalen ließ: Es entstand das Gottsched-Porträt mit der Aufschrift „Aetat XLVI". Sie bezeichnet offenbar Gottscheds Lebensalter und verweist damit auf das Jahr 1746. Wir sind über den Vorgang nicht unterrichtet, kennen aber das Resultat. Das Bild in dieser Gestalt galt als Werk Elias Gottlob Haußmanns. Es wurde von Cornelius Gurlitt beschrieben,218 ist durch eine Heliogravüre aus dem Jahr 1902 dokumentiert219 und wurde noch in der 216 Von der Wertschätzung unter den Zeitgenossen zeugt die - möglicherweise allerdings ironisch gemeinte - Bemerkung des Porträt- und Landschaftsmalers Gottlieb Schiffner (1755-1795) über ein Porträt des kurländischen Pfarrers Karl Dietrich Wehrt, es sei „von dem weit u. breit berühmten wohlseeligen u. unsterblichen Herrn Herrn Schohrer verfertigt". Otto Clemen: Dresdner Briefe in Mitau. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 38(1917), S. 315. 217 Wilhelm Neumann: Aus alter Zeit. Kunst- und kulturgeschichtliche Miszellen aus Liv-, Est- und Kurland. Riga 1913, S. 55. Vgl. auch Wilhelm Neumann: Lexikon baltischer Künstler. Riga 1908, S. 141 f. 218 Unter den Bildern der Universitätsbibliothek Leipzig wird genannt ein „Bildniss des J. C. Gottsched, von 1746. Auf Kupfer, in Oel, 66:80, 5 cm. ... Ein stattlicher, stolzer Mann in grauem Stoffrock, stark geblümter, weit offener Weste, einem das Jabot-Bündchen haltenden Brillant, mächtiger Perücke den Dreispitz unter dem Arme, dickem aufgedunsenen Gesicht, geschlitzten Augen, vor einem blauen Vorhang stehend. Wohl von E. G. Hausmann, doch keines der besseren seiner Werke. Bez. im Bild: Aetat XLVI; hinten: Jo. Christoph Gottschedius p. p. regiom. boruss.; vorn: Joh. Chp. Gottsched log. et met. p. o. 2. Febr. 1700, gest. 12. Dez. 1769" [richtig: 1766]. Cornelius Gurütt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 18. Heft: Stadt Leipzig (II. Theil). Dresden 1896, S. 279f. 219 Vgl. die Angaben zur Abbildung. Vgl. auch die im rechten Hintergrund retuschierte Abbildung in: Eugen Reichel: Gottsched. Band 2. Berlin 1912, nach S. 624.
52
RÜDIGER OTTO
Ausstellung, die 1909 zum 500. Jahrestag der Universitätsgründung im Leipziger Alten Rathaus veranstaltet wurde, in dieser Form präsentiert.220 Für die Ausstellung „Die Leipziger Bildnismalerei von 1700 bis 1850" im Jahre 1912 wurde das Bild einer Reinigung unterzogen, und bei dieser Gelegenheit entdeckte der Restaurator die ursprüngliche Signatur.221 In der Ausstellung wurde es als Bild Schorers präsentiert. Da das vermeintliche Haußmann-Gemälde sich als Werk Schorers erwies, wurde das echte, aber nicht signierte Gemälde Haußmanns mit dem Porträt der Frau Gottsched (Nr. 12) ebenfalls zu einem Werk Schorers erklärt.222 Wie das Gemälde seiner Frau ist auch das geänderte Schorer-Bild, vermutlich auf Gottscheds Anweisung, an die Leipziger Universitätsbibliothek gelangt und zählte 1779 zum Bestand.223
220 Katalog der Universitäts-Jubiläums-Ausstellung Leipzig 1909. Leipzig 1909, S. 177 Nr. 633: „1746 gemalt vielleicht von E. G. Haußmann" (Nr. 634 ist das Bild der Frau Gottsched). 221 „Das Gemälde galt bisher als eine Arbeit von Elias Gottlieb Haußmann. Bei der im Hinblick auf die Leipziger Porträtausstellung von 1912 ausgeführten Reinigung wurde von dem Gemälderestaurator Walter Kühn in Leipzig unter einer nachträglich in großen Schriftzügen aufgemalten Altersangabe des Dargestellten die Signatur des Malers freigelegt." Albrecht Kurzwelly (Hg.): Das Bildnis in Leipzig vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Biedermeierzeit. Aus Anlaß der vom Stadtgeschichtlichen Museum zu Leipzig 1912 veranstalteten Porträtausstellung. Leipzig 1912, S. 9. Ebenso in: Katalog der Sonderausstellung (Anm. 83), S. 76, Nr. 691. 222 Vgl. Katalog der Sonderausstellung (Anm. 83), S. 76, Nr. 692: Es wird hier unter Schorers Gemälden aufgeführt, die Zuweisung aber nicht näher begründet. Aufgrund dieser Zuweisung wurde das Bild häufiger und noch bis in die jüngste Vergangenheit als Werk Schorers bezeichnet; vgl. z. B. Deutsches Barock und Rokoko. Hg. im Anschluß an die JahrhundertAusstellung deutscher Kunst 1650-1800. Darmstadt 1914 von Georg Biermann. Leipzig 1914, Band l, S. 307; Die Musik in Geschichte und Gegenwart 5 (1956), Sp. 576; Emmanuel Benezit: Dictionnaire critique et documentaire des peintres, sculpteurs, dessinateurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays. NouveÜe edition. Paris 1999, Band 12, S. 516 über Schorer: „L'Universite de Leipzig possede de lui les portraits de Gottsched et de Mme Gottsched." Als Kuriosum sei ein Urteil angeführt, das nach dem Vergleich des angeblichen Schorer-Werks mit der Kunst Haußmanns gefällt wurde: „Schorer gehört mit seinem Gottsched-Porträt von 1744 (Nr. 691) in die Nähe Haußmanns. [...] Ich halte es für nicht unmöglich, daß Schorer in irgendwelchen Werkstattbeziehungen zu Haußmann stand, der freilich niemals die dekorative Farbigkeit und die Lebhaftigkeit des Ausdrucks erreichte, durch die sich die Bildnisse Gottscheds und der Gottschedin (Nr. 692) auszeichnen." Walther Biehl: Die Leipziger Bildnismalerei von 1700-1850. In: Zeitschrift für bildende Kunst 47 (1911), S. 273-288, 275. 223 Jugler, Leipzig und seine Universität (Anm. 126), S. 65: „Jo. Chph Gottsched, Metaphys. P.P.O. nat 11 Febr. 1700. den 12. Dec. 1766 gemahlt aetat. 46".
Gottsched-Bildnisse
53
Nr. 18. Gottsched - Modifizierte Replik des Gemäldes Leonhard Schorers Ein weiteres Gemälde Gottscheds wird im Katalog der Ausstellung von 1912 unter Schorers Werken aufgeführt und mit Bezug auf das signierte Bild als dessen „freie Wiederholung ..., im Kostüm abweichend" bezeichnet.224 Der Hintergrund dieses Bildes enthält keine Aufschrift. Aber es ist wohl kaum ein Zweifel daran möglich, daß das übermalte SchorerBild zugrundegelegen hat. Fraglich allerdings ist, wann die modifizierte Kopie entstanden ist. Als Entstehungszeitpunkt wurde die Jahrhundertmitte genannt,225 aber man wird auch eine spätere Entstehungszeit nicht ausschließen können. Da das Bild im Besitz der Philosophischen Fakultät war, dürfte die Fakultät als Auftraggeber in Frage kommen226 — oder sollte Gottsched selbst das Bild gestiftet haben, um sich das Andenken seiner
224 Katalog der Sonderausstellung (Anm. 83), Nr. 693. Etwas konkreter ist die Zuschreibung in der die Ausstellung begleitenden wissenschaftlichen Darstellung: „Eine Wiederholung des Bildes, wohl von einer E. G. Haußmann nahestehenden Hand, von einfacherer Ausführung und abweichender Farbgebung mit einer mehr bräunlichen Gesamtton befindet sich im Besitz der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig." Kurzwelly, Das Bildnis in Leipzig (Anm. 221) S. 9. 225 Janda-Bux, Katalog (Anm. 14), S. 181, Nr. 417. 226 Die Bilder wurden häufig von den Universitäten für die Einrichtung einer repräsentativen Professorengalerie in Auftrag gegeben; vgl. z. B. Reinhold Scholl: Die Bildnissammlung der Universität Tübingen 1477 bis 1927. Stuttgart 1927; Ingeborg Schnack: Beiträge zur Geschichte des Gelehrtenporträts. Hamburg 1935 (über die Sammlungen der Universitäten Marburg und Gießen); Jürgen Döring: Die Bildnis-Sammlung der Georg-August-Universität. In: Karl Arndt (Hg.): Katalog der Bildnisse im Besitz der Georg-August-Universität Görtingen. Göttingen 1994, S. 9—26, 9—11. Barbara Peters: Zur Geschichte der Greifswalder Sammlung von Professorenporträts. In: Dirk Alvermann und Birgit Dahlenburg (Hg.): Greifswalder Köpfe: Gelehrtenporträts und Lebensbilder des 16.-18. Jahrhunderts aus der pommerschen Landesuniversität. Rostock 2006, S. 15-21. Für Leipzig konnten noch kein Beleg für eine vergleichbare Initiative der Universität bzw. der Fakultäten ermittelt werden; vgl. Janda-Bux, Entstehung (Anm. 86), S. 152. Insofern verdient die folgende Notiz, die ich Detlef Döring verdanke, als Indiz für die organisierte Porträtierung einer größeren Anzahl Leipziger Professoren Aufmerksamkeit: „Auff inständiges anhalten des Mahlers wolle nach verzeichneten Herren Professoribus Publicis, anhero den Tagk, an welchen ihnen dem Mahler den abriß zunehmen, bequem und gefällig seyn möchte, zu verzeichnen belieben?" UBL, 0988, Bl. 41r. Es folgen die Namen von 16 Professoren, darunter Georg Tobias Schwendendörffer (1597-1681), Quirinius Schacher (1597-1670), Leonhard Bartholomäus Schwendendörffer (1631-1705), Johann Ittig (f 1676), Johann Hornschuch (f 1663), Friedrich Rappolt (1615—1676), David Schwertner (f 1666) und Johann Adam Scherzer (16281683), allesamt Lehrer des jungen Leibniz; vgl. Kurt Müller und Gisela Krönert: Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt am Main 1969, S. 6f. Vielleicht erlaubt die genauere Analyse eine präzisere Datierung, vorläufig kann die Entstehung der Notiz auf die Jahre zwischen 1659, in dem Schwertner die Professur für Moralphilosophie erhielt, und 1663, dem Todesjahr Hornschuchs, eingegrenzt werden.
54
RÜDIGER OTTO
Fakultät sichern? Eine jüngere Kopie des Schorer-Bildes von Eugen Urban227 ist seit dem 2. Weltkrieg verschollen.228
Nr. 19. Gottsched — Gemälde von Johann Friedrich Reiffenstein Am 16. Juli 1753 schrieb Luise Adelgunde Victorie Gottsched aus Kassel an Dorothee Henriette von Runckel: „Jetzt da ich dieses schreibe, sitzt mein Mann und läßt sich malen. Etliche Kinder schwärmen um ihn herum wie kleine Liebesgötter, damit die Langeweile in seinen Gesichtszügen nicht Wurzel fasse."229 Die Szene wirft ein freundliches Licht auf Gottsched, der in literaturgeschichtlicher Perspektive in dieser Zeit zumeist als Pedant und entthronter Diktator dargestellt wird. Nach den Reisebriefen hingegen, die Frau Gottsched ihrer Freundin schickte, war Gottsched in Begleitung seiner Frau ein willkommener Gast verschiedener Höfe und zugleich ein eifriger Tourist mit großem Interesse an den architektonischen und kunstgeschichtlichen Besonderheiten der bereisten Orte. Das Ehepaar Gottsched war am 2. Juli 1753 in Leipzig aufgebrochen und hielt sich seit 10. Juli in Kassel auf.230 In der Residenzstadt lebte Gottscheds Bruder Johann Heinrich (1706—1771) als Sekretär des Prinzen Maximilian von Hessen-Kassel (1683—1753). Zu den guten Bekannten und Verehrern zählte auch der Maler, der dank der anwesenden Kinder von Gottscheds guter Laune profitieren konnte: Johann Friedrich Reiffstein oder Reiffenstein.231 Reiffenstein (1719-1793), gebürtig aus Ragnit in Litauen, lebte seit 1735 in Gottscheds Heimat Königsberg.232 Seine ersten Briefe an Gottsched verfaßte er als Sekretär der Königsberger Königlichen Deutschen Gesellschaft.233 Als Gottsched 1744 zum Universitäts227 Vgl. Singer, Neuer Bildniskatalog (Anm. 14) Nr. 13273 und Janda-Bux, Katalog (Anm. 14), Nr. 623. 228 Auskunft von Cornelia Junge, Kustodie der Universität Leipzig. Eine weitere Kopie, gemalt von dem Leipziger Restaurator Walther Kühn, hing neben dem BOd der Luise Adelgunde Victorie Gottsched im Rektorat der Gottschedschule; vgl. die Wiedergabe in: Die Gottschedschule l (1931), Nr. 2, S. l und Gottschedschule: Städtische höhere Mädchenschule mit Studienanstalt i. E. Leipzig [1928], S. 1; S. 6 wird Walther Kühn als Urheber der Kopie benannt. Kühn hatte 1912 die ursprüngliche Signatur des übermalten Bild Schorers wiederentdeckt; vgl. Anm. 221. 229 Kording, Louise Gottsched, S. 187-189,187. 230 Kording, Louise Gottsched, S. 185-187,185. 231 Vgl. Thieme/Becker (Anm. 30) 28 (1934), S. 111. 232 Vgl. Gerhard Kessler: Altpreußische Briefe an Johann Christoph Gottsched. In: Altpreußische Geschlechterkunde 11 (1937), S. 1-42,15, Nr. 41. 233 Über Reiffenstein als Sekretär vgl. Kause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 27.
Gottsched-Bildnisse
55
Jubiläum nach Königsberg kam, war Reiffenstein nicht mehr dort. Er sollte einen Adligen auf Reisen nach Paris, London und Rom begleiten. Die Auftraggeber zogen sich zurück, und Reiffenstein fand sich plötzlich mittellos in Berlin wieder.234 In dieser schwierigen Situation wandte er sich an Gottsched, der ihm zunächst einmal die Aufnahme eines neuen ungewissen Dienstverhältnisses ausgeredet zu haben scheint235 und später eine Pagenhofmeisterstelle in Kassel in Aussicht stellte. Der verzagte Reiffenstein sah sich der Aufgabe wegen mangelnder Kenntnisse in Mathematik und Französisch nicht gewachsen und befürchtete, daß Gottscheds Ruf leiden könnte, wenn seine Empfehlung die Erwartungen nicht erfüllte.236 Seinen nächsten Brief konnte Reiffenstein am 19. August 1745 bereits von Kassel aus schreiben. Mit Hilfe des Bruders Johann Heinrich Gottsched gelang die Installation.237 Von Gottsched dazu ermuntert, widmete sich Reiffenstein dem Studium und der Praxis der Poesie, Gottsched wollte ihn sogar dazu bringen, die Malerei zugunsten der Poesie gänzlich aufzugeben.238 Reiffenstein blieb jedoch als Maler tätig und schuf im Auftrage des Hofes zahlreiche Porträts. Nach einem Brief zu urteilen, den er kurz nach seiner Ankunft in Kassel an Frau Gottsched geschrieben hat, scheint diese ihm ein Bild Gottscheds zum Zweck der Modernisierung übergeben zu haben — offenbar hatte er auf dem Weg von Berlin nach Kassel die Gottscheds in Leipzig besucht.239 Er schrieb, daß er beginne, seine Dankesschuld ihr gegenüber einzulösen durch „Übersendung des mir anvertrauten Bildes, welches ich Ew: Hochedelgebohrnen ganz unerschroken unter Augen stelle, ob ich mich gleich mit einer vielleicht unverantwortlichen Verwegenheit unterstanden, die würdige Arbeit einer großen Künstlerin, mit dem Pfuscher234 Reiffenstein berichtet darüber in seinem Briefe an Gottsched vom 18. August 1744, vgl. UBL, 0342 IX, Bl. 183-184. 235 Vgl. Reiffenstein an Gottsched, Berlin 29. November 1744, UBL, 0342 IX, Bl. 232-233, 232r-v. 236 Vgl. Reiffenstein an Gottsched, Berün 1. August 1745, UBL, 0342 X, BL 106-107. 237 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 6. Oktober 1745, UBL, 0342 X, Bl. 163-164. 238 An Flottwell schreibt Gottsched: „Ich denke aber sonst auf eine einträgliche Hofmeisterstelle für einen so geschickten Menschen, und wünsche, daß ich ihn bald wieder der Malerkunst entreißen, und den Musen wiedergeben könne." Gottsched an Flottwell, Leipzig 1. Dezember 1744. In: Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 185-196,191. 239 Auf diesen Sachverhalt bezieht sich vermutlich die leider nicht näher erläuterte Aussage: auf dem Weg nach Kassel „besucht er Gottsched in Leipzig und zeichnet sein Bildniß". Ernst August Hagen: Johann Friedrich Reiffenstein. In: Altpreußische Monatsschrift 2 (1865), S. 506-536, 509. Möglicherweise geht Hagens Mitteilung auf Danzel zurück, der, wahrscheinlich in Kenntnis des oben zitierten Briefes, schrieb: „gleich bei seiner Durchreise durch Leipzig nimmt Reiffstein ein Bildniß Gottscheds, das die Frau gemacht um ihn damit zu überraschen, mit, um es kunstgemäß zu verbessern." Danzel, S. 288. Offenbar nahm Danzel an, daß Frau Gottsched selbst die von Reiffenstein erwähnte Künsderin war.
56
RÜDIGER OTTO
pinsei eines kleinen Schülers zu vertilgen; worinne ich mich zwar mit einem erhaltenen Befehl schützen könte, den ich aber überschritten, und bis aufs Gesichte alles übrige ausgelöschet habe, um dadurch eine Übereinstimmung der Moden in Ansehung der Perrücke und Kleidung zu gewinnen weil ich fest überzeuget bin, daß der Anblick von dem Abdruk, des würdigsten Freundes, anstatt des gerechten Unwillens gegen meine Kühnheit, bey Ew: Hochedelgebohrnen viel sanftere Empfindungen erregen".240 Die große Künstlerin dürfte nach allem, was wir wissen, Frau Werner, das Bild vermutlich das 1736 entstandene Gemälde gewesen sein (Nr. 6). Oder sollte sich Reiffenstein auf ein Bild aus dem Besitz der Auftraggeberin und womöglich auf das nach Danzig gesendete Porträt Gottscheds (Nr. 3) beziehen? Im Mai 1752 kündigte Gottsched seinen Besuch in Kassel an.241 Reiffenstein, der davon durch Gottscheds Bruder erfuhr, hoffte, daß auch Frau Gottsched mit nach Kassel kommen würde. Er wollte das Ehepaar Gottsched malen.242 Offenbar wurde dieses Ansinnen wohlwollend aufgenommen, denn im nächsten Brief bekräftigte er seine Absicht und gab
240 Reiffenstein an Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Kassel 27. September 1745, UBL, 0342 X, Bl. 157-158,157vf. 241 „Allein was soll ich zu der angenehmen Hofnung sagen die mir der Herr Secretär aus seinem Schreiben mitgetheilet hat. Wir sollen so glücklich seyn Ew: Magnificentz bey uns zu sehen. ... Der Hoff wird einen Mann deßen Namen an demselben öfters rühmlich erwehnet wird, deßen Schriften daselbst täglich beliebter und bekannter werden nicht anders als mit gnädigen und vergnügten Blicken bey sich sehen [.] Das gelehrte Caßell wartet schon mit Verlangen auf die geneigte Erfüllung dieser bereits bekannten Hofnung und was ich dabey für Regungen fühle solches werde ich beßer mündlich als schriftlich bezeugen können." Reiffenstein an Gottsched, Kassel 26. Mai 1752, UBL, 0342 XVII, Bl. 283-285, 283vf. 242 Der schwer aufzuhellende Kontext dieser Ankündigung lautet: „Zu Bezeugung meines besonderen dankbaren Willens aber bin ich so frey gewesen beykommende beyde Abbildungen zu Übersenden und dieselben der Hochwehrtesten Frau Profeßorin besonders zuzueignen da meiner schlechten Arbeit, auch durch derselben gütigst übernommene Bemühung, so ansehnliche Vorzüge zugewachsen. Meiner malerischen Muse würde keine größere Ehre wiederfahren können als wenn deren Arbeit so vielen Beyfall erhalten möchte daß dieser erste Abtrag meiner neuen Schuld nicht allein mit geneigten Händen angenommen, sondern mir auch bald die Ehre gegönnet würde durch getreue Abbildungen meines höchstgeschätzten Gönner Paares ein vollkomneres Denkmahl meiner Dankbegierde zu stiften." Reiffenstein an Gottsched, Kassel 31. Dezember 1752, UBL, 0342 XVII, Bl. 661-662, 661r-v. Welche Bilder Reiffenstein bei dieser Gelegenheit nach Leipzig befördern ließ, ist nicht bekannt. Jedenfalls keine Darstellungen der Gottscheds selbst, denn Reiffenstein hofft, daß die Bilder für seine Fähigkeiten sprechen, so daß das Ehepaar sich von ihm porträtieren lassen möchte. Eine anderslautende Aussage beruht offenbar auf einem Mißverständnis dieses Textes: „Unterm 31. Dezember 1752 übersandte er dann noch die Bilder Gottscheds und seiner Frau diesen als Geschenk." August Woringer: Johann Christoph Gottscheds Beziehungen zu Kassel. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 47 (1914), S. 57-102, 69.
Gottsched-Bildnisse
57
der Hoffnung Ausdruck, daß seine „malerische Muse" gestärkt werde, um „den Apoll nebst deßen liebsten Muse zu schildern".243 Woran dieser Plan scheiterte und warum das Ehepaar sich nicht gemeinsam malen ließ, kann den Briefen nicht entnommen werden. Möglicherweise hat sich Frau Gottsched entzogen, wie sie auch einige Jahre später Reiffensteins Angebot ablehnte, sie allein zu porträtieren. Vielleicht hat sie schon 1753 die Gründe angeführt, die sie später geltend machte: „theils hielt ich mein Gesicht für zu wenig bedeutend, einen solchen Künstler zu beschäftigen; theils setzte sich meine Ungeduld, viele Stunden auf einem Ort unbeweglich angeheftet zu seyn, darwider".244 Vielleicht ist die Weigerung ein Indiz für die Distanz gegen ihren Ehemann, die in den folgenden Jahren mit wachsender Deutlichkeit sichtbar wird.245 Reiffenstein jedenfalls hat Gottsched allein porträtiert. Der Verbleib dieses Gemäldes ist unbekannt. Sicher ist, daß es nicht im Gepäck der Gottscheds war, als sie am 28. Juli,246 zwei Wochen nach der im Brief geschilderten Sitzung, von Kassel abreisten, denn Reiffenstein schrieb am 1. Oktober 1753: „Die Übersendung meiner malerischen Schuld werde noch wohl biß gegen Neujahr aufschieben müßen."247 Auch ein späterer Brief zeigt an, daß das Bild noch unfertig in Reiffensteins Atelier stand:248 Auf die Nachricht, daß in Paris ein Kupferstich auf der Grundlage seines Gemäldes angefertigt werden solle, reagierte Reiffenstein am 6. Januar 1754: „Ob nun gleich meine schlechte Arbeit diesen Vorzug nicht verdienet; so nehme ich dennoch diese mir hierunter gegönnete Ehre mit vielem Danke an ... Das hiesige Gemähide so ich nicht für den Herren Steuerraht sondern für Ew: Magnificentz gemahlet ist zwar in Öhlfarben und könte nicht allein gegen die Ankunft des Parisers völlig fertig seyn, sondern auch die hin und herreise vertragen."249 An anderer Stelle fügt er hinzu: „Der Herr Bruder ist gar nicht böse daß er das Gemähide so ich für Ew. Magnificentz und der hochgeehrtesten Frau Profeßorin in Öl mahle nicht haben soll er will mit einer Copie in Pastell 243 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 22. Januar 1753, UBL, 0342 XVIII, Bl. 39-41, 39r. 244 L. A. V. Gottsched an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig, S.Juni 1758. In: Kording, Louise Gottsched, S. 294f., 294. 245 Davon zeugen ihre späten Briefe, vornehmlich an Frau von Runckel; Gottsched selbst schreibt, sie habe ihm „in den letzten Jahren etwas von ihrer Liebe und alten Vertraulichkeit entzogen". Gottsched, Leben (Anm. 24), S. [*** ***8r]. 246 Ihrer Freundin schreibt Frau Gottsched am 8. August 1753, „daß wir den 28. Jul. aus Cassel gereiset... sind." Kording, Louise Gottsched, S. 191. 247 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 1. Oktober 1753, UBL, 0342 XVIII, Bl. 491^92, 492v. 248 Daß während der Sitzung des Modells vom Maler nur das Antlitz erfaßt wird, entsprach der üblichen Praxis, wie Kanz im Hinblick auf den namhaften Porträtmaler Anton Graff (1736—1813) festhält: „Es ist ein übliches Verfahren beim Porträtieren, zunächst die Gesichter zu einem gewissen Ausführungsgrad zu bringen, um dann unabhängig vom Modell das Gemälde vollenden zu können." Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 158. 249 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 6. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 13-14, 13r-v.
58
RÜDIGER OTTO
vorlieb nehmen[.] Ich schäme mich nur daß meine Schuld so alt wirdf.]"250 Offenbar hat über den Auftraggeber und die Bestimmung des Bildes bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Klarheit bestanden. Es scheint, daß Gottscheds Bruder Johann Heinrich, der unmittelbar nach der Abreise des Ehepaares in Kassel zum Steuerrat befördert worden war,251 berechtigte Ansprüche geltend machen konnte, daß aber auch Gottsched selbst sich als künftigen Besitzer des Bildes ansah und daß Reiffenstein eine Klärung bis zu diesem Zeitpunkt hinausgeschoben hatte und erleichtert die Entscheidung mitteilen konnte. Eines ist klar: Vollendet war das Werk noch nicht, denn Reiffenstein sichert lediglich zu, es bis zur „Ankunft des Parisers" fertigstellen zu wollen. Mit diesem Brief enden die Informationen über das Gemälde.252 Bis zum letzten der überlieferten Briefe Reiffensteins findet sich kein weiterer Hinweis über seinen Verbleib,253 auch die „Copie in Pastell" wird nicht wieder erwähnt. Ebensowenig in den Briefen der anderen Kasseler Korrespondenten — nach Gottscheds Besuch hatte sich eine Tochtergesellschaft der von Gottsched in Leipzig gegründeten Gesellschaft der freyen Künste und schönen Wissenschaften gebildet, die seit Januar 1754 regelmäßig in den Wohnungen der Mitglieder zusammenkam. Man besprach eigene Texte, verlas Gottscheds Briefe, feierte seinen Geburtstag und pflegte der Geselligkeit.254 Gottsched wurde über diese Aktivitäten von allen Beteiligten auf dem Laufenden gehalten, ihm wurden die in diesen Versammlungen vorgetragenen Texte zu kritischer Durchsicht und zur Veröffentlichung zugeschickt.255 Bei dieser ostentativen 250 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 6. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 13-14, 14r; daß Reiffenstein wenn nötig sehr zügig arbeiten konnte, erfährt man aus einem Brief, in dem er berichtet, daß ihm „Serenissimus" — der Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel (1682—1760) - „die Verfertigung dreyer Stücke von Dero Portrait en Miniature und das zwar was bey keinem Maler erhört ist innerhalb 8 Tagen anbefohlen. Ich stund mit der Sonnen auf und legte mich auch mit ihr nieder und ward zur bestirnten Zeit fertig." Reiffenstein an Gottsched, Kassel, 8. Juü 1756, UBL, 0342 XXI, Bl. 401-103, 402r. 251 Er schilderte den Hergang im Brief vom 24. August und kommentierte: „Waß ist also gewißer, als daß die Anwesenheit des Herrn Bruders, meine Beförderung beschleuniget habe." Johann Heinrich Gottsched an Gottsched, Kassel 24. August 1753, UBL, 0342 XVIII, Bl. 425^t26, 426r. 252 Im Brief vom 4. März 1754 erwähnt Reiffenstein nur den „Abris Dero Gemähides auf beykommenden Blatte", also eine Zeichnung nach dem Gemälde. Reiffenstein an Gottsched, Kassel 4. März 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 105-106,105r. 253 Der letzte überlieferte Brief Reiffensteins an Gottsched stammt vom 5. November 1756. Die Leipziger Sammlung von Briefen an Gottsched endet mit dem Jahr 1756. An anderen Korrespondenzen ist nachweisbar, daß der Briefverkehr nach diesem Zeitpunkt fortgeführt wurde. Auch Reiffenstein, der die Gottscheds 1758 besuchte (Kording, Louise Gottsched [Anm. 23], S. 294f., 294), dürfte nach 1756 Briefe mit dem Ehepaar gewechselt haben. 254 Vgl. Woringer (Anm. 242), S. 79-98. 255 Unter dem Titel Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke der Gesellschaft der freyen Künste %u Leipzig erschienen in Leipzig bei Bernhard Christoph Breitkopf 1754—1756 drei Bände mit Aufsät-
Gottsched-Bildnisse
59
Ausrichtung auf die Person Gottsched hätte sich die Ausschmückung eines Gesellschaftsraumes mit dem Bild Gottscheds angeboten. Da davon nichts verlautet, muß man annehmen, daß es nie fertiggestellt wurde und nicht an die Öffentlichkeit gelangte. Gründe sind nicht bekannt. Möglicherweise hat die Aussicht, sich mit diesem Bild in der Welthauptstadt Paris bewähren zu können oder zu müssen, Reiffenstein vor ein Qualitätsproblem gestellt. Einige Indizien sprechen dafür. Wie schon erwähnt, hat Reiffenstein auf das Angebot, sein Gemälde als Vorlage eines Kupferstichs zu verwenden, mit der Bemerkung reagiert, daß seine „schlechte" schlichte — „Arbeit diesen Vorzug nicht verdienet". Man kann das als Bescheidenheitsrhetorik ansehen, zumal er der Verwendung zustimmte. Im selben Brief argumentierte er jedoch: „Allein es ist nur ein Kopfstück ohne Hände und also dieses Umstandes wegen schon nicht wehrt daß es in Kupfer gebracht werde".256 Aus den oben mitgeteilten Briefwechsel mit Brucker ist bekannt, daß die Kupferstecher die Bildgestalt nach eigenen Vorstellungen erweitern konnten; für die Authentizität genügte ein gutes und verläßliches Porträt.257 In Anbetracht dessen wirkt Reiffensteins Argument vorgeschoben. Er hatte offenbar Zweifel an der Qualität des Bildes, konnte dies aber nicht unumwunden zugeben, wollte er Gottscheds Vertrauen in seine Fähigkeit als Maler nicht erschüttern. Andererseits lag ihm daran, die Pariser Chance wahrzunehmen, und er legte sogar Wert darauf, daß die Arbeit einem erstklassigen Kupferstecher anvertraut würde: „Nun wünsche ich auch daß Herr Wille258 in Paris ein Deutscher der größeste Kupferstecher in Portraits nicht allein in Paris sondern in gantz Europa, diese Arbeit übernehmen möge."259 Reiffenstein entging dem
256 257
258
259
zen und Gedichten, ein weiterer Band wurde vorbereitet, ist aber, vermutlich wegen des Siebenjährigen Krieges, nicht publiziert worden. In der Vorrede zum zweiten Band wurden die Gründung der Kasseler Gesellschaft und die Namen ihrer Mitglieder bekanntgegeben. Die letzten beiden Bände enthalten Beiträge aus Kassel, unter anderem Reiffensteins „Gedanken zur Aufnahme der Zeichenkunst" (2, S. 327—345) und „Gedanken von einigen verlohrnen enkaustischen Malerkünsten der Alten" (3, S. 410-433). Reiffenstein an Gottsched, Kassel 6. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 13-14, 13v. Über Martin Bernigeroths Arbeitsweise schreibt Wustmann: „Die Ölbilder, die ihm als Vorlage dienten, waren in den meisten Fällen sicher einfache Brustbilder, oft ohne Hände. Die sollten nun in ein großartiges Kniestück mit Rednergebärden und Rednergesten umgewandelt ... werden." Wustmann: Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 52. Außerdem haben auch Maler während der Sitzung häufig nur den Kopf genau ausgeführt und die übrigen Partien zunächst nur skizziert bzw. überhaupt erst später angefertigt; vgl. Anne Charlotte Steland: Menschen-Bilder. Das Bildnis zwischen Spiegelbild und Rollenspiel. Braunschweig 1992, S. 11. Reiffenstein hätte also ähnlich verfahren und das Bild komplettieren können. Vgl. Hein-Th. Schulze Altcappenberg: „Le Voltaire de l'art": Johann Georg Wille (17151808) und seine Schule in Paris. Münster 1987. Christian Wolffs Porträt wurde von Wille als Kupferstich ausgeführt; vgl. Mortzfeld (Anm. 14), Nr. 24279. Reiffenstein an Gottsched, Kassel O.Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 13-14, 13v-14r.
60
RÜDIGER OTTO
Dilemma mit dem Vorschlag, statt des Bildes eine Zeichnung als Vorlage des Kupfers anzufertigen: „Daferne Ew: Magnificentz mir aber die Größe in der es gestochen werden soll nächstens zu überschicken belieben so will ich sogleich in eben diesem Format eine reine und so viel möglich ähnliche Zeichnung in Tusch verfertigen wornach der Kupferstecher, die doch ohnedem selbst jedes Gemähide das sie nachstechen wollen erst selbst ins kleine bringen, sich viel beßer als nach dem Gemähide selbst wird richten können."260
Nr. 20. Reiffensteins Zeichnung Das Gemälde war dadurch vorerst aus dem Spiel gebracht worden, Reiffenstein selbst blieb weiterhin beteiligt. Wie wichtig ihm die Angelegenheit war, wird in der gerade 14 Tage später, am 20. Januar 1754, geschriebenen Mitteilung deutlich, er habe „bishero alle Posttage Ew: Magnificentz Befehl wegen der Zeichnung zu Deroselben Bildniße mit Verlangen entgegengesehen". Er insistierte und forderte Gottsched auf, „so bald als möglich die Größe zu Ew: Magnificentz Bildniße zuzuschicken damit ich bey der Ankunft Deroselben parisischen guten Freundes mit der Zeichnung dazu fertig seyn könne".261 Daß Gottsched diese Frage noch nicht beantwortet hatte, lag nicht an seinem Desinteresse. Er mußte vielmehr selbst erst Informationen einholen und schrieb deshalb an Friedrich Melchior Grimm. Grimm antwortete am 16. Januar,262 und Gottsched scheint die Mitteilung rasch nach Kassel weitergeleitet und zugleich mitgeteilt zu haben, daß Grimm, der im Begriff war, von Dresden nach Paris zu reisen, die Zeichnung selbst in Kassel entgegennehmen würde. Die Aussicht auf eine Begegnung mit Grimm versetzte Reiffenstein in Euphorie,263 und er gab einen Zwischenbericht über seine Bemühungen: „Die Zeichnung zu dem künftigen Kupferstiche ist schon in der Mache. Ich dencke bey dem ersten Entwurfe zu bleiben und Ew: Magnificentz als einen arbeitenden 260 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 6. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 13-14,13v. 261 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 20. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 48-49, 48v. 262 Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Dresden 16. Januar 1754. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 63f. 263 „Daß Herr Secretair Grimm, der würdige Freund ist der Ew: Magnificentz abbildung in Kupfer besorgen will, und daß ich noch dazu die Ehre haben soll, diesen rechtschaffenen deutschen Patrioten persönlich kennen zu lernen, solches ist mir um so viel angenehmer, da ich seit der Zeit, daß ich deßen Briefe in dem Mercure de France gelesen einen recht starken Zug empfunden mit diesem schönen Geiste genauer bekannt zu werden. Und ehe ich es mich versehe so soll ich dieser Wünsche theilhaftig werden. Ich wünsche nur daß es nicht eine eilfertige Durchreise seyn möge." Reiffenstein an Gottsched, Kassel 20. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 50-51, 50v-51r.
Gottsched-Bildnisse
61
und nachdenkenden Gelehrten zu schildern."264 Wenige Wochen später schickte Reiffenstein — Grimms Besuch in Kassel war nicht zustande gekommen — die fertige Zeichnung nach Leipzig. Ganz sicher war er nicht, ob sie die Erwartung Gottscheds befriedigen würde. Er wies darauf hin, daß mehrere Personen, die Gottsched während seines Besuchs in Kassel gesehen hatten, ein hohes Maß an Ähnlichkeit festgestellt hätten, bot an, bei Bedarf einen weiteren Versuch zu unternehmen, der besser gelingen würde, und hatte schließlich sogar Bedenken, daß ein Kupfer in Paris, das exakt nach der vorliegenden Zeichnung, „in dieser sitzenden Stellung", gearbeitet würde, zu kostspielig werden könnte. In diesem Zusammenhang, sofern also aus Kostengründen eine einfachere Variante eines Kupfers erwogen werden sollte, brachte er das Gemälde noch einmal ins Spiel. Es zeigt sich eine gewisse Unsicherheit, er bedauerte, daß er nicht, wie erhofft, das Für und Wider gemeinsam mit Grimm habe erörtern können.265 Die Skrupel erwiesen sich als unbegründet, Gottsched war mit der Zeichnung nicht unzufrieden. Reiffenstein wollte gleichwohl noch eine weitere Variante anfertigen, bevor Graf August Heinrich von Friesen (1728—1755) nach Paris gehen würde. Der Graf, Brigadegeneral in französischen Diensten, Dienstherr und Freund Grimms mit besten Kontakten zur vornehmen Gesellschaft, war offenbar für den Transport der Zeich264 Reiffenstein an Gottsched, Kassel 20. Januar 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 50-51, 51 r. 265 „Ein scheinet nunmehro wohl gewiß zu seyn daß Herr Grim einen anderen weg nach Paris als über Caßel nach Pans werde genommen haben. Ich stehe demnach nicht länger an Ew: Magnificentz den Abris Dero Gemähides auf beykommenden Blatte zuzustellen, mit dem wünsche daß Denenselben mein darinnen bezeugter guter wille angenehm seyn möge. Die Ähnlichkeit ist zwar nicht vollkommen allein sie ist hieselbst doch von vielen die Ew: Magnificentz nur wenige mahle gesehen haben, auch in dieser Zeichnung gefunden worden[.] Hatte ich von der Gegenwart des Urbildes selbst können begeistert werden so hätte freylich die Ähnlichkeit starker seyn müßen. Solle aber dennoch sowohl Ew: Magnificentz als der hochwehrtesten Frau Profeßorin und anderen Kennern die Unähnlichkeit zu starck seyn so erbiete mich den Kopf in ebenderselben Größe noch ein mahl zu zeichnen, welches mit weniger Mühe recht gerne von mir geschehen soll und der zweyte Versuch muß auch ohnfehlbar beßer werden als der erste. Die Stellung ist unseren hiesigen Gelehrten und Kunstkennern natürlich und anständig vorgekommen. Der Kupferstecher aber wird die hande Kleidung und das übrige meisterhafter und starker auszudrucken wißen, welches alles deßen Kunst und der dortigen Besorgung Deroselben guten Freundes überlaße[.] Hatte ich ein Urstuck eines großen Meisters nachzuahmen gehabt so würde alles beßer ausgefallen seyn. Solte aber nur ein Brustbild in Kupfer gestochen werden, weil unser Kupferstecher versichert daß in Paris diese Zeichnung schwerlich unter 400 Rthlr. von einem Wille oder anderen der stärcksten Meister gestochen werden dörfte, so müste die Wendung der Schultern anders als in dieser sitzenden Stellung seyn nähmlich so wie sie in dem hiesigen Gemähide ist welches zur lebhafteren Ähnlichkeit auch nicht wenig beytragen wird. Ich bitte nochmahls mit Dero ferneren Befehlen mich hierinnen nicht zu verschonen. Alles dieses hatte mir vorgenommen hieselbst mit dem Herren Grim persönlich zu überlegen allein nun werden wir wohl nicht mehr auf seine Ankunft hoffen dörfen." Reiffenstein an Gottsched, Kassel 4. März 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 105-106.
62
RÜDIGER OTTO
nung nach Paris vorgesehen.266 Ob diese zweite Zeichnung zustande gekommen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Auf jeden Fall gelangte eine Zeichnung in die Hände Grimms, wurde aber vorerst nicht weiter beachtet. Grimm meldete sich im September mit einer Entschuldigung für sein langes Schweigen. Ein Todesfall habe ihn daran gehindert, für Gottsched tätig zu werden. Auch jetzt kündigte er nur eine weitere Verzögerung an: Erst nach Rückkunft von einer Reise nach Lyon sei er imstande, sich bei dem Kupferstecher Wille um Gottscheds Porträt zu kümmern.267 Nach weiteren anderthalb Jahren des Stillschweigens war die Lage kaum verändert. Grimm bedauerte wiederum, daß ihn Unannehmlichkeiten und Ablenkungen und vor allem der Tod seines Förderers von Friesen in eine schwierige Lage gebracht und daran gehindert hätten, Gottscheds Wünsche zu erfüllen. Inzwischen zeichnete sich immerhin insofern ein Fortschritt ab, als Grimm berichten konnte, daß er Jakob Immanuel Wächder (1720-1791), einen Freund Willes,268 mit der Angelegenheit betraut habe. Wie Wächder mehrfach versichert habe, beabsichtige Wille, an Gottsched zu schreiben.269 Ein Brief Willes an Gottsched liegt nicht vor,270 wohl aber ein Schreiben Wächtlers. Gottsched hatte seinem ehemaligen Schüler
266 „Das Ew: Magnificentz die Abzeichnung Dero Gemähides nicht gantz und gar mißfallen solches ist mir ungemein angenehm, unterdeßen aber daß Herr Grafe von Friesen nach Paris gehet und ehe Herr Wille Zeit finden wird, das Kupferstich anzufangen, werde ich schon so viel Muße finden, eine neue und ähnlichere Abzeichnung des Kopfes in eben derselben Größe zu beliebigem Gebrauche zu überschicken." Reiffenstein an Gottsched, Kassel 7. April 1754, UBL, 0342 XX, Bl. 556-557, 557r-v. 267 Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Paris, 10. September 1754. In: Grimm, Briefe (Anm. 186), S. 65f. Der vorhergehende Brief vom 2. Mai 1754 enthält noch keinen Hinweis auf die Zeichnung. 268 Über die Beziehung Wächtler-Wille vgl. Drei Briefe von Rabner, Cronegk, und Gottsched an Wächder, nebst einigen Lebensumständen dieses Leztern. In: August Gottlieb Meißner (Hg.): Apollo. Prag und Leipzig: Martin Neureuter, 1797, 3, S. 62—95, 65f. Dort auch der Hinweis, daß in „Wächtlers Nachlaß eine Menge von Briefen" Willes „befindlich" seien. 269 „Je dois paraitre bien coupable ä Vos yeux, Monsieur, ayant differe je ne sais combien de siecles a Vous ecrire. Mais si Vous connaissiez les distractions qu'entraine le sejour de Paris et l'enchainement d'evenemens facheux que j'ai essuyes depuis mon retour de Saxe, j'obtiendrai de Votre justice le pardon que je ne puis me promettre maintenant que de Vötre indulgence. ... Peu de tems apres mon retour j'ai eu le malheur de perdre le Comte de Frise, ce qui a acheve de me mettre au desespoir et dans un derangement dont je ne suis pas encore tout ä fait sorti. Voyez, Monsieur, si tous ces malheurs joints aux embarras ordinaires et aux distractions perpetuelles de Paris, peuvent meriter quelque indulgence. Cependant je n'ai pas absolument neglige Vos commissions. J'en ai charge Mr. Waechtler qui est fort ami de Mr. Wille, et qui m'a dit plusieurs fois que cet artiste aurait l'honneur de Vous ecrire." Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Paris 22. Januar 1756. In: Literarisches Conversations-Blatt für das Jahr 1822 Nr. 18, 22. Jan. 1822, S. 69-72, 72. 270 Vgl. Johann Georg Wille: Briefwechsel. Hg. von Elisabeth Decultot, Michel Espagne und Michael Werner. Tübingen 1999.
Gottsched-Bildnisse
63
Wächtler,271 der inzwischen am Pariser Journal etranger für deutsche Literatur zuständig war,272 geschrieben273 und hatte als Antwort eine ernüchternde Nachricht über Grimms Engagement und Willes Kooperationsbereitschaft empfangen: „Die Zeichnung zu Ew. Magnif. Bildniße habe ich dem H.n Hauptmann Verdion mit gegeben. H. Grimm hat sie über Jahr und Tag bey sich behalten und wenn ich nicht von ohngefähr zu ihm gekommen wäre und von Ihnen gesprochen hätte, würde sie H. Wille vielleicht niemahls gesehen haben. Ich muß Ihnen aufrichtig sagen, daß sie dieser letzte nicht gut genug zu finden scheinet um darnach zu stechen."274 Offenbar fand sich danach niemand, der in Frankreich weitere Anstrengungen zugunsten Gottscheds unternehmen wollte, und möglicherweise lag das vor allem daran, daß 1756 im Juliheft des Mercure de France ein Artikel erschienen war, der Gottscheds Rezension einer prachtvollen französischen Ausgabe der Fabeln La Fontaines zu einer Generalabrechnung mit Gottsched genutzt hatte. Gottsched hatte an den Kupferstichen der Ausgabe etliches auszusetzen und empfohlen, das Geld für etwas besseres auszugeben. Er bezeichnete eine der Fabeln La Fontaines als widersinnig, um dagegen die einzig richtige frühe deutsche Version des Textes mitzuteilen.275 Diese national-kompetitive Tönung durchzieht den gesamten Text. Der unbekannte deutsche Absender des Briefes machte sich dies zunutze, um Gottsched selbst um jeden Kredit zu bringen. Anders als in Frankreich, schrieb er, habe die Ausgabe in Deutschland statt Beifall Kri-
271 Wächtler wurde am 19. Juli 1740 in Leipzig immatrikuliert und am 13. Februar 1744 zum Baccalaureus und Magister ernannt; vgl. Georg Erler (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559-1809. Band 3. Leipzig 1909, S. 439. Er hörte bei Gottsched Rhetorik und gehörte offenbar auch einer unter Gottscheds Leitung aktiven Rednergesellschaft an; vgl. Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten und ändern Begebenheiten in Leipzig Im Jahre 1744, S. 32f. 272 Über Wachtiers Beteiligung an dem von 1754 bis 1762 erscheinenden Journal etranger findet man unterschiedliche Angaben. Im einschlägigen Handbuch wird er unter den Mitarbeitern nicht erwähnt; vgl. Jean Sgard (Hg.): Dictionnaire des Journaux 1600-1789. Paris 1991, 2, S. 674f. An anderer Stelle heißt es über ihn: „In Gesellschaft von mehreren der teutschen und französischen Sprache kundigen Männern gab er daselbst, das Journal etranger heraus." Gotthilf Sebastian Rötger: Nekrolog für Freunde der deutschen Literatur. 4. Stück. 1799, S. 252; „In Gesellschaft von mehrern braven, beider Sprachen kundigen Gelehrten unternahm daher Wächtler das Journal etranger." Drei Briefe von Rabner (Anm. 268), S. 64. Im Journal selbst, das zahlreiche namentlich gekennzeichnete Beiträge Wächüers über die deutsche Kunst und Literatur enthält, wird Wächtler gelegentlich als „notre Cooperateur pour la partie de l'Allemagne" vorgestellt. Journal etranger. Janvier 1757, S. 117. 273 Druck in: Drei Briefe von Rabner (Anm. 268), S. 86-95. 274 Wächtler an Gottsched, Paris 18. Juli 1756, UBL, 0342 XXI, Bl. 430-431,430v. 275 Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 725-736. Schon in der ersten Ankündigung der Ausgabe schlägt die Ablehnung durch: „Das ist ein Anschlag! Fontaines Fabeln in vier Folianten, mit 276 Kupfern, und viel ändern Kupferzierrathen zu drucken! Du armer Aesop!" S. 640.
64
RÜDIGER OTTO
tik erfahren. Ironisch führte er Gottsched als (einziges) Beispiel für seine Behauptung an: „Le celebre M. Gottsched toujours attentif a preserver l'Allemagne du mauvais goüt qui regne en France, s'est particulierement distingue dans cette occasion."276 Er machte mit der Rezension bekannt und zitierte weitere mißgünstige Bemerkungen Gottscheds über Frankreich. Es war besonders delikat, daß der Verfasser auf Gottscheds Freunde in Frankreich hinwies, die dadurch stillschweigend ebenfalls der Frankophobie bezichtigt waren. Ausdrücklich denunzierte er ihre Präsentation Gottscheds als erstklassigen deutschen Autor als Fehlinformation.277 Wächtler jedenfalls und der langjährige Freund Grimm reagierten schokkiert auf den Artikel, und sie erklärten Gottsched, daß sein Ansehen in Frankreich durch diese Veröffentlichung ruiniert worden sei.278 Gottsched verteidigte sich in einem öffentlichen Schreiben an Grimm, in dem er seine langjährigen Aktivitäten zur Vermittlung französischer Kultur in Deutschland zutreffend und in angemessener Weise zur Sprache brach-
276 Lettre ä l'auteur du Mercure. In: Mercure de France. Juillet 1756. Seconde volume, S. 7988, 79. 277 Er forderte die Herausgeber des Mercure auf, seine „traduction", also die Auszüge aus Gottscheds Rezension, zu veröffentlichen. „Peut-etre fera-t'elle connoitre en France, cet Aristarque fameux que plusieurs de ses amis, etablis a Paris, depeignent comme le premier homme de l'Allemagne, & qui n'y brille certainement qu'au dernier rang." Mercure de France. Juillet 1756. Seconde volume, S. 86. 278 Jakob Immanuel Wächtler an Gottsched, Paris 18. Juli 1756, UBL, 0342 XXI, Bl. 430-431, 430v—431r. Besonders deudich ist Grimm: „Je Vous ecris, Monsieur, dans un moment oü je suis tres fache contre Vous. Vous savez combien je Vous suis attache, et combien je m'interesse a Votre reputation et ä Votre gloire. ... Aujourd'hui je trouve dans le Mercure, second volume du mois de Juillet, une lettre tres-longue contre Vous que j'ai lü avec beaucoup de chagrin, parceque je m'interesse a Vous veritablement. Je ne puis, Monsieur, que blämer ce zele inconsidere qui Vous attire tant d'ennemis et qui au bout du compte est tres-injuste. Car quand les Fra^ais diraient les dernieres horreurs de tout ce qui se fait en Allemagne (ce qu'ils sont bien loin de faire) il faudrait toujours rendre justice a leurs talent; car les injustices des autres ne sauraient autoriser les nötres et il ne convient pas a d'honnetes gens de repondre a des injures par des injures. Le public a ete mediocrement satisfait de l'edition de la Fontaine que Vous attaquez avec tant d'aigreur, mais il ne Vous pardonnera pas les invectives dont Vous avez rempli Votre critique. Si vous m'aviez cru, Monsieur, Vous auriez mis plus de moderation dans ce que Vous avez ecrit depuis cinq ans et Votre reputation s'en trouverait mieux. La lettre du Mercure dont je Vous parle, finit par ces mots: Je Vous supplie de vouloir bien publier cette traduction (c'est celle de Votre critique), Peut-etre fera-t-elle connaitre en France cet Aristarque fameux que plusieurs de ses amis etablis ä Paris, depeignent comme le premier homme d'Allemagne et qui n'y brille certainement qu'au dernier rang. Que voulez-Vous, que je dise ä cela? J'en suis tres fache pour Vous et je me console de ce qu'il-y-a de desagreable dans tout ceci pour Vous, parceque j'ai fait pour Vous inspirer d'autres sentimens et surtout plus d'equite sur le compte de ce paysci." Friedrich Melchior Grimm an Gottsched, Paris 17. Juli 1756. In: Literarisches Conversations-Blatt für das Jahr 1822 Nr. l, 8. Jan. 1822, Beüage [S. 4].
Gottsched-Bildnisse
65
te.279 Ob Grimm darauf reagiert hat, weiß man nicht. Der Abbruch der Briefe an Gottsched in der Sammlung der Leipziger Universitätsbibliothek mit dem Jahre 1756 hinterläßt auch an dieser Stelle eine Lücke. Ein Brief Gottscheds vom Anfang des Jahres 1758 kann allerdings als Indiz für die Fortsetzung des Briefwechsels angesehen werden.280
Nr. 21. Gottsched - Kupferstich Johann Martin Bernigeroths nach einer Zeichnung Reiffensteins281 Das Mißlingen des französischen Plans bedeutete nicht zugleich das Aus für die Vervielfältigung der Reiffensteinschen Vorlage. Gottsched besann sich nach den unerfreulichen Erfahrungen im Ausland auf einheimische Kräfte. Sein fünftes Rektorat im Wintersemester 1756/57 oder vielmehr, 279 Gottsched an Friedrich Melchior Grimm, Leipzig 10. September 1756. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1756, S. 791-802; deutsche Übersetzung in: Werner Kraus: Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin 1963, S. 93-102. Gottscheds Brief rief seinerseits eine polemische oder satirische Reaktion hervor, die aber vorläufig nur durch Gottscheds Beschwerde bei der Leipziger Bücherkommission vom 17. August 1757 dokumentiert ist: Gottsched schrieb, er sehe sich „genöthiget eine neuherausgekommene Schrift anzuzeigen, die meinem guten Namen so ehrenrührig, und überhaupt unsrer Universität so nachtheilig ist, daß sie den Namen einer boshaften Pasquille unstreitig verdienet." Da der Vertrieb solcher Bücher gesetzeswidrig sei, bittet er, „das so betitelte: Schreiben an den Herrn ***, oder Anmerkungen eines Freundes aus Leipzig, über Herrn Gottscheds Brief vom 10 Sept. 1756. an Hr. Grimmen in Paris. 1757. in 8. 2. Bogen stark allenthalben confisciren und wegnehmen zu lassen, auch auf den Drucker und Urheber, nach Vorschrift der Gesetze fleißigst zu inquiriren, damit beyde zu verdienter Strafe gezogen werden können". Leipzig, Stadtarchiv Tit. XLVI (F) 152, Band 7, Bl. 86r-v. Der Notar und Bücherinspektor Christian Ernst Haubold (f 1773) gab nach seinen Kontrollgängen zu Protokoll, daß die Buchhändler „davon nicht ein einziges Exemplar gehabt, noch annoch vorräthig hätten, hierüber glaubten, daß daßelbe nicht hier gedrucket sey" und daß er „auch selbst kein Exemplar angetroffen" habe. Bl. 85. 280 Gottsched an Friedrich Melchior Grimm, Leipzig Anfang 1758. In: Wilhelm Creizenach: Ein ungedrucker Brief Gottsched's an Grimm über seine Unterredungen mit Friedrich dem Grossen. In: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Classe 37 (1885), S. 308-318, 308312. 281 Vgl. Weidler, Bernigeroth (Anm. 93), S. 71. Der Kupferstich ist als Frontispiz der vierten und den folgenden Auflagen von Gottscheds Sprachkunst beigegeben; Gottsched: Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst ... bey dieser vierten Auflage merklich vermehret. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1757. Im Exemplar der Franckeschen Stiftungen (214 G 24) ist in der Signatur dieser Auflage nur der Kupferstecher am rechten unteren Rand genannt, während das Frontispiz der im Reprint verbreiteten 5. Auflage Angaben zu Maler und Stecher enthält; vgl. Gottsched: Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst... bey dieser fünften Auflage merklich verbessert. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf und Sohn, 1762 (Nachdruck Hildesheim; New York 1970).
66
RÜDIGER OTTO
wie Gottsched selbst betonte,282 die vierte Auflage der Sprachkunst waren Anlaß, bei dem bewährten Bernigeroth ein Kupfer nach der Vorlage Reiffensteins in Auftrag zu geben. Wie auch bei den anderen in Leipzig angefertigten Stichen fehlen schriftliche Dokumente über die Auftragsvergabe, die Nähe der Beteiligten erübrigte den Schriftverkehr. Es ist auch nicht feststellbar, ob Gottsched die Zeichnung nach Willes Ablehnung aus Paris zurückerhalten hatte oder ob er nach Reiffensteins früher Ankündigung auf eine andere Zeichnung zurückgreifen konnte. Da aber der Kupferstich Bernigeroths Gottsched in einer „sitzenden Stellung" zeigt und damit Reiffensteins Beschreibung seiner ersten Zeichnung entspricht, wird man diese Zeichnung als Vorlage ansehen dürfen. Gegenüber früheren Abbildungen zeichnet sich das Kupfer des Jahres 1757 dadurch aus, daß Gottsched neben dem im Bild selbst nicht dargestellten Rektorenamt sämtliche Mitgliedschaften in den mehr oder minder renommierten Akademien seiner Zeit aufführen ließ. Die Inschrift unter dem Bild lautet:283 JOANN. CHRISTOPH. GOTTSCHED. BOR[ussus] PHILOS[ophiae] ET POES[eos] Professor] P[ublicus] LIPSIENS[isJ Acad[emiamm] Reg[iae] Berol[inensisj Elect[oralis] Mogunt[inae] et Bonon[iensis] Adscr[iptus]. | Socc. [Societatum] liberal[ium] A. A. [Artium] Caesar[eae] nee non Regg. [Regiarum] Teuton [icae] Regiomfontanae] | et Götting[ensis] Membrum honorarium. | H[oc] T[empore] ACAD[emiae] LIPS[iensis] V. RECTOR. Nat[us] A[nno] MDCC. d[ie] II. Febr[uaris.]
Mitglied der Berliner Akademie war Gottsched bereits seit 1729.284 Das Aufnahmediplom für die am 19. Juli 1754 in Erfurt gegründete Kurfürstlich Mainzische Akademie nützlicher Wissenschaften285 erhielt Gottsched Mitte November 1754.286 Die Akademie der Wissenschaften in Bologna, die 1711 gegründet wurde,287 zählte ihn seit 1749 zu ihren Mitgliedern.288 Ein Jahr nach der 1752 von Gottsched gegründeten und auf dem Kupfer nicht aufgeführten Leipziger Gesellschaft der freyen Künste war die Augs282 Vgl. Anm. 298. 283 Die Auflösung der Abkürzungen erfolgt nach Mortzfeld, Beschreibungen (Anm. 14) Nr. 8043. 284 Vgl. Werner Hartkopf: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Berlin 1992, S. 121. 285 Vgl. Ludwig Hammermayer: Gründungs- und Frühgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Kallmünz 1959, S. 32-34. 286 Vgl. Johann Wilhelm Baumer an Gottsched, Erfurt 15. November 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 524 und Gottscheds Dankschreiben an Johann Wilhelm Baumer, Leipzig 19. November 1754, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Slg. Autogr.: Gottsched, Johann Christoph, Bl. 9. 287 Conrad Grau: Berühmte Wissenschaftsakademien. Leipzig 1988, S. 301. 288 „Der Herr Prof. Gottsched und der Herr Prof. Hundertmark sind in die Akademie der Wissenschaften zu Bologna aufgenommen worden." Vergnügte Abendstunden, in stillen Betrachtungen über die Vorfälle in dem Reiche der Natur, Künste und Wissenschaften zugebracht. 2. Theil. Erfurt: Johann Heinrich Nonne, S. 128 (12. April 1749).
Gottsched-Bildnisse
67
burger Gesellschaft gleichen Namens entstanden. Sie erhielt am 3. Juli 1755 einen Schutzbrief des Kaisers und durfte sich deshalb kaiserliche Akademie nennen, genoß allerdings schon unter den Zeitgenossen keinen guten Ruf.289 Gottsched wurde, nachdem er einer entsprechenden Anfrage des Gründers Johann Daniel Herz (1727-1792) zugestimmt hatte, „unavoce et ore, als Ehren Mittglied aufgenommen".290 Der königlichen Deutschen Gesellschaft in Göttingen gehörte Gottsched seit 1748 an,291 die durch ein Diplom des Königs Friedrich II. privilegierte Königsberger Deutsche Gesellschaft292 zählte Gottsched zu ihren Ehrenmitgliedern.293 Die Nennung der Mitgliedschaften war durchaus üblich294 und entsprach dem Ziel, der Öffentlichkeit ein repräsentatives Bild des Dargestellten zu vermitteln. Für Gottsched mag es nach den enttäuschenden Erfahrungen in Frankreich und angesichts seiner angefochtenen Stellung in Deutschland ein zusätzliches Bedürfnis gegeben haben, auf diese Weise die offiziellen Kennzeichen seiner Bedeutung sichtbar zu machen. Im Bekanntenkreis stieß das Bild auf reges Interesse. Der Wittenberger Mathematikprofessor Johann Daniel Titius (1729—1796), der erst jüngst mit Gottsched in Briefwechsel getreten war, berichtete: „Ich hatte Dero überaus schön getroffenes Bildniß kaum unserm jungen H.n Weikmann gezeiget, als er es mir mit Gewalt wegnahm, und es mir nicht eher wiedergab, bevor ich ihm versprach für ihn eines bey E. Magnif. gehorsamst auszubitten."295
289 Hammermayer (Anm. 285), S. 29-32. 290 Johann Daniel Herz an Gottsched, Augsburg 26. Dezember 1755, UBL, 0342 XX, Bl. 530-531, 530v. 291 Wolfram Suchier: Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zu Götringen von 1738 bis Anfang 1755. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Niedersachsen 81 (1916), S. 44— 124, 67 Nr. 62. 292 Vgl. Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 204), S. 28-30. 293 Samuel Göttlich Wald: Geschichte und Verfassung der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen. Königsberg: Härtung, 1793, S. 14. Die Mitgliedschaft in der interkonfessionellen Olmützer Societas ignotorum wird nicht erwähnt, da diese Sozietät zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wirkte; vgl. Hammermayer (Anm. 285), S. 10-12. Einige Monate nach ihrer Gründung wurde Gottsched auch in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen; vgl. Johann Georg von Loris Begleitbrief zum Aufnahmediplom vom 4. Dezember 1759. In: Max Spindler (Hg.): Electoralis academiae scientiarum Boicae primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1959, S. 228f. 294 Vgl. Peter Berghaus: Porträtarchiv Diepenbroick. 1982, S. 20. 295 Johann Daniel Titius an Gottsched, Wittenberg 4. März 1757, Tartu, Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. Phil. Band III, Bl. 396-397, 397r. Vermutlich bezieht sich Titius auf Gabriel Joachim Weickhmann (1734—1792) aus Danzig, der seit 1755 in Wittenberg studierte; vgl. Fritz Junke (Bearb.): Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe Teü 3 (1710-1812). HaDe 1966, S. 495, über Weickhmann vgl. Danziger familiengeschichtliche Beiträge 3 (1938), S. 15, Nr. 158.
68
RÜDIGER OTTO
Nr. 22. Luise Adelgunde Victorie Gottsched — Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth 1757 nach dem Gemälde Elias Gottlob Haußmanns296 Über die Umstände der Entstehung dieses Kupferstichs im Jahr 1757 ist nichts bekannt. Möglicherweise wurde er gleichzeitig mit Gottscheds Kupfer vom selben Jahr in Auftrag gegeben. Daß, anders als bei ihrem Mann, kein neues Bild zur Verfügung stand, sondern nur Haußmanns schon zweimal und auch von Bernigeroth selbst als Stichvorlage benutztes Porträt (Nr. 14), könnte für Bernigeroth Anlaß gewesen sein, seinerseits für eine Abwechslung und reichere Bildgestaltung zu sorgen. Vielleicht entsprach es dem Wunsch der Dargestellten, nicht auf die Bücher- und Gelehrtenexistenz reduziert zu werden und die porträtierte Person mit dem Blick ins Freie in einen weiteren Horizont einzuzeichnen. Der Kupferstich von 1757 wurde — unter Hinzufügung der Lebensdaten in der Inschrift — als Frontispiz zur posthumen Sammlung von Gedichten der Frau Gottsched einem größeren Publikum zugänglich gemacht.297 Der Kupferstich von 1757 selbst scheint eine Rarität zu sein. In der Wolfenbütteler Sammlung ist er nicht enthalten, und auch in den anderen genannten Katalogen wird er nicht aufgeführt. Am mangelnden Willen zur Verbreitung kann es nicht liegen, denn der Kupferstich der Gottschedin wurde zusammen mit dem ihres Mannes kurz nach der Entstehung offenbar häufiger verschickt.298 Zu den Empfängern gehörte auch die Nürnberger „Muse" Maria Regina Thomasius (1701-1768).299 Gottscheds hatten die künstlerisch aufgeschlossene Frau während der Wien-Reise des Jahres 1749 kennen und schätzen gelernt und danach einen offenbar regen Briefwechsel mit ihr unterhalten, von dem allerdings nur einige Briefe 296 Verzeichnet bei Weidler, Bernigeroth (Anm. 93), S. 98. 297 „Nata D.XI.Apr.1713. Denata D. XXVI. Jun. 1762." L. A. V. Gottsched, Kleinere Gedichte (Anm. 24). 298 „Beygehende Kupfer bitte zu geneigtem Andenken gütig aufzunehmen." Gottsched an Gerhard Friedrich Müller, Leipzig 22. April 1757, St. Petersburg, Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften, F. 21, op. 3. Nr. 102, Bl. 5-6, 6r, Druck (mit abweichendem Wortlaut): Ulf Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland. Berlin 1966, S. 111. Müller dankte „für die übersandten zwey Portraits, welche jetzt mein Museum zieren". Müller an Gottsched, 2./13. September 1757. In: Lehmann, Gottschedkreis, S. 100. Mit dem Brief an Müller geht eine weitere Sendung nach St. Petersburg: „Indessen lege ich ein Kupfer bey, welches zur IV. Aufl. meiner Sprachk. gestochen worden." Gottsched an Jakob von Stählin, Leipzig 22. April 1757. Tartu, Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. Phil. Band II, Bl. 144v. 299 Emil Reicke (Hg.): Neues aus der Zopfzeit. Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller und dessen seltsame Lebensschicksale. Leipzig 1923, S. 31.
Gottsched-Bildnisse
69
überliefert sind.300 Es ist auch kein Brief der Frau Thomasius, der über die Kupfer in ihrem Besitz unterrichtet, sondern ein Schreiben ihres Verwandten, des Nürnberger Zeichners, Justizrates und Naturforschers Martin Frobenius Ledermüller (1719-1769). Nach einem Besuch schrieb Ledermüller mit der seinen Briefen an Gottsched eigentümlichen Exaltation: „Ich sähe bey der fräul. von Thomasius, die so niedlich als künstlich gefertigte und recht wohlgetroffene Abbildung zweyer Gelehrten, welche unserm Deutschland Ehre machen und in der gantzen gelehrten Welt Sich Ruhm und Hochachtung, durch Ihre Eigene Stärcke, erworben haben; Ich sähe den großen Gottsched, den Liebling des grösten Königes,301 die Zierde Deutschlands und Seine unschätzbare und eben so große Freundin, mit würdigen Lorberen umgürtet, gecrönt und geschmücket. Ohngeachtet meine kleine Sammlung auserleßener Kupferstiche, biß daher von allen Kennern geprießen worden, so ist sie mir doch eckelhafft und wird mir ewig gleichgültig bleiben, solange ich diese zwey Meisterstücke der gütigen 300 Vgl. Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten^ Lexikon. 4. Theil. Nürnberg; Altdorf: Lorenz Schüpfel, 1758, S. 31. In seinem letzten überlieferten Brief an Ledermüller bat Gottsched, Frau Thomasius „zu bewegen, daß Sie mir die Abschriften, oder die Originale von den Briefen meiner sei. Fr. gütigst zukommen lasse. Denn ebenso, wie sie es damit halten wird, werde ich es auch mit den Ihrigen machen." Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig 18. Januar 1764, Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 106-107, 107. Ledermüller antwortete: „Zu denen Abschrifften habe ich Sie nicht erbitten können, vielmehr soll ich Ew. Wohlgebohrn in Ihrem Namen ersuchen, die Originalbriefe der Fräulein, welche Ew. Wohlgebohrn unter denen übrigen häuffigen Briefen der hochseel. Frau Gemalin finden werden, um so mehr gütigste zurückzuschicken, je heiliger beede vornehmen Freundinnen, solches einander zugesichert haben." Ledermüller an Gottsched, Nürnberg 28. Februar 1764, Tartu, Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. cel., Bl. 206f., 206v. Die Briefe der Maria Regina Thomasius an Frau Gottsched sind nicht überliefert; erhalten sind vier ihrer Briefe an Gottsched und drei Briefe der Frau Gottsched an sie. 301 Über seine Unterredungen mit dem preußischen König Friedrich II. berichtete Gottsched in mehreren Briefen und schließlich auch in seiner Zeitschrift: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1758, S. 122-138, 141-152; vgl. Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 10—12. Ledermüller reagierte überschwenglich auf die Nachricht von diesem Treffen, die er nicht von Gottsched selbst erhalten zu haben scheint: „Der Größte Friederich hat wohl mit allen Seinen unsterblichen Heldenthaten nicht so viel Aufsehen in der großen und politischen Welt gemacht, als dießer zweyte Cassar durch die Unterhaltung mit Ew. Hoch=Wohlgebohrn in Leipzig [...] Sich auch zu gleicher Zeit in der gelehrten Welt Bewunderung zugezogen hatte. Gantz Deutschland unterhält sich mit dieser großen Entrevenüe und man beneidet zum Theil Ew: Hoch=Wohlgebohrn wegen des Ruhms und der Ehre so Ihnen dadurch bey allen Kennern ächter Verdienste und wahren Verehrern großer Gelehrten zugewachßen." Ledermüller an Gottsched, Nürnberg 22. November 1757, Tartu, Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. cel., Bl. 185-186, 185r. Andernorts urteilte man anders über das Treffen: „Was sagen Sie zu der Ehre, die Friedrich, der größte Held und witzigste Kopf, dem dümmsten Dichter (Gottsched) erwiesen? Wie unerträglich wird nun dieser Mann sein, nachdem ihm Friedrich ein Gedicht zugeschrieben und das seinige gut aufgenommen hat?" Johann Georg Sulzer an Gleim, 6. Dezember 1757. In: Gustav Berthold Volz (Hg.): Friedrich der Große im Spiegel seiner Zeit. Berlin 1901, Band 2: Siebenjähriger Krieg und Folgezeit bis 1778, S. 119.
70
RÜDIGER OTTO
Natur welche nur alle hundert Jahre der Welt geschenckt werden, nicht im eigenen Besiz haben und damit prangen darff."302 Er bat Gottsched um die Zusendung der Stiche, Gottsched schickte sie bereits eine Woche später los und wehrte die großen Worte bescheiden ab: „Eure Hochedeln thun den schlechten Abbildungen, so Sie bey dem Fräul. Thomasius gesehen gar zu viel Ehre an. Sie stehen Denenselben hiermit zu Diensten, und sollen von unsrer Ergebenheit gegen Dieselben Zeugen seyn. Dero Ausdrücke von uns sind viel zu vortheilhaft, als daß wir sie annehmen könnten. Minuit praesentia famam, würde es heißen, wenn E. H. uns persönlich kennen sollten."303 Durch den Hinweis auf die Lorbeerblätter kann das Bild zweifelsfrei als der Bernigerothsche Kupferstich von 1757 identifiziert werden. Sechs Jahre später, nach dem Tod seiner Gemahlin, beauftragte Gottsched Ledermüller, Frau Thomasius „zu versichern, daß nächste Messe das Bildniß der Seligen unfehlbar folgen soll".304 Da präzisere Angaben fehlen, vermutet man zunächst, es könne sich um ein unbekanntes weiteres Bildnis handeln, oder der in Besitz der Thomasius befindliche Kupferstich habe als Grundlage für die Replik von 1763 gedient und solle der Besitzerin wieder zugestellt werden. Wahrscheinlich jedoch hat sie sich in Kenntnis des geplanten Neudrucks ein Exemplar des Titelkupfers erbeten, und Gottsched stellte ihr dies im Brief an Ledermüller in Aussicht.
Nr. 23. Gottsched in der Karikatur Nachdem im Reformationsjahrhundert und in den konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts Karikaturen als Mittel in großem Umfang eingesetzt wurden, scheint man im 18. Jahrhundert davon zunächst keinen Gebrauch gemacht zu haben. In den einschlägigen Untersuchungen wird nur WiUiam Hogarth (1697—1764) genannt, in Deutschland läßt man die Karikatur dieses Jahrhunderts zumeist mit Daniel Chodowiecki (1726-1801) beginnen.305 Die Polemiken und Satiren 302 Martin Frobenius Ledermüller an Gottsched, Nürnberg 20. Januar 1758, Tartu, Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. cel., Bl. 189-190,190r. 303 Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig 27. Januar 1758, Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 72-74. 304 Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig 08. März 1763, Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 104-106,105. 305 Vgl. Eduard Fuchs: Die Karikatur der europäischen Völker vom Altertum bis zur Neuzeit. Zweite Auflage. Berlin 1906, besonders S. 104—124 („Das Zeitalter des Absolutismus Deutschland, Italien und Frankreich"); Werner Hofmann: Die Karikatur von Leonardo bis Picasso. Wien 1956; Hans Dollinger: Lachen streng verboten. Die Geschichte der Deutchen im Spiegel der Karikatur. München 1972; Georg Pütz: Geschichte der europäischen Karikatur. 2. Auflage. Berlin 1980: Deutschland im 18. Jahrhundert kommt nicht vor;
Gottsched-Bildnisse
71
von und gegen Gottsched und seine Schule karikieren auf der verbalen Ebene ohne jedes Maß. Bildkarikaturen hingegen sind nicht überliefert. Auch die Existenz zeichnerischer Karikaturen Gottscheds ist nur durch einen Bericht des Berliner Schriftstellers und Verlegers Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811) bekannt. Als Lessing sich in Berlin aufhielt, wollten Nicolai und Lessing „zusammen ein burleskes Heldengedicht auf Gottsched und auf die Reimer aus seiner Schule machen".306 Die Satire wurde nicht geschrieben. Nach Nicolais Inhaltsangabe sollte Gottsched als eine Art Don Quichotte im Kampf gegen die durch Klopstocks Poesie in die Welt gekommenen „Seraphe und Engel" verschiedene Abenteuer bestehen. Die Zeichnungen für die geplanten Kupferstiche lagen bereits vor. Unter anderem wurde Gottsched auf dem Theater gezeigt, nachdem er einer Truppe von Wanderkomödianten angeboten hatte, die Rolle der jugendlichen Portia bei der Aufführung seines eigenen Trauerspiels Der sterbende Cato zu übernehmen. „Ich erinnere mich noch, wie komisch sich auf der Zeichnung ... die große dicke Figur in römischen Weiberkleidern ausnahm. Sie war vorgestellt im zweyten Auftritte des zweyten Aufzugs, wo sie zu sagen hat: Wie wenig kennst du doch den Grund von meiner Pein! ... Diese Verse sollten unter den Kupferstich gesetzt werden. Vor der Porcia saß im Einhelferloche Hanswurst mit dem spitzen Hute auf dem Kopfe als Einhelfer, an den die Rede gerichtet schien. Der Waffenträger war vorn im Parterre im Profil zu sehen, vor Bewunderung den Mund öffnend und die Hände erhebend."307 Nach Nicolais Angabe stammen die Zeichnungen von dem Gutsbesitzer und Schriftsteller Georg August von Breitenbauch (1731—1817), der zum Berliner Kreis um Lessing, Moses Mendelssohn (1729-1786) und Nicolai zählte.308 Erhalten hat
Severin Heinisch: Die Karikatur. Über das Irrationale im Zeitalter der Vernunft. Wien; Köln; Graz 1988; Gisold Lamtnel: Karikatur der Goethezeit. Berlin 1992; Gisold Lammel: Deutsche Karikaturen. Vom Mittelalter bis heute. Stuttgart; Weimar 1995, stellt S. 112—134 einige Karikaturisten aus dem 18. Jahrhundert vor; Lexikon der Kunst 3 (1991), S. 648— 651; Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst 6 (1994), S. 307-311. Die Beigabe satirischer Kupferstiche war in den Rezensionszeitschriften bis ins erste Viertel des 18. Jahrhunderts gebräuchlich, scheint aber danach vermieden worden zu sein; vgl. Habel (Anm. 103), S. 190E, 199-204. 306 Gotthold Ephraim Lessings Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Nicolai. Nebst einigen Anmerkungen über Lessings Briefwechsel mit Moses Mendelssohn. Berlin; Stettin: Friedrich Nicolai, 1794, S. 494-^-97, 494; Abdruck auch in Richard Daunicht: Lessing im Gespräch: Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 90—93. Nicolai datiert die Ereignisse auf die Jahre 1756 bis 1757; da Lessing in dieser Zeit nicht in Berlin war, dürfte der Plan in die vorhergehende Zeit gehören. 307 Lessings Briefwechsel (Anm. 306), S. 497. 308 Franz Scheppler: Biographie des Herrn Georg August von Breitenbauch. [Um 1810].
72
RÜDIGER OTTO
sich von den Abbildungen nichts, und Breitenbauch seinerseits hat bestritten, diese Karikaturen jemals gemacht zu haben.309
Nr. 24. Porträt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach der Zeichnung eines Grabdenkmals von Friedrich August Krubsacius In der Biographie, die Gottsched nach dem Tod seiner Gemahlin veröffentlicht hat, kündigte er ein Denkmal an, das er „in unsrer akademischen Kirche, über ihrem Begräbnisse ... werde aufrichten lassen".310 Die Vorbereitungen waren schon relativ weit gediehen. Gottsched hatte Vorstellungen über das Material entwickelt und sich nach dem geeigneten Marmor erkundigt.311 Mit der Gestaltung des Denkmals war der Dresdner Architekt Friedrich August Krubsacius (1718-1789) beauftragt worden, der bereits als Mitarbeiter an Gottscheds Handlexicon^2 tätig gewesen war.313 Für die Gestaltung des Grabdenkmals hatte er sich möglicherweise deshalb empfohlen, weil er kurze Zeit vorher den Sarkophag für die in Leipzig verstorbene Herzogin Johanna Magdalena von Kurland (1708— 1760) gestaltet hatte.314 Gottsched wollte gemeinsam mit ihm „den Schluß fassen, was für Stücke und Farben ich nöthig habe, und wo sie ausgearbeitet werden sollen", und stellte fest: „Er ist ein vortrefflicher Meister in
309 Vgl. Erich Schmidt: Ein Brief Lessings: In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 2 (1889), S. 271-275, 273. 310 Gottsched, Leben (Anm. 24), S. [*** ***8r] (AW 10/2, S. 583). 311 Vgl. die Briefe an Ledermüller vom 25. November 1762, 22. Januar und 8. März 1763, Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 100-106. 312 Gottsched, Handlexicon (Anm. 50). 313 Walter May: Krubsacius. In: NDB 13 (1982), S. 93f. 314 Wustmann, Der Leipziger Kupferstich (Anm. 27), S. 55. Die Herzogin lebte nach dem Tod ihres Mannes 1737 „fast beständig in Leipzig", hatte ihr „Quartier in dem prächtigen Hohmannischen Hause auf der Catharinenstraße" und wurde als geborene Herzogin von Weißenfels in der Fürstengruft der Weißenfelser Schloßkirche begraben; vgl. Der mit denen neuesten Stadt= Land= und Weltgeschichten beschäftigte Annaliste 14. T. Leipzig: Gottfried August Stopffei, 1760, S. 162; zur Fürstengruft und der Anordnung der Sarkophage Bernhard Mai: Das Erbbegräbnis der regierenden Herzöge zu Sachsen-Weißenfels. In: 300 Jahre Schloß Neu-Augustusburg, 1660—1694. Residenz der Herzöge von SachsenWeißenfels. Weißenfels 1994, S. 77-84, 80 und 83, Nr. 42. Frau Gottsched war schon in Danzig mit ihr bekannt geworden und hatte ihr eine ihrer ersten Veröffentlichungen gewidmet; vgl. ihre Briefe vom 6. Juni 1733 und 12. März 1735. In: Kording, Louise Gottsched, S. 46 und 88f.
Gottsched-Bildnisse
73
solchen Dingen."315 Der Plan wurde nicht verwirklicht, eine Abbildung des geplanten Denkmals wurde in der Biographie veröffendicht. Der Kupferstich stammt wiederum von Bernigeroth. Inwieweit das in der Miniatur dargestellte Profilbild realistisch oder eher idealtypisch ist, kann nicht entschieden werden. Daß es jedoch die Verstorbene darstellt und daß mit Bernigeroth einer der besten Kenner ihrer Physiognomie die Arbeit angefertigt hat, steht außer Frage.
Schlußbemerkung Es ist auffallend, daß Gottsched und ebenso seine Frau vorwiegend mit Insignien der Gelehrsamkeit dargestellt sind. Der Gottsched des Theaters, der Verfasser moralischer Wochenschriften, die bei allem moralischen Impetus doch das Ziel einer unterhaltsamen Aufklärung verfolgten, mit versteckten Rollen spielten, Eleganz, Weitläufigkeit und Lebensart verkörpern sollten, der Satiriker Gottsched, das Mitglied der Scherzenden Gesellschaft und der Mitverfasser der Neufränkischen Zeitungen,316 der Hauptmann der rokokoverspielten Alethophilengeselligkeit317 - im Bild bleibt davon nicht allzuviel übrig. In Hinblick auf Dichterbilder des 16. und 17. Jahrhunderts schrieb Erich Trunz: „Die Männer, welche wir heute als Schriftsteller jener Zeit bezeichnen, waren für die Zeitgenossen in erster Linie Pastoren, Professoren, Stadträte usw. und sind dementsprechend mit würdigem Ausdruck und in guter Haltung dargestellt."318 Es scheint, daß diese „dem höfischen Standesporträt"319 verpflichtete bildnerische Darstellung auch noch dem Repräsentationsbedürfnis bürgerlicher Eliten der Gottschedzeit entsprochen hat, so daß Individualität und Distanz gegenüber gesellschaftlichem Rollenverhalten für die Bildgestaltung irrelevant waren. Dies ist nicht allein und vermudich noch nicht einmal zuerst dem Inszenierungswunsch der Porträtierten zuzuschreiben, sondern entspricht der Formensprache ebenso wie der Theorie und Konvention der Porträtkunst, wie sie für die Zeit noch verbindlich waren.320 Außerdem ist 315 Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig 8. März 1763. In: Reicke, Zopfzeit (Anm. 299), S. 104-106. 316 Vgl. Waniek, S. 238-240, 260, 309; Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Tübingen 2002, S. 204. 317 Döring, Beiträge zur Geschichte der Alethophilen (Anm. 77), S. 114—116. 318 Trunz, Deutsche Schriftsteller (vgl. Anm. 158), S. 13. 319 So Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 53 im Hinblick auf das Gottsched-Porträt im Brucker-Haidschen Bilder=sal. 320 Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 59-69. Auf den folgenden Seiten geht Kanz auf gegenläufige Tendenzen und den allmählichen Wandel der Konzepte ein; vgl. dazu auch Andrea M. Kluxen: Das Ende des Standesporträts. Die Bedeutung der englischen Malerei
74
RÜDIGER OTTO
für jeden einzelnen Fall die Funktion zu bedenken, für die die Bildnisse angefertigt wurden. Wenn Gottsched als Rektor dargestellt wurde, dann bestand das Ziel der Wiedergabe darin, die Dignität des Amtes im Amtsinhaber zum Ausdruck zu bringen. Die Person wird durch das Amt und seine soziale Geltung qualifiziert, dynamische Elemente wie persönliche Leistung, Konkurrenz, Anstrengung und Kompetenz sind in der statuarischen Erscheinung der Magnifizenz als deren Fluchtpunkt und Belohnung aufgehoben und müssen nicht gesondert ins Bild gebracht werden. Die Deutschen Acta Eruditorum und die Zuverläßigen Nachrichten waren auf die Wiedergabe von Gelehrtenbildern ausgerichtet, die einer traditionellen, über Jahrhunderte konservierten Gestaltung verpflichtet waren.321 Auch der Brucker-Haidsche Bi/der—sa/ hielt sich an ein strenges Bildprogramm, das für individuelle Besonderheiten keinen Raum eröffnete. Vermutlich ist den Graphiken des Bilder—sals der längerfristige Erfolg versagt geblieben, weil diese konservative Bildgestalt dem sich verändernden Geschmack seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr entsprach.322 Noch auffälliger ist die Engführung auf Gelehrsamkeit bei Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Das trifft vielleicht weniger auf das unprätentiöse Gemälde Haußmanns (Nr. 12) und den danach gefertigten ersten Bernigerothschen Kupferstich (Nr. 14) zu. Um so mehr aber werden die beiden anderen Graphiken von den Merkmalen der Gelehrsamkeit beherrscht (Nr. 13 und 22). Frau Gottsched wird durch die Einbettung in eine stattliche Anzahl von Folianten im Bild auf das fixiert, was sie gelegentlich als „Galeerenarbeit" den „Süßigkeiten der ... Freyheit" entgegenstellte.323 Natürlich, Schreiben war ihr Metier, und ihre großen Übersetzungsprojekte wie die Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften %u Paris*24 sind ohne Zweifel Teil einer Welt der Buchgelehr-
321
322 323
324
für das deutsche Porträt von 1760 bis 1848. München 1989, besonders S. 90-93; über die Individualisierung der Bildnisse, die aber, zumindest im höfischen Umfeld, nicht zugleich den Verzicht auf Standessymbole beinhaltete, vgl. Michael Krapf: Das Porträt 1700-1840: Die Konzentration auf das Antlitz als „Spiegel der Seele". In: Sabine Grabner und Michael Krapf (Hg): Aufgeklärt bürgerlich. Porträts von Gainsborough bis Waldmüller 1750—1840. Eine Ausstellung der Österreichischen Galerie Belvedere vom 25.10.06 bis 18.02.07. München 2006, S. 9—25. Das ständische Gelehrtenporträt ist in Ausstellung und Katalog nicht mehr vertreten. Vgl. Birgit Dahlenburg: Universitäre Ahnengalerien. Die Greifswalder Bildungselite im Porträt. In: Alvermann; Dahlenburg, Greifswalder Köpfe (Anm. 226), S. 7S. 7-13, 7 und 9-13. Vgl. Kanz, Dichter und Denker (Anm. 131), S. 53f. Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig 16. März 1754. In: Kording, Louise Gottsched, S. 207£, 207; vgl. auch den Brief vom 22. Mai 1753. In: Kording, Louise Gottsched, S. 179f. Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris ... Aus dem Französischen übersetzet von Luisen Adelgunden Victor. Gottschedinn. 10 Bände. Leip-
Gottsched-Bildnisse
75
samkeit. Aber was sie als Schriftstellerin auszeichnet und ihr eine eigenständige Bedeutung jenseits der Schreibwerkstatt Gottscheds verleiht, ist der neuartige klare, persönliche und ironische Stil der Briefeschreiberin, es ist ihre Position als Komödienautorin und Satirikerin. Die Bildgebung läßt davon noch nicht einmal etwas erahnen. Es könnte sein, daß das Porträt des Ehepaares, wenn es denn Gottsched und seine Frau darstellt, mit der Umstellung von Repräsentation auf Intimität, von Gelehrsamkeit auf zärtliche Aufmerksamkeit, von Bedeutungsschwere auf Verspieltheit die sonst vernachlässigten Seiten des Ehepaares ins Bild setzen sollte.
zig: Johann Paul Krauß, Buchhändler in Wien, 1749—1757. Der aus Zusätzen und Register bestehende Band 11 von 1757 wurde im Auftrag von Frau Gottsched von Johann Jakob Reiske ausgeführt.
76
R DIGER OTTO
Bildanhang
,.,ι Λιίΐιιη v DU :;u ,\ lib r on c>!ojollicbaft ..^ruffia "ut
Nr. 1: Johann Christoph Gottsched nach einem verschollenem Bild aus dem Besitz der K nigsberger Altertumsgesellschaft Prussia, unbekannter K nstler, Formatangaben sind nicht berliefert. Vorlage: Eugen Reichel: Gottsched. Bd. 1. Berlin 1908, Frontispiz Bildunterschrift: Johann Christoph Gottsched als Mann von 30 Jahren nach einem, der Gesellschaft „Prussia" zu K nigsberg geh renden, Kleinbildnis
Gottsched-Bildnisse
Srnfe gefcown*
Nr. 2: Luise Adelgunde Victorie Gottsched nach einem verschollenem Bild aus dem Besitz der Königsberger Altertumsgesellschaft Prussia, unbekannter Künstler, Formatangaben sind nicht überliefert. Vorlage: Eugen Reichel: Gottsched. Bd. 1. Berlin 1908, nach S. 736 Bildunterschrift: Luise Adelgunde Victoria Gottsched geborene Kulmus nach einem, der Gesellschaft „Prussia" zu Königsberg gehörenden, Kleinbildnis
78
RÜDIGER OTTO
Nr. 5: Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched, unbekannter Künstler, Mitte des 18. Jahrhunderts, Öl auf Leinwand, 110 84,8 cm Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie
Gottsched-Bildnisse
79
Nr. 7: Gottsched - Kupferstich von Johann Christoph Sysang nach einem Gem lde der Anna Maria Werner Frontispiz in: Gottsched: Gedichte. Leipzig 1736. Platte 18,3 χ 10,5 cm, Bild 17,7 χ 10 cm Inschrift: Joannes Christophorus | Gottsched. | Borussus. Signatur: A. M. Wernerin pinxit. [rechts] J. C. Sysang. sc: Lips: 1736 Vorlage: UBL, B. S. T. 8° 241
80
RÜDIGER OTTO
Nr. 10: Gottsched während seines ersten Rektorats (Wintersemester 1738/39) - Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach einem Gemälde Ellas Gottlob Haußmanns Platte: 17,5 10,8 cm, Bild: 17,0 10,2 cm Inschrift: Joann.Christophorus Gottsched. h.t.Acad.Lips.Rector. Signatur: E.G.Hausmann pinx. [rechts:] M.Bernigerothi filius sc.1739. Vorlagen: Halle, Universitätsbibliothek, Vc 137, G 80; Titelblatt mit Frontispiz nach einem Exemplar des Antiquariats Harteveld Rare Books
Gottsched-Bildnisse
81
Nr. 11: Gottsched - Kupferstich von Johann Christoph Sysang nach einem Gemälde Elias Gotdob Haußmanns Frontispiz in: Deutsche Acta Eruditorum. 238. Theil. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, 1739 Bild: 14,5 9,0 cm Inschrift: Johann Christoph Gottsched | Log: et Metaphys: in Acad: | Lipsiensi Professor Signatur: Sysang sc. 1739 Vorlage: UBL, Litg. 402bh
82
RÜDIGER OTTO
Nr. 12: Luise Adelgunde Victorie Gottsched - Nicht signiertes Gemälde von Elias Gottlob Haußmann, vermutlich 1739, Öl auf Leinwand, 79,5 64,5 cm Kunstbesitz der Universität Leipzig, Inventarnr. 1951:129
Gottsched-Bildnisse
Nr. 13: Luise AdeLgunde Victorie Gottsched - Schabkunstblatt von Johann Jacob Haid nach einem Gemälde Elias Gottlob Haußmanns In: Bilder=sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter Schrifft=steller. 1. Zehend. Augsburg: Johann Jacob Haid, 1741. Blattmaß 37 23,3 cm. 31,1 18, 8 cm Inschrift: LUDOVICA ADELGUNDA | VICTORIA KULMIA. | loh. Chr. GottschecUi Profess. Lipsiensis | Conjux | nata Gedani d. XI. April MDCCXIII. Signatur: Haussmann Pictor Reg. Pol. pinxit. [rechts:] loh. lac. Haid Sculps, et excud. Aug. Vindel. Vorlage: Kunstbesitz der Universität Leipzig, Inventarnr. 1766/60
83
84
RÜDIGER OTTO
Nr. 14: Luise Adelgunde Victorie Gottsched — Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach einem Gemälde Elias Gotdob Haußmanns Frontispiz in: Zuverläßige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften. 14. St. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, 1741. 11,1 8,7 cm Inschrift: Luise Adelgunde Victoria | Gottsched | gebohrne Kulmus Signatur: Gemahlt von E. G. Hausmann. | Königl. Pohl. Hof-Mahler [rechts:] Gemacht von J. M. Bernigeroth. Vorlage: UBL, Dt. Zs. 848
Gottsched-Bildnis se
85
Nr. 15: Gottsched - Schabkunstblatt von Johann Jacob Haid nach einem Gemälde der Anna Maria Werner In: Bilder—sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrheit berühmter Schrifft= steller. 3. Zehend. Augsburg: Johann Jacob Haid, 1744. 30,9 19,2 cm Inschrift: IO. CHRISTOPHORVS GOTTSCHEDIVS, | Philosoph:ration, et transcend. P.P.O. Poeseos extraord: | in Acad. Lipsiensi majoris Princ. Collegii collegiatus | societatis scientiarum Berolinensis Membrum. | nat. d. 2. Febr. A. S. R. MDCC. Signatur: A. M. Wernerin pinx. [rechts:] I.I. Haid sc. Aug. Vind. Vorlage: Kunstbesitz der Universität Leipzig, Inventarnr. 1765/90
86
RÜDIGER OTTO
Nr. 16: Gottsched - gemalt von Leonhard Schorer, 1744, Öl auf Kupfer, 82,5 Signatur: L. SCHORER PINXIT REGIOM. 1744. Kunstbesitz der Universität Leipzig, Inventarnr. 0699/90
69,0 cm
Gottsched-Bildnisse
EMM DK»TOB,TOSC. E.H«resitA3ni
»
87
Omoaai* Auraga CjRWSBSiTiirSÄBUOTBMt nr Isastse.
Nr. 17: Gottsched im Alter von 46 Jahren - Das übermalte Schorer-Bild, 1746 Die Angaben entsprechen Nr. 16. Inschrift: Aetat XLVT Infolge der Restaurierung ist der Originalzustand wiederhergestellt worden, das Bild existiert in dieser Form nicht mehr. Vorlage: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Alterthümer 9 (1902) mit der Angabe „Heliogravüre v. Sinsel u. Co.,... nach dem wohl von G. E. Hausmann gemalten Originale auf der Universitätsbibliothek in Leipzig."
88
RÜDIGER OTTO
JOH.CPH.
FüOTTSCHEÖl G.ctMET.P.C
Nr. 18: Gottsched — Modifizierte Replik des Gemäldes von Leonhard Schorer, unbekannter Künstler, nach 1744, Öl auf Leinwand, 69,2 64,4 cm Inschrift auf dem Rahmenschild: JOH.CHP. | GOTTSCHED | LoG. et MET. P.O. | geb. 2. Febr. 1700, gest. 12. Dez. 1766 Kunstbesitz der Universität Leipzig, Inventarnr. 0053/69
Gottsched-Bildnisse
89
Nr. 21: Gottsched — Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach einer Zeichnung Johann Friedrich Reiffensteins, Blatt 25 χ 12,2 cm, Platte: 19 χ 10,6 cm, Bild [ohne Inschrift]: 14,4 χ 9,8 cm Inschrift: JOANN. CHRISTOPH. GOTTSCHED. BOR. | PHILOS. ET POES. P. P. LIPSIENS. | Acad. Reg. Berol. Elect. Mogunt. et Bonon. Adscr. Socc. liberal. A. A. Caesar, nee non Regg. Teuton. Regiom. | et G tting. Membrum honorarium. | H. T. ACAD. LIPS. V. RECTOR. | Nat. A. MDCC. d. II. Febr. Signatur: J. F. Reiffstein ad viv. pinx. Cassellis 1753. [rechts] J. M. Bernigeroth sc. Lips. 1757. Vorlage: Halle, Universit tsbibliothek: Vc 137, G 79
90
RÜDIGER OTTO
, -«J*J* qf& «v««, .
Nr. 22: Luise Adelgunde Victorie Gottsched— Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach einem Gemälde Elias Gottlob Haußmanns, Platte: 18,5 10,5 cm, Bild: 14,2 9,5 cm Inschrift: LVDOVICA ADELGVNDA VICTORIA | GOTTSCHEDIA, | Jo. Georgü KVLMVS M. D. Gedan. | Archiatri quond. Regii FLüa. Signatur: E. G. Hausmann P. R. P. effig. pinx. [rechts:] J. M. Bernigeroth sc. Lips. 1757. Vorlage: UBL, Sondersammlung, unsigniert
Gottsched-Bildnisse
91
Nr. 24: Luise Adelgunde Victorie Gottsched — Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth nach der Zeichnung eines Grabdenkmals von Friedrich August Krubsacius In: Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Sämmtliche Kleinere Gedichte. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1763, [l. Paginierung] S. [*** ***8v], Platte: 9,5 7,3 cm Inschrift: LVDOV. ADELG. VICTORIAE | E GENTE KVLMIA GEDAN | INGENIO ARTIBVS VIRTVTE SCRIPTISQ | INCLVTAE | CONIVGI SVAVISSIMAE | F. C. | MOESTISSMVS MARITVS IO. CHR. GOTTSCHED | NATA GEDANI D. XI. APR | MDCCXIII | DENATA LIPSIAE | D. XXVI. IVN. | MDCCLXII. Signatur: Bernigeroth sc. Lips. 1763. Vorlage: UBL, Lit. germ. 20112
Ein Leipziger Dichterstreit: Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici RÜDIGER OTTO l. Henrici und Gottsched — Geschichte einer Fixierung Wenn die Häufigkeit der öffentlichen Wiedergabe eines Textes ein Kriterium für den Erfolg eines Dichters ist, dann zählt Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, zu den erfolgreichsten Dichtern deutscher Sprache überhaupt, dürfte es doch nur wenige Texte geben, die alljährlich so oft von vergleichbar vielen Personen öffentlich vorgetragen werden wie der der Matthäuspassion. Zugleich ist er einer der unbekanntesten. Der Grund liegt auf der Hand. Niemand besucht eine Aufführung der Matthäuspassion, um Picanders Text zu genießen. Obwohl Bach gegen seine Gepflogenheit den Namen des Textdichters Henrici auf dem Autographen der Matthäuspassion erwähnt hat,1 wird es kaum Hörer geben, die dem Textdichter auch nur ein minimales Interesse entgegenbringen. Günstigenfalls werden die Worte wie ein Naturereignis der Musik als zugehörig empfunden und in ihrem sperrigen Eigendasein nicht gesondert wahrgenommen. Generationen von Bach-Enthusiasten haben die Picanderschen Textvorlagen vor allem als Beeinträchtung des künstlerischen Gesamterlebnisses empfunden: Carl Friedrich Zelter (1758-1832) ist nur ein Beispiel für das ästhetische Mißvergnügen über die Kontaminierung eines musikalischen Kleinods mit abgeschmacktem Wortmaterial.2 Von diesen pauschalen und unvermittelten Geschmacksurteilen ist man mittlerweile abgekommen. Abgesehen von den Bemühungen, aus den Henrici-Dichtungen unbekannte Bachwerke zu rekonstruieren,3 wird heute eher danach gefragt, Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. Aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt am Main 2005, S. 320-325. Vgl. die Bemerkungen in Zelters Briefen an Goethe vom 20. März 1824 und 31. März 1829. In: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832 (Goethe: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Band 20). München 1991, S. 793 und 1213; vgl. auch Kristof Magnussohn: „Ihr Dichter, schreibt! wir wollens lesen". In: GewandhausMAGAZIN Nr. 26, Frühjahr 2000, S. 50-55, 51. Die Vermutung Alfred Dürrs, daß Bach über die erhaltenen Kantaten hinaus einen gesamten Jahrgang von Kantatentexten Picanders vertont habe, ist kontrovers aufgenommen und
Ein Leipziger Dichterstreit
93
welche Gründe Bach bewogen haben könnten, Henrici als Textdichter eine Vorzugsstellung einzuräumen.4 Man will den Texten historische Gerechtigkeit widerfahren lassen und bescheinigt Henrici „ein großes Können, eine plastische Eindringlichkeit",5 ein Urteil, das seinerseits wiederum problematisiert worden ist.6 Henrici selbst hat ein Gefalle von Text und Musik registriert. Im Vorwort zu seiner Sammlung von Kantatentexten, die er von Juni 1728 bis zum Juli 1729 wöchentlich verfertigte und dem Druck übergab, begründete er seine dichterische Kantatenproduktion mit den Worten: „Ich habe solches Vorhaben desto lieber unternommen, weil ich mir schmeicheln darf, daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meisters, Bach, dürfte ersetzet [...] werden."7 Allerdings konnte er die Veröffentzum Gegenstand sehr detaillierter Werkuntersuchungen geworden; vgl. Alfred Dürr: Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs. 2. Auflage. Mit Anmerkungen und Nachträgen versehener Nachdruck aus Bach-Jahrbuch 1957. Kassel u. a. 1976, S. 19f. Alfred Dürr: Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Kassel u. a. 1971, S. 56—58 u. ö. Über weitere Literatur zum Thema vgl. Anm. 7. Vor allem die Zusammenarbeit mit Bach hat Henrici bleibende Aufmerksamkeit gesichert; vgl. neben der in der vorangegangenen Anmerkung genannten Literatur Ferdinand Zander: Die Dichter der Kantatentexte Johann Sebastian Bachs. In: Bach-Jahrbuch 54 (1968), S. 20-24 u. ö. Hans Joachim Kreutzer: Bach und das literarische Leipzig der Aufklärung. In Bach-Jahrbuch 77 (1991), S. 7-31, 9 und 20-23; Überarbeiteter Abdruck in: Kreutzer: Obertöne. Literatur und Musik. Würzburg 1994, S. 9—40; Martin Petzoldt: Johann Sebastian Bach in theologischer Interaktion. Persönlichkeiten in seinem beruflichen Umfeld. In: Christoph Wolff (Hg.): Über Leben, Kunst und Kunstwerke. Aspekte musikalischer Biographie. Johann Sebastian Bach im Zentrum. Leipzig 1999, S. 133—159, 143f. Bachs wegen hat Henrici auch in die großen Musiklexika Aufnahme gefunden, dort weitere Literaturhinweise: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians. 2. Auflage. 2001. Band 11, S. 376f; Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. Band 8. Kassel u. a. 2002, Sp. 1305-1308. Vgl. auch Michael Heinemann (Hg.): Das Bach-Lexikon. Laaber 2000, S. 255f. Hellmuth Christian Wolff: Bach und die Universität Leipzig. In: Richard Petzoldt (Hg.): Johann Sebastian Bach. Das Schaffen des Meisters im Spiegel einer Stadt. Leipzig 1950, S. 49-56, 52. Henrici wird trotz eines Mangels an Originalität als „ideal literary partner for Bach" angesehen. „Wideley read, technically skilful and well versed in music ..., he could express ideas with the concrete imagery, clear syntax and rhythmic variety necessary to a composer's purpose." Joshua Rifkin und Konrad Küster: Henrici, Christian Friedrich. In: The New Grove (Anm. 4), S. 376. Martin Geck nimmt bei Bach und Henrici, die 1742 „bei der Arbeit an der Bauernkantate ... vergnüglich die Köpfe zusammengesteckt und Hand in Hand gearbeitet haben", sogar einen sozialkritischen Einschlag, jedenfalls aber eine sehr zeitnahe und anspielungsreiche Textur wahr; Martin Geck: Spuren eines Einzelgängers. Die „Bauernkantate" oder: vom unergründlichen Humor der Picander und Bach. In: Neue Zeitschrift für Musik. I.Januar 1992, S. 24-29, S. 25. Vgl. Werner Creutziger: Picander oder Das Mysterium der Plattheit. In: Neue Deutsche Literatur, Monatsschrift für Literatur und Kritik 33 (1985), H. 6, S. 83-96. Der von Spitta benutzte Erstdruck der Sammlung gilt als verschollen, hier zitiert nach Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. 4. Auflage. Leipzig 1930, Band 2, S. 174f. An die von Henrici angekündigte Vertonung durch Bach schließt die Debatte an, ob Bach nur ei-
94
RÜDIGER OTTO
lichung auch mit „dem Verlangen guter Freunde" rechtfertigen,8 und dies war nicht nur eine Fiktion. Henrici war ganz offensichtlich ein beliebter Dichter. Er schrieb mit leichter Hand eine stupende Zahl von Gedichten für Magisterpromotionen, Taufen, Kasualien des sächsisch-polnischen Herrscherhauses und anderer Fürsten, für Beerdigungen und vor allem für Trauungen. Die Texte wurden als Einzelstücke für die jeweiligen Besteller gedruckt, sie erschienen in Zeitschriften9 und Lyrikanthologien.10 Henricis Popularität läßt sich am deutlichsten daran erkennen, daß die Gedichte in eigenen Sammlungen zusammengefaßt wurden und auf ein großes Publikumsinteresse stießen. Das lyrische CEuvre umfaßte fünf stattliche Bände, die bis zu vier Auflagen erfuhren.11 Sie haben unter den Zeitgenossen immerhin Verleger und Käufer, also Liebhaber gefunden, die in diesen nige oder sämtliche 60 Texte vertont hat und ob also Henricis Sammlung der Textzeuge einer der verschollenen Kantatenjahrgänge ist, deren Existenz im 1754 gedruckten Nekrolog auf Bach behauptet wurde. Vgl. neben Dürr (Anm. 3) Klaus Hafner: Der PicanderJahrgang. In: Bach-Jahrbuch 61 (1975), S. 70-113. Hafner plädiert dafür, die Sammlung als „Textbuch der Kirchenmusiken in den Leipziger Hauptkirchen vom Johannisfest 1728 bis zum 4. Sonntag nach Trinitatis 1729" anzusehen (S. 78), in deren Rahmen auch die Matthäuspassion aufgeführt wurde (S. 80); vgl. auch die konzise Zusammenfassung der Voraussetzungen seiner Hypothese: Klaus Hafner: Picander, der Textdichter von Bachs viertem Kantaten Jahrgang. Ein neuer Hinweis. In: Die Musikforschung 35 (1982), S. 156—162. Zum Verlauf der Auseinandersetzung um einen Picander-Jahrgang vgl. zuletzt: Klaus Hofmann: Anmerkungen zum Problem ,Picander-Jahrgang'. In: Ulrich Leisinger (Hg.): Bach in Leipzig - Bach und Leipzig. Hildesheim u. a. 2002, S. 69-87, 69-74. 8 Spitta (Anm. 7), S. 174. Die Spannung zwischen Understatement und Selbstbewußtsein hinsichtlich seiner Produktion ist auch an anderen Äußerungen zu beobachten. So rechtfertigte er die Flüchtigkeit und Anspruchslosigkeit seiner Dichtung mit der Begründung, er „habe offt bey Nacht und Nebel den Pegasum satteln müssen, wenn mir auch nicht der allergeringste poetische Stern geschienen", und im gleichen Atemzug warnt er mögliche Kritiker - vermutlich ist vor allem Gottsched gemeint - davor, an seinen Produkten etwas zu beanstanden: „Unterdessen wäre es mir nichts neues, daß mich hier und da eine Schlange anzischte, und wenn es möglich war, mich durch und durch vergifften wolte: Allein ich habe in meinem Dinten=Vaß ein kräfftiges Gegengifft, und ein Messer, das zur Noth auch scharffe Federn schneidet." Vorrede. In: Henrici: Picanders Ernst= Scherzhaffte und Satyrische Gedichte. Erster Theil. Dritte Auflage. Leipzig: Friedrich Matthias Friese, 1736, S. ):( 3r—v. Schon Spitta hat darauf hingewiesen, daß sich Henrici „für einen originellen Kopf und für einen Bahnbrecher zu Gunsten des bessern Geschmacks" gehalten habe. Spitta (Anm. 7), S. 172. 9 Vgl. z. B. Sächsisches Curiositäten-Cabinet. Dresden: P. G. Mohrenthal, 1731, S. 194-199 (zum Namenstag Heinrich von Brühls), 1733, S. 282—287 (zum 35. Geburtstag der Königin in Polen und Kurfürstin zu Sachsen, Maria Josepha), 1734, S. 300-304 (auf eine Hochzeit in Heidelberg), 1743, S. 121-125 (Trauerklage). 10 Ute Poetzsch: Gelegenheitsgedichte von Picander und anderen Leipzigern in den Verirrten Musen Gottfried Behrndts. In: Rainer Kaiser (Hg.): Bach und seine mitteldeutschen Zeitgenossen. Bericht über das internationale musikwissenschaftliche Kolloquium Erfurt und Arnstadt 13. bis 16. Januar 2000. Eisenach 2001, S. 218-226. 11 Vgl. die Angaben bei Paul Flossmann: Picander (Christian Friedrich Henrici). Leipzig, Universität, Philosophische Fakultät, Dissertation, 1899, S. 11 und 63f.
Ein Leipziger Dichterstreit
95
Texten Trost, vielleicht manchen rezitablen Vers und vor allem Vergnügen gefunden haben. Der Anteil geistlicher Dichtung am Gesamtwerk ist eher gering. Henricis Stärke lag vielmehr darin, erotische Freuden mit großer Modulationsfähigkeit zu besingen. Der folgende, zumeist auf älteren Forschungen beruhende Überblick über das gestörte Verhältnis zwischen Gottsched und Henrici ist als Einführung und Rahmen für die im Anhang mitgeteilten Texte konzipiert, vor allem für Henricis kurze Satire gegen Gottscheds moralische Wochenschrift Der Biedermann.12 Henrici war vom Biedermann wegen einer Veröffentlichung scharf gemaßregelt worden und hat daraufhin die Satire Mit Gunst/ Herr Biedermann/ Wer sind sie? verfaßt. Wie es scheint, ist keine Bibliothek im Besitz des schmalen Druckes. Was bislang darüber bekannt war, ist in Georg Witkowskis Zustandsbeschreibung von 1909 zusammengefaßt: „Henrici erwiderte noch einmal durch ein Pamphlet, von dem wir nur durch eine Andeutung in dem Briefe Johann Ulrich Königs an Gottsched vom 28. Februar 1729 wissen."13 Zwar konnte noch immer kein Druck dieses Textes ermittelt werden, aber in einem Konvolut der Universitäts- und Landesbibliothek Halle liegt eine zeitgenössische Abschrift, die unserer Textwiedergabe zugrundegelegt werden konnte. Neben dieser Abschrift enthält das Konvolut weitere Aufzeichnungen, die den Entstehungshorizont und die Folgen des kleinen Textes wie auch die Verflechtung ideeller Differenzen und persönlicher Animositäten illustrieren.
Henrici — Dichtung und Karriere Henrici (1700-1764), der am 15. Mai 1719 in Wittenberg immatrikuliert wurde,14 lebte seit Mai 1720 in Leipzig.15 Als Gottsched im Februar 1724 in Leipzig eintraf, hatte Henrici schon zahlreiche Gedichte und anderes 12 13
14 15
Gottsched: Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727-1729. Mit einem Nachwort und Erläuterungen hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1975. Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig. Leipzig 1909 (Nachdruck Leipzig 1994), S. 247. Johann Ulrich König (1688-1744) hatte Gottsched mitgeteilt, daß sich ein Bekannter "wegen der piece des Piccanders wieder Sie sehr geärgert" habe; vgl. den Druck des Briefes in Gottsched: Briefwechsel. Band 1. Berün 2007, Nr. 78. Vgl. auch Flossmann (Anm. 11), S. 61; Reicheis Kommentar, diese Äußerungen zielten auf Angriffe gegen den Biedermann in Henricis Nouvellen, ist unzutreffend; vgl. Eugen Reichel: Gottsched. Band 1. Berün 1908, S. 590, Anm. 29. Fritz Juntke (Bearb.): Album Academiae Vitebergensis Jüngere Reihe Teil 3 (1710-1812). Halle 1966, S. 218. Grundlegend noch immer Flossmann (Anm. 11); biographisch zuletzt: Bernd Haube: Christian Friedrich Henrici - Bachs Dichter ein Postbeamter? In: Familie und Geschichte. Band III, 8. Jg. (1999), S. 337-348; Hans-Joachim Schulze: Christian Friedrich Henrici (Picander) zum 300. Geburtstag am 14. Januar 2000. In: Kaiser, Bach (Anm. 10), S. 1-7.
96
RÜDIGER OTTO
veröffentlicht16 und war als Leipziger Lokalpoet bekannt. Poesie war freilich für ihn mehr als ein schönes Spiel. Nachdem sein Vater und Geldgeber gestorben war, stand er mittellos da und hatte niemanden, der für seinen Lebensunterhalt und die Finanzierung des Studiums aufkam. Er mußte seinen Lebensunterhalt mit Auftragsgedichten verdienen. Außerdem richtete er sich an hochgestellte Gönner und traf mit seinen Versen, die bald devot, bald dreist, doch immer munter waren, offenbar den richtigen Ton. So führte Henrici 1723 seinem Landesherrn August dem Starken (1670—1733) seine ausweglose Lage poetisch vor Augen:17 „Es trieb mich die Natur, die Rechte zu studiren,/ In Rechten wolt ich auch was rechtes gerne thun;/ Doch Armuth hindert mich, den Vorsatz zu vollführen,/ Und heisset meinen Fleiß in bester Hitze ruhn./ Mir muste gar zu früh derselbe Freund erblassen,/ Der mich als Kind gezeigt; der hat zum Erbtheil mir/ Zwar wohl den lieben GOtt, iedoch kein Brodt gelassen".
Also bittet er August den Starken: „Darum erhöre doch mein unterthänigst Klagen,/ Gewähre meinen Wunsch, der nur darauf besteht:/ Daß mich der Hunger nicht aus Leipzig darf verjagen,/ Und gieb mir freyen Tisch in der Communität!"18
Das Ansinnen hatte Erfolg.19 Ebenso zielführend waren weitere Gedichte, die er zur Sicherung des Auskommens und zur Förderung seiner Karriere eingereicht hatte. Er erwarb ein Stipendium, 1728 wurde er Aktuar beim Oberpostamt in Leipzig, in den dreißiger Jahren folgten Beförderungen innerhalb des Oberpostamtes, 1743 schenkte ihm der Kurfürst ein Stück Bauland in Leipzig.20 Als der Kreis Steuereinnehmer Johann Paul Lazer (1681—1740) todkrank war, schrieb Henrici eine für unser Gefühl reichlich pietätlose poetische Bewerbung um die Stelle.21 Lazer wurde am 27. Januar 1740 beerdigt, Henrici am 12. Februar auf die Stelle des Kreissteuereinnehmers verpflichtet. Noch in Henricis Todesanzeige wird der Zusammenhang von Dichtkunst und Karriere ausdrücklich benannt: „Die Gnade der höchstsei. Könige, Augusti II. und III. denen er durch verschiedene überreichte Gedichte bekannt worden war, brachte ihm nach und nach einträgliche Einkünfte zuwege. A. 1727. ward er Actuarius des Leipziger 16 17 18 19
20
21
Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 7. Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 7; über den Erfolg S. 8. Walther Killy (Hg.): Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Band 4: 18. Jahrhundert. Teilband 1. München 1983, S. 1088. Vgl. Carl Christian Gercken: Historic der Stadt und Bergvestung Stolpen. Dresden; Leipzig: Adress-Comtoir, 1764, S. 219. Dank der Einkünfte aus seinen Poesien konnte er auch seine Mutter versorgen. Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 8, 53-55, 64; Witkowski (Anm. 13), S. 296f. Die umfangreiche Akte über die Schenkung und Bebauung existiert noch: Leipzig, Stadtarchiv, Tit. VII (Feud.), Nr. G 123. Vgl. Quellenanhang 4.
Ein Leipziger Dichterstreit
97
Ober=Post=Amts, bald darauf Secretarius, und alsdenn Ober=Post= Commissarius. A. 1740. erhielt er die Kreis=Land=Steuer=Einnahme zu Leipzig, und etliche Jahre vor seinem Tode den Character eines Commißions= Raths."22 Seit 1723 verfaßte Henrici Nouvellen und Aufgefangene Briefe in Reimform.23 Die Titel parodierten gängige Bezeichnungen politischer und anderer Zeitschriften und imitierten auch durch ihre periodische Erscheinung, Inserate und die äußere Aufmachung die Erscheinungsweise der Zeitschriften. In inhaltlicher Hinsicht handelt es sich um Satiren auf müssige Studenten, akademischen und adligen Dünkel u. a. m. Vor allem wird die Eitelkeit, Verführbarkeit und Verführungslust des weiblichen Geschlechts thematisiert, Henricis Vorliebe für laszive Gegenstände, verbrämt durch die Haltung des Sittenwächters, verschafft sich schon hier Ausdruck. Auch diese Veröffentlichungen dürften sich vor allem pekuniären Erwägungen verdanken.24 Es spricht für den Erfolg der Publikationsform, daß sie alsbald Nachfolger fand, von denen sich Henrici mit der Geste moralischer Entrüstung abgrenzte.25 Dies wiederum führte zu Gegenreaktionen, gegenseitigen Beschimpfungen mit geradezu tumultuarischem Charakter oder, wie Henrici es nannte, zu einer „Raserey bei den Poeten".26 Im März 1724 legte die Universität Halle Beschwerden gegen diese Zeitschriftenproduktion ein, ein Titel wurde behördlich untersucht, und am Ende dieses Monats hatten die Leipziger Drucker und Buchhändler ein Verbot dieser Schriften zu quittieren.27 Henrici hatte wohlweislich schon zuvor die Einstellung seiner poetischen Aktivitäten bekannt gegeben.
22
23 24 25 26 27
Dreßdnische Wöchentliche Frag= und Anzeigen, Von allerhand dem gemeinen Wesen nöthigen und nützlichen Sachen 1764 (Nr. 25 vom 19. Juni), Bl. bb2r. Auf diese lebenspraktischen Wirkungen seiner Poesie hatten auch schon die bei Lebzeiten Henricis veröffentlichten Biographien hingewiesen; vgl. Zedler 28 (1741), Sp. 21 f. und Johann Jacob Gottschaldt: Sammlung von allerhand auserlesenen Lieder=Remarquen. Leipzig 1748, S. 880. Henrici war nicht die einzige, wohl aber eine der prominentesten Personen in Sachsen, deren Karriere durch die Dichtung begründet wurde; vgl. Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen 1997, S. 71—73. Vgl. die ausführliche Darstellung und Analyse bei Flossmann (Anm. 11), S. 16-44. Über die Verdienstmöglichkeiten vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 31, Anm. und S. 47. Flossmann (Anm. 11), S. 33. Flossmann (Anm. 11), S. 38. Flossmann (Anm. 11), S. 43.
98
RÜDIGER OTTO
Gottscheds Teutscher Persms Gottsched, der im Februar 1724 in Leipzig eingetroffen war, erlebte noch das Finale dieses Streits und ließ sich davon zu seiner ersten größeren literarischen Tat auf Leipziger Boden inspirieren. Es entstand die Satire mit dem Titel Des Teutschen Persius Satirischer Gedancken Erstes Stück welches das Von un^ehlichen ^eime—Geistern wimmelnde Leipzig vorstellet·2·* Nach Gottscheds späterer Mitteilung soll sie noch „im Frühlinge des 1724 Jahres gemacht"29 und wird, so darf man vermuten, auch rasch veröffentlicht worden sein. Die Veröffentlichung erschien anonym und nannte ihrerseits die angegriffenen Autoren nicht beim Namen. Sie richtete sich gegen den Typus des Gelegenheitsdichters allgemein, wurde aber insofern doch konkret, als sie insbesondere die versifizierten Zeitungsimitationen angriff.30 Gottsched weist zunächst darauf hin, daß Dichter seit der Antike eine äußerst rare Spezies gewesen seien. Demgegenüber wirke es kurios, daß im Leipzig des Jahres 1724 eine so große Schar von Poeten in Erscheinung trete. Diese Gegenüberstellung enthält die — sicher unzutreffende — Unterstellung, daß die Produzenten der Gedichte den Anspruch auf poetische Qualität für sich geltend machen. Der Autor jedenfalls erklärt, daß dies beim Gott der Musen, Phoebus, der höchsten künstlerischen Instanz, nur Heiterkeit und Spottlust erwecke.31 Gottsched belustigt sich darüber, daß die neuen Dichter wegen ihres gänzlichen Mangels an poetischem Vermögen nur unter größter Anstrengung produzieren und aus diesem 28
29 30
31
[Johann Christoph Gottsched:] Des Teutschen Persius Satirischer Gedancken Erstes Stück Welches das Von unzehlichen Reime=Geistern wimmelnde Leipzig vorstellet. [Leipzig] 1724; benutzt wurde das Exemplar Halle, Universitäts- und Landesbibliothek, Pon Za 613; der älteren Literatur stand dieser separate erste Druck nicht zur Verfugung; vgl. Arthur Richter: Die „Raserey bey den Poeten" in Leipzig 1724 und Gottscheds „Deutscher Persius". In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 18 (1897), S. 89-96, 96, Anm. 16; Waniek, S. 20; Flossmann (Anm. 11), S. 41. Gottsched hat sich in der Cntiscben Dichtkunst zur Autorschaft bekannt, den Text mit zahlreichen Veränderung wiederabgedruckt und erklärt, er habe die Satire „im Frühlinge des 1724sten Jahres gemacht, als Leipzig mit einer unzehlbaren Menge wöchentlicher poetischen Zettel überschwemmet war". AW 6/3, S. 111. Druck des Persius in: AW 6/2, S. 745—751; Abdruck nach dem Text der Cntiscben Dichtkunst auch in: Gottsched-Halle. Vierteljahrschrift der Gottsched=Gesellschaft l (1902), S. 22-26; zu einem weiteren Druck vgl. Reichel, Gottsched, Band l (Anm. 12), S. 126, Anm. 14. AW 6/3, S. 111. „Da hat der eine Held erlogne Briefe feil" Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 12; später lautet der Vers: „Geht auf den Trödelmarkt, da hat man Briefe feil" AW 6/2, S. 748, Z. 97. Dies bezieht sich vermutlich auf Henricis Aufgefangene Briefe; vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 20; Witkowski (Anm. 13), S. 250. „Viel andre lassen uns ein ungereimtes Wesen,/ In neuen Zeitungen und Boten=läuffern lesen" Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 12; später: „Wie mancher läßt uns noch ein abgeschmackter Wesen, In neuen Zeitungen vom Venussterne lesen" AW 6/2, S. 748, Z. 103f. Hier könnten die Nouvellen Henricis und eines unbekannten Verfassers Poetischer Bothen-Uiuffer gemeint sein; vgl. Witkowski (Anm. 13), S. 250. Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 11; AW 6/2, S. 748, Z. 83.
Ein Leipziger Dichterstreit
99
Grunde jeden sich bietenden banalen Gegenstand in Verse fassen.32 Er bemängelt ihren deutsch-französischen Sprachmix33 und er weiß, daß sie sich um jedes noch so geringen Lohnes willen ans Versifizieren begeben. Seine Entrüstung entzündet sich vor allem an ihren Obszönitäten: Daß mancher Poet als Moralist auftritt und unterstellt, daß in Leipzig außereheliche Beziehungen an der Tagesordnung seien - „Gantz Leipzig ist ihm nur ein großes Huren=Hauß" — fällt nach Gottsched auf diesen selbst zurück: Es seien nur die eigenen Phantasien dieser Art Dichter, die sie auf die unbescholtenen Mitbürger projizieren.34 Angesichts des ästhetischen und sittlichen Verfalls fühlt sich der Autor des Persius in die Pflicht gerufen, aber er handelt nicht aus eigener Vollmacht, sondern im göttlichen Auftrag: „Mein Leser zürne nicht, daß mich der Zorn bewegt,/ Wer hemmt der Triebe Macht, womit uns Phöbus rufft"?35 Da Horaz, Juvenal, und Boileau nicht mehr zur Verfügung stehen, müsse er deren Amt übernehmen und für die Wahrung künsderisch-sitdicher Normen eintreten.36 Es ist dies allerdings ein bemerkenswerter Akt literarischen Selbstbewußtseins, daß hier ein vierundzwanzigjähriger Neuling die Dichtungspraxis einer Stadt in einem alles in allem rüden Ton attackiert und sich zum Kunstrichter stilisiert, der sich den hohen Maßstäben der Vergangenheit verpflichtet weiß und damit zugleich den Weg für eine künftige künstlerische Praxis vorzeichnet. Daß Gottsched bei dieser Generalabrechnung ganz und gar auf eigene Faust und ohne Rückendeckung gehandelt hat, ist eher unwahrscheinlich. Vermutlich konnte er sich der Unterstützung seines Mentors, des Professors, Zeitschriftenunternehmers und Dichters Johann Burkhard Mencke (1674—1732) sicher sein, in dessen Haus Gottsched kurze Zeit später unterkam und als Hofmeister tätig war.37 Wüßte man über die Hintergründe und die personellen Verflechtungen mehr, ließe sich auch besser beurteilen, ob und in welchem Ausmaß Gottsched es bereits mit seiner ersten Leipziger Veröffentlichung auf Henrici abgesehen hatte. In der einschlägigen Literatur besteht die Auffassung, daß
32 33 34
35 36 37
Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 14; AW 6/2, S. 749f. Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 13; AW 6/2, S. 749, Z. 129-132. „Wie Gallen=süchtigen auch Honig bitter schmeckt,/ Und wer ein grünes Glaß auf seine Nase steckt,/ Nur lauter grün und grün vor beyden Augen spüret,/ Obwohl der falsche Schein von seiner Brille rühret:/ So muß es ebenfals dem geilen Hen[g]ste gehn;/ Weil seine Adern stets in Brunst und Wallung stehn,/ Muß selbst Lucretia, die Zierde dieser Erden,/ O tolle Phantasey! zur frechen Thais werden." Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 15; AW 6/2, S. 750f., Z. 181-188. Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 15; AW 6/2, S. 751, Z. 189f. Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 15f. AW 6/2, S. 751. Waniek, S. 21; über Mencke als Verteidiger der Satire und Kritiker der Gelegenheitsgedichte vgl. auch Witkowski (Anm. 13), S. 278 und 285.
100
RÜDIGER OTTO
Henrici die Zielscheibe des Teutschen Persius war.38 Für diese Annahme spricht die erwähnte Polemik gegen die in Reimen verfaßten Zeitschriften. Sie waren zwar anonym erschienen, aber Henricis Name wurde, zumal in der letzten Phase, mit diesen Veröffentlichungen in Verbindung gebracht, so daß Gottsched darüber durchaus im Bilde sein konnte.39 Als weiteres Indiz für die Ausrichtung auf Henrici galt das Motto der Schrift, einige Verse aus den Satiren des Persius, die sich über Raben und Elstern als Dichter belustigen.40 Da der Dichtername Picander auf pica, dem lateinischen Wort für Elster, basiert,41 erschien die Anspielung hinreichend deutlich. Allerdings enthält die in der Literatur unbekannte separate erste Ausgabe des Textes das Motto nicht, damit ist dieses Argument hinfällig.42 Gottsched erklärte in der Ausgabe 1724 ganz im Gegenteil ausdrücklich, daß er Henrici von den „eingebildeten Poeten dieser Zeit" ausgenommen wissen wolle.43 Die Ernsthaftigkeit dieser Erklärung darf freilich bezweifelt werden. Da Satiren auf die Angabe von Namen zu verzichten hatten und sich der Gefahr aussetzten, durch Namennennung die Grenze zum Pasquill zu überschreiten, und damit in juristischer Hinsicht die Möglichkeit einer Beleidigungsklage eröffneten44 — eine Möglichkeit, von der Henrici tatsächlich auch Gebrauch gemacht hatte45 - wäre das Mittel, eine Person, die den Kriterien der Angegriffenen besonders entsprach, vom Kreis der Betroffenen auszuschließen, eine geschickte und besonders effiziente Form der Hervorhebung gewesen.
38 39 40 41 42
43
44
45
Flossmann (Anm. 11), S. 39. Flossmann (Anm. 11), S. 34 und 38. Vgl. AW 6/2, S. 745. Über den Hintergrund für die Wahl des Pseudonyms vgl. Gercken (Anm. 19), S. 217-219. Flossmann nahm an, daß das Motto bereits in der l. Auflage steht, und folgerte, daß „Henrici der Hauptsündenbock (ist): er gilt als Führer und Typus der Litteratenschar". Flossmann (Anm. 11), S. 39. Der anonyme Verfasser Gottsched erklärt, daß die „Schreib=Art ... stachelicht" und der „Vortrag ... spitzig" seien, entspreche dem Wesen der Satire. Persius, unter dessen Namen er sich präsentiert, „kan ... nichts als Satiren schreiben. Sobald er die Feder ansetzet, muß er jemanden durchziehen." Und er gibt über die Zielgruppe seiner Satire zu Protokoll: „Doch aus sonderbahrer Freundschafft wird denen eingebildeten Poeten dieser Zeit, (darunter ich doch Picandern auff keine Weise gerechnet wissen will) der erste Platz eingeräumet." Gottsched, Persius, S. [6]. Flossmann (Anm. 11), S. 32, 43f., 47, 49f. Auch Gottsched erörtert unstatthafte Überschreitungen; vgl. Gottsched: Oratio academica inauguralis sistens poetas philosophos reipublicae generique humano utilissimos. Leipzig: Breitkopf, 1730, S. 19 und AW 6/2, S. 173 (Versuch einer Cntischen Dichtkunst, Von Satiren oder Strafgerichten). Vgl. Henricis Klagebrief an die Leipziger Bücherkommission vom 6. März 1724, der die in einer Satire zum Zeitschriftenstreit enthaltenen Schmähungen seiner Person detailliert auflistet, Druck bei Flossmann (Anm. 11), S. 42. Die Verbreitung der Satire wurde daraufhin untersagt.
Ein Leipziger Dichterstreit
101
Gottscheds Vernünftige Tadlerinnen Wahrscheinlich hat Henrici die Ausrichtung auf seine Person schon zu diesem Zeitpunkt registriert. Für diese Annahme spricht, daß Henrici Gottscheds weitere Schmähungen auf Reimschmiede und Pritschmeister, auch wenn sie namentlich nicht konkretisiert waren, auf seine Person und seine Produkte bezog. Diese Schmähungen waren in die moralische Wochenschrift eingestreut, die 3 fingierte Herausgeberinnen, hinter denen sich zunächst ein Kollegium junger Männer und wenig später Gottsched allein verbarg, seit 1725 unter dem Titel Vernünfftige Tadlerinnen veröffentlichten. In einem Gedicht vom 22. Juli 1726 ermahnte sich Henrici, die Angriffe der Wochenschrift auf seine Poesie mit Gelassenheit zu quittieren: „Lass Tadler oder Tadlerinnen/ Auf sie nur immer neidisch schmähn;/ Es sind nur weibische Gedancken,/ Und solt ich mich deßwegen nun/ Mit allen tollen Vetteln zancken,/ So hätt ich warlich viel zu thun."46
Doch er hielt sich nicht an seine Absichtserklärung. Schon kurze Zeit später, am 30. August 1726, veröffentlichte er ein offenes Schreiben An die Vernünfftigen Tadlerinnen., das von der Ankündigung, mit „tollen *Vetteln" nicht zu „zancken", nichts mehr erkennen läßt. Von dieser Generalabrechnung mit dem Herausgeber der Vernünfftigen Tadlerinnen scheint heute kein Exemplar mehr erhalten zu sein.47 Glücklicherweise gibt Paul Flossmann den Inhalt vergleichsweise ausführlich wieder.48 Henrici unterstellte, daß die Fiktion einer weiblichen Verfasserschaft nur gewählt wurde, um die Unreife der Verfasser zu kaschieren und die Nachsicht des Publikums zu bemühen. Im übrigen sei die Fiktion mangelhaft durchgeführt. Er be-
46
47
48
Henrici, Gedichte l (Anm. 8), S. 422; in Henricis Komödie Der academischen Schlendrian wird die mit einem älteren Mann verheiratete unternehmungs freudige Frau Vielgeld tin von ihrem Vater gewarnt: „Es ist nicht genug, der Leute Reden nichts achten, wenn man auch in seinem Gewißen unschuldig ist, sondern man muß auch alle Gelegenheit vermeiden, Böses von uns dencken zu lassen. Du weist es giebt itzund spitzige Federn wie bald können sie dich einmahl in dem Patrioten, oder in denen so genannten vernünffrigen Tadlerinnen abmahlen." Henrici: Picanders Teutsche Schau=Spiele. Berlin; Frankfurt; Hamburg 1726, erste Paginierung, S. 33. Das Exemplar der Leipziger Stadtbibliothek ist mit der gesamten Bibliothek im Krieg verbrannt, das Exemplar der Berliner Staatsbibliothek zählt ebenfalls zu den Kriegsverlusten. Flossmann (Anm. 11), S. 49-53. Vgl. auch Gustav Wustmann: Verbotene Bücher. In: Wustmann: Aus Leipzigs Vergangenheit. Gesammelte Aufsätze. Leipzig 1885, S. 194—232, 212. Zur Reaktion auf die Tadlerinnen vgl. Nachwort der Herausgeberin. In: Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725—1726. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort ... versehen von Helga Brandes. 2 Teile. Hildesheim u. a. 1993, 2, S. l*-47*. 20*-22*. Vgl. auch Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den „Vernünfftigen Tadlerinnen" (1725/26). Stuttgart 1978, S. 52f. u. ö.
102
RÜDIGER OTTO
klagte die Anmaßung, die in der Beanspruchung des Titels „vernünftig" liege und sich in der notorischen Maßregelung der — teilweise durch beauftragte Spione ermittelten — Fehler anderer äußere. Schließlich registrierte er, daß die Ausführungen im 25. und 28. Stück des 2. Jahrgangs der Tadlerinnen über eine elternlose junge Frau, ihren redlichen, aber armen Liebhaber und die Entscheidung des Vormundes zugunsten eines reichen und eiden Bewerbers auf konkrete Leipziger Verhältnisse abzielten. Henrici mißbilligte diese von den Tadlerinnen entworfene Sicht der Verhältnisse und betrachtete sie als eine Verunglimpfung unbescholtener Leute. Es waren genau diese beiden Stücke, die eine Untersuchung gegen die Tadlerinnen, ihren Autor und den Verleger in Gang gesetzt haben, da durch den Bezug auf konkrete Personen die Satire zum Pasquill mutiert und juristisch angreifbar geworden war. Ausgelöst wurde diese Untersuchung durch ein an den Rat gerichtetes Schreiben vom 4. September 1726.49 Dessen Urheber war unbekannt und ist es bis heute geblieben. Es ist natürlich nicht sicher, daß der anonyme Verfasser der Schrift die Tadlerinnen mit dem Urheber der Denunziation identisch ist. Zumindest die unmittelbar angegriffenen Personen hatten an einer Satisfaktion ein ebenso starkes Interesse wie der auf die Angriffsflächen des Moralisten Gottsched fixierte Henrici. Gleichwohl könnte Gottsched Henrici als Urheber der Anzeige in Betracht gezogen haben. Im übrigen wurde Henricis Satire ebenfalls beanstandet, Tadlerinnen und Gegenschrift ereilten dasselbe Los, beide wurden konfisziert.50
Gottscheds Biedermann Nachdem die Tadlerinnen mit dem Jahr 1726 ihr Erscheinen eingestellt hatten, gab Gottsched seit dem 1. Mai 1727 eine neue Wochenschrift unter dem Titel Der Biedermann heraus. Im 1. Beitrag erinnerte der fingierte Herausgeber Ernst Wahrlieb Biedermann an die bewährte Tradition der moralischen Wochenschriften, zur Erkenntnis von Tugend und Laster, Gut und Böse beizutragen und dadurch die Besserung des Willens zu bewirken. Er wolle an diese Tradition anknüpfen und empfehle sich durch seinen Namen als geeigneter Anwalt dieser Aufgabe. Der Name Biedermann stehe für ursprüngliche Werte wie „gesunde Vernunfft, Unschuld und Tugend", für „ehrlich, redlich, gerecht und billig seyn", entsprechende Bezeichnungen seien aus dem Griechischen, Lateinischen, Französi-
49 50
Flossmann (Anm. 11), S. 52. Flossmann (Anm. 11), S. 53.
Ein Leipziger Dichterstreit
103
sehen und Englischen überliefert.51 Es handelt sich also um einen ursprünglichen und universalen Wert, den der Herausgeber in aller Bescheidenheit für sich reklamiert. Es scheint sinnvoll, an diese Voraussetzungen zu erinnern, weil dadurch einerseits die eher dem Bereich der Ästhetik oder Literaturkritik zuzurechenden Bemerkungen gegen Henrici in einen moralphilosophischen Rahmen eingezeichnet sind und andererseits Henricis Reaktion, die nach der ethischen Legitimität des Biedermanns fragt, erst verständlich wird. In den einschlägigen Untersuchungen werden solche Passagen des Biedermanns als Angriffe auf Henrici angesehen, die erneut die verschiedenen Formen der Gelegenheitspoesie attackieren. So wurden in einer „Nachricht an die Liebhaber der Poesie" die „Herrn Gratulanten"52 um die Zusendung ihrer Werke gebeten, die sie „auf alle Hochzeiten, Geburts= und Nahmens=Feste, Neujahr=Tage, Doctor= und Magister11 Promotionen und Leich=Begängnisse" verfertigt haben. Der Verleger veranschlagte für den Druck dieser Poesie „25 biß 30 Folianten" und erbat Subskriptionsangebote und die Bildnisse der Poeten, „damit dieselben mit hübschen Lorber=Zweigen umflochten, bey Zeiten in Kupfer gestochen werden".53 Im nächsten Blatt des Biedermanns ist das Dankschreiben, das „Die Boedische Faculdät zu Leipzig, (sonst Gradulanten)" auf diese Druckankündigung verfaßt hat, in schönstem Sächsisch abgedruckt. Die einfältigen Gratulanten betonen, daß es noch andere Gelegenheiten für die Produktion von Gedichten gibt, „zum Exembel, wenn sie zur H. Communion kehen, von einer Sbazierfahrt zurüke kummen [...], ein Burganz oder sonst eine Meticin einnehmen, u. d. g.", sie weisen auf ihre Erfahrung hin, daß Poeten nicht notwendig Hungerleider sind, sondern vom Ertrag ihrer Werke ganz gut leben können, und bitten den Biedermann, der ihre Arbeit zu würdigen weiß, „Eure Hochetelgebohrnen seyn nur so gut und duhn uns dero werdesten Gebuhrdsdag zu wissen, damit mir denselben unsre schultige Referentz ehestens in einen schönen Karmen bezeigen können".54 Ob Henrici sich von dieser albernen Verballhornung und weiteren Attacken „getroffen"55 fühlte, sei dahingestellt. Sicher ist wohl, daß er gemeint, sicher auch, daß ihm das bewußt war. Gelegentlich revanchier51 52
Der Biedermann, Nr. l vom 1. Mai 1727, Band l, S. 2. Der früheste Beleg im Grimmschen Wörterbuch für diese Bezeichnung des Gelegenheitsdichters stammt aus dem Jahr 1741 und ist einem Text des Gottsched-Schülers Johann Joachim Schwabe (1714—1784) entnommen; vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 4. Band, I. Abteilung, 5. Teü. Leipzig 1958, Sp. 2065. Über den frühen Gebrauch vgl. auch Flossmann (Anm. 11), S. 12f. 53 Der Biedermann, Nr. 22 vom 29. September 1727, Band l, S. 88. 54 Der Biedermann, Nr. 23 vom 6. Oktober 1727, Band l, S. 89f. 55 Witkowski (Anm. 13), S. 246.
104
RÜDIGER OTTO
te sich Henrici mit spitzen Bemerkungen über den Biedermann in den handschrifdich vervielfältigten Nouvellen?6
Eskalation Die persönliche Rivalität spitzte sich zu, als Henrici gegen Ende des Jahres 1728 nach längerer Enthaltung von derartigen Publikationen seiner Neigung zur obszönen Satire nachgab und einen Text unter dem Titel Gespräche im Reich der Todten Zwischen der Contouche und Andnennfi1 veröffentlichte. Totengespräche als belehrende Unterhaltungslektüre, Beschreibungen historischer oder zeitgenössischer politischer Ereignisse oder theologischer und anderer Debatten lagen im Trend, waren nicht unumstritten58 und wurden als Modeerscheinung von Henrici selbst auch schon persifliert.59 Dies war für ihn jedoch kein Hinderungsgrund, bei Bedarf das Erfolgsmodell zu übernehmen, zumal er die Neuerung einführte, statt zweier Personen zwei Kleidungsstücke, Contouche und Andrienne, beides bequeme Modekleider der Zeit,60 in einer Unterredung vorzuführen.61 Der anonyme Autor rechtfertigt diese Form der Unterredung damit, daß auch in den Fabeln redende Tiere auftreten und daß „noch unlängst ein Carreau=Bube an den ändern geschrieben"62 hat. Das Schreiben des Karobu-
56
57
58 59 60 61 62
Das letzte Stück des ersten Jahrgangs des Biedermanns enthält eine französischsprachige Zuschrift, in der der Biedermann aufgefordert wird, einen „pauvre Nouvelliste" öffentlich anzuprangern, der zum Gefallen gleichgesinnter „Medisans" ehrbare Leute in seinen „fades Nouvelles" attackiere; vgl. Der Biedermann, Nr. 50 vom 12. April 1728, Band l, S. 197, die folgenden Seiten 198—200 sind der Auseinandersetzung mit diesem „Nouvelliste" gewidmet. Man vermutet, daß sich das auf eine nicht überlieferte handgeschriebene Zeitschrift Henricis mit dem Titel Nouvellen bezieht, die eine Fortsetzung von Henricis Zeitschrift gleichen Namens gewesen sein und Invektiven gegen den Biedermann enthalten haben könnte; vgl. Waniek, S. 70 und Flossmann (Anm. 11), S. 56f. [Henrici:] Gespräche im Reich der Todten Zwischen der Contouche und Andrienne. Erste und Letzte Unterredung. Anno 1729. In Commission zu haben bey Boetius. Exemplar der Universitäts- und Landesbibliothek Halle: IV A 304. Da Gottsched bereits Anfang Dezember 1728 auf den Druck reagierte (Anm. 65) und das auf Dezember 1728 datierte Promemoria des Zensors Gotdob Friedrich Jenichen (1681—1735) den Hinweis enthält, daß die Schrift 14 Tage zuvor zur Zensur vorgelegen habe (Anm. 64), kann die letzte Novemberwoche 1728 als Veröffendichungstermin angenommen werden. Vgl. John Rutledge: The Dialogue of the Dead in Eighteenth-Century Germany. Bern; Frankfurt am Main 1974, S. 48-51. Flossmann (Anm. 11), S. 24. Vgl. Ludmila Kybalova u. a.: Das grosse Bilderlexikon der Mode. Vom Altertum zur Gegenwart. Dresden 1981, S. 199 und 555. Vgl. die Bibliographie in Rudedge, The Dialogue (Anm. 58), S. 134-166. Allerdings ist hier ein Gespräch „unter den Münzen" von 1728 angeführt, S. 138. Henrici, Gespräche im Reich der Todten (Anm. 57), S. )(lv.
Ein Leipziger Dichterstreit
105
ben ist in Gottscheds Biedermann abgedruckt. Es ist sicher nicht absichtslos, daß Henrici seinen Text durch den Hinweis auf einen Gottsched-Text legitimierte, und der Hinweis dürfte auch nicht nur auf die formale Ähnlichkeit eines Gesprächs nichtmenschlicher Gestalten bezogen gewesen sein. Am Karobuben demonstriert Henrici später, daß auch der Sittenprediger Gottsched mit nur leicht verhohlenen sexuellen Anspielungen hantiert, und im Hinblick darauf könnte der Hinweis am Eingang des frivolen Totengesprächs als Ausdruck einer Komplizenschaft oder zumindest als ein Fingerzeig für den Leser und Sittenrichter Gottsched gedacht gewesen sein, daß ihm, Henrici, diese Stelle nicht entgangen sei und daß er, Gottsched, sein Urteil darüber klug bedenken möge. Das nur 17 Seiten füllende Gespräch der beiden Kleidungsstücke enthält allgemeine Erörterungen, die unter die Rubrik Modekritik oder Gesellschaftssatire gerechnet werden können, so die Bemerkung, daß Neureiche „die hochmüthigsten Kleider=Narren abgeben. [...] Geld kan alles. Geld macht alte Jungfern jung, Geld macht heßliche Gesichte schöne, Geld macht tumme Leute verständig, Geld macht Ehre, Geld macht Ansehen, Geld macht Liebe, Geld ist die allermächtigste GOttheit auf Erden".63 Den Hauptanteil bilden jedoch die Berichte über die erotischen Abenteuer ihrer Trägerinnen. Der moralische Impetus eignete sich als Fassade und zur Legitimation der Schrift, die delikaten Szenen dürften den Kaufanreiz befördert haben. Allerdings war es Henrici nicht gelungen, die Pikanterien über der pädagogischen Attitüde der Schrift vergessen zu machen. Die Zensurbehörde versagte das Imprimatur, der Text wurde dennoch gedruckt, der Druck beschlagnahmt und eine Untersuchung anberaumt.64 Zur selben Zeit nahm auch der Bie63 64
Henrici, Gespräche im Reich der Todten (Anm. 57), S. )(2v. Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 60f. Die einschlägigen Akten sind überliefert: Leipzig, Stadtarchiv, Tit. XLVI (Feud.), Nr. 152 V: 1725-1732, Bl. 105r-112r. Sie geben einen deutlichen Einblick in die Zensurpraxis auf lokaler Ebene: Der Leipziger Professor Gotdob Friedrich J etlichen als Zensor teilte in einem Promemoria vom Dezember 1728 mit, daß das Totengespräch 14 Tage zuvor von Buchdrucker Johann Gotdieb Bauch (f 1738) zur Zensur vorgelegt worden sei, er habe es „aber, nach deßen Durchlesung, bald darauf wieder zurückgegeben, mit dem Bedeuten, daß ich solches, wegen gar vieler und unflätigen Expressionen, nicht censiren könte. Da nun aber solches höchstunflätige Gespräch nichtsdestoweniger in Druck zum Vorschein gekommen, und solche Scarteque gar vieles contra bonos mores in sich enthält; Als habe vi officii solches nicht ungemeldet laßen, und zugleich bitten wollen, zu untersuchen Ob und von Wem solche Scarteque censiret worden?" (Bl. 105rf.) Am 17. Dezember 1728 berichtete Bücherinspektor Johann Zacharias Trefurth (1690—1758), daß er sich „an Boetii Bude unters Rathhauß begeben" und ein Exemplar konfisziert habe (106r). Am 18. Dezember wurde der Buchhändler und Verleger Heinrich Gottfried Boetius befragt. Er gab an, vom Autor Henrici, der dem Titelblatt „in Commission bey Boetio" habe aufdrucken lassen, 6 Exemplare bekommen und 5 verkauft zu haben; seines Wissens sei das Gespräch „in Grimma und Jeßnitz gedrucket worden". „Ob es censiret sey, wiße er nicht indem er auf den Autorem gesehen, der vor die Censur zusorgen hätte" (Bl. 107r-108r). Knapp 2 Monate später — möglicherweise hat man sich zuerst ge-
106
RÜDIGER OTTO
dermann von der Schrift Notiz. Nach der generellen Erklärung: „Was nun wieder die Erbarkeit läuft, das ist auch der Absicht meiner Blätter zuwieder", druckt er einen — aller Wahrscheinlichkeit nach von Gottsched selbst verfaßten — Leserbrief von Joseph Zuchtfreund vom 1. Dezember 1728 ab, der ihn „noch mehr aufgemuntert hat, wieder das Zotenreissen gewisser neuen Scribenten zu eifern".65 Joseph Zuchtfreund seinerseits kann sich mit seiner „Klage wieder die mehr und mehr einreissende Unfläterey unserer neuern Schrifftsteller und Versmacher" an „niemand anders wenden als" an den Riedermann, der damit zur höchsten moralischen Instanz avanciert. Zuchtfreund will kein Urteil über die Form des Textes als Unterhaltung zweier Kleidungsstücke fällen. Er konzediert eine Vielfalt der Geschmacksauffassungen und erklärt: „Das alles lasse ich von seinen Liebhabern bewundern und loben." Was man ohnehin ahnt — denn warum sollten Henrici und sein Verleger sich sonst ohne Not den Unannehmlichkeiten einer Verfolgung durch die Zensurbehörde aussetzen -, wird durch diese Bemerkung bestätigt: Henrici hatte offenbar einen stabilen Kreis an Verehrern und Abnehmern seiner Produkte. Im Fall der Totengespräche aber, da ist sich Zuchtfreund sicher, werden „auch sonst freche Gemüther [...] sich nicht getrauen, derselben mit einigem Lobe zu erwehnen". „Es soll eine Satire seyn." Das weiß der Kritiker. Aber er bezweifelt, daß die Absicht der Satire, den Gegenstand bloßzustellen und zu entmächtigen, erreicht wird. Das Kleidergespräch gehe zwar scheinbar mit den „Reitzungen zur Wollust" ins Gericht, trage aber in Wahrheit zu deren Erzeugung erst bei. Es geriere sich als Ankläger, sei aber ein Verführer, „dadurch die lüsterne Jugend zur Wollust gereitzet, die Unschuld
65
nau über den Drucker informieren wollen —, am 11. Februar 1729, wurde Bauchs Lehrjunge Jacob Kordegast vorgeladen und nach einem zuvor fixierten Fragekatalog (Bl. 109) verhört. Der achtzehnjährige Kordegast ist derselbe, der einen Monat zuvor von Gottsched wegen der Satire gegen den Biedermann in die Mangel genommen wurde (vgl. Quellenanhänge). Er erklärte, daß das Manuskript von Boetius übergeben worden, aber auch Henrici, den er deswegen für den Autor halte, bei seinem Lehrherrn erschienen sei. Kordegast gestand, den Satz des Totengesprächs angefertigt zu haben. Da der Druck vom Gesellen Meinhardt angefertigt wurde, erinnerte sich Kordegast „nicht mehr ob 500 oder 1000 exemplaria gedrucket worden". Ihm sei bewußt, daß die Schrift ohne Zensur gedruckt worden sei (Bl. llOr-lllr). Im Anschluß daran gesteht auch Bauch selbst den Druck und begründet das ungesetzliche Vorgehen: „Er hätte es aus Armuth gethan und weilen H. Heinrici ihn versprochen vor allen Schaden zu stehen." Sämtliche Exemplare der Schrift habe er Henrici übergeben (Bl. lllv—112r). Schließlich ist dem Vorgang noch ein gedruckter „Buchdrucker=Eyd" beigeheftet, mit dem die Drucker sich verpflichteten, kein Buch ohne Zensur zu drucken. Ihn begleitet der handschriftliche Vermerk: „Vorherstehenden Eyd hat Johann Gottlieb Bauch den 15. Febr. 1714. in der Rathstube zu Leipzig würcklich abgeschworen. Johann Christian Lünig, Stadtschreib." Bl. 113v. Dieses und die folgenden Zitate aus: Der Biedermann, Nr. 83 vom 6. Dezember 1728, Band 2, S. 129-131.
Ein Leipziger Dichterstreit
107
der Minderjährigen vergifftet, und die Geilheit der Üppigen noch mehr und mehr bestärcket wird". Mit diesen Ausführungen nimmt der Biedermann das Amt eines Sittenwächters wahr, der auf verderbliche Schriften hinweist. Durch seine Interpretationsvorgabe entzieht er dem Autor die Legitimation, das Gespräch als eine Verfehlungen diskreditierende Satire zu deklarieren. Schließlich kann er auch „versichern, daß diese Schrifft ohne Erlaubniß der gewöhnlichen Censoren allhier gedruckt worden, als welche viel zu gewissenhafft sind dergleichen schändlich Zeug gut zu heissen". Da mit Gottlob Friedrich Jenichen ein Fakultätskollege für die Zensur zuständig war,66 hatte sich Gottsched über diesen Punkt leicht informieren können. Jedenfalls konnte er sicher sein, mit dieser inhaltlichen Bloßstellung und dem Hinweis auf die formale Verletzung der Voraussetzung für einen Druck gepaart mit der scheinheiligen Versicherung der Verläßlichkeit der Leipziger Zensur Henrici einen empfindlichen Schlag versetzt zu haben.67 Joseph Zuchtfreunds ästhetische Kritik entstammt demselben Impuls wie die ethischen Beanstandungen. Anders als im Persius werden „unsern Poeten" dichterische Qualitäten zugestanden. „Sie haben auch zuweilen einen guten Einfall; sie drücken ihn dann und wann ziemlich glücklich aus." Die Wahl des Gegenstandes aber verderbe alles. Dadurch sprechen die Poeten statt der „Sprache der Götter [...] wie die Gassenjungen", und die „Musen, so sonst Töchter Jupiters waren, sind itzo grobe Bauermägde geworden".68 Alles in allem läßt das 83. Stück des Biedermanns kein gutes Haar an Henrici. Es stellt ihn als Sittenverderber dar und bescheinigt ihm, gerade insofern ihm eine dichterische Befähigung nicht abgesprochen wird, diese seine Mitgift denkbar schlecht angewandt zu haben, indem er sie auf unwürdige Gegenstände angewandt und einen Verrat am Wesen der Poesie begangen habe. Die Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, daß ihr Urheber keine Detailkritik vortragen oder nur seine persönliche Distanz zum Ausdruck bringen wollte. Der Hinweis auf die Mißachtung der Zensur und auf die für das Gemeinwesen destruktive Wirkung der Schrift bringt unzweideutig zum Ausdruck, daß er diese Art von Literatur unterdrückt sehen wollte. Es war diese demonstrative Position des Sittenwächters, auf die Henrici mit seiner Schrift gegen den Biedermann reagierte. Wenn es stimmt, daß Henrici mit seinem Hinweis auf den Karobuben am Eingang des Totengesprächs eine Warnung an Gottsched plaziert hatte, so provozierte Gottscheds Ignoranz der Warnung diese Reaktion geradezu. Tatsächlich hat Henrici bald nach Erscheinen des 83. Stücks - es trägt den
66 67 68
Vgl. Anm. 64. Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 60, Anm. l. Der Biedermann, Nr. 83 vom 6. Dezember 1728, Band 2, S. 130.
108
RÜDIGER OTTO
Erscheinungsvermerk 6. Dezember - und als Reaktion darauf69 eine Gegenattacke unternommen. Die Verssatire Mit Gunst/ Herr Biedermann/ Wer sind sie? muß Ende Dezember 1728 oder Anfang des neuen Jahres erschienen sein, denn am 22. Januar bereits hat Gottsched eine Klage gegen die Veröffentlichung eingereicht.70 Wie im 83. Stück des Biedermanns werden auch in der Satire keine bürgerlichen Namen genannt, Autor und Gegenstand bleiben anonym. Die beteiligten Personen und das lesende Publikum wissen offenbar, wer gemeint ist. Henrici eröffnet seinen Text mit dem Hinweis auf die öffentliche Erscheinung des Biedermanns. In dieser Sicht ist er nicht als integerer Ehrenmann, sondern als Flaneur und Liebling der Kindermädchen bekannt. Die Qualifikation zum Biedermann spricht Henrici ihm generell und mit aller Entschiedenheit ab. Mit Hinweis auf die Jugend des Verfassers hält er die Maskerade im Ansatz für verfehlt. Vom Biedermann darf ein gewisses Maß an Gelassenheit erwartet werden. Davon ist der Verfasser weit entfernt: „Wenn einer Thorheit spielt, den lacht man billig aus,/ Allein da machestu ein grobes Schimpfen draus." Den gegen die Gelegenheitsdichter unermüdlich erhobenen Vorwurf, ihre poetischen Produkte dienten nur der Selbstversorgung, gibt Henrici zurück, indem er die Produktion der moralischen Wochenschrift als Geschäft beschreibt.71 Vor allem fehle dem Verfasser des Biedermanns die Grundvoraussetzung für die Produktion satirischer Schriften und damit für den Anspruch, als moralische Instanz aufzutreten: ein tugendhafter Charakter. Henrici begründet das mit obszönen Passagen des Biedermanns, die er in dem bereits erwähnten Schreiben des Karobuben entdeckt hatte. Der hatte sein Glück in der Damenwelt thematisiert und es in aller Unschuld auf seine große Nase zurückgeführt. Henrici dürfte mit seiner nicht direkt ausgesprochenen Unterstellung recht haben, daß hier auf die Phallusgröße angespielt wird.72 Die Entrüstung - „O! Schand o! Ärgerniß! lehrt wohl ein Huren=Hauß/ So viel Unflätherey und solchen Sudel aus" -, mit der der Autor des Kleidergesprächs und zahlreicher indezenter Gedichte darauf reagiert, muß nicht ernsthaft gewesen sein. Möglicherweise war sie nur eine Parodie der biedermännischen Entrüstung und insofern für den Leser als Spiegel der den Biedermann durchziehenden Diskrepanz zwischen Urteilsanmaßung und Autorenpersönlichkeit erkennbar. Andererseits fehlt der Satire jeder ironisch-spielerische Ton. Sie zeigt eher 69
70 71 72
Dies geht aus Henricis Rechtfertigung seiner Schrift hervor: „Zumahln er mich alß den Autorem der Contousche und Andrienne ... gleichsam mit den haaren ad delinquendum, wenn ich anders so reden will gezogen." Quellenanhang 2. Vgl. Quellenanhang 3. „Du schmähest alle Welt und marterst deine Sinnen,/ Um weil der hunger drückt, zwey Thaler zu gewinnen". Vgl. die Erläuterung zur entsprechenden Textstelle in Quellenanhang l.
Ein Leipziger Dichterstreit
109
eine Kränkung durch das angemaßte Dauerrichteramt des Biedermanns an, und auch die anderen auf Joseph Zuchtfreunds Brief replizierenden Teile der Satire zeichnen sich nicht durch ironische Brechungen aus. Er gibt die Vorwürfe - Umgehung der Zensur73 und bäuerische Poesie - einfach nur zurück und erklärt sie für sich als unzutreffend. Auch Gottscheds Reaktion macht deudich, daß die Auseinandersetzung der beiden Dichter unterdessen verbissen-wütende Züge bekommen hatte. Er reagierte nicht mit der Feder, begnügte sich auch nicht damit, die gekränkte Ehre juristisch wiederherstellen zu lassen, sondern nahm die Aufgabe der Justiz gleich in eigene Regie. Er lud zwei Studenten als Zeugen, gewann einen Notar für das Protokoll und vernahm in deren Gegenwart in seiner eigenen Wohnung einen Lehrling der Druckerei, in der Henricis Text gedruckt bzw. nachgedruckt worden war. Auf der Basis dieser Aussagen entstand mit Hilfe eines Anwaltes eine Anklageschrift, die im Kreisamt, einer landesherrlichen Gerichtsbehörde,74 eingereicht wurde. Daß weder das Universitäts- noch das Stadtgericht angerufen wurden, hängt womöglich damit zusammen, daß Gottsched akademischer Bürger und deshalb nicht der städtischen Gerichtsbarkeit unterworfen war und Henrici, der seine Karriere mittlerweile im Postdienst begonnen hatte, nicht der akademischen Gerichtsbarkeit unterstand.75 Das Kreisamt legte die Akten der Leipziger Juristischen Fakultät vor. Die Fakultät nahm wie auch das Leipziger Schöppengericht die Funktion eines Spruchkollegiums wahr. Das bedeutet, daß sie in zahlreichen Rechtsfälles aus Kursachsen und darüber hinaus um ein Gutachten oder ein Urteil gebeten wurden. Das von ihr gefällte Urteil war verbindlich und mußte vom zuständigen Gericht nur noch vorgetragen werden. Das Urteil der Fakultät vom 30. März 1729 lautete, „daß Heinrici H. Gottscheden vor Gerichte eine EhrenErklährung und Abbitte thun, sonst aber auch noch 5 rthl. Straffe 73 74 75
„Unmöglich ist die Bruth mit Willen der Censoren/ Zum Schimpff der Erbarkeit im Druck der Welt gebohren." Vgl. Quellenanhang l. Carl Christian Cams Gretschel: Leipzig und seine Umgebungen. Leipzig 1836 (Nachdruck 1982),S.206f. Allerdings finden sich im Protokollbuch des Rektors der Leipziger Universität für die Jahre 1728 bis 1731 Einträge, aus denen hervorgeht, daß Henrici und Gottsched in Gegenwart von Rektor, mehreren Professoren und Syndicus vernommen wurden und später einen Beschluß entgegenzunehmen hatten: „Den 13. April 1729 Praesentibus Magnifico Dn. Rectore, Dn. D. Schmidio, Dn. D. Klausingio, Dn. D. Mylio, Syndico, Dn. Richtero P. P. et M. Beyero PP. Extr. ... Henrici % M. Gottscheden citetur" Leipzig, Universitätsarchiv, GA VII A 3 Nr. 3: 1728-1731, Bl. 88r-v; „den 20 Maji 1729 przs. Magnif. Dno. ProRectore Dn. D. Schmidio, Dno. D. Clausingio, Dn. Prof. Richtero P. P. Dno Prof. Beyero et me D Mylio ... Henrici % M. Gottscheden detur Decisum". Leipzig, Universitätsarchiv, GA VII A 3 Nr. 3: 1728-1731, BL 93v. Es werden jeweils nur die Namen der zitierten Personen, aber keine Inhalte bezeichnet; insgesamt werden beim ersten Termin 15, beim zweiten 25 Fälle behandelt.
HO
RÜDIGER OTTO
nebst Erstattung aller veruhrsachten Unkosten erlegen solte. Darbey es auch sein Bewenden hatte."76 Leider ist in den Aktenbüchern der Juristenfakultät der Urteilsspruch zuungunsten Henricis nicht überliefert.77 Vielleicht hätte man neben der Tatsache, daß Henrici zu einer „EhrenErklährung und Abbitte" gegenüber Gottsched und zur Übernahme der Prozeßkosten verurteilt wurde,78 auch noch eine Begründung erfahren. Das Urteil bedeutete jedenfalls nicht notwendig, daß Henrici falsche Nachrede unterstellt wurde. Ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt machte sich der Verfasser eines Pasquills strafbar, weil die gegen Personen gerichteten Anschuldigungen auf jeden Fall zur Störung der öffentlichen Ruhe beitrugen und die Rechtszuständigkeit des Staates umgingen.79 Nach der Konfrontation — Henrici im Blickfeld Gottscheds und der Gottschedschule Es wäre interessant zu erfahren, wie Gottscheds Wechsel von der literarischen auf die juristische Ebene der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Leider finden sich dazu in den Briefen aus dieser Zeit nur spärliche Anhaltspunkte. Der Dresdener Hofdichter Johann Ulrich König, dessen Verhältnis zu Gottsched zu diesem Zeitpunkt noch intakt und erst später durch wechselseitige Feindseligkeit bestimmt war, ließ Gottsched Ende Februar 1729 wissen, daß Hans Carl von Kirchbach (1704—1753), Freiberger Bergamtsassessor und ehedem Organisator der künstlerischen Zusammenarbeit zwischen Gottsched und Johann Sebastian Bach, sich „wegen der piece des Piccanders wieder Sie sehr geärgert"80 habe. Gottscheds spezielle Reaktion wird hier nicht kommentiert, vielleicht war darüber in Dresden nichts bekannt. Aber Kirchbach war, wie König betont, ein Sympathisant Gottscheds und wird deshalb auch gegen Gottscheds Reaktion nichts einzuwenden gehabt haben. Ein gewisser Vorbehalt ist dagegen in einem Schreiben zu erkennen, das Gottsched 1730 aus Straßburg erhielt. Der Absender war Georg Christian Wolff (1702-1773). Er hatte in Leipzig Philosophie studiert, war, zusammen mit Gottsched, der erste Preisträger der von der Deutschen Gesell76 77
Vgl. Quellenanhang 3. Vgl. Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10086, Juristenfakultät Leipzig, Nr. 638—655: Aktenbücher der Leipziger Juristenfakultät. 78 Vgl. Quellenanhang 3. 79 Vgl. Günter Schmidt: Libelli famosi. Zur Bedeutung der Schmähschriften, Scheltbriefe, Schandgemälde und Pasquille in der deutschen Rechtsgeschichte. Köln, Universität, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Dissertation 1985, S. 239. 80 Johann Ulrich König an Gottsched, Dresden 28. Februar 1729. Gottsched: Briefwechsel, Band l, Nr. 78.
Ein Leipziger Dichterstreit
111
schaft seit 1728 für poetische und rhetorische Texte ausgelobten Preise81 und einer der ersten Übersetzer Jonathan Swifts (1667-1745). Wolff hatte gegen die Mehrheitsmeinung in der Deutschen Gesellschaft und gegen Gottsched die Aufnahme der Christiana Mariana von Ziegler (1695—1760) in die Deutsche Gesellschaft mißbilligt - die Vorgänge konnten noch nicht rekonstruiert werden82 - und damit den Unmut der Mitglieder auf sich gezogen. Gottsched scheint ihm deswegen fehlende Großmut vorgehalten zu haben. In seiner Antwort gibt Wolff den Vorwurf zurück und erinnert an den Streit mit Henrici: „Haben Sie gegen Picandern sich nicht durch Hülffe der Rechte vertheidiget? Und wenn Sie die Klemmen zusammen rechnen, die Sie ihm hier und da bey Gelegenheit angehangen, so möchte unserer beyden Großmuth ein ander wohl die Wage halten."83 Wenn man dieser Bemerkung einen allgemeineren Aussagewert beimessen will, was angesichts ihres selbstapologetischen Charakters problematisch ist, scheint Gottscheds Vorgehensweise zumindest nicht als Bravourstück angesehen worden zu sein. Sie wirkte wohl eher kleinlich und rechthaberisch. Auch Johann Christoph Rost (1717—1765), einstiger Schüler und Schutzbefohlener Gottscheds, hat in einer viel gelesenen Satire gegen den ehemaligen Mentor84 an den Streit erinnert. Er läßt den Protagonisten Rückblick auf seine Auseinandersetzungen halten. Der kämpferische Gottsched „Zählt an den Fingern her, wie viel er klein gemacht;/ Fängt vom Picander an, der Schweitzer unvergessen,/ Biß auf den Mauvillon85 die lange Reyh zu messen."86 Da die Schweizer von Gottsched, wie hinreichend bekannt, nicht „klein gemacht" wurden, dient die Passage augenscheinlich dazu, Gottsched als einen unter Wirklichkeitsverkennung leidenden Grobian vorzuführen. Es ist allerdings auffällig, daß der HenriciFehde der gleiche Rang wie der Streit mit den Schweizern zuerkannt wird. 81
82 83 84
85
86
Vgl. Detlef Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und die von ihr vergebenen Auszeichnungen für Poesie und Beredsamkeit 1728—1738. In: Karlheinz Blaschke und Detlef Döring (Hg.): Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2004, S. 187-225, 223. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Gottsched: Briefwechsel, Band l, Nr. 212. Georg Christian Wolff an Gottsched, Straßburg 29. Dezember 1730. Gottsched: Briefwechsel, Band l, Nr. 212. Waniek, S. 448. Hilmar Kormann: Johann Christoph Rost. Eine literarkritische Untersuchung als Beitrag zur Geschichte des deutschen Rokoko. Erlangen-Nürnberg, FriedrichAlexander-Universität, Philosophische Fakultät, Dissertation, 1966, S. 198-242. Über die Auseinandersetzung Gottscheds mit Eleazar Mauvillon (1712—1779) vgl. Roland Krebs: Les „Lettres fra^aises et germaniques" de Mauvillon et leur reception en Allemagne. In: Dix-Huitieme Siecle 14 (1982), S. 377-390, 383-390. (Johann Christoph Rost:] Das Vorspiel Ein Episches Gedichte. Mit des Verfassers eigenen und edichen neuen Anmerkungen. Die vierte Auflage. In: [Johann Jacob Bodmer:] Critische Betrachtungen und freye Untersuchungen zum Aufnehmen und zur Verbesserung der deutschen Schau=Bühne. Bern 1743, S. 32.
112
RÜDIGER OTTO
Andererseits fühlte man sich genötigt, die Stelle zu kommentieren,87 eine Kenntnis der Fakten konnte nicht vorausgesetzt werden. Die Erinnerung war wohl vor allem in Leipzig und natürlich im Umkreis Gottscheds lebendig, zumal auch Henrici weiterhin in Leipzig wohnte und durch seine Position und durch kurfürstliche Schenkungen einen gewissen Wohlstand erworben hatte. Eine direkte Konfrontation scheint es zwischen Gottsched und Henrici nach 1729 nicht mehr gegeben zu haben, sieht man von einigen abfälligen Bemerkungen in Gottscheds Critischer Dichtkunst ab88 und davon, daß mit der zischenden Schlange, gegen die sich Henrici gegebenenfalls zur Wehr setzen will,89 Gottsched gemeint sein dürfte. Wie sehr Henrici gleichwohl im Blickfeld der Aufmerksamkeit Gottscheds geblieben ist, läßt sich durch verschiedene Indizien belegen. 1739 erschienen die Gespräche ^wischen Johann Christian Günthern aus Schlesien In dem Reiche der Todten Und einem Ungenannten In dem Reiche der lebendigen?® Die anonyme Schrift reagierte auf eine Publikation, die unter dem Titel Johann Christian Günthers, Des Berühmten Sehlesischen Dichters Leben und Schriften im Jahr zuvor erschienen war. Diese Biographie war unter dem Pseudonym Carl Ehrenfried Siebrand veröffentlicht worden, aber der Name des wahren Urhebers blieb zumindest Gottsched und der Leipziger Deutschen Gesellschaft nicht lange verborgen.91 Dort bestand ein großes Interesse an dessen Identifizierung, denn die Schrift nahm Partei für die schlesische Poesie und polemisierte gegen Gottscheds Kritik an den Schlesiern. Als Autor 87
„Dieser hat die Verwegenheit gehabt, sich mit Herr Gottscheden in dessen Magister= Jahren zu balgen, ward aber von ihm unter den Fuß gebracht und entwarnet." Rost, Das Vorspiel (Anm. 86), Anm. zu Vers 185. 88 AW 6/1, S. 64f. und 6/2, S. 580, vgl. auch Waniek, S. 71; Flossmann (Anm. 11), S. 62. In seiner Bibliographie deutscher Theaterstücke fuhrt Gottsched zum Jahr 1726 Henricis Komödiensammlung an und referiert einige Bemerkungen aus dem Vorwort; vgl. Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer= Lust= und Sing=Spiele. Leipzig: Johann Michael Teubner, 1757 (Nachdruck Hildesheim; New York 1970), S. 302f. 89 Henrici, Gedichte l (Anm. 8), S.):( 3v. 90 [Johann Wilhelm Steinauer]: Gespräche zwischen Johann Christian Günthern aus Schlesien In dem Reiche der Todten/ Und einem Ungenannten In dem Reiche der Lebendigen: In welchem Beyde des Erstem 1738 zu Breslau gedruckten Lebenslauf beurtheilen; Und bey dieser Gelegenheit ihre Gedanken über einige itztlebende deutsche Dichter und Dichterinnen eröfnen. Nebst einer Zueignungsschrift an Seine Hochedeln, den Herrn D. Steinbach in Breslau. Das Erste Stück. 1739; vgl. die Inhaltsübersicht in Reiner Bölhoff: Johann Christian Günther 1695-1975. Kommentierte Bibliographie. Band 1. Köln; Wien 1980, S. 281, Nr. 515 und Gustav Eitner: Christian Günther's Biograph Dr. Steinbach von Breslau und die Gottschedianer. In: Otto Heine: Zur Feier des Geburtsfestes ... sowie zur öffentlichen Prüfung der Schüler des hiesigen Gymnasiums zu St. Maria-Magdalena ... Breslau 1872, S. 1-26,14-21. 91 Vgl. Titelangabe und Inhaltsübersicht in: Bölhoff, Günther (Anm. 90), S. 260f., Nr. 480 und Eitner, Steinbach (Anm. 90), S. 8-12, zum Hintergrund und zur Identifikation des Autors vgl. Waniek, S. 346f.
Ein Leipziger Dichterstreit
113
wurde der Breslauer Lexikograph und Arzt Christoph Ernst Steinbach (1698—1741) namhaft gemacht. Brisant war dies dadurch, daß Steinbach Mitglied der Leipziger Deutschen Gesellschaft war und durch seine Offensive die statuarisch festgelegte Verpflichtung zur friedfertigen Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder verletzt hatte. Gottscheds Erwartung, daß die übrigen Mitglieder die Brüskierung ihres Seniors nicht ungestraft hinnehmen und Steinbach umgehend aus der Gesellschaft ausschließen würden, erfüllte sich nicht, und Gottsched sah sich infolgedessen seinerseits genötigt, die Deutsche Gesellschaft, die er in mehr als einem Jahrzehnt zu beträchtlichem Ansehen geführt hatte, zu verlassen.92 Unter diesen Umständen verwundert es nicht, daß Gottsched rasch als Autor der Gespräche ins Spiel gebracht wurde.93 Das entsprach freilich nicht den Tatsachen, aber daß der Text ohne Gottscheds Einfluß entstanden wäre, ist ebenfalls unzutreffend. Sein Verfasser Johann Wilhelm Steinauer (1715-um 1790)94 war 1734 bis 1738 Leipziger Student und „Bewunderer" Gottscheds95 und fühlte sich aufgerufen, in die Bresche zu springen. Seine Verteidigungsstrategie bestand vor allem darin, Gottscheds Gegner zu diskreditieren, neben Steinbach und Gottscheds Intimfeind Johann Ulrich König auch Henrici. Wenn auch die grobe und bisweilen ehrenrührige Polemik Zutat Steinauers gewesen sein mag, in der Sache dürfte der Text als aktuelles Tableau der Urteile und Meinungen der Gottschedschule anzusehen sein. Der Dichter Günther (1695-1723) befragt den Neuankömmling im Totenreich nach Henrici: „Wie führt er sich denn itzo auf?" — „Vernünftiger, als jemals. Denn er schreibt wenig oder gar nichts mehr, und ist also der Welt durch seine lächerlichen und groben Possen nicht mehr zur Last. Er hat leider 4 Bände Gedichte herausgegeben, welche man, die geistlichen ausgenommen, unsinnig nennen muß."96 Die Gründe: „Seine Gedichte sind voller niederträchtiger Zoten, welche sich ein ehrbarer Mensch zu lesen billig scheuen muß. Die Urtheilskraft fehlt überall. Die Einbildungskraft herscht ganz allein in denselben. Ich beklage in der 92
93 94
95
96
Vgl. Waniek, S. 348f; und Ernst Kroker: Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft. In: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Alterthümer 9 (1902), S. 1-41. Vgl. Otto Günther: Aus Gottscheds Briefwechsel. In: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Alterthümer IX (1894), S. 47-60, 55. Nach Bölhoff (Anm. 90), S. 281 konnte der Verfasser der Schrift nicht ermittelt werden, vgl. aber Waniek, S. 351-354. Über Steinauer vgl. Günther, Aus Gottsched's Briefwechsel (Anm. 91) S. 51—60 und Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Weimar 1988, S. 170-172. Günther, Aus Gottscheds Briefwechsel (Anm. 93), S. 52; Gottsched hat sich von dem Text distanziert; vgl. Beyträge zur Critischen Historic der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Band VI, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1739 (Nachdruck 1970), Bl. D( 5t]. Steinauer, Gespräche (Anm, 90), S. 151.
114
RÜDIGER OTTO
That das Schicksal dieses sonst lebhaften Kopfes. Er schreibt recht fliessend und weit reiner, als Stoppe und König, und ist überhaupt ganz aufgeweckt. Wenn er sich in seinen Studentenjahren so gut mit der Philosophie, als mit den jungen Mägden bekannt gemacht, und fleißiger in die Poeten der Alten, als in den merseburger Bierkrug gesehen hätte, so würde Leipzig eben so viel Ehre mit seinem Heinrici eingelegt haben, als es itzo Schande an demselben erlebt. Indessen finden doch seine elenden Zoten hie und da Beyfall."97 Der Verfasser drückt allerdings sein Erstaunen darüber aus, daß der Beifall nicht nur von „solchen Personen, welche einige ihren Leidenschaften gemäße Zoten drinnen finden", kommt, und verweist auf das Beispiel des Predigers Christian Weise,98 der Picanders Verse wegen ihrer poetischen Qualitäten einem Knaben als Lektüre empfohlen hatte. Bedenken gegen die von den Schlüpfrigkeiten ausgehende Gefährdung der Jugend zerstreute Weise mit den Worten: „der Knabe wird diese Zötchen nicht verstehen".99 Diesem Bericht ist zu entnehmen, daß Henricis Ansehen in der Leipziger gehobenen Gesellschaft weder durch seine Gedichte selbst noch durch Gottscheds Attacken bleibenden Schaden genommen hat. Im Gegenteil, die „Zötchen" wurden zwar zur Kenntnis genommen, beeinträchtigten aber nicht die Wertschätzung, die der formalen Eleganz oder Leichtigkeit seiner Verskunst entgegengebracht wurde. In gewisser Weise teilte der Verfasser Steinauer diese Wertschätzung, wenn er Henricis dichterische Qualitäten und seine Einbildungskraft rühmt. Er beanstandet jedoch die völlige Abwesenheit der Urteilskraft. Im Sinne Gottscheds verfügt er damit über die notwendige Voraussetzung des Poeten, sprachliche Gewandtheit und Phantasie, aber eben nicht über die hinreichende Qualifizierung, für die das Kontrollorgan der Urteilskraft unerläßlich ist.100
97 98
Steinauer, Gespräche (Anm. 90), S. 152. Er wird ohne Vornamen genannt und folgendermaßen charakterisiert: „In Leipzig ist ein junger Prediger, M. Weise. Dieser junge Geistliche verdienet allgemeinen Beyfall. Seine Worte und seine Aufführung stimmen überein. Welches bey seinen Ordensbrüdern beynahe etwas Unerhörtes ist. Er bauet die Kirche GOttes mit Ernst und Eiffer." Steinauer, Gespräche (Anm. 90), S. 152f. Unter den drei Leipziger Predigern namens Weiß bzw. Weise (vgl. Vollständiges Verzeichniß der Prediger in Leipzig ... von dem 1539 bis zu dem jetzigen 1777 Jahre. 3. Auflage. Leipzig: Christian Philipp Dürr, [1777]) kommt nur Christian Weise d. J. (1703-1743) in Frage. Er wurde 1723 Magister der Philosophie, 1726 Katechet an der Peterskirche, 1731 Subdiakon an der Thomaskirche, 1737 Diakon an der Nikolaikirche und 1740 außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät, vgl. Petzoldt, Johann Sebastian Bach in theologischer Interaktion (Anm. 4), S. 156f. Vgl. auch Zedler 54 (1747), Sp. 1077-1082. 99 Steinauer, Gespräche (Anm. 90), S. 153. 100 Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, l, 2: Von dem Charactere eines Poeten (AW 6/1, S. 143-167,152-155).
Ein Leipziger Dichterstreit
115
Als der von Gottsched geförderte und auf Anregung Gottscheds von der Leipziger Philosophischen Fakultät gekrönte Dichter Christoph Otto von Schönaich (1725-1807) 1754 sein Neologisches Wörterbuch veröffentlichte, wurde auch Henrici in das Bestiarium aufgenommen, das die zeitgenössischen Schriftsteller durch Tiere und ihre Eigenschaften charakterisierte. Gemeinsam mit Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) und dem Hirschberger Dichter Daniel Stoppe (1697-1747) wird Henrici zu den Straußen gezählt, die zum Fliegen zu träge sind und „deren natürliche Trägheit ihnen selten vergönnet, sich von der Erde zu erheben; ihre Flügel dienen ihnen nicht zu fliegen, und ihre Bewegung hält ein gewisses Mittel zwischen Fliegen und Gehen: dieses nun zu erstatten, laufen sie mit einer ausserordentlichen Geschwindigkeit."101 Wenn die Urteile auch nicht sonderlich günstig ausfallen, so vermitteln sie doch einen Eindruck davon, daß sich Henricis Gedichte in der Gottschedschule einer bleibenden Aufmerksamkeit erfreuten und dort in bestimmter Weise, als Produkte eines zwar verwahrlosten, aber doch geschickten, wenn auch nicht grandiosen Versifikateurs wahrgenommen wurden. Daß Henricis Gedichte von Gottsched selbst, beispielsweise in der Critischen Dichtkunst, keiner öffentlichen Bewertung unterzogen wurden,102 bedeutet nicht, daß Gottsched Henrici aus den Augen verloren hätte. Die folgenden zwei Zeugnisse aus Gottscheds Briefwechsel sprechen eher für das Gegenteil. Gottscheds Haltung ist einerseits von Geringschätzung geprägt, andererseits ist die Verwunderung — oder sollte man von Verletzung sprechen? - nicht zu verkennen, mit der Gottsched registriert, daß Henricis pragmatisch-offensive Handhabung der Poesie am kursächsischen Hof wohlgefällig aufgenommen und honoriert wurde: Gottscheds Briefe an seinen Förderer Ernst Christoph Graf von Manteuffel (1676-1749) zeichnen sich im allgemeinen durch vollendete Höflichkeit aus. Trotz des großen Maßes an verbindenden Interessen und trotz der Leutseligkeit Manteuffels gegen Gottsched und seine Frau achtete insbesondere Gottsched sorgfältig darauf, Signale der Devotion auszusenden und die Rangunterschiede zu respektieren. Als Gottsched in einem Brief vom 16. April 1740 unvermittelt und ohne die übliche Danksagung und Ergebenheitsformeln seinen Brief beginnt, erklärt er sein Vorgehen sogleich selbst: „Ich sehe, daß es heute zu Tage so die Mode ist, 101 Christoph Otto von Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch. Hg. von Albert Köster. Berlin; Leipzig 1899, S. 71. 102 Das liegt vor allem an Gottscheds Prinzipien für die Auswahl an Beispielgedichten. In den ersten zwei Auflagen zitierte Gottsched eigene, in der dritten Gedichte verstorbener Dichter, später verzichtete er ganz auf Beispiele; vgl. Alfred Pelz: Die vier Auflagen von Gottscheds Critischer Dichtkunst in vergleichender Betrachtung. Breslau, Schlesische FriedrichWilhelms-Universität, Philos. Fak., Diss., 1929, S. 9-16.
116
RÜDIGER OTTO
hübsch grob mit Standespersonen zu reden, und daß diejenigen, die es thun, weiter damit kommen, als höfliche Leute. Noch neulich hat hier Heinrici, bisheriger Post=Commissarius, den Kreis=Steuer=Einnehmer= Dienst, durch eine so handgreifliche Bittschrift erhalten; welche ich ihrer Seltenheit wegen E. hochgeb. Excellence mitschicke. Sie ist an des H.n Gr. von B. Excell. gerichtet, und man kann sich wenigstens die Lehre daraus nehmen, wie man mit großen Herrn reden müsse, wenn man ihrer Gnade theilhaftig werden will."103 Dem Brief ist die im Anhang mitgeteilte Abschrift des so dreisten wie erfolgreichen Bittgedichts Henricis an den damaligen Kammerpräsidenten Heinrich von Brühl (1700—1763), den mächtigsten Mann am kursächsischen Hof, beigefügt. Manteuffel teilt Gottscheds Geringschätzung der Picanderschen Poesie im allgemeinen, weiß aber, daß Verse dieser Art am Hof gut ankommen und für geistvoll gehalten werden.104 Diese Auskunft scheint Gottsched so beschäftigt zu haben, daß er wenig später selbst ein „Picandrisches Meisterstück"105 verfaßte, um mit einem Anliegen zum Ziel zu kommen. Im Jahr 1740 stand die Dreihundertjahrfeier der Erfindung des Buchdrucks ins Haus.106 Die Leipziger Buchdrucker erbaten aus diesem Anlaß von Gottsched eine (nachmals berühmte) Rede,107 die in der Universitätskirche vorgetragen werden sollte. Unter etwas fadenscheinigen Gründen wurde ihm dieser 103 Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 16. April 1740, UBL, 0342 VI a, Bl. 140-142. 104 „On voit bien par la requete poetique, que vous me communiquez, que les Pegase de l'auteur n'est qu'un bidet surmene, de l'ecurie des postes. J'ai cependant vu cy-devant des productions du meme Rimailleur, qui m'ont paru moins execrables. Quoiqu'il en soit, cette requete ne pouvoit manquer de plaire ä la cour; trouve joli, et plein d'esprit, tout ce qui est rime et burlesque; ... Je suis persuade, sur tout, qu'on aura fort applaudi ä toutes ces expressions Steurales, et qu'on aura admire principalement cette rime si ingenieuse de Catastrum et de Rastrum." Ernst Christoph Graf von Manteuffel an Gottsched, Berlin 20. April 1740, UBL, 0342 VI a, Bl. 152-153.152v. 105 Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 14. Mai 1740, UBL, 0342 VI a, Bl. 189—190. Die folgenden Zitate sind diesem Brief entnommen. Dieser und weitere auf das Buchdruck-Jubiläum bezügliche Briefe aus der Korrespondenz Manteuffel — Gottsched liegen schon gedruckt vor; vgl. Karl August Espe: Gottsched's, seiner Frau und des Reichsgrafen von Manteuffel in Berlin Briefwechsel in Bezug auf das 1740 in Leipzig begangene Jubelfest der Erfindung der Buchdruckerkunst. In: Karl August Espe (Hg.): Bericht vom Jahre 1839 an die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zu Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer. Leipzig 1839, S. 46-58. 106 Zu diesem Datum vgl. Zedler 4 (1733), Sp. 1755-1758. Vgl. auch Erläuterungen zu Gottscheds Rede. In: Johann Christoph Gottsched: Festrede zur 300jährigen Jubelfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst gehalten in Leipzig am 27. Juni 1740. Leipzig 1930, nicht paginiert. Über die Leipziger Jubiläumsfeiern vgl. Dietmar Debes: Einleitung. In: Dietmar Debes (Hg.): Gepriesenes Andenken von Erfindung der Buchdruckerei. Leipziger Stimmen zur Erfindung Gutenbergs. Leipzig 1968, S. 5-17; Gottscheds Rede hier S. 57-88. 107 Gottsched, Festrede (Anm. 106); über weitere Drucke vgl. die Erläuterungen zu diesem Neudruck.
Ein Leipziger Dichterstreit
117
Vortragsort verwehrt, die Rede sollte im philosophischen Auditorium gehalten werden, das wesentlich weniger Zuhörern Platz bot. Gottsched beriet sich mit dem Rektor Johann Erhard Kapp (1696—1756), der vor einer „Gegenvorstellung" warnte, um nicht die Feier insgesamt zu gefährden. Da aber von diesem kleineren Kreis die Leipziger Buchdrucker und damit die Initiatoren aus Raumgründen ausgeschlossen sein würden, stellten Gottsched und sein „Hauswirt", der Drucker und Verleger Bernhard Christoph Breitkopf (1695-1777), Überlegungen über einen möglichen Ausweg an. Bei diesem Stand der Dinge wurde Breitkopf überraschend benachrichtigt, daß der Graf Brühl mit seiner Gemahlin „den Nachmittag seine Buchdruckerey und Schriftgießerey besehen" wollten. Ihr Eintreffen - „es war schon vier Uhr, so daß man alle Augenblicke die Ankunft der hohen Gäste vermuthete" — stand unmittelbar bevor. In dem Moment, schreibt Gottsched, „kam ich auf den Einfall in ein paar Knittelversen eine Bittschrift an den Grafen abzufassen, die Breitkopf geschwinde in Drucke absetzen, und in Gegenwart seiner Excell. des H. Grafen von Brühl abdrucken und unverhofft übergeben könnte. Der Anschlag gefiel ihm; und in ein paar Minuten, war mein Picandrisches Meisterstück fertig." Letzten Endes kam zwar nur die Gräfin in Begleitung zahlreicher Hofleute, aber die Überraschung gelang und Gottsched konnte vermelden, daß nach seinem Kenntnisstand Brühl mit dem dafür zuständigen Konsistorialpräsidenten Christian Gottlieb von Holzendorff (1696-1755) gesprochen und von ihm die Zusage für die Universitätskirche erhalten habe. Gottsched resümiert: „Ich bin damit glücklicher gewesen, als mit allen meinen viel mühsamem Stücken die ich mein Tage auf Käyser und Könige gemacht habe." Letzten Endes konnte die Rede doch nur im philosophischen Auditorium gehalten werden,108 aber das hängt schon nicht mehr mit dem erfolgreichen Versmanöver zusammen, sondern verweist nur auf die Mißgunst und die starken Gegenkräfte inner108 Die Folge war, daß um den Ort des Geschehens eine dichte Menschenansammlung entstand. „Der ganze Platz im großen Fürsten Collegio, ja bey der Niclaskirche hat noch voll gestanden, als inwendig schon alles voll war. Die Leute sind an den Fenstern mit Leitern aufgestiegen, und auch hinter der Catheder haben auf dem Walle am Fenster, eine Menge Leute gestanden und mir durch dasselbe zugehöret." Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 3. Juli 1740, Leipzig, ÜB, 0342 VI a, Bl. 228-229, 229r; vgl. auch den Teildruck mit dem Bericht über die Turbulenzen bei Espe (Anm. 105), S. 55f. Gottscheds alter Bekannter Johann Friedrich May (1697-1762) kommentierte die Ereignisse folgendermaßen: „Vergangene Woche ließ sich am Montage der Herr Prof. Gottsched mit einer Jubelrede auf die Buchdrucker Kunst hören und er hat damit großen Beyfall erhalten; es wäre nur zuwünschen gewesen, daß sie hätte dürfen in der Universitäts Kirche gehalten werden, indem solche alsdenn von mehrern Leuten hätte können gehört werden, zumahl da sie in deutscher Sprache abgefaßt war. Der Neid mag die gröste Hinderniß dabey gewesen seyn." Johann Friedrich May an einen unbekannten Empfänger, 3. Juli 1740, Tartu Mrg. CCCLIVa, Ep. phil. I, Bl. 246f, 247r.
118
RÜDIGER OTTO
und außerhalb der Universität. Was das Verhältnis Gottscheds zu Henrici angeht, offenbaren diese Berichte, daß Henricis unbekümmerte und erfolgreiche Vorgehensweise Stein des Anstoßes und in gewisser Weise doch auch ein Faszinosum war. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Ausmaß Henrici in der Korrespondenz Gottscheds weiterhin präsent ist.109 Immerhin verbrachten beide ihr Leben in derselben Stadt und, zumindest gelegentlich, in der gleichen Gesellschaft,110 wechselseitige Aufmerksamkeit war gar nicht zu umgehen. Dennoch ist nicht mit einer gravierenden Änderung der Gesamtkonstellation zu rechnen. Es dürfte also nicht übereilt sein, über das Faktische hinausgehend das Verhältnis Gottscheds zu Henrici nach charakteristischen Merkmalen, thematischen und strukturellen Kontinuitäten und danach zu befragen, inwieweit am persönlichen Konflikt allgemeine Konstellationen erkennbar werden.
109 Die Bezugnahmen auf Henrici innerhalb der Korrespondenz sind durchaus unterschiedlich. Ein mit Gottsched unvertrauter Briefschreiber zitierte 1734 aus Henricis Vorrede zu einer Gedichtsammlung, ohne Animositäten Gottscheds in Rechnung zu stellen, vermutlich war ihm der Konflikt zwischen den beiden Dichtern unbekannt; vgl. Nathanael Caesar an Gottsched, Kassel 9. November 1774, UBL, 0342 III, Bl. 161-162, 161r-v. Dagegen entspricht das Urteil des Pfarrers Gottlieb Ernst Martini Gottscheds Sicht, obwohl auch er mit Gottsched nicht persönlich bekannt war. Er schickte Hochzeitsverse eines Anonymus nach Leipzig, nach seiner Vermutung stammen sie von Henrici. Sie enthalten offenbar Despektierliches über den „Priester-Stande auff dem Lande", der Autor habe „alle schimpffliche Sprich=Wörter, so etwan unter dem Pöbel von diesem Stande im Schwange gehen, zusammen^ und anzubringen gesucht. Ja er braucht Ausdrückungen, so selbst die natürliche Schamhafftigkeit beleidigen." Er, Martini, wolle selbst nichts dagegen unternehmen, bitte aber Gottsched, dagegen vorzugehen, um „den edlen Pleißen-Strom reinzuhalten. Daß dieser Schwan auff der Pleiße geschwommen, da er das Liedgen angestimmet, deßen bin genugsam versichert. Ob es aber aus des so genannten Picanders Schwanenhals insonderheit erschollen, darnach habe ich ... nicht näher nachforschen wollen. Wäre dieses, so könnte, nebst vielen ändern Gegen-Erinnerungen, demselben gantz richtig fürgehalten werden, daß niemand weniger Ursache hätte, der Geistlichkeit das hungrige Wesen auffzurücken, als derjenige, welchen eben der Hunger zum Poeten gemacht." Gottlieb Ernst Martini an Gottsched, Bockwitz 1. Dezember 1741, Leipzig, ÜB, 0342 VI b, Bl. 281-282, 281v-282v. Im Jahr 1753 schließlich meldet sich ein junger Journalist und schildert Gottsched seine Aktivitäten in den zurückliegenden Jahren. Er wolle nicht als Lehrer in seine Heimat zurückkehren. Deswegen habe er verschiedene akademische Hilfsarbeiten verrichtet „und verdiente mir einen schönen Thaler Geld mit Versen da denn freylich Herr Picander und Herr Hans Sachse große Leute gegen mir waren". [Gottlieb Sigismund?] Crusius an Gottsched, Würzen 25. Oktober 1753, UBL, 0342 XVIII, Bl. 524-525, 525v. 110 Gottsched und Henrici gehörten seit 1748 gemeinsam der „Fraternität der Notarien und Litteraten" an; vgl. Anm. 139.
Ein Leipziger Dichterstreit
119
2. Gottsched und Henrici — Bedingungen, Konfliktfelder, Positionen Auffällig ist zunächst die Asymmetrie im Verhalten beider. Henricis Haltung ist im wesentlichen defensiv. Wenn er Gottsched angreift, so deshalb, um sich gegen Gottscheds polemische oder satirische, moralische und ästhetische Kritik zur Wehr zu setzen. Seine Methode besteht darin, die kritischen Spitzen auf ihren Urheber zurückzulenken und dessen Tun an den von ihm selbst vorgegebenen Maßstäben zu messen. Ein eigenes Interesse an Gottscheds wissenschaftlichem oder künstlerischem Werk scheint auf Henricis Seite nicht zu bestehen. Welche Texte Gottscheds er kannte und was er von ihnen hielt, wissen wir nicht. Henrici war kein Programmatiker, der poetologische Konzepte durchsetzen wollte. Als gefragter Versepraktiker begnügte er sich mit dem unmittelbaren Erfolg seiner Poesie, als Librettist bzw. Kantatendichter entwarf er Texte unter dem Gesichtspunkt der musikalischen Verwertbarkeit, also nach pragmatischen Kriterien. Gottsched hingegen inszenierte sich als Reformator, als Missionar eines literarischen Programms, das er gegen die schlechte Praxis durchzusetzen hatte. Infolgedessen war er an friedlicher Koexistenz nicht interessiert. Dies wird schon im Teutschen Persius hinreichend deutlich. In der Vorrede wird klar zum Ausdruck gebracht, daß er von Bescheidenheitsbekundungen und Sympathiewerbungen des Autors beim Publikum nichts hält. Sie seien eine List, mit der der Autor Nachsicht gegen seine Schwäche erzeugen und das kritische Urteil außer Kraft setzen wolle.111 Er ist gegen derartige Demutsgesten immun, verzichtet seinerseits darauf und läßt sich auch nicht auf einen Handel wechselseitiger Nachsicht ein: „Dencke [...] nicht daß ich dich deswegen schonen, und etwa zur Danckbarkeit, die Flecken übersehen, deine Narben bedecken werde."112 Er übt keine Schonung und beansprucht sie auch nicht. Auf mögliche Entgegnungen kündigt er vorab eine schärfere Reaktion an. Auch wenn keine Entgegnungen erfolgen sollten, will er das kritische Geschäft nicht aussetzen. Vielmehr läßt er keinen Zweifel daran, daß die Satire auf die eingebildeten Poeten nur der Auftakt weiterer Arbeiten sein würde, wie er denn in der Tat mit den Tadlennnen und dem Biedermann seine Ankündigung einhält. Mit anderen Worten, Gottsched schuf ganz gezielt und wissentlich ein Klima der Konkurrenz. Er fügte sich nicht in die Verhältnisse ein, um stillschweigend daran zu partizipieren, sondern gab unmißverständlich zu Protokoll, daß er die Verhältnisse ändern und zu seinen Gunsten umge111 „Listige Füchse! Mein Leser hüte dich. Diese Bescheidenheit ist ein Nebel deine Augen zu umwölcken." Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 4. 112 Gottsched, Persius (Anm. 28), S. 5.
120
RÜDIGER OTTO
stalten, daß er die Mitbewerber um die Ressource Aufmerksamkeit disqualifizieren wolle, um sie zu verdrängen. Mit dieser Strategie trug er allerdings einer Situation Rechnung, die für die Buch-, Universitäts- und Handelsstadt Leipzig charakteristisch war. Die Ressourcen und Verteilungsspielräume waren geringer als die Zahl interessierter und befähigter Personen, und infolgedessen war die Verteidigung erworbener und die Erschließung neuer Positionen ein Gebot der Selbstbehauptung. Um es an einigen Beispielen zu illustrieren: Im Oktober 1727 beschwerte sich der Universitätsmusikdirektor Johann Gottlieb Görner (1697-1778), als Johann Sebastian Bach und nicht er mit der Vertonung und Aufführung der von Gottsched anläßlich des Todes der sächsischen Kurfürstin Christiane Eberhardine (1671-1727) verfaßten Trauerode113 betraut wurde. Beide Seiten achteten darauf, daß die ihnen zugesicherten Rechte nicht angetastet würden.114 Die Schauspielerin Friederike Caroline Neuber (1697-1760) stritt gegen Joseph Ferdinand Müller (1700-1761) erbittert um das Auftrittsprivileg in Leipzig und ganz Kursachsen.115 Auch im Bereich des Zeitschriftenwesens bestand ein Verdrängungswettbewerb. Erfolgsmodelle wurden mit Überbietungsabsichten kopiert.116 Anhand der Bewerbungsakten im Dresdner Hauptstaatsarchiv kann man verfolgen, wie sich über längere Zeiträume die immer gleichen Kandidaten für die wenigen freiwerdenden Stellen empfahlen.117 Selbst das Verhältnis von Christiana Mariana von Ziegler und Luise Adelgunde Victorie Kulmus, Gottscheds künftiger Frau, steht unter dem Vorzeichen der Rivalität. Die rückblickende Aussage der Frau Gottsched, durch die Aufnahme der Frau von Ziegler sei die Leipziger Deutsche Gesellschaft für sie unattraktiv geworden,118 wirft ein bezeichnendes licht auf das Bewußtsein qualitativer 113 Vgl. Matthias Pape: Das Herrscherepicedium zwischen Barock und Aufklärung. Die Trauerode von Johann Christoph Gottsched und Johann Sebastian Bach auf den Tod der sächsischen Kurfürstin Christiane Eberhardine (1727). In: Majestas 12 (2004), S. 83-128. 114 Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach. Frankfurt am Main 2005, S. 338f. Das persönliche Verhältnis zwischen Bach und Görner wurde durch die in den Anstellungsverhältnissen begründeten Differenzen allerdings nicht belastet, vgl. S. 335-337. 115 Vgl. Friedrich von Reden-Esbeck: Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen. Leipzig 1881 (Nachdruck Leipzig 1985), S. 118-169. 116 Vgl. Rüdiger Otto: Johann Gottlieb Krause und die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. In: Hanspeter Marti; Detlef Döring (Hg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780. Basel 2004, S. 215-328,229-233. 117 Vgl. z. B. Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 10538/16 Ersetzung der Professor-Stellen in der Philosophischen Facultaet zu Leipzig. 1668.-1731. 118 „Vor vielen Jahren wollte man mich zum Mitglied der hiesigen deutschen Gesellschaft erwählen; ich antwortete, ehe * * * drinnen war, wäre mir die Ehre zu groß gewesen, jetzt ist sie mir zu klein." Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig, 27. Juli 1754. In: Kording, Louise Gottsched, S. 212-214, 213. Im allgemeinen wird der unkenntlich gemachte Name auf Frau von Ziegler bezogen, das einzige
Ein Leipziger Dichterstreit
121
Überlegenheit und den Willen, die Überlegenheit kompromißlos zur Geltung zu bringen. Immerhin wäre es im Sinne der gemeinschaftlichen Pflege der deutschen Sprache, der die Deutsche Gesellschaft verpflichtet und um derentwillen sie statt eines Eliteklubs eine auf Breitenwirkung angelegte Gesellschaft mit vergleichsweise moderaten Eintrittsbedingungen war, sinnvoll gewesen, möglichst viele auch weibliche Mitglieder einzubeziehen. Mit der Distanzierung wurde das Prinzip Konkurrenz über das der gemeinschaftlichen Zielorientierung gestellt.119
Konfliktfelder l: Zeitschriften, Theater Das Zusammentreffen Gottsched-Henrici verweist auf die gleiche Konfiguration. Als Zeitschriften-, Dramen- und Gedichtautor besetzte Henrici ein literarisches Feld, auf dem auch Gottsched reüssieren wollte. Es mag sein, daß Henricis Zeitschriftenproduktion nur wenige Berührungspunkte mit der Gottscheds aufweist. In beiden Fällen werden zeitgenössische Verhältnisse und Verhaltensweise satirisch widergespiegelt und kommentiert. Nach Inhalt, thematischer und sprachlicher Vielfalt, kontinuierlicher Erscheinungsweise und Wirkungsgrad waren die von Gottsched veröffentlichten moralischen Wochenschriften von ganz anderem Format als Henricis gereimte Zeitschriftenimitationen. Eine größere Nähe bestand im Bereich der Theater-Aktivitäten. Henricis Dramen- bzw. Komödienproduktion120 wird häufig im Vorfeld der Gottschedschen Theaterreform weibliche Mitglied der Deutschen Gesellschaft. Es könnte natürlich auch jedes beliebige männliche Mitglied gemeint sein, aber das würde die Passage ihrer Pointe berauben. Es gab zahlreiche Mitglieder, deren Produktivität sich nicht mit der der jungen Kulmus messen konnte, so daß nicht einzusehen wäre, warum ihr die Ehre jemals zu groß gewesen sein soll, wenn nicht ein Merkmal existierte, das nur * * * und ihr gemeinsam war und um dessen willen sie die Ehre als zu groß angesehen hat, und das dürfte darin bestanden haben, daß eine Frau in die Männerdomäne aufgenommen wurde. Eine Ehre wäre es nur bei Wahrung strenger Kriterien geblieben. 119 Ähnlich reagierte die 19jährige L. A. V. Kulmus auf den Antrag der um 9 Monate jüngeren Erfurter Dichterin Sidonia Hedwig Zäunemann (1714—1740), in einen Briefwechsel zu treten: Sie lehnte mit dem Hinweis auf die mit der Zäunemannschen Produktivität kontrastierende Langsamkeit ihres eigenen Schreibens ab. Sie würde, schreibt sie, den „Vorschlag ... nimmermehr verwerfen;/ Wüst ich nur meinen Kiel so schnell als Du zu schärfen". Schreiben. An die Jungfer Zäunemanninn in Erfurt, 1734. In: Luise Adelgunde Victoria Gottsched: Kleinere Gedichte. Leipzig 1763, S. 107-109, 108. Da sie aber diese Langsamkeit damit erklärt, daß ihr Schreiben durch Vernunft kontrolliert und auf Tugend und Wahrheit ausgerichtet ist — „War dieses nicht, wie schnell war mancher Bogen voll!" (S. 108) -, wird die zuvor mit Komplimenten versehene Produktivität der Frau Zäunemann unter der Hand als gehaldose Vielschreiberei abgekanzelt. 120 Vgl. zu den Stücken und Drucken Reinhart Meyer: Bibliographia dramatica et dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen Reichsgebiet gedruckten und ge-
122
RÜDIGER OTTO
angesiedelt,121 und damit sind sowohl Be2ug als auch Kontrast bereits angedeutet. Mit seinen gedruckten Komödien hat Henrici Anteil an der Literarisierung des Theaters, die Sprachgestalt leistet durch die Orientierung am Umgangssprachlichen einer klaren und unpreziösen Diktion Vorschub. Allerdings ist die Formung der Dialoge von Gottscheds Forderung einer natürlich-vernünftigen Sprache durch die Offenheit für vulgäre Elemente unterschieden.122 Überdies ist Henrici der Tradition der Commedia dell'arte und des Wandertheaters verpflichtet und repräsentiert damit die von Gottsched abgelehnte Form des Lustspiels.123 Die Regieanweisungen lassen dem von Gottsched attackierten Spiel- und Improvisationstalent des Harlekins große Freiheiten. Henricis Figurenensemble eignen keine sprachlichen oder ethischen Typisierungen, durch die das Laster der Satire ausgesetzt und die Tugend idealisiert wird: Die aufgeklärte Erziehungsfunktion der Komödie, die durch die Gegenüberstellung von Tugend und Laster und die Verspottung des Lasters erzielt wird, kommt in Henricis Text noch kaum zur Geltung. Auch die appellative Verwendung des Vernunftbegriffs ist nicht anzutreffen. In der Tradition der Commedia delT arte stehend zielen Henricis Komödien auf Unterhaltung, sie betonen das Spielelement und zeichnen sich durch moralische Indifferenz aus.124 Im Vorwort zur 1726 gedruckten Ausgabe seiner drei Komödien Der Academische Schlendrian, Der Ert^t—Säuffer und Die Weiber Probe schreibt Henrici einem „zur Zeit mir noch dunckel seyn wollenden Schicksal" die Verhinderung der Aufführung des Academischen Schlendrian zu.125 Nach Gustav Wanieks Vermutung könnte Gottsched dabei, „wie aus mehreren versteckten Anspielung und Bemerkungen hervorgeht, nicht ohne Einfluß gewesen sein".126 Von anderer Seite wurde geltend gemacht, daß Gottsched zu diesem Zeitpunkt gar keine Möglichkeit der Einflußnahme bei
121
122 123 124 125 126
spielten Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen. 2. Abteilung, Band 5 (1722-1725). 1996, S. 420f. Band 6 (1726-1729). 1996, S. 58. Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Leipzig 1923, S. 119f.; Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Stuttgart 1965, S. 142-167; Diethelm Brüggemann: Die sächsische Komödie. Studien zum Sprachstil. Köln; Wien 1970, S. 22^2. Günter Wicke: Die Struktur des deutschen Lustspiels der Aufklärung. Versuch einer Typologie. 3. Auflage. Bonn 1985, S. 11. Vgl. dazu und zum folgenden Brüggemann, Sächsische Komödie (Anm. 121), S. 22-42. Hinck, Lustspiel (Anm. 121), S. 168f. Vgl. Brüggemann (Anm. 121), S. 26; eine andere Bewertung hinsichtlich der satirischmoralischen Position der Stücke bei Hinck, Lustspiel (Anm. 121), S. 165 u. ö. Henrici: Vorbericht an den Leser. In: Henrici, Picanders Teutsche Schau=Spiele (Anm. 46), S. D(5v]. Waniek, S. 69, vgl. auch S. 107.
Ein Leipziger Dichterstreit
123
den Schauspielern hatte.127 Die Behauptung freilich, daß Henricis Stücke nie aufgeführt wurden,128 die vermutlich auf die Selbstaussage Henricis zurückgeht, ist angesichts der eingeschränkten Kenntnis von Spielplänen mit Vorsicht zu genießen. Nachdem die Stücke gedruckt vorlagen, konnte man auf die Texte zugreifen, und es mag mehrere Gymnasien gegeben haben, die wie das Zittauer Gymnasium zur Warnung oder Belustigung der Absolventen den Academischen Schlendrian aufgeführt haben.129 Gleichwohl dürfte Gottscheds bald darauf einsetzende Zusammenarbeit mit der Neuberschen Truppe und seine auf Erziehung mehr denn auf Unterhaltung zielende Komödienkonzeption dazu beigetragen haben, daß Henricis Komödien mittel- und langfristig chancenlos blieben.
Konfliktfelder 2: Poesie Der entscheidende Schauplatz für die widerstreitenden Interessen war der Bereich der Poesie. Läßt man die konkreten Vorwürfe, die seit dem Persius von Gottsched vorgetragen wurden, Revue passieren, dann gibt es einige, die auf Henrici nicht zutreffen und ihm möglicherweise auch nicht gegolten haben, denn eine mühselige Produktion wird man ihm nicht vorwerfen können, und auch der Hinweis auf Sprachmengerei trifft nicht ins Schwarze. Die Verwendung fremdsprachlicher Anteile ist bei Henrici keinesfalls Ausdruck sprachlichen Unvermögens, sondern wird wirkungsstrategisch gezielt und auch erfolgreich eingesetzt, wie Manteuffels Äußerung über den Applaus für das Reimpaar Rastrum/Catastrum zeigt.130 Zutref127 Wolfgang Hecht: Henrici-Picanders „Academischer Schlendrian" und die Leipziger Bühnenverhältnisse im Jahre 1725. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Gesellsch.-Sprachw. Reihe l (1954), Heft l, S. 63-71, 71, Anm. 21. 128 Werner Rieck: Die Theorie des deutschen Lustspiels in der Periode von 1688 bis 1736. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam, Gesellsch.Sprachw. Reihe 9 (1965), Heft l, S. 27-39, 32; Brüggemann (Anm. 121), S. 23; Haube (Anm. 15), S. 342. 129 Vgl. Theodor Gärtner: Quellenbuch zur Geschichte des Gymnasiums zu Zittau. Band 2. Leipzig 1911, S. 239-241: Am 21. Februar 1732 wurde „ein lustiges Spiel von dem akademischen Schlendrian" aufgeführt und zwar „Auf besondern Wunsch der Agierenden". S. 240. Auch an anderer Stelle wird auf Aufführungen hingewiesen; vgl. Hecht (Anm. 127), S. 71, Anm. 23. R. Meyer führt darüber hinaus die als „Drama per musica" bezeichneten Gedichte Henricis als szenisch aufgeführte Kantaten an; vgl. z. B. Meyer, Bibliographia (Anm. 120) 2, 5, S. 294 und 419f.; 2, 6, S. 415f.; 2, 8. 199, S. 36 und 324f. 130 Vgl. Anm. 104. Im Vorwort zu Henricis Schauspielen heißt es programmatisch: „Der Reinlichkeit der Sprachen habe mich so viel als möglich beflißen, weil ich selber zu Ausrottung aller dererjenigen Wörter, welche nicht einer freyen teutschen Geburt, gerne alles beytragen möchte. Um aber die Eigenschafften einiger Personen als z. E. D. Wurmsaamen und D. Rübezahl desto natürlicher auszudrücken, so habe mit guten Willen einige Lateinische Wörter mit einfliessen lassen, weil so wohl die Herren Doctores der Rechten, als auch der
124
RÜDIGER OTTO
fender sind Gottscheds Vorwürfe über die bisweilen geringfügigen Anlässe und die damit verschränkten Vorwürfe über die kommerzielle Anfertigung der Gedichte. Ob Henrici dem von Gottsched entworfenen Bild des Gratulanten entspricht, der unentwegt nach Gelegenheiten und Abnehmern für seine Verse Ausschau hält, sei dahingestellt.131 Die Indizien sprechen eher für eine große Nachfrage. Auf jeden Fall gehörte Henrici zur Kategorie der Autoren, die primär auf Bestellung und für Entlohnung geschrieben haben. Gottsched hat dies von einem implizit andersartigen Dichtungsverständnis als unangemessen desavouiert. Angesichts der Tatsache, daß Gottsched selbst in großem Ausmaß Auftragsdichtungen verfaßt hat, ist das allerdings erstaunlich. So gibt es beispielsweise 1730 gleich zwei Anfragen des fürstlichen Hofes in Sondershausen. Unter Bezugnahme auf die gelungenen Verse zur glücklichen Entbindung der Fürstin Sophie Eberhardine (1710-1784) im Dezember 1729 wird im Januar 1730 ein Gedicht zu ihrem Geburtstag am 6. Februar 1730 erbeten.132 Ein reichliches halbes Jahr später gibt Elisabeth Albertine (1693—1774), die Gemahlin des regierenden schwarzburgisch-sondershäusischen Fürsten Günther I. (1678-1740), eine Kantate für dessen Geburtstag in Auftrag.133 Gottsched lieferte in allen Fällen prompt. Zum Regierungsantritt des Markgrafen Georg Friedrich Karl von Brandenburg-Bayreuth (1688— 1735) läßt er 1727 auf eigene Faust etwa 1000 Exemplare einer Ode drucken134 und bittet den ihm persönlich noch unbekannten Prediger Johann Heinrich Meister (1700-1781), das Gedicht am markgräflichen Hof zu überreichen und bekannt zu machen. Zum selben Anlaß entsteht ein weiteres Gedicht, nur daß dies nicht als ein Werk Gottscheds an den Adressaten gelangt ist, sondern von den Auftraggebern überreicht wurde.135 Als Spezialist für Versifikation wurde er häufig konsultiert, sei es von einem alten Bekannten, der, inzwischen Landpfarrer, ein Hochzeitsgedicht bei Gottsched bestellte, weil sein „Pegasus [...], seitdem er im Acker auf dem Lande eingespannt ist, ziemlich stumpf geworden" sei,136 sei es von einem Fremden, der Gottsched 1746 bat, „im Nahmen derer Stände von Ritterschafft und Städten des Fürstenthumes Sachsen=Quer-
131 132 133 134 135 136
Arzeney, wenn sie recht gelehrt reden wollen, ihre offters kahlen Rathschläge mit Lateinischen Brocken verbrähmen." Henrici: Vorbericht an den Leser. In: Henrici, Picanders Teutsche Schau=Spiele (Anm. 46), S. D(6r-v]. Vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 12—16; „Henrici verwahrt sich verschiedentlich, unter die Gratulanten gerechnet zu werden". S. 13. Vgl. Gottsched, Briefwechsel, Band l, Nr. 124. Vgl. Gottsched, Briefwechsel, Band l, Nr. 175. Vgl. Gottsched, Briefwechsel, Band l, Nr. 17. Vgl. Phillip M. Mitchell: Gottsched-Bibliographie. Berlin; New York 1987, Nr. 45. Johann Jakob Greif an Gottsched, Mölbis 20. September 1737, Dresden, SLUB, M 166 IV, Nr. 70,5.160-161.
Ein Leipziger Dichterstreit
125
furth ein Trauer-Carmen" zum Tod des Herzogs von Sachsen-Weißenfels aufzusetzen.137 1732 fragte der vom Tod seiner 27jährigen Ehefrau erschütterte Johann Lorenz Mosheim (1693-1755), Präsident der Leipziger Deutschen Gesellschaft, ob Gottsched für ihn eine Ode aufsetzen könne. „Es wird schwer fallen, die äusserste Weh Muht abzubilden: Doch E. HochEdl. werden unter allen, die mir bekant, dazu der geschickteste seyn."138 Unter den etwa 160 Gedichten, die in der ersten Sammelausgabe von Gottsched-Gedichten 1736 gedruckt sind, enthalten ungefähr 70 den Vermerk „in fremdem Namen". Es sind Auftragstexte, die Gottsched auf Bestellung und gegen Entgelt hergestellt hat.139 Die anderen Gedichte, sieht man von denen für seine Braut und für den Freundeskreis ab, sind Texte, mit denen Gottsched sein Renommee steigern, mäzenatische Gunst erwecken oder, sofern es den Umkreis des Dresdner Hofs und der anderen für die Leipziger Universität zuständigen Höfe betrifft, seine Karrierechancen verbessern wollte.140 Es gibt also hinsichtlich des 137 Christoph Johann von Münchhausen an Gottsched, Gatterstedt 2. Juni 1746, UBL, 0342 XI, Bl. 198-201. 138 Johann Lorenz Mosheim an Gottsched, Helmstedt 20. September 1732, UBL, 0342 II, Bl. 230-231, 230v. 139 Über Honorare werden in den genannten Briefen keine präzisen Angaben gemacht. Eine Aufstellung über die Beerdigungskosten für den Grafen Heinrich IV. ältere Linie Untergreiz (1702-1738) enthält jedoch den Vermerk, daß Gottsched für die Trauerkantate 5 Reichstaler erhalten habe - der Komponist bekam 24 Taler; vgl. Hans Rudolf Jung: Musik und Musiker im Reußenland. Höfisches und städtisches Musikleben in den Residenzen der Staaten Reuß älterer und jüngerer Linie vom 17. bis 19. Jahrhundert. Weimar 2007, S. 94f; ich danke Herrn Prof. Jung für den Hinweis auf diese Angabe; möglicherweise handelt es sich bei dem nicht näher bezeichneten Text um das „Singgedicht. Bey dem hohen Leichenbegängnisse Eines Reichsgrafen zu Reußen". In: Gottsched: Gedichte. 2 Teile. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1751, 2, S. 294—296 (Abdruck mit anderer Zuweisung bei Jung, S. 335—337). Als die „Fraternität der Notarien und Litteraten" am 29. Juni 1724 ihr hundertjähriges Bestehen feierte, verfaßte Gottsched ein Gedicht (Gottsched, Gedichte, 1751, l, S. 521-524), das mit 3 Talern honoriert wurde; wichtiger dürfte der Gewinn an Reputation gewesen sein, der dem vierundzwanzigjährigen Neuleipziger aus diesem Auftragsgedicht entstand. Er wurde als Ehrengast zum Jubiläum eingeladen und dies neben prominenten Gästen wie dem Bruder des sächsischen Generalfeldmarschalls Jakob Heinrich von Flemming (vgl. Anm. 144), Joachim Friedrich (1665-1740), der eben erst Stadtgouverneur von Leipzig geworden war, und Bürgermeister Hofrat Adrian Steger (1660-1741); vgl. Robert Naumann: Die Fraternität der Notarien und Litteraten in Leipzig 1624 gestiftet. Leipzig 1874, S. 34. Am 6. November 1748 wurde Gottsched selbst Mitglied der Fraternität und damit zum Vereinsbruder Henricis, der bereits seit 1732 Mitglied war; vgl. S. 113, Nr. 260 und S. 116, Nr. 307. Zum Gedichthonorar allgemein vgl. auch Heldt (Anm. 22), S. 68-70. 140 Über die an die Gedichte geknüpften Erwartungen wird in den Briefen gelegentlich mit aller Offenheit Auskunft erteilt. So schreibt Gottsched an den Dresdner Hofdichter Johann Ulrich König, während er an Gedichten für August den Starken arbeitete (vgl. Anm. 141), im Frühjahr 1727: „Auf ein Present mache ich mir zwar keine Rechnung: allein ich habe gedacht, daß es mir sonst nicht schaden könnte. Und ob gleich ich damit schon fast fertig bin; so lasse ich mir doch Eurer Hochedelgebornen gütigsten Vorschlag voll-
126
RÜDIGER OTTO
kommerziellen und des funktionalistischen Gebrauchs der Dichtung keinen nennenswerten Unterschied zwischen Gottsched und Henrici, was auf augenfällige Weise dadurch illustriert wird, daß beide gelegentlich in derselben Liga aufgeführt wurden. Als im Mai 1727 der Kurfürst und König August der Starke nach einer gefährlichen Krankheit und nach zweijähriger Abwesenheit erstmals wieder Sachsen und Leipzig besuchte, brachten die Untertanen ihre Freude durch geschmückte Häuser und in Form von Festmusiken und Gedichten zum Ausdruck. Unter den Autoren waren Gottsched und Henrici, die Ereignisse und Texte sind in einer eigenen Publikation protokolliert. Gottscheds Ode „Zwey Jahre sind es her" wurde allerdings vom Verleger Moritz Georg Weidmann (1686— 1743) überreicht, so daß er in diesem Zusammenhang als Dichter namentlich nicht in Erscheinung trat.141 Da im ersten Jahrgang des polnischkursächsischen Hof- und Staatskalenders von 1728 über den Sachverhalt erneut berichtet und die Verse wiederum abgedruckt wurden, sind die beteiligten Autoren in gewisser Weise in den Rang von Hof- und Staatsdichtern erhoben worden.142 Henricis Gedicht hat darüber hinaus für seinen Verfasser besondere Bedeutung gewonnen, da es vom Fürsten mit der Aufforderung entgegengenommen wurde, „sich eine Gnade auszubitten".143 Henrici wählte die Anwartschaft auf eine Stelle im Oberpostamt und legte damit die Basis für seine Karriere im sächsischen Staatsdienst.144
141
142
143 144
kommen gefallen, und werde darauf denken, daß ich an des Herrn General—Feldmarschalls Excellence kgend was zu Stande bringe. Deroselben geneigte Anerbietung mich darinnen zu unterstützen, ist mir viel zu vortheilhaft, als daß ich sie nicht mit allem Eifer ergreifen sollte." Gottsched an König, vor 3. Mai 1727. In: Johann Ulrich von König: Gedichte. Dresden: Georg Conrad Walther, 1745, S. 637-640, 638; das Gedicht an den Generalfeldmarschall Jakob Heinrich von Flemming (1667-1728), der zur selben Zeit der entscheidende Förderer Henricis war (vgl. Anm. 144), wurde gedruckt in: Oden Der Deutschen Gesellschafft in Leipzig. Leipzig: Johann Friedrich Gleditschens Sohn, 1728, S. 112-115; zum Thema vgl. Rudolf Kötzschke: Gottscheds Helden— und Ehrenlieder. In: Beiträge zur Deutschen Bildungsgeschichte. Festschrift zur Zweihundertjahrfeier der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Leipzig 1927, S. 64-93. [Christoph E. Sicul:] Das Frohlockende Leipzig. [Leipzig] 1727, S. 67-71 (erneut in Gottsched, Gedichte [Anm. 139], 2, S. 501-505); Henricis Gedicht in Sicul, S. 71-73; ein anderes Gedicht Gottscheds galt dem Kurprinzen; vgl. Sicul, S. 59—62 (erneut in Gottsched, Gedichte [Anm. 139], 2, S. 509-511). „Es fehlete auch an ändern Gedichten nicht, und haben Ihro Königl. Majest. desselben Tages von Hohen und Niedrigen wohl 50. und mehr gedruckte Bogen bekommen, darunter diese 2. folgende höchst gnädigst aufgenommen". Gemeint sind das im Anschluß gedruckte Gedicht Gottscheds - allerdings wird auch hier nur der Name Weidmanns aufgeführt — und das von „Christian Friedrich Henrici, der unter dem Namen Picander bekannt ist". Königl. Poln. und Churfürstl. Sächsischer Hoff= und Staats= Calender. Leipzig: Weidmann, 1728, Ev-E3r. Flossmann (Anm. 11), S. 54. Carl Christian Gercken: Historic der Stadt und Bergvestung Stolpen. Dresden; Leipzig: Adress-Comtoir, 1764, S. 220. Der tatsächliche Hergang scheint nicht so geradlinig gewe-
Ein Leipziger Dichterstreit
127
sen zu sein wie es hier und andernorts dagestellt wird. Henrici hatte am 23. Februar 1727 ein Gedicht auf die Genesung Augusts des Starken verfaßt; vgl. Henrici: Picanders Ernst=Schertzhaffte und Satyrische Gedichte. Teil 2. Leipzig: Boetius, 1729, S. 3—6; das Gedicht schickte er zur Übergabe am folgenden Tag an den Generalfeldmarschall Jakob Heinrich Graf von Flemming, seinen Befürworter in Dresden; vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 54. Ein weiteres, nämlich das bei Sicul und im Staatskalender gedruckte, Gedicht entstand zum Geburtstag am 12. Mai 1727, den der König in Leipzig verbrachte (Henrici, Gedichte 2, S. 6-10). Hier finden sich die Verse an das Sachsenland: „Nun kömmt das schöne Jahr; nunmehr muß alles lachen/ Wer kan den König sehn; und sich doch Sorgen machen?/ Dein König kömmt zu dir, Er kömmt, da Frühling ist,/ Dir ist ein Sonnen=Licht, ein holder Schein erschienen,/ Wie wird dein Landes=Wohl, dein Segens =Wachsthum grünen,/ Da du ein Gegenstand fruchtbarer Strahlen bist!/ Es wird dir nun die Zeit die fetten Jahre gönnen,/ Wer wird den Überfluß einmahl verbergen können? ... Der Ruff: Der König kömmt! erregete das Land./ Der Bauer ließ den Pflug, lieff mit gebückten Rücken/ Der Landes=Straße zu, den König zu erblicken: Er sah, er freute sich, er faltete die Hand./ Mit Springen kehrt er um, bestellte seine Saaten,/ Und prophezeyte sich: Mein Korn muß wohl gerathen." (S. 7); ein „Drama per Musica", „Ihr Häuser des Himmels, ihr scheinenden Lichter", entstand zum Namenstag Augusts am 3. August 1727 (S. 11—15) und wurde am 4. August an Flemming nach Dresden verschickt; vgl. Heldt (Anm. 22), S. 67 (die aus vier Briefen Henricis zwischen 24. Februar 1727 und 20. Januar 1728 und drei Konzepten Flemmings bestehende Korrespondenz befindet sich Dresden, Sächsische Hauptstaatsarchiv, 10026 Geheimes Kabinett Loc. 689/04, Bl. 15-69, Flemming starb am 30. April 1728 in Wien); der Text wurde von Bach vertont; vgl. Wolfgang Schmieder (Hg.): Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach. 2, überarb. und erw. Ausgabe. Wiesbaden 1990, S. 307f. (BWV 193a). Was aber für die Ausstattung mit einer Stelle im Oberpostamt tatsächlich den Ausschlag gegeben zu haben scheint, ist ein Gedicht, das in Henricis Gedichtausgaben, vermutlich wegen des despektierlichen Tones, nicht aufgenommen wurde: Henrici bettelt hier ähnlich unverhohlen um die Anwartschaft auf eine noch besetzte Stelle wie in dem im Anhang 4 mitgeteilten Gedicht; es ist offenbar nach dem Geburtstagsgedicht vom 12. Mai entstanden und nimmt gleich anfangs und durchgehend auf dessen oben zitierte Verse Bezug: „HErr hab ichs nicht gesagt: es würden nun die Saaten,/ Da du nach Sachsen kommst, ohnfehlbar wohl gerathen;/ So schöne Witterung, so grosse Fruchtbarkeit,/ Womit dein Land beglückt, gedenckt man keine Zeit." Der Dichter klagt, daß nur er nichts von dem Segen abbekommen habe, und bittet, „O mache müde Hand nur eine Feder naß!/ Schreib fiat auff das Blat, befiehl der Cammer, daß/ Heinrici, den wir aus dem Staube wollen reissen,/ Soll Actuarius im Post=Ambt Leipzig heissen,/ So bald der alte stirbt, darumb verpflichtet ihn,/ Und dieses habet ihr deß ehsten zu vollziehn./ So hätt ich sieben Jahr wie Pharaonis Kühe,/ Mit grosser Magerkeit, mit saurem Schweiß und Mühe,/ Zu Leipzig zugebracht, und kam die fette Zeit,/ Wenn mich, ich zweiffle nicht, so ein Befehl erfreut." [Georg Peter Schulte:] Preußischer Todes=Tempel, Worin Verstorbene Personen allerhand Standes Von den auserlesensten Sachen Der Preußischen, Pohlnischen, Schwedischen und Brandenburgischen Geistlich=Weltlich und Gelehrten Historie, Geographie, und Stats=Rechts, Wie auch Neuen gelehrten Schrifften in Preussen und Fohlen Mit einander redende vorgestellet werden. 4. Unterredung: Albert I.-Abraham Calov. Constantinopel: In der neu=angelegten Buchdruckerey. Zu finden bey Hrn. M. G. Weidman in Leipzig, S. 251 f. Begleitet wurde der völlig kontextfremde Abdruck des Gedichtes mit dem Kommentar: „In diesen Dreßden hat ein Versifex zu diesen Zeiten etwas prästiret, was auch die besten Poeten sich kaum versprechen oder hoffen können; wiewohl ich glaube daß eine darzugekommene Recommendation, und glückliche Stunde, wie auch andere Umstände das Meiste beygetragen." Wer das Gedicht lanciert hat, ist nicht bekannt. Ob zwischen dem in Thorn wirkenden Verfasser des Todes=Tempels und Prorektor des Akademischen Gymnasiums, Georg
128
RÜDIGER OTTO
Als August der Starke starb, stimmten Gottsched und Henrici Klagegesänge an, um kurz danach den Regierungsantritt seines Sohnes und Nachfolgers zu bejubeln. In einer wenig später veröffentlichten Gedichtsammlung folgen die Verse beider zu beiden Ereignissen jeweils unmittelbar aufeinander.145 Man mag die Tatsache, daß Gottscheds Texte in beiden Fällen zuerst aufgeführt werden, als Nuance im Urteil des Herausgebers der Gedichtsammlung bewerten, möglicherweise verdankt sich die Reihenfolge aber auch dem Alphabet. Vom Gesichtspunkt des Erfolgs aus betrachtet ist der Blick auf einen anderen Ort, an dem beide Autoren nebeneinander genannt wurden, signifikant. In den Leipziger Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen wurde im September 1736 die erste Sammlung der bis dahin nur zerstreut bzw. teilweise veröffentlichten Gedichte Gottscheds angezeigt. Die Ausgabe wurde selbstverständlich begrüßt und der Wert der Texte gerühmt.146 Unter dem Gesichtspunkt des Vergleichs stellt die im unmittelbaren Anschluß erfolgende Mitteilung, daß dank der großen Nachfrage der erste Band der Gedichte Henricis bereits in der dritten Auflage erschienen ist und daß der vierte Band für den Druck vorbereitet wird,147 zumindest heraus, daß Henrici der mit Abstand produktivere und
Peter Schultz (1680—1748), und Gottsched eine Verbindung bestand, ist ebenfalls unbekannt. Aber da der Todes—Tempel von Weidmann, der Gottsched die erfolgreichen Verse auf August den Starken verdankte, verlegt oder zumindest vertrieben wurde, kommt Gottsched, der durch seine Beziehungen zum Dresdner Hof in den Besitz der Verse gelangt sein könnte, als Zuträger durchaus in Frage. Wahrscheinlich ist das Gedicht Ende Juni 1727 entstanden, denn es setzt voraus, daß Henricis Prophezeiung einer guten Ernte eingetroffen ist, andererseits steht der 3. Juli als terminus ante quem fest, denn „am 3. Juli 1727 wurde er dem Actuar beim Oberpostamt Leipzig als Adjunct cum spe succedendi und ohne Besoldung substituiert". Flossmann (Anm. 11), S. 54. 145 Gottfried Behrndt: Bernanders Sammlung Verirrter Musen, Darinnen Theils zerstreuete, Theils noch ganz ungedruckte Jedoch auserlesene Gedichte Verschiedener berühmten und geschickten Personen Nebst seinen eigenen enthalten. Fünftes Stück. Magdeburg; Leipzig: Christoph Seidels Witwe; Georg Ernst Scheidhauer, 1733, zum Tod Friedrich August I./IL: Gottsched: Ein wahrer Held und vollkommener Regent (S. 424-438), Henrici: Über den Tod Seiner Königl. Majestät (S. 439—459); zum Regierungsantritt Friedrich August II./IIL: Gottsched: Sachsens völlig ersetzter Verlust (S. 495-510), Henrici: Auf eben hochgemeldete Huldigung (S. 510-517). 146 „Des Herrn Prof. Gedichte haben jederzeit denen, die sie einzeln gelesen, wohl gefallen. Diese und andere werden es also ohne Zweifel gerne sehen, daß sie derselbe hat sammlen und in einen Band bringen lassen. Wir halten es vor unnöthig jenen itzo erst die Ursachen dessen zu erklären, was sie schon längst bey sich empfunden; und nicht vor rathsam, diesen den Verdacht von uns beyzubringen als ob wir glaubeten, sie könnten von einem starken Dichter etwas anderes vermuthen, als was in seiner Kunst zum Muster dienen kann." Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 1736 (Nr. 78 vom 27. September), S. 696. 147 „Bey Friedr. Matth. Friesen ist unlängst der erste Theil von Picanders ernsthaften, scherzhaften und satyrischen Gedichten zum dritten mal aus der Presse gekommen, groß 8. l Alph. 14 Bog. Die Menge der Käufer hat sie seit einiger Zeit selten gemachet, und der Verleger sich also genöthiget gefunden, sie ihm vollständig zu liefern. Er verspricht auch ehe-
Ein Leipziger Dichterstreit
129
sich größerer Lesergunst erfreuende Autor war. Wenn auch Quantität und der Beifall des Publikums kein Argument für Qualität sind, die Anzeige in den renommierten Leipziger Neuen Zeitungen war doch zumindest eine Art Bestsellervermerk,148 und unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz fiel er zugunsten Henricis aus. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal an die Eignung der Gedichte beider als Vorlagen für Vertonungen zu erinnern. Es wird zumeist hervorgehoben, daß für Gottsched Bachs eigenmächtiger Zugriff auf seine Ode „Laß Fürstin, laß noch einen Strahl" anläßlich der Trauerfeier für die Kurfürstin und Königin Christiane Eberhardine eine Zumutung gewesen sein muß,149 und der Vergleich Bachs mit dem im Gottschedkreis abgelehnten Barockdichter Casper Daniel von Lohenstein (1635-1683) durch Gottscheds Schüler Johann Adolph Scheibe (17081776)150 reflektiert möglicherweise auch Gottscheds Urteil über Bachs Musik. Man zieht daraus den Schluß, daß von selten Gottscheds kein Interesse an der Zusammenarbeit bestand. Hält man aber dagegen, daß die Trauerfeier für die in Sachsen beliebte Kurfürstin ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges war, bei dem die anwesenden Adligen und die Prominenz aus Stadt und Universität das Textbuch mit dem Namen des Magisters Gottsched in die Hand gedrückt bekamen,151 und daß Gottsched sich der Bedeutung Bachs als eines der großen Komponisten der Zeit bewußt war,152 dann könnte für Gottsched eine dauerhaftere Zusammenarbeit mit dem Komponisten durchaus erstrebenswert gewesen sein. Könnte es nicht sein, daß die Kooperation von Bach und Gottsched deshalb auf wenige Ereignisse beschränkt blieb, weil Bach den gewandteren und umgänglicheren Textdichter Henrici bevorzugt und sich den prätentiöseren Gottsched nach Möglichkeit vom Leibe gehalten hat?
148
149 150 151
152
stens den vierten Theil der Picandrischen Gedichte zu liefern." Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 1736 (Nr. 78 vom 27. September), S. 696. Im gleichen Kontext wird noch die erste Sammlung der Gedichte des sogenannten Deutschfranzosenjohann Christian Trömer (1697—1756) angezeigt; vgl. über ihn Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon 11 (1991), S. 423f. Vgl. Pape(Anm. 113), S. 113-115. Vgl. Geck, Spuren (Anm. 5), S. 228-233. Die detaillierte Beschreibung der Trauerfeier sorgte ihrerseits für die Bekanntheit der Beteiligten; vgl. Christoph Ernst Sicul: Das Thränende Leipzig Oder Solennia Lipsiensia, Womit Ihro Königl. Majest. ... Frauen Christianen Eberhardinen, Königin in Polen und Churfürstin zu Sachsen ... Höchstseeligstes Ableben Auf der Universität daselbst öffentlich bejammert worden. Leipzig 1727, über Gottsched bzw. seine Ode S. 22-25. Vgl. die Wiedergabe des Textes aus Der Biedermann, Nr. 85 vom 20. Dezember 1728, Band 2, S. 140 in: Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685-1750. Kassel u. a.; Leipzig 1969, S. 184, Nr. 249.
130
RÜDIGER OTTO
Das Ärgernis erotischer Dichtung und das Wächteramt der Vernunft Neben dem Thema der Lohnschreiberei ist es schließlich ein Kritikpunkt, der Gottscheds Auseinandersetzung mit Henrici von Anfang an beherrscht und noch in der Polemik des Gottsched-Schülers Steinauer, nachdem sich alle anderen Beanstandungen verflüchtigt hatten, mit unverminderter Mißbilligung vorgetragen wurde: Seine Vorliebe für sexuelle Anspielungen. Gottsched hatte sich im Persius über den „geilen Hengst" ausgelassen,153 und an den Gesprächen der Contouche die Verführung der Jugend „zur Wollust" beanstandet.154 In Totengespräch Steinauers lautete das Verdikt: „Seine Gedichte sind voller niederträchtiger Zoten."155 Urteile dieser Art kennzeichnen auch die spätere wissenschaftliche Literatur, wobei zumeist ästhetische und moralische Urteile über das Werk und über die Person miteinander verbunden werden.156 Daß Henrici erfolgreich war, wird als zusätzliches Ärgernis bewertet. Daß solche Urteile nichts zur Erkenntnis der Lyrik Henricis und ihres sozialen Kontextes beitragen, liegt auf der Hand. In einer wissenschaftlichen Untersuchung sollten gattungsästhetische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte Einsichten in den Status dieser Gedichte in ihrer Zeit vermitteln. An dieser Stelle können nur einige Beobachtungen vorgetragen werden, gänzlich aussparen läßt sich das Thema wegen seines Stellenwertes im Konflikt zwischen Gottsched und Henrici nicht. Von diesem persönlichen Aspekt abgesehen kommt ihm, sofern die folgenden Beobachtungen zutreffend sind, eine generelle Bedeutung zu, da Gottsched nicht allein Henrici mit Vorwürfen dieser Art konfrontiert hat, so daß sie infolgedessen nicht nur persönlichakzidentieller Natur sind. Die Polemik gegen Henrici ist vielmehr Teil einer von Gottsched vorangetriebenen Moralisierung des öffentlichen Diskurses, dessen Ziel die Bereinigung der Kunst von erotischen Komponenten war. Wenn man will, kann man Gottscheds Vorgehen in größere 153 154 155 156
Vgl.Anm. 34. Gottsched: Der Biedermann, Nr. 83 vom 6. Dezember 1728, Band 2, S. 130. Steinauer, Gespräche (Anm. 90), S. 152. „Gute Laune, derber und treffender, oft aber unsittlicher Witz". Oskar Ludwig Bernhard Wolff: Encyclopädie der deutschen Nationalliteratur. Band 4, Leipzig 1839, S. 39; „Er hatte das Unglück, seiner Plattheit durch rohe Schlüpfrigkeit aufhelfen zu wollen. Elender Nachahmer Günthers." Karl Goedeke: Grundiß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Band 2. 2. Ausgabe. Dresden 1862, S. 539. Henrici suchte „durch geschmacklosen Witz und grobe höchst unsittliche Scherze ... rohere Seelen zu vergnügen." J. Franck: Henrici. In: ADB 11 (1880), S. 784f., 784. „Ohne Ernst und Würde erfaßte er das Leben nur in seinen Genußwerten" Witkowski (Anm. 13), S. 295; „Mit Derbheiten und Zoten suchte er zu fesseln; er war nicht ohne Begabung ... aber liederlich im Lebenswandel." Waniek, S. 68; „Sein Witz ist schwach und tut sich vorzugsweise in einer Art Schlüpfrigkeit kund, wie sie noch bis in unsere Jahrhunderthälfte manchen Alleinunterhaltern einen billigen Erfolg sicherte." Creutziger (Anm. 6), S. 94.
Ein Leipziger Dichterstreit
131
Perspektiven einzeichnen und die Verschiebung der Schamgrenzen innerhalb des zivilisationsgenetischen Prozesses157 bestätigt finden oder den aufklärungsspezifischen Konflikt zwischen Geist und Sinnlichkeit wiedererkennen.158 Möglich wäre auch, unter sozialgeschichtlichem Vorzeichen den Konflikt von aristokratischem und bürgerlichem Wertekanon hervorzuheben, wenn nicht die Protagonisten und ihre Auftraggeber und Leser sich einer eindeutigen sozialen Zuordnung gerade entzögen. Zur Veranschaulichung der Verfahrensweise Henricis und der Eigentümlichkeit seiner von Gottsched inkriminierten lasziven Verse wird ein beliebiges Gedicht ausgewählt, das Henrici einem ihm seit Kindestagen bekannten Freund anläßlich der Hochzeit übergeben hat.159 Der Freund ist inzwischen im Bergwesen tätig. Infolgedessen kommt auch Henrici im „Bergmanns=Habit" und gibt seinem Text einen entsprechenden Titel: „Als Herr L. seine Braut, seine S. zünfftig machte, war ein alte treue Haut, welche dieses Berg=Lied brachte. Leipzig, den 21. Febr. 1735." Schon das Zünftigmachen ist nicht ohne Nebensinn, und die Anweisung vor Beginn seines Liedes verdeutlicht noch, welche Art Einweisung dem Ehemann aufgetragen ist: „Hier hast Du das Liedgen; Gefällt es nun Dir,/ So sing es dem Schätzgen selbst heute noch für;/ Erklär ihr den Grund=Text, und gieb ihr zu lesen,/ Das was Ihr sonst Böhmische Dörffer gewesen."
Der erste Vers, „Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn", bildet mit Ausnahme der achten und letzten Strophe den Eingangs- und Schlußvers aller Strophen, die erste Strophe schlägt das Thema an und benennt summarisch, was dann im einzelnen ausgeführt wird:
157 Die Auseinandersetzung um die sexualisierte Sprache läßt sich als Teil der von Norbert Elias beschriebenen Wandlung zivilisatorischer Standards verstehen; Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1977; vgl. insbesondere die Kapitel „Wandlungen in der Einstellung zu den Beziehungen von Mann und Frau" (l, S. 230-263) und „Scham und Peinlichkeit" (2, S. 397^09). 158 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986. Nach Kondylis stellt sich das philosophische Problem Geist-Sinnlichkeit im Zeitalter der Aufklärung mit besonderer Dringlichkeit, da die Aufklärung einerseits gegen die traditionelle theologische Weltauffassung die Rehabilitation der Sinnlichkeit betreibt, andererseits radikale moralphilosophische Konsequenzen unbedingt vermeiden will, so daß „das dualistische Schwanken, durch Verlegenheit vor den letzten Folgen der Sinnlichkeit bedingt, auf der Tagesordnung steht" (S. 20). Gottscheds doppelte Abgrenzung gegen tradierte theologische Positionen und gegen weltanschaulichen und ethischen Libertinismus entspricht exakt dieser allgemeinen Charakteristik. 159 Henrici: Picanders Ernst= Schertzhaffte und Satyrische Gedichte, Vierter und letzter Theil. Leipzig: Friedrich Matthias Friese, 1737, S. 346—350. Die folgenden Zitate entstammen dem Gedicht.
132
RÜDIGER OTTO
„Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn,/ Und dieses kan mir sicher trauen,/ Daß mir kein andrer Kux, noch Schacht,/ So mancherley Vergnügen macht./ Drum will ich hier alleine bauen,/ Ich muthe nirgends weiter ein,/ Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn."
Die Vergnügungen werden im einzelnen beschrieben, zuerst sind es die ethischen Qualitäten der Geliebten, die den Sänger erfreuen. Er beschreibt Tugend und Verstand der Braut, und widmet sich in der Folge der Schönheit der unverfänglicheren Körperpartien: Mund und Wangen werden als Gegenstand des Entzückens beschrieben. Bis dahin bewegt sich Henrici ganz im Rahmen der Schicklichkeit, aber die Verse sind nicht ans Ziel gelangt. Statt mit allgemeineren Betrachtungen über die Natur der Freude und der Liebe zu schließen und den Leser in seine Phantasie zu entlassen, statt sich also im Rahmen der heiteren, aber dezenten Imaginationswelt der galanten bzw. Rokokolyrik zu halten160 und eine maßvolle Wollust zu postulieren161, bleibt er am Gegenstand. Allerdings wird die für die pornographische Darstellung charakteristische Behandlung intimerer Partien und Aktivitäten durch vollständige Umstellung auf die Bergbaumetaphorik entschärft, die durch den Refrain von Anfang an ins Spiel gekommen war: „6. Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn;/ Die Innbrunst heist mich weiter graben,/ Die Liebe zeigt mir einen Platz,/ Da ich den allergrösten Schatz,/ Das beste Kleinod, werde haben,/ Das mehr als Gold und Edelstein;/ Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn. 7. Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn./ Jetzunder schlägt der Hütten=Seiger,/ Geliebter Engel, siehst Du nicht/ Das angezündte Gruben=Licht?/ Wach auf] wach auf! nun kömmt der Steiger,/ Und erndtet sein Vergnügen ein./ Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn. 8. Glück auf! Glück auf! mein Steigerlein,/ Sey nur in deiner Arbeit fleißig/ Und scheue keine Hinderniß,/ Die Beute stellt sich gantz gewiß/ Annoch vor Anno Sechs und Dreyßig/ Mit angefüllten Mulden ein,/ Mein Schätzgen soll mein Bergwerck seyn."
Die sexuelle Anspielung ist unübersehbar und stellt den Fluchtpunkt der Verse dar. Gleichwohl wird man den Text kaum als pornographische Literatur ansehen können, wie es die Charakterisierungen durch Gottsched nahelegen könnte. Pornographie ist eindimensional und daran interessiert, die Distanz zum Gegenstand, die Wahrnehmung des Formalen zu igno160 Nach Manfred Windfuhr gehörte Henrici neben Johann Burkhard Mencke (Philander von der Linde), Gottlieb Stolle (Leander, 1673-1744), August Bohse (Talander, 1661-1740) u. a. zu den galanten Lyrikern, die „sich durchaus als zusammenhängende Gruppe (verstanden)". Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 380. 161 Vgl. Werner Kohlschmidt: Geschichte der deutschen Literatur vom Barock bis zur Klassik. Stuttgart 1965, S. 308.
Ein Leipziger Dichterstreit
133
rieren und, darin der Schauergeschichte vergleichbar, die unmittelbare Affizierung des Lesers und der Leserin zu erzielen.162 Bei der Bestimmung der Gattungszugehörigkeit dürfte die Anlehnung an Heinz Schlaffers Studie zur erotischen Dichtung hilfreich sein.163 Einige der von Schlaffer vorgestellten Gattungsmerkmale, die kleine Form, Scherzhaftigkeit, das Spielerische, der festgeschriebene Handlungsverlauf oder die antiheroische Grundhaltung treffen auf Henricis Verse zu. Andere Charakteristika der erotischen Dichtung wie das Motiv der Untreue — das in den Zeitschriften und in Henricis Weiberprobe das beherrschende Moment darstellt - sind nicht zu finden. Die für die neuzeitlichen Gedichte symptomatische arkadische Szene und der implizite und explizite Bezug zur antiken Dichtung fehlen völlig. Dies ist sicher kein Zufall, da diese Elemente die Irrealität der in der erotischen Dichtung verhandelten Sache und die im Gegensatz zur Antike unvermittelbare Differenz zwischen literarischer Fiktion und christlich-bürgerlicher Realität zum Ausdruck bringen.164 Henricis Verse hingegen führen vom erotischen Spiel direkt in diese Realität. Wenn erotische Literatur das vagierende, momenthafte Glück beschwört und in die Aura der Unverbindlichkeit gehüllt ist, wenn porno162 Vgl. Hans Richard Brittnacher: Delirien des Körpers. Phantasrik und Pornographie im späten 18. Jahrhundert. Hannover 1998, S. 37—39; zur Ästhetik der Pornographie vgl. Susan Sonntag: Die pornographische Phantasie. In: Susan Sonntag: Geist als Leidenschaft. Ausgewählte Essays zur modernen Kunst und Kultur. Leipzig; Weimar 1989, S. 117—155. In der Gottschedzeit wurden Basisinformationen über pornographische Literatur in der Schriftengattung vermittelt, die auch mit theologisch und intellektuell anstößigen Büchern gründlich bekannt machte: in den Verzeichnissen rarer Bücher. So wird einigermaßen ausführlich über Pietro Aretinos (1492—1556) Sonettsammlung / modi nach den Bildern des Giulio Romano (1499—1546) bzw. den Kupferstichen Marcantonio Raimondis (1475— 1546) berichtet; vgl. August Beyer: Memoriae Historico-Criticae librorum rariorum. Dresden; Leipzig: Friederich Heckel, 1734, S. 17-19; ein Indiz für die verbreitete Kenntnis der einschlägigen Literatur: „Daß Lessing die pornographischen Titel geläufig zitiert, läßt darauf schließen, daß er deren Kenntnis beim Leser voraussetzt." Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730-1800). Tübingen 2006, S. 55. Gelegentlich wird sogar, allerdings ohne Beleg, eine sehr große Verbreitung des Schrifttums unterstellt: „In der deutschen Literatur der ersten Jahrhunderthälfte läßt sich eine breite Produktion und Lektüre lüstern-frivoler Romane nach französischem Beispiel sowie eine Fülle von Übersetzungen aus dem Französischen belegen." Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989, S. 119. Über die tatsächliche Verbreitung der erotischen und pornographischen Literatur wird möglicherweise durch das Studium von Bibliothekskatalogen Aufschluß zu gewinnen sein; vgl. die Hinweise auf den Anteil entsprechender Bücher in Christian Thomasius' Bibliothek bei Winfried Schröder: Quo ruitis? oder: Christian Thomasius und die Risiken der Aufklärung. In: Manfred Beetz und Herbert Jaumann (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Tübingen 2003, S. 203-219, 209f. 163 Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971. 164 Vgl. Schlaffer, Musa iocosa (Anm. 163), S. 38-51.
134
RÜDIGER OTTO
graphische Literatur als anarchische Projektion einer Gegenwelt angesehen wird, die in der reinen Gegenwart uneingeschränkten Genießens und Genießenkönnens angesiedelt und von keinen Einschränkungen, Beeinträchtigungen und Hemmungen physischer oder moralischer Natur belastet ist, dann ist Henricis Dichtung diesen Literaturformen nicht ohne weiteres zuzuordnen. Sie ist alltags- bzw. berufsweltlich ausstaffiert und, was noch schwerwiegender ist, sie bedenkt die Konsequenzen: Seine Verse enden, hier wie oft, mit der Aussicht auf ein Kind. Der, allerdings ohne jede Einschränkung als Erfüllung verstandene, sexuelle Akt wird im Hinblick auf sein Resultat beschrieben, das integraler Bestandteil des Geschehens ist.165 Man könnte diese Verschränkung von Lust, Beruf und Familie als Verbürgerlichung und Domestizierung des Sexuellen bezeichnen. Dem entspricht, daß Liebe, Leidenschaft und Lust einerseits und die Ehe andererseits, die traditionell als Gegensätze angesehen und folglich in der erotischen Literatur als solche behandelt werden,166 in Henricis Hochzeitsgedichten aufeinander bezogen sind. Henricis sprachliches Vermögen kommt darin zum Ausdruck, daß er in der Behandlung des immer gleichen Themas szenische und verbale Vielfalt erreicht, die bisweilen schon im Titel zum Ausdruck kommt und offenbar jeweils an die beruflichen Qualifikation des Besungenen anschließt. So schreibt er „Die verliebte Rechnungs=Methode" für einen Staatsdiener und möglicherweise Steuerbeamten in Bautzen, ein Förster erhält „Der Venus neues Forst= Patent", ein Kollege von der Post aus Dresden (Henrici war zu dieser Zeit in Leipzig ebenfalls noch Postbeamter) bekommt 1736 ein „Verzeichniß derer auf der verliebten Post liegen gebliebenen Sachen und Briefe", ein anderer 1731 eine „Neu=verfaßte Post=Ordnung der Liebe". Es gibt ein „Zollmandat der Liebe". Ein Angestellter der Rentkammer wird über den „Unterschied Zwischen der Renth= Braut= oder Schlaf=Kammer" belehrt und so endlos weiter.167 Aller Wahrscheinlichkeit nach beruhte Henricis Beliebtheit bei den Zeitgenossen genau auf dieser geschickten Integration der jeweils berufsbezogenen Terminologie in die ehelich-erotische Sphäre wie denn auch, nach Manteuffels Zeugnis, die zwanglose und 165 Dieser Ausblick auf die Folgen der Hochzeitsnacht wird als Topos allerdings auch von anderen Leipziger Poeten benutzt; vgl. Witkowski (Anm. 13), S. 288. 166 Vgl. Carolin Fischer: Gärten der Lust. Eine Geschichte erregender Lektüren. Stuttgart; Weimar 1997, S. 19f.; Schlaffer, Musa iocosa (Anm. 163), S. 54. 167 Vgl. Henrici, Gedichte, 4 (Anm. 159), S. 238-240, 247, 430, 493 und Henrici: Picanders neu herausgegebene Ernst= Scherzhaffte und Satyrische Gedichte. Fünfter und letzter Theil. Leipzig: Johann Gottfried Dyck, 1751, S. 95 und 132. Vgl. auch die Aufzählung von Titeln Henricis bei Karl Heinrich Jördens: Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. 2. Band. Leipzig 1807 (Nachdruck Hildesheim; New York 1970), S. 351 und Windfuhr (Anm. 160), S. 396.
Ein Leipziger Dichterstreit
135
pointierte Verwendung fachsprachlicher Begriffe aus dem Steuerwesen zur Beschreibung persönlicher Lebenslagen bei der Bewerbung um die Stelle des Tranksteuereinnehmers am kursächsischen Hof entzückt aufgenommen wurde.168 Wenn die Bezeichnung erotische Literatur für Henricis Produkte zu modifizieren ist, so ist doch andererseits die latente und mitunter offenkundige Präsenz des Sexuellen speziell in den Hochzeitsgedichten nicht zu leugnen. Dies führt zu der Frage, inwieweit nicht Henricis Werk in der Geschichte der erotischen Literatur zu berücksichtigen wäre. In dem noch immer nicht ersetzten Grundlagenwerk, Paul Englischs Geschichte der erotischen Literatur, wird die Lyrik in der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eher pauschal abgehandelt. Als Exponent erotischer Lyrik gilt insbesondere Hoffmannswaldau (1616-1679),169 dessen einschlägige Verse aber erst nach seinem Tod und gegen seinen Willen in der Neukirchschen Sammlung170 veröffentlicht wurden. Daneben werden unter vielen anderen auch Neukirch selbst, Johann Christian Günther, der als Amaranthes veröffentlichende Leipziger Gottlieb Siegmund Corvinus (1677—1746) und auch Johann Burkhard Mencke als Verfasser erotischer Gedichte genannt,171 nicht jedoch Henrici. Da Englisch auf detaillierte Analysen für diesen Zeitraum verzichtet, ist nicht zu erkennen, ob und wo eine zeitliche Grenze dieser Phase erotischer Lyrikproduktion von ihm gezogen wird. Im Hinblick auf die von Englisch einbezogenen Prosaautoren und nach einem Überblick über weitere Untersuchungen zur erotischen Literatur lautet das Fazit einer neueren Veröffentlichung, daß „die erste Phase der erotischen Literatur des 18. Jahrhunderts oft gegen 1720 abgeschlossen" worden sei, „während man die neue erst um die Jahrhundertwende anfangen läßt".172 Gegen diese landläufige Auffassung verweist sie auf erotische Passagen in deutschen Romanen seit der Jahrhundertmitte, die bislang übersehen worden seien.173 Angesichts der Gedichtausgaben Henricis wird
168 Vgl. Anm. 104. 169 Vgl. dazu Harry Fröhlich: Apologien der Lust. Zum Diskurs der Sinnlichkeit in der Lyrik Hoffmannswaldaus und seiner Zeitgenossen mit Blick auf die antike Tradition. Tübingen 2005. 170 „In dieser Sammlung sind viele, und gerade die obszönsten, mit C. H., der Chiffre Hofmannswaldaus, unterzeichnet. Hofmannswaldau hatte sie nicht für die Veröffentlichung bestimmt, und nur durch die Indiskretion Neukirchs gelangten sie zum Druck." Paul Englisch: Geschichte der erotischen Literatur. Stuttgart 1927, S. 174. Zur Neukirchschen Sammlung vgl. Erika A. Metzger: Neukirchsche Sammlung. In: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon 8 (1990), S. 362-364. 171 Englisch (Anm. 170), S. 175. 172 Urszula Bonter: „Wollen wir uns entkleiden?" Zur Präsenz des Erotischen im deutschen Roman zwischen 1747 und 1787. Hannover 2000, S. 17. 173 Bonter, Wollen wir (Anm. 172), S. 16f. u. ö.
136
RODIGER OTTO
man auch für diese Gattung eine längere Präsenz erotischer Literatur auf dem Literaturmarkt konstatieren müssen. Aber nicht nur das. Vor dem Hintergrund der Stigmatisierung durch Gottsched ist die weite Verbreitung der Lyrik Henricis erstaunlich. Die Namen der Besteller seiner Gedichte sind zwar zumeist unkenntlich gemacht, aber aus den Titelhinweisen auf die Berufsgruppen ist zu sehen, daß Bürgerliche, Beamte und auch zahlreiche Adlige unter den Empfängern waren. Die meisten Gedichte entstanden für Hochzeiten in Leipzig oder in anderen sächsischen Städten. Doch Henrici schrieb auch für Braudeute in Hamburg, Bremen, Lübeck, Frankfurt am Main, Straßburg und anderen Städten. Wenn es nicht vor allem die Fähigkeit war, Delikates delikat zu behandeln, die für Henrici sprach, so ist doch zumindest festzuhalten, daß es offenbar keine Vorbehalte gegen die erotischen Verse gab. In den Rezensionen bzw. Anzeigen ist ein leichtes Räuspern zu vernehmen, die Wertschätzung Henricis mindert das nur geringfügig.174 Signifikantestes Beispiel für die Gelassenheit oder Indifferenz gegenüber den Erotica ist die schon erwähnte Erklärung des Leipziger Predigers Christian Weise, der Henricitexte für nicht jugendgefährdend ansah, weil Jugendliche „die Zötchen nicht verstehen".175 Er bestreitet nicht, daß es einschlägige Stellen gibt, betrachtet sie aber nicht als moralisch subversiv. Daß Steinauer, der Verfasser des Güntherschen Totengesprächs, der hier vermutlich als Sprachrohr Gottscheds agierte, dies für mitteilenswert hielt, signalisiert eine tiefsitzende Irritation und beinhaltetete den Vorwurf an die Geistlichkeit, ihr öffendiches Wächteramt zu vernachlässigen. In diesem Kontext ist auch noch einmal an die Zusammenarbeit Bachs mit Henrici zu erinnern, die ja auch deshalb auf Unverständnis gestoßen ist, weil man von Henricis lasziven literarischen Texten auf den Charakter geschlossen hat. „Man wundert sich, daß der Meister sich zu einem so unfeinen und wenig sym-
174 Die in Hamburg erscheinenden Ntedersäcbsischen Nachrichten rühmen in der Anzeige des dritten Teils der Gedichte die „ungezwungenen und sinnreichen Einfalle" und geben zu bedenken: „Daß sich aber auch der Autor in seinen Satyrischen Gedichten zuweilen einer allzugrosen und ungezähmten Freyheit, dadurch die Ehrbarkeit beleidigt wird, bediene, ist nicht zu läugnen. Manchem werden solche Gedichte als eine schlechte Capelle bey einem schönen Tempel vorkommen." Niedersächsische Nachrichten von Gelehrten neuen Sachen 1732 (Nr. 35 vom 1. Mai), S. 307f., 307. Ähnlich lautet das Urteil einer anderen renommierten Hamburger Gelehrtenzeitung zur zweiten Auflage des dritten Teils: „Man kann nicht leugnen, daß Herr Picander überaus viel natürliche Geschicklichkeit zu der aufgeweckten Schreibart besitzt; es ist nur zu beklagen, daß ihm nicht beyzeiten die Regeln beygebracht worden, welche das überflüßige Feuer dämpfen, das Sinnreiche von dem Geschminkten und Kindischen absondern, und den Einfall lebhaft, aber auch edel, unschuldig und immer gefällig machen." Stats- u. Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1738 (Nr. 66 vom 25. April). 175 Steinauer, Gespräche (Anm. 90), S. 153.
Ein Leipziger Dichterstreit
137
pathischen Menschen hingezogen fühlte."176 Es könnte gut sein, daß Bach nicht nur keinen Anstoß an der Art Dichtung genommen hat, die später als anrüchig galt, sondern dafür in besonderem Maße empfänglich war. Zumindest zeigt der Text des in Bachs Handschrift überlieferten und im Kreise der Großfamilie Bach musizierten Hochzeitsquodlibets „Was seind das vor große Schlösser" (BWV 524), daß sich die Bachfamilie mit Texten dieser Art amüsierte.177 Möglicherweise ist dieses Amüsement eine Familieneigentümlichkeit, vielleicht aber auch ein weiteres Indiz für eine generelle Unbefangenheit im Umgang mit verbalerotischen Anspielungen. Eine Generalisierung ist sicher gewagt, aber es könnte sein, daß es sich dabei um ein Phänomen handelt, das gerade für den Einzugsbereich des Luthertums symptomatisch und auf Luthers eigene Direktheit im Umgang mit dem Thema Sexualität zurückzuführen ist. In Luthers Auslegung von 1. Korinther 7 liegt die Bedeutung der Ehe darin, Remedium gegen das Begehren zu sein, das nur dann und insofern verwerflich ist, als es außerhalb der Ehe Befriedigung sucht. Die Ehe ist dadurch ein gegenseitiges Dienstleistungsunternehmen zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse, die nach Luther auf gleiche Weise unvermeidlich sind wie Hunger, Durst, Schlaf und Verdauung.178 Sie sind keine Pudenda, über die am besten nicht gesprochen wird, sondern Teil der gottgegebenen Natur. Da Luther mit seinen Ausführungen gegen den Gedanken der Verdienstlichkeit von 176 Albert Schweizer: J. S. Bach. 54.-03. Tausend. Leipzig 1954, S. 125. 177 Vgl. Johann Sebastian Bach: Varia: Kantaten, Quodlibet ... Hg. von Andreas Glöckner. Kassel u. a. 2000 (Neue Ausgabe sämtlicher Werke I, 41), S. 69-94; vor allem die Verse des Mittelteils - „Große Hochzeit, große Freuden, große Degen, große Scheiden; ... Große Pfeile, große Köcher, große Nasen, große Löcher; ... große Jungfern, große Kränze, große Esel, große Schwänze" (S. 80-82) - illustrieren die Empfänglichkeit für derbe erotische Anspielungen in einem Teilnehmerkreis, „den wir uns in der Form eines musikalischen Conviviums, einer musizierenden und singenden Hochzeitsgesellschaft aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis des jungen Sebastian vorstellen müssen." Günther Kraft: Zur Entstehungsgeschichte des „Hochzeitsquodlibet" (BWV 524). In: Bach-Jahrbuch 43 (1956), S. 140-154, 140. Ob Bach das in einer Reinschriftpartitur von seiner Hand überlieferte Werk komponiert hat, ist nicht geklärt; vgl. Göpfert: Zur Edition. In: Bach, Varia, S. V-VII, VI. 178 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. 12. Band. Weimar 1891 (Nachdruck Weimar 2003), S. 92-142; vgl. über den Gesamtzusammenhang Olavi Lähteenmäki: Sexus und Ehe bei Luther. Turku 1955; gegen Versuche, Luther als grobsinnlichen Menschen zu diskreditieren oder durch die Unterscheidung zwischen späten und frühen Luther zu exkulpieren, betont Lähteenmäki die Einheitlichkeit und die schöpfungstheologische Grundlage der Ausführungen Ludiers (S. 64—68). Vgl. auch Werner Eiert: Morphologie des Luthertums. Band 2. München 1958, S. 80-91. Andererseits wird darauf hingewiesen, daß die „Einstellung zur Sexualität" im Einzugsbereich der reformatorischen Kirchen „ungleich rigoroser" als im Katholizismus war; Tadeusz Namowicz: Zur Tabuisierung der Sexualität in den literarischen Texten der deutschen Aufklärung. In: Hartmut Eggert und Janusz Golec (Hg.): Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20. Jahrhundert. Stuttgart; Weimar 2002, S. 97-114, 99.
138
RÜDIGER OTTO
Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit polemisiert, steht der Text auf seine Weise durchaus im Kontext der reformatorischen Grundeinsicht des sola gratia. Um zu tragfähigen Aussagen zu gelangen, wären natürlich Untersuchungen ganz anderen Ausmaßes erforderlich; man müßte moraltheologische Veröffentlichungen und vor allem Predigtliteratur zu Rate ziehen, um zu sehen, ob ein Bezug zu den einschlägigen Äußerungen Luthers festzustellen und der Befund einer gewissen Indifferenz der lutherischen Geistlichkeit verallgemeinerungsfähig ist. Im Umkreis Gottscheds jedenfalls könnte auch die oben zitierte Bemerkung Joseph Zuchtfreunds, er könne sich mit seiner Empörung über Henricis Kleidergespräche nur an den Biedermann wenden, als Kritik an der moralischen Unempfindlichkeit der Prediger gegen diese Art Verfehlungen verstanden werden. Sollte der Befund stimmen, dann hätte man im Hinblick auf das Verhältnis Gottsched—Henrici festzustellen, daß nicht Henricis gemütliche Libertinage das Randphänomen und Gottscheds moralische Entrüstung die Mitte der Gesellschaft repräsentieren, zumindest am Anfang ihres Zuammentreffens verhielte es sich genau andersherum. Andererseits wird die Aufklärungszeit als Epoche beschrieben, in der im Zeichen der Verbürgerlichung und eines antiaristokratischen Affronts eine Verdrängung des Sexuellen aus der Öffentlichkeit stattgefunden hat.179 Die Ausrichtung auf Tugend, Arbeite- und Leistungsethik bedinge in Hinsicht auf das Sprachliche den Ausschluß desjenigen, was der effizienzorientierten Affektregulierung entgegensteht.180 Damit wäre diejenige Haltung zur Epochensignatur deklariert, die in Gottscheds Polemiken einen Ausdruck gefunden hat. Die Frage ist nur, welcher Anteil Gottsched an der Enterotisierung der öffentlichen Kommunikation zuzuschreiben ist. Für eine vorläufige Antwort ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Kontexte in Betracht zu ziehen, in denen Gottsched seine MißbüJigung künstlerischer Ausdrucksformen der Libido vorträgt, denn Vorhaltungen dieser Art kennzeichnen nicht nur die Auseinandersetzung mit Henrici. Seine Ablehnung des Stegreiftheaters mit der Figur des Harlekin begründet Gottsched damit, daß man in den Vorstellungen „lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zo-
179 Vgl. Bernhard Fuhs: Mondäne Orte einer vornehmen Gesellschaft. Kultur und Geschichte der Kurstädte 1700-1900. Hildesheim u. a. 1992, S. 113; Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830). Göttingen 2002, S. 112; Brittnacher (Anm. 162), S. 9. Schlaffer (Anm. 163), S. 158. 180 Vgl. Jos van Ussel: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Hamburg 1977, S. 38f. Van Ussel behandelt das Thema allerdings sehr differenziert und in größeren Zeiträumen, Verbürgerlichung und „Verdrängung des Sexuellen" beginnen nach seiner Studie im 16. Jahrhundert (S. 15).
Ein Leipziger Dichterstreit
139
ten [...] zu sehen bekam".181 Der Vorwurf der sinnlichen oder sexuellen Affektation begleitet vor allem die Auseinandersetzung um die Oper. Bekanntlich verwirft Gottsched die Oper, da sie dem Anspruch von Vernunft und Natur nicht entspreche: Die gesungene Wiedergabe von Alltagssituationen sei im Leben ohne Beispiel und deshalb unnatürlich. Durch die aus dem Gesang resultierende Unverständlichkeit der Worte werde die vom Drama zu erwartende moralische Erziehung verfehlt. Gottsched stößt sich an der artifiziellen Ausstattung der Bühne, der Häufung unwahrscheinlicher Situationen, der Ausschließlichkeit der Liebesleidenschaft als Handlungsmotiv.182 In Zusammenhang damit wird auch die durch die Oper vermittelte sinnliche Erregung als Ärgernis und Argument gegen die Oper angeführt: „Ich sehe überdas die Opera so an, wie sie ist; nämlich als eine Beförderung der Wollust, und Verderberinn guter Sitten. Die zärtlichsten Töne, die geilesten Poesien, und die unzüchtigsten Bewegungen der Opernhelden und ihrer verliebten Göttinnen bezaubern die unvorsichtigen Gemüther, und flößen ihnen ein Gift ein, welches ohnedem von sich selbst schon Reizungen genug hat. Denn wie wenige giebt es doch, die allen solchen Versuchungen, die sie auf einmal bestürmen, zugleich widerstehen können?"183 Als Ludwig Friedrich Hudemann 181 Gottsched: Der sterbende Cato, Vorrede. In: AW 2, S. 5; über Gottscheds moraldidaktische Funktionsbestimmung des Theaters vgl. Ruedi Graf: Der Professor und die Komödiantin: Zum Spannungsverhältnis von Gottscheds Theaterreform und Schaubühne. In: Bärbel Rudin; Marion Schulz (Hg.): Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin. Reichenbach 1999, S. 125-144, Gottscheds „Theaterprojekt hatte auf die Sozial- und Mediengeschichte des 18. Jahrhunderts nachhaltigen Einfluß; es hat die Vorstellung von der Schaubühne als moralischer Anstalt im Diskurs über Theater verankert, die Sinnlichkeit des Theaters zu dessen Sinnangebot umgewandelt". S. 138f. 182 Joachim Birke: Gottsched's Opera Criticism and Its Literary Sources. In: Acta musicologica 33 (1960), S. 194—200; John D. Lindberg: Gottsched gegen die Oper. In: German Quarterly 40 (1967), S. 673—683; Bodo Plachta: „Die Vernunft muß man zu Hause lassen, wenn man in die Oper geht". Die literaturkritische Debatte über Oper und Operntext in der Aufklärungsepoche. In: Eleonore Sent (Hg.): Die Oper am Weißenfelser Hof. Rudolstadt 1996, S. 171—189. Über die philosophischen und ästhetischen Voraussetzungen der Opernkritik Gottscheds und ihre Bedeutung(slosigkeit) für die Aufführungspraxis seiner Zeit vgl. Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680-1740). Tübingen 2005, S. 170—198. Das Movens der Gottschedschen Kritik sieht Jahn in der „Furcht, dem Logos könnte die unumschränkte Herrschaft streitig gemacht werden" (S. 185). 183 AW 6/2, S. 368. Gottsched geht so weit, im zweiten, praktisch-philosophischen, Teil seines weit verbreiteten philosophischen Hauptwerks Welhveisheit zur Bekämpfung der Wollust außer der Vermeidung des Umgangs „mit unzüchtigen Personen, beyderley Geschlechts" folgendes zu empfehlen: „Er vermeide ferner die Oerter, wo man zur Wollust gereizet wird, als Opernbühnen und unehrbare Komödien, darinnen verliebte Romanstreiche, Zoten und Narrentheidungen der beste Zierrath sind. Man lese keine Liebesgeschichte, und andere unzüchtige Schriften der Poeten, die ein besonderes Gift einzuflößen pflegen." AW 5/2, S. 368.
140
RÜDIGER OTTO
(1703-1770), der als einer der ersten Kontrahenten die Oper zunächst öffentlich gegen Gottsched verteidigt hatte,184 auf dessen Position einschwenkte, erklärt er seine Sinnesänderung durch Rekurs auf dieses Argument: „Ich kan nicht umhin Ew. HochEdlen hiedurch nochmals zu versichern daß jemehr ich der Beschaffenheit der Opern nachdenke, jemehr ich dieselbe für ein schädliches Gaukelspiel der Sinnen zu achten mich gezwungen sehe. Ich stimme Ew. HochEdlen [...] bey, daß man sie zumal in ihrem itzigen Zustande eine Verderberin guter Sitten nennen müsse, und daß sie statt der Tugend nur Sinnlichkeit und Wollust den Gemühtern einflöße."185 Neben der Auseinandersetzung um die Oper gehört die dezidierte Ablehnung der Dichtung der zweiten schlesischen Schule zu den Großpolemiken, die mit Gottscheds Namen verbunden sind. Die Argumentation entspricht der des Opernstreits, da auch hier Dunkelheit, Unverständlichkeit, Schwulst und Unnatürlichkeit moniert werden.186 Auch hier verbindet Gottsched dichtungstheoretische und moralische Argumente und beanstandet die Amoralität der Autoren und die Anzüglichkeit der Texte: „Hofmannswaldau und Lohenstein aber sind auch in diesem Stücke in die Fußtapfen der geilen Italiener getreten, die ihrer Feder so wenig, als ihren Begierden, ein Maaß zu setzen wissen: und diese Vorgänger haben sehr viel angehende Dichter verderbet."187 Die Empfindlichkeit gegenüber der erotischen Dichtung und ihren vermeintlichen moralgefährdenden Konsequenzen führt schließlich dazu, die einschlägige Literatur insgesamt unter ein Verdikt zu stellen: „Es hat nämlich zu allen Zeiten auch solche verderbte Versemacher gegeben, die, weil sie selbst übel gesittet gewesen und gottlos gelebt, auch andere durch ihre Gedichte zu allerhand Schande und Lastern gereizet haben. Sonderlich ist die Geilheit unzüchtigen Gemüthern allezeit ein Stein des Anstoßens geworden. Ein Ovidius und Catullus sind wegen ihrer unzüchtigen Gedichte, bey allen ihren Schönheiten, schädlich zu lesen. Selbst Horaz ist nicht überall so keusch in seinen Ausdrückungen als er wohl hätte seyn können."188 Die Zitate zeigen zur Ge184 Vgl. Gloria Flaherty: Opera in the Development of German Critical Thought. Princeton 1978, S. 105-109; Horst Joachim Frank: Hudemanns Muse. In: Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Band 2: 18. Jahrhundert. Neumünster 1998, S. 76-92, 79f. 185 Ludwig Friedrich Hudemann an Gottsched, Schleswig 22. Juni 1735, UBL, 0342 III, Bl. 250-251,250v. 186 Zu Gottscheds Urteil über Lohenstein vgl. Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Band 1: 1661-1800. Tübingen 1978, vor allem S. 338349. 187 AW 6/1, S. 161. 188 AW 6/1, S. 161; vgl. auch AW 6/2, S. 579f. Auch Jean-Jacques Rousseaus La Nouvelle Heloi'se wird von Gottsched als „un ramassis d'obscenites honteuses et condamnables" verworfen; vgl. Jacques Mounier: La Reception de J. J. Rousseau en Allemagne au XVIIIe
Ein Leipziger Dichterstreit
141
nüge, daß Gottsched auf erotische Texte, ganz unabhängig von ihrer poetischen Qualität, mit Ablehnung reagierte. Sie scheinen mit seinem Verständnis der Funktion von Literatur als Vermittlungsinstanz moralischer Wahrheiten nicht vereinbar zu sein. Bekanntlich ist nach Gottsched der in eine Fabel einzukleidende moralische Lehrsatz die Basis und die Rechtfertigung für jede literarische Aktivität.189 Kunst soll der Belehrung und Besserung dienen. Zugleich wird vom Autor selbst sittliche Integrität erfordert, er soll „ein ehrliches und tugendliebendes Gemüthe haben."190 Wo also umgekehrt Literatur nicht dem moralischen Anspruch entspricht, wird auf die moralische Zweifelhaftigkeit des Autors geschlossen. Die pädagogisch-moralische Auffassung von Kunst und Künstler bildet das Zentrum der Gottschedschen Poetologie und infolgedessen ist die Polemik gegen die sich diesem Anspruch entziehenden poetischen Werke nur folgerichtig. Stellt man in Rechnung, daß Gottsched durch zahlreiche Veröffentlichungen, moralische Wochenschriften und andere Zeitschriften, die Leipziger Deutsche Gesellschaft und die in ihrer Folge entstandenen Deutschen Gesellschaften in zahlreichen Städten des Reichs, die von ihm unterhaltenen Rednergesellschaften und nicht zuletzt auch durch seine immense Wirkung als Universitätslehrer191 für einige Jahre die maßgebliche Instanz für die literarische Geschmacksbildung im deutschsprachigen Raum war, so liegt die Vermutung nahe, daß die Forderung moralisch-vernünftiger Literatur mitsamt der dezidierten Ablehnung erotischer Dichtung ihre Wirkung auf seine Leser und Schüler nicht verfehlte.192 Wenn
189 190 191
192
siecle. In: Gerhard Sauder; Jochen Schlobach: Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986, S. 167-179, S. 169. Für Pierre Bayles Behandlung der „Unflätereyen" hat Gottsched nur Empörung übrig; vgl. Pierre Bayle: Historisches und Critdsches Wörterbuch; Mit Anmerkungen ... von Johann Christoph Gottscheden. Vierter Theil. Leipzig 1744 (Nachdruck Hildesheim 1997), S. 661, Anm. *. AW 6/1, S. 215. AW 6/1, S. 159. Im Gegensatz zum 19. und 20. Jahrhundert kommt nach L. Schücking, der dafür auf das Leipzig Gottscheds und Gellerts verweist, der Universität wie auch den literarischen Gesellschaften im 18. Jahrhundert bei der Vermittlung ästhetischer Werturteile eine besondere Bedeutung zu; vgl. Levin L. Schücking: Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. 2. Auflage. Leipzig 1931, S. 105f. Robert P. Bareikis wies beispielsweise daraufhin, daß die Lektüre der Cntischen Dichtkunst den Lyrikherausgeber Gottfried Behrndt (1693—1743) darin bekräftigt habe, in seiner Sammlung ,„Liebes- und Hochzeit-Lieder', also die galanten und verliebten, auszuschliessen. Diese waren nunmehr aus den meisten Anthologien verschwunden". Robert P. Bareikis: Die deutschen Lyriksammlungen des 18. Jahrhunderts. In: Joachim Bark und Dieter Pforte (Hg): Die deutschsprachige Anthologie. Band 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Frankfurt am Main 1969, S. 48-139, 77; Adam Bernhard Pantke (17091774), Schüler Gottscheds und Mitglied der Deutschen Gesellschaft, verurteilte, ausgerechnet in einem Hochzeitsgedicht die „wollüstigen Hochzeit= Reime unflätiger Versemacher, die voller Üppigkeiten und Zoten zu seyn pflegen". Nachricht von der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, Bis auf das Jahr 1731. fortgesetzt. Leipzig: Bernhard Christoph
142
RÜDIGER OTTO
Gottsched einerseits gegen Pietismus und Askese als Verfechter der Weltbejahung und des Lebensgenusses angesehen wurde,193 so steht er doch in dem Zusammenhang, der hier zu bedenken war, als Verfechter eines literarischen Tugendkanons da, dessen Verwerfungen erotischer Literatur Allgemeingut wurden. Auf diesem Gebiet ist Gottscheds Position in den literarischen Auseinandersetzungen seit den vierziger Jahren, die seinen Kredit an vielen Stellen untergruben, nicht angefochten worden. Auch die Vorbildwirkung der antiken Kunst und Literatur blieb, was die Einstellung zur Sexualität angeht, weitgehend folgenlos.194 Hier hat Gottsched, um auf unser Thema zurückzukommen, langfristig den Sieg über Henrici davongetragen, denn die Verachtung, mit der die „rohe Schlüpfrigkeit" Henricis über Jahrhunderte gestraft wurde, dürfte als eine Fernwirkung der von Gottsched befestigten Maßstäbe anzusehen sein.
Breitkopf, 1731, S. 66. In der oben erwähnten Auseinandersetzung mit dem Breslauer Arzt Christoph Ernst Steinbach betont ein Verteidiger Gottscheds, daß dieser mit Recht die Anstößigkeit mancher Gedichte Johann Christian Günthers beanstandet habe und schreibt: „Sind auch gleich diese Gedichte an sich schön, was die Poesie anbetrift, so sind sie doch verwerflich in so fern Sie ohne Anstoß der Schamhaftigkeit und Zucht nicht gelesen werden können". Schreiben an Herr Doctor Steinbach in Breßlau, bey Gelegenheit seiner wieder den Herrn Prof. Gottsched in der Lebensbeschreibung von Günthern, angeführten Beschuldigungen, o. O. o. J., S. [)( 8v]. Zu dieser Schrift vgl. Bölhoff, Günther (Anm. 90), S. 279 Nr. 512 und S. 282 Nr. 516. Der Verfasser ist bislang unbekannt, in einer zeitgenössischen Publikation heißt es über ihn: „Der Verfasser hat sich nicht genennt. Doch ist uns sichere Nachricht zu Händen kommen, daß selbiger ein gebohrner Ober=Lausitzer sey". Ober=Lausitzscher Beytrag Zur Gelahrtheit Und Deren Historic. Leipzig; Görlitz: Siegmund Ehrenfried Richter, Band l, 1738/39, Sp. 669-72; 670. Im Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig (Deutsche Zeitschrift 134) findet sich die handschriftliche Ergänzung: „Nahmens Faber ein Bauzner" (unter Sp. 669/770). Sollte dies stimmen, dürfte Johann Christoph Faber aus Bautzen gemeint sein. Er wurde 1734 in Leipzig immatrikuliert, wurde Mitglied der vormittäglichen Rednergesellschaft, schrieb 1740 aus Bautzen einige Briefe an Gottsched und starb schon am 9. August 1741. Besondere Verdienste erwarb er sich durch die von Gottsched veröffentlichte Übersetzung der Kometenschrift Pierre Bayles; vgl. Pierre Bayle: Verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen, an einen Doctor der Sorbonne gerichtet. Aus dem Französischen übersetzet, und mit Anmerkungen und einer Vorrede ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Hamburg: Felginers Wittwe und J. C. Bohn, 1741; Gottsched notiert im Vorwort: „Herr Johann Christoph Faber, einer meiner geschicktesten Zuhörer, aus der Oberlausitz gebürtig, war es, der vor ein paar Jahren diese Uebersetzung übernahm" S. a5r. Fabers Übersetzung wurde in modernisierter Form erneut vorgelegt; vgl. Pierre Bayle: Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist. Leipzig 1975. 193 Marie Helene Queval: Les Paradoxes d'Eros ou l'Amour dans l'ceuvre de Johann Christoph Gottsched. Bern u. a. 1999. Queval betont allerdings, daß Gottsched sich nach zwei Seiten, gegen religiöse Rigidität und gegen materialistischen Libertinismus abgegrenzt habe. 194 Vgl. Namowicz, Tabuisierung (Anm. 178), S. 103.
Ein Leipziger Dichterstreit
143
3. Quellenanhang In dem Konvolut Hist. 2° 139 der Universitätsbibliothek Halle sind Dokumente vor allem des 18. Jahrhunderts enthalten, Reden, Trauerschriften, autobiographische Aufzeichnungen, Schriftenverzeichnisse. Die umfangreichste Sammlung zu einem Thema bilden die Drucke und handschriftlichen Texte, die die Auseinandersetzung Gottscheds mit dem Schauspieler Heinrich Gottfried Koch (1703—1775) in Leipzig am Anfang der fünfziger Jahre des 18. Jahrhundert widerspiegeln. Die mit den Buchstaben A—C gekennzeichnete Textsammlung zum Streit Christian Friedrich Henrici — Gottsched ist auf Bl. 200r-207 dokumentiert und besteht aus einer Abschrift des 83. Stückes von Gottscheds Zeitschrift Der Biedermann (A, Bl. 200r-203r), aus Henricis Satire Mit Gunst/ Herr Biedermann/ Wer sind sie? (B, Bl. 203v-204r, Quellenanhang 1), aus Henricis Brief an den Kreisamtmann Thomas Wagner (C, Bl. 204v—207v, Quellenanhang 2) und aus einem vermutlich vom Besitzer der Abschriften selbst auf dem Freiraum der letzten Seite in kleiner Schrift notierten Bericht über den Hergang des Streits (Bl. 207v, Quellenanhang 3). Das als Quellenanhang 4 wiedergegebene Gedicht Henricis lag einem Brief Gottscheds an Ernst Christoph von Manteuffel bei.
Quellenanhang l. Mit Gunst/ Herr Biedermann/ Wer sind sie? Halle, Universitätsbibliothek, Hist. 2° 139, Bl. 203v-204r. 1) Ergo195 Pretium ob stultitiam fero. Ter.196 Das fragen stehet frey; wer bistu, Biedermann 2.) Ein Mensch der auf der haut nicht ruhig schlaffen kann 3) Ein alter Überrest klatschhaffter Tadlerinnen197 4) Ein Kopff unruhiger und halb verrückter Sinnen. Du198 bist zwahr nach199 Persohn der Stadt nicht unbekannt 195 Durch die Numerierungen l bis 5 und die ihnen folgenden Unterstreichungen sollen möglicherweise die wichtigsten Teilelemente auf die Frage des Titels „Wer sind sie?" hervorgehoben werden. 196 Vgl. Terentius, Andria, 610. Die zitierte Stelle lautet „ego pretium ob stultitiam fero". Das von Henrici verwendete, durch eine doppelte Unterstreichung hervorgehobene „Ergo" klingt an das Ego an und bildet andererseits das Bindeglied auf die nicht ausgesprochene Antwort auf die Frage: „Wer sind sie" und dem folgenden: Ich trage den Preis für Torheit. 197 Vor dem Riedermann hatte Gottsched die Vernünfftigen Tadlerinnen (1727/28) veröffentlicht. 198 Die folgenden 8 Verse (Du bist ... unter ihnen) werden zitiert von Rost, Das Vorspiel (Anm. 86), S. 22, Anm. zu Vers 106.
144
RÜDIGER OTTO
Das Pflaster hastu bald durchgängig aufgerannt Man sieht dich ohne Geld des Sontags vor den200 Eßen Am Marckt, und sonsten mehr, die schöne Länge meßen Auch hastu deinen Ruhm mehr als zu weit gebracht 5) Bey Muhmen201 hastu dich schon längst beliebt gemacht. Im Sommer wenn sie sich der Linden hier bedienen Bistu ihr Oberhaupt und sizest unter ihnen.202 Allein das weiß ich schon, das weiß auch alle Welt, Und darauf hab ich auch die Frage nicht gestellt. Ich will nach der Vernunfft dich innerlich betrachten Und wie ein Weidemann dich nach den Regeln schlachten. Du nenst dich Biedermann; das ist noch nicht genung, Ein solcher Mann zu seyn, bistu noch viel zu jung. Es ist so lange nicht, es dencket unsern Knaben, Da dir die Gänse noch den Barth geliehen haben. Der Trieb zur Stachelschrifft stammt von der Tugend her; Allein ich wüste nicht, wo diese bey dir war. Du schmähest alle Welt und marterst deine Sinnen, Um weil der hunger drückt, zwey Thaler zu gewinnen Wenn einer Thorheit spielt, den lacht man billig aus, Allein da machestu ein grobes Schimpfen draus. Dein Kiel schreibt ohne Kunst, wie alte Weiber keiffen, Die Kinder können es mit beyden händen greiffen, Ich habe lezt von dir ein tolles Blat erblickt, Ey! ey! wie fand ich das vor grausam ungeschickt, Dir schrieb ein Charten Mann;203 bey nahe kann ich glauben, Es werden künfftig auch die Büttel an dich schreiben. Was hat wohl dazumahl die Welt=Weißheit gedacht, Daß dieser, welchen sie zum Meister hat gemacht,204 199 Rost, Das Vorspiel (Anm. 86), S. 22, Anm. zu Vers 106: von. 200 Rost, Das Vorspiel (Anm. 86), S. 22, Anm. zu Vers 106: dem. 201 In Leipzig auch Bezeichnung einer Kinderwärterin, vgl. Karl Müller-Fraureuth: Wörterbuch der obersächsischen und erzgebirgischen Mundarten. Band 2. Dresden 1914, S. 255. 202 Vgl. die Abbildung der „im Volksmund ,Muhmen-Börse' genannte Promenade" vor der Thomaskirche in: Werner Neumann: Auf den Lebenswegen Johann Sebastian Bachs. Berlin 1962, S. 227. 203 Vgl. Gottsched: Der Biedermann, Nr. 76 vom 18. Oktober 1728, 2, S. 104. Dort ist die Zuschrift einer Spielkarte, eines „Careaububen" vom 28. September 1728 abgedruckt. 204 Gottsched war 1723 in Königsberg zum Magister der Philosophie promoviert worden. Um in Leipzig die Rechte eines Magisters wahrnehmen zu können, hat er sich dort im November 1724 habilitiert; vgl. Gottsched: Vorrede, darinn eine Nachricht von des Verfassers ersten Schriften, bis zum 1734sten Jahre enthalten ist. AW 5/3, S. 247-286, 250 und 252. Über den Erwerb der Lehrberechtigung an der Leipziger Universität durch auswärtige Ma-
Ein Leipziger Dichterstreit
145
Sich wieder den Geschmack der Klugheit hat vergangen, Gleichsam als hätt er erst das Lehrjahr angefangen 1204r | Ich rühre den Gestanck deßelben Lästern nicht, Der Gifft sey auf dein haupt, den du da angericht. Doch dieses laß ich nur allhier nicht unberühret, Da du dich ohne Zucht daselbsten aufgeführet. Der Carreau=Bube schreibt, und dieses zwar durch dich: Weil meine Nase groß, so liebt die Jungfer mich! Dabey nun giebestu buchstäblich zu verstehen, Die Deutung müße hier auf andere Nasen gehen205 O! Schand o! Ärgerniß! lehrt wohl ein Huren^Hauß So viel Unflätherey und solchen Sudel aus. Unmöglich ist die Bruth mit Willen der Censoren Zum Schimpff der Erbarkeit im Druck der Welt gebohren. Wenn das ein Biedermann mit Fug und Rechte heist, Der mit den Sauen läufft und derbe Zoten reißt, So zehlt man künfftig hin die Könige der Nächte, Zum Philosophischen und Biedermans Geschlechte. Doch unterstehestu dich bey deiner Sauerey, Und schmählest auf ein Blatt,206 das lange nicht so frey; Gesezt du hättest auch dabey was einzuwenden, Wer giebt dir denn die Macht, so lästerhafft zu schänden? Es war kein Bauer Mensch,207 kein Jung in deiner Brust, gister vgl. Jens Blechen Vom Promotionsprivileg zum Promotionsrecht. Das Leipziger Promotionsrecht zwischen 1409 und 1945 als konsumtives und prägendes Element der akademischen Selbstverwaltung. Halle-Wittenberg, Martin-Luther-Universität, Philosophische Fakultät, Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften, Dissertation, 2006, S. 93-95. 205 Der Karobube berichtet von seinen Erfolgen bei einer „Gesellschaft der artigsten Frauenzimmer" und erklärt das Geheimnis seines Erfolgs: „Aber mein Frauenzimmer hat sichs gar zu deutlich mercken lassen, daß sie mich bloß um meiner grossen Nase halber hochschätzet. Was sie damit meyne, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie die Hieroglyphischen Figuren der Egyptier Studiret, und ein besondres Geheimniß gefunden, so durch eine grosse Nase angedeutet wird. Sie werden vielleicht mehr davon wissen, und durch die Erklärung dieses Rätzels nicht nur mich, sondern auch manches junge Frauenzimmer, die mich um dieser trefflichen Eigenschafft halber noch nicht genug zu schätzen weiß, verbindlich machen. Beneiden mich gleich meine drey übrigen Cammeraden, dieser Gunst halber, sonderlich der Pickbube, der nur ein recht kleines Näßchen hat: Immerhin! [...] P. S. Ich bitte sie, demjenigen Kartenmacher, der mich zur Welt gebracht, öffentlich vor die grosse Nase so er mir gebildet hat, Danck abzustatten; weil ich bloß durch dieselbe mein gantzes Glück gemacht habe." Gottsched: Der Biedermann, Nr. 76 vom 18. Oktober 1728, 2, S. 104. „Große, unförmliche N[asen]n heißt das Volk Gurken und vergleicht damit den Penis." Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 6. Berlin; Leipzig 1935 (Nachdruck 1987), Sp. 970. 206 Henrici, Gespräche im Reich der Todten (Anm. 57). Dagegen war gerichtet: Gottsched: Der Biedermann, Nr. 83 vom 6. Dezember 1728, 2, S. 127-130.
146
RÜDIGER OTTO
Der nicht ich wünsche Glück, von dir heraus gemust; Wie wirstu diesem nicht dafür verbunden leben, der dir daßelbe mahl ein Vomotiv208 gegeben Wie wohl ich seh es dir an deinen Augen an, das Pulver hat noch nicht bey dir genung gethan. Es ist noch Vorrath da von Gaß= und Bauer Jungen, Die werden anders nicht, als auch damit verdrungen. Es ist mir, Biedermann, um dich von herzen leid Und hülffe gerne dir von der Beschwerlichkeit: Allein ich stamme nicht von Dorff= und Bauer=Fluren, Und also schick ich mich zu keinen Bauer=Curen Mein allerbester Rath, den ich dir geben kan, Ist wenn es bey dir steht sey doch ein Biedermann, Rechtschaffen in der That, in Worten und Gedancken: Wer wird sich denn mit dir fast alle Tage zancken? Mann muß nicht läppisch thun, wenn man will ernsthafft seyn, vor diesem prägt ich dir schon gute Regeln ein;209 Wie offters hat man dich schon auf die Faust geschlagen, Und bist doch noch nicht klug. Ich will dir nichts mehr sagen.
207 Die Polemik gegen Henricis Totengespräch enthielt einen Vorwurf, den Henrici hier wahrscheinlich zurückgibt: „Die Musen, die sonst Töchter Jupiters waren, sind itzo grobe Bauernmägde geworden" Der Biedermann 2 (1728), S. 130. 208 Vomitiv - Brechmittel. 209 Vermutlich ein Hinweis auf Henricis verschollene Schrift An die Vernünfftigen Tadkrinnen, die acht Regeln für die Tadlerinnen enthielt, vgl. Flossmann (Anm. 11), S. 52.
Ein Leipziger Dichterstreit
147
Quellenanhang 2. Henrici an Thomas Wagner210, Leipzig 12. März 1729. Halle, Universitätsbibliothek, Hist. 2° 139, Bl. 204v-207v.211 Hoch Edelgebohrner Vest und/ hochgelahrter/ hochgeehrtester Commissions Rath und Creyß Amtmann!212
Herr
Ew: HochEdelgeb. bin zuförderst höchlich verbunden, daß Sie mich über die wieder mich von H. M. Johann Christoph Gottscheden Collegfa] B[eatae] Vfirginis] Colleg[ii]213 angestellten ungewöhnl. recantatorischen Klage214 mit aller Gedult vernehmen und hierauf mir eine Frist zu Vorstellung meiner Nothdurfft hochgeneigt vergönnen wollen. Alß ich die fol. übergebenen Klage215 mit hierzugehörigen Aufmercksamkeit durchsehen, so habe wahrgenommen, daß H. D: Davidt Gottlob Dieze216 sich belieben laßen, sein Concept et subscripsit herzugeben; Ob mich nun schon dieses leztere meine Augen überzeigen so will doch zu dem erstem mein ganzer Glaube nicht zureichend seyn. Vielmehr bin ich der gewißen Zuversicht es werde gedachter H. M Gottsched, als von welchen mir bekandt, daß er unlängst Jura zu studieren angefangen,217 auch zu dieser juristischen Ar210 Über Thomas Wagner vgl. Das jetzt lebende und jetzt florirende Leipzig. Leipzig: Johann Theodor Boetii seel. Tochter, 1732, S. 9 und Jügen Arndt (Bearb.): Hofpfalzgrafen= Register. Band 2. Neustadt an der Aisch 1971, S. 127, Anm. 632. 211 Die Textvorlage weist an einigen Stellen Sinnentstellungen auf, die vermutlich auf ein Versehen des Abschreibers zurückgehen. Eine Korrektur wurde nur an einer Stelle vorgenommen, an der das Mißverständnis offensichtlich und die Veränderung angeraten schien. 212 „Die Jurisdiction des hiesigen Kreisamtes erstreckt sich über alle Churfürstliche Beamte". Johann Gottlob Schulz: Beschreibung der Stadt Leipzig. Leipzig: Adam Friedrich Böhme, 1784, S. 200. Für die Rechtsprechung über Universitätsangehörige war die Universität selbst in Gestalt des Concilium perpetuum zuständig; vgl. S. 201. Henrici war als Aktuar im Oberpostamt kurfürstlicher Beamter, deshalb dürfte er vor diesem Gericht belangt worden sein. 213 Das Frauenkolleg hat seinen Namen von einer Kapelle Unsrer lieben Frauen, der gegenüber das Haus des Kollegiums errichtet wurde. Die Kollegialen genossen rechtliche Privilegien, waren finanziell ausgestattet und hatten die wissenschaftliche und lebenspraktische Aufsicht über die ihnen anvertrauten Studenten; vgl. Carl Christian Cams Gretschel: Leipzig und seine Umgebungen. Leipzig 1836 (Nachdruck 1982), S. 94 und 307f.; Collegium Beatae Mariae Virginis in universitate lipsiensi. Leipzig 1859; Heinz Füßler (Hg.): Leipziger Universitätsbauten. Leipzig 1961, S. 129f. Gottsched war seit 1725 Mitglied des Frauenkollegs. 214 Widerrufsklage. 215 Die Klageschrift ist nicht überliefert. 216 Unter den „Doctores Juris, so auf ändern Universitäten promoviret, sich aber allhier [...] als Juris Practici sehen lassen" ist aufgeführt: „David Gottlob Dietz, E. 1727. in der Burckstrasse, in Ludewigs Hause." Das jetzt lebende Leipzig (Anm. 210), S. 38f. 217 Als Hofmeister Friedrich Otto Menckes (1708-1754) besuchte Gottsched 1724-1725 „juristische Privatlectionen"; vgl. Gottsched: Historische Lobschrift des ... Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolf. Halle: Renger, 1755 (Nachdruck Hildesheim; New
148
RÜDIGER OTTO
belt Hand angeleget haben, dabey mag ihm aber nicht beygefallen seyn welcher gestallt in dem Königl. Mandate von der Selbst Rache de anno 1712 § 22218 sehr heilsamlich und zwar darum damit von bösen, ungewißenhafften und eigennüzigen Advocaten denen Partheyen keine kostbare Weitläufftigkeit zu gezogen werde,219 alle in der Policey Ordnung tit. 5 § 5.220nachgelaßenen Klagen in Injurien Sachen sie seyn ad a^stimationem, palinodiam oder sonsten, gänzlich auffgehoben worden.221 Es ist also ein Unglück, daß mit mir und dem H. Mag. Gottscheden dieser Gerichtl. Scharmüzel nicht vor 18 Jahren schon vorgefallen, als zu welcher Zeit er sich dieses Klag=Formulars mit beßern Fortgange bedienen können. Jedoch damit ich zur Sache selber komme, so bin ich nicht abredig daß ich die in Actis fol. befindliche Schrifft geferttiget und dem Buchdrucker zur freyen Disposition überlaßen habe. Es wundert mich dahero nicht wenig warum H. Denunciant eher alß er gewust ob? und was ich negiren werde, den Beweiß geführet, und die ehrwürdige Romische Zinß=Zahl222 und das theure Notariat=Signet223 bey Verhöhrung eines Zeugens von 18 Jahren, in einen gelehrten Musseo, so eitler Weise incommodiret.224 Die edle Zeit zu diesen fruchtlosen Unterfangen hätte gar füglich zu etwas beßern können angewendet werden, indem in der neuen erläuterten Process-Ordnung im Anhange § XIX. ausdrücklich enthalten, daß keine andere Zeugen Rotuln, alß Gerichtl. sollen zu gelaßen werden,225 zu geschweigen, daß der
218
219
220
221
222 223 224 225
York 1980), S. 72, Anm. *. Gottscheds Korrespondent Johann Ulrich König schrieb am 22. Oktober 1728, ein Adliger wolle Gottsched als Hofmeister gewinnen, bedaure aber, daß er Theologe und kein Jurist sei. „Ich versezte, daß Sie izo würklich Jura studirten, zu dem Ende disputirten, u. wo ich mich nicht irrte, einen öffentlichen gradum annehmen würden." Weitere Hinweise auf Gottscheds juristische Studien sind nicht bekannt. Vgl. Erneuert und geschärfftes anderweit eröffnetes Mandat Wider die Selbst=Rache, Injurien, Friedens=Stöhrungen und Duelle den 2. Julii, Anno 1712. In: Codex Augusteus l (1724), Sp. 1785-1804,1791f. In der Vorlage folgen auf „werde": Punkt, Absatz und neuer Satz. Daraus ergeben sich zwei unvollständige und unverständliche Sätze. Vermutlich ist bei der Abschrift des Briefes ein Fehler unterlaufen. Policey=Hochzeit=Kleider=Gesinde=Tagelöhner= und Handwercks=Ordnung Churfürst Joh. Georgens des II. zu Sachsen, den 22. Junii, Anno 1661. In: Codex Augusteus l (1724), Sp. 1562-1610,1569. Vgl. Georg Beyer: Volckmannus emendatus, Das ist: Vollständige und verbesserte Notariats=Kunst, Oder nützliches und nöthiges Hand=Buch Vor Advocaten und Notarien. Leipzig: Johannes Grossens Erben, 1731, 2. Teil, S. 379—381. Zedler 32 (1742), Sp. 345f. Vgl. Decisiones electorales Saxonicae Oder Erledigung derer zweiffelhafften Rechts=Fälle. In: Codex Augusteus I (1724), Sp. 293-340, 304, Decisio XX; Zedler 37 (1743), Sp. 1215. Vgl. Quellenanhang 3: Gottsched hatte für das Verhör des Buchdruckerjungen den Notar Carl Traugott Reyher hinzugezogen. Vgl. Erläuterung und Verbesserung der bißherigen Process- und Gerichts=Ordnung, Nebenst einem Anhange ..., den 10. Jan. Anno 1724. In: Codex Augusteus I (1724), Sp. 2381-2510, Anhang § 19, Sp. 2507: „Es sollen ... keine andere, als gerichtliche Rotuli, wel-
Ein Leipziger Dichterstteit
149
verhörte Buchdrucker Junge seine Aussage nicht beschworen, sondern wie ich selber aus 1205v | deßen mündlichen Erzehlung vernommen, mit wichtigen Versprechungen, und eines Recompenzes von 2 g. darzu verleitet worden. Ich hätte mir aber nimmermehr die Gedult genommen wieder H. Denuncianten die Feder zu ergreiffen, wenn er sich mir selbst nicht zu genöthiget, und mich in einen seinem Biedermanns Blättern auf eine unverandtwortl. Weise ) :deßen Recht!. Vindication mir bey seiner ordentl. Obrigkeit226 vorbehalte | attaquiret, dahero hat er sich nunmehro selbst als autori rixas das bekante Sprichwort: Quod tibi non vis fieri alteri ne feceris227 vorzustellen. Indeßen kann ich mir nicht einbilden, wie H. Denuntianten einfallen mögen das quaestionirte u von mir gefertigte Scriptum, ein libellum famosum228 zu nennen. Um ihn diese irrige Meinung zu benehmen, so muß H. Denuncianten abermahls eines ändern unterrichten, und ihn ad Libr. XLVII.229 Tit. ff.230 invitiren. Famosus libellus est injuria, qua alicui certum famosumque crimen occultato auctoris nomine objicitur, et in populum spargitur. It. ad L. un. C. d. fam. lib.231 et Ord. Grim. Art. 110.232 Wenn nun die Sache noch so genau ansehen will, so kann ich doch nicht finden, daß H. Denuncianten ein Crimen geschweige Certum Crimen vorgeworffen. Noch weniger will die Occultatio nominis zu der alleinigen Substanz eines Libelli famosi etwas beytragen. Dieweilen ich nun solches Scriptum niemahlen für ein Pasquill auslegen können noch wollen, so habe kein Bedencken gehabt, solches nachdem es ohnedem gedrucket, und in voriger Meße233 herumzutragen
226 227
228
229 230
231 232 233
ehe jedoch coram quocunque Judicio gefertiget werden mögen, zugelassen, auch die Eydes=Delation, ingleichen die Interrogatoria bey diesem Summarissimo nicht gestartet, und dem Beklagten zwar zu seiner Gegen=Bescheinigung gleichfalls gerichtliche Rotulos in Termine zu übergeben freystehen". Als Universitätsangehöriger unterstand Gottsched der Gerichtsbarkeit der Universität. Vgl. Hans Walther (Hg): Proverbia sentenüaeque Latinitatis medii aevi. Lateinische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung. Teil 4. Göttingen 1966, S. 495, Nr. 26081. Vgl. zum Begriff und zur rechtsgeschichtlichen Dimension Günter Schmidt: Libelli famosi. Zur Bedeutung der Schmähschriften, Scheltbriefe, Schandgemälde und Pasquille in der deutschen Rechtsgeschichte. Köln, Universität, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Dissertation, 1985. Digestae, Lib. XLVII. Tit. 10: De iniuriis et famosis libellis; vgl. Corpus iuris civilis. 15. Auflage Berlin 1928, S. 830-836. ff ist die Juristensigle für Digesten; vgl. Leopold Wenger: Die Quellen des römischen Rechts. Wien 1953, S. 118. Ich danke Herrn Dr. Frank Kaufmann (Leipzig) für die Erläuterung und die Literaturangabe. Codex Justinianus, Über IX, Tit. XXXVI, de famosis libellis; vgl. Corpus iuris civilis. 10. Auflage. Band 2. Berlin 1929, S. 387. Vgl. Gustav Radbruch (Hg.): Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina). Stuttgart 1967, S. 76, Nr. 110. Leipziger Neujahrsmesse.
150
RÜDIGER OTTO
gedultet worden, guten Bekanten, die mich darum ersuchet, zu communiciren. Ich würde auch nicht so neidisch gewesen seyn, ein Exemplar H. M. Gottscheden, wenn er solches bittlich an mich gelangen laßen, abzuschlagen da nun occultatio nominis alleine nichts inuoluiret, propalatio nicht genugsam erwießen, und völlig eingestanden werden können, und daß der= J 206r | gleichen in Tietzens Buchdruckerey234 geschehen in totum negiret wird, certum crimen aber eben so wenig als der Lapis philosophorum existiret, so folget handgreifflich daß H. Denunciant mit seinen ausgegebenem famoso libello wenig wunder thun wird. Ich will nicht hoffen, daß die Bezüchtigung einer unterlaßenen Censur dem H. Denuncianten in Ernste loco Criminis angeführet worden.235 Einestheils zeigen die von mir gebrauchten Worte nur von einem hierüber habenden und noch zweiffeinden Gedancken, u. ändern theils, posito, sed non concesso, wenn ich solches bey damahliger Gelegenheit auch gedacht was würde das einem Autori vor ein Schimpf seyn, da nicht er sondern der Buchdrucker die Censuren zu besorgen hat. Vielmehr hätte ich entweder zu viel Ambition mich allemahl selbst in Persohn zum Censore zu verfügen, oder fände es doch vor unbeqvem mir deßwegen einen famulum zu halten. Es erhellet also hieraus klährlich daß ich mit nichten als ein Autor famosi libelli anzusehen, noch weniger dieserwegen zu bestrafen sey. Daß ich aber in quaestionirten Scripto H. Denuncianten einen Panegyricum geschrieben, kann u. will ich freylich nicht behaupten. Doch ist auch in keiner Wege abzusehen, daß selbiger auf das schmerzlichste und entsetzlichste von mir diffamiret worden sey, weilen in meinem gantzen Scripto H. Denuncianten nicht ein einziges Delictum famosum objiciret worden. Die Auslegung des Wortes ergo236 hat mir viel Lachens verursachet, daß ich selbige daß sie ein rechter grober Ochße237 heißen sollen in der Denunciation gelesen, wenn es andere Leser dafür angesehen, was kan ich dafür? Genung ist es, daß solche ipsissima Verba aus dem Terentio genommen, und dem herrn M. alß einen Gelehrten nicht können unbekandt 234 „Gedruckt bey Immanuel Tietzen" wurde Henricis erste Veröffentlichung geistlicher Poesie, die Sammlung erbaulicher Gedancken. Leipzig 1724; vgl. Spitta 2 (Anm. 7), S. 171 und Paisey, S. 264. 235 Henrici hatte geschrieben: „Unmöglich ist die Bruth mit Willen der Censoren/ Zum Schimpff der Erbarkeit im Druck der Welt gebohren." Vgl. Quellenanhang 1. 236 Vgl. das Motto zu Henricis Schrift, Quellenanhang l. 237 In einer auch gegen die Täterinnen gerichteten Schrift wurde auf die Frage nach deren Autor erklärt, er sei „ein Magisterculus, wenn man den Verstand und die Studia ansieht, sonst aber quoad mores et corpus ein vir quadratus der in der Ochsen=Philosophie trefflich bewandert". Zweyer guter Freunde Gespräche über das Tractätgen oratorum novorum pica cum remedio. 1726, zit. nach Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den „Vernünfftigen Tadlerinnen" (1725/26). Stuttgart 1978, S. 42. Henricis Schrift beginnt in gleicher Weise mit der Frage nach dem Autor. Möglicherweise spielt seine Eröffnung mit dieser Assoziation, ohne sich darauf festlegen lassen zu müssen.
Ein Leipziger Dichterstreit
151
seyn. Der Buchdrucker Junge hat auch in den Notarien Instrumente238 nicht gesagt, daß er solche Auslegung von mir gehöret habe, ungeacht diese ganze Verhöhrung wieder mich etwas zu probiren gar nicht im Stande ist. Es ist vielmehr gewiß, daß H. M. Gottsched den bemeiden Jungen selber vorge saget: Ergo würde so viel heißen alß ein rechter grobe und da H. Denunciant hier stille gehalten, der Buchdrucker Junge den Ochßen folgends darzu gesetzet habe. Ich könte mich dieses minderjährigen und ohne Jurament abgehörten Jungens wieder H. Denuncianten füglich bedienen, wenn ich solches nicht noch zur Zeit vor unnöthig erachtete, so mir aber doch erforderten falls per expressum hiermit vorbehalte. Daß der Buchdrucker Bauch239 das Exemplar nachgedrucket ist nicht mein factum, habe auch dafür nicht zu stehen weiln er sich deßen ohne mein Befehl unterzogen hat, und kann mir gleich viel gelten ob es 3 mahl oder gar 30 mahl wieder aufgeleget worden.240 Endlich ist dieses Genus Scriptura anders nichts alß ein in republica litteraria gar gewöhn!. Feder Krieg, und weiln so wohl natürlichen alß Geistl. Rechten erlaubet, und gebothen ist, einander zu vermahnen und zu verbeßern so habe hierunter mir ebenmäßige, und gar erlaubte Absicht gehabt, nehml. nicht injuriandi sed corrigendi animo dem H. M. gleich wie der Schluß meines Scripti deutl. besaget, eines beßern in Zukunfft zu bedeuten. Zumahln er mich alß den 1207r | Autorem der Contousche und Andrienne241 nach der Beylage sub A242 gleichsam mit den haaren ad delinquendum, wenn ich anders so reden will gezogen. Wenn wir beiderseits auff einen moralischen Chatheder stünden so solte es mir nicht schwer fallen H. Denuncianten hie von allenthalben und noch in mehrern die bittere Wahrheit zu zeigen, so aber laße es dahin gestellet seyn in wie weit mich der zu erwarttende Bescheid oder Urthel condemniren werde. Wenigstens habe die Confidentiam causae, daß H. Denunciant in seiner Denunciation das Urthel machen nicht recht getroffen habe, und bin gewiß versichert, daß mich weder der offend. Wiederruff noch einige Gefängniß Straffe in Alteration sezen werde. Solte es H. Denuncianten ja tröstl. fallen, und denen Rechten gemäß seyn, meine Hand zur Abbitte zu erhalten, so strecke sie schon mit Freuden aus, und bin erböthig ihme alles zu wieder herstellung seines ruhigen Gemüths mit der aller grosten Heroischen 238 Vgl. Beyer, Volckmannus emendatus (Anm. 221), 1. Teil, S. 71-87 („De Instrumentis. Von denen Instrumenten, und was ein Notarius darbey in acht zu nehmen hat"). 239 Johann Gottlieb Bauch (-f 1738); vgl. Paisey, S. 10. 240 Aus den Akten des Leipziger Stadtarchivs geht hervor, daß das handgeschriebene Exemplar Henricis von Bauch als Druckvorlage genutzt wurde. Gegen diesen Druck wurde eine Untersuchung eingeleitet, ein Nachdruck kommt in den bis zum 11. Februar 1729 reichenden Verhörprotokollen nicht zur Sprache; vgl. Anm. 64. 241 Henrici, Gespräche im Reich der Todten (Anm. 57). 242 Beilage A war die Abschrift des 83. Stücks des Biedermanns.
152
RÜDIGER OTTO
Großmuth abzubitten, und lebe darbey der Hoffnung H. Denunciant werde mir in kurzen mit gleichmäßiger Generosität begegnen. Vor Sehnsucht dieses Vergnügens ersuche Ew: HochEdelgeb. ich hierdurch ganz ergebenst woferne es nöthig, des allerfördersamsten Termin hierzu anzuberaumen, H. Denuncianten aber nicht zu gestatten, daß er mir durch fernere Vorstellung ad Acta nur bloße Unkosten gleichwie er fol. gethan verursachen möge. Wiedrigen fallß will an Ihro Königl. Majest. in Fohlen und Churfürsd. Durchl. zu Sachßen p meinen allergnädigsten herrn ich hiermit allerunterthänig appelliret haben, der ich mit allen geziehmenden Respect verharre Ew HochEdelgeb./ gehorsamster Diener/ Christian Friedrich Henrici/ ipse concep. Leipzig/ am 12 Märt:/ 1729 Den HochEdelgebohrnen Vesten und hochgelahrten Herren Herren D. Thomas Wagnern Sr konigl. Majest. in Fohlen u Churf. Durchl. zu Sachsen hochbestallten Commissions Rathe, sowohl des Leipzigersen Crayße als zu Leipzig Ambtmann meinen hochgeehrtesten Herren.
Quellenanhang 3. Zeitgenössischer Bericht unbekannter Herkunft über den Verlauf des Streits zwischen Gottsched und Henrici. Halle, Universitätsbibliothek, Hist. 2° 139, Bl. 207v. Diese Schrifften sind bey folgender Gelegenheit verfertiget worden: HErr Henrici schrieb ein Gespräch in Reiche der Todten zwischen der Andrienne u Contouche H. Gottsched critisirte diese Schrifft in 83 Blatt seines Bidermanns: Hierauf gab H. Henrici die Schrifft Mit gunst Herr Biedermann wer sind sie heraus. Über diese nun beschwehrte sich H. Gottsched bey dem H. Commißions Rath und Creiß Ambtmanne zu Leipzig D. Thomas Wagner in einer durch H. D. David Gotdob Dietzen concipirten Klage d. 22 Jan. 1729. Herr Gottsched ließ auch durch den Notarium publ. Carl Traugott Reyher in Gegenwart zweyer Zeugen Christian Gottfried Fehr. Theol. Stud.243 u. Johann Georg. Hohmann244 Jur Stud auf seiner Stube, so damahls in M Hoffmanns Pristerhause245 auf dem Nicolai 243 Christian Gottfried Fehr aus Hormersdorf, immatrikuliert am 30. Januar 1725; vgl. Georg Erler: Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559-1809. Band 3. Leipzig 1909, S. 84. 244 Johann Georg Hohmann aus Eisenach, immatrikuliert am 5. Oktober 1728; vgl. Erler, Matrikel (Anm. 243), S. 170. 245 Vermutlich der am Nikolaikirchhof wohnende Subdiakon und Vesperprediger der Nikolaikirche, Magister Johann Georg Hofmann (1677—1743), vgl. Erdmann Hannibal Albrecht: Sächsische evangelisch=luther'sche Kirchen= und Predigergeschichte. Band 1. Leipzig
Ein Leipziger Dichterstreit
153
Kirchhoff 2 Treppen hoch vorne heraus war, des Buchdrucker Bauchens246 | als in deßen Druckerey H. Gottsched deß Henrici Schrifft gedruckt worden, den Verdacht hatte, | Lehrjungen Johann Jacob Kortagast seines Alters 18 Jahre [vernehmen]247 u. deßen Außsage ad Acta bringen. Henrici gab darauf bey dem Creiß Ambt die Schrifft sub C. ein. Endlich wurde diese Sache der Leipziger Juristischen Facultaet d 19 Märt 1729 zum Ausspruch übergeben. Das Urtheil, so d. 30 ejusd. expedirt wurde, war dieses Innhaltes; daß Heinrici H. Gottscheden vor Gerichte eine EhrenErklährung und Abbitte thun, sonst aber auch noch 5 rthl. Straffe nebst Erstattung aller veruhrsachten Unkosten erlegen solte. Darbey es auch sein Bewenden hatte.
Quellenanhang 4. Bittgedicht Henricis an den Kammerpräsidenten Heinrich Graf von Brühl Beilage zu einem Brief Gottscheds an Ernst Christoph Graf von Manteuffel vom 16. April 1740, von fremder Hand mit einer Korrektur von Gottscheds Hand. Original: UBL, 0342 VI a, Bl. 142. Druck: Karl August Espe (Hg.): Gottsched's, seiner Frau und des Reichsgrafen von Manteuffel in Berlin Briefwechsel in Bezug auf das 1740 in Leipzig begangene Jubelfest der Erfindung der Buchdruckerkunst. In: Karl August Espe (Hg.): Bericht vom Jahre 1839 an die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zu Erforschungvaterländischer Sprache und Alterthümer. Leipzig 1839, S. 46-58, 51.
Mein Graf Könt ich dir jetzt recht an das Hertze greiffen, So griff ich stärker zu, als wie ein starker Bär, Jetzt könte mir mein Glück, volkommen schöne reiffen, Und dieses höhlt ich mir von dir alleine her. Der Mann der hier im Cräyß die Steuer eingenommen, Mit Nahmen Lazarus,248 den schon der Tod beleckt Hat die Caducitet249 in seinen Leib bekommen, So, das er lebend schon, nach Leiche riecht und schmeckt,
246 247 248 249
1799, S. 204f. Angaben zur Adresse in: Das jetzt lebende und jetzt florirende Leipzig. Leipzig: Johann Theodor Boetius' Kinder, 1723, S. 78 und 1732, S. 78. Johann Gottlieb Bauch (f 1738); vgl. Paisey, S. 10. Vorlage: vernommen. Johann Paul Lazer (1681-1740, beerdigt am 27.1.1740), Kreissteuereinnehmer; vgl. Arndt, Hofpfalzgrafen=Register (Anm. 210), S. 99. Caducite: Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit.
154
RÜDIGER OTTO
Der Priester und der Arzt, des Toden=Gräbers Pathen, Die ziehn Latus per se250 und summa in das Grab, Und kurz! Es ist sein Ziel ins Decrement gerathen, Denn Petrus schreibt ihm schon die LebensSchranken ab. Hier schliest ihn nun der Tod sein Buch und sein Catastrum,251 So gieb mir deßen Dienst nebst völligen Genuß, Das ich nicht ferner hin, den ungesunden Rastrum252 Bey Noth und Kummerniß in Postamt trinken muß. Mein Graf gedenk an mich, als einen armen Schacher, Da Du in Deinem Reich mit recht und Würden bist,253 Gott denkt davor an Dich, der alles guten Rächer, Der Deiner Gütigkeit auch gutes schuldig ist. Wird hier in diesen Fall, der Teich Betheste rege,254 So stoße mich mein Graf, selbst an die Fluthen hin, Und glaube weil ich Blut in meinen Adern hege Das ich mit Leib und Seele bis an meine Ende bin Ew./ Hh/ Henrici
250 Latus ist in umfangreicheren Rechnungen die Summe der auf einer Seite aufgeführten Posten, die auf die nächste Seite übertragen wird; latus per se ist die Summe der Seite an sich und ohne Übertrag. 251 Personenverzeichnis zur Steuererhebung. 252 Scherzname für ein in Leipzig gebrautes dünnes Braunbier; Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch 8 (1893), Sp. 154. 253 Vgl. Lukas 23, 42. 254 Vgl. Johannes 5, 2-4.
„Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer". Einblicke in Leben und Werk des GottschedKorrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (1709-1764) MICHAEL SCHLOTT „Gewiß lassen sich von jenen Männern, welche den Stab des viel verspotteten Geschmacksdictators Gottsched bildeten, keine geistigen Großthaten erzählen; aber durchdrungen von der Idee einer geistigen Erhebung des deutschen Volkes haben sie mit dem vollen Einsatze ihrer beschränkten Mittel eine Summe von Einzelleistungen zustande gebracht, deren Bedeutung für den unmittelbar folgenden Aufschwung der deutschen Litteratur heute nicht mehr verkannt wird."1
Gottscheds Aufstieg 2um „Sprachmentor von ganz Deutschland"2 vollzog sich mit bemerkenswerter Schnelligkeit und Zielstrebigkeit. 1729, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Leipzig, avancierte er zum außerordentlichen Professor der Poesie,3 wurde zum Mitglied der Brandenburgischen (Königlich-Preußischen) Sozietät der Wissenschaften gewählt,4 blickte auf eine energisch betriebene Reform der ehemaligen Teutschübenden Poetischen Gesellschaft5 zurück und unterhielt bereits seit längerem ein renommiertes studentisches Kollegium: die Nachmittägliche Rednergesellschaft.6 Gott1 2
3
4 5
6
Gustav Waniek: Schwabe: Johann Joachim. In: ADB 33 (1891), S. 162-171, 170. Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700-1775. Mit einem Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955-1964 von Dieter Kimpel. Stuttgart 1966,5.79. Vgl. Michael Bernays: Gottsched: Johann Christoph. In: ADB 9 (1879), S. 497-508, 503. Johann Christoph Gottsched: Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre. AW 5/2, S. 3-66, 32. Vgl. Werner Hartkopf: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700-1990. Berlin 1992, S. 121. Nachricht von der erneuerten Deutschen Gesellschafft in Leipzig und ihrer ietzigen Verfassung. Herausgegeben durch die Mitglieder derselben. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1727. Voraussetzung für die Mitgliedschaft in dieser Rednergesellschaft war die Teilnahme an Gottscheds Vorlesungen zur Redekunst. Johann Christoph Gottsched: Grundriß Zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst Mehrentheils nach Einleitung der alten Griechen und Römer entworfen und zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet. Leipzig: Nicolaus Förster und Sohn, 1729.
156
MICHAELSCHLOTT
scheds Schüler Johann Joachim Schwabe (1714—1784) edierte 1738 eine Sammlung mit 34 Reden, die in dieser Gesellschaft gehalten worden waren. In der Rückschau erinnert sich der Herausgeber, es seien „nunmehro bereits über neun oder zehn Jahr verflossen, seitdem sich einige junge Liebhaber der wahren Beredsamkeit" Gottsched zu ihrem „Anführer und Aufseher" erwählt hätten, „damit sie, so wohl durch die vernünftigen Beurtheilungen, als auch durch die schönen und vollkommenen Muster eines solchen Mannes, der eine hinlängliche Kenntniß von allen nöthigen Eigenschaften eines guten und wahren Redners besäße, und selbst ein geschickter Redner wäre, zu einiger Fertigkeit im Reden gelangen möchten."7 Die Gesellschaft bestand zunächst aus zwölf, aufgrund des großen Zulaufes später aus sechzehn Mitgliedern, von denen jedes einmal pro Monat als Prüfstein der Eloquenz eine praktische Übung zu absolvieren hatte.8 Bedeutsam wurde die Nachmittägliche Rednergesellschaft vor allem für die geistliche Beredsamkeit;9 nicht nur die Mitgliedschaft des jungen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789) kann dafür als Beleg angeführt werden.10 Ein Blick auf das „Verzeichniß der sämmtlichen Mitglieder dieser Rednergesellschaft seit 1727" verdeutlicht den hohen 7
8
9 10
Johann Joachim Schwabe (Hg.): Proben der Beredsamkeit, welche in einer Gesellschaft guter Freunde, unter der Aufsicht Sr. Hochedl. Herrn Prof. Gottscheds, sind abgelegt worden. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1738, Vorrede, b3—[b3v]. Fünf Jahre später erschien eine entsprechende Sammlung mit 30 Reden der Vormittägigen Rednergesellschaft, und 1749 gab Johann Traugott Hille einen weiteren Band mit 31 Proben der Nachmittäglichen Rednergesellschaft heraus. Vgl. Johann Christoph Löschenkohl (Hg.): Sammlung einiger Übungsreden, welche unter der Aufsicht Sr. H. des Herrn Prof. Gottsched's in der vormittägigen Rednergesellschaft sind gehalten worden. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1743. Johann Traugott Hille (Hg): Neue Proben der Beredsamkeit, welche in einer Gesellschaft guter Freunde, unter der Aufsicht Sr. Hochedl. des Hrn. Prof. Gottscheds, abgelegt worden. Zum Drucke befördert von Einem Mitgliede der Gesellschaft. Leipzig: Carl Ludwig Jacobi, 1749. Über Gottsched als Rhetoriker vgl. Eugen Reichel: Gottsched. Band 2. Berlin 1912, S. 50-101. Bertold Grosser: Gottscheds Redeschule. Studien zur Geschichte der deutschen Beredsamkeit in der Zeit der Aufklärung. Greifswald 1932. Gerhard Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik. Leipzig 1933. Hermann Stauffer: Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt am Main u. a. 1997. Vgl. Proben der Beredsamkeit, 1738 (Anm. 7), Vorrede, [b3v]-b4. Waniek schätzt, daß zwischen 1735 und 1745 jährlich 32 junge Redner von Gottsched ausgebildet wurden; vgl. Waniek, S. 280. Eine umfassende Studie über die Wirksamkeit der von Gottsched ins Leben gerufenen Rednergesellschaften ist weiterhin ein dringendes Desiderat. Es ist davon auszugehen, „daß hunderte von späteren Lehrern, Angestellten des Staates und der Kirche hier in die Rhetorik eingeübt wurden"; vgl. Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched. In: Christiane Berkvens-Stevelinck, Hans Bots, Jens Häseler (Hg.): Les grands intermediaires culturels de la republique des lettres. Etudes de reseaux de correspondances du XVI« au XVIII« siecles. Paris 2005, S. 387-111, 392. Vgl. Eugen Wolff: Die Deutschen Gesellschaften des achtzehnten Jahrhunderts. In: Nord und Süd 10 (1901), S. 225-354,232. Vgl. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, S. 23.
Abraham Gottlob Rosenberg
157
Anteil an Theologen.11 Aufgeführt werden insgesamt 152 Namen, nähere Informationen über spätere Lebensstationen erteilt das Verzeichnis indes nur für 75 Personen. 47 von ihnen verteilen sich auf die Berufsgruppen Verwaltungswesen und diplomatischer Dienst (12), Juristen (11), Schulrektoren (9), Universitätsprofessoren der Philosophie, Philologie und Mathematik (7), Ärzte (3), Militärs (3), Hofmeister (2), während 28 Mitglieder ihr späteres Auskommen als Geistliche finden.12 Auch der „Aufseher" dieser Gesellschaft, Gottsched selbst, hatte sein Studium 1714 in Königsberg mit der Absicht begonnen, Theologe zu werden,13 und noch als Vierzigjähriger bemühte er sich ernsthaft um die Nachfolge seines einstigen Lehrers, des berühmten Theologieprofessors, späteren Oberhofpredigers und Oberkonsistorialrates Johann Jakob Quandt (1680-1772).14 Daß Gottscheds Wirksamkeit sich nicht nur ,zunftmäßig' auf Philosophie, ^weltliche*) Rhetorik und Poesie erstreckte, sondern ebenso die Theologie, insbesondere aber die Homiletik umfaßte, ist durch die mittlerweile ausführlich dokumentierte Auseinandersetzung Gottscheds mit den Anschuldigungen des Dresdener Oberkonsistoriums belegt15 und wohl auch
11
12
13 14
15
Waniek konstatiert: „Es gehörte damals bereits zum guten Tone, daß sich jeder Theologe, der in der Redekunst etwas bedeuten wollte, nach dem ,Grundriß einer vernunftmäßigen Redekunst' in der Gottsched'schen Gesellschaft auch praktisch bethätige." Waniek, Schwabe (Anm. 1), S. 162. Vgl. Proben der Beredsamkeit, 1738 (Anm. 7), „Verzeichniß der sämmtlichen Mitglieder dieser Rednergesellschaft seit 1727", Anhang, (*)(*)-[(*) (*)3v]; identischer Wiederabdruck im Anschluß an die Vorrede zu: Neue Proben der Beredsamkeit, 1749 (Anm. 7), (*)(*)— [(*)(*)3v], hier allerdings mit dem folgenden Hinweis: „Dieses Verzeichniß größtentheils berühmt gewordener und ansehnlicher Männer, wird vermuthlich unzählichen Anfängern zum Sporne dienen, eben die Bahn zu betreten, darauf jene so glücklich gegangen sind. Habe ich manchen von unsern Vorfahren nicht nach denen Titeln und Aemtern, die er itzo rühret, zu beschreiben gewußt: so wird man solches bloß dem Mangel der Nachrichten von ihren werthen Personen zuschreiben." Vgl. auch Gottscheds Reek metier die homiletischen Methodenkünstkr. „Sind nicht die meisten von allen Anwesenden STUDIOSI THEOLOGIAE? Befleißigen sie sich nicht hauptsächlich auf die geistliche Beredsamkeit? Besuchen sie nicht die Stunden derer, die ihnen Anleitung dazu geben. Und haben sie nicht grossentheils diejenigen Grundregeln schon gefasset, die man angehenden Homileten vorzuschreiben pflegt?" AW 7/3, S. 122-131,124. Johannes Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched's Lehrjahren auf der Königsberger Universität. Königsberg 1892, S. 4f. Am 20. Februar 1740 wandte sich Gottsched an seinen Mentor Ernst Christoph Graf von Manteuffel mit dem als Frage formulierten Vorschlag, „ob dieselben mich für ein Werkzeug ansehen, das unter einem dieologischen Kleide vor Wahrheit und Vernunft einige Dienste würde thun können?" „Denn Doctor Theologiae zu werden, bin ich ohnedem noch immer Willens gewesen, und kann es auch in Kurzem werden, es mag nun dieser Anschlag [die Nachfolge Quandts in Königsberg] angehen oder nicht." UBL, 0342 Via, Bl. 69-70, 70r. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1999 (Abhandlungen der Sächsischen
158
MICHAEL SCHLOTT
durch die Tatsache der Ausarbeitung einer umfassenden Predigtlehre bereits zu Gottscheds Lebzeiten kein Geheimnis gewesen.16 Einer eigenen wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Untersuchung bliebe es vorbehalten, die ursächlichen Zusammenhänge zu erhellen, wie und warum die theologischen Voraussetzungen und Implikationen in Gottscheds Werk im Zuge einer verengten Rezeptionsperspektive marginalisiert werden konnten.17 Im Mitgliederverzeichnis der Nachmittäglichen Rednergesellschaft sind die Namen vieler Hörer aufgeführt, die auch nach ihrem Austritt brieflichen Kontakt mit Gottsched hielten, einige von ihnen bis hinein in die letzte Lebensphase ihres ehemaligen Lehrers. Zu den Mitgliedern der ersten Stunde gehörte neben dem späteren Gründer des Braunschweiger Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse; Band 75, H. 4), S. 141-153. 16 Gottsched vertrat den Standpunkt, daß die Homiletik als Theorie einer besonderen Redegattung den Hauptregeln der Redekunst als einer allgemeinen Kunstlehre unterzuordnen sei; vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weldichen Rednern zu gut. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1736, S. 42, 67f. Gottscheds Homiletik erschien zunächst anonym: Grund=Riß einer Lehr=Arth ordendich und erbaulich zu predigen nach dem Innhalt der Königlichen Preußischen allergnädigsten Cabinets-Ordre vom 7. Martii 1739. entworffen. Nebst Hrn. Joh. Gustav Reinbecks [...] Vorbericht und kurtzen Einleitung wie eine gute Predigt abzufassen sey. Berlin: Ambrosius Haude, 1740. 2. Auflage 1743; vgl. dazu Gottsched, Fortgesetzte Nachricht (Anm. 3), S. 49f. Die von Gottsched erarbeiteten homiletischen Anweisungen wurden bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches kodifiziert. Sie finden sich in wörtlicher Übereinstimmung im Artikel Predigerkunst in Zedler 29 (1741), Sp. 246-267. Gottsched erklärt, er habe „selbst die Geheimnisse der homiletischen Kunst viel Jahre lang gelernet, und in mehr als hundert Predigten auszuüben Gelegenheit gehabt"; vgl. Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler (Anm. 12), S. 124. Einen konzisen Überblick zur ersten Orientierung vermittelt Walter Blankenburg: Aufldärungsauslegung der Bibel in Leipzig zur Zeit Bachs. Zu Johann Christoph Gottscheds Homiletik. In: Martin Petzold (Hg.): Bach als Ausleger der Bibel. Theologische und musikwissenschaftliche Studien zum Werk Johann Sebastian Bachs. Berlin 1985, S. 97—108. 17 Mosheim bereits vermerkte kritisch gegenüber Gottsched, daß dieser sich in seiner praktischen Philosophie argumentativ in die Nähe des Molinismus begeben hatte; vgl. Johann Lorenz Mosheim an Gottsched, 15. September 1734; UBL, 0342 III, B1. 118-119, 119r. Besonderes Interesse verdienten in diesem Zusammenhang Gottscheds frühe akademische Dissertationen; vgl. Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit. Leipzig 1848, S. 12—17. Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben. Band 1. Kiel und Leipzig 1895, S. 132-144. Gerd Fabian: Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems. Langensalza 1925, S. 63—67. Eric Watkins: The Development of Physical Influx in early eighteenth-century Germany: Gottsched, Knutzen and Crusius. In: Review of Metaphysics. Jg. 49 (1995), H. 2, S. 295-339. Enrico Pasini: La prima recezione della Monadologia. Daila tesi di Gottsched alia controversia sulla dottrina delle monadi. In: Studi settecenteschi 14 (1994), S. 107—163. Für eine ausgreifendere Untersuchung von Gottscheds poetologischen Arbeiten blieb die materialreiche Dissertation von Walter Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen von Gottscheds Critischer Dichtkunst (Bochum 1935) bislang leider weitgehend unberücksichtigt.
Abraham Gottlob Rosenberg
159
Collegium Carolinum und Predigerseminardirektors Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem aus Osnabrück und dem nachmaligen Leipziger Professor der alten Sprachen sowie der Physik Johann Heinrich Win(c)kler (1703— 1770) aus der Lausitz auch Abraham Gottlob Rosenberg, Student der Theologie aus dem schlesischen Rauten. 28 Schreiben an Gottsched aus den Jahren 1730 bis 1756 befinden sich unter Gottscheds nachgelassenen Briefen. Rückschauend bezeichnete Gottsched Rosenberg als einen seiner „damaligen geschicktesten Zuhörer",18 und zahlreich sind die brieflichen Zeugnisse für die uneingeschränkte Verehrung und Wertschätzung, die Rosenberg seinem Leipziger Lehrer entgegenbrachte. Abraham Gottlob Rosenberg wurde am 15. Februar 1709 in Rauten als Sohn des Pastors und Senioratsadministrators Gottlieb Rosenberg (1665—1734) und dessen Ehefrau Christiane Elisabeth geboren.19 Rosenbergs Vorfahren väterlicherseits waren bereits seit mehreren Generationen evangelische Pastoren und Prediger in Schlesien und in der Lausitz gewesen. Gotdieb Rosenbergs Mutter Susanna, geb. Knorr war die einzige Tochter des Altraudtener Pastors Abraham Benedikt Knorr von Rosenroth (1594-1654), mithin die Schwester von Christian Knorr von Rosenroth (1636—1689). Abraham Gotdob Rosenbergs Mutter war eine geborene Schindel, deren Bruder Johann Christian (1677—1750) als Professor der Philosophie, Beredsamkeit und der klassischen Sprachen am Gymnasium in Brieg unterrichtete und sich mit besonderer Aufmerksamkeit der Ausbildung seines Neffen Rosenberg widmete. Schindel, der sich auch als Kantor und Komponist einen Namen gemacht hat, stammte ebenfalls aus Rauten. Er war ein Sohn des dortigen Kantors der Evangelischen Schule Christian Schindel (f 1692). Johann Christian Schindel erhielt zunächst häuslichen Unterricht vom Vater. Nach dessen Tod wurde diese Aufgabe von dem Rautener Rektor Christian Bleyel sowie von Abraham Gottlob Rosenbergs Vater Gottlieb fortgeführt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Brieg bezog Schindel 1698 die Universität Leipzig, um Theologie zu studieren. Besondere Förderung wurde ihm durch seinen akademischen Lehrer Gottfried Olearius (1672— 1715) zuteil, so daß Schindel nach anschließender Hauslehrer- und Kantorentätigkeit bereits 1703 zunächst Konrektor und 1704 Rektor in Frau18 19
Vgl. Gottsched, Fortgesetzte Nachricht (Anm. 3), S. 35. Zu den folgenden Angaben vgl. Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1735 (Januar), S. 45—48. Siegismund Justus Ehrhardt: Presbyterologie des Evangelischen Schlesiens. Band 3, 1. Liegnitz: Johann Gottfried Pappäsche, 1783, S. 202. Adalbert Elschenbroich: Christian Knorr von Rosenroth. In: Neue Deutsche Biographie. Band 12 (1980), S. 223-226. Joachim Teile: Christian Knorr von Rosenroth. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Band 6 (1990), S. 413-415. Arnold Fuchs: Christian Knorr von Rosenroth. Ein Beitrag zu seinem Leben und seinen Werken. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 35 (1914), S. 548583, spez. zu Knorrs Schwester S. 561.
160
MICHAEL SCHLOTT
Stadt wurde, bis er schließlich 1708 als Prorektor und Professor der schönen Wissenschaften, klassischen Sprachen, Philosophie, Theologie und Geschichte der Gelehrsamkeit an das Gymnasium in Brieg berufen wurde.20 Im April des Jahres 1732 wandte sich Schindel brieflich an Gottsched. Aus seinem Schreiben geht hervor, daß Gottsched vorab einige Probebogen des theoretischen Teils seiner Weltweisheit^ der „Vernunftlehre" also, an Schindel geschickt und einen Briefwechsel über diesen Gegenstand vorgeschlagen hatte.21 In seinem Antwortschreiben nimmt Schindel Bezug auf den gemeinsamen Schüler Rosenberg sowie auf Gottscheds „Gunstbezeigungen" diesem gegenüber und berichtet von weiteren „ehmaligen Zuhörern", die er zum Studium nach Leipzig endassen habe, unter ihnen auch Christian Gotdieb Ludwig (1709-1773), der sich später als Arzt und Afrikareisender einen Namen machen sollte.22 Im April 1728 bezog auch Rosenberg die Universität Leipzig23 und nahm das Studium der Theologie24 und Philosophie25 auf, besuchte aber 20
21
22
23 24
Vgl. den vermutlich von Abraham Gottlob Rosenberg verfaßten biographischen Abriß: Leben und Tod Herrn Johann Christian Schindeis, des Königlichen Gymnasii in Brieg gewesnen Prorectoris und Profeßoris. In: Der Schlesische Büchersaal, in welchem von allerhand Schlesischen Büchern und ändern Gelehrten Sachen Nachricht ertheilt wird, 1751, S. 57-72. Nachricht von des seligen Herrn Prorector Schindeis Schriften. In: Schlesischer Büchersaal, 1751, S. 161-173. Zwischen 1732 und 1742 schrieb Schindel 31 Briefe an Gottsched. Bei dem in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Weltweisheit von 1736 erwähnten „grossen Liebhaber der neuern Weltweisheit, der in Schlesien an einem berühmten Gymnasio Professor ist", handelt es sich um Schindel; vgl. AW 5/3, S. 200 und 5/4, S. 243. Unter den nachgelassenen Briefen Gottscheds befinden sich 16 Schreiben von Ludwig aus den Jahren 1731 bis 1733. Außer Ludwig hat Schindel mindestens vier weitere Schüler an Gottsched nach Leipzig empfohlen: Christian Hold aus Brieg, immatrikuliert am 2. Oktober 1731; vgl. Georg Erler (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig. Band 3. Leipzig 1909 (im folgenden zitiert als: Leipzig Matrikel), S. 170; Andreas Birner aus Brieg, immatrikuliert am 12. Mai 1732; vgl. Leipzig Matrikel, S. 29. Birner wurde später Lehrer am Gymnasium in Brieg; vgl. Daniel Gomolcke: Der heutigen schlesischen Kirchenhistorie erster Theil. Oels: George Samuel Welcher, 1748, S. 48; Gottlieb Schmied aus Christianstadt, immatrikuliert am 19. September 1732; vgl. Leipzig Matrikel, S. 363; Johann Andreas Krieg aus Brieg, immatrikuliert am 3. Mai 1735; vgl. Leipzig Matrikel, S. 217. Auch Schindeis älterer Sohn Johann Gottlieb (1718-1738) studierte in Leipzig. Er soll sich insbesondere durch überdurchschnittlich hohe Kenntnisse sowohl in den alten als auch in den neueren Sprachen ausgezeichnet haben; vgl. Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1739 (August), S. 375377. Christian Gottlieb Ludwig verfaßte ein „Schreiben an den Herrn Prof. Schindel in Brieg bey dem frühzeitigen Absterben seines ältesten Sohnes in Leipzig". In: Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1739 (September), S. 419-422. Schindeis jüngerer Sohn Christian Ernst studierte in Leipzig Medizin und wurde am 26. April 1742 in Leipzig immatrikuliert; vgl. Leipzig Matrikel, S. 354. Vgl. Leipzig Matrikel (Anm. 22), S. 336. Zu seinen Lehrern zählten Christian Friedrich Börner (1683-1753), Georg Philipp Olearius (1681-1741), Johann Gottlob Pfeiffer (1667-1740), Heinrich Klausing (1675-1745) und Salomon Deyling (1677—1755). Die Positionen der genannten Gelehrten in den Auseinan-
Abraham Gottlob Rosenberg
161
auch Lehrveranstaltungen des Arabisten Johann Christian Clodius (1676— 1745) und des Mathematikers Christian August Hausen (1693-1743). 1730 kehrte er als Anwärter auf das Pastorenamt nach Rauten zurück und verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst als Hofmeister. Seit 1732 war er Hauslehrer in der Familie des Grafen Hans vom Berge und Herrendorf26 (* 1691) und seiner Ehefrau Sophia Tugendreich vom Berge aus dem Hause Niebusch. Am 1. März 1737 wurde Rosenberg in Liegnitz ordiniert und trat seine erste Stelle als Pastor in Oberau an. Ein Jahr später bereits erhielt er die Pfarrstelle von Mertschütz und wurde Senioratsadministrator des Mertschützer Kreises. Während des Siebenjährigen Krieges floh die Familie Rosenberg im August 1761 vor den russischen Truppen nach Schweidnitz, das indes im Oktober desselben Jahres eingenommen und geplündert wurde. Rosenberg verlor dabei nicht nur alle seine nach Schweidnitz transferierten Effekten, denn wenig später wurde auch Mertschütz von feindlichen Truppen eingenommen und Rosenbergs Haus mitsamt den Möbeln und der kostbaren Bibliothek eingeäschert. Seit diesem Ereignis soll Rosenbergs Lebensmut geschwunden und seine Gesundheit merklich anfälliger geworden sein; am 14. März 1764 starb Rosenberg. Seit 1746 war er mit Susanna Rosina Buhner (f 1789) verheiratet, von den insgesamt acht Kindern überlebten drei Söhne und eine Tochter.27 Über Rosenbergs akademische Jahre in Leipzig liegen keine näheren Informationen vor. Doch schon der erste Brief, den Rosenberg nach Leipzig sendete, verdeutlicht, daß Gottsched sich die Talente des jungen Studenten von Anbeginn für seine eigenen wissenschaftlichen Vorhaben zunutze zu machen wußte. Umgekehrt profitierte Rosenberg offenbar bis an sein Lebensende von den wissenschaftlichen Impulsen, die er durch Gottsched in Leipzig empfangen hatte. Sein erstes Schreiben an den Leipziger Lehrer datiert vom 27. Dezember 1730. Rosenberg beteuert, daß Gottscheds Gütigkeit, „auf keinen undanckbahren Schüler" gekommen sei.
25 26 27
dersetzungen um den Wolffianismus in Leipzig werden erörtert bei Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' (Anm. 15), pass. Rosenberg hörte Vorlesungen bei Gottsched und August Friedrich Müller (1684—1761). Gutsherr auf Niederherrendorf, Leskowitz, Steinborn und Pürben, Obersteuereinnehmer im Fürstentum Glogau, Landesältester im Kreis Freystadt. Ein Sohn, Christian Abraham Rosenberg, studierte von 1768 bis 1771 Medizin in Frankfurt an der Oder und in Berlin. Er wurde Arzt in Breslau; vgl. Karl Konrad Streit: Alphabetisches Verzeichnis aller im Jahr 1774. in Schlesien lebender Schriftsteller. Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn, 1776, S. 111. Rosenberg verfaßte unter anderem einen populären medizinischen Ratgeber: Freundschaftliche Rathschläge zur Verlängerung des Lebens. Breslau: Johann Ernst Meyer, 1781.
162
MICHAEL SCHLOTT „Laßen Sie sich also dieses Bekäntniß meiner Danckbarkeit gefällig seyn, u. ersetzen die Unvolkommenheiten deßelben, dadurch daß Sie es vor volkommen aufnehmen. Bestehet eine wahre Danckbarkeit in einer Liebe u. Hochachtung vor seinen Wohlthäter; so glaube ich, Eure Hochedlen werden selbst aus derjenigen Hochachtung, die ich stets vor Sie in meiner Brust bewahret habe, u. die mir selbst Dero Feinde durch vielfältige thörichte Geschwätze zu rauben nicht vermögend gewesen, schlüßen können, daß ich diese Zeilen keinesweges ohne einen wahrhaftigen Antrieb meiner Seelen schreibe. So lange mir die Vorsicht das Leben gönnen wird, so lange werde ich diejenigen Stunden glückl. preisen, die mir nicht nur den treuen Unterricht, sondern auch die höchst schätzbahre Freundschaft eines Lehrers zuwege bracht, den die gelehrten Deutschen vor ihre Zierde, u. selbst die stoltzen Musen des ruhmsüchtigen Franckreichs vor ihren Uberwinder halten müßen."28
Die täglichen Amtsgeschäfte des Senioratsadministrators, Gottesdienste und Seelsorge in der eigenen Gemeinde sowie umfassende Kirchenvisitationen29 haben Rosenberg nur wenige Nebenstunden für die ,schönen Wissenschaften' übriggelassen. Dennoch hat der Pastor aus Mertschütz, Mitglied der Deutschen Gesellschaft in Königsberg30 und Ehrenmitglied der Gesellschaft der freyen Künste in Leipzig,31 ein verhältnismäßig umfangreiches CEuvre hinterlassen. Nahezu zwei Jahrzehnte lang arbeitete er an einer Übersetzung der Predigten des berühmten reformierten Geistlichen Jacques Saurin (l 677-1730) ,32 legte einen Traktat über die Ursachen der Elektrizität33 vor, betätigte sich als Herausgeber einer Zeitschrift,34
28 29
30 31 32 33
34
UBL, 0342 I, Bl. 340-341, 340r-v. Rosenbergs Verantwortungsbereich erstreckte sich über die Kirchenkreise Liegnitz und Mertschütz mit den Gemeinden Tentschel, Rosenig, Koischwitz, Greibnig, Gränowitz, Nikolstadt, Großbaudiß, Großtintz, Wahlstadt, Royn, Berndorf, Großwandris, Oyas, Koiskau, Kampern und Jenkau; vgl. das Widmungsschreiben zu Abraham Gottlob Rosenberg: Kurtzgefaßte Historische Abhandlung von der ersten Kirchenvisitation in der Evangelischen Kirche, Welche von Luthero, Melanchthone, und ändern theuren Werckzeugen der Reformation, in den Jahren 1527, 28, und 29, gehalten worden, aufgesetzet, und der Evangelischen Priesterschaft des Mertschützischen Creißes, bey einer abermaligen Kirchenvisitation deßelben; mitgetheilet. Breslau: Carl Gottfried Meyer, 1754. Vgl. Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Leipzig 1893, S. 279; Quellenanhang, S. 301-303. Vgl. Leipziger Adreß= Post= und Reise=Calender Auf das Jahr Christo 1754. Leipzig: Johann Gabriel Büschel, S. 60 Siehe dazu Quellenanhang, S. 225-293, 301-308. Abraham Gotdob Rosenberg: Versuch einer Erklärung von den Ursachen der Electricität. Breslau: Johann Jacob Korn, 1745. Rosenbergs Autorschaft wird auf dem Titelblatt lediglich durch Initialen angezeigt: A[braham], G[ottlob]. Rfosenbergj. P[astor]. [Mertschütz]. Der Schlesische Büchersaal, in welchem von allerhand Schlesischen Büchern und ändern Gelehrten Sachen Nachricht ertheilt wird. Schweidnitz: Joseph Friedrich Overfeldt, 17511754. Aufgrund seiner dienstlichen Verpflichtungen sah sich Rosenberg außerstande, die Zeitschrift fortzuführen, wie er am 29. April 1754 an Gottsched berichtete; UBL, 0342 XIX, Bl. 232-233, 232r.
Abraham Gottlob Rosenberg
163
verfaßte erbauliche Briefe von der Religion,35 übersetzte Newtons Auslegung der Offenbarung des Johannis36 und hinterließ eine Reformationsgeschichte Schlesiens.37 Seinen zeitgenössischen Ruhm begründete der renommierte Kanzelredner Rosenberg vor allem als Übersetzer Saurins, als der er indes heute vermutlich auch nur noch von wenigen Kennern der Geschichte der Homiletik rezipiert wird, und es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, daß Rosenbergs sonstige Veröffentlichungen inzwischen vollständig vergessen sind. Im folgenden soll versucht werden, im Blick auf drei zentrale ,aufklärerische' Themenkomplexe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Werk dieses frühen Gottsched-Schülers exemplarisch vorzustellen: die Reform der protestantischen Homiletik, die Erforschung der Elektrizität im Rahmen der Experimentalphysik und die Rezeption des Deismus unter den Voraussetzungen und Bedingungen der Physikotheologie.
I. Regeln und Exempel Mit Rosenberg beginnt die lange Reihe von Mitarbeitern, die Gottsched bei seinen Übersetzungen assistierten. 1730 hatte Gottsched bekanntlich sein erstes großes Übersetzungsprojekt, die deutsche Ausgabe der wichtigsten Werke des Pariser Akademiesekretärs Bernard Le Bovier de Fontenelle, mit der Historic der Heydnischen Orackel abgeschlossen.38 Das Werk 35
36 37
38
Abraham Gottlob Rosenberg: Erbauliche Briefe von der Religion, Zwischen einem gelehrten Schlesier und einem vornehmen Manne, Welcher wenig oder gar keine Religion gehabt, Durch diesen erbaulichen Brief=Wechsel aber zur wahren Religion gekommen ist. Liegnitz: David Siegert, 1753. Vgl. Quellenanhang, S. 320-324. Abraham Gottlob Rosenberg: Schlesische Refbrmations=Geschichte. Nach des seligen Herrn Verfassers Absterben von einem dessen Freunde zum Drucke befördert. Breslau: Johann Ernst Meyer, 1767. Rosenbergs brieflichen Ausführungen zufolge hat er zudem eine umfassende Kritik von Formeys Essai sur la necessite de la revelation ausgearbeitet. Der Traktat sei Christian Wolff vorgelegt worden, der die Drucklegung befürwortet haben soll. Eine entsprechende Arbeit konnte ich bibliographisch nicht ermitteln; vgl. Rosenberg an Gottsched, 25. Juni 1747, UBL, 0342 XII, Bl. 208-210; 12. August 1747, 0342 XII, Bl. 233-234; 24. März 1748, 0342 XIII, Bl. 88-89. Formeys Essai erschien 1746 in Berlin und wurde wiederabgedruckt in: Melanges philosophiques. Band 2. Leiden: Elie Luzac, 1754, S. 265—304. Rosenberg hat außerdem eine deutsche Übersetzung von Jacques Pernettis Conseils de l'amitie (Paris: Flippolyte-Louis Guerin; 1746) angefertigt; vgl. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 9/1 (1750), S. 88-90. Ein Exemplar dieser Übersetzung konnte ich nicht ermitteln. Im folgenden werden Kurztitel angeführt; die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich in Mitchells Gottsched-Bibliographie; vgl. AW 12, Nr. 31, 37, 86. Gespräche von mehr als einer Welt zwischen einem Frauenzimmer und einem Gelehrten (1726); Gespräche Der Todten Und Plutons Urtheil über dieselben (1727); Historic Der Heydnischen Orackel (1730). Gottlieb Stolle urteilte bereits nach Gottscheds erster Fontenelle-Über-
164
MICHAEL SCHLOTT
war dem Präsidenten der Leipziger Deutschen Gesellschaft, Johann Lorenz Mosheim, gewidmet und enthielt im Anhang einen von Rosenberg übersetzten Artikel aus Jean Le Clercs Bibliotheque choisie.^ In der Rückschau auf das Jahr 1730 erinnert sich Gottsched: „In eben diesem Jahre gab ich der kleinen fontenellischen Schriften III. Theil, nämlich seine Historic der heydnischen Orakel ans Licht. Weil dieß Buch, sonderlich an dem straßburgischen Jesuiten, P. Baltus, einen Gegner bekommen hatte: so wollte ich doch meinen Lesern einige Nachricht von dessen Einwürfen geben, und ihn dagegen verwahren. Ich nahm also Gelegenheit, einen Zusatz dazu zu machen, und lieferte ihnen einen weidäuftigen Auszug des Buches, den Herr Jakob Bernard in den Nouvelles de la republique des lettres von 1707. im Monathe Jun. a. der 616. u. f. S. eingerücket hatte. Ferner fügete ich aus des Hrn. le Clercs Biblioth. choisie, von 1707. im dritten Artikel des XIII. Bandes, die Anmerkungen, über den Streit zwischen dem Herrn von Fontenelle, und dem Verfasser der Antwort, auf seine Historic von Orakeln bey, die ein Ungenannter aufgesetzet, und ihm einzurücken geschicket hatte. Da ich aber wegen vieler anderer Arbeiten nicht Zeit hatte, dieses weitläuftige Stück selbst zu verdeutschen: so trug ich solches dem Hrn. Abrah. Gotd. Rosenberg, einem meiner damaligen geschicktesten Zuhörer, itzigem Inspector zu Mertschütz, bey Liegnitz in Schlesien, auf; der es mit aller der Geschicklichkeit Übersetztete, die man nachmals, an seinen verdeutschten saurinischen Predigten, mit so vielem Beyfalle gesehen hat."40
Offenbar erhielt Rosenberg während seiner Beschäftigung mit Fontenelles Histoire und ihrer Rezeption auch die Anregung für seine erste eigenständige größere Übersetzungsarbeit, die allerdings nicht zum Druck gelangte:
39
40
Setzung von 1726: „Herr Gottscheed wird der Teutschen Fontenelle"; vgl. Gottlieb Stolle: Neue Zusätze zur Verbesserung der Historie der Gelahrheit, so denen zu Nutz, welche die Freyen Künsten und Philosophie studiren, nun zum drittenmal heraus kommen. Jena: Meyerische Buchhandlung, 1727, S. 39. Vgl. ferner Roland Krebs: Gottsched, traducteur et commentateur de Fontenelle. In: Werner Schneiders (Hg.): Aufklärung als Mission. Akzeptanzprobleme und Kommunikationsdefizite. Marburg 1993, S. 207-219. Remarques sur le Demele qui est entre Mr. de Fontenelle, Auteur de l'Histoire des Oracles, imprimee plusieurs foi ä Paris & ä Amsterdam; & l'Auteur de la Reponse a l'Histoire des Oracles, dans laquelle on refute le Systeme de Mr. Van Dale, sur les Auteurs des Oracles du Paganisme, sur la cause & le tems de leur silence; & etablit le sentiment des Peres de l'Eglise, sur le meine sujet; imprimee Strasbourg en 1707. In: Bibliotheque choisie 13 (1707), S. 178—282. Rosenbergs Übersetzung: Entgegnung an die Vorwürfe des Pater Baltus, vgl. Historie der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 209-302. Die Entgegnung des Jesuiten Jean-Fran9ois Baltus (1667-1748) war 1707 in Straßburg bei Jean Renauld Doulssecker erschienen: Reponse a l'histoire des oracles de Mr. de Fontenelle; 2. Auflage 1709. Gottsched, Fortgesetzte Nachricht (Anm. 3), S. 34f. In der Übersetzung erläuterte Gottsched: „Indessen hat es ihm an Verfechtern nicht gefehlet. Es fand sich nehmlich bald ein guter Freund desselben, der aber seinen Nahmen verschwiegen halten wollen; der seine Stelle vertrat, und dem Pater Baltus auf sein weitläuftiges Buch antwortete. Herr le Clerc setzte diese Antwort in seine auserlesene Bibliotheck, allwo sie im Illten Art. Dreyzehnten Bande vom 1707. Jahres befindlich ist." Historie der Heydnischen Orakel (Anm. 38), S. 208.
Abraham Gottlob Rosenberg
165
Jacques Screes' Traite sur les Miracles.^ Am 27. Dezember 1730, kurz nach seiner Rückkehr in seinen Geburtsort Rauten, meldete er seinem Lehrer, daß er einen Verleger für seine Übersetzung suche („eine Hebamme zu dem verlaßnen Kinde") und entschuldigte sich bei Gottsched, das von ihm geliehene Exemplar nicht ordnungsgemäß zurückgegeben zu haben, „sintemahl ich nicht anders vermuthen kan, es müße das von Ihnen entlehnte Buch bey der Unruhe, welche meine Abreise verursachte, verlohren gangen seyn".42 Daß Gottsched Serces' Traite als bedeutend genug ansah, ihn von Rosenberg ins Deutsche übersetzen zu lassen, wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf die polemische Stoßrichtung der Übersetzung von Fontenelles Histoire. Die Schrift von Serces lieferte Argumente gegen den Teufelsund Wunderglauben heidnischer und — was für Gottsched dasselbe bedeutete - katholischer Provenienz.43 Mit kompromißloser Deutlichkeit hat Gottsched sich später in einem Brief an den österreichischen Benediktiner und Philologen Placidus Amon (1700—1759) darüber geäussert, wie nach seinem Dafürhalten ein „evangelischer Christ" und „Philosoph" über katholische „Abgötterey" zu urteilen habe: „Ich bin hier nicht Willens, mich aus theologischen Gründen in eine Untersuchung beyder Lehrpuncte einzulassen: ich will E. H. nur gestehen, dass, wenn ich gleich die Theologie niemals getrieben, und die Gründe des evangelischen Lehrbegriffes niemals eingesehen hätte; mir dennoch die Philosophie allein, die katholische heutige Art des Gottesdienstes zum Abscheu gemachet haben würde. Was muss wohl ein Mensch denken, der von Jugend auf gelernet hat, und durch Vernunft und Erfahrung überzeuget worden: dass nur das einzige höchste Wesen, der Schöpfer und Erhalter der Welt, die Ehre der Anbethung fordern könne? Was muss er denken, frage ich, wenn er in ein katholisches Land kömmt, und daselbst alle Strassen und Bäume voller Abgötter und Götzenbilder sieht, die von allen Vorübergehenden verehret werden; an die man seine Gebethe richtet; denen man Gelübde thut, und Geschenke bringet; und die man für Nothhelfer und Beschirmer in allen Nöthen ansieht? Ja wie muss einem solchen Menschen zu Muthe seyn, wenn er gar in eine katholische Kirche kömmt, darinn er eine grös41 Jacques Serces: Traite sur les miracles. Dans lequel on prouve Que le Diable n'en sauroit faire pour confirmer l'Erreur; fait voir, par plusieurs Exemples tirez de l'Histoire Sainte & Profane, que ceux qu'on lui attribue ne sont qu'un effet de l'imposture ou de l'adresse des Hommes; et Oü examine le Systeme oppose, tel que l'a etabli le Dr. Samuel Clarke, dans le Chap. XIX. du II. Vol. de son Traite sur la Religion Naturelle & Chretienne. Amsterdam: Pierre Humbert, 1729. 42 Anm. 28, Bl. 341 r. 43 Die argumentativen Ausgangspositionen sowie die zum Teil sehr entlegenen Filiationen der komplexen Debatte sind nachzulesen in der Vorrede zur späteren deutschen Übersetzung. Jacques Serces: Abhandlung von Wunderwerken, oder Erweis, Daß der Teufel zur Bestätigung eines Irrthums keine Wunderwerke verrichten könne; übersetzt von Friedrich Eberhard Rambach. Rostock: Johann Christian Koppe, 1749, a2—d2; vgl. Bildanhang, S. 325.
166
MICHAEL SCHLOTT sere Menge von Altären, todten Menschen zu Ehren, als dem wahren Gott aufgebauet sieht, vor welchen auch mehrere Priester opfern, räuchern und bethen, und mehrere Lagen auf den Knieen liegen, als vor dem Schöpfer Himmels und der Erde? Darinn auf den Kanzeln mehr von den sogenannten Heiligen, als von Gott geprediget; mehr Legenden und Fabeln, als wahre Sittenlehren vorgetragen und gelehret werden? In Wahrheit! Man darf gar kein evangelischer Christ, sondern nur ein blosser Philosoph seyn, um eines solchen Gottesdienstes satt zu werden; geschweige denn, dass man Lust bekommen sollte, sich in die Gemeinschaft solcher Religionsverwandten zu begeben, wo man genöthigt seyn würde, solche Abgötterey zu billigen, ja mitzumachen."44
Wie ein roter Faden zieht sich diese Kritik auch durch die Histone der Heydnischen Orackel. Gottsched übersetzt, daß die Bibel ganz und gar nicht lehre, die heidnischen Orakel seien „von Teufeln" gegeben worden: „und sogleich haben wir die Freyheit, uns darüber eine beliebige Meynung zu erwehlen. Sie gehört unter die Zahl derjenigen Wahrheiten, die der göttlichen Weißheit so gleichgültig geschienen, daß sie dieselbe unsern Streitigkeiten überlassen wollen".45 Da jedoch einmal die Teufel in der christlichen Religion außer allen Zweifel gesetzt waren, so sei es ganz natürlich, „daß man ihnen so viel zu thun gab, als man konnte, und sie weder bey den Orackeln noch bey ändern Wundern der Heyden schonete, so bald man ihrer benöthiget zu seyn schien".46 „Wir Protestanten haben ohne dem nichts dabey zu verlieren; die Orackel mögen von Teufeln hergekommen seyn, oder von den Betrügereyen der Pfaffen ihren Ursprung haben. Unsre Religion gründet sich auf Vernunft und Offenbahrung. Sie braucht keine Zeugnisse böser Geister zu Bestätigung ihrer Wahrheit und Gewißheit. Die Krafft der Wunder Christi und seiner Boten ist allein zulänglich, sie zu unterstützen: und unsre Lehrer haben längst erwiesen, daß wir keiner neuen Zeichen zu Rechtfertigung unsrer Lehre benöthiget sind."47 „Uns Protestanten aber wird es wieder die Römischgesinnten vielmahls zu einem Schilde dienen können: als woselbst in den Leben der Heiligen eben solche Wunderdinge im Schwange gehen; als bey den Heydnischen Orackeln vorgefallen."48 „Die Künste der Heydnischen Pfaffen sind deutliche Vorspiele, von den heutigen Handgriffen der Päbstler gewesen; und wenn man die einen kennen lernet, so hat man sie beyde wiederleget."49
44
45 46 47 48 49
Gottsched an Placidus Amon, Leipzig 25. Mai 1752. In: Rudolf Schachinger: Die Bemühungen des Benedictiners P. Placidus Amon um die deutsche Sprache und Literatur. In: Studien und Mittheilungen aus dem Benedictiner- und dem Cistercienser-Orden. Band 10 (l 889), S. 103-106,104. Vgl. Historic der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 7. Vgl. Historic der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 14. Vgl. Historic der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 186f. Vgl. Historic der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 306. Vgl. Historic der Heydnischen Orackel (Anm. 38), S. 308.
Abraham Gottlob Rosenberg
167
In der zeitgenössischen theologisch-philosophischen Debatte um die Berechtigung und argumentative Grundlage der Positionen Fontenelles und seines Deutschen' Popularisators wurde indes nicht übersehen, daß Gottsched in der Sache weit über das Ziel hinauslief und sich ohne weitere Umschweife die allgemeine Richtlinie deistischen Denkens, die Forderung nach Übereinstimmung von Religion und Vernunft und die zugrundeliegende Annahme eines vernunftgeleiteten Gottes, zu eigen machte. Kein geringerer als Mosheim, dem die Übersetzung dediziert worden war,50 hatte bereits 1726 in seiner Kirchengeschichte erklärt, daß heidnische Orakel und heidnischer Wunderglaube zwar Ursachen für mancherlei Priesterbetrug gewesen seien, doch werde ein kluges und verständiges Urteil dies nicht ausschließlich auf menschliche Betrügereien zurückführen wollen.51 In diesem Sinne hat Mosheim sich gegenüber Gottsched auch brieflich geäußert und bezeichnenderweise die scharfe antikatholische Tendenz mit keiner Silbe erwähnt. Er glaube, schreibt Mosheim am l. März 1730, „daß diejenigen die Geister zugeben und nicht leugnen, daß diese Geister auf der Welt etwas zu würcken, Erlaubniß haben, überhaupt diese Frage nicht so entscheiden zu können, daß kein Zweiffei übrig bleiben sollte."52 Auch Rosenbergs Lebenswerk, die Übersetzung der Predigten des reformierten Theologen Jacques Saurin,53 geht auf eine Anregung Gottscheds zurück. Die Überlieferungsgeschichte des vielbändigen Werkes ist komplex; über die bibliographischen Details herrscht daher nicht nur in Standardwerken zur Predigtgeschichte,54 sondern ebenso in Bibliotheks50
51 52
53
54
In Johann Christoph Colerus' Auserlesener Theologischen Bibliothec wird der Zweck dieser Dedikation angesprochen: Da Gottsched sich der Tatsache bewußt gewesen sei, daß seine Übersetzung unter diejenigen Bücher gehöre, „deren Inhalt vielen, auch wohl so gar unter denen Gelehrten anstößig, oder doch bedencklich scheinen würde; so hat er sie mit einem guten Schilde, wie er selbst sagt, verwahren wollen"; vgl. Auserlesene Theologische Bibliothec Oder Gründliche Nachrichten Von Denen neuesten und besten Theologischen Büchern und Schrifften. 51. Teil. Leipzig: Johann Friedrich Brauns Erben, 1731, S. 261-271, 262. Vgl. Johann Lorenz Mosheim: Institvtiones historiae ecclesiasticae Novi Testamenti. Frankfurt; Leipzig: Johann Meyer, 1726, S. 20. UBL, 0342 I, Bl. 198-199,199r. Seit 1725 hatte Mosheim zudem an einer Übersetzung von Cudworths Systema intellectuak gearbeitet und sich darin auch zu den Orakeln geäußert: Ralph Cudworth: Systema intellectuak huius universi. loannes Laurentius Moshernius ex Anglico Latine vertit... et auxit. Jena: Witwe Meyer, 1733, S. 877. Jacques Saurin: Sermons sur divers textes de l'Ecriture Sainte. 7 Bände. La Haye: Troyel, 1708—1732. Die Bände 6 und 7 wurden nach Saurins Tod von dessen Sohn Philippe herausgegeben; vgl. die bibliographischen Angaben im Quellenanhang, S. 233f. Vgl. etwa Richard Rothe: Geschichte der Predigt, von den Anfängen bis auf Schleiermacher. Bremen 1881, S. 414; Martin Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gießen 1912, S. 143. Ich danke an dieser Stelle Herrn Andres Straßberger (Universität Leipzig) für die Überlassung von Teilen des Manuskripts zum dritten Kapitel seiner in
168
MICHAEL SCHLOTT
katalogen eine gewisse Konfusion. Das ist insofern nicht verwunderlich, als einige Bände der Gesamtausgabe fünf Auflagen erreichten. Die Ausgabe erschien zunächst im Zeitraum zwischen 1737 und 1747 und wuchs schließlich 1748 und 1750 um weitere drei Bände an. Es arbeiteten insgesamt drei Übersetzer daran, vier Verleger waren an der Herstellung und am Vertrieb beteiligt.55 Der erste Band ist dem Gutsherrn und Obersteuereinnehmer des Fürstentums Glogau Hans vom Berge gewidmet. Die Widmung datiert vom 19. Dezember 1735; den Plan zu dieser Übersetzung hatte Rosenberg, bestärkt durch Gottsched, jedoch bereits 1730 gefaßt. Der Leipziger Buchhändler Kaspar Fritsch (f 1744) hielt die Sermons in. einer fünfbändigen französischen Ausgabe (Den Haag 1721—1725) im Sortiment,56 und Gottsched hatte Rosenberg empfohlen, dem Verleger seine Pläne für das Übersetzungsprojekt zu unterbreiten. Am 27. Dezember 1730 äußerte Rosenberg gegenüber Gottsched zunächst die Vermutung, daß sich Fritsch in der Zwischenzeit wahrscheinlich um einen anderen Übersetzer bemüht haben werde. Er, Rosenberg, habe indes seinerseits nicht an Fritsch geschrieben, sondern das ehemalige Vorhaben aufgegeben, da er sich ohne Gottscheds Beistand ohnehin „zu einem so wichtigen Wercke alzuschwach" fühle. Offenbar wollte Rosenberg nicht ein weiteres Mal das Risiko eingehen, auf einer druckfertigen Übersetzung ,sitzenzubleiben'; es vergingen daher weitere zwei Jahre, bevor er die Arbeit an den Predigten Saurins ernsthaft in Angriff nahm, nachdem ihm Gottscheds „güttige Vorsorge" endlich einen Verleger für das Werk in Aussicht gestellt hatte und „Eure Hochedlen selbst mich ermuntern fortzufahren". Rosenberg berichtete auch von der „mühsamen Lebens Art, in der ich mich als ein Hofmeister ... itzo befinde". Indes hoffte er, sich mit der Fertigstellung des ersten Bandes für die Leipziger Ostermesse (26. April bis 10. Mai) des Jahres 1733 verbindlich machen zu können. Am 13. Dezember 1732 meldete er:
55
56
Vorbereitung befindlichen Dissertation: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische" Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Johann Michael Teubner (Leipzig), Johann Jacob Korn (Breslau), David Siegert (Liegnitz), Georg Friedrich Heinrich (Breslau); vgl. die bibliographischen Informationen im Quellenanhang, S. 233f. Vgl. Catalogue des livres fran9ois a vendre dans la boutique du Fürstenhaus. Leipzig: Kaspar Fritsch, o. J., S. 71. Genaue bibliographische Angaben zu der französischen Originalausgabe sowie reichhaltige Textauszüge bietet Alexandre Vinet: Histoire de la predication parmi les Reformes de France aux dix-septieme siecle. Paris 1860, S. 597—714, 619. Bereits 1734 war eine zweibändige Übersetzung von Saurins Nouveaux Sermons erschienen. Jacob Saurin evangelischen Predigers im Haag, Reden über die Geschichte von dem Leiden unsers Herrn Jesu Christi und ändern dahin gehörigen Materien. Aus dem Frantzösischen übersetzt von Johann David Steinmüller. Leipzig: Johann Michael Teubner, 1734; über Steinmüller (1708-nach 1758) vgl. ADB 36 (1893), S. 19.
Abraham Gottlob Rosenberg
169
„Ich kan es indeß nicht läugnen, daß mir diese Übersetzung eben so gar leicht nicht ist. Weßwegen ich oft noch in Leipzig zu seyn wünsche, damit ich mich hin u. wieder Dero Unterrichtes bedienen könte. Herr Saurin schreibt zu weilen sehr hoch, und erfodert sonder Zweifel überal einen Übersetzer, der beydes Sachen und Worte sehr wohl verstehe. Mich däucht aber er sey nirgends so subtil als in der ersten Rede des ersten Theiles [In der Übersetzung Rosenbergs: „Vom Aufschübe der Bekehrung"; Text: Jes. 55, 6. „Suchet den Herrn, weil er zu finden ist, ruffet ihn an, weil er nahe ist."]. Und wenn ich meine Gedancken völlig sagen soll, so fürchte ich mich fast, daß eben diese erste Predigt vielen Lesern, die vieleicht an scharfen Schlüßen, sonderlich in Predigten, wenig Geschmack finden, die Lust zum gantzen Wercke verderben möchte. Doch vieleicht übereile ich mich in dieser Vermuthung. So viel ist gewiß, daß man sich nach dieser ersten Predigt die Fähigkeit der damahligen Zuhörer des Herrn Saurin, als sehr groß wird vorstellen müßen. Was mir aber am meisten zu schaffen macht, sind einige Kunst Wörter, deren er sich sonderl. in der ersten Rede häufig bedienet. Ich rechne hieher die Redens Arten l'habitude, fond de la vertu, faire des actes de piete p. In einer Philosophischen Schrift, kan allerdings das erstere gar wohl durch Fertigkeit übersetzt werden. Ich weiß aber nicht ob dieses deutsche Wort auch in einer Predigt gar wohl könne gebraucht werden: Weil zu besorgen ist, die wenigsten Leser möchten die rechte Deutung des Wortes so gar gründl. verstehen, daß ihnen nicht deßhalben gar leicht die Übersetzung undeutl, und der gantze Verstand dunckel vorkommen möchte. Zuweilen, sonderl. wo Herr Saurin vom Cörper redet, läßet sich das Wort habitude, wie mich deucht nicht übel durch Gewohnheit übersetzen; welches doch aber überal nicht angehet, sondern der Gebrauch eines solchen Wortes als z. e. Fertigkeit scheint an einigen Orten, sonderl. p. 20 unentbehrlich zu seyn. An ändern Stellen laßen sich vieleicht die Kunst Wörter durch Umschreibungen gar vermeiden. Wie ich denn Glaube die Redensart avoir l'habitude de l'amour de Dieu, könne durch: Gott mit gantz willigen Hertzen lieben; also auch l'habitude de l'amour eine willige (herzliche) Liebe; fond de l'amour eine wohl gegründete Liebe; faire des actes de piete, sich fleisig in der Gottseeligkeit üben p, gar wohl gegeben werden. Ich werde mich erfreuen, wenn Eure Hochedlen, so viel Mühe über sich nehmen, u. mir in Ansehung dieser Redens Arten einiges Licht ertheilen werden. Wie ich mir denn auch inskünftige die Erlaubniß ausbitten würde, Eure Hochedlen ersuchen zu dürfen, daß Sie meine Übersetzung durchzugehen u. was etwa noch alzu mangelhaft wäre, auszubeßern guttigst belieben wollen. Im Fall es aber geschehen solte, daß etwa die Verbeßerung meiner Arbeit mehr Mühe verursachen solte, als meine gantze Übersetzung werth wäre; so versichere ich Eure Hochedlen aufrichtig, daß ich mir es im geringsten vor keine Schande halten werde meine Arbeit viel lieber zurücke zunehmen, u. die Ehre und den Nutzen der Übersetzung einem geschickterem zu überlaßen, als durch eine elende Verdeutschung die ausbündig schönen Reden des seel. Herrn Saurin, zu verstellen. Etwas fället mir hierbey noch ein. Vieleicht würde es vielen angenehm seyn, eine Lebens Beschreibung eines so großen Mannes zu lesen. Ich wolte mich dieser Arbeit gar gerne unterziehen, wenn ich nur wüste, zu wem ich mich zu Wenden hätte, wenn ich hierzu um-
170
MICHAEL SCHLOTT ständliche Nachrichten brauchte. Vieleicht können mir Eure Hochedlen auch hierinne einen gutten Rath ertheilen. So viel dißmahl von meinem Vorhaben."57
In den Jahren 1733 und 1734 stellte sich Rosenberg mit zwei weiteren Schreiben bei Gottsched ein. Er unterbreitete darin Vorschläge für die Gestaltung eines Titelkupfers, ersuchte Gottsched, weiterhin bei dem Leipziger Verleger Teubner für die Übersetzung zu werben und bat um eine Vorrede für den ersten Band, den der Übersetzer seinem einstigen Lehrer zu widmen beabsichtigte.58 Gottsched scheint dieses Ansinnen allerdings abgelehnt zu haben; zumindest hat er es mit Schweigen beantwortet: In dem überlieferten Korpus von Briefen Rosenbergs an Gottsched gibt es eine bemerkenswerte Lücke zwischen Juli 1734 und März 1746, und die erhaltenen Briefe lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß während dieser Zeit tatsächlich kein Briefwechsel stattgefunden hat. Denn erst am 21. März 1746, also kurz vor der Vollendung seines gesamten Übersetzungswerkes, meldete sich Rosenberg erneut bei Gottsched, und zwar mit der folgenden Eingangszeile: „Ich weiß nicht, ob nach einer Zeit von 15 Jahren, seitdem ich Leipzig verlaßen habe, noch einiges Andencken meines geringen Nahmens bey Ew. Hochedelgebohrnen übrig seyn möchte."59 In diesem Schreiben findet sich ein weiterer unzweifelhafter Beleg dafür, daß Gottsched seinem Schüler seit 1734 keine weiteren Mitteilungen hat zukommen lassen. Rosenberg erinnerte ihn daran, „daß Denselben schon der erste Theil meiner Ubersezung gewiedmet war; an deßen Vollziehung mich nichts gehindert, als die ausgebliebne Antwort, auf meine Bitte, mit welchem ich mir damals die Erlaubniß zu einer Dedication von Ew. HochEdelgeb. ausgebeten hatte."60 Über die Gründe für Gottscheds reservierte Haltung läßt sich lediglich spekulieren. Möglicherweise wollte 57
58
59 60
UBL, 0342 II, Bl. 267-268, 267rv-268r. Gottsched erklärt dazu an anderer Stelle: „Eben so seltsam würde es seyn, wenn man die Wortfügung fremder Sprachen in der unsrigen anbringen wollte; welches vielen, die mehr Französisch als Deutsch können, sehr leicht zu entfahren pflegt"; vgl. Versuch einer Critischen Dichtkunst, AW 6/1, S. 378. 1733 wurde in Golems' Auserlesener Theologischer Eibliothec mit Blick auf die Sermons der Wunsch geäußert, „daß die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, die so viele, und starcke Einsicht hat in alles, was in der Beredsamkeit schön heissen kan, sich gefallen Hesse, durch den geschicktesten aus ihrem Mittel entweder die sämtlichen Predigten des Herrn Saurin, oder diese neuesten Theile derselben in ein reines Deutsch zu übersetzen. Denn hier haben sie ganz gewiß einen Redner nach ihrem Geschmack; einen Mann, der fast eine mehr, als Ciceronianische Starcke, dergleichen sie insonderheit zu loben pflegen, besitzet; einen Prediger, welchen zu hören, man wohl ehe im Haag, bey dem grossen Zulauf hoher und niedriger Personen, Geld geben müssen." Auserlesene Theologische Bibliothec, Oder Gründliche Nachrichten Von Denen neuesten und besten Theologischen Büchern und Schafften. 67. Teil. Leipzig: Johann Friedrich Brauns Erben, 1733, S. 621-626, 624f. UBL, 0342 II, Bl. 103-104,103r; vgl. Quellenanhang, S. 225-227. Anm. 59, Bl. 104r.
Abraham Gottlob Rosenberg
171
er sich nicht länger ausschließlich theoretisch über einen Gegenstand verständigen, dem sein ganz besonderes Interesse galt: die Reform des deutschen Predigtwesens durch die Präsentation vorbildlicher Exempel. Seit Beginn der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland auch die evangelische Theologie und Kanzelberedsamkeit unter den zunehmenden Einfluß der Philosophie Christian Wolffs geraten. Für die Homiletik wurde von namhaften Vertretern der Kirche die Forderung nach deutlichen Begriffen, Stringenz der Gedankenführung, klarem Aufbau und schlüssiger Argumentation formuliert. In diesem Sinne ist Gottscheds Homiletik,61 ein auf Betreiben des Berliner Konsistorialrates Johann Gustav Reinbeck62 (1683—1741) sowie des Grafen Ernst Christoph von Manteuffel (1676—1749) verfertigtes Lehrbuch für die geisdiche Beredsamkeit, im Grunde genommen eine Adaptation63 seiner weltlichen Redekunst und der Erkenntnisse der Wolffschen Vermögenslehre an die Predigt: „Wenn also der Gegenstand eines evangelischen Redners, nämlich seine Zuhörer, Menschen sind, die Verstand und Willen haben, Kräfte der Seelen, die von verschiedener Fähigkeit und Beschaffenheit seyn können: So folget auch, daß er sich nach denenselben so viel als ihm möglich ist, wird richten müssen, um bey allen Arten derselben einige Erbauung zu wirken. Der Verstand ist eine Gemuths= Kraft, womit man sich eine Sache deutlich vorstellet, davon urtheilet, und vernünftige Schlüsse macht. Ich sage zuförderst, der Verstand stelle sich eine Sache deutlich vor: denn dunckle, wie auch undeutliche obwohl klare Begriffe gehören mehr für die Sinne, als für den Verstand; und wenn also ein Mensch, wie billig ist, ein besseres Erkenntniß von einem Dinge haben will, als ein unvernünftiges Thier, so muß er mit der bloßen sinnlichen Empfindung nicht zufrieden seyn. Ein Christ hört ja darum noch nicht auf ein Mensch zu seyn, weil ihn GOtt eines höhern Lichts gewürdiget hat."64
Sechs Pflichten sind es demnach, die ein „evangelischer Redner" unbedingt zu befolgen habe: Er soll „1) deutlich erklären. 2) Gründlich erweisen. 3) Der Gegner Einwürfe widerlegen. 4) Alles dunkle und schwere erläutern. 5) Die Gemüther durch Bewegungsgründe lenken, und 6) die
61 62 63
64
Grund=Riß einer Lehr=Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (Anm. 16). Reinbecks im königlichen Auftrag unternommene Anstrengungen zur Rückberufung des ehemals des Landes verwiesenen Philosophen Wolff waren 1740 erfolgreich. Es fehlt nicht an Verweisen des Verfassers auf seine Ausfuhrliche Redekunst; vgl. etwa Grund=Riß einer Lehr=Arth (Anm. 16), S. 81, 119. Gottsched hat auf diese Weise allerdings auch gezielt von seiner Verfasserschaft ablenken wollen, wie etwa aus folgender Anmerkung hervorgeht: „Es hat dieses schon der bekannte Hr. Prof. Gottsched, zu Leipzig, in der ersten Auflage seiner ausführlichen Redekunst ... angemerket, und es würde ja uns Geistlichen eine Schande seyn, wenn wir uns solche Dinge erst von weltlichen Lehrern der Redekunst, wollten sagen lassen." Grund=Riß einer Lehr^Arth (Anm. 16), S. 97. Grund=Riß einer Lehr=Arth (Anm. 16), S. 24f.
172
MICHAEL SCHLOTT
Affecten theils dämpfen, theils erregen".65 Ersichtlich sind hier Kriterien formuliert, die auf den Prozeß philosophischer Reflexion und folgerichtigen Schließens als Grundvoraussetzung für die Akzeptanz religiöser ,Wahrheit' zielen. Die negative Kontrastfolie bildete in diesem Zusammenhang die ebenfalls auf Veranlassung Reinbecks von Luise Adelgunde Victorie Gottsched ins Deutsche übersetzte Schrift des englischen Geistlichen John Eachard The Grounds and occasions of the contempt of the clergy and religion, London 1670.66 Denn zu den wichtigsten Faktoren, die auf die deutsche Kanzelberedsamkeit im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts einwirkten, gehörte die Rezeption der ,klassischen' englischen und französischen Homiletik.67 „Wo bleiben noch alle die auswärtigen Lichter der Kirchen, Baxter, Boyle, Tillotson, Stillingfleet, Clarke, Scherlock, Pictet, Molineus, Werenfels und Saurin, die wir auch in unsrer Muttersprache zu lesen bekommen?" beklagt Gottsched68 drei Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Rosenbergs Saurin-Übersetzung und thematisiert auf diese Weise die zurückliegenden Bemühungen um eine Reform der Kanzelberedsamkeit, in deren Kontext auch die von Rosenberg besorgte deutsche Saurin-Ausgabe zu verorten ist. Johann Lorenz Mosheim, der als eminenter Kenner der englischen und französischen Homiletik in der Reform der deutschen Kanzelberedsamkeit selbst beispielgebend vorangegangen war, veröffentlichte 1728 eine Übersetzung der Predigten Tillotsons69 und setzte damit den eigentlichen Markstein für die Rezeption eng-
65
66
67 68 69
Grund=Riß einer Lehr=Arth (Anm. 16), S. 37; vgl. auch die korrespondierende elaborierte Fassung dieser kurzen Hinweise in Gottsched: Ausführliche Redekunst (Anm. 16), S. 92— 192. Im dritten Hauptstück seiner Homiletik, „Von denen einem evangelischen Prediger nöthigen Vorbereitungen und Eigenschaften", fordert Gottsched: „Fragt es sich nun was für eine Philosophie ein angehender Evangelischer Redner eigentlich lernen soll; (denn auch dieses macht zuweilen eine Schwürigkeit): So antworten wir, nach Maßgebung des allergnädigsten Königl. Mandats, die Wolffische\" Grund=Riß einer Lehr=Arth (Anm. 16), S. 66. D. Eachards eines Englischen Gottes=Gelehrten Untersuchung der Ursachen und Gelegenheiten, Welche zur Verachtung der Geistlichen und der Religion Anlaß gegeben, Aus dem Englischen durch eine geschickte Feder ins Deutsche übersetzt und mit einer Vorrede von Johann Gustav Reinbeck herausgegeben. Berlin: Ambrosius Haude, 1740, S. 40-85. Eachard zeichnet hier ein düsteres Bud des englischen Predigtwesens, faßbar etwa an einem vollkommen unüberlegten Metapherngebrauch, Anekdotenüberfluß oder übermäßigem Einsatz von Konkordanzen. Vgl. Reinhard Krause: Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770—1805). Stuttgart 1965,5.15. Grund=Riß einer Lehr=Arth (Anm. 16), S. 18. John Tillotson: Auserlesene Predigten über wichtige Stücke Der Lehre JEsu Christi mit besondern Fleiße aus dem Englischen übersetzet, und mit nützlichen Anmerckungen versehen. Nebst einer Vorrede Herrn Johann Lorenz Mosheims. Helmstedt: Christian Friedrich Weygand, 1728; vgl. Heinrich Richard Martens an Gottsched, 28. September 1730, UBL, 03421, B1. 308-310.
Abraham Gottlob Rosenberg
173
lischer und französischer Predigtmuster.70 Mosheim war es auch, der wiederum sehr genau die gegenseitige Rezeption der englischen und französischen Prediger einzuschätzen wußte, so daß ihm daher auch nicht verborgen bleiben konnte, daß die Predigten Jacques Saurins ihrerseits ein intensives Studium Tillotsons dokumentierten.71 Wie Tillotson, der in seinen Predigten alle Behauptungen aus unleugbaren Gründen herleitete und die Lehrsätze des Evangeliums mit den Mitteln der argumentierenden Vernunft in einem zusammenhängenden Vortrag erläuterte und bestätigte, so demonstrierte auch Saurin seine Sätze und Behauptungen ausführlich und nach Gründen. Die damit einhergehende und von Gottsched häufig wiederholte Grundforderung lautete, daß der Affekthaushalt des Menschen sowohl über den Verstand als auch über den Willen regiert werden müsse, daß also der Wille eines Hörers unmöglich für die ,Wahrheit' gewonnen werden könne, wenn nicht zuvor bereits der Verstand belehrt worden sei. Ebendies attestiert Rosenberg dem Prediger Saurin im Eingangspassus seiner Vorrede.72 Die starke Akzentuierung des Rationalen, auf die Rosenberg wiederholt hinweist, zeige sich auch in der klaren Strukturierung von Saurins Predigten, in den „Dispositiones" also. Zergliedere man eine beliebige seiner Predigten, „so wird man überall Dispositiones finden, die nach den Grundsätzen der schärffsten Vernunftlehre verfaßt sind."73 Um so wichtiger erscheint dem Übersetzer eine Erörterung der bereits von Reinbeck74 aufgeworfenen Frage, „ob es auch erlaubt sey, im Predigen zu pilosophiren?"75 So überrascht es nicht, daß die zentrale Frage, wieviel Philosophie auf der kirchlichen Kanzel gestattet sei, in der Vorrede des Über70
71
72 73 74
75
Vgl. Gerhard von Zezschwitz: Homiletik oder die Kunstlehre von der geistlichen Beredsamkeit. In: Otto Zöckler (Hg.): Handbuch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Darstellung mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Disziplinen. Band 3. Nördlingen 1883, S. 239—443, 364. „Eine ganz neue Epoche der evangelischen Kanzelberedsamkeit datiert unzeifelhaft von Saurin und seine Einwirkung auf die Reform des deutschen Predigtwesens ist von all den vorbezeichneten ausländischen Faktoren die bedeutsamste; obgleich sich auch bei Saurin selbst nach seilen des Gedankeninhaltes Abhängigkeit von Tillotson nachweisen läßt. Darauf, wie auf mannigfaltige Benützung Malebranche's durch Saurin hat besonders Mosheim aufmerksam gemacht ... Als Begründer einer edleren Form der Kanzelberedsamkeit deutscher Zunge aber behauptet Joh. Lorenz v. Mosheim ... unbestritten die erste Stelle"; S. 363, 365. Ein Aufenthalt in England, wo Saurin eine vorübergehende Anstellung hatte, vermittelte ihm unmittelbare Eindrücke der durch Tillotson initiierten Predigtreform; vgl. von Zezschwitz, Homiletik (Anm. 70), S. 361. Vgl. Quellenanhang, S. 242. Vgl. Quellenanhang, S. 245. Vgl. Johann Gustav Reinbeck: Betrachtungen über die In der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten. Band 2. Nebst einer Vorrede Von dem Gebrauch der Vernunfft Und Welt=Weißheit In der Gottes=Gelahrtheit. Berlin; Leipzig, Ambrosius Haude, 1733, Vorrede, S. Lllf., § 39. Vgl. Quellenanhang, S. 246.
174
MICHAEL SCHLOTT
setzers sehr ausführlich erörtert wird; wurde doch, anders gewendet, bereits mit dieser Frage impliziert, daß der einzige und unumstößliche Erweis der Wahrheit christlichen Glaubens nur durch eine Verbindung natürlicher bzw. vernünftiger und geoffenbarter Wahrheiten geschehen könne.76 So plausibel und berechtigt diese Forderung zunächst auch erscheinen mochte, bildete sie tatsächlich den nervus rerum der theologischen Auseinandersetzung zwischen der sogenannten Übergangstheologie77 einerseits und lutherischer Orthodoxie sowie Pietismus auf der anderen Seite. Denn sie postulierte genaugenommen „die Ausschließung der Offenbarung in jeder für die Vernunft unannehmbaren Version. Ob die Übereinstimmung stattfindet oder nicht, soll von der Vernunft und nicht von der Offenbarung entschieden werden ...".78 Dieser Hintergrund ist stets zu berücksichtigen, wenn Rosenberg — und zwar im wiederholten Rekurs auf Reinbeck79 und Mosheim80 — seine Position zu diesem Gegenstand entwickelt: „Man betrachte nur die Lehren der natürlichen Theologie und Sittenlehre, so wird man meistens solche Sätze finden, die einem jeden begreiflich, und ich getraue mich fast zu sagen, nachdem sie vorgetragen werden, auch den einfältigsten Seelen nicht zu hoch sind. Man findet alle diese Wahrheiten auch in der Schrift vorgetragen, und die Offenbarung hat nirgends eine von ihnen verworfen. Mich deucht also, es könne einem Prediger nicht getadelt werden, wenn er bey Abhandlung einer solchen Lehre aus der Schrift, die man auch durch die Natur erkennet, nebst dem, was ihm die Offenbarung an die Hand giebt, zugleich dasjenige verbindet, was ihm das Licht der Natur zum beweisen, erläutern oder ermuntern anweiset. Sollte es denn ein Fehler seyn, wenn man z. E. in einer Predigt über den Satz, daß ein GOtt sey, nicht nur dasjenige vortrüge, was uns die Schrift davon sagt, sondern auch durch gründliche und angenehme Betrachtungen der Natur, die Seelen der Zuhörer in allen Dingen Merkmahle eines allweisen, allgütigen, und allmächtigen Schöpfers sehn liesse? ... Eine solche Art im Predigen zu philosophiren scheint so wenig verwerflich zu seyn, daß sie vielmehr 76 77
78 79
80
Vgl. Reinbeck, Betrachtungen über die In der Augspurgischen Confeßion enthaltene ... Göttliche Wahrheiten (Anm. 74), Vorrede, S. XXXII-XXXV, § XXII. Vgl. Emanuel Hksch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Band 2. Gütersloh 31964 (Nachdruck Münster 1984), S. 319-390. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 372. Vgl. Reinbeck, Betrachtungen über die In der Augspurgischen Confeßion enthaltene ... Götdiche Wahrheiten (Anm. 74), Vorrede. Ein Rezensent hat Reinbeck gegen den Vorwurf eines anonymen Kritikers verteidigt: „Ein vernünfftiger Mann nimmt Wahrheiten an, wo er sie findet, und erkennt sich demselben allzeit verbunden, der solche erfunden, oder verbessert, oder ihnen weiter nachzudencken Gelegenheit gegeben. Man muß erst beweisen, daß die wolfischen Lehren mit der Gottes=Gelahrheit streiten, ehe man es einem zur Last legt, daß er sich der ersten bedient, die letztern deutlicher, zusammenhangender, und überzeugender vorzutragen." Deutsche Acta Eruditorum, 1733 (176.Teil), S. 568—587, 578. Vgl. etwa Quellenanhang, S. 247f. und 250.
Abraham Gottlob Rosenberg
175
Gelegenheit giebt, die Anfofderungen des Christenthums desto williger anzunehmen, je mehr sie unserer Natur gemäß sind. Sie zeigt die Liebe GOttes zu unsern Seelen, die im Christenthume nichts von uns fordre, dessen Billigkeit wir nicht erkennen würden, wenn wir recht reife und gründliche Betrachtungen über uns selbst, und die Beschaffenheit unsrer menschlichen Natur anstellen wollten."81
Die Brisanz solcher Ausführungen erweist sich im Blick auf das zeitgenössische Rezensionsgeschehen. „Es möchte aber auch wohl erwogen werden, was Er vom Philosophiren auf der Cantzel gar bescheiden und bedächtig schreibet", urteilt ein anonymer Rezensent und warnt, „daß allerdings bey Verknüpffung der natürlichen mit den geoffenbahrten Wahrheiten auf der Cantzel viele Vorsicht vonnöthen sey, und die Sache, Ort, Zeit und Zuhörer dabey wohl zu überlegen, da wohl sehr selten man darzu Ursache haben wird. Wo man auf der Cantzel erst beweisen soll, daß ein GOtt sey; so muß man wohl die allervertorbenste Gemeine vor sich haben. Die grösseste und beste Willigkeit, die Anforderungen des Christenthums anzunehmen giebt doch auch der mit und durch das Wort würckende Heil. Geist."82 Nach dem Vorbild Gottscheds, dessen Homiletik sich als Lehrbuch präsentierte, empfahl auch Rosenberg seine Übersetzungen als exemplarische Predigtanweisung „in die Hände einiger jungen Gottsgelehrten"; vielleicht dürfe er hoffen, „diese Übersetzung werde so wohl, als andre ihres gleichen, bey demjenigen Studio, welches man das Homiletische nennt, nicht ohne allen Nutzen seyn, und bey den zuweilen ziemlich trocknen Regeln der Homilie, eine nicht unangenehme Abwechselung machen."83 Und nach dem Vorbild Gottscheds, dessen Grundriß %u einer Vernunfftmäßigen Redekunst er nach eigener Aussage Tag für Tag studierte und „ausübte",84 war Rosenberg bereits seit Beginn der 1730er Jahre auf der Suche nach mustergültigen und nachahmenswerten — klassischen — Beispielen geistlicher Beredsamkeit. 1731, nach erneuter Lektüre der vermutlich bereits während seiner Leipziger Studienzeit zur Hand genommenen Sammlung Auserlesener Reden,9·5 trug sich Rosenberg mit dem Gedanken, eine „Sammlung auserlesener Predigten" herauszugeben. „U. ich bin fast in meinen Gedancken bestätiget worden, indem mir hier einige Stücke eines so zu reden journal-förmigen Werckchens vorkommen, welches den Titul führet Regeln u. Exempel der Beredsamkeit, u. vornehml. den H. Schindel, 81 82 83 84 85
Quellenanhang, S. 248f. Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1736 (August), S. 357. Vgl. Quellenanhang, S. 243f. Vgl. Anm. 28,81.341 r. Sammlung Auserlesener Reden, Welche als Kern=Proben und galante Exempel der heurigen Teutschen Beredsamkeit Den Liebhabern zum Vergnügen und der Jugend zur Nachahmung vorgeleget werden, ... Leipzig; Nordhausen: Johann Heinrich Groß, 1727. Zweyte und vermehrte Auflage Leipzig; Nordhausen: Johann Heinrich Groß, 1730.
176
MICHAEL SCHLOTT Prof. in Brieg, vor seinen Verfaßer erkennet. Ich wolte in meiner Samlung theils Übersetzte Predigten gebrauchen, theils aber berühmte u. in der Beredsamkeit wohlgeübte Prediger in Deutschland, um Beytrag ansprechen, wozu mir auch schon von einigen in meinem Vaterlande Hofnung gemacht worden. Vor allen Dingen aber würde ich E. Hochedlen selbst um güttigen Beytrag zu bitten Ursache haben; indem es gar kein Zweifel ist, daß meiner vorhabenden Samlung ohne Dero schöne Arbeit, eine große Zierde abgehen würde. Alles aber komt auf das Urtheil E. Hochedlen, von diesem Vorhaben, an, welches mir stat einer Richtschnur seyn soll."86
Wenngleich Rosenberg auch dieses Projekt nicht in die Tat umgesetzt hat, so läßt sich bereits am Titel der von ihm erwähnten Sammlung Regeln und Exempel der Beredsamkeit ablesen, wie das von ihm favorisierte Kompendium in seiner Grundstruktur und axiomatischen Basis konzipiert sein sollte. Die von Rosenberg angeführte Sammlung war bereits 1723 in Wittenberg mit zwei Stücken erschienen, wie dem von Rosenberg verfaßten Nachruf auf seinen Onkel Johann Christian Schindel zu entnehmen ist. „Diese Arbeit fand vielen Beyfall, und man beklagte damahls nichts mehr, als daß sie so bald abgebrochen wurde. Denn ob das dritte Stücke wohl völlig ausgearbeitet war; so ist es doch nie im Drucke erschienen. Herr Schindel sähe wohl ein, daß man in der Beredsamkeit und Dichtkunst gute Exempel mit guten Regeln verbinden müße, wenn man wahre Redner und gute Dichter haben wolte. Er suchte das also in dieser kleinen Schrift zu thun. Und sie wurde auch desto begieriger aufgenommen, da damahls von Schriften solcher Art noch nicht eben viel verbanden war. Es waren also in dieser Schrift gute Regeln ausgesucht, und schöne Exempel dazu gesetzt: und da beydes meist von Ausländern entlehnet werden solte; so hatte man sich auch bemühet, die Uebersetzung den Schönheiten der Originale aufs möglichste ähnlich zu machen. Es fand dieses Unternehmen so vielen Beyfall, daß die Auflage in kurtzem völlig vergriffen war, und itzo fast kein Exemplar mehr davon zu haben ist. Indeß kam es doch, wie wir schon gesagt haben, nicht weiter als zum ändern Stücke. Herr Schindel hatte diese Arbeit nicht gantz allein auf sich genommen. Ein naher Bluts= und Gemüthsfreund von ihm solte sein Mitarbeiter seyn. Das war der auch nach dem Tode noch in vieler Andencken lebende wohlverdiente Herr George Abraham Michael, ehmahliger Archidiaconus in Schweidnitz. Dieser übernahm es hauptsächlich vor die Exempel zu sorgen, so wie die Schindelische Feder sich die Regeln zur Hauptabsicht machte: obwohl jedem dabey die Freyheit blieb, auch nach Gefallen in des ändern Felde mit arbeiten zu helfen ... Allein Herr Michael starb bald nach dem Anfange des Werckes. Herr Schindel wüste nicht bald wieder einen solchen vertrauten Freund zu finden, der zu dieser Arbeit Kräfte oder Lust, oder ausländische Bücher genug gehabt hatte. Ihm selbst erlaubte seine weitläuftige Schularbeit nicht, das Werck allein fortzusetzen. Und so sind wir einer Schrift bald in ihrem
86
Rosenberg an Gottsched, 3. April 1731; UBL, 0342 II, Bl. 23-24, 23v-24r.
Abraham Gottlob Rosenberg
177
Anfange beraubet worden, von deren Nutz und Anmuth auch schon zwey Theile die schönste Hofnung haben."87
Wichtig für die vorliegende Betrachtung ist das Vokabular der Methodik: ,Regeln' und ,Exempel' sind die Kernbegriffe. Paulsen88 bereits, nach ihm auch Barner89 und Dyck90 haben die historische Verankerung der Säulen dieses Unterrichtsverfahrens - praeceptum, exemplum und imitatio - einschließlich ihrer didaktischen Funktion beschrieben: „Auf allen Stufen des Unterrichts gehen diese Dinge nebeneinander her: das Lehrbuch enthält diepraecepfa, die Regeln;... Die Lektüre der Autoren bietet exemp/a, Musterbeispiele jeder Art schriftstellerischer Darstellung; der Unterricht zeigt an ihnen die Bedeutung der Regeln, der grammatisch-stilistischen, wie der poetisch-rhetorischen ... Die imitatio endlich ist das Ziel des ganzen Unterrichts: der Schüler übt sich, an Hand der Regeln des Lehrbuchs, mit dem Material, das ihm die Lektüre zuführt, ähnliche Kunstwerke der Rede zu komponieren, als die klassischen Autoren sie darbieten."91
87
Nachricht von des seligen Herrn Prorector Schindeis Schriften (Anm. 20), S. 162-164. Der Pfarrer und Dichter Georg Abraham Michael (1686—1724) aus Rauten war seit 1703 Mitglied der Deutschen Gesellschaft Leipzig; vgl. Ernst Kroker: Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft. In: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung Vaterländischer Sprache und Alterthümer in Leipzig 9 (1902), H. 2. S. 3-57, 46. Michael wurde 1708 Rektor in Wohlau, 1710 Pastor in Röchlitz und 1714 Archidiakon in Schweidnitz. Michaels Mutter Katharina war eine geborene Rosenberg. Das von Ehrhardt überlieferte Schriftenverzeichnis Michaels enthält folgenden Eintrag: „Auch arbeitete er, mit dem Pro=Rektor Schindel in Brieg, am Trakt. Regeln und Exempel der Beredsamkeit, aus guten u. raren Schriften der Ausländer gesammlet, 2 Thle. Wittemb. 1723, 8." Vgl. Ehrhardt, Presbyterologie (Anm. 19). Band 4, 2. 1790, S. 528f. 88 Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Band l. 3. Auflage Leipzig 1919 (Nachdruck 1965), S. 345; vgl. auch Zedlers Universal-Lexicon unter dem Stichwort ,Exempel': „Endlich wird dieses Wort in der Didactic oder Unterweisungs=Kunst gebrauchet. Man erläutert nemlich eine abstracte Regel, wenn man sie auf das sinnliche, oder auf Exempel zurücke führet. Dieses ist gleichfalls der Gebrauch von dem Exempel in der Redekunst." Zedler 8 (1734), Sp. 2331. 89 „Rhetorik als Disziplin jedoch beruht seit der Antike nicht auf einer Zweiheit von doctrina und elaboratio sondern auf der Dreiheit von doctrina (bzw. praecepta), exempla und imitatio. Und dieses Grundschema bestimmt in vollem Umfang noch die Barockzeit. Jedem gelehrten Autor des 17. Jahrhunderts ist es durch seinen Bildungsgang ... in Fleisch und Blut übergegangen." - „Gerade der rhetorische Unterricht besitzt in den theoretischen Schriften der großen Schulmänner des 16. Jahrhunderts (vor allem Melanchthons und Sturms) und in der von Generation zu Generation weitergegebenen praktischen Erfahrung eine breite didaktische Grundlage. Zu ihr gehört als eines der wichtigsten Prinzipien die Dreiheit von praecepta, exempla und imitatio." Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. 2., unveränderte Auflage. Tübingen 2002, S. 59 und 285. 90 Vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Auflage. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966—1986. Tübingen 1991, S. 9. 91 Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts (Anm. 88).
178
MICHAEL SCHLOTT
Bei Gottsched findet sich diese Struktur mit dem einzigen Unterschied, daß praecepta und exempla vereinigt am selben Ort konsultiert werden können. Der Begriff exemplum entstammt in seiner Bedeutung als ,Warenprobe' ursprünglich der lateinischen Wirtschaftssprache. Wahrscheinlich bezeichnete ,exemplum' zunächst nicht nur die Warenprobe im Kleinhandel, wie Lebensmittel oder Medikamente, sondern auch Musterstücke von Handwerkern, die in ihren Läden gleichzeitig arbeiteten und verkauften. ,Exemplum' vereinigt im Lateinischen die Bedeutungen in sich, die sich im Deutschen auf ,Muster' und ,Probe' verteilen.92 Sodann konnte ,exemplum' auf Ideale verweisen, denen nachzueifern sei oder die abzulehnen seien. In der ,imitatio' bildeten sie somit ein Mittel der (sittlichen) Erziehung (zur imitatio anhaltendes Muster), so daß ,exemplum' in der für den vorliegenden Fall zu fassenden Bedeutung zunächst und vor allem als Methodik des Lernens durch Beispiele, als exemplarisches Lernen, gefaßt werden kann.93 Gottsched hatte diese Methodik bereits in seiner Cntischen Dichtkunst (1729) vorgeführt, indem er aus exemplarischen Autoren Maßstäbe abstrahierte, nach denen er die gesamte Literatur beurteilte,94 und in der Vorrede zur Ausführlichen Redekunst (l 736) erklärte er entsprechend: „Von der Eintheilung meines Buches habe ich nicht Ursache viel zu sagen. Es ist ganz nach Art meiner critischen Dichtkunst eingerichtet. In dem ersten Theile trage ich die allgemeinen Regeln der Redekunst vor, und erläutere sie, wie dort, mit lauter fremden Exempeln. In dem ändern zeige ich die Ausübung und Anwendung derselben in allen besondern Fällen, wo man heute zu Tage zu reden pflegt. Diese erläutere ich gröstentheils mit meinen eigenen Exempeln, ausser wo ich noch keine Gelegenheit gehabt, dergleichen zu verfertigen; ebenfalls wie ich in der critischen Dichtkunst gethan habe."95
92 93
94
95
Vgl. Hildegard Kornhardt: Exemplum. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie. Göttingen 1936,5.49. Vgl. Christoph Daxelmüller: Auctoritas, subjektive Wahrnehmung und erzählte Wirklichkeit. Das Exemplum als Gattung und Methode. In: Georg Stötzel (Hg.): Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur (Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven), S. 72—87, 78, 80. Weitere Literaturhinweise bei Christoph Daxelmüller: Exempelsammlungen. In: Gerd Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 3 (1996), Sp. 55-60, 60. Vgl. Fritz Wagner: Lateinische ,auctores' und ,exempla' in Gottscheds Dichtkunst. In: Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr und Knut Kiesant (Hg.): Das Berliner Modell der Milderen Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29. September bis 1. Oktober 1997. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 371-389, 372. Vgl. auch Josef Klein: Exemplum. In: Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik (Anm. 93), Sp. 60-70. Klein verweist zudem auf die ästhetische und kognitive Funktion des Exempel-Begriffs bei Gottsched; Sp. 68f. Gottsched: Ausführliche Redekunst (Anm. 16), S. *2. Entsprechend etwa auch Gottscheds Hinweise zu den Exempeln in der geistlichen Beredsamkeit, S. 334. Der Titel der ersten Auflage der Critischen Dichtkunst sollte geradezu als programmatische Aussage verstanden
Abraham Gottlob Rosenberg
179
Die Kombination von Regeln und Exempeln ist zwar in der Rhetorik und Poetik — und nicht nur in diesen Disziplinen — als didaktisches Konzept lange vor dem Erscheinen von Gottscheds Cntischer Dichtkunst gebräuchlich gewesen,96 doch erst Gottsched und einige seiner Schüler nahmen für sich das Verdienst in Anspruch, diese Methode erneuert, kultiviert und im institutionellen Kreislauf von Schule, Universität und Kirche wirksam gemacht zu haben. Eine Antwort auf die naheliegende Frage, warum angesichts der weit zurückreichenden Tradition des Zusammenspiels von Regeln und Exempeln ausgerechnet der sogenannte Gottschedkreis seine diesbezüglichen Bestrebungen als innovativ angesehen hat, ist aus den entsprechenden Selbstdarstellungen der Akteure nicht ohne weiteres ablesbar. Johann Joachim Schwabe beispielsweise hat die von Gottsched propagierte Zusammenführung von praecepta und exempla geradezu als epochemachend für die Geschichte der Rhetorik einschließlich ihres Unterrichts dargestellt. Im Blick auf Gottscheds Grundriß %u einer Vernunfftmäßigen Redekunst97 urteilt er: „Lehren und Exempel wurden hier von Denselben vereiniget, um das wüste und gothische Wesen auszutilgen, worunter die deutsche Redekunst begraben lag: Und mich dünkt, man habe rechtmäßige Ursache, von dieser Zeit an einen ganz
96
97
werden und den innovativen Charakter des Gottschedschen Verfahrens unterstreichen: Versuch einer Cririschen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden. Das Kapitel Von Oden oder Liedern beschließt Gottsched beispielsweise mit dem Hinweis: „Wer ausführlichere Regeln, und gute Exempel davon sehen will, der darf nur die Oden der deutschen Gesellschaft nachschlagen, wo er von allen Gattungen einige antreffen wird." AW 6/2, S. 19. Ohne Anspruch auf Systematik oder gar Vollständigkeit seien die folgenden bibliographischen Beispiele angeführt, an deren Beginn bereits Martin Opitz genannt werden müßte: Buch von der Deutschen Poeterey. In welchem alle jhre eigenschafft und zugehör gründtlich erzehlet und mit exempeln außgeführet wird. Breslau 1624. Christian Weise: Curieuse Fragen über die Logica ... Der anfanglichen Theorie, und der nachfolgenden Praxi zum besten Durch genügsame Regeln und sonderliche Exempel ausgeführet. Leipzig 1696. Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim= und Dicht= Kunst, durch richtige Lehr-Art, deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet. Nürnberg 1704. Erdmann Uhse: Wohlinformierter Poet, worinnen die Poetischen Kunst=Griffe vom kleinsten bis zum grösten durch kurtze Fragen und Ausführliche Antwort vorgestellet und alle Regeln mit angenehmen Exempeln erkläret werden. 2. Auflage Leipzig 1705. Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, Das ist Vernünftige anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit ... mit auserlesenen exempeln erläutert. Leipzig 1724. Johann Georg Neukirch: Anfangs=Gründe zur Reinen Teutschen Poesie Itziger Zeit, Welche der Studierenden Jugend Zum Besten und zum Gebrauch seines Auditorii In Zulänglichen Regeln und deutlichen Exempeln entworffen. Halle 1724. Der Benediktinermönch Rudolf Graser (1728—1787), von Placidus Amon (Anm. 44) an Gottsched empfohlen, wurde ein renommierter Kanzelredner und verfaßte eine homiletische Anweisung nach Gottscheds Vorbild: Praktische Beredsamkeit der christlichen Kanzel, in Regeln, Exempeln, und vollständigen Mustern. Augsburg 1774. Anm. 6.
180
MICHAEL SCHLOTT neuen Absatz in der Geschichte der deutschen Beredsamkeit zu machen, und Ew. Hochedelen, als den Erneurer einer gesunden Beredsamkeit, hier an die Spitze zustellen."98
Der entscheidende Punkt wird hier nicht eigens expliziert: Es geht um die Zusammenführung der tradierten Regeln antiker Rhetorik und der spezifischen grammatikalischen und stilistischen Erfordernisse der deutschen Sprache. „Das macht, die Lehrer der lateinischen Beredsamkeit bekümmerten sich nicht um das Deutsche; diejenigen aber, so sich hier zu Führern aufwarfen, kannten und lasen die Alten nicht. Daher kam es denn, daß das Reich der Beredsamkeit gleichsam aus zwoen entgegen gesetzten Haufen bestund. Die glückliche Vereinigung der alten Regeln und der deutschen Sprache, ist gewiß, was die Redekunst betrifft, (von der Dichtkunst dießmal nicht zu gedenken) erst zu unsern Zeiten, durch die vortrefflichen Exempel des Herrn Abts Mosheim, und die Regeln des Hrn. Prof. Gottscheds, bewerkstelliget worden."99
Die angeführten programmatischen Ausführungen Schwabes in den Proben der Beredsamkeit wurden 1738 veröffentlicht. Stellt man ihnen Rosenbergs Vorrede des ein Jahr zuvor erschienenen ersten Bandes seiner SaurinÜbersetzung gegenüber, wird deutlich, wie der Übersetzer sich exakt entlang den Leitlinien der von Gottsched verfolgten Methodik bewegt hat. Bereits zu Beginn der dreißiger Jahre kritisierte er gegenüber seinem Lehrer den auch in Schlesien noch herrschenden „alten homiletischen Schlendrian"100 und lobte dagegen die homiletischen Leistungen von Mosheim und Romanus Teller.101 1737 dann erläutert er seine Überlegungen auch inhaltlich und methodisch, würdigt aber nicht Gottsched, sondern seinen einstigen Lehrer Johann Christian Schindel als Wegbereiter: „Die besten Regeln sind doch ohne geschickte Exempel ganz todt, und geben ohne derselben Erläuterung schlechten Nutzen. Ja man lernt oft aus einem einzi98 99
Schwabe (Hg.), Proben der Beredsamkeit 1738 (Anm. 7), Vorrede, [a6]. Rezension zu Lucian von Samosata: Auserlesene Schriften ... mit einer Vorrede vom Werthe und Nutzen der Uebersetzungen ans Licht gestellt, von Job. Christoph Gottscheden. Leipzig 1745. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1/4 (l745), S. 352-367,353. 100 Rosenberg an Gottsched, 16. Juni 1731; UBL, 0342 II, Bl. 62-63, 63r. Als negatives Beispiel nennt Rosenberg die Sammlung von Christian Murawe: Schlesische Ehren=Säulen, Welche Durch einige Reden Bey unterschiedenen Gelegenheiten aufzurichten versuchet hat ... Sorau: Gottlob Hebold, 1731. Murawe (f 1745) war Pfarrer in Sagan und Schweidnitz. 101 Konkret bezieht er sich auf Johann Lorenz Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre Jesu Christi. Dritter Theil. Hamburg: Theodor Christoph Felginer, 1731. Romanus Teller: Vier Geistliche Reden, Welche Bey Gelegenheit Eines Göttlichen Beruffs zum Amt im Heiligthume Gottes ... gehalten worden. Merseburg: Georg Christian Forberger und Sohn, 1731. Allerdings moniert Rosenberg, daß Teller „die Ordnung, durch alzu häufige Einstreuung sehr langer Meditationen über Dinge die eigentl. zu seinem Themate nicht gehören, hin u. wieder etwas sehr versteckt u. verdunckelt habe."
Abraham Gottlob Rosenberg
181
gen wohl abgefaßten Exempel viel mehr, als durch unzählige magre Regeln. Ich will nicht erst sagen, daß die Exempel zur Erklärung und besserm Verstande der Regeln unentbehrlich sind. ... Es war daher, im vorbey gehn zu gedenken, ein recht wohl ausgesonnenes Vorhaben, wenn ein gewisser berühmter Professor meines Vaterlandes ehemals jenes nutzbare Werkchen herauszugeben anfing, dem er den Titel, Regeln und Exempel der Beredsamkeit, gab. Es ist aber auch zu beklagen, daß eine so vernünftige und zum gemeinen Nutzen abzielende Arbeit, schon beym ändern Theile hat aufhören sollen."102
Während Rosenberg den zweiten Teil der Predigten ohne weitere Erläuterungen herausgab, schickte er dem dritten Theil eine ausführliche Lebensbeschreibung Saurins voraus und versah den Band mit gründlich erschließenden inhaltlichen sowie Namen- und Sachregistern. Mit dem dritten Teil veränderte sich auch der Gesamttitel; fortan wurde das antiquierte Wort „unterschiedene" (Texte) durch „verschiedene" (Texte) ersetzt, und Rosenberg zeichnete auf dem Titelblatt nicht länger ausschließlich als Übersetzer, sondern ebenso als Herausgeber. Den vierten Band widmete er der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Mit dem fünften Teil, der wiederum mit ausführlichen Registern versehen wurde, endet die Reihe der Predigten, deren Herausgabe Saurin zu Lebzeiten noch selbst beaufsichtigt hatte. Zugleich begann mit diesem Band für Rosenberg eine sehr folgenreiche Auseinandersetzung mit seinem Verleger David Siegert. Wie die Auflagenhöhe zeigt, konnte Siegert mit dem Absatz der Predigten durchaus zufrieden sein. Der Verleger wollte seine Chance zur Profitmaximierung nicht ungenutzt lassen und übte daher erheblichen Druck auf Rosenberg aus, sein Arbeitstempo zu erhöhen. In der Vorerinnerung zum fünften Teil berichtete Rosenberg zudem, daß ein weiterer Verleger dem Buchhändler Siegert gedroht habe, die bereits übersetzten Teile nachzudrucken und die noch ausstehenden von einem anderen Übersetzer bearbeiten zu lassen.103 So erschien bereits ein Jahr darauf der sechste Band. In diesem Jahr nahm Rosenberg — nach zwölfjähriger Unterbrechung — erneut brieflichen Kontakt zu Gottsched auf und versicherte sich mit uneingeschränkter Devotion der Gunst seines einstigen Lehrers, dem dieser sechste Teil gewidmet ist: Die Widmung und der Brief an Gottsched tragen dasselbe Datum (21. März 1746).104 Auch die Bearbeitung des siebten Teils hatte Rosenberg unter der Belastung seiner anstrengenden Amtsgeschäfte zügig vorangetrieben; 1747 bereits erschien der Band, mit dem Rosenberg seine Arbeit an der Saurin-Übersetzung endgültig zu beenden beabsichtigte. Brieflich verriet er einige Jahre später „die wahre Qvelle von dieser Entziehung von meinem Saurin". Über die Methoden des Verlegers 102 Quellenanhang, S. 244. 103 Vgl. Quellenanhang, S. 285. 104 Vgl. Quellenanhang, S. 225-227, 288.
182
MICHAEL SCHLOTT
Siegert äußerte sich Rosenberg gegenüber Gottsched vertrauensvoll: „Sie würden es kaum glauben, wie hoch er seine Unmanirlichkeit gegen mich getrieben. Und hätte ich es länger erdulden können, mich als seinen Lohnknecht von ihm halten, und ihn mit seinen Gesetzen und Drohungen über mich herrschen zu laßen; so würde ich den 8 u. 9 Theil wohl nicht erst in andre Hände haben kommen zu laßen."105 Rosenbergs Verweigerung veranlaßte Siegert, die lukrative Übersetzung weiterer Saurin-Predigten an einen anderen Bearbeiter zu geben: Johann David Müller106 übernahm die Übersetzung des achten und des neunten Bandes,107 während der wohl bekannteste Gottsched-Schüler und einstige Mitstreiter Rosenbergs in der Nachmittäglichen Rednergesellschaft, Johann Joachim Schwabe, mit der Übersetzung des zehnten Teils betraut wurde.108 Für Rosenberg war diese Herausforderung Grund genug, seine bereits für abgeschlossen erklärte Arbeit erneut aufzunehmen und im selben Jahr ebenfalls eine Übersetzung des zehnten Teils vorzulegen.109 Indes sollten die Auseinandersetzungen mit dem überaus geschäftstüchtigen und zielstrebigen Verleger David Siegert andauern. Über den Absatz der Predigten liegen zwar keine Zahlen vor, jedoch verdeutlicht bereits ein flüchtiger Blick auf zeitgenössische Rezensionen die überwiegend positive Aufnahme des Werkes. Bereits vor dem Erscheinen des ersten Bandes waren hohe Erwartungen mit der Übersetzung verknüpft worden. „Des berühmten Jacob Saurins Französischen Predigers in Haag seine Predigten sind gewiß nicht von gemeiner Art, sondern alle voller Gelehrsamkeit, Geist, Stärcke und Schönheit ... Wer aber alle 7. Theile der geistlichen Reden desselben über auserlesene Sprüche heil. Schrifft in der Französischen als seiner Mutter= Sprache, lesen können, wird uns wohl gar gerne Glauben geben, wenn wir bekennen, unter den seinigen wenig gesehen zu haben, die ihm gleich; keinen aber der ihm vorzuziehen wäre. Deswegen Hr. Abraham Gotdob Rosenberg von Räuden, so als Candid. Min. und Hoffmeister der Hochadlichen Jugend von Berg in Niederherrndorff lebet, vielen einen sehr angenehmen Dienst leisten wird, daß er sich über dieselben gemachet, sie in unsre deutsche Sprache zu übersetzen, und im Begrieff stehet den ersten Theil davon auf künfftige Ostern an das Licht zu stellen, als der bereits in Leipzig unter der Presse ist. Er hat schon gezeiget,
105 Vgl. Quellenanhang, S. 227f. 106 Johann David Müller (* 1719) wurde in Schmalkalden als Sohn eines Kaufmanns geboren. In Nürnberg besuchte er die Schule bei der Kirche zum Heiligen Geist, bezog 1738 die Universität Leipzig und legte dort 1742 die Magisterprüfung ab. Im November 1743 wurde er Katechet an St. Petri, hielt am 28. Oktober 1746 seine letzte Predigt und begab sich als Begleiter eines jungen Adeligen auf Reisen. Die ferneren Lebensumstände sind mir unbekannt; vgl. Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten= Lexico. Band 5 (1816), Sp. 85. 107 Vgl. Quellenanhang, S. 293-301. 108 Vgl. Quellenanhang, S. 234. 109 Vgl. Quellenanhang, S. 227-229, 301-308.
Abraham Gottlob Rosenberg
183
daß er beyder Sprachen mächtig, und zu solcher Arbeit nicht ungeschickt sey. Seine gutte Gelehrsamkeit und unermüdete Fleiß heissen auch noch manche nützliche und -wichtigere Arbeit von seinen Händen die gelehrte Welt erwarten. Da wir uns denn freuen werden desto öffter mit vielem Ruhme seiner auch in diesen Blättern künfftig zu gedencken."110
Besonders hervorgehoben wurden die Authentizität und stilistische Reinheit. Die Übersetzung sei „rein, natürlich und der Sachen und Schreib^ Art des Urbildes so gemäß, daß wir genung zu ihrem Lobe zu sagen hoffen, wenn wir bekennen müssen: Leset es jemanden vor, dem ihr nicht saget, daß es eine Übersetzung sey, so wird es ihm keine Übersetzung seyn."111 Druck, Papier und Einrichtung, „alles" sei „gut und wohl, aber das innere Wesen noch viel besser gerathen". Die Vorrede zum dritten Teil liefere eine „gründliche und mit vieler Belesenheit geschriebne Nachricht von der Lebensgeschichte und den sämtlichen Schriften des Hrn. Saurin", und besonders gefielen die sorgfältig erschließenden Register des dritten Bandes, so daß Rosenbergs Übersetzung bereits nach dem Erscheinen des dritten Teils zu einem Standardwerk avancierte. Die Übersetzung sei „so wohl gerathen, daß sie unter die besten unsrer Zeit gehöret". Mit dem dritten Teil meldeten sich indes auch kritische Stimmen, die vor allem Anstoß an den von Rosenberg ausgearbeiten Erläuterungen nahmen. „Die Anmerkungen aber gefallen uns nicht so sehr, ob sie zwar durchgängig eine gründliche Kundschaft in der Gottesgelahrheit verrathen. Es werden darinne manchmal dem Hrn Saurin Meynungen zur Last gelegt, die er wirklich nicht vorträgt, z. e. p. 61. bürdet man ihm auf, daß er glaubte, wie eine blosse aufrichtige Reue ein zulänglicher Grund sey, uns die Erlangung der göttlichen Barmherzigkeit vollkommen gewiß zu machen. Er gedenkt aber in seinem Texte §. IV. ausdrücklich der Zuflucht des bußfertigen Sünders wieder die Verfolgung der göttlichen Gerechtigkeit. Bey dergleichen Übersetzungen thut man so übel nicht, wenn man jeden Religionsverwandten seine Sätze selbst verantworten läßt. Solche Schriften gehören ohnedem nur für Gelehrte und für Leser, die ihre Glaubenslehren gründlich und bündig inne haben die sehen leicht von sich selbst ein, an welchem Orte etwas zu erinnern ist. Sollten aber ja Leute hierzu zu schwach seyn, die sind auch leicht zu schwach, dergleichen Anmerkungen recht zu prüfen. Der beste Rath bey Lesung dieser Predigten ist dieser, daß ein jeder Leser wohl Acht gebe, daß er eines reformirten Gottesgelehrten Arbeit vor sich habe. Und wenn er nicht versteht, was dieses gesagt heißt; so warnen wir ihn, daß er sich dabey nicht zu viel auf seinen geistlichen Dünkel und die itzt übliche freundige Sicherheit einbilde."112
110 Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1735 (Februar), S. 63f. 111 Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens, 1738 (April), S. 140. 112 Neue Fortsetzung der gelehrten Neuigkeiten Schlesiens Auf die Jahre 1741. und 1742. 1741 (März), S. 108-111,111.
184
MICHAEL SCHLOTT
Dennoch: Die vorzügliche Qualität der Übersetzungsarbeit stand nicht zur Diskussion. „Fließend" sei sie und „schön", so daß man es gar nicht gewahr werde, daß es sich um eine Übersetzung handele, „sondern leicht die Dollmetschung für ein schönes Original halten sollte. Was kann man von dem besten Uebersetzer mehr fordern?"113 Auch 1750, anläßlich des von Rosenberg in Konkurrenz zu Schwabes Übersetzung vorgelegten zehnten Teils der Predigten, erinnerte ein Rezensent in Gottscheds Büchersaal an den „großen Beyfall", mit dem „des Hrn. Pastor Rosenbergs Arbeit damals überall aufgenommen worden". „Ueberdem ist es angenehm, zwener beredten Männer Arbeiten gegeneinander zu halten: daher wir glauben, daß viele, die sich auch die Dollmetschung, so im Siegertschen Verlage herausgekommen, bereits angeschafft, dennoch auch diese mit Vergnügen noch dagegen halten werden."114
Gottsched hatte diese Anzeige auf Bitten Rosenbergs in den Büchersaal aufgenommen; die Konkurrenz zwischen seinen beiden Schülern hatte sich damit aufs äußerste zugespitzt, und die Aktivitäten David Siegerts waren schließlich die Ursache dafür, daß diese Situation eskalierte. Siegert hatte sich aus der Hinterlassenschaft des Verlages von Georg Friedrich Heinrich115 des zehnten Teils von Rosenbergs Übersetzung bemächtigt, den Titelbogen Umdrucken lassen, Rosenbergs Namen getilgt und an dessen Stelle setzen lassen: „Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Johann Joachim Schwabe". Damit nicht genug. Um Druckkosten zu sparen, hatte Siegert zugleich Rosenbergs Dedikation und Vorrede stehen lassen: „Haben Sie wohl ie einen Bücherraub von gleicher Art gesehen? Ich habe zwar allerdings geglaubt, daß ich bey den sonst unerträglichen Begegnungen des Buchführern Siegerts, die ich viel Jahre her in aller Stille ertragen, nicht beßer thun könte, als mich in meinen Schrancken halten, weil ich wüste, meine Duldung würde den ungerechten Mann endl. keck machen, einen Schritt zu thun, bey dem ich ihn auf einmahl vor allemahl würde begegnen können. Und meine Ge-
113 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 3/1 (1746), S. 33—45, 45. Die Formulierung verdeutlicht erneut die bei Gottsched und seinen Schülern vorherrschende Auffassung, eine gute Übersetzung sei die gelungene Nachahmung eines vorbildlichen Musters. Über das Mißverhältnis zwischen Übersetzungstheorie und -praxis im sogenannten Gottsched-Kreis vgl. Thomas Huber: Studien zur Theorie des Übersetzens im Zeitalter der deutschen Aufklärung 1730-1770. Meisenheim am Glan 1968, S. 6-16. Zutreffend stellt Huber fest, daß sich das kommerzielle Übersetzen abseits der Übersetzungstheorie vollzog. Vgl. ferner Gerhard Fuchs: Studien zur Übersetzungstheorie und -praxis des Gottsched-Kreises. Versuch einer Wesensbestimmung des nachbarocken Klassizismus. Freiburg im Üchtland 1935. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen „Verdeutschen", „ins Deutsche bringen", Übersetzen" und dem Lutherischen „Dolmetschen" vgl. Huber, Studien zur Theorie des Übersetzens, S. 15. 114 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 10/5 (1750), S. 472f. 115 Vgl. Paisey.S. 101.
Abraham Gottlob Rosenberg
185
dancken haben mich nicht betrogen. Er hat ihn nun gethan diesen Schritt, auf den ich gewartet. Aber welch Erstaunen! Er hat ihn in H. Schwabes Gesellschaft, und unter seinem Nahmen gethan. Und itzo frolockt er noch, und giebt ungescheut vor, ich hätte es mit H. Schwaben zu thun, der hätte es selbst so haben wollen, auch den Bogen mit eigner Hand corrigirt. In der That hat der ungerechte Mann mir durch Einladung des Hn. Schwabens mein Vergeltungsrecht etwas schwer gemacht."110
Seinen brieflichen Ausführungen zufolge ist Rosenberg vollkommen ahnungslos und zunächst unbeteiligt in die außerordendich schwierige Situation geraten. „Gantz verwundernsvoll" sei er gewesen, als er Schwabes Namen auf der Siegertschen Ausgabe des zehnten Teils gelesen habe: „Herr Siegert hätte mich am besten von meiner Arbeit abschrecken können, wenn er mir berichtet hätte, daß er sich der Schwabeschen Feder bediene. Aus Hochachtung gegen dieselbe hätte ich in der That die meinige von dem Wercke wieder abgezogen."117 Schließlich drohte Rosenberg, die Sache vor Gericht zu bringen, nachdem er sich zunächst ergebnislos mit zwei Beschwerdebriefen an Schwabe gewandt hatte. Dieser reagierte indes doch, wenn auch nach einigem Zögern, so daß Rosenberg am 18. Oktober 1753 an Gottsched berichten konnte, wie die diffizile Angelegenheit zu einem annehmbaren Ergebnis gebracht worden war. „Von meinem bisherigen Proceße, wenn ich so sagen mag, mit Herr Siegerten, muß ich soviel melden, daß er endlich zu neuem vernünftigen Ziele zu kommen angefangen, und schier völlig abgethan sey. Herr M. Schwabe beantwortete doch zuletzt noch endlich meinen zweyten Brief, und ich sehe wenigstens aus dem Mantel, den er der Sache umgeben wolte, daß er das gantze Unternehmen mit meinem X. Th. wenigstens im Hertzen, wenn ers schon nicht so deutl. sagen wolte, unter die Dinge zehlen müßen, die beßer unterbleiben, als unternommen werden. Wie er denn wenigstens allen Schein einer vorsetzlichen persönlichen Beleidigung von der Sache abzuwenden bemüht gewesen ist. Vor mich, der ich mehr geneigt bin zu dulden, als zu streiten und wieder zu vergelten, konte das genug seyn. Ich habe hernach selbst mit Herr Siegerten der Sache wegen geredet, und er hat zuletzt sich selber nicht entbrechen können einzusehen, daß er so unweislich eben nicht würde gethan haben, wenn er den gantzen Handel unterlaßen hätte; der ihm im Ende verschiedne Kosten gemacht, deren er nicht bedurft hätte, ohne den Vortheil seines Verlags am Saurin zu vergrößern. Er hat mir versprochen die noch vorhandenen Exemplare vom X. Th. meines Saurin durch Abthuung des falschen Titelbogens wieder in seinen vorigen Stand zu setzen; und ich habe sodenn alle fernere Ahndung völlig aufgegeben."118
116 Vgl. Quellenanhang, S. 229-232. 117 Rosenberg an Gottsched, 26. September 1750; UBL, 0342 XV, Bl. 383-384, 383v. 118 UBL, 0342 XVIII, Bl. 514-515, 514r-v.
186
MICHAEL SCHLOTT
II. Spiritus mundi: das elektrische Feuer „Man nehme einen trockenen Siegellack oder einen Glasstab, welche man seit langer Zeit nicht berührt hat, und bringe diese in die Nähe leichter Körper, z. B. Stückchen Papier, Fasern von Wolle u. s. w., so bleiben diese Körper ruhig liegen. Jetzt reibe man das Siegellack oder Glas mit trockenem Tuche oder Pelzwerk, so bewegen sich jene leichten Körper bei der Annäherung der geriebenen mit Schnelligkeit gegen die letztern und diese zeigen also eine anziehende Kraft, welche von der der Schwere völlig verschieden ist und welche wir mit dem Namen der elektrischen Kraft bezeichnen, weil sie zuerst am Bernsteine wahrgenommen wurde."
Diese 1840 in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste^ unprätentiös und sachlich mitgeteilte Beobachtung hatte gut einhundert Jahre zuvor in den Kreisen der ,Naturkündiger' für erhebliches Interesse und — darauf kommt es im folgenden allerdings an — für eine bemerkenswerte Experimentierfreude gesorgt. Zwar kannte man bereits die Wirkungen elektrischer Ladung, doch die Lehre von der Elektrizität befand sich in einem vorparadigmatischen Stadium, ohne eine umfassende Theorie, also ohne befriedigende Erklärungen der vielfältigen experimentell und instrumentell evozierten Phänomene. Zedlers Universal-Lexicon erklärt in Anlehnung an Julius Bernhard von Rohrs Vernunftlebre, man müsse „bey dem Experimentiren den Muth nicht gleich sincken lassen, ob man gleich nicht allezeit seinen Zweck erreicht. Findet man nicht stets, was man sucht, so findet man doch bey Gelegenheit bisweilen etwas, das einem sonst nützlich und angenehm ist."120 Angesichts solcher Belehrung fällt es nicht schwer, sich die Situation der experimentierenden Elektrizitätsforschung zu Beginn der 1740er Jahre vorzustellen, und es wird darüber hinaus deutlich, warum sich gerade die Geschichte der Erforschung der elektrischen Phänomene schwerlich als lineare Erfolgsgeschichte einer experimentell angeleiteten und planmäßigen Akkumulation physikalischen Wissens beschreiben läßt. Der Artikel „Versuch=Kunst" im UniversalLtxicon unterscheidet denn auch nicht weniger als 24 Regeln, worunter die 19. und die 24. Regel durchaus im Blick auf die empirische Elektrizitätsforschung verfaßt worden sein könnten: „Versuche aus einerley Sache durch unterschiedene Operationen mancherley Würckungen zugleich zu erhalten. Je mehr Würckungen man von einer Sache erkennt, je mehr entdeckt man von ihrem Wesen und von ihrer Natur."
119 J. S. Ersch, J. G. Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Erste Section. A-G. Dreiunddreißigster Theil. Leipzig 1840, S. 139f. 120 Zedler 47 (1746), Sp. 2176-2187, 2177.
Abraham Gottlob Rosenberg
187
„Laß dich nicht verdriessen, die Versuche zu unterschiedenenmahlen zu wiederholen. Die Natur und Kunst erfordern Zeit und Mühe, und wer jählinge Sprünge thun will, kan in ihre Geheimnisse nicht eindringen."
Schließlich wird zur abwägenden Vorsicht gemahnt: Man müsse nicht mehr Kosten anwenden als ein Versuch überhaupt wert sei; man solle sich den Versuchen auch nicht so sehr verschreiben, „daß man alle seine Gemüths Kräffte, um eine gewisse Erfindung mit aller Gewalt zu erzwingen, dran strecken wolte" - und „man muß bey fremden und unbekannten Materien nicht auf eine so verwegene Art experimentiren, daß man oder sein Nächster an seiner Gesundheit hierüber Schaden leide".121 Die Folgen mangelnder Vorsicht waren für die ,Elektrisierer' des 18. Jahrhunderts bisweilen um so gravierender, als der eingangs beschriebene einfache Versuch seit 1743 in vielfältigen Abwandlungen mit Hilfe des neuerfundenen Instruments der Elektrisiermaschine durchgeführt wurde. Treffend hat Hochadel formuliert: „Wenn der Begriff Karriere auch auf Instrumente angewandt werden kann, dann ist die Elektrisiermaschine der Aufsteiger des 18. Jahrhunderts".122 Vereinfacht dargestellt besteht eine Elektrisiermaschine aus drei Teilen: aus einem geriebenen Körper, aus dem sogenannten Reibezeug sowie aus einem Leiter, der die entwickelte Elektrizität aufnimmt. Der Zweck einer Elektrisiermaschine besteht darin, die zur Ladung erforderliche Reibung möglichst bequem und anhaltend vorzunehmen und die entstehende Elektrizität ohne weitere Hindernisse den Leitern mitzuteilen. Der Arzt und Naturforscher Christian Gottlieb Kratzenstein (1723—1795) lieferte 1744 eine sehr plastische und zugleich genaue Beschreibung der „bequemsten Electrifications ^Maschine". „Man lasset sich ein etwas hohes Gestell von 4. starken Pfosten, auf die Art, wie bey uns die Tischgestelle sind, machen. Die 2 vordersten Pfosten müssen etwas länger seyn, und wenigstens 1. Fuß hoch über das Gestelle heraus stehen, damit man von beiden Seiten 2 eiserne Spitzen daran befestigen könne, zwischen welchen die gläserne Kugel, welche an einer Spindel befestiget ist, laufen muß. Es ist sehr zuträglich, wenn die Kugel von etwas dickem Glase ist; indem sie alsdenn eine grössere Menge electrischer Materie von sich geben kan, und also auch die Würkung davon weit stärker ist. Sonsten kan man auch an statt der Kugel ein cylindrisches Glas oder ein Bierglas, an beiden Seiten mit einer hölzernen oder meßingenen Scheibe einfassen, und mit einer Spindel versehen, so wird man solche ebenfalls zu denen electrischen Experimenten gebrauchen können. Doch wird man von denselben niemals eine so starke Würkung erhalten, als von einer gläsernen Kugel; indem die sphärische Figur derselben zu Verstärkung der Electrification beförderlich ist. Es ist bekannt, daß, wenn eine Kugel schnell um ihre 121 Zedler (Anm. 120), Sp. 2185-2187. 122 Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Götringen 2003, S. 73f. Das Verdienst, die erste umfassende Geschichte der Elektrisiermaschine vorgelegt zu haben, gebührt Willem Dirk Hackmann: Electricity from glass: the history of the factional electrical machine 1600—1850. Alphen am Rhein 1978.
188
MICHAEL SCHLOTT Axe gedrehet wird, so bekommen ihre Theile eine Bemühung, sich von dem Mittelpunct weiter weg zu bewegen, oder eine Centrifugalkraft. Folglich muß sich der electrische Wirbel, welcher um die Kugel befindlich ist, von den Polen der Kugel gegen den Aequatorem derselben zu, bewegen und sich daselbst häufen. Dieses aber darf man von einem cylindrischen Glase nicht erwarten, weil die Distanz der Theile auf der Oberfläche desselben von der Axe gleich groß ist. Es wird daher der Wirbel um denselben herum zerstreuet bleiben. Nun ist noch ein Schwungrad nöthig, wodurch die gläserne Kugel schnell um ihre Axe getrieben werden kan. Je grosser und schwerer dieses ist, je weniger Kraft braucht man im Drehen anzuwenden. Dieses wird innerhalb dem Gestelle zwischen 2 Leisten aufgehangen, welche man an einer Seite erhöhen und niederlassen, und vermittelst einer Schraube befestigen kan, um dadurch die Schnur, welche über das Rad und Spindel gehet, mehr oder weniger anzuspannen. Ich muß nicht vergessen zu erinnern, daß die gläserne Kugel eine Oeffnung haben muß, wodurch die innere Luft mit der äussern communiciren kan. Dieses ist darum nothwendig, damit die Feuchtigkeit, welche in der Kugel befindlich ist, dadurch könne herausgetrieben werden, indem dieselbe die Electricität merklich verhindert."123
Die Voraussetzungen für die Entwicklung solcher Generatoren waren im Prinzip bereits durch Otto von Guerickes Versuche mit geladenen Schwefelkugeln geschaffen worden.124 Von Guericke hatte dabei allerdings nicht auf das Phänomen elektrischer Ladung reflektiert und sich folgüch auch semantisch nicht im Begriffsfeld von ,Elektrizität' bewegt. Ihm ging es bekanntlich in erster Linie um die kopernikanisch orientierte Beschreibung und Erklärung des Gravitationseffektes bzw. um die Entdeckung der wirkenden Kräfte, die Erde, Mond, Sonne und andere Planeten zu123 Christian Gottlieb Kratzenstein: Physicalische Briefe. Vierte Auflage. Halle: Carl Hermann Hemmerde, 1772, S. 26-28; der Brief datiert ursprünglich Halle, 7. Oktober 1744 und wurde unverändert wiederabgedruckt. Bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts arbeiteten die ,Elektrisierer' mit unterschiedlichen Typen von Elektrisiermaschinen. Neben der Kugelelektrisiermaschine wurden auch Zylinder-, Scheiben- und Bandelektrisiermaschinen verwendet. Die von Kratzenstein beschriebene Maschine arbeitete ohne Reibekissen, d. h. die Elektrizität mußte durch Anhalten der Hand an die rotierende Kugel .abgenommen' werden. Vermutlich nennt Kratzenstein die Maschine aus dem Grunde „bequem", was im vorliegenden Fall soviel wie .einfach' bedeutet. Erst Johann Heinrich Winkler und der Leipziger Drechslermeister Johann Friedrich Giessing entwickelten eine Elektrisiermaschine, an der das Reibezeug am Gestell fixiert war; vgl. unten (Anm. 160). Einen guten Überblick über die technische Entwicklung der Elektrisiermaschine(n) bis ins ausgehende 18. Jahrhundert vermittelt: Johann Samuel Traugott Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Neu bearbeitet von Brandes, Gmelin, Horner, Muncke und Pfaff. Band 3. Leipzig 1827, S. 413— 473. Vgl. dazu jetzt auch Heiko Weber: Die Elektrisiermaschinen im 18. Jahrhundert. Berlin 2006. Herrn Weber (Universität Jena) sei an dieser Stelle ausdrücklich für die großzügige Überlassung des unveröffentlichten Manuskripts seiner Dissertation gedankt. Vgl. zum Folgenden auch die Abbildungen im Bildanhang, S. 327-333. 124 Einen konzisen und instruktiven Überblick über die Forschungsgeschichte zur „Vis electrica" seit Mitte des 16. Jahrhunderts vermittelt Heinz Otto Sibum: Physik aus ihrer Geschichte verstehen. Entstehung und Entwicklung naturwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsstile in der Elektrizitätsforschung des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1990, S. 119-126.
Abraham Gottlob Rosenberg
189
sammenhalten und die als Ursache dafür angenommen werden müßten, daß Lebewesen auf der rotierenden Erdkugel in stabiler Lage beharren können. Von Guericke kann daher weder als der eigendiche ,Erfinder' der Elektrisiermaschine noch als .Vorläufer' der achtzig Jahre nach seinem Schwefelkugel-Generator allenthalben einsetzenden Experimentierfreude auf dem Feld der Elektrizitätsforschung reklamiert werden.125 Von Guerickes Beobachtungen wurden in der Folge zwar von namhaften Gelehrten wie Leibniz, Locke, Boyle, Hooke und Newton sowohl brieflich als auch im Rahmen wissenschaftlicher Experimente, Vorträge und Publikationen erörtert: In aller Regel werden aber die für die Erforschung der Elektrizität wirklich folgenreichen Entdeckungen von der Wissenschaftshistoriographie auf den Zeitraum zwischen 1729 und 1746 datiert und den vorausliegenden Forschungen der Engländer Francis Hauksbee sen. (ca. 1666-1713) und Stephen Gray (1666-1736), der Franzosen Charles Francois de Cisternai Dufay126 (1698—1739) und Jean-Antoine Nollet127 (1700-1770) sowie des Niederländers128 Pieter van Musschenbroek (1692—1761) zugeschrieben. Darüber hinaus besteht in der Historiographie der Elektrizität bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Konsens darüber, in der Geschichte der Elektrizitätsforschung innerhalb des genannten Zeitraumes eine spezifisch ,deutschec Phase exponiert abzuhandeln,129 die ihr Profil vor allem den Arbeiten von Christian
125 Vgl. Hackmann, Electricity from glass (Anm. 122), S. 20-23. 126 Vgl. Charles Franfois de Cisternai Dufay: Versuche und Abhandlungen von der Electricität derer Cörper, welche Er bey der Königl. Academic derer Wissenschaften zu Paris, in denen Jahren 1733. bis 1737. vorgestellet, und bey denen Versammlungen derselben abgelesen hat, Denen auch zugleich die in der Historic dieser Academic befindliche Einleitungen von dieser Materie, wie auch des berühmten Verfassers Lebens=Beschreibung beygefüget worden. Aus dem Französischen ins Teutsche übersetzt. Erfurt: Johann Friedrich Weber, 1745. 127 Jean-Antoine Nollet: Versuch einer Abhandlung von der Electricität der Cörper. Aus dem Frantzösischen in das Teutsche übersetzt, Und mit einigen Briefen des gelehrten Verfassers Über diese Materie vermehret. Mit Kupfern. Erfurt: Johann Friedrich Weber, 1749. 128 Vgl. dazu auch den umfassenderen Aufsatz von Lissa Roberts: Science Becomes Electric. Dutch Interaction with the Electrical Machine during the Eighteenth Century. In: Isis 90 (1999), S. 680-714. 129 Vgl. Daniel Gralath: Geschichte der Electricität. In: Versuche und Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Dantzig. Band l (1747), S. 175—304. Der Übersetzer von Nollets Abhandlung über die Electricität der Cörper konstatiert: „Ob man nun auch wohl freylich, wenn man unpartheyisch von der gantzen Sache reden will, billig zugestehen muß, daß sich allerdings die Engländischen und Frantzösischen Gelehrten viel eher, als die Teutschen, mit besondern Ernst auf die Erforschung der electrischen Kräfte gelegt und vielen Fleiß darauf gewendet haben; so müssen dennoch auch die Ausländer allerdings so viel einräumen, daß in den letztern Jahren die Electricität in unserm Teutschland ungleich fleißiger sey untersuchet, und die Bemühungen um dieselbe höher getrieben worden, als vorher mit allen in auswärtigen Landen angestelleten Versuchen noch nicht geschehen war." Nollet:
190
MICHAEL SCHLOTT
August Hausen (1693-1743), Georg Matthias Böse (1710-1761), Johann Heinrich Winkler (1703-1770), Ewald Georg von Kleist (1700-1748) und Andreas Gordon130 (1712—1751) verdanke. In seiner materialreichen Studie hat Hochadel beispielhaft dargelegt, welche interaktiven Mechanismen und Prozesse den ,Elektrizitäts-Diskurs' öffentlichkeitswirksam im Spannungsfeld von wissenschaftlich-akademischem Forschungsdrang, Spieltrieb, Amüsement, Sensationslust, Profitstreben, Salonkultur und höfischer Patronage bestimmt haben: Die allmähliche Erforschung der ,Geheimnisse' der Elektrizität ist demnach nicht als eine Folge strategisch zielsicherer Aktivitäten, sondern als Ergebnis schwer kalkulierbarer Synergieeffekte zu verstehen.131 Dennoch lassen sich innerhalb dieser GemenVersuch einer Abhandlung von der Electricität der Cörper (Anm. 127), Vorrede des Übersetzers, S. 4f. 130 Vgl.Anm. 156. 131 Hochadels Arbeit bietet über weite Strecken eine konsequente Fortführung der bereits 1984 von Rudolf Stichweh vorgelegten Studie Zur Entsiedung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Süchwehs grundlegende und wegweisende Arbeit hätte es allerdings verdient, nicht nur in der Funktion eines .Anregers' oder ,Vorarbeiters' („Stichweh etwa") hier und da von Hochadel zitiert zu werden. Wenn Stichweh beispielsweise feststellt, daß die Soziologie der Elektrizität unterbestimmt bleibe, solange man dem Erfolg dieser neuen Wissenschaft nur im Kontext akademischer Institutionen nachgeht, so formuliert er damit — im übrigen exakter, strukturierter und stringenter — den Leitgedanken Hochadels. Es sei daher eine weitere, sehr prägnant und konzis formulierte Beobachtung angeführt, die von Hochadel — freilich unter Herbeiziehung vielfältigen interessanten historischen Quellenmaterials — im Grunde genommen lediglich reproduziert worden ist: „Wie der Naturlehre und Experimentalphilosophie überhaupt stehen auch der Elektrizitätslehre im 18. Jahrhundert zwei funktional äquivalente Nachweisstrategien zur Verfügung, die die innerwissenschaftliche Etablierung der Elektrizität durch außerwissenschaftliche Leistungsangebote abstützen. Die Elektrizitätslehre kann einmal ihren praktischen Nutzen in außerwissenschaftlichen Situationen gesellschaftlichen Handelns glaubhaft machen, und sie kann sich andererseits auf die Eildungs- und Unterhaltungsbedürfnisse eines Oberschichtenpublikums beziehen, das wiederholt im 18. Jahrhundert durch naturwissenschaftliche Themen fasziniert wird. Die Stabilität des Erfolgs der Elektrizität im 18. Jahrhundert hängt mit ihrer legitimationsgünstigen Stellung in bezug auf beide dieser Selbstdarstellungsmöglichkeiten zusammen, und die Elektrizität als Wissenschaft ist teilweise außerordentlich eng mit diesen beiden Kontexten ihrer außerwissenschaftlichen Auswertung verbunden." Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt am Main 1984, S. 266. Des Schauwertes der elektrischen Vorführungen sowie der daraus resultierenden Reputation der ,Elektrisierer' waren sich im übrigen bereits die zeitgenössischen Akteure bewußt. Stellvertretend sei Winkler angeführt, der in einer Dedikation an den sächsischen Kurprinzen und Herzog Friedrich Christian bemerkt: „Eure Königl. Hoheit haben bisher der Universität Leipzig durch auserordentliche Merkmale zu erkennen gegeben, wie angenehm es Deroselben sey, wenn sich die Gelehrten bemühen, die Wissenschaften entweder fortzupflanzen, oder durch Zusätze zu erweitern. ... Ganz Deutschland hat angefangen, dieselbe [Elektrizitätslehre] zu bewundern, nachdem Ew. Königliche Hoheit, nebst Dero Herrn Bruders, des Prinzens Xaverii Königlicher Hoheit, die sonderbaren Wirkungen der Electricität in dem vorigen Jahre auf eine solche Art zu betrachten gnädigst geruhet haben, wodurch eine Sache in eine allgemeine Hochachtung gesetzt wird." Johann Heinrich Winkler: Gedanken von den Eigenschaften,
Abraham Gottlob Rosenberg
191
gelage historische Fakten und Sachverhalte isolieren und zu einer Geschichte verbinden, die den Entstehungskontext für eine von der Wissenschaftshistoriographie bislang kaum wahrgenommene Schrift Rosenbergs plausibilisieren: Versuch einer Erklärung von den Ursachen der Electricität.^2 Inspiriert durch Jean Picards (1620-1682) Entdeckung von Leuchterscheinungen in einem Barometer, stellte der englische Instrumentenbauer und Erfinder Francis Hauksbee sen. zu Beginn des 18. Jahrhunderts experimentell gestützte vakuum-elektrische Untersuchungen an. Zur künstlichen Erzeugung von Licht konstruierte Hauksbee einen Apparat, der mittels eines Schwungrades eine drehbar gelagerte Glaskugel bewegen und dadurch elektrische Ladung generieren konnte. Hauksbee selbst bezeichnete seine Erfindung zwar nicht als Elektrisiermaschine, aber seine mit diesem Apparat erbrachten unterschiedlichen Demonstrationen, daß Glas ein geeignetes Material zur Erzeugung von Elektrizität ist, eröffneten den Weg für die späteren Forschungen von Stephen Gray und Dufay.133 Am 8. April 1730 ließ Gray einen Knaben an seidenen Schnüren frei in der Luft — mithin isoliert — hängen, um die elektrische Leitfähigkeit des menschlichen Körpers unter Beweis zu stellen. Durch die Berührung mit einer geriebenen Glasröhre wurde der Junge elektrisiert und in die Lage versetzt, mit den Händen Schnipsel von Goldpapier anzuziehen. Johann Gabriel Doppelmayr (1677—1750), Verfasser eines populären zeitgenössischen Kompendiums über „Neu=entdeckte Phaenomena" in der Elektrizitätsforschung, faßte die entsprechenden experimentellen Varianten und Beobachtungen zusammen: „Ein in zweyen häärenen, oder vielmehr blau=seidenen, Stricken bey einem horizontalen Stand frey schwebender Knab, oder auch ein erwachsener Mensch, der mit dem Gesicht unterwärts gewendet ist, wird an seiner Stirn, so bald jemand mit dem electrisirten Glasrohr die Fußsolen von jenem berühret oder selbigen nahe kommet, eine electrische Krafft überkommen, welche, von unten auf, die auf einem Glasgestell liegende kleine Objecta in die Höhe bringen und dann wieder zurück treiben wird. Diese Attraction und Repulsion kan auch bey dem hintern Theil des Kopffs, nachdeme der in den Stricken schwebende Knab sich um, und das Gesicht in die Höhe gekehret, bey einer neuen Application des electrisirten Glasrohrs an den Füssen, ebenfalls, wiewohl nicht so starck als zuvor, erfolgen. Hingegen mag von dergleichen Effect sich nichts ereignen, wann man das electrisirte Rohr dem Knaben über den Kopff hält, da alsdann dessen unbequeme Situation zwischen dem Rohr und denen Objectis der electrischen Krafft, wegen dieses Zwischenstandes, gäntzlich verhinderlich ist. Mit einer ändern und weitern Wirkungen und Ursachen der Electricität, nebst einer Beschreibung zwo neuer Electrischen Maschinen. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1744, [a3v] und [a4v]. 132 Anm. 33; vgl. Bildanhang, S. 334. 133 Eine umfassende und detaillierte Darstellung der Forschungen von Hauksbee, Gray und Dufay gibt John Lewis Heilbron: Electricity in the 17th and 18th centuries. A study of early modern physics. Berkeley, Los Angeles, London 1979, S. 229-260.
192
MICHAEL SCHLOTT Würckung zeiget sich die electrische Krafft von denen beeden von einem in Stricken hangenden Knaben ausgestreckten Händen als da auf die eine und zwar blose Hand hin, nach erfolgter Electrisirung der Füße, viele kleine Objecta von denen Goldblädein und auf eine an einem Stab (den er in der ändern Hand hält) angemachte kleine Kugel von Helffenbein etc. wieder eben dergleichen Objecta, die nächst darunter liegen, gehoben und dann zurück getrieben werden. Dieses mag auch mit den Stäben in beeden Händen, und mit dem Gesicht und den Händen zu gleicher Zeit praestirt werden. Auf eine andere Arth kan auch solche Krafft bey einem in zweyen seidenen Stricken auf einer Seiten liegenden Knaben wahrgenommen werden, indeme dieser ein langes dünnes Rohr, das zu äusserst mit einer Kugel versehen ist, gegen die nahe sich dabey befindende Goldblädein hält, welche so bald an das electrisirte Rohr an den Knaben gebracht, sodann auch gleich, auf die Kugel zu sich bewegen werden. Diese electrisirische Krafft kan auch umgewandt ihre Würckungen verrichten, indem die kleine Objecta unter die Füsse des in den Stricken schwebenden Knabens geleget werden, da dann solche, wann man mit dem electrisirten Glasrohr gegen dessen Kopffe kommet, nur einige Bewegung erlangen werden. Dargegen kan keine Würckung bey der vorigen Operation erfolgen, wann das electrisirte Glasrohr über die Füße, unter welchen die kleine Objecta stehen, gehalten wird."134
Für Hochadel markiert dieses Ereignis wissenschaftshistoriographisch die Anfänge der Elektrizität als einer „öffentlichen Wissenschaft",135 in der 134 Johann Gabriel Doppelmayr: Neu=entdeckte Phenomena. Nürnberg 1744, S. 29-31. Doppelmayr merkt dazu an: „Diese Experimenta von denen in Stricken schwebenden Menschen, Thieren und ändern Cörpern geben wohl bey ihrer besondern Stellung zu erkennen, wie solches, da noch niemand vor des Herrn Gray Zeiten auf dergleichen Gedancken gerathen, gantz was neues und besonderes seye, es ist eben dergleichen Stellung, so man obbemeldten Cörpern die electrische Krafft mit einem Effect beyzubringen verlanget, bey jenen in alle Wege erforderlich, immassen sonsten selbige, wenn sie auf dem Fußboden frey stehen, oder auch liegen, solche Krafft ... gleich verliehren und keinen Effect überkommen." Johann Gabriel Doppelmayr (1677—1750), in Nürnberg geboren, studierte seit 1696 in Altdorf Rechtswissenschaft und hörte bei Johann Christoph Sturm (1635-1703) mathematische und physikalische Vorlesungen. In Halle wählte er diese beiden Fächer zu seinem Hauptstudium. 1700 reiste er nach Holland und England, 1704 erhielt er die Professur der Mathematik am Egidiengymnasium in Nürnberg. Doppelmayr wirkte insbesondere als genauer und verläßlicher Berichterstatter über Fortschritte und Entdeckungen in den mathematischen, astronomischen und physikalischen Gebieten. Rosenberg schreibt in seinem Elektrizitäts-Traktat: „Herr Professor Doppelmayer in Nürnberg hat uns durch seine vielfache Mühe die Mühe erspart, das alles mit großen Umschweifen aufzusuchen, was sowohl in der Historic der königlichen Academic der Wissenschaften in Paris, und ihren Memoires, als auch in den Schriften der königlichen Societal in London, wie auch in einzelnen Schriften der Herren Muschenbroek, Hauksbee, Desagulieres, Gravensand u. a. m. zu dieser Sache gehöriges, zu finden ist. Und wenn man seine Neuentdeckte Phaenomena der electrischen Kraft zur Hand hat, so hat man beynahe den vollständigen Auszug alles desjenigen beysammen, was in der Electricität gethan worden, ehe sich die Deutschen mit demj engen Eifer auf diese Versuche gelegt, mit welchem sie denselben nunmehro obliegen." Rosenberg, Versuch einer Erklärung, Vorrede, b5—[bor]. Vgl. auch die Abbildungen im Bildanhang, S. 329f. 135 Vgl. Hochadel, Öffentliche Wissenschaft (Anm. 122), S. 43.
Abraham Gottlob Rosenberg
193
sich seit Beginn der 1740er Jahre insbesondere deutsche bzw. in Deutschland arbeitende Gelehrte profiliert haben. In der grundlegenden Darstellung von Heilbron findet man dazu folgende Einschätzung: „Despite the discoveries of Gray and Dufay there was little general interest in electricity in 1740. Five years later nothing was more fashionable. ,Persons of quality' traveled about to see the electricity of famous professors; the Berlin Academy, in royal session, chose electrical experiments to entertain its guests; ... The origin of this revolution was as peculiar as the event itself. Rather than starting where Hauksbee, Gray and Dufay hat labored, the craze began beyond the Rhine, in a land long barren of electricians."136
„The craze" — die große Mode - kündigte sich in Deutschland allerdings schon einige Jahre früher an. Der Hauksbee-Generator wurde hier sehr wahrscheinlich durch Christian Wolff137 und den Leipziger Instrumentenbauer Jacob Leupold (1674-1727) bekannt.138 Wolff betrachtete den Apparat jedoch als reine ,Lichtmaschine', die er hauptsächlich zu Vorführungszwecken in seinen Lehrveranstaltungen nutzte.139 136 Heilbron, Electricity in the 17th and 18th centuries (Anm. 133), S. 261. 137 Wolffs Beobachtungen zur Elektrizität und zum Hauksbee-Generator finden sich im zehnten Kapitel „Von dem Lichte und den Farben" des zweiten Teils seiner Nützlichen Versuche, vgl. Christian Wolff: Nützliche Versuche, Dadurch Zu genauer Erkäntnis Der Natur und Kunst Der Weg gebähnet wird, Denen Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Anderer Theil. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1722, S. 545-568. 138 Wolff erklärt, sobald er Hauksbees Berichte in den Philosophical Transactions zur Kenntnis genommen hatte, „ließ ich mir den berühmten Mechanicum in Leipzig eine nöthige Machine verfertigen, dadurch ich selbst untersuchen könnte, was es mit diesem Lichte für eine Beschaffenheit habe. Weil nun der Versuch richtig war, wie ihn Hauksbee angegeben hatte; so hat Herr Leupold diese Machine ... verfertiget". Wolff, Nützliche Versuche 2 (Anm. 137), S. 556f. 139 Vgl. Hackmann, Electricity from glass (Anm. 122), S. 47f. Wolffs Nützliche Versuche waren in Deutschland außerordentlich weit verbreitet. So berichtet etwa der Rezensent der Hanovschen Philosophia naturalis sive physica (1762): „Der Freyhr. von Wolf hatte ja schon in dreyen deutschen Octavbänden Experimente genug geliefert, die in Deutschland in jedermanns Händen sind." Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, 1761 (Nr. 11), S. 823. - Wolff sah allerdings in den elektrischen Erscheinungen, wie sie in den 1720er Jahren in Deutschland bekannt waren, keinen Gegenstand, der besonderer Betrachtung wert gewesen wäre. Die mit den elektrischen Versuchen häufig verbundene Annahme einer den Körpern eigentümlichen Gravitation begriff Wolff als Rückschritt in scholastische Denkformen. An den späteren Historiographen der Elektrizitätsforschung, den Danziger Gerichtsherrn Daniel Gralath (1708—1767), schrieb er: „Nachdem man in England die attractionem universalem einführen wollen, so hat man auch angefangen, die experimenta de electricitate vor die Hand zunehmen. Da ich nun von derselben eben kein Freund bin, so habe zu der Zeit, da ich die Experimente geschrieben, auch nicht darauf Acht gehabt, indem ich von den wenigen, welche dazumal vorhanden waren, keinen besonderen Nutzen zu zeigen wußte"; vgl. Hans Schimank: Geschichte der Elektrisiermaschine bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für technische Physik 16 (1935), Nr. 9, S. 245-254, 247. Über die allenthalben in der Gelehrtenwelt des beginnenden 18. Jahrhunderts zu konstatierende Vorsicht und Skepsis in bezug auf Spekulationen zu den Wirkungsmechanismen elektrischer Anziehung vgl. auch Gad Freudenthal: Die elektrische Anziehung im 17.
194
MICHAEL SCHLOTT
Auch Johann Jacob Schilling, Philosophie- und Mathematikprofessor in Duisburg, war mit dem Apparat zur Erzeugung elektrostatischer Ladung bereits bestens vertraut.140 Seine Untersuchungen inspirierten den Leipziger Kaufmannssohn Georg Matthias Böse, seit 1738 Professor der Naturlehre in Wittenberg, zu umfassenden experimentell gestützten Elektrizitätsforschungen.141 Die hohe Akzeptanz des Experiments in der Physik des 18. Jahrhunderts war nicht zum mindesten auf die zunehmende Skepsis gegenüber ausschließlich rationalistischen Naturentwürfen zurückzuführen. So zielte die erste Bedingung im Anforderungsprofil für die Besetzung der Professur der Naturlehre in Wittenberg auf die grundlegende Fähigkeit zur Explikation der Prinzipien der Physik: „Fertigkeit im Experimentieren", und als Böse den Ruf erhielt, bezog er eigens für Instrumente und Experimentalvorlesungen jährlich eine Besoldungszulage in Höhe von 50 Talern.142 Zwischen 1738 und 1745 gehörte Böse, der sich vor allem an den Schriften und Experimenten von Dufay orientiert und gebildet hatte, zu den erfolgreichsten Förderern der Elektrizitäts-Gelehrsamkeit. Gleichzeitig aber erhöhte er das Attraktionspotential der öffentlichen ,elektrischen' Vorführungen durch den Einsatz des HauksbeeGenerators: „With the new power at his disposal he created novel demonstrations, some edifying, some amusing, and all calculated to draw attention to himself and to electricity."143 Die zeitgenössische Popularität der Elektrisiermaschine wird sehr deutlich, wenn man sich zwei der spektakulärsten Vorführungen Böses vergegenwärtigt: den elektrischen Kuß und die sogenannte Beatifikation. Wenn Böse eine Gesellschaft gab, positionierte er eine isoliert stehende Dame, die mit einer im Nebenraum befindlichen Elektrisiermaschine verbunden war und sich für einen Begrüssungskuß bereithielt. Der Schlag der Venus electrificata konnte durchaus ungeschickte Reaktionen und in deren Folge sogar den Verlust von Zähnen verursachen.144 Die Beatifikation dagegen, die Erzeugung eines elektrischen ,Heiligenscheins', sorgte völlig schmerzfrei für ein mysteriös-
140
141
142 143 144
Jahrhundert zwischen korpuskularer und alchemischer Deutung. In: Christoph Meinel (Hg.): Die Alchemic in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 1986,5.315-326. Vgl. Johann Jacob Schilling: Observationes & experimenta de vi electrica vitri aliorumque corporum. In: Miscellanea Berolinensia ad incrementum scientiarum 4 (1734), S. 334-343 und 5 (1737), S. 109-112; 4, S. 340f. Vgl. George Mathias Böse: Tentamina electrica in Academiis Regiis Londinensi et Parisina primum habita omni studio repetita quae novis aliquot accessionibus locupletavit. Wittenberg: Johann Joachim Ahlfeldt, 1744, S. 47 (De electricitate commentarius II). Vgl. Heinz Käthe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät 1502-1817. Köln; Weimar; Wien 2002, S. 336f. Heilbron, Electricity in the 17th and 18th centuries (Anm. 133), S. 267. Vgl. George Mathias Böse: Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang Mit Poetischer Feder entworffen. Wittenberg: Johann Joachim Ahlfeldt, 1744, S. XXIXf.
Abraham Gottlob Rosenberg
195
sublimes Ambiente. Auch bei dieser Vorführung stand die ,Versuchsperson' mit einer Elektrisiermaschine in Verbindung. Auf ein verabredetes Zeichen, etwa nach Anrufung des Himmels, verdunkelte sich das Zimmer, und die Anwesenden erblickten die Person wie von einem Elmsfeuer umgeben in erstrahlter Kontur. Eine von Böse vorgenommene Weiterentwicklung der Hauksbee-Maschine gestaltete seine Vorführungen um so effektvoller. Böse wußte, daß ein Mensch auf einer isolierenden Unterlage elektrisiert werden kann und fügte der Elektrisiermaschine daher den sogenannten Konduktor hinzu. Als solcher fungierte zunächst der Tubus eines Fernrohres, später eine einfache Weißblechröhre, die ein auf einem Isolierschemel stehender Mann waagerecht mit einem Ende über die Glaskugel halten mußte. Hanfschnüre, die an der Röhre befestigt waren und die Kugel streiften, überführten die Ladung der Kugel auf die Röhre. Schließlich verzichtete Böse gänzlich auf den menschlichen Assistenten und ließ die Röhre an seidenen Fäden aufhängen. Das war gewissermaßen Grays Knabe in Blech. Die Röhre, der „Conductor", war die erste Vorrichtung, elektrische Ladung zu speichern, bevor der Kondensator erfunden wurde. Der „Conductor" gab stärkere Funken als die Kugel allein; elektrische Schläge konnten intensiviert werden, elektrische Ladung konnte auf diese Weise bei Bedarf aber auch verringert werden. Die Verdienste Böses um die Elektrizitätsforschung waren in der Mitte des 18. Jahrhunderts weithin bekannt und unbestritten. Rosenberg würdigt ihn in seiner Elektrizitätsschrift daher ausführlich: „Man kann mit Rechte sagen, daß dieser gelehrte Mann einer von den ersten in Deutschland sey, welcher sich an die electrischen Versuche gemacht, die bisher nur noch fast allein in Paris und London waren getrieben worden. Die erste Schrift von denjenigen, so in seinen Tentaminibus Electris stehen, die 1744 in 4 in Wittenberg herauskommen, ist schon 1738 von ihm aufgesetzt worden. Und es erhellet aus derselben, daß er allbereits einige Jahre vorher in Leipzig damit umgegangen, die electrischen Versuche seinen Zuhörern in seinem damaligen Collegio Physico zu zeigen. Wenn man seine gedachten Tentamina Electrica lieset; so muß man sagen, daß er sich gleichsam von allen ändern, die in diesen Versuchen gearbeitet haben, dadurch unterscheide, daß er die Stärke der Electricität aufs höchste getrieben. Denn er will uns versichern, er könne einen Menschen so stark electrisiren, daß er, wo ja nicht über und über, doch wenigstens um die Füsse mit einem solchen Glänze umgeben werde, als wie man etwa um die Häupter der Heiligen zu mahlen pflege."145
Doch auch die Leistungen der anderen führenden deutschen Elektrizitätsforscher werden von Rosenberg herangezogen, um den Hintergrund zu skizzieren, vor dem seine eigenen Untersuchungen ihre Rechtfertigung 145 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, bll-c. Eine genaue Beschreibung seines Konduktors gibt Böse in seinen Tentamina electrica (Anm. 141), S. 51—66.
196
MICHAEL SCHLOTT
finden sollen. Rosenberg orientiert sich dabei zunächst an Doppelmayr, nennt dann aber recht bald unter denjenigen Schriften, „aus denen man die ganze Sache der Electricität kann kennen lernen",146 eine Schrift seines ehemaligen Leipziger Lehrers Christian August Hausen: Novi profectus in historia electriätatis.lA1 Hausen war aus Dresden gebürtig, studierte in Wittenberg, wurde 1714 Professor extraordinarius und 1726 ordentlicher Professor der Mathematik in Leipzig. Auf Studienreisen, die ihn nach Paris und London führten, hatte er an zahlreichen elektrischen Vorführungen teilgenommen und seine Beobachtungen und Erfahrungen in einem eigenen Experimentalkolleg148 zur Elektrizität mitgeteilt. Hausen galt als Gelehrter von Weltrang; auf seinen Reisen nach Frankreich und England hatte er persönliche Kontakte etwa zu Fontenelle, Halley, Desaguliers, Clarke und Newton aufgenommen. Sein Leipziger Haus, Schauplatz elektrischer Experimente und Vorführungen, wurde daher nicht nur von zahlreichen Studenten, sondern ebenso — insbesondere zu den Meßzeiten — von schaulustigen Dilettanten aufgesucht. Die spektakulärste unter diesen Vorführungen war zweifellos die von Hausen zu neuerlicher Attraktion gebrachte Elektrisierung eines Knaben nach dem Vorgang von Stephen Gray. Eine bildliche Darstellung dieses Versuchs ist in den Novi profectus enthalten.149 Am 31. Mai 1746 dankte Rosenberg seinem Lehrer Gottsched brieflich für die Herausgabe der Novi profectus^0 und in der Vorrede zu seinem Elektrizitätstraktat erklärte er unter Bezug auf den zweiten, theoretischen Teil der Schrift: „Der andere Abschnitt bestehet aus lauter Sätzen, die aus den vorigen Versuchen gezogen, und gleichsam Grundlagen sind, auf welche der sei. Hr. Prof. Hausen vielleicht mit der Zeit ein völliges Systema der Electricität würde gebauet haben, wenn ihn nicht sein früher Tod allen diesen Bemühungen entzogen hätte. Wer
146 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorrede, [b4vj. 147 Christian August Hausen: Novi profectus in historia electricitatis. Leipzig: Theodor Schwan, 1743. Die Schrift wurde posthum von Gottsched herausgegeben, der sie mit einem Bericht über Hausens Leben und Schriften versah: Commentatio de vita et scriptis auctoris, S. I—XII; vgl. die Abbildung im Bildanhang, S. 332. 148 Vgl. Hochadel, Öffentliche Wissenschaft (Anm. 122), S. 53f. 149 Vgl. Gottsched, Commentatio de vita et scriptis auctoris (Anm. 147), S. VII sowie die Abbildung im Bildanhang, S. 331. Schimank erläutert die Hausensche Versuchsanordnung: „Sie besteht ... aus einer mittels eines Schnurlaufes mit hoher Übersetzungszahl angetriebenen Glaskugel ( ), die durch Anpressen der trockenen Hand des Experimentators elektrisch erregt wird. Den Hauptleiter oder Kollektor bilden Knaben, die nach dem Grayschen Vorbilde entweder in einer Art Schaukel hängen (Q oder auf einem mit Pech gefüllten Halbfaß als Isoliertritt stehen (D)." Hans Schimank: Geschichte der Elektrisiermaschine bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für technische Physik 16 (1935), S. 245-254, 248. 150 UBL, 0342 XI, Bl. 196-197.
Abraham Gottlob Rosenberg
197
die tiefe Art zu denken kennet, die diesem berühmten Manne ganz eigen war, der wird leicht glauben, daß auch diese Schrift unter den electrischen Schriften vor allem lesenwürdig sey. Man ist daher den Bemühungen des weltberühmten Herrn Professor Gottschedes vielen Dank schuldig, daß er diese hinterlassene Hausensche Schrift durch seine Vorsorge ans Licht bringen wollen."151
In der Forschung differieren die Angaben darüber, ob der Hauksbee-Generator in Deutschland zuerst von Hausen oder von Böse für elektrische Experimente zum Einsatz gebracht worden sei. Hackman und Heilbron führen in ihren umsichtigen Prüfungen des Quellenmaterials mit guten Gründen Böse als Vorreiter an,152 wie denn auch Böse in seinen Schriften dieses Verdienst wiederholt für sich selbst in Anspruch nahm,153 während Hausen diesen Anspruch offenbar nie formuliert hat.154 Böse dagegen dichtete beispielsweise 1744: „Gepriesener Du Fay, so schön gingst Du mir für,/Das rühm ich öffentlich. Ich folgte gleich nach Dir./ Die Wahrheit redt vor mich. So darf ich das wohl setzen./ Sie sieget endlich doch. Wer wolte sie verletzen?/ Dein Angedencken soll niemahls bey mir vergehn./ Auch werd ich deinen Ruhm, so lang ich leb, erhöhn./ Nur alles was Du thatst, tha[t]st Du mit hohlen Röhren,/ Die gut, wenn sie nur nicht so sehr beschwerlich wären./ Ich nahm zu allererst mit viel Bequemlichkeit/ Des Haucksbejs Kugel an, wodurch in wenig Zeit,/ Was sonst das Rohr mit Müh, nicht lang, auch schwach gezeiget,/ Unendlich stärcker wird, ja alles übersteiget.155
151 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorrede, b5. 152 Vgl. Hackmann, Electricity from glass (Anm. 122), S. 67-73; Heilbron, Electricity in the 17th and 18th centuries (Anm. 133), S. 270f. 153 Vgl. Schimank, Geschichte der Elektrisiermaschine (Anm. 139), S. 248. 154 Hausen wurde durch einen Zuhörer namens Litzendorf darauf aufmerksam gemacht, daß es bequemer sei, statt die zu elektrisierende Glasröhre mit der einen Hand an der anderen zu reiben, eine Glaskugel auf einer Achse zu befestigen und diese durch eine Kurbel zu drehen. Hausen beschrieb die neue Maschine zum Elektrisieren von Glas in seinen Novi profectuf, vgl. Ferdinand Rosenberger: Die Geschichte der Physik in Grundzügen. Zweiter Theil. Braunschweig 1884, S. 305. Ernst Gottlieb Litzkendorf aus Leipzig, immatrikuliert am 29. März 1738, Magister im Februar 1743, war Mitglied in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft, vgl. Leipzig Matrikel, S. 242; Hille, Neue Proben (Anm. 7). 155 Böse, Die Electricität nach ihrer Entdeckung und Fortgang (Anm. 144), S. XXIIIf. Böse erntete manchen kritischen Hinweis für seine Versuche, die Elektrizität poetisch zu behandeln. So urteilte etwa ein anonymer Rezensent: „Die Electricität ist, meines Erachtens, kein beqvemer Vorwurf für die Dichtkunst. Sie bestehet, wie man weiß, in einer blossen Sammlung verschiedener physischen Versuche, deren Beschreibung eine genaue Wahrheit, und eine sorgfältige Bemerkung aller, auch der kleinsten, Umstände erfordert, und wird sich also in die Verzierungen der Dichtkunst schwerlich zu schicken wissen." Vgl. Altonaische Gelehrte Zeitungen, 1745 (Nr. 13 vom 15. Februar), S. 99f. Am 1. Dezember 1744 berichtete Gottsched dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft in Königsberg, Cölestin Christian Flottwell: „Hier giebt das electrische Wesen viel zu lachen, seitdem Prof. Böse in Wittenberg sich drein gemenget hat. Ich lege seine poetische Beschreibung bey, die gewiß lustig ist"; vgl. Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 30), S. 190. Am 19. Januar 1745 antwortete Flottwell, er habe Böses Gedicht der Gesellschaft „nicht ohne lachen"
198
MICHAEL SCHLOTT
Zur Deutschen' Phase in der Geschichte der Elektrizität muß auch Andreas Gordon (1712—1751) gerechnet werden, der nicht in Leipzig, sondern in Erfurt wirkte. Er entstammte dem herzoglichen Haus Gordon in Schottland, kam 1724 zum Studium nach Regensburg, nachdem er im Donaukloster Kelheim Deutsch gelernt hatte. Nach einer ausgedehnten Reise durch Italien und Frankreich kehrte er nach Regensburg zurück, trat in das Schottenkloster ein, wurde Priester und widmete sich dem Studium der Physik. 1737 wurde er Professor der Philosophie in Erfurt.156 Forschungen zur Elektrizität machten ihn in ganz Europa bekannt, vornehmlich seine Erfindung einer Reibungselektrisiermaschine, bei der ein waagerecht in einem Holzgestell fixierter Glaszylinder statt einer Glaskugel elektrisiert wurde. Der Zylinder wurde durch ein Schwungrad in Bewegung gehalten, und durch die Berührung mit dem darunter montierten Reibezeug entstand Elektrizität. Mit dieser Maschine zeigte Gordon publikumswirksame Experimente, wie die beliebte Elektrisierung einer Menschenkette. vorgelesen; vgl. Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 30), S. 200. Flottwell hatte in Leipzig eine Elektrisiermaschine für Georg Leonhard Nordhof, ein ehemaliges Mitglied der Nachmittäglichen Rednergesellschaft, bauen und durch Gottscheds Vermittlung nach Königsberg schicken lassen. Am 31. August 1744 berichtete Flottwell über erste elektrische Versuche, die er gemeinsam mit Nordhof anstellte. Zur theoretischen Unterweisung wünschte er sich indes nicht die Schriften von Böse, sondern diejenigen von Doppelmayr und Winkler. „Eben gestern haben wir einige Proben mit der elektrischen Machine vor uns gemacht, u. mit den Goldblättern u. fadens Seide ist es uns gut gelungen; weiter aber noch nicht. Doppelmayer hier zu erhalten ist nicht mögl. ich bin begierig, den sambt Winkler auf meine Kosten aus Leipzig zu Kriegen. HE. Northof ist mit mir auf den Gedanken gekommen, daß um die Wärme des Glases per affrictionem zu befördern, das lederne Pulpelchen [Reibekissen] breiter, neu ausgestopft u. wohl gar mit rauchled[er] beschlagen werden soll. Wir sind in dem Begrif die Probe zu machen, u. ich werde davon nähere Nachricht zu ertheilen die Ehre haben." Krause, Gottsched und Flottwell (Anm. 30), S. 176f. Als Böse später von Vertretern der theologischen Orthodoxie in Wittenberg attackiert wurde, weil er Papst Benedikt XIV. einige seiner gedruckten Schriften geschickt hatte, ergriff Gottsched für ihn Partei; vgl. Böse an Gottsched, 19. Oktober 1749; UBL, 0342 XIV, Bl. 331-332; Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Band l. 2., veränderte Auflage Berlin 1899, S. 228. 156 Andreas Gordon wurde in Cofforach in Schottland geboren und auf den Namen Georg getauft. Die politische Lage in England und Schottland versperrte den katholischen Schotten den Zugang zu höheren Studien und Ämtern, so daß Gordon im Alter von zwölf Jahren ins Schottenseminar nach Regensburg ging. 1732 trat er ins Noviziat ein und erhielt den Ordensnamen Andreas. Gordon wurde später ein entschiedener Gegner der scholastischen Philosophie; vgl. Mark Dilworth: Two Necrologies of Scottish Benedictine Abbeys in Germany. In: The Innes Review 9 (1958), S. 173-203,188. Ludwig Hammermayer: Aufklärung im katholischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Werk und Wirken von Andreas Gordon OSB (1712-1751), Professor der Philosophie an der Universität Erfurt. In: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 4 (1975), S. 52-109. Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Teil IV. Die Barock- und Aufklärungszeit von 1633 bis zum Untergang 1816. 2., überarb. Auflage Leipzig 1989, S.65-70,108-119. Vgl. Bildanhang, S. 333.
Abraham Gottlob Rosenberg
199
Rosenberg würdigt Gordons Erfindungen, macht beispielsweise darauf aufmerksam, wie man an Gordons Versuchen deutlich erkenne, daß sich „die electrische Kraft auch zum Nutzen der Hydraulik" werde anwenden lassen, kritisiert aber Gordons unwissenschaftliche Polemik157 gegen Jacob Siegismund Waitz (1698-1776), den Verfasser der Berliner Preisschrift über die Ursachen der Elektrizität.158 Folgenreich für die weitere Entwicklung der elektrischen Experimente wurde zudem die nähere Bekanntschaft zwischen Christian August Hausen und Johann Heinrich Winkler, dem vermutlich populärsten Vertreter der deutschen Elektrizitätsforschung zwischen etwa 1745 und 1750.159 1742 erhielt Winkler Zutritt zur sonntäglichen Tischgesellschaft des Grafen Ernst Christoph von Manteuffel (1676—1749), dem bekannten Förderer und Mäzen der Wissenschaften und der Philosophie. Zu den engsten Vertrauten des Grafen gehörten das Ehepaar Gottsched und der Mathematikprofessor Hausen, der auch den gräflichen Salon mit elektrischen Vorführungen belustigte. Durch Hausen machte Winkler Bekanntschaft mit der Elektrisiermaschine. Zwei Jahre später gelang es dem Arzt Christian Friedrich Ludolf (1701-1763), Spiritus in einem geerdeten Löffel mit dem Konduktor der Elektrisiermaschine zu entzünden, und Winkler nahm sich vor, diesen Versuch unter Einsatz eines neuen Typus von Elektrisiermaschine160 in Leipzig zu wiederholen. Am Tag des Experimentes (14. 157 Phaenomena electricitatis exposita ab Andrea Gordon, Ordinem S. Benedict! Ratisbonae ad Scotos Professo, et in Academia Erfordiensi Philosophiae Professore Pvblico. Erfurt: Johann Heinrich Nonne, 1744. Am Schluß der Vorrede (S. 7) führt Gordon über seine Motivation zur Verfertigung der Phaenomena electntitatis aus: „Conveni desuper bibliopolam hujatem, qui hoc in se suscepit negotium [der Verlag Nonne in Erfurt], ea tarnen lege, ut praefationem opusculo przmitterem de Berlolinensi praemio. Hujus igitur, ut satisfacerem desiderio, quz legis, scripsi." Rosenberg kontert: „Wenn es ja erlaubt wäre, in Dingen, wo man nur die Wahrheit lieben soll, jemand zu gefallen zu reden; so hätte man wohl vermuthen sollen, der in der Electricität selbst so wohl erfahrne Herr Verfasser würde ehe einer so ansehnlichen ganzen gelehrten Gesellschaft [der Berliner Sozietät der Wissenschaften], als bloß seinem Verleger zu Gefallen geredet haben"; Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorrede, S. [b7v]. 158 Vgl.Anm. 182. 159 Ein umfassende Monographie über Winkler fehlt weiterhin. Grundlegend ist der auf Winklers eigenen Angaben fußende biographische Abriß in Zedler 57 (l 748), Sp. 557—576. Über Winkler als Vertreter des Leipziger Wolffianismus vgl. Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' (Anm. 15), S. 97f. und 129-131. Abwegig und voller Mißverständnisse, die möglicherweise der Übersetzung ins Deutsche geschuldet sind, ist der Aufsatz von Myles W. Jackson: „Elektrisierte" Theologie. Johann Heinrich Winkler und die Elektrizität in Leipzig in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Ulrich Leisinger, Christoph Wolff (Hg.): Musik, Kunst und Wissenschaft im Zeitalter Johann Sebastian Bachs. Hildesheim u. a. 2005, S. 51-65. 160 Bei herkömmlichen Elektrisiermaschinen diente die Hand als Reibungsmedium, bis der Leipziger Drechslermeister Johann Friedrich Giessing die Idee hatte, den Körper, an dem das Glas gerieben werden mußte, an der Maschine selbst zu befestigen. Als Antriebssystem
200
MICHAEL SCHLOTT
Mai 1744) erschien sogar Christian Wolff in Leipzig, der die elektrischen Experimente bis dahin mit einiger Skepsis verfolgt hatte.161 Winklers Erfolg war durchschlagend. Nicht nur dieses Experiment gelang, sondern auch der folgende, auf Anregung eines Zuschauers durchgeführte Versuch: „So wurde hierdurch jemand in der Gesellschaft veranlasset, zu fragen, ob auch die Funken eines electrisirten Menschen dergleichen thun würden? Ich trat daher sogleich auf ein mit blauseidenen Schnüren überspanntes Viereck, und griff mit der einen Hand an die rostriche Röhre, und hielt die Finger der anderen über die Quintam Essentiam. Die Funken des Fingers schlugen so stark in den silbernen Löffel, daß die Essentia den Augenblick in eine Flamme gerieth. Je unvermutheter diese Begebenheit war, desto mehr Verwunderung und Vergnügen verursachte sie der ganzen Gesellschaft."162
In Anbetracht dieses Experimentes ließ nun auch Wolff sich mit einer Winklerschen Elektrisiermaschine ausstatten. Durch Vermittlung des Grafen Manteuffel erhielt Winkler zahlreiche weitere Aufträge zum Bau von Elektrisiermaschinen. Die Popularität der Winklerschen Versuche bewirkte schließlich, daß Elektrisiermaschinen nicht länger als seltene und ,curieuse Inventionen' angesehen wurden, sondern zum selbstverständlichen Inventar privater physikalischer Kabinette gehörten.163 Schließlich muß im Rahmen einer historischen Kontextuierung von Rosenbergs Elektrizitätsschrift auf den sogenannten Leidener Versuch eingegangen werden. Winkler berichtet darüber: „Die Electricität hat sich in gegenwärtigem Jahre [1746], durch eine unvermuthete Wirkung, eine neue und allgemeine Aufmerksamkeit zuwege gebracht. Man war in den Gedanken, als wenn man vielleicht im Electrisiren weiter nichts, als einige Veränderungen mit dem Anziehen und Zurückstossen und den zündenden Funken entdecken würde. Aber ehe man es sich versähe: so ward eine Begebenheit bekannt gemacht, welche vielen unglaublich vorkam. Kurz vor Ostern las man in den öffentlichen Zeitungen, daß der berühmte Naturforscher und Professor der ExperimentalPhysic zu Leyden, Herr Petrus von Mussenbrök von einem electrischen Funken so heftig wäre gerühret worden, daß er den Stoß mit der Kraft des Donners verglichen. Man erstaunte darüber. Man konnte nicht begreifen, wie ein electrischer Funken dergleichen Gewalt haben sollte, da die Umstände, unter welchen der Versuch beschrieben ward, geringe zu seyn schienen: in-
benutzte er den bereits seit längerem bekannten Fußantrieb für Drechselbänke; vgl. Anm. 123. 161 Vgl. Anm. 139. 162 Johann Heinrich Winkler: Gedanken von den Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen der Electricität (Anm. 131), S. 58. 163 Ausfürlich berichtet Winkler darüber in der Vorrede zu seinen Gedanken von den Eigenschaften ... der Eledricität (Anm. 131).
Abraham Gottlob Rosenberg
201
dem nur ein Draht in einer Flasche Wasser, die eine Person in Händen hat, electrisiret wird."164
Winkler bezieht sich auf die Erfindung des elektrischen Kondensators, den man damals gewöhnlich „Leydener Flasche" nannte. Um das innovative Potential dieser Erfindung — oder besser ,Entdeckung' — für die Elektrizitätsforschung zu ermessen, müssen wenigstens knapp die zeitgenössischen technischen Möglichkeiten von Elektrisiermaschinen vergegenwärtigt werden. Jede Elektrisiermaschine hatte eine ihr eigene Ladungsgrenze, auch wenn sie über einen Leiter von noch so großer Kapazität verfügte. Durch eine Vergrößerung der Oberfläche ließ sich zwar die Kapazität vergrößern, doch hätten dann die Apparate ein solches Volumen eingenommen, daß nur wenige Experimentatoren den dazu erforderlichen Raum zur Verfügung gehabt hätten. 1745 bereits erkannte Georg Ewald von Kleist165 das Prinzip des elektrischen Kondensators, der daher auch anfänglich „Kleistsche Flasche" genannt wurde.166 Er hatte beim Experimentieren einen Nagel in ein mit Alkohol gefülltes Glas gesteckt und ihn an seiner Maschine elektrisiert. Während er das Glas mit der einen Hand hielt, wollte er den Nagel mit der anderen Hand wieder herausziehen, und erhielt dabei einen überaus heftigen Schlag. Obwohl Kleist diese Entdeckung mehreren deutschen Gelehrten mitteilte, wurde in der Folge nicht er, sondern Musschenbroek als Erfinder des Kondensators angesehen. Dessen Anteil wiederum bestand im Grunde genommen darin, daß er bei seinen Experimenten die mit Wasser gefüllten Gläser stets korrekt isoliert hatte, wie es die Untersuchungen des Franzosen Dufay vorschrieben. Musschenbroeks Freund indes, der Kaufmann Andreas Cunaeus, wollte es dem Forscher ohne Anleitung gleichtun, verzichtete auf die Isolierung und generierte auf diese Weise ein kolossales Fulmen, so daß die Entdeckung der ,Leydener Flasche' also letztlich auf die beherzt-planlosen Experimente zweier Dilettanten zurückgeht. Die Experimente mit der Flasche evozierten verständlicherweise einen intensivierten Publikumsbezug der elektrischen Versuche, vornehmlich durch die Aktivitäten Johann Heinrich Winklers, der nach Hausens Tod dessen gesamtes elektrisches Inventar übernommen und nach weiteren zwei Wochen bereits alles, was 164 Johann Heinrich Winkler: Die Stärke der Electrischen Kraft des Wassers in gläsernen Gefäßen, welche durch den Musschenbrökischen Versuch bekannt geworden. Leipzig; Bernhard Christoph Breitkopf, 1746, Vorrede, S. *6—*6v. 165 Von Kleist studierte in Leiden, war von 1722 bis 1747 Domdechant in Kammin in Pommern, später Präsident des Königlichen Hofgerichtes in Köslin. 1746 wurde er Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. 166 Der Versuch erregte viel Aufsehen, und Nollet, der darüber berichtete, verfügte nur über die Informationen Musschenbroeks aus Leiden, daher nannte er das Experiment Leidener Versuch und die als Kondensator fungierende Flasche die Leidener Flasche; vgl. Nollet, Versuch einer Abhandlung von der Electricität der Cörper (Anm. 127), S. 162.
202
MICHAEL SCHLOTT
bis dahin an elektrischen Experimenten bekannt war, durchprobiert hatte. Inspiriert durch das Leidener Experiment, stellte Winkler unermüdlich und unter größtem Erfindungsreichtum variierende Versuche an. Er verwendete überdurchschnittlich große Flaschen mit derart intensiver Ladung, daß er die Wirkungen des elektrischen Schlages mehrere Tage hindurch spürte. Er fühlte sich stark angegriffen, litt an Nasenbluten und heftigen Gelenkschmerzen, die ihn acht Tage lang am Schreiben hinderten. Auch seine Frau, die er an den Versuchen beteiligte, mußte anschließend mehrere Tage im Bett zubringen. Um diese heftigen Endadungen zu vermeiden, stellte Winkler seine Flaschen schließlich auf eine Metallplatte und legte eine Kette darum, an deren einem Ende sich ein Knauf befand. Brachte er den Knauf in die Nähe der aus den Flaschen herausragenden Drähte, so entstanden enorme elektrische Funken, und die Knallgeräusche der Entladung waren in einer Entfernung von hundert Metern noch zu hören. Schließlich stellte Winkler fest, daß es nicht nötig sei, die Flasche außen zu berühren, sondern daß eine Verbindung der Kette mit dem Metallteller hinreiche, diese Endadung herbeizuführen. Um diese Verbindung bequemer herstellen zu können, kam Winkler auf den Gedanken, die Flasche auch äußerlich mit Wasser zu umgeben. Am 28. Juli 1746 hängte er drei große, mit Wasser gefüllte Flaschen in die Leipziger Pleiße, führte ihnen Metalldrähte zu und umgab die äußere Belegung mit einer Kette, die am nahen Ufer endete. Er verband die inneren Drähte mit dem Konduktor seiner Elektrisiermaschine und erzeugte schließlich einen derart heftigen Entladungsschlag, daß der Funken am hellen Tag etwa zweihundert Meter weit zu sehen und noch weiter zu hören war.167 Angesichts solcher Schilderungen dürfte das von Ferdinand Rosenberger entworfene Bild von der „Periode der Reibungselektrizität" kaum überzeichnet sein: „In der Experimentalphysik begründen die massenhaft auftretenden Entdeckungen aus dem Gebiete der Reibungselektricität eine ganz neue Epoche. Die wunderbaren Erscheinungen des elektrischen Lichts, des elektrischen Schlages, der Erklärung des Blitzes, die directe Herableitung der Elektricität aus der Atmosphäre auf die Erdoberfläche erzeugen einen ähnlichen, nur noch stärkeren Enthusiasmus, wie ihn Guericke's Experimente vor hundert Jahren hervorgebracht hatten. In die weitesten Schichten dringt das Verlangen, die neuen elektrischen Entdeckungen kennen zu lernen und die wunderbaren Wirkungen selbst an sich zu erfahren; wer nicht im physikalischen Laboratorium elektrischen Experimenten beiwohnen kann, der lässt wenigstens auf Jahrmärkten und bei Volksfesten, vielleicht zur Vermehrung seiner Gesundheit, jedenfalls aber auf Kosten seines Geldbeutels sich elektrisiren. Selbst bei sehr vielen Gelehrten wich nach und nach die wissenschaftliche Nüchternheit einem gewissen enthusiastischen Rausche, und wie vor hundert Jahren der Luftdruck, so wurde nun die Elektrici167 Vgl. Edmund Hoppe: Geschichte der Elektrizität. Leipzig 1884 (Nachdruck Wiesbaden 1969), S. 20.
Abraham Gottlob Rosenberg
203
tat mit allen möglichen Problemen in Verbindung gebracht, und die verschiedensten Wirkungen versuchte man der Elektricität als Ursache zuzusprechen."168
Zeitgenössische Quellen bestätigen diese Einschätzung. Insbesondere nach dem spektakulären Leidener Versuch und den anschließenden Variationen und Fortführungen des Experiments durch Winkler erreichten die elektrischen Vorführungen eine bis dahin nicht gekannte Popularität, wenngleich es dahingestellt bleiben mag, ob es im Zuge des Geschehens wirklich zu einer „massenhaften Selbstfolterung der Naturforscher" kam.169 Immerhin berichtet Böse an Johann Joachim Lange (f 1765), den Nachfolger Wolffs in Halle, am 31. Januar 1747: „Man versichert mir vor gewiß, daß ein junger Mensch von 14 Jahren, welcher das Musschenbroekische electrische experiment offt mit H. Dr: Kratzensteinen versuchet, dadurch paralytisch worden, ja im vorigen Frühjahre gestorben sey. Nun habe ich die force der Electricitaet so unertraegl. starck erhalten als vielleicht noch kein einiger Mensch, auch Fische u. Voegel in Menge damit tod geschlagen, daß wohl 50 meiner Freunde u. Bekannten durchaus nicht weiter das fulmen versuchen wollen, alß halte ich es gar nicht vor unmoegl. daß H. Kratzenstein dieses auch an einem jungen Menschen geleistet."170
Und drei Monate später, am 16. März 1747, schreibt Böse wiederum an Lange, er, Böse, habe „vor 5/4 Jahr" von Doppelmayr aus Nürnberg die Nachricht erhalten, „der magistral in Nürnberg habe den Erfurter Drechsler zur Stadt hinausgeschaffet, weil er mit einer electr: machine von Haus zu Haus, ja zuletzt gar in die BierHaeuser gelaufen. Der Kerl sey von dar durch den gantzen Fraenckischen, Bäyerschen, u. Schwaebischen Kreys gestrichen". Sodann habe er von einem korrespondierenden Mitglied der „Academic Roiale des Sciences de Paris" erfahren, „daß 2 gar$ons tourneurs allemans in Holland, Haag, Rotterdam, Amsterdam mit einer electr: machine ein unbaendiges Geld, über 10000, sogar Zehentausend Holl: Gulden verdienet etc:". Böse habe sich nun über „dergleichen Landlaeuffer" ein wenig lustig gemacht, sehr zum Ärger des Professors Winkler in Leipzig. Dieser nämlich sei vor etwa einem Jahr u. a. im schlesischen Lauban und Hirschberg „gleichfalls mit einer electrischen machine herumgereiset" und habe „auf dem marckte Leute electrisch gemacht, daher nimmt der H. Prof: Gelegenheit, veklagt mich bey dem Ober Kirchen 168 Rosenberger, Die Geschichte der Physik (Anm. 154), S. 302f. 169 Vgl. Albert Kloss: Von der Electricität zur Elektrizität. Ein Streifzug durch die Geschichte der Elektrotechnik, Elektroenergeük und Elektronik. Basel; Boston; Stuttgart 1987, S. 43. Stichweh hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß eine wesentliche Voraussetzung für den erhöhten Schauwert der elektrischen Experimente seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts in der Erzeugung größerer elektrischer Ladungen bestand; vgl. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (Anm. 131), S. 270. 170 Böses Brief befindet sich in der Universitätsbibliothek Tartu in den Beständen der Sammlung Morgenstern: Mrg CCCLIVa, Ep. phil. II, Bl. 89-90, 89v.
204
MICHAEL SCHLOTT
Rath in einem weitlaeuffügen memorial, ... Es ist doch artig, ich rede von LandLaeuffern, so findet sich H. prof. Winckler getroffen."171 Winkler, der seit Januar 1747 aufgrund seiner elektrischen Experimente zum Mitglied der Royal Society in London ernannt worden war,172 hatte also nicht nur Bewunderung und Anerkennung erhalten, sondern ebenso - und zwar von renommierten gelehrten Kollegen — Kritik und Spott hinnehmen müssen, weil Winkler durch seine öffentlichen spektakulären Demonstrationen den Ruf der akademischen Physik und die Reputation ihrer disziplinären Vertreter zu beschädigen drohte. Anläßlich einer Rezension seiner Arbeit über die Stänke der electnschen Kraft des Wassers wird umständlich und genau über Winklers Vorführungen berichtet: „Seit dem diese Schrift an das Licht getreten, ist der Herr Professor wiederum auf verschiedene neue Entdeckungen in der Electricität gekommen. Ersdich hat er im vorigen Jahre in Hirschberg mit dem dasigen Krais=Physico und Adjuncto des Glogauischen Collegii medici & Sanitatis, Herrn D. Thebesio, nach mancherley angestellten Untersuchungen, eine Materie gefunden, wodurch die electrischen Funcken in dem Muschenbröckischen Versuche eine ausnehmende Stärcke erhalten. Zum ändern hat er ein Rad mit sechs Flügeln machen lassen, da ein Flügel nach dem ändern mit fünf electrischen Blitzen spielet. Zum dritten hat er eine gläserne Glocke zubereitet, wodurch er zeigen kan, daß die im Luftleeren Räume sich ausbreitenden electrischen Strahlen eben so wohl eine zündende Kraft haben, als die electrischen Funcken in freyer Luft. Zum vierten hat er am 25ten May Ihro Excellenzen dem Königlich Pohlnischen und Churfürsd. Sächsischen Cabinets ^Minister, Herrn Grafen von Manteufel, dem preißwürdigsten Mecaenat unsers gelehrten Leipzigs, und dem Königl. Pohln. und Churfürsd. Sächsischen würcklichen geheimbden Rathe, Herrn Baron von Zech, eine Maschine gezeiget, in welcher sich, nach dem Systemate Copernicano, die Sonne um ihren Mittelpunct, und der Erdboden so wohl um die Sonne, als auch um seine eigene Axe, einig und allein durch Hülfe der Electricität in einem fort bewegen."173
171 Tartu, Universitätsbibliothek, Sammlung Morgenstern: Mrg CCCLIVa, Ep. phil. II, Bl. 91— 92, 92v. 172 Vgl. Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1747 (Nr. 21 vom 13. März), S. 192. 173 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, 1747 (Nr. 52 vom 29. Juni), S. 461-164; 463f. Bei dem hier erwähnten Thebesius handelt es sich um den Hirschberger Kreisphysikus Johann Ehrenfried Thebes. Über Winklers Aufenthalt in Hirschberg berichtet die Schlesische Zeitung am 28. September 1746: „Der berühmte und gelehrte Herr Professor Winckler aus Leipzig besuchte vergangenen 22. September seine alten werthen Freunde in Hirschberg, den Adjunctum des Königl. Collegii und Creys=Physicum in Hirschberg, Hr. D. Joh. Ehrenfried Thebesium, und zeigte, wie auch Tags darauf in Warmbrunn bey dem dasigen Evangel. Pastori Hr. M. Adam Gottfried Thebesio die Muschenbrochischen verbesserten und vermehrten Electrischen Versuche, nechst diesem die Electrische Kette, den Electrischen Kuß, die Electrische Salve, da dann sowohl in Hirschberg als besonders auch in Warmbrunn in dasiger Evangelischer Pfarr=Wohnung durch Vermehrung der Flaschen und hineingesteckten Drathes die Electrischen Strahlen zu aller Zuschauer Verwunderung vermöge der im Wasser liegenden Kette auf das beygesetzte Metall so stark heraus-
Abraham Gottlob Rosenberg
205
In einem Brief an Gottsched vom 25. Juni 1747 nimmt Rosenberg auf diese Meldung Bezug, und mit seiner vertraulich geäußerten Bewertung der touristischen Aktivitäten Winklers, seines einstigen Weggefährten in der Leipziger Nachmittäglichen Rednergesellschaft, verdeutlicht er die polemische Tendenz seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Schrift über die Ursachen der Elektrizität: „In Angelegenheiten der Electricitast habe ich letzthin, in den Gelehrt. Zeit, deucht mich, gelesen daß H. Pr. Winckler wieder mit einer neuen Erfindung aufgestanden, u. das Systema Copernicanum bloß durch die Electricitast in sr. Bewegung vorstellen könne; auch solches des Hn. Gr. v. Manteufel Excel, aufgerührt habe. Was hat es denn damit vor Bewandniß? Was reelles kan es doch wohl nicht seyn? Indeß machen dergleichen Nachrichten die, so nichts von der Sache verstehen, glauben, daß der H. Pr. W. ein rechter Wunderman sey: Da uns doch seine Schriften von der Electricitan, einen gantz anderen Begriff von ihm machen heißen. In unserm Gebirgen ist einer von seinen Verehrern mit Tode abgegangen: u. wo er ja diß Jahr mit seiner Kunst wiederkomt, wird ihm schon eine avantage abgehen. Ich dencke aber, er wird die Schlesische Reise einmahl aussetzen. Denn beym letzten mahle seines Aufenthalts im Gebürge hat es schon manchmahl ein Gelächter gesetzt. Es ist schade, daß diese sonderbare Kraft der Natur, durch die Handwercksmäßige Anwendung derselben verächtlich wird. Die Menge der Versuche, in denen jeder Anfänger was neues entdeckt haben will, bahnet uns gewiß keinen Weg, die wahre Beschaffenheit der Sache beßer einzusehen; sondern sie dient vielmehr zur Verwirrung in der Sache. Ich glaube daher, daß die gantze Sache eben darum, weil sie in gar zuviel empirische Hände gefallen, nach u. nach wieder gantz in Vergeßen kommen kan. Ich habe nach soviel Schriften, die ich davon gesamlet u. gelesen, doch meine Gedancken noch nicht geändert."174
Im Licht dieser Äußerung erhalten indes die anerkennenden Worte, die Rosenberg für Winklers Leistungen auf dem Gebiet der Experimentalphysik findet, einen unverkennbar ironischen Akzent: „Der durch seine übrigen philosophischen Arbeiten schon so berühmte Herr Professor Winkler hat Deutschland durch seinen Tractat von der Electricität sowohl genutzet als vergnüget. Genutzet; da er uns durch die von ihm bekannt gemachte electrische Maschine den Weg im Electrisiren ganz ungemein erleichtert: Vergnüget; da er uns so viel schöne Versuche nebst ihren philosophischen Erschlugen, daß man den Schlag davon eine lange Treppe herunter an der Hausthüre stark hören konnte. Jedoch ward dieses Experiment viel verstärket, als besagter Hr. Professor Winckler die Electrische Maschine in den Probst=Brunnen tragen ließ, allwo solche auf dem hölzernen Galgen stand und die Electrische Kraft von besagtem Gange durch eine 30 Ellen lange Kette bis in den Brunnen selbst geleitet wurde. Diese electrische Kraft ward durch dies Mineral=Wasser des Brunnens so vermehret, daß alle, die nur einen bloßen Degen an der Kette hielten, heftiger als von anderm Wasser erschüttert, ja sogar die Glieder der Kette, welche auf den Steinen des Brunnens lagen, gaben die heftigen Strahlen und Schläge, ohne daß von jemanden berühret worden." Zit. Hans Jessen: Hirschberg. Lob der Zeitgenossen. Würzburg 1959, S. 46. 174 UBL, 0342 XII, Bl. 208-210,209r.
206
MICHAEL SCHLOTT läuterungen in einer so angenehmen Gestalt vorgetragen, daß man sie mit Vergnügen lieset. Wie ich ihn denn bey aller unserer Entfernung und Unbekanntschaft, doch als meinen einzigen Lehrer in den Angelegenheiten der Electricität, auch sogar noch vor der Herausgabe seiner schönen Schrift, erkenne und ehre. Welche geheime Entlehnung seiner damaligen mir noch in Leipzig bekannten Art zu electrisiren, mir dieser hochzuschätzende Gelehrte um so viel weniger ungütig auslegen wird, da ich hier nicht nur meine öffentliche Dankbarkeit mit vieler Ergebenheit gegen ihn bezeuge, sondern auch versichere, daß meine Hochachtung gegen ihn ganz ungemein durch solchen ihm vermuthlich wohl unwissend mir geschenkten Unterricht, ganz ungemein gestärkt worden sey. Wie er derjenige ist, der die beträchtlichsten Versuche, die zum wahren Wesen der Electricität gehören, zu erst in eine brauchbare Verfassung gebracht; so ist er es auch, der in gewisser Maaße das meiste Glück bey diesen Versuchen gehabt. Sintemal es allezeit ein schönes Andenken für ihn bleiben wird, daß er die Ehre gehabt, große Prinzen und Prinzeßinnen, nebst so vielen ändern hohen Personen, ja selbst den großen Weltweisen unserer Zeiten [Wolff], mit seinen electrischen Versuchen zu vergnügen."175
Welche Bewandtnis es mit der „geheimen Entlehnung" von Winklers „Art zu electrisiren" hat, erklärt Rosenberg seinem Lehrer Gottsched am 31. Mai 1746, und wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, so hat er sich nichts geringeres einfallen lassen, als sich auf unerlaubte Weise die Winklerschen Pläne zu einer verbesserten Elektrisiermaschine anzueignen, um sich den Ruhm zu sichern, zumindest in Schlesien als erster Naturforscher elektrische Versuche durchgeführt zu haben. „Ich muß Ihnen im Vertrauen sagen, daß ich die Electricitaet zusamt der Maschine, davon H. Pr. Winckler den ersten Gebrauch gemacht, schon damahls als er sie selbst kaum auf ein paar Monate im Stande gehabt, dem H. Pr. Winckler auf eine geheime Weise entführet, u. bin in unserm gantzen Lande der erste gewesen, der electrisirt hat, ehe noch der Wincklerische erste Tractat herauskam, u. ich nur erst des seel. Hausens novos Profectus in Händen hatte, die wir Dero Vorsorge zu Danck haben. Wie denn H. Pr. Winckler ehe noch der Aufriß sr. Maschine zum Vorscheine kommen, schon in der Gegend von Hirschberg eine Electrisir Maschine gefunden, die der seinigen fast in vielem ähnlich gewesen, und zu welcher der dasige Gelehrte Freund den Riß von meiner Hand empfangen: so daß sich H. Pr. Winckler nicht genug verwundern können, wie eine Maschine, die biß damals nur noch aus seinen Händen an andre Orte kommen können, schon in Schlesien habe seyn können."176
Rosenberg fügt erklärend hinzu, daß er sich auch im Vorbericht zu seinem Elektrizitätstraktat auf diesen Vorgang bezieht. Mehr noch: Die gesamte Schrift sei ohne diese Information „gar unverständlich", zumal sich ein Druckfehler eingeschlichen habe, „der einen verkehrten Sinn macht, u.
175 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, [b6r-b7r]. 176 Rosenberg an Gottsched (Anm. 150), Bl. 197r. Der erwähnte Traktat Winklers: Gedanken von den Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen der Electriatäi (Anm. 131).
Abraham Gottlob Rosenberg
207
anstat mir noch in Leipzig p heißen soll, nur noch pp.177 „Welche geheime Entlehnung seiner damaligen nur noch in Leipzig bekannten Art zu electrisiren, mir dieser hochzuschätzende Gelehrte um so viel weniger ungütig auslegen wird, ..." sollte es also Rosenberg zufolge korrekt heißen, und trotz des Druckfehlers ist die Botschaft unmißverständlich: Der Autor des Versuchs einer Erklärung von den Ursachen der Electricität zeigt sich nicht nur mit den theoretischen Erfordernissen der Elektrizitätslehre bestens vertraut. Er hat sich darüber hinaus auch auf dem Gebiet der Experimentalphysik die notwendigen empirischen Kenntnisse erworben und ist daher befugt, über den zur Disposition stehenden Gegenstand zu urteilen. „Ich habe zum Grunde gesetzt, wer meine in diesem Versuche abgehandelte Meynung einsehen wolle, der müsse freylich vorhero schon die ganze Kunst zu electrisiren verstehen, und ordentlich wissen, wie man mit diesen neuen Versuchen umzugehen habe. Darum habe ich nichts davon gesagt, wie diese Versuche gemacht werden müssen; noch die dazu gehörigen Werkzeuge beschrieben: z. E. die electrische Maschine, den gläsernen Cylinder, den man an derselben braucht, oder das lange gläserne Rohr, dessen man sich gleichfalls bey vielen Versuchen bedienen muß, noch auch die Gestelle, worauf diejenigen Körper liegen oder stehen müssen, die man electrisch machen will. Wer gar noch nichts von diesen Umständen wüßte, der würde freylich wohl gar bald zu meiner Untersuchung sagen müssen: Si non vis intelligi, non debes legi. Allein die Schuld würde alsdenn nicht mein seyn. Ich habe mit Recht zum Grunde nehmen können, wer sich um die Quelle der Electricität bekümmern wolle, der müsse vorher schon wissen, durch was für Handgriffe dieselbe erzeugt werde."178
1745, im Erscheinungsjahr von Rosenbergs Elektrizitätstraktat, war in Deutschland durchschnittlich jeden Monat ein Titel erschienen, der sich mit den Experimenten oder der Theorie der elektrischen Erscheinungen befaßte.179 Es ist wichtig, sich diese Beschleunigung des Forschungsprozesses, vor allem aber den durch die elektrische Experimentiertätigkeit erzeugten Sensationsdruck zu vergegenwärtigen, um die von Rosenberg bezeichnete Grundtendenz seiner Schrift in den Blick zu bekommen. „Ja ich muß sogar noch das bekennen, daß diese wenigen Blätter zum blossen sinnlichen Vergnügen an der Electricität nicht viel beytragen werden. Ich habe
177 Rosenberg an Gottsched (Anm. 150), Bl. 197v. 178 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, [c4r]-c5. 179 Vgl. Kloss, Von der Electricität zur Elektrizität (Anm. 169), S. 48. Vgl. auch die von Stichweh anhand von Paul Fleury Mottelays Bibliographie ermittelten Zahlen. Bereits die von Kloss mitgeteilten Beobachtungen zum Publikationsaufkommen belegen ebenso wie die von Rosenberg im Vorbericht präsentierten Schriften zur Elektrizitätslehre Stichwehs Formulierung, das „eine disziplinäre Gemeinschaft sich als kommunikativer Zusammenhang erstmals zusammenschließt". Für den Zeitraum zwischen 1740 bis 1750 zählt Stichweh 42 deutsche Autoren, die Schriften veröffentlicht haben, die sich primär mit der Elektrizität befassen; vgl. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (Anm. 131), S. 252, 254, 262.
208
MICHAEL SCHLOTT weder neue Versuche entdeckt, noch auch die schon bekannten zu größrer Weide der Augen anzulegen gesucht. Ich werde also denen einen schlechten Vorschub durch meine Arbeit leisten, die nur zur Lust electrisiren wollen. Man kann die Electricität allerdings von einer doppelten Seite ansehen. Sie ist auf gewisse Weise ein Spielwerk, mit dem sich auch wohl Ungelehrte belustigen können. Das Herausfahren kleiner knackenden Funken aus einem menschlichen Körper; das Leuchten seiner Kleider; die kleine Empfindung, die sowohl derjenige hat, aus dessen Körper die electrischen Funken fahren, als auch derjenige wahrnimmt, der sie durch Annahung eines Fingers zu jenem herauslocket, und so viel andre wunderbare Erscheinungen, die bey dieser Sache vorkommen: das alles ist ein Schauplatz, an dem auch diejenigen ihr Vergnügen finden müssen, die sonst nichts suchen, als Belustigungen der Augen und scherzhaften Zeitvertreib."180
Man könne die Electrizität aber „auch von einer ganz ändern Seite ansehen", postuliert Rosenberg, denn seit er Gelegenheit gehabt habe, „mit den electrischen Versuchen ein wenig umzugehen", sei es fortwährend seine Absicht gewesen, „nicht sowohl auf das erlustigende bey dieser Sache zu sehen, als vielmehr auf das Achtung zu geben, wodurch uns vielleicht die Natur etwas von den Quellen dieser neuen Wirkungen verrathen möchte. Billige Gemüther werden mir es vielleicht auch nicht verargen, daß ich meine darüber abgefaßte Gedanken den Liebhabern der electrischen Versuche durch diese wenige Blätter mittheile. Gesetzt auch, ich hätte die erste Quelle der Electricität aus einer solchen Ursache hergeleitet, von der man glauben möchte, sie hielte eine geschärftere Probe nicht völlig aus: man wird mich doch darüber nicht unglimpflich ansehen, wenn man auch nur einiger massen bedenkt, wie geheim sich die Natur in diesen neuen Seltenheiten ihres Reiches zu halten wisse."181
Damit sind die wesentlichen Voraussetzungen für Rosenbergs Unternehmen benannt: Kenntnis der wichtigsten „electrischen" Schriften, einschlägige Erfahrungen auf dem Gebiet des „Electrisirens", Vertrautheit mit den Funktionen des Hauksbee-Generators und: der Verzicht auf dilettierende Schau- bzw. Sensationslust, das heißt die Bereitschaft, sich angesichts einer durch zu viele „empirische Hände" entstandenen „Verwirrung der Sache" auf eine eminent philosophische Fragestellung einzulassen: Wie ist Elektrizität ursächlich definiert?182 Zur Beantwortung dieser Frage benötigt Rosenberg vier Untersuchungsabschnitte („sectiones"): 180 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, [cv]-c2. 181 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, [c2v]—c3. 182 1744 harte die Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Preisfrage über die Ursachen der Elektrizität der Körper gestellt. Den Preis erhielt der königlich-schwedische und hochfürstlich hessen-kasselsche Finanz- und Bergrat Jacob Siegismund Waitz. Waitz vermutete, ähnlich wie Winkler, daß die Körper bereits vor ihrer Elektrisierung mit sogenannten elektrischen Teilchen erfüllt seien. Er nahm ferner an, daß nicht nur die Elektrizität, sondern auch die Wärme aus solchen Teilchen bestehe und daß die Elektrizität die Körper erwärme, indem sie die „Feuerteilchen" in Bewegung setze; vgl. Jacob Siegismund Waitz: Abhandlung von der Electricität und deren Ursachen welche bey der Königl. Academic der
Abraham Gottlob Rosenberg
209
(I) (II)
Von den Eigenschaften der Electricität überhaupt (S. 1-9) Von der Ursache, aus welcher die electrischen Wirkungen entstehen (S. 10-21) (III) Wie die electrischen Wirkungen, und besonders das electrische Feuer, aus der Materie der allgemeinen Wärme, oder dem electrischen Feuer, entstehen können (S. 21-55) (IV) Von dem Anziehen und Wegstossen der electrischen Kraft (S. 55-90). Erkennbar bilden die Abschnitte (II) und (III) das eigentliche Zentrum der gesamten Abhandlung. Die argumentative und empirische Rückversicherung geschieht ausschließlich im Rekurs auf Wolff183 und Winkler,184 und die zentrale These — die Bestimmung der einigen Ursache der Elektrizität185 also — wird ohne weitere Digressionen bündig präsentiert: Es Wissenschaften in Berlin den Preiß erhalten hat. Berlin: Ambrosius Haude, 1745, S. 147— 181. Rosenberg kannte diese Schrift zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Versuchs offenbar nicht. Die von ihm verfaßte Widmung trägt den Vermerk „Geschrieben den 3. May 1745." Waitz erhielt den Preis von 50 Dukaten am 31. Mai 1745; vgl. Adolf Harnack: Geschichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Band 1.1. Berlin 1900, S. 303. Rosenberg übt im Vorbericht seiner Untersuchung auch Kritik an der preisgekrönten Schrift von Jean Theophile Desaguliers: Dissertation sur l'Electricite des Corps Qui a remporte le prix au jugement de l'Academie royale des belles lettres. Bordeaux: Pierre Brun, 1742. „Wiewohl man, nach einer gewissen Anzeige, die sich in den Leipziger gelehrten Zeitungen von 1743. p. 841. befindet, hätte denken sollen, diese Academic [Bordeaux] würde zu Erlangung ihres Preises etwas mehr gefordert haben, als eine blosse Erzehlung der Versuche und Erläuterung etlicher absonderlicher Erscheinungen der Electricität, aus welchen diese Dissertation bestehe. Man hat dahero ohne Zweifel etwas viel gründlichere von den Ursachen der Electricität zu erwarten, wenn diejenige Schrift zum Vorschein kommen sollte, welche den, von der hochlöblichen Königlichen Academic der Wissenschaften in Berlin in dieser Angelegenheit aufgesetzten Preis vielleicht in kurzem erhalten wird." Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), Vorbericht, [a7v-a8r]. Die erwähnte Anzeige in: Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1743 (Nr. 95 vom 28. November), S. 841 f. Einen konzisen Überblick über die bis zur Mitte der 1740er Jahre gängigen Theorien und Hypothesen über die Ursachen der Elektrizität findet man bei Johann Gottlob Krüger: Zuschrifft an seine Zuhörer Worinnen er Ihnen seine Gedancken von der Electricität mittheilet und Ihnen zugleich seine künftige Lectionen bekant macht. Halle: Carl Hermann Hemmerde, 1744, S. 9-26. 183 Rosenberg führt in unterschiedlichen Kontexten an: Wolff, Deutsche Naturlehre, § 32, 63, 71, 72, 73; Nützliche Versuche 2, § 110 p. m. [pagina mea (in meiner Ausgabe)] 307, § 130, § 134 ad fin., §137 p. m. 407. Vermutlich handelt es sich bei den Angaben zu Wolffs Natur=Lehre gleichfalls um die Nützlichen Versuche, denn die von Rosenberg angeführten Paragraphen haben in der Natur=Lehre keine inhaltliche Korrespondenz; vgl. Christian Wolff: Gesammlete kleine philosophische Schriften, welche besonders zu der Natur= Lehre und den damit verwandten Wissenschafften nehmlich der Meß= und Arzney=Kunst gehören. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1736. 184 Winkler, Gedanken von den Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen der Electricität (Anm. 131), §86, 89,99,100. 185 Über ,die' Ursache der Elektrizität wurde noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts auch aus der Perspektive der theosophischen Naturtheorie nachgedacht. Johann Anton Mosche-
210
MICHAEL SCHLOTT
handelt sich Rosenberg zufolge um die „allgemeine" oder „elementarische Wärme" oder, was in seiner Terminologie dasselbe bedeutet: das „elementarische Feuer", das als „die Quelle aller Electricität" anzusehen sei.186 Das elementarische Feuer ist indes nicht gleichbedeutend mit dem von Winkler187 oder Waitz188 angenommenen sogenannten elektrischen Feuer. Mit ausführlichen Angaben zu den naturphilosophischen Füiationen seiner These wartet Rosenberg nicht auf; es genügt ihm ein kurzer Hinweis auf Wolffs Natur^l^ehre, um sicherzustellen, „daß die Grundursache, die ich von der Electricität zu geben suche, nicht etwann ein erdichteter Traum sey."189 Rosenberg bezieht sich hier allerdings nicht auf Wolffs Gesammelte kleine Schriften zur Natur=Lehre von 1736, sondern, wie sein entsprechender Hinweis verdeutlicht, auf den zweiten Teil der Nützlichen Versuche.™ Dort heißt es im neunten Kapitel „Von dem Feuer": „Wir finden in der täglichen Erfahrung, daß das Feuer nur in der Nähe anzündet. Schnelle geschiehet die Entzündung, wenn entweder die Flamme, oder auch die Glut eines glüenden Cörpers den ändern berühret. Nemlich das Feuer ist ein hoher Grad der Wärme: wo demnach ein Feuer schnelle entstehen soll, da muß auch schnelle viel Wärme dahin kommen. In der Flamme und einem glüenden Cörper ist viel Wärme bey einander, und demnach kan sich auch daraus schnelle viel Wärme in einen ändern Cörper bewegen, der nahe anlieget, so viel nemlich als erfordert wird, daß auch daselbst Feuer entstehen kan."191 „Weil demnach gewis ist, daß Wärme und Feuer in Bewegung einerley Materie bestehen und nur dem Grade nach unterschieden sind; so setzet man nicht ohne Grund eine besondere flüßige Materie in der Welt, die in denen natürlichen Cörpern auf dem Erdboden zufinden, für das Feuer und der ihm verwandten Wär-
186 187
188 189 190 191
rosch von Wißelsheim: Wohlmeinende, treue, und sehr nützliche Ermahnungen an die Anfänger in dem tiefsinnigen Studio der Hermetischen Philosophie ... Zum Beschluß folgt eine kurze Dissertation über die Grundursach der Electricität, nach denen Maaß=Regeln der Natürlichen oder Hermetischen Philosophie. Nürnberg: George Bauer, 1765. Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 10. Vgl. Winkler, Gedanken von den Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen der Electricität (Anm. 131), S. 114, 131—135. Winkler hat sich über diesen Gegenstand später erneut geäussert; vgl. Johann Heinrich Winkler: Qva ratione ignis materia electrica inter se differant. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1767. Einen Überblick über den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu diesem Thema gegen Ende des 18. Jahrhunderts bietet die Akademieabhandlung De ekctrici ignis naturavon Franz Joseph Gardini (1740-1816) aus dem Jahr 1788. Erst 1793 wurde sie veröffentlicht und im selben Jahr ins Deutsche übersetzt. Joseph Gardini: Abhandlung von der Natur des elektrischen Feuers. Aus dem Lateinischen, nach der Ausgabe des Herrn D. Joh. Mayer ... übersezt von J. G. Geißler. Dresden: Waltherische Hofbuchhandlung, 1793. Vgl. Waitz, Abhandlung von der Electricität und deren Ursachen (Anm. 182), S. 147-181. Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33),Vorbericht, [c3v]. Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 10. Wolff, Nützliche Versuche 2 (Anm. 137), S. 397.
Abraham Gottlob Rosenberg
211
me, und können wir es gar wohl leiden, wenn man es das Elementarische Feuer nennet."192
Es fällt auf, daß Rosenberg sich in seinem Traktat zur Sicherung der These vom elementarischen Feuer als der Grundursache der Elektrizität ausschließlich auf Wolff bezieht, während er in dem bereits angeführten Brief an Gottsched vom 31. Mai 1746 verrät, er sei „itzo sehr vor diese Meinung, die vor mir, so viel ich weiß, niemand öffentl. vorgetragen, sehr geneigt", und er sei in dieser Ansicht nicht nur deswegen bestärkt worden, weil er sie ebenso bei Böse, wenngleich nicht in identischer terminologischer Fixierung, gelesen habe. Darüber hinaus habe er in einem Brief von Nollet an Böse gefunden, daß auch Nollet „rund heraus sagt, die Materie der Electricitaet sey nichts anders, als das Elementarische Feuer".193 Was Wolff betrifft, so lassen sich seine Ausführungen zum elementarischen Feuer aus dem ersten Teil von Sturms Physica electiva herleiten. „Ignis enim nostri elementaris usus, etiam extra dictam necessitatem, innumeros & egregios non solum culinas nostrje, & germanorum hypocausta aliorumque populorum camini, sed & fabrorum omnis generis, chymicorum item, pharmacopceorum, vitriariorum, metallicorum, aliorumque opificum, ingenti ubique numero, officinae, speciatim tota res tormentaria & pyrobolica, abunde testantur: ut taceam, omnium plantarum animantiumque vitam & animam in eodem igne elementari, admixtis succis vitalibus admirandä & inimitabili ratione temperato, consistere, (quod suo loco uberius ostendetur,) & innuam veriüs, quäm ex rei dignitate deprasdicem, alteros, quos lumine suo, ut illos calore, praestat hoc elementum nihilo minores usus in illustrandis nocturnis tenebris, per candelas, faces, lampades &c. variä inflammabilium opulentiä illius evanescendam subinde compensantes."194
192 Wolff, Nützliche Versuche 2 (Anm. 137), S. 400. 193 Rosenberg an Gottsched (Anm. 150), Bl. 197r. Den angeführten Passus aus einem Brief Nollets an Böse konnte ich nicht ermitteln. Nollet hat sich m. W. indes nicht in der von Rosenberg unterstellten Deutlichkeit geäußert. In der deutschen Übersetzung seiner Abhandlung zur E/eciricite des corps stellt er die Frage folgendermaßen: „Solle dann wol die electrische Materie eben dieselbe seyn, die wir das elementarische Feuer, oder das Licht nennen?" Seine Antwort lautet: „Es hat vollkommen das Ansehen, daß die Materie, so die Electricität hierfür bringt, oder auch die Erscheinungen derselben verursachet, einerley sey mit demjenigen Element, so man Feuer und Licht nennet." Nollet, Electricität der Cörper (Anm. 127), S. 148 und 222. 194 Johann Christoph Sturm: Physica electiva sive hypothetica. Tomus Primus. Partem Physicae Generalem complexu & speciatim Usum totius hujus Scientia: primarium singulari cura demonstrans. Nürnberg: Wolfgang Moritz Endter, 1697, S. 200f. Der zweite Band erschien posthum mit einer Vorrede vom 27. März 1722 von Christian Wolff. Wolff rühmt darin Sturm als Lehrer und Schriftsteller. Physica; elective sive hypothetical tomus secundus. Partem Physicz Specialem ... cum prasfatione Christian! Wolfii. Nürnberg: Wolfgang Moritz Endter, 1722. Vgl. auch Hans Schimank: Die Wandlung des Begriffs „Physik" während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Karl Heinz Manegold (Hg.): Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. Studien zur Geschichte. Wilhelm Treue zum 60. Geburtstag. München 1969, S. 454-468,456f.
212
MICHAEL SCHLOTT
Es bleibt unklar, warum Rosenberg den Hinweis auf Böse und Nollet nur im Rahmen seiner Korrespondenz erteilt. Für eine angemessene philosophic- und wissenschaftshistoriographische Kontextuierung seiner Elektrizitätsschrift ist diese Konkretisierung allerdings von einiger Bedeutung. Daß Rosenberg sich auch — und gerade — angesichts einer beschleunigten und forcierten Empirisierung auf dem Gebiet der Elektrizitätsforschung als Wolffianer geriert, der auf philosophische Weise nach Ursachen forscht und seine empirischen Beobachtungen auf den Prüfstein verknüpfender Vernunftschlüsse stellt,195 ist lediglich die eine Seite seiner Abhandlung. Die andere Seite aber zeigt sich in der eminent theologischen Orientierung, die im Versuch ebenfalls lediglich beiläufig, in der Korrespondenz jedoch offensiv und direkt thematisiert wird. In der gesamten Elektrizitätsschrift ist nur an einer Stelle, am Schluß, ein im weitesten Sinne theologischer Richtpunkt auszumachen. Bei der Bestimmung des Nutzens der Elektrizität verhält Rosenberg sich auffallend indifferent; nur soviel mag er konzedieren: „Auf gewisse Weise wundere ich mich auch ein wenig, daß diejenigen, so bisher etwas beträchtliches von der Electricität geschrieben haben, nicht näher an diese Frage gekommen sind, und ihre, auch nur muthmaßliche Gedanken davon, ausdrücklicher an den Tag gegeben haben. Allein, man muß es freylich bekennen, daß man vielleicht die ganze Electricität noch viel zu wenig kenne, als daß man schon etwas zuverläßiges von dem Nutzen derselben sollte sagen können. Indeß kann man doch auch nicht leugnen, daß Gott und die Natur nichts umsonst thun. Und darum ist es denn auch sehr wahrscheinlich, daß auch aus der Electricität ein wahrer Nutzen vor das menschliche Geschlecht entstehen werde."19*'
Die Versicherung daß „Gott und die Natur" nichts umsonst tun, zeigt, wie sehr der Versuch einer Erklärung von den Ursachen der Electriätät in der 195 Exemplarisch demonstriert sei Rosenbergs .schließende' Argumentation etwa durch folgenden Passus: „Wie aber, wenn ich gegenwärtig schon sagte, da die Materie der elementarischen Wärme von der gemeinen Wärme gar sehr unterschieden seyn muß: so könne man wenigstens aus Ermangelung der gemeinen Wärme an einer electrisirten Blechröhre noch nicht schliessen, daß keine elementarische Wärme da sey. Die Naturkündiger behaupten ja selbst, man müsse in Beurtheilung der Wärme den Sinnen nicht allein folgen. Es könne da Wärme seyn, wo man äusserlich keine wahrnähme." Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 46. 196 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 88. Vgl. etwa Wolfang Hildebrand: Magia Naturalis: Das ist Kunst und Wunderbuch Darinnen begriffen wunderbare Secreta, Geheimnüsse, und Kunststücke. Erfurt: Johann Birckner, 1650. „Dannenhero unleugbar, ja ein ieder Verständiger bekennen muß, daß Gott der allmächtige seine Allmacht, Kunst, Weisheit und Gütigkeit manchfältig in seinen Creaturen auff und unter der Erden, in Bergarten, Edelgesteinen, in Wassern, Thieren, Fischen, Vögeln, Krautern, und ändern weiset und zeiget, ... Ob nun wol, wie gesagt, die Natur (so wunderlich in ihren Wercken, sonderlich in opere generationis, daher auch man zu sagen pfleget, Deus & Natura, nisi impediatur natura, ut est videre in monstris nihil faciunt frustra. Gott und die Natur thun nichts vergebens) nicht genugsam auszugründen,...". Vorrede, B—[Bv].
Abraham Gottlob Rosenberg
213
physikotheologischen Tradition steht, die das Wirken Gottes in allen Bereichen der Schöpfung für theologische Überlegungen interpretativ aufbereitet hat. Deutlicher, unmißverständlicher und offensiver als in seinem Elektrizitätstraktat formuliert Rosenberg diese integrative Absicht in seinen Erbaulichen Briefen von der Religion, die an späterer Stelle Gegenstand einer detaillierteren Darstellung sein werden. Es wäre in diesem Zusammenhang indes zumindest ungenau zu behaupten, auch für Rosenberg sei die Elektrizität lediglich eine „Projektionsfläche"197 zwecks theologischer Auslegung des Naturgeschehens. In dem an Gottsched gerichteten Brief vom 31. Mai 1746 bekennt Rosenberg, er habe nunmehr „sogar einen Nutzen gefunden, den die Electricitiet in der Theologie hat" und wünsche sich also, diejenigen zu widerlegen, „die da schreiben, in der Theologie habe es gar kn. Nutzen".198 Dieser Nutzen der Elektrizität, den Rosenberg in besagtem Brief nicht näher erläutert, bezieht sich zunächst zweifellos auf ein physikotheologisches Arrangement zum „Ruhme des Schöpfers", wie Rosenberg eine seiner Dichtungen überschrieben hat.199 In einem engeren Rahmen jedoch und ein wenig differenzierter ausgedrückt, liegt für ihn in der ,Elektrizität' bzw. in dem von ihm als deren Ursache angeführten elementarischen Feuer ein Fall der Selbstoffenbarung Gottes zwischen biblischer Offenbarung einerseits und naturwissenschaftlicher Erkenntnis andererseits vor. Diese Perspektive eröffnet sich bei genauerer Analyse dessen, was Rosenberg unter dem elementarischen Feuer versteht. Aufschlußreich ist in dieser Beziehung die dritte Sektion des Versuchs. Dort findet sich die unmißverständliche Bestimmung: „Ich gebe nicht die gemeine Wanne der Körper zur Ursache der Electricität an. Ich habe mich vielmehr deutlich erklärt, daß ich hier diejenige natürliche Wärme verstehe, die man ignem elementarem nennet. Diese muß von der durch die Kunst, oder andere äusserliche Mittel, gemachten, und folglich schon mit viel fremder Materie vermischten Wärme ... sowohl an besondrer Reinigkeit, als auch an Subtüität und Schnelligkeit im Bewegen ganz besonders unterschieden seyn. Denn wenn das nicht wäre; wozu wollten die Naturkündiger erst ein besonders elementarisches Feuer in der Natur annehmen?"200
Das Ergebnis dieser Überlegungen lautet: „Nehmlich jeder Körper hat schon die Materie des elementarischen Feuers, und also, wenn ich so sagen mag, den Saamen der Electricität in sich."201 Rosenberg unterstellt also die Existenz einer allwaltenden elektrischen Kraft m der Materie - die Kraft der „Saamen der Electricität" - und erweist sich somit als Vertreter der (später von Fried197 198 199 200 201
Vgl. Hochadel, Öffentliche Wissenschaft (Anm. 122), S. 68. Rosenberg an Gottsched (Anm. 150), Bl. 197v. Vgl. unten Abschnitt III sowie Quellenanhang, S. 309-319. Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 40f. Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 48 (Hervorhebung MS).
214
MICHAEL SCHLOTT
rich Christoph Geringer und Johann Ludwig Fricker ausgearbeiteten) theologisch-naturphilosophisch inspirierten Elektrizitätslehre des mährischen Geisdichen Prokop Divis (Procopius Divis, 1698-1765)202. Es gilt in der Forschung inzwischen einerseits als gesichert, daß Divis Nollets Erklärung der elektrischen Attraktion und Repulsion aus dem Jahr 1745 als Theorie des elementarischen Feuers gewissermaßen in scholastischer Begrifflichkeit reformuliert hat.203 Andererseits verweisen sowohl die von Divis verwendeten Begriffe wie ,Saamen' und ,Effluvium' als auch die von ihm ursprünglich gewählte Titelbezeichnung ,magia naturalis' semantisch auf die alchemistische Vorstellung der sogenannten fetten Effluvia. Diese ,Theorie' beruhte auf der Überlegung, daß sich beim Reiben eines Körpers die Poren seiner Oberfläche öffnen und eine feine fette Flüssigkeit austrete. Elektrizität wurde aufgrund dieser Vorstellung als Anziehung begriffen, die vom fettigen Strom des Effluviums auf andere Körper ausgeübt wurde. Im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts trat dieser Erklärungsansatz in unterschiedlichen Varianten immer wieder in Erscheinung,204 bei Divis etwa heißt es: „Diese minima nennen einige igniculos, aber das Wort igniculi drukt nicht genau aus, was ich hier zu verstehen geben will, nemlich die mindeste Theile der Natur, die noch in den poris elastisch verborgen liegen ohne Bewegung, gleichwie z. E. ein in die Erde erst geworfener Saame."205
202 Divis wurde in Böhmen geboren, studierte Philosophie und Theologie und lehrte u. a. als Professor für Philosophie am Stift Brück. 1733 zog er sich als Priester in die entlegene Pfarrei Prendnitz zurück und widmete sich bis zu seinem Lebensende der Erforschung der Elektrizität. Über die von Oetinger und Fricker herausgegebenen Schriften Divis' vgl. Ernst Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jg. 1970, Nr. 12, S. 29-67. Vgl. Bildanhang, S. 335. 203 Vgl. Josef Smolka: L'Abbe Nollet et la physique en Boheme. In: XIIe congres international d'histoire des sciences Paris 1968. Actes. Tome III B: Science et philosophic XVIIe et XVIIIC siecles. Paris 1971, S. 131-135,133. 204 Vgl. Freudenthal, Die elektrische Anziehung im 17. Jahrhundert (Anm. 139); Sibum, Physik aus ihrer Geschichte verstehen (Anm. 124), S. 126f. In der alchemistischen Auffassung fußte die Idee, daß sich durch Reiben eines elektrisierbaren Körpers fette elastische Effluvien erzeugen ließen, auf dem traditionellen Begriff der fetten, d. h. öligen Feuchtigkeit; vgl. Freudenthal (Anm. 139), S. 322. Bei Divis und Rosenberg hat sich als Legat dieser Auffassung - zumindest begrifflich - die Vorstellung erhalten, daß Elektrizität als Wirkung eines Effluviums zu verstehen sei. Noch 1783 handelt Johann August Donndorff vom Unterschied zwischen der „elektrischen Flüssigkeit" und der Materie des elektrischen Feuers bzw. der „feurigen Flüßigkeit"; vgl. Johann August Donndorff: Ueber Elektricität, Magnetismus, Feuer, und Aether. Quedlinburg: Friedrich Joseph Ernst, 1783, S. 62f. 205 Friedrich Christoph Oetinger (Hg.): Procopii Divisch ... längst verlangte Theorie von der meteorologischen Electricite, welche Er selbst Magiam Natvralem benähmet. Samt einem Anhang vom Gebrauch der electrischen Gründe zur Chemie. Tübingen: Johann Heinrich Philipp Schramm, 1765, S. 19f. Oetinger hat diesen Gedanken aufgegriffen und später in
Abraham Gottlob Rosenberg
215
In der Korrespondenz zwischen Rosenberg und Gottsched findet Divis keine Erwähnung. Ungeklärt ist auch, ob es briefliche Mitteilungen zwischen Rosenberg und dem ,europäischen Franklin' gegeben hat. Es ist indes deutlich geworden, daß Rosenberg sich, wenn er vom „Saamen" der Elektrizität spricht, auch terminologisch in den Grenzen der von Divis vertretenen Theorie des elementarischen Feuers bewegt. Divis argumentiert indes wesentlich differenzierter als sein schlesischer Kollege. Das elementarische Feuer ist nach seiner Auffassung ein „Naturgeist", den bereits die alten Weltweisen kannten, „doch sehr dunkel", worin der Grund für eine gewisse terminologische Unscharfe zu sehen sei. Die Bezeichnungen differierten bisweilen als „ignis elementaris", „ignis electricus", aber auch „archaeus" oder „Spiritus mundi". Divis dagegen fordert eine deutliche Unterscheidung zwischen den Begriffen des elementarischen und des elektrischen Feuers.206 Divis' Theorie basiert auf einer spezifischen Auslegung dessen, was in Genesis l, 3 als das — noch vor der Sonne — am ersten Tag erschaffene Licht bezeichnet wird. Divis nennt es das „phaenomenon universale" und erläutert, es sei auf zweierlei Weise zu erklären: als elementarisches oder elektrisches Feuer. „Diese zwey Feuer werden zwar der Art nach nicht unterschieden, wie z. E. Stein und Holz, sondern nur in individuo, gleichwie Adam und Eva: Diesen Unterschied verstehe ich durch die Worte: activitas, oder electricitas; passivitas, oder electrisabilitas. Die activitas ist eine Eigenschaft des electrischen Feuers; die passivitas aber ist eine Eigenschaft des Elementar-Feuers: denn das electrische Feuer ist wie ein Mann, (ignis activus) das Elementar-Feuer aber ist wie ein Weib: (ignis passivus) oder deutlicher zu sagen: das natürliche Feuer, welches nicht in dem Aether, sondern in dem am ersten Tag erschaffenen Licht eigentlich bestehet, wird, wie oben schon bewiesen worden, in dem electrischen Subject das electrische Feuer genennet; wann es aber dem electrisabilen subject zugesellt wird, so heißt es Elementar-Feuer."207
seinem Biblischen und emblematischen Wörterbuch kodifiziert: „Alle körperliche Wesen haben geistliche Kräften in sich, welche erregt werden können, da sie von ihnen ausfliessen. In jedem Körper sind die allerkleinste feurige Theile eingeschlossen, welche die allgemeine Bildung des grossen Körpers an sich haben. In den Electrischen Theilen seyn warme trockene feurige Theile, in den electrisablen aber kalte feuchte oder doch feuchte leidsame Theile. Sobald jene mit diesen in der electrisablen Stange, durch den in sie führenden Strohm der electrischen Ausflüsse, vereinigt werden, entstehet erst ein Lebens=Anfang, oder solches Feuer, das mit seiner Elasticität in die Weite wirkt, das an dem Körper in gewisser Entfernung aus= und eingehet, das ohne körperliche Berührung auswärtige Bewegungen macht, und geschwächt werden kan." Friedrich Christoph Geringer: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, dem Tellerischen Wörterbuch und Anderer falschen Schrifterklärungen entgegen gesezt. 1776, S. 204. 206 Dieser Aspekt wird in der ausführlichen Untersuchung von Benz (Anm. 202) allerdings vernachlässigt. 207 Oetinger (Hg.), Procopii Divisch längst verlangte Theorie (Anm. 205), S. l, 5,14f.
216
MICHAEL SCHLOTT
Vereinfacht dargestellt bedeutet dies: Bringt man activitas (electricitas) und passivitas (electrisabilitas) zueinander, so werden „minima" mobilisiert. Diese wiederum werden von Divis als Samen („semina") bezeichnet, die sich „in die electrischen Funken" verwandeln.208 Eben dies meint auch Rosenberg, wenn er darlegt, wie er sich „zuförderst die Hauptsache der Electricität" vorstellt, wobei er sich zur Veranschaulichung seiner Überlegungen wiederum auf Wolff beruft. Dennoch: Rosenbergs Versuch einer theoretischen und experimentellen Erschließung des elektrischen Feuers als einer universellen Kraft bleibt letztlich alchemistischen Grundannahmen verpflichtet: „So bald der Körper gerieben wird, so wird die in ihm befindliche Materie des elementarischen Feuers in Bewegung gesetzt. ... Diese durch Reiben in Bewegung gesetzte allgemeine Materie der Wärme, verändert durch ihre Bewegung den Ort, den sie vorher inne hatte: ... Wenn nun das Reiben fortdauret, und also auch die Bewegung der Materie des elementarischen Feuers wächst; so muß sie sich auch ausserhalb des Körpers ausbreiten, und sogar die in der Luft befindliche Materie des elementarischen Feuers selbst auf eine gewisse Weite mit in einige Bewegung setzen."209
III. Zum Ruhme des Schöpfers Am 25. Juni 1747 hatte Rosenberg gegenüber Gottsched zu bedenken gegeben, daß eine Erkenntnis der „wahren Beschaffenheit" der Elektrizität geradezu erschwert werde, weil sie in zu viele „empirische Hände" gefallen sei.210 Die mit dieser Kritik implizierte Forderung nach einem ausgewogenen Verhältnis von Erfahrung und Theorie geht bei Rosenberg ursächlich auf eine geradezu exemplarisch zu nennende physikotheologische Axiomatik zurück. Hatte er sich in seiner Elektrizitätsschrift auf die Formulierung beschränkt, daß Gott und die Natur nichts umsonst tun würden und es darum sehr wahrscheinlich sei, daß auch aus der Elektrizität ein wahrer Nutzen für das menschliche Geschlecht entstehen werde, so tritt der physikotheologische Aspekt mit unmißverständlicher Deutlichkeit in seiner Dichtung Die Nacht %um Ruhme des Schöpfers und
208 Vgl. Geringer (Hg.), Procopii Divisch längst verlangte Theorie (Anm. 205), S. 13. 209 Rosenberg, Versuch einer Erklärung (Anm. 33), S. 23f. Kratzenstein beispielsweise hat sich den Vorgang ähnlich vorgestellt: „Es ist bekannt, daß durch das Reiben des Glases seine kleinsten Theile in eine innere Bewegung gesetzt werden. Diese Bewegung wird denen darin ruhenden Feuertheilchen mitgetheilet, welche dadurch ebenfalls in Bewegung gesetzt und zum Theil herausgejagt werden." Kratzenstein, Physicalische Briefe (Anm. 123), S. 6. 210 Vgl. Anm. 174.
Abraham Gottlob Rosenberg
217
Enveckung des Gemüthes betrachtet hervor. Der zweiten Auflage von 1750 hat Rosenberg die Vorrede zur ersten Ausgabe vorangestellt; gewidmet ist das Gedicht seinem Onkel Johann Christian Schindel, der zehn Jahre lang mit Gottsched in brieflicher Verbindung gestanden hat. Die Vorrede gibt nicht nur Auskunft über die außerordentliche Wertschätzung des Schülers Rosenberg gegenüber seinem einstigen Lehrer Schindel, sondern wartet darüber hinaus geradezu lehrbuchartig mit dem standardisierten Begriffsinventar physikotheologischer Erbauungsliteratur auf.212 Gegenüber Gottsched verlieh Rosenberg - vermutlich in Anspielung auf seine gleichzeitigen Erfahrungen mit den Geschäftspraktiken des Verlegers David Siegert213 - am 26. September 1750 seiner Hoffnung Ausdruck, „daß es vieleicht eben so gutt ist, ich laufe meinen Richtern durch eine selbst zugelaßne Auflage guttwillig in die Hände, als daß ich mir erst durch einen nur unwißenden Nachdruck ein Bad hätte sollen bereiten laßen. Kriegen denn also Ew. Hochedelgeb. diese dunckle Nacht ja zu sehen, so bitte ich sehr, laßen Sie mehr Liebe als Gerechtigkeit an ihr walten."214 Möglicherweise hatte Rosenberg sich bereits während seiner Leipziger Zeit im Zuge seiner Mitarbeit an Gottscheds Fontenelle-Übersetzung mit der ,Sternkunde' vertraut gemacht; gehörten doch Fontenelles Entretiens zu den populärsten Werken über das zeitgenössische Wissen zur Astronomie.215 So besehen plausibilisiert sich auch Rosenbergs lapidare Feststellung: „Von dem Inhalte dieser wenigen Arbeit, darf ich kaum eine besondere Erläuterung geben. Die Dinge sind mehr als zubekandt auf welche sie sich beziehet. Und man müßte denn ein gäntzlicher Fremdling in der Wissenschaft der Sterne seyn; sonst, deucht mich, wird man wohl alle meine Gedancken ohne Schwierigkeit einsehen können."216 211 Abraham Gottlob Rosenberg: Die Nacht zum Ruhme des Schöpfers und zur Erweckung des Gemüthes betrachtet. Zweyte Auflage. Breslau: J. G. [d. i. Georg Friedrich] Heinrich, 1750. Das Gedicht erschien zuerst 1744 pseudonym unter dem Titel Die Nacht %um Ruhme des Schöpffers und %ur Vergnügen des Gemüthes betrachtet von Peganio. Die erste Ausgabe hatte einen Umfang von 2 Bogen. Diese Angabe entnehme ich dem Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Laut telefonischer Auskunft gehört die Schrift zu den Kriegsverlusten. Weitere Exemplare konnte ich nicht ermitteln. Peganius war das Pseudonym von Rosenbergs Großonkel Christian Knorr von Rosenroth; vgl. Anm. 19 sowie Bildanhang, S. 336. 212 Vgl. Quellenanhang, S. 309-319. 213 Vgl. oben S. 181-185. 214 UBL, 0342 XV, Bl. 383-384, 384v. 215 Vgl. Rainer Baasner: Das Lob der Sternkunst. Astronomie in der deutschen Aufklärung. Göttingen 1987 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Mathematisch-physikalische Klasse. Dritte Folge. Nr. 40), S. 32. Zwischen 1686 und 1742 war das Buch in 9 Auflagen und zahlreichen Übersetzungen ins Englische, Italienische, Spanische, Niederländische, Russische und mehrfach ins Deutsche erschienen. 216 Rosenberg, Die Nacht zum Ruhme des Schöpfers; vgl. Quellenanhang, S. 310.
218
MICHAEL SCHLOTT
Literatur- und gattungsgeschichtlich steht das Gedicht unverkennbar in der Tradition symbolischer Naturbetrachtung. Bereits die Schlüsselbegriffe im Titel - ..Betrachtung' und ,Gemüt' - verweisen auf einen bevorstehenden lyrischen Monolog. Weitere Anhaltspunkte mit geradezu topischer Funktion ermöglichen die nähere Eingrenzung des Gedichtes als Adaptation eines mit Vorliebe von Brockes verarbeiteten Themas: der gestirnte Himmel und die Nacht als geistige Erleuchtung - Nox illuminatio mea: „Der Tag lässt eine Sonn', die Nacht viel tausend, sehn."217 Inspiriert durch die Ruhe der Nacht und die unendliche Weite des bestirnten Himmels, verarbeitet das Betrachtende Gemüt' die erhabenen Eindrücke zu der Vorstellung eines umfassenden metaphysischen Kausalzusammenhanges. Der Verstand als regulative Instanz und Instrument der Reflexion abstrahiert aus der Fülle affektiver Momente die Einsicht in ein gottgewolltes Schöpfungsgeschehen: „So vielmahl tausend tausend Kertzen,/ Als an dem Firmamente stehn ... Was ich hier, grosser Schöpfer, höre,/ Bestürtzet und erfreuet mich!/ Und beydes, weil ich höchstes Wesen,/ An jedem Sternchen diß, es ist ein GOtt, kann lesen."
Im Wechsel zwischen naturbetrachtendem und belehrend-argumentierendem Duktus wird von Strophe zu Strophe eine ,erbauliche' Summe gezogen; und die Grundintention des ,natürlichen Gottesdienstes' wird im Medium des lyrischen Ichs zweifelsfrei gestellt: Nicht weil, sondern obwohl es naturwissenschaftliche Forschung und Erkenntnis gibt, deutet angesichts des Naturgeschehens alles auf die ordnende Hand und weise Einsicht eines universalen Schöpfers und Erhalters. Es ist demzufolge gleichgültig, ob die empirischen Daten das geozentrische oder das heliozentrische Weltbild bestätigen; von Belang ist einzig das physikotheologische Bekenntnis zum theistischen Prinzip: „Bewegt ihr euch um meine Erde,/ Wie? oder lauf ich gar um euch?/ ... Gewiß, ich seh mich hier betroffen:/ Kann ich diß Rätzel wohl noch aufgelöset hoffen?// Doch nein, ich brauche solche Gründe/ Nicht erst zu meiner Sättigung./ Was ich mit blossem Auge finde,/ Daß ist mir mehr schon als genung,/ Den grossen Meister zu erkennen,/ Der alles das so eingericht."
Ein zentraler Bereich im physikotheologischen Denken des 18. Jahrhunderts war bekanntermaßen das starke Interesse an astronomischen Phänomenen, umgekehrt bereicherten die empirischen Kenntnisse der ,Sternkunst' das Zusammenspiel von Theologie und Naturforschung: 217 Vgl. Barthold Hinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Band 1. 7. Auflage. Hamburg: Christian Herold, 1744, S. 141 f. In zahlreichen Variationen wurde das Thema adaptiert; vgl. etwa Albrechtjacob Zell (Hg.): Erweckte Nachfolge zum Irdischen Vergnügen in Gott. Hamburg: Kißner, 1735, S. 5-32: Der himmlische Pallast des Schöpfers; Die Gegenwart des Schöpfers aus Betrachtung des gestirnten Himmels; Die aus den Sternen hervorleuchtende Allmacht des Schöpfers; Die Lichter des Himmels; Die Sternen^Schrift.
Abraham Gottlob Rosenberg
219
„Naturlehre schloß somit Theologie ein, diente zugleich als Mittel der Gotteserkenntnis."218 Physikotheologie bedeutet in dieser Perspektive: apologetische Theologie,219 nicht aber theologisch motivierte Kontrolle der ,entfesselten' postkopernikanischen ,Curiositas' und des ungebremsten Fortschritts ,der' Naturwissenschaften (Kompatibilisierungs these).220 Ebensowenig steht hier die im Anschluß an Hume immer wieder kritisierte Zirkularität physikotheologischen Denkens zur Debatte, daß nämlich die Existenz Gottes aus Annahmen abgeleitet wird, in denen die Existenz Gottes bereits implizit vorausgesetzt ist. Im ,Mutterland' der Physikotheologie, im aufgeklärten England, bedeutete Physikotheologie zunächst nichts anderes als die stetig zunehmende empirische Naturerkenntnis und die gewonnenen Beobachtungsergebnisse mit dem theistischen Prinzip und der biblischen Schriftautorität zu vermitteln: Glaube und rationale Weltsicht, Theologie und Wissenschaft, Offenbarung und Vernunft in einem religiösen Gedankengebäude zu integrieren.221 Einen offenen Konflikt zwischen Beobachtung und christlichem Glauben bzw. Empirie und Schriftautorität kennt die Physikotheologie nicht.222 Physiko218 Baasner, Das Lob der Sternkunst (Anm. 215), S. 17. Vgl. auch das Kapitel „The Diversity of Interaction" in: John Hedley Brooke: Science and Religion. Some Historical Perspectives. Cambridge University Press 1991, S. 19-33. Nach wie vor grundlegend: Otto Zöckler: Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft. 2 Bände. Braunschweig 1877/79, spez. Band 2 (Abschnitt Physikotheologie); Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Görtingen 1957; Manfred Büttner: Das Problem der „praktischen" natürlichen Theologie, dargestellt an dem Beispiel der Beziehungen zwischen Klimatologie und Theologie in der Geschichte der Physikotheologie. Münster 1963; Hans-Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie. Göttingen 1971; Sara Stebbins: Maxima in minimis. Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung. Frankfurt am Main u. a. 1980; Udo Krolzig: Das physikotheologische Naturverständnis und sein Einfluß auf das naturwissenschaftliche Denken im 18. Jahrhundert. In: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), S. 90-102. 219 Vgl. Barth, Atheismus und Orthodoxie (Anm. 218), S. 254. 220 Vgl. etwa Wolfgang Preisendanz: Naturwissenschaft als Provokation der Poesie: Das Beispiel Brockes. In: Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. München 1994, S. 469494. Preisendanz konstatiert mit Blick auf die Destruktion des geozentrischen Weltbildes eine „kosmologische Dezentrierung des Menschen, eine schockierende Kränkung des menschlichen Selbstverständnisses": „Die Vermittlung, die Kompatibilisierung der New Science mit der christlichen Religiosität war denn auch für eine gute Strecke Zeit das Anliegen einer von den Wandlungen des Welt- und Naturbilds, von den Erträgen der neuzeitlichen Naturwissenschaft inspirierten Dichtung". S. 471, 473. Vgl. zu diesem Themenkomplex bereits Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972; Walter Schatzberg: Scientific Themes in the Popular Literature and the Poetry of the German Enlightenment 1720-1760. Bern 1973. 221 Vgl. dazu die von Helga Dirlinger in Fortführung der Überlegungen von Brooke (Anm. 218) entwickelten Thesen: Protestantische Aufklärung und naturwissenschaftliche Weltsicht - Die Physikotheologie. In: Johannes Dantine, Klaus Thien, Michael Weinzierl (Hg.): Protestantische Mentalitäten. Wien 1999, S. 111-136,126. 222 Vgl. Stebbins, Maxima in minimis (Anm. 218), S. 14f.
220
MICHAEL SCHLOTT
theologie gründet mithin zunächst in der Überzeugung, daß aus der genauen Beobachtung der Schöpfung die fortwährende Bestätigung dafür zu erlangen sei, daß Gottes Werke gut, gelungen und sinnvoll seien, und in genau dieser Gestalt ist sie auch bei Rosenberg vorfindbar. Der allerdings naheliegende - jedoch nicht zwingende - Schluß, daß daher akribische Naturbeobachtung im Sinne uneingeschränkter Bejahung des theistischen Prinzips und des göttlichen Schöpfungsgedankens als notwendig anerkannt werden müßten,223 birgt indes den eigentlichen Konfliktstoff für die theologische und philosophische Auseinandersetzung über die Legitimität physikotheologischer Denksansätze. Denn zu recht haben sich Naturforscher angesichts der Forderung, ihre empirische Arbeit unter den Leitgedanken einer Rechtfertigung der christlichen Schöpfungslehre zu stellen, darauf berufen, daß sie sich zunächst an die Natur selbst und an das, was die Erfahrung zeige, nicht aber an die Meinungen anderer Autoren (und das heißt schließlich: auch nicht an die Autorität' der Bibel) halten würden.224 In analoger Konstellation gestaltete sich das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft. Bei Locke bereits ist diese Position ausgearbeitet,225 und Christian Wolff, der seinerseits durch eine verstärkte Rezeption und Popularisierung des zeitgenössischen physikotheologischen Wissens für die Erhaltung des theistischen Prinzips gewirkt hat, verwahrte sich dennoch gegenüber der Orthodoxie mit unmißverständlicher Deutlichkeit gegen
223 Vgl. etwa William Derham: Physico-Theology or, A Demonstration of the Being and Attributes of God from His Works of Creation. 1732, S. 426-28. Derham erreichte bis 1768 13 Auflagen und erschien u. a. in holländischer, englischer, schwedischer und deutscher Sprache; vgl. Margaret C.Jacob: The Newtonians and the English Revolution 1689-1720. New York u. a. 1990 (Reprint der Ausgabe 1976), S. 162. 224 Ein Beispiel bietet Rösel von Rosenhof (1705—1759) in der Vorrede zum ersten Teil der Insecten-Belustigung, Er hat nichts dagegen einzuwenden und begrüßt es sogar, wenn seine empirischen Forschungen mit der Annahme eines allweisen Schöpfergottes konvenierten. Dennoch legt er unmißverständlich dar: „Was die in dieser Beschreibung vorkommende Sachen betrifft, so kann ich den geneigten Leser versichern, daß ich alles Selbsten beobachtet, nichts aber aus ändern Büchern endehnet habe." August Johann Rösel von Rosenhof: Der monathlich herausgegebenen Insecten=Belustigung Erster Theil. Nebst einer Vorrede, in welcher von dem Nutzen derer Insecten gehandelt, was sie seyen gezeiget, und von der Eintheilung dererselben Nachricht gegeben wird. Nürnberg: Johann Joseph Fleischmann, 1746, B4v. 225 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Band 2. Hamburg 1988 (Philosophische Bibliothek 76), XVIII. Kapitel (Über den Glauben und die Vernunft und ihre verschiedenen Gebiete), S. 392—404. „Denn jede Wahrheit, die wir mit Hilfe der Kenntnis und Betrachtung unserer eigenen Ideen klar entdecken, wird für uns immer eine höhere Gewißheit besitzen als die Wahrheiten, die uns durch überlieferte Offenbarung vermittelt werden." S. 395.
Abraham Gottlob Rosenberg
221
eine Grenzüberschreitung der Offenbarung in den Bereich der Vernunft.226 An diesem zentralen Punkt setzen nun Rosenbergs Überlegungen in den Erbaulichen Briefen von der Religion an. Der Zweck dieses stark moralisierenden Traktats besteht Rosenberg zufolge darin, einem ungenannten „vornehmen Manne", der gerne glauben wolle, seine dennoch bestehenden „Zweiffei gegen die Religion" zu nehmen, d. h. ihn von der „Wahrheit der Religion" zu überzeugen. „Ew. *** sind gewiß nicht der eintzige in unsern Tagen, der durch Trug und List des Satans, nach und nach von aller wahren Erkenntniß und Krafft der Religion herunter gekommen: Nicht der eintzige, der sich gedacht, mit einer sehr bequemen und kurtzen Religion durchzukommen, die vor Fleisch und Blut allerdings nicht erwünschter seyn konnte."227
Rosenberg expliziert zunächst die beiden fundamentalen argumentativen Voraussetzungen, aus denen alle weiteren Schritte zur Läuterung und ,Erbauung' des im Zweifel befangenen Adressaten folgen sollen, als da wären: 1) Die Seele verfüge über „eine Vernunfft oder einen Verstand", womit sie eine Sache fassen, begreifen und beurtheilen könne. „So hat GOtt dem Menschen Verstand und Vernunfft gegeben, daß er sich um die wahre Beschaffenheit der Sachen bekümmern, und sich nicht selbst mit falschen Vorstellungen betrügen soll."228 2) „Eine jegliche Sache in der Welt hat von ihrem mächtigen und weisen Schöpffer den Grund ihrer Wahrheit in sich selbst, warum sie ist, warum sie eben so und nicht anders ist?" Aufgabe des Verstandes sei es also, eine jede Sache ihrem wahren Wesen und ihrem „Endzweck" gemäß zu identifizieren. Wer eine Sache für etwas anderes ausgebe als das, was sie eigentlich sei, „der ist ein närrischer Lügner, und stehet ihm der Kopf nicht an der rechten Stelle."229 Damit ist bereits der Grund für eine Prüfung alles dessen gelegt, was dem religiösen Zweifler als Scheinwissen entgegentrete und letztlich für alle seine Anfechtungen im Glauben verantwortlich sei. Rosenberg erklärt, er habe seinem Korrespondenten neun Schreiben zugefertigt, in denen die folgenden Themen traktiert worden seien: 1) der Beweis, daß es Religion 226 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Absichten der natürlichen Dinge, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1724, Vorrede, ):(4v-):(5v. 227 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 3f.; vgl. auch Büdanhang, S. 337. 228 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 25. 229 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 26f. Diese Position formuliert Rosenberg mit Blick auf La Mettrie. Es wäre für die Menschen „eine unendlich grosse Schande", wenn sie sich mit La Mettrie „und seines gleichen in eine Classe setzen" und sich „muthwillig in unvernünfftige Thiere verwandeln wollen."
222
MICHAEL SCHLOTT
und Gottesdienst überhaupt gebe und geben müsse. 2) der Unterschied zwischen dem Gottesdienst, „den alle Creaturen, nach ihrer Art, GOtt, ihrem Schöpffer leisten" und einem Gottesdienst, wie ihn vernunftgeleitete Menschen praktizieren sollen. 3) Beweis, daß es keine vernünftigere Religion als die christliche gebe. 4) Beweis, daß die heilige Schrift tatsächlich Gottes Wort sei. 5) Beantwortung des Einwurfs, daß sich „gleichwohl ein jeglicher Irrgeist auf die Schrifft" berufe und Beweis, daß Jesus der Messias und Gottes Sohn sei. 6) Widerlegung der Ansicht, daß die Prediger und Geistlichen selbst am allgemeinen religiösen Indifferentismus schuld seien. 7) Erkenntnis und Fazit, daß der zweifelnde Adressat sich „unbilliger Weise an die Geistlichen gestoßen, und daß sich derselbe wiederum öffentlich mit Hertz und Munde zur Christlichen Relgion bekennet."230 Es würde zu weit führen, Rosenbergs diskursive Bemühungen en detail darzustellen; die Struktur seiner Argumentation ergibt sich aus dem alternierenden Prinzip der Präsentation und natürlichen' Auslegung von Bibelstellen. Auf diese Weise entsteht eine kumulative Beleganhäufung und exzessive Dokumentation für das vernünftige' Wirken Gottes im Naturgeschehen. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch, Gott aus Vernunftschlüssen nachzuweisen, sondern erklärtermaßen um den empirischen Nachweis Gottes in der Natur. Rosenberg muß dabei auf keinerlei eigene Forschungen rekurrieren, sondern kann sich zum ,Beweis' seiner Behauptungen aus dem gesamten Arsenal bereits bestehender physikotheologischer Entwürfe bedienen. Astro- und Hydrotheologie sind ihm nicht minder geläufig wie Ichthyo-, Insecto-, Litho-, Bronto-, Phyto- und Pyrotheologie, um nur einige zu nennen. Derham und Fabricius stehen ihm ebenso mühelos zu Gebote wie Julius Bernhard von Rohr, Lesser und Ahlwardt. Wennngleich von Rosenberg keine Predigten überliefert sind, so liegt die Vermutung zumindest nahe, daß man in Passagen wie der folgenden zugleich inhaltliche Beispiele für die Art seiner Kanzelberedsamkeit vorliegen hat. Daß die Erforschung der Natur nicht zur Selbstgefälligkeit des Forschers, sondern zur Ehre des Schöpfers zu erfolgen habe, ist Rosenberg zufolge also unumstößlich gewiß. „Unsere gottesfurchtigen und frommen Gelehrten, die ihre Gelehrsamkeit nicht zur Unehre, sondern zur Ehre GOttes anwenden, die damit die Religion und den Gottesdienst nicht unterdrücken; sondern vielmehr aufrichten und ausbreiten, geben sich recht um die Wette Mühe, die Ehre GOttes unter Menschen, aus dem Reiche der Natur zu befestigen. Derhams Physicotheologie, oder Natur=Anleitung zu GOtt, haben wir schon oben angeführet. Es sind in diesem fürtreflichen Buche die schönsten Betrachtungen über die natürlichen Dinge enthalten, die uns die Macht und Weißheit GOttes vorstellen. Es hat dieses gelehrte und erbauliche Buch der seelige Herr Johann Albert Fabricius zu Hamburg herausgegeben, nebst 230 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 35f.
Abraham Gottlob Rosenberg
223
einer Aufmunterung des Herrn Carol Rollins, die Jugend bey zeiten zur Liebe ihres Schöpffers, durch Betrachtung der Creaturen anzuführen. Dieser seelige Herr Fabridus hat auch selbst einen Entwurff von einer Hjdrotbeo/ogie, oder Versuch, durch aufmercksame Betrachtung der Wasser, die Menschen zur Liebe und Bewunderung des gütigsten, weisesten und machtigstens Schöpffers zu ermuntern, drucken lassen. So ist auch Derhams Astrotbeo/ogie, oder das himmlische Vergnügen in GOtt bekannt, da uns dieser große Naturkündiger zur Betrachtung des Himmels und der himmlischen Cörper anführet, aus diesen die Weißheit, Macht und Güte GOttes zu erkennen. Welches schöne Buch der vorerwehnte seelige Professor Fabridus gleichfals in der deutschen Sprache aus dem Engelischen herausgegeben."231
Bemerkenswert ist Rosenbergs Erklärung der Genese und Funktion physikotheologischer Literatur. Sie sei keineswegs Ausdruck atheistischer Prinzipien, sondern ein Instrument zu deren Abwehr, denn „so lassen sich diese und andere dergleichen gelehrte Männer mehr, zu ihnen herab, und predigen ihnen aus dem Reiche der Natur, da sie die göttlichen Predigten aus seinem geoffenbahrten Worte nicht mehr hören wollen, ob sie ihren HErrn und Schöpffer noch da fühlen und finden möchten."232 Zielführend ist für Rosenberg bei alledem die Entwicklung einer unmißverständlichen Position zum Problem des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung. Deutlicher und unzweifelhafter als in seinen Vorüberlegungen zur Übersetzung der Predigten Saurins233 wird in den Erbaulichen Briefen der Offenbarungsbegriff streng von der Bibel auf die Natur übertragen: Gott offenbart sich und ist in der Natur so wie in der Schrift: „Die Vernunft kan an und vor sich den Willen GOttes, wornach sie sich richten soll, unmöglich erkennen, GOtt muß ihr denselben selbst auf eine unmittelbahre Art und Weise offenbahren und zu erkennen geben. ... Betrachtet sodenn ferner die raisonable Vernunfft die heilige Schrifft, oder die von GOtt gegebene unmittelbahre Offenbahrung selber, so wird sie so viele tausend Geheimnisse, zu des Menschen seiner wahren Glückseligkeit innen, die sie gantz unmöglich wissen, oder ihren Gottesdienst darnach einrichten könnte, wo es ihr nicht GOtt selbst unmittelbahr geoffenbahret und kund gethan hätte, und sie verstehet sodenn ä posteriori, wie man in Schulen spricht, von hinten her, gantz deutlich, daß die wahre und Gottgefällige Religion ohnmöglich ohne göttliche Offenbahrung seyn, und daß eine bloß natürliche, oder sich selbst ausgedachte Religion GOtt durchaus nicht gefallen kan. ... Alle Pflantzen die mein himmlischer Vater nicht pflantzet, die werden ausgereutet. Solche Leute, die so eine Religion ohne göttli-
231 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 82-84. Eine solide Bibliographie mit verläßlichen Titelangaben der gängigen zeitgenössischen physikotheologischen Werke bei Stebbins, Maxima in minimis (Anm. 218), S. 253-291. 232 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 85; vgl. Apostelgeschichte 17, 27. 233 Vgl. Anm. 81.
224
MICHAEL SCHLOTT ehe Offenbahrung und Schrifft aufrichten, lasse man fahren, sie sind blind, und blinde Leiter."234
Auch ohne eine fortschreitende analytische Vertiefung in den bisweilen verstiegen anmutenden Detailreichtum der Erbaulichen Briefe sollte deutlich geworden sein, daß Rosenbergs physikotheologische Grundausrichtung geradezu als klassisch zu bezeichnen ist. Seine charakteristische Argumentationsweise nimmt ihren Ausgang nicht bei logischen Beweisketten, sondern gründet im Faszinosum der affektiven und empathischen Naturwahrnehmung. Unverkennbar ist die apologetische Tendenz seiner Bemühung, Vernunft und Offenbarung im Gleichgewicht zu halten bzw. aus den empirisch gewonnenen Daten der ,new science' — vor allem aber aus bereits vorliegenden physikotheologischen Gebäuden - auf eine kunstvoll und zweckmäßig eingerichtete Ordnung des Schöpfungsganzen zu schließen und a posteriori einen christlichen „Schöpffer" und Erhalter zu postulieren. Über den missionarischen Erfolg dieser Unternehmung kann Rosenberg zufolge kein Zweifel bestehen, wenn er seinen (fiktiven?) Korrespondenten am Schluß der Erbaulichen Briefe bekennen läßt: „Ich danke Ihnen vor so viele Bemühungen, die sie sich in diesen Briefen mit mir abgegeben recht hertzlich. Die Thorheh die anhero mein Hertz beherrschet, soll darinnen nie einen Platz wieder finden. ... Amen, Amen."235
234 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 150f.; vgl. Matth. 15,13-14. 235 Rosenberg, Erbauliche Briefe (Anm. 35), S. 314f.
Abraham Gottlob Rosenberg
225
Quellenanhang Handschriftliche Quellen Abraham Gottlob Rosenberg an Gottsched, Mertschütz 21. März 1746 Original: UBL, 0342 XI, Bl. 103-104. 4 S. Abschrift: UBL, 0343b, Nr. 173, S. 328-331 HochEdelgebohrner, Hochgelehrter/ Hochzuehrender Herr und hochgeschätzter Gönner. Ich weiß nicht, ob nach einer Zeit von 15 Jahren, seitdem ich Leipzig verlaßen habe, noch einiges Andencken meines geringen Nahmens bey Ew. Hochedelgebohrnen übrig seyn möchte. Und eben deßwegen wird es Ihnen vieleicht desto befremdlicher fallen, wenn ich mich erkühnet habe Ew. HochEdelgebohrnen den VI. Theil meiner Ubersezungen der Saurinischen Predigten zu zu schreiben.1 Es sind viel Umstände, die mich von diesem Unterfangen hätten abhalten sollen. Selbst der geringe Werth dieser Übersetzung, und der so weidäuftige Ruhm Dero hochwerthesten Nahmens schicken sich, wenn ich es recht erwäge, wenig zusammen. Und wenn nicht der bey allen Gelehrten in wahrem Werthe stehende Nähme Saurin war; so würde ich fast besorgen, ich möchte Ew. HochEdelgeb: mit meiner Ihnen gewiedmeten Dedication mehr beschwerl. als angenehm werden. Diese Gedancken beunruhigen mich vors gegenwärtige wohl freylich in etwas. Ich werde mich aber auch desto mehr erfreuen, wofern ich sehen solte, daß ich hie meiner Furchtsamkeit etwas mehr eingeräumt, als ich gesolt hätte. Ich kan indeß das nochmals versichern, was ich in der Zuschrift selbst gesagt; daß nehmlich dieselbe aus einer Hochachtung gegen Ew. Hochedelgeb. entspringt, die mich noch nie verlaßen, seit dem ich von Leipzig gegangen bin. Unzehlige Umstände meines Lebens haben mich überführt, u. überführen mich noch täglich, welch ein Glück Dero Unterricht vor mich gewesen sey, den ich ehmahls nebst dem nun schon entschlafnen Herrn Günther , und nachgehends nebst dem itzigen Herrn Probst Jerusalem auf eine so vertraute Weise von Ihnen genoßen. Und da ich mit einem ganz gutten Grunde sagen kan, daß ich eigentlich nur drey Personen gehabt, die ich in recht genauem Verstande meine Lehrer nennen kann; so muß ich zugleich bekennen, daß ich Ew. HochEdelgeb. als 1 2 3
Vgl. Quellenanhang, S. 287f. David Heinrich Günther (f 1742), preußischer Feldprediger, ehemals Mitglied der Nachmittäglichen Rednergesellschaft. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, ehemals Mitglied der Nachmittäglichen Rednergesellschaft; vgl. oben S. 156,159
226
MICHAEL SCHLOTT
die Crone in diesem mir so innigst werthen Kleeblatte ehre. Ich kan daher nie an meine Lehrjahre in Leipzig dencken, daß Dero werthester Nähme nicht mit den zärdichsten Regungen einer wahren Danckbegierde in meinem Hertzen u. auf meiner Zunge seye. Wie ich denn, wenn Ew. Hochedelgeb. mir es nur nicht als eine Ruhmrädigkeit anrechnen wollen, noch dazu setzen kan, daß wenn ich irgend einmahl was von mir sagen will, welches ich dencke daß es mir zu rechter Ehre gereichen soll, so ist es nie was andres, als diß, daß ich mich Ihren Schüler nenne. Laßen Sie es denn schon sagen, daß meine unternommne Zuschrift ein sehr geringes Ehrenmahl vor Dero berühmten Nahmen ist. Können auch schlechte Sachen zuweilen einigen Werth bekommen, wenn die Redlichkeit der Absichten den Mangel der Kräfte ersetzet; so kan vieleicht auch die aufrichtige Begierde mich Ihnen als einen danckbaren Schüler annoch zu zeigen, dieser Zuschrift eine geneigte Aufnahme zu wege bringen, die sie sonst ihrer wenigen Erheblichkeit halben nicht verdienen würde. Ich würde, was ich gegenwärtig diue schon vorlängst gethan haben, wenn der Selbststreit, ob ich Ihnen hiedurch mehr angenehm oder unangenehm werden möchte, mich nicht von Zeit zu zeit verzögert hätte. Wie ich denn nicht weiß, ob Ew. HochEdelgeb. sich noch erinnern möchten, daß denselben schon der erste Theil meiner Ubersezung4 gewiedmet war; an deßen Vollziehung mich nichts gehindert, als die ausgebliebne Antwort, auf meine Bitte, mit welchem ich mir damals die Erlaubniß zu einer Dedication von Ew. HochEdelgeb. ausgebeten hatte. Itzo habe ich alle Einwürfe, die ich mir machen können, völlig auf die Seite gesetzt, u. folge allein dem Triebe meiner Erkentlichkeit, in Hofnung, daß Ew. HochEdelgebohrnen dieses Unterfangen güttig aufnehmen werden. Ich lebe freylich in meinem Vaterlande nur in mittelmäßigen Umständen, und diene annoch einer Landgemeine, die ich jedoch vieler Umstände halben biß daher schon mehr als einmahl Versorgungen bey Stadtgemeinen vorgezogen habe. Indeß bin ich lebendig genug überführt, daß auch diejenige Achtung u. Vertrauen, die mir etwa einige gelehrte Freunde in meinem kleinen Bezircke gönnen, alleinige Früchte der vor mich so glücklich ausgefallnen Gottschedischen Schule sind. Kan es also geschehen, daß mein gegenwärtiges geringes Denckmahl der Danckbarkeit einiges Wohlgefallen bey Ihnen finde; so gönnen Sie mir das Vergnügen, mich davon durch einige Nachricht zu versichern, welche H. Breitkopf6 meinem Verleger, dem Herrn Siegert7 in Lignitz gar leichtlich mittheüen wird. 4 5 6 7
Vgl. oben S. 170 und Quellenanhang, S. 240-254. Vgl. Rosenberg an Gottsched, 17. Juli 1734, UBL, 0342 III, B1. 92-93. Bernhard Christoph Breitkopf (1695-1777), Verleger in Leipzig. David Siegert, Verleger in Liegnitz; vgl. Paisey, S. 244.
Abraham Gottlob Rosenberg
227
Ich füge dem allen noch eine eintzige Bitte bey. Und sie ist diese, daß Ew: HochEdelgeb. Dero hochwertheste Frau Gemahlin der Hochachtung eines Deroselben zwar unbekandten Dieners in ganz besonderm Grade versichern wollen, der sich unzehlige mahl an Deroselben Bildniß und angenehmen Schriften vergnüget, da er das Vergnügen nicht haben kan, eine so vollkomne Gattin seines hochgeschätzten Lehrers persöhnlich zu kennen. Ich ersterbe endlich auch einmahl mit derjenigen hochachtungsvollen Erkendichkeit, mit welcher ich gegenwärtig lebe, u. die Ehre habe jederzeit zu seyn Ew. HochEdelgebohrnen/ Meines hochzuehrenden Herrn und hochgeschätzten Gönners/ gehorsamst ergebenster/ A. G. Rosenberg Mertschütz im Fürstenthume Liegnitz/ d. 21. Mertz 1746.
Abraham Gottlob Rosenberg Gottsched, Mertschütz 17. April 1750 UBL, 0342 XV, Bl. 200-202. 5 S. Hochedelgebohrner Hochgelehrter/ Insonders hochzuehrender, und hochgeneigter Gönner. Die Lesung dieser schönen Übersetzung; das Vergnügen was ich dabey empfunden; verschiedne andre Umstände; das alles hat sich in mir vereiniget, worüber Sie sich vieleicht wundern werden, wieder an meinen Saurin zu gehen. Meine Landesleute sowohl, als verschiedene auswärtige Freunde, sind ohne diß schon seit der Zeit auf mich böse gewesen, da ich mit dem VII. Th.9 die Feder niederlegte: Obwohl niemand die wahre Qvelle von dieser Entziehung von meinem Saurin, der recht durch einen so vieljährigen Umgang mein ander Ich, wo mirs erlaubt ist so zu sagen, worden war, eingesehen, und die meisten glaubten, meine Bevqemlichkeit wäre nur schuld daran. Ich habe viel Briefe empfangen, die theils mit Bitten, theils mit Unwillen, die Fortsetzung eines Werckes von mir forderten, welches auch bey allen ändern Übersetzungen die davon herauskommen konten, ein verstümmelt Werck bliebe, so lange es nicht von einerley Hand vollendet wäre. So gar ist neulich ein Brief von einem unbekandten Frauenzimmer des Saurin wegen bey mir eingelaufen, der mich nicht wenig zur Fortsetzung aufgemuntert: ob wohl der Brief weder Ort, woher, noch Nähme, von wem, hatte, und nur unterschrieben war eine Dame 8 9
Vgl. im vorliegenden Band Rüdiger Otto: Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen, Bild Nr. 13 oder 14. Vgl. Quellenanhang, S. 234, 289-293.
228
MICHAEL SCHLOTT
Evangelischer Religion. Mir war eine gewiße Poststation in unserm Lande angewiesen, wohin ich unter einem vorgeschriebnen Titel schreiben solte, wo ich antworten wolte. Ich habe das gethan, aber bey aller Mühe noch nicht entdecken können, wo ich eine solche Gönnerin meiner Übersetzungen suchen solte. Indeß habe ich es nun gethan, und den X. Theil10 übersetzt, der nun wohl, wie ich hoffe auf Michael erscheinen soll. Ich weiß es wohl, daß H. Siegert11 eben diesen Theil hat übersetzen laßen. Allein das hat mich nicht abgehalten. Herr Siegert hat es um mich verdienet, daß ihm dieser Querstreich komt. Sie würden es kaum glauben, wie hoch er seine Unmanirlichkeit gegen mich getrieben. Und hätte ich es länger erdulden können, mich als seinen Lohnknecht von ihm halten, und ihn mit seinen Gesetzen und Drohungen über mich herrschen zu laßen; so würde ich den 8 u. 9 Theil12 wohl nicht erst in andre Hände haben kommen zu laßen. Ich habe ihn indeßen beyzeiten gewarnet, und, ob ich wohl seine recht spöttischen Vorschläge unter welchen er mir den X. Theil antrug, da er doch schon in Leipzig deßwegen Anstalten gemacht, verwerfen muste, ihm geschrieben, ich übersetzte den Theil, so wie nachgehends den 8. 9. gewiß, wornach er sich also, seinen Nachtheil zu verhütten, richten könte. Ich habe deßwegen eine Nachricht von diesem meinem Vorhaben aufgesetzt, die auf diese Meße wohl zum Behufe meiner Ausgabe erscheinen wird. Ich weiß wohl nicht, ob ich Ew. Hochedelgeb. auch ersuchen dürfte, dieser Nahricht mit ein Stellchen in Dero schönen Büchersaale13 zu gönnen. Würde das schon zu beßrer Benachrichtigung derer, die auf meine Übersetzung noch warten, gereichen; so ist doch hier in gewißer maaße res odiosa. Und da wolte ich nun wohl nicht, daß Ew. HochEdlgeb. sich wodurch es auch etwa zu seyn scheinen möchte, den Eifer des Hn. Siegerts zugleich mit zu ziehen solten. Daher uberlaße ich es, Ew. Hochedelgeb. völlig, ob Sie diese Nachricht im Büchersaale anhängen, oder sie lieber übergehen wollen. Denn da Sie ohne diß wohl mercken werden, ob diese Nachricht in Leipzig einige Aufmercksamkeit machen werde, so bin ich schon versichert, daß, was Sie hie erwählen werden, das Beste seyn wird. Mein Verleger wird, wie ich itzo im Vertrauen melde, ein gewißer neu angehender Buchführer, Herr Heinrich,14 von Breßlau seyn, der Ihnen auch gegenwärtiges überreichen u. zugleich die gedruckte Nachricht zei10 11 12 13 14
Vgl. Quellenanhang, S. 234, 301-308. David Siegert, Verleger in Uegnitz; vgl. Paisey, S. 244. Vgl. Quellenanhang, S. 234, 293-301. Vgl. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 9/5 (1750), S. 472f. und 10/5 (1750), S. 472f. Georg Friedrich Heinrich, 1750 Verleger in Breslau; vgl. Paisey, S. 101.
Abraham Gottlob Rosenberg
229
gen wird. Ich habe mir vorgenommen diesem Anfänger so viel ich kan, an die Hand zu gehen, da er sich besonders an mich gewandt, und mich um allerley Rath bey seiner neueingerichteten Handlung gebethen. Ich nehme mir also auch die Freyheit ihn Ew. Hochedelgeb. bestens zu empfelen, u. wo Sie etwa zu seinem Besten ihm, nach Dero großen Einsicht in das Verlagswesen, davon Ew. Hochedelgeb. ein so besonders Exempel an dem Breitkopfischen Hause erwiesen, einige Rathschläge oder Beföderungsmittel diesem Herrn Heinrich, mittheüen können, solches um meinetwillen gegen ihn thun. Solte man ihm nicht den Verlag der Deutschen Gesellschaft in Königsberg zu schantzen, und ihm etwa einigen Glantz bey seinem Anfange zu geben, den Titel eines ordentlichen Verlegers dasiger Gesellschaft erwerben können. Dieser Mann ist sonst von ehrlichem und willfährigem Gemüthe, und ich hofte man würde künftig einen Verleger aus ihm bilden können, der den Gelehrten nicht mit solchen Stoltz und Geringschätzigkeit, als wir sie auch hie zu Lande erfahren müßen, sondern mit Willigkeit unter die Arme greifen würde: Wenn man nur machen könte, daß er bald Anfangs mit gutten Sachen in Verlag kommen könte. Ew. Hochedelgebohrnen/ gehorsamster u. ergebenster/ A. G. Rosenberg Mertschutz d. 17. April./ 1750.
Abraham Gottlob Rosenberg an Gottsched, Mertschutz 2. Januar 1753 UBL, 0342 XVIII, Bl. 3-5. 5 S. Hochedelgebohrner, Hochgelehrter/ Insonders hochzuehrender Herr/ hochgeneigter Gönner. Denn welch eine Rolle ist das, die der unverschämte Siegert mit mir spielet Und was soll ich dencken, daß ein Mann, wie H. M. Schwabe ist, seinen Nahmen hingiebt, ein Unternehmen zu vollziehen, was schändl. ist, und nun ein Ende vor die Weltl. Richter kommen muß, und auch schon da seyn würde, wenn mich nicht bißher noch immer der Schwabische Nähme aufgehalten hätte, eine Klage wieder den schändlichen Buchführer anzustrengen, die zugleich mit den Nahmen eines Gelehrten in Schande setzen muß, den ich werth achte, ob er sich schon zu einem Werckzeuge hat brauchen laßen, einem Manne Gewalt zu thun, der ihn nie beleidiget. Vieleicht wißen Sie es nehmlich schon, daß der unbesonnene Siegert,
230
MICHAEL SCHLOTT
nachdem er den X. Theil meiner Übersetzung15 vom Saurin aus dem hinterlaßnen Heinrichschen Verlage an sich gebracht, den Titelbogen umdrucken laßen, meinen Nahmen von meinem eignen Buche ausgetilget, und davor hinsetzen laßen, übersetzt und herausgegeben von M. Joh. Joach. Schwabe. Wogegen aber, und damit ja dieser Diebstahl allen Leuten sogleich in die Augen fallen mögte, meine Dedication und Vorrede, und in jener mein Nähme zu allem Glück noch stehen bleiben, weil der Buchführer sonst zuviel Geld auf seine Rache an mir am Druckerlohne hätte wagen müßen. Haben Sie wohl ie einen Bücherraub von gleicher Art gesehen? Ich habe zwar allerdings geglaubt, daß ich bey den sonst unerträglichen Begegnungen des Buchführern Siegerts, die ich viel Jahre her in aller Stille ertragen, nicht beßer thun könte, als mich in meinen Schrancken halten, weil ich wüste, meine Duldung würde den ungerechten Mann endl. keck machen, einen Schritt zu thun, bey dem ich ihn auf einmahl vor allemahl würde begegnen können. Und meine Gedancken haben mich nicht betrogen. Er hat ihn nun gethan diesen Schritt, auf den ich gewartet. Aber welch Erstaunen! Er hat ihn in H. Schwabes Gesellschaft, und unter seinem Nahmen gethan. Und itzo frolockt er noch, und giebt ungescheut vor, ich hätte es mit H. Schwaben zu thun, der hätte es selbst so haben wollen, auch den Bogen mit eigner Hand corrigirt. In der That hat der ungerechte Mann mir durch Einladung des Hn. Schwabens mein Vergeltungsrecht etwas schwer gemacht. Sonst würde die Klage wieder den Betrug u. meine Prostitution vom Buchführer schon längst vor unsren höchsten Gerichten schweben. Ich habe geglaubt dieser Weitläuftigkeit noch vorbauen, und zu verhüten, daß ich diesem Manne zugefallen, der hie in sehr schlechter Achtung stehet, nicht einen Gelehrten, der seine Verdienste hat, mit prostituieren dürfte. Ich schrieb selbst an den Buchführer, ich schrieb auch vorige Meße an H. Schwaben. Dieser hat mir gar nicht geantwortet, ob er wohl durch mündl. Nachricht bezeugen ließ, der Vorfall mache ihm Mißvergnügen, und er wolle mir selbst schreiben. Jener war desto insolenter, je billiger ich war, und ließ mir nur mündl. zu entbieten, wenn ich ihm gute Worte gäbe, so wolte er noch das thun, und meine Dedication und Vorrede vollends wegschneiden, damit nicht zweyerley Nahmen im Buche wären. So stehet nun der schöne Handel, und ich habe nur noch das Ende des Jahrs abwarten wollen, in hofnung H. Schwabens Antwort und zugleich Versicherung zu erhalten, daß er keinen Antheil an dem Wercke habe. Worauf ich sodenn beydes mein geraubtes Eigenthum als auch meine Ehre zu retten, die besten Anstalten machen werde.
15
Vgl. Quellenanhang, S. 234, 301-308.
Abraham Gottlob Rosenberg
231
Was werden Ew. Hochedelgeb. nun wohl dencken; daß mich mein erstes und bestes Kind endlich noch in solche Schicksaale führet, und mich nöthiget um seinetwillen Proceße anzustrengen? Indeß werden Sie daraus den Siegertschen Character sehen, den ich nun ein Zehen Jahre empfunden, und in mancherley Gestalten gesehen habe. Denn er ist das immer gewesen, was er itzo ist, nur in andrer Form. Und Sie werden mehr und mehr einsehen, warum ich damahls in der Übersetzung abgebrochen, wie sehr ich auch die Quelle davon zu verdecken gesucht habe. Nun wünschte ich indeß doch, wo H. Schwabe noch etwas dran gelegen seyn möchte, seine Ehre zu retten, daß er Hand zu Wercke legte, und den Buchführer ernstl. anhielte, sich hie selbst zum Zwecke zu legen, daß der heßliche und in der That zum Theil lächerliche Handel noch in der Stille und ohne Richterliche Dazwischenkunft abgethan würde. Es geht mir schwer ein meinen Nahmen durch eines ändern Schande bekandt zu machen. Und was vor Urtheile werden auf H. M. Schwaben warten, wenn dieser Handel in öffentl. Blättern kund werden wird. Was werden ehrliebende Gemüther, was die Spötter sagen, daß ein Gelehrter einem Buchführer zu Dienste, deßen Tücke er vieleicht selbst nicht eingesehen, einem noch lebenden ändern ein gantzes Buch öffentl. weggenommen und sich zugeeignet? Ein Buch, welches einer gantzen Gesellschaft gewiedmet worden, von der wir beyde Mitglieder sind? Nun weiß ich zwar wohl, daß es schwer ist, werthe Gönner in solche unanständige Händel einzumischen. Indeß, H. Schwabe ist sonst einer von Dero Freunde, und selbst, wie ich glaube, ein Schüler von Ihnen gewesen. Ist er vieleicht das erstre noch? So würde es mir desto mehr unangenehm seyn, etwas zu seiner öffentl. Prostitution thun zu müßen, zumahl wenn er unschuldig in diesen Betrug des Buchführers war eingewickelt worden. Konten Ew. Hochedelgeb. denn ohne Dero Nachtheil etwas beytragen, H. Schwaben zu bewegen, daß er um sein selbst willen den Buchführer triebe, der Sache gutwillig ein Ende zu machen; so wolte ich aus Liebe vor ihn mich selber vergeßen, und die nun, nach meiner völligen Erwartung reif gewordne Gelegenheit aufgeben, den Buchführer nach so vieljährigen Ungebührlichkeiten auf meine Weise heimzusuchen, die ihm schon empfindl. fallen würde. Ich überlaße jedoch die gantze Sache ihrer nähern Einsicht, und bin zufrieden, wenn ich auch nur versichert seyn darf, daß Sie meinen langen Bericht davon nicht ungütig aufnehmen werden. Wenigstens glaubte ich, ich müste einen solchen sonderbaren Fall einem Gönner nicht verborgen bleiben laßen, aus deßen Rath und Ermunterung meine gantze Arbeit am Saurin, folglich auch alle Ehre entsprungen, so mir daraus erwachsen. Die Weitläuftigkeit in die mich diese Angelegenheit verleitet, nöthiget mich endl. mit ihr abzubrechen, und verschiedne andre Umstände einer künftigen Gelegenheit vorzubehalten.
232
MICHAEL SCHLOTT
Diß eine Bitte ich denn nur noch; emphelen Sie mich der allerwerthesten Frau Gemahlin aufs Beste als Sie können, zu geneigten Andencken, und bleiben versichert, daß ich mit vollkommenster Hochachtung ersterbe Ew: Hochedelgebohrnen/ ergebenster Freund und Diener/ A. G. Rosenberg Mertschütz d. 2. Jan./ 1753.
Abraham Gottlob Rosenberg
233
Gedruckte Quellen Bibliographie Die deutschen Erstausgaben der Predigten Saurins in den Übersetzungen von Abraham Gottlob Rosenberg, Johann David Müller und Johann Joachim Schwabe JACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris | im Haag, | Predigten | über | unterschiedene Texte | der heiligen Schrift, | Erster Theil. | Aus dem Französischen übersetzt | von | Abraham Gotdob Rosenberg, | Rev. Minist. Cand. | Leipzig, | in Verlegung Johann Michael Teubners, | 1737. JACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris | im Haag, | Predigten | über unterschiedene Texte | der heiligen Schrift, | Zweyter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt | von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Predigern in Mertschütz L. F. | Breslau, | Verlegts Johann Jacob Korn, | 1738. JACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der heiligen Schrift. | Dritter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt. | Nebst einer Nachricht | von dem | Leben und Schriften des Verfassers, | wie auch vollständigen Registern | über die ersten drey Theile, | herausgegeben | von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastore in Mertschütz und dasigen Kreises | Senioratsadministrator. | Leipzig, | In Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz, | 1741. JACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der Heiligen Schrift. | Vierter Theil. | Aus dem Französischen übersetzet | und herausgegeben | von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastore in Mertschütz, und einer ehrwürdigen | Priesterschaft in dasigem Kreise Seniorats= | administrator. Leipzig, | In Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz, | 1743. IACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der heiligen Schrift, | auf die Festtage. | Fünfter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt. | Nebst vollständigen Registern | über den vierten und fünften Theil, | herausgegeben von Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastore in Mertschütz, wie auch einer wohlerw. Priesterschaft | im ersten Liegnitzis. Creiße Seniorats= Administratore. | Leipzig, | in Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz, | 1745.
234
MICHAEL SCHLOTT
JACOB SAVRIN, | ehemaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der Heiligen Schrift. | Sechster Theil. | Aus dem Französischen übersetzet | und herausgegeben | von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastore in Mertschütz, und einer ehrwürdigen | Priesterschaft in dasigem Kreise Seniorats= administrator. | Leipzig; | In Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz, | 1746. IACOB SAVRIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der heiligen Schrift. | Siebender und letzter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt. | Nebst vollständigen Registern | über den | sechsten und siebenden Theil, | herausgegeben von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastore in Mertschütz, wie auch einer wohlerw. Priesterschaft im ersten Liegnitzis. Creiße Seniorats= Administratore. | Leipzig, | in Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz, | 1747. JACOB SAURIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Fortgesetzte | Predigten | über verschiedene Texte | der heiligen Schrift. | Achter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben | von | Johann David Müller. | Leipzig, | In Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz. | 1748. JACOB SAURIN, | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Fortgesetzte | Predigten | über verschiedene Texte | der heiligen Schrift. | Neunter Theil, | und völliger Beschluß des ganzen Werkes. | Nebst vollständigem Register | über | den achten und neunten Theil. | Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von | Johann David Müller. | Leipzig, | In Verlag David Siegerts, Buchh. in Liegnitz. | 1748. JACOB SAVRIN | ehmaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über | verschiedene Texte | der | Heiligen Schrift. | Zehnter Theil, | aus dem Französischen übersetzt | von | Abraham Gottlob Rosenberg, | Pastor und Senior in Mertschütz, und der Königl. Deutschen | Gesellschaft in Königsberg ordentlichem Mitgliede. | Leipzig und Breßlau | bey Georg Friedrich Heinrich. | 1750. Jacob Savrin, | ehemaligen berühmten Pastoris im Haag, | Predigten | über verschiedene Texte | der | Heiligen Schrift. | Zehnter Theil. | Aus dem Französischen übersetzt | und herausgegeben | von | Johann Joachim Schwabe. | Leipzig, | in Verlegung David Siegerts, Buchh. in Liegnitz. 11750.
Abraham Gottlob Rosenberg
235
Jacques Saurin: Predigten, Inhaltsverzeichnis Band l I. Vom Aufschübe der Bekehrung, über Es. LV, 6 II. eben davon III. eben davon IV. Von den Tiefen der Gottheit, über Rom. XI, 3 V. Bußtags=Predigt, über Mich. VI, l. 2. 3 VI. Von der Natur der Sünde wider den heiligen Geist, über Ebr. VI, 4.5.6 VII. Von der Natur der Sünde wider den heiligen Geist, über Ebr. VI, 4.5 VIII. Vom Allmosen, Luc. XI, 41. IX. Von der Zulänglichkeit der Offenbarung, über Luc. XVI, 27. 28 Band 2 I. Von der Versicherung der Seligkeit, über Rom. VIII, 37. 38 II. Von der Unermeßlichkeit Gottes über PS. CXXXIX, 7=12 III. Von der flüchtigen Andacht, über Hos. VI, 4 IV. Von der Gottheit Jesu Christi, über Offenb. V, 11 = 14 V. Von den Strafen der Hölle, über Offenb. XIV, 11 VI. Von der Entzückung Pauli bis in den dritten Himmel, über 2 Gor. XII, 2. 34 VII. Von der Furcht vor dem Tode, über Ebr. II, 14. 15 VIII. Von den unglücklichen Zeiten in Europa, über Luc. XIII, l IX. Von den Affecten, über 1. Petr. II, 11 X. Von der Notwendigkeit des Wachsthums im Christenthume, über 1. Corinth. IX, 27 Band 3 I. Von dem unschätzbaren Werthe der Seele, über Matth. XVI, 26 II. Von der bußfertigen Sünderinn, über Luc. VII, 36. 50 III. Von der Uebereinstimmung der Religion und Staatskunst, über Prov. XIV, 34 IV. Von der erhabensten Andacht eines Christen, über Cantic. VIII, 6.7 V. Von dem Leben derer, die an den Höfen großer Herren stehen, über 2 Sam. XIX, 32=39 VI. Daß man sich für Gott allein zu fürchten habe, über Jerem. X, 7 VII. Von der Untersuchung der Wahrheit, über Prov. XXIII, 23. VIII. Daß man die Wahrheit nicht verkaufen solle, über Prov. XXIII, 23
236 IX.
MICHAEL SCHLOTT Von den Vorzügen der Offenbarung, über Cor. I, 21
Band 4 I. Von der Art undWeise, wie man zu rechter Erkenntniß in der Religion kommen solle II. Von der Liebe zum Vaterlande III. Vom rechten Geschmack an der Andacht IV. Von der Heiligkeit V. Von den Reden und Gesprächen der Menschen im gemeinen Umgange VI. Von dem seligen Anschauen Gottes VII. Von der unverbrüchlichen Verbindlichkeit eines Christen dem ganzen Gesetze GOttes gehorsam zu seyn VIII. Von den Abwegen des menschlichen Verstandes in Ansehung der Religion IX. Von den Abwegen des menschlichen Verstandes in Ansehung der Sittenlehre X. Von den Abwegen des menschlichen Verstandes in Ansehung unsrer wahren Glückseligkeit BandS I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII.
Am Sonntage vor Weihnachten Von Simeons Lobgesange Die letzten Reden Jesu mit seinen Aposteln Das hohepriesterliche Gebeth Jesu Von dem Leiden Jesu Von der Auferstehung Jesu Christi Von dem dunklen Glauben Von der Theilnehmung der Christen an der Erhöhung Jesu Christi Von der ersten Predigt des Apostels Petri, am Pfingsttage Am Bußtage, den 13. Nov. 1720 Von der Ewigkeit Gottes An einem Communiontage
Band 6 I. Von der Traurigkeit über dem Tode solcher Personen, die wir lieben II. Von dem Hunger nach dem Worte Gottes III. Von der unbegreiflichen Barmherzigkeit Gottes IV. Von dem Ernst und Eifer Gottes V. In wiefern der wahre Gläubige nicht Sünde thun könne
Abraham Gottlob Rosenberg
VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. Band? L II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV.
237
Von dem Verfalle der Gottseligkeit Von den Anverwandten Jesu Christi Von der Gleichheit der Menschen unter einander Von der wahren Freyheit Von den allgemeinen bösen Gewohnheiten Von den Vortheilen der wahren Gottseligkeit Am Einweihungstage der Kirche zu Voorburg Vom Schmerze der Frommen über den Irrwegen der Sünder Von der Seelenruhe, die aus der vollkommenen Liebe entstehet
Von der göttlichen Traurigkeit Gott, groß von Rath, und mächtig von That Von den Erbarmungen Gottes Von dem Gnadenstande der Christen Von der Aufmerksamkeit, die ein jeder auf seine Wege wenden soll Von den leeren Einbildungen und ekeln Träumen der Menschen Von den mannichfaltigen Meynungen der Menschen Von der Gleichförmigkeit Gottes in seinem Verhalten Von dem üblen Gebrauche der zeitlichen Reichthümer Von der Geduld Gottes gegen die Amoriter Erste Predigt von der Wiedergeburt Zweyte Predigt von der Wiedergeburt Dritte Predigt von der Wiedergeburt Das Bild einer Seele, die dem Herrn allezeit vor Augen hat Von dem Aufschübe, den Gott den Sündern giebt
BandS I. Von der Art und Weise, Gott zu loben II. Von der Herrschaft Jesu über die Kirche III. Von dem Unterschiede der Bürger des Himmels, und der Bürger der Welt IV. Von dem Dienste der Engel V. Von der Gutthätigkeit VI. Vom Kaufe der Zeit VII. Eben davon VIII. Von den übereilten Urtheilen der Menschen über das Verhalten Gottes IX. Von den Ergetzlichkeiten X. Von den öffentlichen Festtagen, und insbesondere vom Tage des Herrn
238
MICHAEL SCHLOTT
XI. XII. XIII. XIV. Band 9 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII.
Von der Gemühsbeschaffenheit, mit der man dem öffentlichen Gottesdienste beywohnen soll Eben davon Eben davon Von der Unzulänglichkeit des äusserlichen Gottesdienstes
Von der Beharrlichkeit im Glauben Von den Beyspielen der Heiligen Eben davon Von der Nichtigkeit der Mittel, welche die Begierden der Gottheit entgegensetzen Von dem wahren Heldenmuthe Von dem Verhalten Gottes in Ansehung des Menschen, und von dem Verhalten des Menschen in Ansehung Gottes Von dem Leben des Gerechten Von der Verklärung des Christen Von den Feinden und von den Waffen des Christen Von den öffentlichen Abgaben Von der Ursache des Verderbens der Sünder Von den Beyspielen der Frommen
Band l O15 1. Von den traurigen Folgen einer bösen Kinderzucht, über l Sam. 3,12. 13
2. Von dem Eindruck der Liebe JEsu in das Hertz der Gläubigen, an einem Communion=Tage des Osterfestes, über 2 Cor, 5,14. 15
3. Von der recht hohen Erkenntniß zu welcher ein Christ beruffen ist, über Ebr. 5,12. 13. 14. u. Ebr. 6,1. 2. 3
4. Von den unterschiednen Lehrarten der Prediger, über l Cor. 3, 11 = 15
5. Gebet Pauli vor die Epheser, über Ephes. l, 16=19
15
In wird die Übersetzung von Schwabe angegeben.
Abraham Gottlob Rosenberg
6.
7.
8. 9. 10. 11. 12.
13.
239
Pauli Rede vor Felix und Drusillen, über Ap. Gesch. 24, 24. 25
An einem Buß= und Fasttage, den 7 Mertz 1714. gefeyert, über Joel 2,11=17
Von der Hoheit Gottes, über Jesaia 40,12=28
Von der Erneuerung der Welt, über Offenb. 21, 5
Von den grossen Pflichten in der Religion, über Matth. 23, 23
Von den kleinen Pflichten in der Religion, über Matth. 23, 23
Von dem Schicksaale der Frommen und der Gottlosen, über Offenb. Joh. 21, 7. 8
Von der Weisheit des Königs Salomo, über l Kon. 3, 5=14
MICHAEL SCHLOTT
240
JACOB SAVRIN, a|lore in
«no
I74U
255
256
MICHAEL SCHLOTT
Jacques Saurin: Predigten über verschiedene Texte der heiligen Schrift. Dritter Teü (l 741) [Asteriskus *) als Fußnotenhinweis im Original numerisch aufgelöst. Bibliographische Angaben und Zitatnachweise in . Konsonantenverdopplung durch Oberstrich aufgelöst. Erläuterungen als Endnoten i-xxxviii.]
| *21 Vorrede | von dem | Leben und Schriften | des Herrn | JACOB SAVRIN. |*31 Ich würde die Liebhaber der Saurinischen Schriften bey diesem Theile eben so wenig, als bey dem vorigen mit einer besondern Vorrede beschweren, wenn ich sonst nichts zu sagen hätte, als daß ich die deutsche Uebersetzung von diesem dritten Theile seiner Predigten in eben der Absicht, und zu eben dem Zwecke, wie den ersten und ändern, herausgebe. Ein Umstand aber, der von mehrer Erheblichkeit ist, scheint mir die Hoffnung zu lassen, es werde den geneigten Lesern nicht ganz unangenehm seyn, wenn ich sie auch durch einige Zusätze bey dem Eingange dieser Predigten ein wenig aufhalten sollte. Ich glaube nemlich, daß ich ihnen eine Nachricht von dem Leben und Schriften desjenigen schuldig sey, dem wir gegenwärtige Predigten zu danken haben. Ein Mann, der sich sowol durch eine gründliche Theologische Gelehrsamkeit, als durch eine reizende und durchdringende Beredsamkeit den Namen eines großen Gottesgelehrten seiner Kirche erworben hat, verdienet ja wol, daß er auch unter uns, nach seinen Lebensumständen, etwas bekannter werde. Freylich kommt wol der Werth und Unwerth gelehrter Wer= | *3v | ke nicht eben auf die Beschaffenheit ihrer Verfasser an. Und die Schriften des berühmten Saurin sind an sich selbst von solchen Eigenschaften, daß man sie hoch und werth halten würde, wenn man auch gar nicht wüste, daß sie aus der Feder eines so großen Mannes geflossen wären. Dennoch aber trägt eine Kenntniß von dem Leben der Verfasser auch wol hie und da etwas zu mehrer Einsicht in ihre gelehrte Werke bey, und kann dahero bey dem Gebrauch ihrer Schriften nicht ganz ohne Nutzen seyn. Was nun den Herrn Saurin anlanget, so ist zwar schon verschiedenes von seiner Lebensgeschichte verhanden. Vornehmlich hat uns der Verfasser der Lettres serieuses & badines1 eine ziemlich vollständige Historic seines Lebens geliefert. Man findet sie im Supplement zum vierten Bande dieser Briefe." Und Herr Colerus,m ehmaliger Hofprediger in Weimar, hat einen Auszug daraus in dem 67ten Theile der Theologischen Bibliothek gegeben,lv der iedoch um seiner großen Kürze willen, die Begierde nach näherem Unterrichte von diesem ausländischen Gottesgelehrten mehr erwecket, als sie sättiget. Dem ungeachtet aber wird der gegenwärtige Aufsatz von dem Leben und Schriften des Herrn Saurin, nicht ganz über-
Abraham Gottlob Rosenberg
257
flüssig seyn; zumal es leicht möglich wäre, daß nicht eben alle, die diese Predigten lesen werden, auch die vorgedachten Stücke von seiner Lebensgeschichte, dabey sogleich zur Hand haben möchten. Ich hätte also nur, wird man vielleicht sagen, das, was aus den Lettres serieuses & badines hieher gehöret, übersetzen dürfen. Und vielleicht würde ich es gethan haben, wenn mich nicht verschiedene Ursachen davon abgehalten hätten. Auf allen Fall könnte es doch dem geneigten Leser eben so viel seyn, | *41 wenn er auch das, was ich von dem Leben des Verfassers sagen werde, nur bloß für eine Uebersetzung aus dieser Monatschrift ansehen wollte: genug, wenn er hier eine zulängliche Nachricht von diesem berühmten Manne findet. Der Ort, wo der gelehrte Jacob Saurin geboren wurde, war die Stadt Nimes in Frankreich, in welcher er 1677. das Licht der Welt erblickte. Sein Vater war daselbst ein Advocat beym Parlament in Languedoc, und stund überall in großem Ruhm und Ansehen. Das widerrufne Edict von Nantes aber trieb ihn mit den Seinigen von Nimes weg, und er suchte seine Zuflucht in Geneve, Hieselbst legte unser Saurin den ersten Grund zu den Wissenschaften und freyen Künsten mit ungemeinem Fortgange. Mitten aber in diesem schönen Laufe ereignete sich ein ganz unvermutheter Stillstand. Es hatte sich irgend iemand gefunden, der dem jungen Saurin viel schönes vom Soldaten vorgesagt, und diese Lebensart unter mancherley Reizungen abgebildet hatte. Herr Saurin war damals noch nicht in einem solchen Alter, welches den Werth oder Unwerth einer Lebensart mit vollkommener Richtigkeit hätte beurtheilen können. Denn er hatte noch kaum sein siebzehndes Jahr erreichet. Eine gewisse Begierde nach großen Dingen machte ihm | *4v | daher nicht nur diesen Stand beliebt; es kam gar so weit, daß er in wirkliche Kriegsdienste trat. Er that 1694. einen Unter den Lehrern, die der berühmte Theologus Joh. Alphonsus Turretin in seiner Jugend gehabt, wird auch dieser Vater des Herrn Saurin angeführet, der den Hrn. Turretin nicht nur die Italienische Sprache gelehret, sondern auch durch Lesen der besten lateinischen und französischen Autorum zum guten Geschmacke in den Wissenschaften angeführet habe. Beyträge zu den Gel. Zeit. V. Band p. 396.
Herr Roque sagt in seiner Vorrede zu dem dritten Theile des Discours sur la Bible in fol. der Vater des Hrn. Saurin sey, so lange er in Geneve gelebet, für ein rechtes Orakel der Französischen Sprache angesehen worden.
260
MICHAEL SCHLOTT
gnadigte ihn dafür mit einer Pension. Der letztern schrieb er den fünften Theil derselben zu. Er führet darinnen einen besondern Umstand an, der sowol ein Zeuge der großen Demuth dieser Prinzeßinn, als auch ihrer Achtung gegen den Herrn Saurin seyn kann. Als sie zur Zeit, da der König George I. nach Engelland ging, mit durch Holland zog, so ging unter so viel tausenden, die da begierig waren, diese Prinzeßinn zu sehen, auch Herr Saurin an den Ort, wo sie abgetreten war. Sie erblickte ihn gar bald unter der großen Menge, und er empfing die Erlaubniß, sich zu ihr zu nahen. Der Glanz der irdischen Herrlichkeit, mit welchem diese Prinzeßinn damals umgeben war, setzte ihn in eine große Bewunderung. Aber noch weit mehr erstaunte er, als sie sich zu ihm wandte, und sich also gegen ihn erklärte: Er sollte nicht glauben, als ob sie bey allen den Herrlichkeiten, die ihr die Regimentsveränderung in Engelland auch vor ihre Person verspräche, den Gott vergessen würde, von dem das alles käme. Gott habe ihr bey ihren irdischen Glückseligkeiten so viel übernatürliche Spuren seiner Hand gewiesen, daß sie ihm dieselbige eben darum gan^ allein heiligen müsse, weil sie dieselben allein von ihm empfangen habe. Wer da weiß, was die Gelehrten vor eine ungemeine Gönnerinn an dieser Prinzeßinn, als letzt verstorbenen Königinn in Engelland gehabt, der wird leicht begreifen, wie auch ein so berühmter Mann, als Herr Saurin war, ihrer Gnade habe können theilhaftig werden. Seine fürtreffliche Gaben setzten ihn auch in den Stand, diese Gnade zu er= | *6v | halten. Er fand nemlich Gelegenheit, eine Unterweisung vor die damaligen Prinzen und Prinzeßinnen dieser großen Fürstinn aufzusetzen, in welcher Religion und Weisheit stets miteinander vereinbaret waren. Ein guter Freund von ihm, der damals vor die Auferziehung derselben mit Sorge trug, gab ihm Anlaß dazu. Die Prinzeßin nahm dieselben ganz besonders gnädig auf, und war mit dem Unterrichte des Herrn Saurin sehr wohl zufrieden. Indeß aber scheint diese Arbeit doch nie durch den Druck bekannt worden zu seyn.5 So groß aber das Ansehen war, in welchem er nicht nur bey der gelehrten Welt, sondern auch bey den Hohen und Großen auf Erden stund: so ließ er sich dennoch dadurch in keine Wege hindern, sich auch zu den Niedrigen und Elenden, nach der Pflicht eines treuen Hirten, herabzulassen. Er machte vielmehr die Vertraulichkeit, der ihn so viel hohe Personen würdigten, durch seine Begierde das beste Christlicher Seelen zu befördern, zu einer Segensquelle vor viele Arme und Dürftige. 4 5
Siehe die Zuschrift des fünften Theils seiner Predigten. Lettr. ser. & bad. 1. c. p. 610. < „ ... il adressoit aux Enfants du Prince de Galles des lecons egalement religieuses & sages. II les ecrivit, ä la soüicitation d'un de ses amis, qui etoit charge de l'education de ces Princes. Je ne sache point que cet Ouvrage ait ete imprime." Lettres serieuses et badines, S. 610; vgl. Erl. ii.>
Abraham Gottlob Rosenberg
261
Das deutlichste Zeugniß davon ist eine Christliche Societät, die in Holland im Jahr 1722 aufgerichtet wurde. Herr Saurin war, wo ja nicht gar der völlige Stifter, doch gewiß eine Hauptperson bey Anrichtung dieses gottseligen Werkes. Und sein tugendhafter und erhabner Freund, der Graf Obdam, war die mächtigste Stütze derselben. Beyde waren bemühet, andre vornehme und wohlhabende Personen zum Beytritt in diesem Un= | *71 ternehmen zu ermuntern. Und in kurzem vereinigten sich hier viel fromme Herzen zu einer ordentlichen Gesellschaft. Herr Saurin erzehlet etwas von den Absichten derselben in der Vorrede zu seinem Abrege de la Theologie & morale.xv Ihr Hauptzweck war den Armen gewiedmet. Man wollte durch einen gemeinschafd. Beytrag der Glieder solche Anstalten vorkehren, daß armer Leute Kinder zuförderst recht wohl im Christlichen Glauben könnten unterwiesen werden. Man wollte sodenn sorgen, daß solche unterwiesene Kinder etwan zu Erlernung irgend einer nützlichen Profeßion könnten gebracht werden, damit hierdurch den üblen Folgen der Dürftigkeit und des Müßiggehens möchte vorgebeuget werden. Ja man hatte selbst die Absicht dabey, ob sich etwan künftig einmal eine Mißion von eifrigen Dienern des Evangelii, zu Ausbreitung des Christi. Glaubens unter den Heiden, durch diese Gesellschaft möchte aufrichten lassen. Herr Saurin verfertigte nicht nur selbst einen eigenen Catechismum vor die Absichten der Gesellschaft, damit er die gründliche Unterweisung der Jugend desto mehr erleichtern möchte. Er ging auch dem Herrn Samuel Simon Chaufepie, dem die Gesellschaft, als einem geschickten Gottesgelehrten damals die Unterweisung der Jugend im Christenthume auftrug, mit Rath und That an die Hand, so viel es nur immer seine übrigen Arbeiten und Berufsgeschäfte zuließen. Außerdem allen trug er noch ein großes aus seinem eigenen Vermögen sowol, als durch andre Wege zu
In den Sammlungen von alten und neuen theol. Sachen findet man im dritten Beytrage vor das Jahr 1722. p. 505. 506. eine kurze Anzeige von dieser Gesellschaft. Sie wird daselbst eine Gesellschaft zu Fortpflanzung der protestantischen Religion genennet, und der Graf von Obdam, als deren Präses, Herr Saurin aber als ihr geistliches Mitglied angegeben.
Abraham Gottlob Rosenberg
263
auch zurücke an Frankreichs Religionsumstände. So scharf daselbst auch die königlichen Verordnungen wider die protestirende Kirche sind; so können sie doch nicht verhindern, daß nicht unzählige Familien den alten Glauben beybehalten sollten, ob sie schon der äußerliche Zwang hindert, denselben öffentlich zu bekennen. Herr Jurieuxvlu so wol als Herr Basnage*" hatten diese Leute vor ihm immerfort, durch allerhand Pastoralschreiben, in ihrem Glauben zu stärken gesucht. Nachdem aber der Letztere Ao. 1723. gestorben, hielt sich Herr Saurin verbunden, in die Fußstapfen so großer Vorgänger zu treten. Es sollte ein gewisses Wunder in Paris vorgegangen seyn, diß gab ihm Anlaß, so etwas zu schreiben, was seine verborgene Glaubensbrüder so wol trösten als stärken möchte. Und diß war ein Werkchen, so anfangs von 1725. bis 1727. in einzelen Blättern heraus kam, hernach aber unter dem Titel L'etat du Christianisme en Francexx, einen Octavband ausmachte. Er trieb darinnen die wichtigsten zu seiner Absicht gehörigen Glau= | *8v | bensstreitigkeiten mit großer Stärke. Und es ist zu beklagen, daß dieses Werk nicht zu seiner Vollkommenheit gelanget, sondern beym ersten Bande aufgehöret habe. Denn er war Willens, den 2ten und 3ten Theil so wol denjenigen zu wiedmen, die in der Religion den Mantel nach dem Winde hängen, als auch den Deisten.8 Ich muß nun endlich, ehe ich an die Schriften des Herrn Saurin und seine übrigen Umstände gedenke, noch den weitläuftigen Streit anführen, in welchen er durch eines seiner schönsten Werke verfiel. Hatte er sich vor einigen Jahren wegen seiner Erbschaft den Federn der Advocaten Preiß geben müssen, so fiel er nunmehro einigen Gelehrten, oder vielmehr einigen Buchführern in die Hände. Denn man sieht wol aus mancherley Umständen, daß der Neid und Eigennutz dieser Letzteren der erste Funke zu demjenigen Feuer gewesen, was nachgehende über ihm entbrannte. Der zweyte Theil seiner biblischen Betrachtungen™ hatte dazu Anlaß gegeben. Herr Saurin hatte sich bey dieser großen Arbeit aufs möglichste vor allem, was nach Zänkereyen schmecken konnte, in acht genommen; so gar, daß er in solchen Dingen, worüber die Gelehrten irgends in ihren Meinungen sehr zertheilet waren, lieber gar | ** | nichts gewisses setzen, Dieß zeiget der Tittel des Buches, der unten ganz zu finden ist. Man beschuldigte den Verleger der Bibliotheque raisonnee, Wettstein, da er den starken Abgang der Discours des Herrn Saurin gesehen, so habe es ihn verdrossen, daß er das Werk nicht selbst zu seinem Verlage erhandelt. Er habe sich also durch einen verächtlichen Auszug hierüber zu rächen gesucht. Und da der Verfasser dieser Monatsschrift, vom zweyten Theil dieser Discours, so wol als er vom ersten gethan, nach Billigkeit ganz rühmlich reden wollen, so hätte ihm der Buchhändler denselben zurücke gegeben, und durch einen gewissen Theologum eine andere Recension machen lassen, durch welche dieser Zank erreget wurde. Gel. Zeitung. 1731. p 187.
264
MICHAEL SCHLOTT
als sich Widersprüche auf den Hals ziehen wollte. Und doch versähe er es endlich, und machte die holländischen Journale auf einmal wider und für sich rege. Den Anlaß darzu gab eine Dissertation vom Lügen, die er im gedachten 2ten Theil eingeschaltet hatte,xxu als er den Befehl untersuchte, den Gott dem Samuel gab, David an Sauls statt zum Könige zu salben, l. Sam. 16, 1. seq. Man siehet daselbst, daß Gott dem Propheten anbefohlen habe, die wahre Ursache seiner Ankunft in Bethlehem vor den Einwohnern dieser Stadt zu verbergen, u. nur so viel zu sagen, er sey kommen, ein Opfer daselbst zu verrichten. Hierbey nahm Hr. Saurin Gelegenheit, in einer besondern Dissertation zu untersuchen, ob es wol irgends einmal erlaubt seyn möchte, mit der Wahrheit in gewissen Fällen zurücke zu halten, und sie nicht frey heraus zu sagen. Er führte in der Untersuchung die Gründe für und gegen diese Meinung an. Grotius,xxui Pufendorf,X]üv Barbeiracxxv und andere Gelehrte hatten nemlich schon behauptet, es sey zuweilen erlaubt, die Wahrheit nicht zu reden. Herr Saurin wollte also hier hauptsächlich nur untersuchen, ob man wol iemanden um dieser Lehre willen eines Irrthums beschuldigen sollte? Indeß neigte er sich doch mehr auf die Seite derjenigen, die es unter gewissen Fällen für erlaubt hielten, wider die rechte Wahrheit zu reden. Er brauchte dabey alle mögliche Behutsamkeit, und stellte die Sätze und Gegensätze nach der Wahrheit dar. |**v| Unvermudiet regte sich die BibÜotheque raisonnee dagegen. Ein Auszug, den man in derselben von dieser Dissertation des Herrn Saurin mittheilte, hätte ihn lieber gar zum Gotteslästerer gemacht. Ja ich weiß nicht, was für böse Folgen man nicht bey nahe aus seiner Untersuchung gezogen hätte.11 Herr Saurin war ein Feind von allem Zanke. Er hatte sich also feste fürgesetzt, eher allerley Urtheile über seine Arbeiten zu erdul10
Er beschlüßt die Dissertation vom Lügen mit folgendem Urtheil über die ganze Frage: Ich habe beym Anfange dieser Dissertation %um Grunde gesetzt, daß die Meinung derjenigen, die da sagen, man dürfe niemals anders reden, als man denke, sich nicht nur behaupten lasse, sondern auch aller Hochachtung würdig sey. Ich habe auch die Gründe derjenigen angeführt, die da sagen, es gäbe gewisse Fälle, wo es erlaubt sey, die Wahrheit %u verstecken. Können ja diese Gründe nicht für völlig unumstößliche Eeiveisthümer gehalten werden, so sind sie wenigstens so stark, daß sie den gegenseitigen Gründen das Gewicht halten. Nun haben wir es als einen Grundsatz in der Sittenlehre angenommen, daß wenn eine Gewissmsfrage so schwer ist, daß sich die größten Köpfe über derselben theilen, so müsse man eine solche Frage dulden, keinesweges aber eine Ursache %u Zwiespalt aus ihr machen. Die Gewissensfrage aber so wir untersucht haben, ist von solcher Art. Und das ist es alles, was wir beweisen wollten. Man kann hieraus die völlige Absicht des Herrn Saurin bey seiner Dissertation sehen, und also erkennen, ob es wol billig gewesen sey, einen so bittern Krieg über derselben anzufangen. 11 Man kann, wen man den ganzen Streit zwischen beyden ausführlich sehen will, die Beyträge zu den Gel. Zeit, im I. Th. p. 81. seq. und p. 113. seq. nachlesen. Wo so wol Herr Saurins Dissertation als auch die Gegensätze der Bibliotheque raisonnee umständlich angeführet werden.
Abraham Gottlob Rosenberg
265
den, als sich in Verteidigungsschriften einzulassen. Er ließ deßwegen diese Widerrede der Bibliotheque raisonnee gehen, und that weiter nichts, als daß er seine Dissertation besonders drucken ließ.12 Dadurch hoffte er so wol die Gelehrten in Stand zu setzen, die wahre Beschaffenheit der Sache unpartheyisch zu untersuchen, als auch | **21 seinen Gegnern einen Riegel vorzuschieben, daß sie ihm in ihren Zankschriften nichts falsches andichten könnten. Ein gewisses Journal, Lettres serieuses & badines, nahm sich indeß seiner an, und vertheidigte ihn wider die Bibliotheque raisonnee. Und der Streit blieb bis dahin nur noch unter den Journalisten. Man wollte zwar den Herrn Saurin in Verdacht bringen, als ob er seine eigene Vertheidigung in dem letzten Journale geführet hätte. Er selbst aber hat es allezeit, und sonderlich in derjenigen Nachricht von sich abgelehnet, die er der absonderlich gedruckten Dissertat. sur le mensongexxvl beyfügte. Und der Verfasser der Lettres serieuses & badines bezeigte gleichfalls öffentlich, daß Herr Saurin an dieser Vertheidigung keinen Theil habe. Man spielte die Sache aber doch nach und nach vor die Holländischen Synodos. Und der zu Campen 1730. gehaltene Synodus trug es dreyen Kirchen auf, den Streit zu untersuchen. Man erwählte dazu die Ministeria zu Utrecht, Leyden und Amsterdam. Es wurde eine Commißion dazu angesetzt. Allein man konnte nicht mit sich selber eins werden, und iede Kirche gab deßwegen ihr besonders Gutachten. Die Sache lief endlich da hinaus, daß man den Herrn Saurin befragte, ob er in dieser Sache etwas anders glaube, als er in seinem Catechismo von den Lügen vorgetragen hätte. Er antwortete so, daß der Synodus mit ihm zufrieden war, doch | **2v | wollte er seine Antwort nur bloß für eine Erläuterung seiner Ge-
12
Die Dissertation ist eigentlich im II. Th. der Discours in fol. in der Octavedition aber im IV. Theile zu finden, und hat ihren Platz gleich hinter dem 31. Discours. Die zweyte Auflage davon kam im Haag 1730. in 8. heraus. 13 Lettres ser. & bad. 1. c. p. 620.
Es ist daher sonder Zweyfel ein kleiner Mißverstand, wenn der hochberühmte Herr Prof. Stolle in seiner Historic der theol. Gelahrheit, p. 397. schreibet, Jacob Saurin wäre 1703.
Abraham Gottlob Rosenberg
267
lehrten Welt so wol als der Kirche. Und beyde haben Ursache genung, seinen frühen Hintritt zu beklagen. Seine letzte Krankheit war eine Entzündung des Halses. Man hielte sie Anfangs nur bloß für einen Fluß. Aber sie griff endlich auch die Brust an, und wurde in kurzem die Ursache seines Endes. Und so mußte ein Mann ganz frühzeitig eingehen, dem die göttliche Vorsehung viel grosse Gaben verliehen hatte. Denn ausser seiner weitläuftigen Gelehrsamkeit, die er in den Discours sur la Bible auf die angenehmste Weise an den Tag geleget, besaß er alle äusserliche und innerliche Gaben eines großen Redners. Seine gute Leibesgestalt, seine schöne Stimme, seine edle Geberden, sein lebhafter Vortrag, alles trug darzu bey, seine an sich selbst schon schöne Predigten, wenn er sie hielt, noch viel schöner und durchdringender zu machen. Er stund daher im Haage so wol, als ausser demselben in dem schönsten Rufe, den sich ein Gelehrter wünschen kann. Wenn er predigte, so war der Zulauf ganz ungemein, und er hatte die vornehmsten Personen im Haage allezeit zu seinen Zuhörern. Wenn er an andre Orte kam, so hielte man sichs für eine Ehre, wenn er sich erbit= |**3v| ten ließ, einmal zu predigen.18 Seine tiefe Einsicht in die Theologie und Weltweisheit machten, daß man in seinen Predigten überall Ordung und Gündlichkeit beysammen findet. Das alles mußte ihm denn eine ungemeine Liebe bey seiner Gemeine zuziehen: aber auch viele Neider und Feinde erwecken. Wie er sich das erste nicht stolz machen ließ, so trug er die ändern mit Gelassenheit. Gegen die Evangelische Kirche hatte er eine zärtliche und liebreiche Neigung, die er in seinen Predigten oft an den Tag legte: Mit den harten Lehren einiger Reformirten aber war er wie nicht recht zu frieden. Doch sollte es fast, wenn man einige Stellen in seinen Predigten gegen einander hält, das Ansehen bekommen, als wenn er in der Lehre von der Prädestination selbst nicht recht mit sich eins gewesen wäre. ryr\
17 18 19 20
den 8. Apr. gestorben: Als in welchem Jahre der berühmte Elias Saurin [1639-1703, reformierter Theologe, 1670 Pfarrer in Utrecht] zur Ruhe gegangen. Er bezeugt das selbst im ersten Theil seiner Predigten, in der 5ten Predigt. Wie man denn auch einige Predigten unter seinen gedruckten findet, die er an ändern Orten als im Haage gehalten hat. Man kann davon etwas zur Probe setzen in der VII. Predigt dieses 3ten Bandes p. 281. seq. Man kann davon lesen, was Herr Georgi «Christian Siegmund Georgi (1702—1771), evangelischer Theologe, 1736 außerordentlicher Professor der Philologie, 1743 ordentlicher Professor der Theologie in Wittenberg. > deßwegen in einem Briefe an den verstorbenen Hn. Colerus zusammen gebracht, welcher im 83. Th. der theol. Bibliothek p. 1149. seq. zu finden ist.
Abraham Gottlob Rosenberg
269
lernen, in denselben zureichende Spuren derjenigen Eigenschaften finden, die alle diejenigen, so seinen Character abgebildet, einmüthig von ihm rühmen. Aus seiner Ehe, die er mit Frauen Catharine Boitou geführet, hat er zwey Söhne hinterlassen, Philip und Anton. Der Letztere war bey seinem Tode noch sehr jung;xxvm der Ersterexxlx aber bereits im Stande, daß er von den nachgelassenen Predigten seines Herrn Vaters den 6ten und 7ten Theil herausgeben konnte, davon er den ersten der verstorbenen Königinn von Engelland zuschrieb. Seine Bibliothek war eine von den schönsten, und so zahlreich, daß man allein am Catalogoxxx derselben 1. | **4v| Alph. und 7. Bogen gehabt. Im October des Jahres 1731. aber ist dieselbige im Haag durch eine Auction zerstreuet worden. Ueber seine noch ungedruckt hinterlassene Schriften, die ausser vielen Predigten, einen großen Vorrath von gesammleten Anmerkungen zu seinem dritten Theile der biblischen Betrachtungen in sich hielten, setzte er seinen werthen Freund Herr Dumont, Prediger und Professor zu Rotterdam, in seinem Testamente gleichsam zum Vormunde und Pflegevater ein, damit er dasjenige möchte heraus suchen, was etwan völlig ausgearbeitet von ihm hinterlassen worden.22 Sein Grab bekam er in der Hofcapelle, wohin er an die Seite des berühmten Herrn Basnage unter vieler Betrübniß seiner Gemeine geleget wurde, der es sonderlich ganz ungemein zu Herzen ging, daß ihr treuer und friedliebender Seelenhirte, mitten unter unverschuldeten Zänkereyen, aus der Welt gehen mußte. Es fanden sich daher auch bald nach seinem Tode allerley Sinngedichte, darinnen die Feinde des Herrn Saurin zum Theil ziemlich bitter und stachlicht angegriffen wurden. Ich führe nur zwey zur Probe davon an. 1. Quand je vois le cruel destin Que H ... fait subir a Saurin Cette histoire trop veritable Me fait souvenir de la fable Que le puissant & fier Lion Tombe sous 1'effort meprisable D' un indigne & vil moucheron.
2. Par un seul trait de la langue eloquente Tous vos Discours se voyent effaces. 22
Siehe die Approbation der Kirche vor dem 6ten Theile seiner Predigten.
270
MICHAEL SCHLOTT
Vous n'aves plus rien que vous epouvante: Le Cygne est mort, grenouilles croasses. | **5 | Man könnte sie etwan so übersetzen: 1. Seh ich das harte Schicksal an Was dir der Neid hat angerichtet; So merk ich gleich, und denke dran, Was die bekannte Fabel dichtet: Daß auch ein schlechter Such der so verachten Mücken, Den tapfern Löwen selbst zu Grabe konnte schicken.
2. Ein einzig schönes Wort, was Saurins Zunge sprach, Schlug eure Reden stets durch seine Kraft darnieder. Ihr seyd nunmher befreyt von diesem Ungemach; Der Schwan ist endlich todt, quackt nun ihr Frösche wieder. Es ist nun nichts mehr übrig, als daß ich noch an die schönen Schriften des berühmten Herrn Saurin gedenke. Es sind aber eigentlich nicht mehr als vier Werke, die aus seiner gelehrten Feder geflossen sind. Jedoch wer auf den innern Werth derselben sieht, wird sich ihre kleine Zahl nicht von der Hochachtung gegen dieselben abschrecken lassen. Ich habe diese Werke zwar schon in dem vorhergehenden hin und wieder angeführet. Vielleicht aber wird es meinen Lesern doch nicht verdrießlich seyn, hier noch einmal von ihnen zu lesen. Ich mache also den Anfang von seinen Predigten. Denn mit diesen fing er an im Jahr 1708. der Kirche so wol als der gelehrten Welt zu dienen. Sie bestehen aus neun Bänden, davon die letzten viere nach seinem Tode heraus kommen sind. Sieben davon sind über besondere Texte der heil. Schrift gehalten, und die Texte sowol als die Materien sind wohl ausgelesen; zwey Bände aber bestehen meistens aus Predigten über das Leiden des Erlösers. Doch sind sie fast alle über moralische Wahrheiten gehalten, und man sollte sich bey nahe wundern, warum keine darunter zu finden, die ausdrücklich einer eigendich so genannten Glaubenslehre gewiedmet wäre. Vielleicht findet man sich aber darein, wenn man bedenket, daß diese gedruckten Predigten wol den geringsten Theil von denen ausmachen, die er Zeit seines Amtes gehalten hat. Theologie, Beredsamkeit 23
Man findet mehrere von der Art in den Gel. Zeit, von 1731. p. 242.
Abraham Gottlob Rosenberg
271
und Weltweisheit | **5v | sind darinnen überall verbunden. Ja es dürfte wol gar vielen vorkommen, als habe er der letzteren ein wenig gar zu sehr nachgehangen. Denn es finden sich allerdings zuweilen sehr tiefgesuchte metaphysische Abhandlungen darinnen, die kaum iemand anders als den Gelehrten nützen können. Denn wie viel besitzen doch wol das Vermögen, sich bey Anhörung einer Predigt mit ihrem Verstande so hoch zu schwingen? Man muß indeß gestehen, Herr Saurin sey dessentwegen wol noch zu entschuldigen, wenn schon nicht überall und an allen Orten nachzuahmen, zumal wenn man die Beschaffenheit seiner Zuhörer und die Umstände in Betrachtung ziehet, bey welchen er seine Predigten gehalten hat. Doch gesetzt auch, das wäre ein Fehler von ihm; so kann man ihn doch gar wol übersehen, nachdem er gewiß durch andre Schönheiten dieser Predigten genungsam ersetzet worden ist. Ja nachdem diese Predigten gedruckt worden, so haben sie nun den Gelehrten in die Hände kommen können, denen die darinnen gebrauchte Gründlichkeit gewiß eher angenehm als verdrießlich seyn wird. Man darf indessen doch nicht denken, als ob diese Predigten alle mögliche Vollkommenheiten an sich hätten. Auch der berühmte Saurin war ein Mensch, und das weiset sich auch zuweilen wol in seinen Schriften. Dann und wann scheinet er dem tiefsinnigen fast allzusehr nachzuhängen, und höher zu steigen, als ihm die Fähigkeit seiner Zuhörer habe folgen können. Hin und wieder knüpfet er Zweyfelsknoten, die er selber nicht auflöset, und was dergleichen Umstände mehr sind, die ein geübter Kunstrichter noch etwann an denselbigen finden möchte. Indeß sind diese Mängel von den übrigen guten Eigenschaften dieser Predigten reichlich vergütet, und sie können zum Ueberflusse ändern geistlichen Rednern zu einer nützlichen Warnung dienen, sich vor dergleichen Steinen des Anstoßes desto sorgfältiger in acht zu nehmen. Sein zweytes Werk waren seine Betrachtungen über die heilige Schrift. Unter diesem Titel fassete er einen rechten Schatz der schönsten Anmerkungen über die in dem göttlichen Worte vorkommenden merkwürdigsten Geschichten zusammen. Ich kann davon keine gewissere Nachricht geben, als die er uns selbst in der Vorrede zu diesem Werke ertheilet. Man hatte eine Zeit | **61 her die Sonderbaresten Historien der heiligen Schrift durch die größten Künstler in Kupfer stechen lassen. Nachdem Herr van der Mark diese Werke an sich gehandelt hatte, so wollte er dieselben nebst einigen Erklärungen der Kupfer, als eine Bilderbibel herausgeben. Er fiel auf den Herrn Saurin, daß er ihm die historischen Beschreibungen vor iedes Kupfer ganz kürzlich aufsetzen sollte. Dieser nahm die Arbeit zwar an, aber sein großer Geist wollte sich nicht in die engen Grenzen einer bloß historischen Erzehlung einzwängen lassen; zumal da andre vor ihm schon dergleichen Arbeit in französischer Sprache geliefert hatten. Er
272
MICHAEL SCHLOTT
machte sich also einen ganz ändern Entwurf von dem Werke. Er sähe aber auch zugleich, daß sich sein Vorhaben nicht zu den Absichten des van der Mark schicken würde. Er suchte sich also von diesem, wegen der übernommenen Arbeit, loß zu machen. Aber es war vergebens. Van der Mark wollte ihn nicht loß lassen. Er stellte vielmehr dem Herrn Saurin die völlige Einrichtung des ganzen Vorhabens in seinen freyen Willen, und ließ ihm ungebundne Hand. Und alsdenn fing Herr Saurin an seine Absichten auszuführen. Daraus entstund denn nun das große und prächtige Werk, welches unter dem Titel Discours sur la Bible mit so großem Vergnügen von den Gelehrten ist aufgenommen worden. Er wollte durch dieses Werk nicht eben einen unmittelbaren Beytrag zu den Uebungen einer Christlichen Andacht thun. Er giebt uns selbst seine Absicht völlig zu erkennen, wenn er in der Vorrede dazu spricht, Man müsse dieses Werk eben nicht %u einer solchen Zeit lesen, da man sein Her^e %u einem heiligen Eifer gegen Gott erheben, oder sich etwan %um heiligen Abendmahl schicken, oder sich %um Tode bereiten wolle. Es solle vielmehr denen %u Nut^e kommen, welche die vielfältigen Fragen, so man bey den biblischen Geschichten außverfen kann, gerne erläutert, und die verschiedenen Anmerkungen der Ausleger darüber an einem Orte beysammen sehen möchten. \ **6v | Diß war nun sein Vorhaben. Nach demselben muß man sein Werk beurtheilen. Er trug nemlich die Meinungen der größten Ausleger zusammen; er untersuchte sie, und wo er Grund hatte, fügte er seine Entscheidung bey. Viele Fragen ließ er ganz unentschieden, weil er nicht glaubte, etwas gewisses davon sagen zu können, und doch auch nicht gerne bloße Vermutungen für ausgemachte Wahrheiten ausgeben wollte. Das Werk kam nicht eimal zum Stande. Der zweyte Theil muste ganzer vier Jahr zum Drucke fertig liegen bleiben, weil sich wegen Ausfertigung
24
Ich kann nicht umhin, das schöne Urtheil anzuführen, welches der berühmte Herr Superintendent Reimann von diesem Werke fället: Scriptor egregie subtilis & elegans & doctus; in quo vasta lectio, arguta dictio, gravis dicendi, modesta & pacata disputandi ratio; mira & ab omni studio partium aliena in disserendo explicatio; Autorum citatorum ingens cumulus, corumque non cottidianorum & notomm in vulgus, sed optimorum selectissimorum & non ubivis obviorum. Qui si qua geticis fere tantum has suas vigilias dicatas esse voluit non ethicis: ideoque varietate eruditionis delectare lectorem magis quam emendare studuerit. Reiman. Catal. Biblioth. suas Theol. p. 306 in tier ©raflf aflt
DOtt
£>aj$ ter Xeufel feine ^Ρ^Ρ
Bnne;
. jum ^eii. ©eiji In
n ^opp«, 1749,
Nr. l: Herrn Jacob Serces ... Abhandlung von Wunderwerken
325
326
MICHAEL SCHLOTT
Nr. 2: Jacques Saurin (1677-1730), Stich von Johann Martin Bernigeroth (1713-1767), unbekannter Auftraggeber Jacob Saurin. Evangelischer Prediger im Haag. Gebohren zu Nismes 1677. und gestorben im Haag 1730. d. 30ten Decemb. J. M. Bernigeroth sc. 1748.
Abraham Gottlob Rosenberg
327
Nr. 3: Kugel-Elektrisiermaschine von Hauksbee, Kupferstich Quelle: Francis Hauksbee: Physico-Mechanical Experiments on Various Subjects. 2. Auflage. London 1719. Tab. VII. Die Schrift erschien zuerst 1709 in London. Deutsches Museum, Bildstelle
328
MICHAEL SCHLOTT
Nr. 4: Aufleuchten eines Vakuums im Zylinder einer Elektrisiermaschine nach Hauksbee, Kupferstich Quelle: Francis Hauksbee: Physico-Mechanical Experiments on Various Subjects. 2. Auflage. London 1719 (1. Auflage 1709). Tab. III. Deutsches Museum, Bildstelle
Abraham Gottlob Rosenberg
Nr. 5: Elektrisierung eines menschlichen Körpers, nach Doppelmayr
329
330
MICHAEL SCHLOTT
Phenomena
fcon
«Kfaftt
bt y bft fall aflm S6rpf rn jufommrabm
m
unb bem beb«? in bcr Sinflern m·
ίφ^η^η»φί einge SOZit^Ucbec Λ^?_-
C
·.«...
. ΛΛΛ-L^li .^ematevor(leUιrt9emaφr / min)iclcn notyigm Slnmtrcfunstn wnl> SiQurtn, αυφ ju le^t mit allerbanb phyficalif*tn S fltnunb cinec 1>ί€πΙίφβη Hypothcfi crwutert
a ino-Carolinif^en«nb^e(er5# rtrt
ijuratiajtn Aodemicn,oud) ter 5\5nialid>en @ne|ifd)en unD Socictattcn b«r 2Bi(TenfcO«fftfn SJZitgiiel) unt» Mathcm. Profe bre Publico.
»« Commiffion in l«r
Ϊή €»t>feti
r
14 öon
A. G. R. R M.
Nr. 10: Rosenberg, Versuch einer Erklärung von den Ursachen der Electricität
Abraham Gottlob Rosenberg
335
rheologisc DoAoris & Paftoris ju
in SDfrtyren
t>on ber 9
U
r
MAGIAM NATVRALEM ©ami einem i u m JDr«f in
.Oeiinger, rr
Nr. 11: Procop Divisch, Theorie der meteorologischen Electricite
336
MICHAEL SCHLOTT
otifoi .in Äinljibffg SBittyßtfc. *4
3 e^ u
,fcp3.«im$, Nr. 12: Rosenberg, Die Nacht zum Ruhme des Schöpfers
Abraham Gottlob Rosenberg
lift
7 T 3» Nr. 13: Rosenberg, Erbauliche Briefe
337
Johann Christoph Gottscheds Tod und Begräbnis DETLEF DÖRING Ausführlichere und fundierte Untersuchungen über die Krankheiten und den Tod berühmter Persönlichkeiten der Kulturgeschichte sind relativ selten.1 Es müssen schon spektakuläre oder in ihren Ursachen nicht eindeutig geklärte Todesfälle sein, die eine entsprechende Aufmerksamkeit hervorrufen, so z. B. bei Johann Sebastian Bach,2 Ludwig van Beethoven, Georg Büchner,3 Heinrich von Kleist, Wolfgang Amadeus Mozart4 oder Johann Joachim Winckelmann.5 Ansonsten pflegt man sich in den Biographien in der Regel mit solchen Dingen wie Todesursachen, Sterben, Bestattung und Grabmälern nicht gerade eingehend zu befassen. Etwas anders sieht es mit der Reaktion der Zeitgenossen auf das Ende der Personen aus, deren Lebenslauf geschildert worden ist. Die Dokumentation entsprechender Aussagen gehört eher zu den klassischen Bestandteilen einer Biographie. Die angedeuteten Themen tragen jedoch durchaus keinen marginalen Charakter, sie können vielmehr aufschlußreiche BedeuAusnahmen bilden z. B.: Wolfgang H. Veil: Goethe als Patient. 2. Auflage. Jena 1946. Ders.: Schillers Krankheit. Eine Studie über das Krankheitsgeschehen in Schillers Leben und über den natürlichen Todesausgang. 2. Auflage. Naumburg 1945. Auch Schillers Ende könnte man unter die gleich zu nennenden spektakulären Todesfälle rechnen, wenn nicht die von Mathilde Ludendorff verbreitete Behauptung, er sei von Mitgliedern des Illuminatenordens vergiftet worden, in den Bereich des Unsinns gehören würde. Zu den Krankheiten und Todesursachen bedeutender Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Dieter Kerner: Krankheiten großer Musiker. 4. Auflage. Stuttgart; New York 1986. Vgl. Aloys Henning: Die Okulisten Joseph Hillmer und John Taylor in Leipzig. In: Aktuelle Augenheilkunde. Jg. 17 (1992), S. 204—214, hier auch weiterführende Literaturhinweise zum Thema. Vgl. Thomas Michael Mayer: Die Locke. Reliquie und Asservat. In: Georg Büchner. Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt 1987 und Weimar 1988. Der Katalog. Basel; Frankfurt/M. 1987, S. 366-370. Wolfgang Arnold; Klaus Naumann; Dieter Gawlik; Jürgen Knoth: Der frühe Tod des Georg Büchner. Krankheit oder Vergiftung? In: Georg Büchner, S. 371-375. Vgl. zur Diskussion um den angeblichen Giftmord an Mozart durch Salieri Volkmar Braunbehrens: Mozart in Wien. 6. Auflage. München 1991, S. 429-435, S. 436-448 über Mozarts Begräbnis. Vgl. Mordakte Winckelmann. Die Originalakten des Kriminalprozesses gegen den Mörder Johann Joachim Winckelmanns (Triest 1768) im Wortlaut des Originals in Triest 1964 hg. von Cesare Pagnini, übersetzt und kommentiert von Heinrich Alexander Stoll. Berlin 1965.
Gottscheds Tod und Begräbnis
339
tung besitzen. Die Todeskrankheit ist, falls das Ende nicht plötzlich eingetreten ist, zumindest für die Kenntnis und Beurteilung der letzten Lebensphase von Bedeutung. Bestattung und Denkmäler sagen etwas über die Einschätzung des Verstorbenen seitens der Zeitgenossen aus und sind überdies von kulturgeschichtlichem Interesse. Auch zum Tod von Johann Christoph Gottsched, der Zentralfigur der deutschen Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gibt es keine nähere Untersuchung, ebensowenig zu seiner Bestattung und zur Reaktion der Zeitgenossen. Die einschlägigen Biographien teilen sein Sterben als bloßes Faktum mit. Die folgende Darstellung will sich diesen Themen auf der Grundlage des heutigen Standes der Quellenkenntnisse nähern. Dabei werden manche Fragen offen bleiben müssen, da sie gegenwärtig nicht zu beantworten sind, vielleicht aber auch niemals eine Lösung finden können. Wir werfen zuerst einen Blick auf die Situation, in der sich Gottsched gegen Ende seines Lebens befand. Es fällt wahrlich nicht schwer, in den überlieferten literarischen Quellen aus den letzten Lebensjahren Gottscheds (Publikationen, Briefe, Tagebücher u. a.) abfällige Urteile über seine Person zu sammeln. Typisch ist eine beiläufige Notiz in Lavaters Tagebuch im August 1763: „Wir redeten noch von Gottscheds wäßerigten Seele, seinem anfänglichen u. nun überlebten Ruhme."6 In seinem Todesjahr scheint Gottsched sein einstiges Renommee ganz und gar verloren zu haben, sein Name ist zum Spott geworden. So jedenfalls urteilt ein unbekannter Zeitgenosse, der wenige Monate vor dem Ende des Gescholtenen eine der unzähligen Persiflagen veröffentlicht, deren Auftauchen Gottsched nun schon seit Jahrzehnten vertraut ist. Immerhin zeigt der Unbekannte ein Empfinden für die historische Ungerechtigkeit solcher Angriffe: „Ein jeder Anfänger hält es für ein Stück seiner autormäßigen Obliegenheit, den Nahmen Gottsched, als ein Sobriquet, zu misbrauchen. Nie sind unsre Wizlinge witziger, als auf Unkosten dieses Mannes, der doch wirklich mehr geschrieben hat, als sie alle."7 Die fast gänzliche negative Beurteilung von Gottscheds Stellung in Johann Kaspar Lavater: Reisetagebücher. Teil 1. Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764. Hg. von Horst Weigelt in Zusammenarbeit mit Roland Deinzer, Tatjana Flache-Neumann, Esther Has, Renate Kleiber-Müller. Göttingen 1997,5.217. Christoph Gottscheds ... Neueste Versuche in verliebten Gedichten mit einer kritischen Vorrede geharnischt und herausgegeben von einem Säuglinge der Gottschedschen Muse. Frankfurt; Leipzig 1766, S. 6 (Signatur des Exemplars der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Lo 3340/3). Bezeichnend ist auch eine Bemerkung in einer Publikation desselben Jahres, in der es um die von Gottsched verfaßte Probe eines deutschen Dramatischen Wörterbuchs geht. Ein um sein Urteil angesprochener Briefpartner antwortet: „Sie wollen wissen, was ich von der Probe eines deutschen gramatischen Wörterbuchs denke? Vor allen Dingen denk ich, daß Sie (mit Ihrer gütigen Erlaubniß!) ein bischen über die Gebühr zu schlimmen Ahndungen geneigt sind, so bald Sie den Nahmen Gottsched hören." (Briefe
340
DETLEF DURING
der Literaturgeschichte wirkt bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fort, was unzählige Belege beweisen könnten. Folgendes Zitat ist also nur ein Beispiel: „Gottsched, dem bloß das Verdienst zukömmt, daß er sich zuerst um die Reinigkeit der Deutschen Sprache bekümmerte, zu einer Zeit wo eben so schlechte Schriftsteller als er, die Sprache durch fremde Worte verhunzten, war übrigens ein Mann ohne alles Talent, schrieb weitschweifig, platt, und gab die elendsten und abenteuerlichsten Reimereien für Poesie aus. Dennoch hatte er eine ziemliche Zeit den ärgsten Despotismus über die deutsche Literatur ausgeübt [...]. Sein Ansehn sank aber damals schon sehr, indem theils die Streitschriften der Schweizer Bodmer und Breitinger dem Deutschen vernünftigen Publikum die Augen öfneten, theils Männer wie Haller, Hagedorn, Geliert, mehrere Verfasser der Bremischen Beiträge [...] u. a. aufstanden, wodurch ein besserer Geist in die Deutsche Poesie und Prosa kam."8 Friedrich Nicolai, der Verfasser dieser Zeilen, war schon vierzig und mehr Jahre zuvor als entschiedener Gegner des lebenden Gottsched hervorgetreten, insbesondere in den von ihm herausgegebenen „Briefe, die Neueste Literatur betreffend" (1759-1765). Die Angriffe des Kreises um Nicolai trafen freilich bereits in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts einen bereits im Ansehen gesunkenen, in seiner literarischen Position schwer erschütterten Mann. Schon 1756 bittet Frau Gottsched den ihrem Mann nahestehenden, inzwischen aus Leipzig nach Göttingen verzogenen Abraham Gotthelf Kästner „in Ausdrücken die wenn sie vollends ein Frauenzimmer braucht, bewegen müssen" nachdrücklich „ihres Mannes Freund künftig zu seyn", was Kästner mit dem Hinweis kommentiert, daß damals „jeder Narr und Flegel" an Gottsched „zum Ritter werden wollte".9 Ähnlich urteilt Kästner Jahre später in seinem sehr ausgewogenen Nachruf auf Gottsched: „Schon in den letzten Jahren seines Lebens, kam er in Vergessenheit, und mit ihm, die Schriften wider ihn."10
8
9 10
über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 1. Sammlung. Schleswig; Leipzig 1766, S. 86 [Nachdruck Hildesheim; New York 1971]). Neue Berliner Monatsschrift. Jg. 13 (1805), S. 31^1 (Satire auf Gottsched, S. 32). Gut siebzig Jahre später wird geurteilt: „Der 18. juli 1752, der tag an welchem Christof Freiherr von Schönaich in Leipzig zum dichter gekrönt wurde, kann als abschluss der Gottschedischen erfolge bezeichnet werden. Diese partei hatte für die lebendige literatur zu wirken, ja fast vorhanden zu sein, aufgehört. Es war ein blosses Scheinleben das sich durch einige jähre noch fortzog ..." (Max Koch: Helferich Peter Sturz nebst einer Abhandlung über die Schleswigischen Literaturbriefe. München 1879, S. 62f.). Abraham Gotthelf Kästner. Briefe aus sechs Jahrzehnten 1745-1800. Berlin-Steglit2 1912, S. 67f. (Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Januar 1767). Abraham Gotthelf Kästner: Betrachtungen über Gottscheds Charakter. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. 6. Band, 1. Stück. Leipzig 1768, S. 208-218, 215.
Gottscheds Tod und Begräbnis
341
Nicht überall jedoch war Gottscheds Stern so im Niedergang befindlich, wie dies die herangezogenen Zitate suggerieren wollen. Vor allem im katholischen Süden kam die Rezeption seiner Werke erst jetzt recht in Gang. Der beste Gradmesser ist die Präsenz seiner Bücher in den großen und kleineren Bibliotheken dieser Länder.11 In einer Zeit, in der das Ansehen des Wolffianismus in Deutschland zu zerfallen begann, fand er in Ostund Südosteuropa eine breite Aufnahme, die insbesondere auch der Verbreitung von Gottscheds Ersten Gründen der Weltweisheit entgegenkam.12 Ausländische Vertreter der Respublica Litteraria suchten bei einem Aufenthalt in Leipzig den Kontakt zu Gottsched, so z. B. im Oktober 1764 der später berühmte Schotte James Boswell: „In Leipzig machte ich Professor Gottsched meine Aufwartung, einem der bedeutendsten Literaten dieses Landes. Er war es, der die deutsche Sprache gereinigt und kultiviert sowie eine vorzügliche deutsche Grammatik verfaßt hat. [...]. Er ist eine große, stattliche Erscheinung und hat die eleganten Umgangsformen eines Weltmannes. Obwohl ich kein Empfehlungsschreiben für ihn besaß, empfing er mich mit vollendeter Höflichkeit [...]." Geliert dagegen, dessen Ansehen nach der Meinung der Zeitgenossen und der Nachkommen Gottsched damals längst in den Schatten stellte, trifft eine vernichtende Kritik: „Geliert scheint mir ein unbedeutender Kopf zu sein, er hat von nichts eine Ahnung."13 Daß Friedrich der Große, dessen gebrochene Stellung zur deutschen Literatur allerdings nicht zu vergessen ist, während seiner Leipziger Aufenthalte Gottsched mehrfach eines mehrstündigen Gespräches würdigt, belegt das immer noch vorhandene Ansehen des „Literaturpapstes".14 Glaubt man einer bekannten Äußerung des jungen Goethe, muß es in Gottscheds Wahlheimat, der Stadt Leipzig, besonders schlecht um das Ansehen des einst gefeierten Professors gestanden haben: Die ganze Stadt verachte ihn, niemand ginge mit ihm um, schreibt der frischgebackene Student im Zusammenhang mit der Mitteilung über Gottscheds zweite
11
Vgl. Dieter Breuer (Hg.): Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750-1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg. Paderborn u. a. 2001, s. die Verweise im Register. 12 Vgl. zu diesem Thema jetzt Günter Mühlpfordt: Christian Wolffs Lehre im östlichen Europa. In: Hans-Martin Gerlach (Hg.): Christian Wolff- seine Schule und seine Gegner. Hamburg 2001 (Aufklärung. Jg. 12, Heft 2), S. 77-100. 13 Vgl. James Boswell: Journal. Übersetzt von Helmut Winter. Stuttgart 1996, S. 102f. Das Manuskript von Boswells Reisebericht wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt. 14 Auch andere Fürstlichkeiten aus regierenden Häusern besuchten Gottsched, so der spätere Reichsfürst Friedrich Karl von Schwarzburg-Sondershausen bei einem Aufenthalt in Leipzig im Frühjahr 1763. Vgl. Die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt. 3. Auflage. Rudolstadt2001,S. 89f.
342
DETLEF DÖRING
Eheschließung.15 Wie weit diese drastisch formulierte Feststellung jugendlicher Übertreibung zuzuschreiben ist, oder den Tatsachen entspricht, läßt sich nicht ohne weiteres beurteilen. Liest man Gottscheds Briefe seiner letzten Lebensjahre, hier sind vor allem die Schreiben an seine Nichte Viktoria Eleonora von Interesse,16 entsteht freilich ein ganz anderes Bild vor unseren Augen.17 Gottsched erscheint keineswegs in einer isolierten und verachteten Position. Fast täglich bewegt er sich in den elitären Kreisen der Leipziger Gesellschaft, ganz entsprechend seiner einmal gelegentlich formulierten Lebensphilosophie: „Ich bin ein Menschenfreund, der Umgang und Geselligkeit liebt; sonderlich die Annehmlichkeiten des schönen Geschlechts zu schätzen weiß."18 So kommt es nicht gerade selten zu Festivitäten in Gottscheds Wohnung im „Goldenen Bären". Dreizehn Gäste feiern 1765 bei ihm den Friedrichstag.19 Zu ihnen gehören u. a. der Medizinprofessor Johann Christoph Pohl, der Geschichtsprofessor Johann Gottlieb Böhme, der Juraprofessor Traugott Thomasius, der
15 J. W. Goethe an Johann Jacob Riese, 30. Oktober 1765, zitiert nach: J. W. Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. von Ernst Beutler. Band 18. Zürich 1951,5.18-21,20. 16 UBL, 0342d. Die Nichte hatte nach dem Tod von Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1762) zusammen mit ihrer Schwester Gottscheds Haushalt geführt und war nach ihrer Hochzeit nach Zwickau gezogen. Ein sehr dichter Briefwechsel verband sie in den nächsten Monaten mit ihrem Onkel, der zugleich die Rolle des Pflegevaters übernommen hatte. Erhalten haben sich die Schreiben Gottscheds aus dem Zeitraum vom 7. Juni 1764 bis zum 6. März 1765. Es ist nicht bekannt, ob die Korrespondenz zwischen Onkel und Nichte abrupt abgebrochen wurde oder ob die Überlieferung der Briefe hier ein Ende gefunden hat. Letzteres ist wahrscheinlicher, da das außerhalb der Leipziger Sammlung befindliche Fragment eines an die Nichte gerichteten Briefes Gottscheds vom 20. März 1765 (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, K 19) zeigt, daß der Kontakt noch über den 6. März fortgesetzt wurde. Daß Gottsched mit seiner Nichte weiter in Verbindung stand, belegt vor allem der an sie ergangene Auftrag, der von ihm angefertigten Übersetzung eines Stückes Maria Antonias, der verwitweten Kurfürstin von Sachsen, ein Widmungsschreiben voranzustellen. Es ist auf den 12. Dezember 1766, also auf Gottscheds Todestag, datiert: Die „bisherige lange Krankheit" verhindere ihren „Versorger" daran, dies selbst zu tun. „Vieleicht", heißt es hellsichtig, stünde er „schon an den Pforten der Ewigkeit". (Widmungsschreiben zu: Thalestris, Königin der Amazonen, vgl. AW 3, S. 133). Aufschlußreich sind auch die Schreiben der Nichte, die sie in ihrer Leipziger Zeit an ihren Verlobten Christian Friedrich Grohmann in Zwickau richtet (ÜBL, 0343m). Darin wird häufig auf die alltäglichen Geschäfte Gottscheds Bezug genommen. 17 Vgl. die entsprechenden häufigen Hinweise bei Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungswesen. 1. Band. Kiel; Leipzig 1895, S. 182ff. Ich beschränke mich daher auf einige wenige Bemerkungen. 18 Gottsched an Charlotte Sophie Heck, 29. September 1765, veröffentlicht in: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, Jg. 1821, S. 130f. 19 Das ist der 5. März. Der regierende Kurfürst (Friedrich August III.) sowie sein Vater und Großvater trugen den Namen Friedrich.
Gottscheds Tod und Begräbnis
343
Stadtrichter Wendelin Neuhaus.20 Alle Genannten werden von ihren Frauen begleitet. Dazu kommt noch ein Graf Böse mit seinem Hofmeister: „Wir spielten erst in zwey Zimmern Tresette und Quadrille, bis 8. Hernach speiseten wir bis 11. und ehe alles weg war, ward es zwölf, weil wir nur eine Sänfte kriegen konnten. Man war sehr vergnügt, zumal Prof. Böhm [...]."21 Nicht nur Professoren oder andere Honoratioren treffen sich bei Gottsched, sondern auch Vertreter der jüngeren Generation: „Den 12ten dieses, haben wir auf eine angenehme und recht vergnügte Art begangen. Mein Pflegevater hatte eine Gesellschaft, die aus lauter jungen und vergnügten Personen bestand, zusammen gebethen."22 Eine besondere Rolle scheint die „Gesellschaft der freyen Künste" im Leben des alternden Gottscheds gespielt zu haben.23 Schon von der Eröffnungsveranstaltung kann die zeitgenössische Presse über eine erstaunliche Resonanz berichten: „Diesen feyerlichen Vorlesungen, wohneten die alhier studierenden Herren Grafen und andere hohe Standespersonen nebst vielen academischen Bürgern, als Liebhabern der freyen Künste und schönen Wissenschaften, in ziemlicher Frequenz und mit grosser Aufmerksamkeit bey."24 Auch in den sechziger Jahren ist jene Gesellschaft durchaus ein Platz, an dem sich das gebildete Leipzig trifft. Der berühmte Philologe Johann Jacob Reiske, selbst ein Mitglied dieser Sozietät, berichtet z. B. ca. 1765, er habe bei einer Versammlung der Gesellschaft Gott-
20
21 22 23
24
Wendelin Neuhaus (1713-1775), Stadtrichter, Oberaufseher der Stadtbibliothek, Baumeister, Philologe. Vgl. Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Historisch-litterarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem achtzehnten Jahrhundert gelebt haben. 6. Band (l 804), S. 121. Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 6. März 1765 (UBL, 0343d, B1. 69r). Viktoria Eleonora Gottsched an Christian Friedrich Grohmann, 14. April 1764 (UBL, 0343d, B1. 94r). Leider gibt es zu dieser letzten Sozietätsgründung Gottscheds keine Untersuchung (vgl. jedoch Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit. Leipzig 1897, S. 611—617). Die Gesellschaft hat auch ein eigenes Publikationsorgan begründet (Sammlung einiger ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste %u Leipzig), das jedoch schon nach dem 3. Band (wahrscheinlich infolge des Ausbruches des Siebenjährigen Krieges) sein Erscheinen einstellen mußte. Auch die von Gottsched geleitete Deutsche Rednergesellschaft ist in jenen Jahren noch aktiv. So feiert sie am 22. März 1763 anläßlich des Friedensschlusses von Hubertusburg ein Fest, bei dem ein von Gottsched verfaßtes und von Johann Adam Hiller vertontes Sinngedicht zur Aufführung gelangte. Vgl. Carl Augustin Grenser: Geschichte der Musik in Leipzig. Hg. von Otto Werner Förster. Leipzig 2005, S. 14. Der mit denen neuesten und wichtigsten Stadt-, Land- und Weltgeschichten beschäftigte ... Annaliste, Jg. 1753, Ausgabe vom 14. September 1753, S. 260. Ähnlich lautet der Bericht zu einer Versammlung derselben Gesellschaft zwei Jahre später: „Es erschienen auch nebst dem gegenwärtigen Rect. Magnif. Tit. Hrn. D. Ludwig, eine ansehnliche Versammlung derer Vornehmsten dieser Stadt, von Königl. Cammer-Hof-Appellations- und CommißionsRäthen, wie auch vielen von Adel und anderen Gelehrten." (1755, S. 257).
344
DETLEF DÖRING
sched, den derzeitigen Rektor, den Historiker Böhme und „viele andere brave Leute" getroffen.25 Es fehlt eine Literaturgeschichte Leipzigs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die uns erlauben würde, die tatsächliche Stellung Gottscheds und seiner Schule in jener Zeit verorten zu können. Georg Witkowski läßt seine bekannte Darstellung der Literaturgeschichte in Leipzig mit den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg enden, denn fortan habe die Stadt keine nennenswerte kulturelle Rolle mehr gespielt. Hinter einer solchen These sollte man grundsätzlich ein großes Fragezeichen setzen, sicher scheint es jedoch so zu sein, daß in Leipzig, wie wohl überhaupt in Sachsen, Wege eingeschlagen wurden, die nicht in die Phase des Sturm und Drang mündeten,26 die in allen Literaturgeschichten einschließlich aller Schulbuchdarstellungen als entscheidende Etappe in der Entwicklung der deutschen Nationalliteratur behandelt wird. Stellt sich der Betrachter auf diesen gleichsam kanonisierten Standpunkt, erscheint das Geschehen in Leipzig seit den sechziger Jahren in der Tat als allmählicher Niedergang. Eher freundlich gefärbt umschreibt Otto Jahn, ein Kenner Leipzigs zur Goethe-Zeit, diese Sicht, indem er formuliert, die Stadt habe durchaus eine „bedeutende Stellung" in der Literaturgeschichte eingenommen, jedoch: „Freilich konnte es dieselbe zu der Zeit, als Goethe hinkam, in Wahrheit nicht mehr behaupten, allein die Männer, deren Namen in aller Munde waren, lebten zum großen Teil noch, ihr Ruhm warf noch einen herbstlichen Schimmer auf ihre Umgebung, welche fortfuhr, Ansprüche auf Verdienste zu begründen, von denen man nicht einsah, daß sie schon vergangen waren."27 Es ist hier nicht der Platz für eine Untersuchung, ob Jahns Beurteilung der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Uns genügt die Feststellung, daß Gottsched am Ende seines Lebens innerhalb des literarischen und wissenschaftlichen Leipzig eine anerkannte und geachtete 25 Johann Jacob Reiske's Briefe. Hg. von Richard Förster. Leipzig 1897 (XVI. Band der Abhandlungen der phil.-hist. Classe der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften), S. 693. Zu Reiskes Kontakten zu Gottsched vgl. Holger Preißler: Ein Einsamer in Leipzig? Zu Reiskes Beziehungen in Leipzig 1746 bis 1776. In: Wolfram Kaiser und Arina Völker (Hg.): Johann Heinrich Schulze (1687-1744) und seine Zeit. Halle 1988 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1988/40), S. 185191, 188. Detlef Döring: Johann Jacob Reiskes Verbindungen zum wissenschaftlichen und literarischen Leben in Leipzig. In: Hans-Georg Ebert und Thoralf Hanstein (Hg.): Johann Jacob Reiske — Leben und Wirkung. Ein Leipziger Byzantinist und Begründer der Orientalistik im 18. Jahrhundert. Leipzig 2005, S. 117-140, zu Reiskes Verhältnis zu Gottsched vgl. S. 128-137. 26 Vgl. Anneliese Klingenberg: Die „Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste" — Programm für eine europäische Republique des Lettres. In: Anneliese Klingenberg, Katharina Middell, Matthias Middell, Ludwig Stockinger (Hg.): Sächsische Aufklärung Leipzig 2001, S. 173-196, vgl. besonders S. 173ff. 27 Otto Jahn: Goethe und Leipzig. 2. Auflage. Leipzig 1909, S. 18.
Gottscheds Tod und Begräbnis
345
Position besetzte. Der Tod traf keine verbitterte und verachtete einstige Berühmtheit, sondern eine nach seinem Selbstverständnis immer noch inmitten der zeitgenössischen Aufmerksamkeit stehende Persönlichkeit. Auch an der Universität ist und bleibt Gottsched ein einflußreicher Mann. 1761 wird er Mitglied des sehr angesehenen Kollegiums der Decemviri (s. S. 362), in den Sommersemestern 1756, 1760 und 1766 ist er Dekan der Philosophischen Fakultät und im Wintersemester 1756/57 Rektor der Alma mater. Es ist die Zeit des Siebenjährigen Krieges, der gerade und insbesondere die Stadt Leipzig aufs schwerste in Mitleidenschaft zieht, was auch für die Universität von unheilvoller Wirkung ist, vor allem im Hinblick auf finanzielle Verluste und im spürbaren Rückgang der Immatrikulationsziffern. Gottscheds universitätspolitisches Wirken unter diesen Rahmenbedingungen bedarf noch der Untersuchung.28 Schwer dürfte ihm sein letztes Dekanat geworden sein, das sich vom April bis in den Oktober 1766 erstreckte, denn spätestens Anfang August muß ihn die tödliche Krankheit erfaßt haben (s. S. 349). Leider klafft in der Überlieferung der Dekanatsberichte zwischen der Mitte der sechziger und der Mitte der siebziger Jahre eine Lücke, so daß wir über keine näheren Informationen über seine Amtsführung verfügen. Gut ein Jahr vor seinem Tod erfährt Gottscheds Leben eine letzte Wende, auf die hier kurz eingegangen werden muß, bevor wir uns dem eigentlichen Thema nähern. Liest man seine an die Nichte gerichteten Briefen, so entsteht der Eindruck, daß Gottsched einen guten Teil seiner letzten Lebenszeit damit verbringt, die beruflichen Karrieren der ihm nahestehenden Personen zu fördern — und Ehen zu stiften! Dabei bewegt sich der Witwer selbst auf Freiersfüßen, was entsprechende Bemerkungen in den erwähnten Schreiben belegen, z. B.: „Mit dem Hn Vätter in Altenb. bin ich nicht glücklich denn ich höre, die beyden Mädchen haben sich schon verplempert [...]. Ich will aber meinen Stab weiter setzen. Vielleicht findet sich noch was bessers."29 Aus der Altenburger Gegend stammt
28
29
Einige Beobachtungen gibt Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Stuttgart; Leipzig 2000, S. 108ff. Auf die Nöte, in die sich die Universität verstrickt sah, weist Gottsched in verschiedenen amdichen Aufzeichnungen hin, z. B. in dem Bericht über sein Dekanat im Sommersemester 1760, der in seinem pathetischen Diktus aber auch ein Licht auf den Verfasser wirft: „Pauca admodum notatu digna in hoc Decanatu meo acciderunt, praeter hoc unum, quod exitiale bellum, sub nupero Decanatu meo, totius fere Germaniae damno infeliciter ortum, et per integres jam quartuos annos atrociter continuatum, nobis quoque saepe molestum, reditibusque, nostris magno fuerit detrimento." (UAL, Phil. Fak. B 15: Acta Decanatus, S. 51-53). Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 17. November 1764 (UBL, 0343d, B1. 38r). Diese Reaktion entspricht der Lebensphilosophie Gottscheds, die er an anderer Stelle folgendermaßen formuliert: „Mir ist nichts so sehr ans Herz gewachsen, daß ich es nicht mis-
346
DETLEF DÖRING
dann auch die jugendliche Braut, die Gottsched im August 1765 in Camburg zum Altar führen kann. Wir wissen fast nichts über Ernestine Susanne Katharine Neunes.30 Ihr Vater, Johann Neunes, war Oberstleutnant in Altenburg, lebte aber zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht mehr. Reichel vermutet vielleicht zu Recht, daß Gottsched die junge Frau bei einem seiner Aufenthalte bei Jakob Friedrich Freiherr von Bielfeld auf dessen Gut Treben (bei Altenburg) kennengelernt habe.31 Der zeitgenössische Klatsch will wissen, daß sich die Neunes „im Anfange seiner Liebe" als Universalerbin einsetzen ließ.32 Einen Beweis für diese Behauptung gibt es nicht. Zu erben waren im übrigen, wie wir noch hören werden, am Ende nur Schulden. Die wenigen Informationen, die wir über Gottscheds zweite Ehe besitzen, sind von Eugen Wolff zusammengetragen worden33 und müssen hier nicht wiederholt werden.34 Gottsched jedenfalls gibt sich
30
31
32
33
34
sen könnte. Hab' ichs, so truck ichs; hab ichs nicht, so ist es auch gut." (Gottsched an seine Nichte, 9. Januar 1765, UBL, 0343d, B1. 53r). Eugen Reichel und Eugen Wolff verleihen der Braut das Adelsprädikat. Ich habe jedoch kein Adelsgeschlecht „Neunes" ausfindig machen können. Die sehr gründliche Genealogie Gottscheds in der Altpreußischen Geschlechterkunde (Anm. 34) zählt Frau Neunes nicht zum Adel. Eugen Reichel: Gottsched, 2. Band. Berlin 1912, S. 875. Auf Altenburg verweist auch eine hämische Notiz zu einem wohl von Gottsched verfaßten Gedicht Ode an die unvergleichliche Ernestine am 3ten des Heumondes 1765. Dem Tage vor ihrer Hochzeit. Dort folgt auf die im Gedicht enthaltene Bemerkung, die Ehe sei im Himmel gestiftet worden, ein Kommentar: „Denn da die Ehe des Herrn Prof. G. eine Ehe ist und alle Ehen im Himmel gestiftet werden, so ist auch diese im Himmel gestiftet worden; obgleich einige rohe Weltkinder behaupten, es wäre solches nur in Altenburg geschehen." (Christoph Gottscheds ... Neueste Versuche [Anm. 7], S. 17-24, hier S. 19). So die Mitteilung der Anna Louisa Karsch an Gleim, 5. Januar 1767. Vgl. „Mein Bruder in Apoll". Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hg. von Regina Nörtemann. Göttingen 1996, S. 276. Auch Gottscheds Verleger Bernhard Christoph Breitkopf deutet dies in einem kurz nach Gottscheds Tod verfaßten Brief an Jakob von Stählin an: Die Witwe habe sich als „vortreffliche Wärterin" ihres kranken Mannes die Erbschaft wohlverdient. Man habe Gottsched diese Ehe im übrigen in Leipzig sehr verdacht. Vgl. Karl Stählin: Aus den Papieren Jacob von Stählins. Ein biographischer Beitrag zur deutsch-russischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Leipzig o. J. (1926), S. 390. Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben. 2. Band. Kiel; Leipzig 1897, S. 200ff. Die einzigen Quellen bilden Gottscheds Briefe aus jener Zeit. Besonderes Gewicht schreibt Wolff einem Brief Gottscheds an eine Schwägerin zu, der Disharmonien zwischen den Ehepartnern erkennen lasse (S. 201 ff.). Frau Neunes hat zu einem unbekannten Zeitpunkt ein zweites Mal geheiratet, und zwar den Landrentmeisterjohann Friedrich Weiße. Vgl. Altpreußische Geschlechterkunde. 11. Band (1937), S. 38 (Johann Christoph Gottscheds Ahnentafel). Weiße ist ab 1770 als Secretar bei den „Jagd- Floß- und Rent-Expeditiones" nachweisbar. Später wird er Vizelandrentmeister und 1780 Landrentmeister (vgl. Churfürstlich Sächsischer Hof- und StaatsCalender, Jg. 1770, S. 104; Jg. 1780, S. 130). Die „Renterey" unterstand bis 1782 dem Cammer-Collegium, ab 1783 dem Geheimen Finanz-Collegium. Weiße war dort zuletzt als
Gottscheds Tod und Begräbnis
347
in seinen Briefen als wohlgelaunter und vitaler frischgebackener Ehemann, der sich intensiv den Freuden dieses Zustandes widmet und in einer ihm durchaus eigenen Derbheit von einem zu erwartenden familiären Nachwuchs spricht, was sich dann jedoch als vergebliche Hoffnung entpuppt.35 Das führt uns zur Frage nach seinem Gesundheitszustand und nach den Ursachen, die schließlich zu Gottscheds Tod führten. Wie wir bislang überhaupt wenig über Gottscheds Gesundheit bzw. über seine Krankheiten wissen, so ist auch unsere Kenntnis über sein Wohlbefinden in den letzten Lebensjahren gering. In den überlieferten Selbstaussagen gibt er sich in der Regel als gesund und vital. So heißt es beispielsweise in einem der Briefe an seine Nichte: „Ich befinde mich Gottlob sehr wohl und bin bey guten Kräften." Da seine Briefpartnerin und deren Schwester, die in Gottscheds Wohnung lebt, ebenfalls wohlauf seien, wird mit einer noch langen Zukunft gerechnet: „Wir können also, und werden, wills Gott, noch viele Jahre leben [...]."36 Wenige Monate später ergeht an einen seiner ostpreußischen Briefpartner eine fast euphorische Beschreibung des körperlichen Wohlbefindens: „Meine Gesundheit, Augen und Ohren, Füße und Magen, sind noch so gesund und stark, als vor 20 Jahren, da ich in meinem Vaterlande war, ja noch stärker [...]. Wie lange ich noch leben solle, wird die Vorsehung bestimmen [...]."37 Aber
35
36 37
Landrentmeister Leiter der Dritten Finanzrechnungs-Expedition innerhalb der Geheimen Finanzkanzlei. Er starb 1818. „[...] aber so viel werden Sie verhoffentlich wissen, daß das Abnehmen und Blaßwerden neuvermählter Schönen für ein gutes Merkmal gehalten wird; dieses werden Sie an meiner Freundin bemerken [...]." (Gottsched an Charlotte Sophie Heck, 29. September 1765 [Anm. 18]). Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 4. August 1764 (UBL, 0343d, Bl. lIr). Gottsched an Ludwig Ernst Borowski, 18. November 1764 (UBL, Autographensammlung Kestner, A IV). Gottsched hatte 1744 seine Heimatstadt Königsberg besucht. Sechs Jahre später litt Gottsched allerdings an einer langwierigen gichtigen Erkrankung. Der Graf Friedrich Heinrich von Seckendorf erhält darüber folgenden Bericht Gottscheds: „Es ist wahr, daß auch ich fast die ganze Messe hindurch bettlägerig gewesen. Es hatte acht tage vorher, mit einer der Mode gemäßen Dysenterie angefangen; hernach aber verwandelte sichs in ein fieberhaftes Wesen, mit Mangel von Appetit, oft ausbrechendem Schweiße, und Entkräftung; dabey sich auch eine Lähmung des linken Schenkels fand; die endlich der Medicus, doch noch zweifelhaft für ein Gonagra erklärte. Die übrigen Zufälle haben sich nun wohl alle verlohren, so daß ich neul. Sonntag wieder in die Kirche, und abends zu einer Hochzeit gehen können: allein das Pedal ist doch noch nicht recht im Stande, und scheint sich sehr langsam bessern zu wollen." (Brief vom 26. Oktober 1750, Altenburg, Thüringisches Staatsarchiv, Seckendorffsches Archiv Nr. 1113, Bl. 86-87). Die Kunde von Gottscheds Erkrankung dringt sogar bis ins ferne Wien, wo der langjährige Korrespondenzpartner Franz Christoph von Scheyb erschrocken reagiert: „Ehe ich dieses blatt Schliesse so körnt mir schon wieder eine stille betrübte zeitung von E. H. zu Ohren: Daß sie nämlich von einer gefährl. Krankheit überfallen] seyn. Der himmel gebe doch, daß es nicht wahr sey." (Brief vom 7. Oktober 1750, UBL, 0342 XV, Bl. 414-415). Ich verdanke den Hinweis auf diese Briefstellen Frau Franziska Menzel.
348
DETLEF DURING
auch in seiner Umgebung hielt man Gottsched für robust und glaubte, ihm noch eine längere Lebensspanne zuschreiben zu können: „[...] amisimusque ante multo, quam putaramus, corporis robur animi vigore aestimantes. Et erat ei corpus bene compactum et validum, firmisque lateribus."38 Gleichwohl finden sich gelegentlich Hinweise auf gesundheitliche Beeinträchtigungen. In den Briefen an die Nichte klingen entsprechende Mitteilungen eher harmlos: „Meine damalige Unpäßlichkeit ist mit einem Heeringe abgethan worden: nur den bösen Friesel, der mir noch wie Grütze im Nacken und auf dem lincken Arme sitzet kann ich nicht los werden. Indessen schlucke ich noch fleißig Pillen".39 Ein anderes Mal geht es um einen bösen Husten, der Gottsched hartnäckig quält: „Ueber meinen Husten bekümmern Sie sich nur nicht. Denn übrigens befinde ich mich jetzo vollkommen gesund und frisch."40 Vier Wochen später laboriert er immer noch an seiner Erkältung: „Mein Husten vexiret mich nur. Bald vergeht er, bald kömmt er wieder. Geduld ist das beste Pflaster wider alle Krankheiten."41 Auch die Nichte Viktoria berichtet während ihrer Zeit in Gottscheds Haushalt gelegentlich von Erkrankungen ihres Pflegevaters. So schickt sie ihrem erkrankten Bräutigam ein Pulver nach Zwickau, das den Pfarrer alsbald wieder auf die Füße bringen soll: „Mein gütiger Vätter, hat dieselben Pulwer, für ungefähr einem Jahr, auch fürs Fieber gebrauchet. In acht Tagen war das ganze Fieber weg."42 Gottsched läßt es auch nicht an Vorbeugemaßnahmen zur Erhaltung seiner Gesundheit fehlen.43 Dazu zählt der Besuch von Heilbädern, der freilich auch der Kontaktpflege zur mondänen Welt gedient haben dürf-
38 Johann August Ernesti: Memoriam viri amplissimi atque celeberrimi . Christophen Gotschedii [...] de literis et academia nostra praeclare meriti D. XII. Dec. A. C. MDCCLXVI. rebus humanis exemti commendat Rector universitatis liter. Lips., S. XI. 39 Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 8. Dezember 1764 (UBL, 0343d, B1. 46r). 40 Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, ohne Datum, Ende Januar 1765 (UBL, 0343d, B1. 58r). 41 Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 27. Februarl765 (UBL, 0343d, B1. 66r). 42 Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 3. Mai 1764 (UBL, 0343d, Bl. 115r). 43 Gottsched folgt damit nur Prinzipien der Gesundheitsvorsorge, wie sie damals durchaus schon üblich waren. So heißt es in einer Leipziger Zeitung: „Denn gleichwie man sich gegen einen Feind, von dem man einen Anfall zu besorgen, in Zeiten in Positur zu setzen nöthig hat, also da man nichts gewissers vor Augen siehet, auch aus der untrüglichsten Erfahrung aller Winter die man erlebet hat, mehr als zu wohl weiß, wie heftig oft ganz unerwartete Zufälle, in theils schlaffer und unbequemer, theils rauher Witterung auf die menschliche Gesundheit loß stürmen, so muß man denenselben nothwendig in Zeiten mit bewährten Präservativen zuvorkommen, welche im Friihlinge und Herbst am fleißigsten zu gebrauchen und die besten Dienste leisten." (Der mit denen neuesten und wichtigsten Stadt-, Land- und Weltgeschichten beschäftigte [...] Annaliste, Jg. 1759, S. 820£, Ausgabe vom 29. Oktober 1759).
Gottscheds Tod und Begräbnis
349
te.44 Vor allem das damalige Allerweltsmittel des Aderlasses gelangt zur regelmäßigen Anwendung. Gelegentlich berichtet er darüber an seine Nichte: „Ueber acht Tage will ich zur Ader lassen; um mich gegen den Winter zu verwahren, und um noch die Freude zu erleben, daß ich Sie in besseren Umstände sehe."45 Diese Prozedur wird auch bei den anderen Hausangehörigen vollzogen, wie wir aus einem Schreiben derselben Nichte aus ihrer Zeit in Gottscheds Wohnung erfahren. Die Briefstelle zeigt zugleich, daß das Aderlassen durchaus auch seine Gefahren in sich barg: „Donnerstag sind wir glücklich unser überflüßiges Blut losgeworden, das uns auch recht gut bekommen ist, außer daß mir Freytag des Morgens, die Ader aufging, welches mir noch nicht widerfahren ist, keiner im ganzen Hause hatte das Herz sie zu verbinden; außer meinem Pflegevater, der mich vom Tode errettete, und mir selbige gut und glücklich verband."46 Die Krankheit, die schließlich zum Tode Gottscheds führte, muß in der ersten Augusthälfte 1766 zum Ausbruch gekommen sein;47 jedenfalls berichtet Frau Heck, von der wir den einzigen bekannten Bericht über Gottscheds Sterben besitzen, daß er 18 Wochen lang krank gewesen sei.48 Die Zeitgenossen bezeichnen übereinstimmend die Krankheit als Wassersucht (lat. hydrops), so z. B. Jakob von Stählin im fernen St. Petersburg: „Von Leipzig meldet mir der Hr. Prof. Heinsius, daß Hr. Prof. Gottsched an der Waßersucht auf dem letzten Loch pfeife. Laßt uns bey der Wein-
44
45
46 47
48
Bekannt sind Aufenthalte in Lauchstädt (vgl. Willi Ehrlich: Bad Lauchstädt. Weimar 1976, S. 42) und in Karlsbad. Über die dort erlebte Kur schreibt Gottsched: „[...] wobey einem die Aerzte bey nahe das Athemholen verbiethen." (Gottsched an Friedrich Heinrich von Seckendorf, 18. Oktober 1749, Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Seckendorffsches Archiv Nr. 1113, Bl. 76-77). Gottsched an seine Nichte Viktoria Eleonora, 12. September 1764 (UBL, 0343d, Bl. 23r). Es fehlt unter den Zeitgenossen aber auch nicht an Stimmen, die vor der übermäßigen Anwendung des Aderlassens warnen. Gerade bei Gelehrten, meint einer dieser Autoren, könne dies nachteilige Wirkungen zeitigen: „Dieweil aber die gelehrten insgemein mürrisch sind/ und die Medicos offt anlauffen/ und darauff dringen/ daß sie ihnen Hülffs-Mittel verschreiben/ und vornehmlich Purgantzen und Aderlassen [...] Das Aderlassen aber/ ob gleich mäßig gebraucht/ benimmt ihnen die Kräffte/ und zerstöret leichtlich die vom Wachen und Studieren abgemattete Geisterlein gantz und gar." (Bernhard Ramazzini: Untersuchung von denen Kranckheiten der Künstler und Handwercker. Leipzig 1718, zu den Krankheiten der Gelehrten S. 395^40, 437f.). Viktoria Eleonora Gottsched an Christian Friedrich Grohmann, 7. April 1764 (UBL, 0343d, Bl. 88r). Noch im Mai 1766 scheint Gottsched noch ganz agil und munter gewesen zu sein. Johann Jacob Reiske berichtet: „[...] paucis post horis, conveniebat me domi meae Gotschedius, qui, ut est avidus rerum novarumque et scitarum [...]." (Brief Reiskes an Gerard Meerman, 7. Mai 1766 [Anm. 25,5.716]). Diese Angabe wird durch Ernesti bestätigt (Anm. 38), der mitteilt, Gottsched sei Mitte des Sommers erkrankt („media superioris anni aestate").
350
DETLEF DURING
sucht bleiben! Für der Waßersucht behüte uns lieber Herre [,..]."49 Die Todesursache Wassersucht ist dann auch in alle späteren Lebensdarstellungen ohne weitere Erläuterungen lapidar übernommen worden, noch Mitchell erwähnt nur ganz knapp „edema", die sich bei Gottsched entwikkelt hätten.50 Ödeme bilden jedoch als solche keine Krankheit, sondern sind Symptome sehr verschiedenartiger Erkrankungen.51 Sehr wahrscheinlich ist die Bildung von Geschwüren an den Füssen, über die Ernesti in seiner Gedächtnisrede berichtet,52 daß Gottsched über Jahre hinweg erfolglos an ihnen laboriert habe, mit der tödlich endenden Krankheit in Verbindung zu bringen. Ernesti führt diese Tumore auf Gottscheds durchweg sitzende Beschäftigung zurück. Daß das für Gelehrte typische Sitzen entsprechende Krankheiten hervorruft, war allgemeine Auffassung der Zeit. Tatsächlich deutet die Ansammlung von Wasser in den Beinen auf ein chronisch verlaufendes Herzversagen, d. h. auf ein Zurückgehen der Pumpleistungen des Herzens, was zu einem Rückstau im venösen System führt. Diese Stauungen können dann auch andere Körperteile betreffen, u. a. die Herzgegend. Es müßte sich, folgt man den freilich nicht besonders klaren Angaben Ernestis, bei Gottsched entweder um eine Brustfellwassersucht oder um eine Herzfellwassersucht gehandelt haben.53 Der Bericht über die zunehmende Mattigkeit des Patienten deutet vielleicht eher auf die letztgenannte Form der Wassersucht, deren Verlauf folgendermaßen geschildert wird: „Diese Wassersucht bringet wiederum unterschiedene Zufälle hervor: Denn obschon der Athem von selbiger nicht gar zu sehr verletzet wird, daß man sich einer Erstickung zu befahren hätte; so wird doch selbiger sehr schwer. Indessen muß doch vornemlich das Hertze sehr darunter leiden, als welches dadurch zu öffterer Zu49
Stählin an Gerhard Friedrich Müller, 27. November/8. Dezember 1766, zitiert nach: Ulf Lehmann: Der Gottschedkreis und Russland. Deutsch-russische Literaturbeziehungen im Zeitalter der Aufklärung. Berün 1966, S. 204. 50 Philipp Marshall Mitchell: Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Harbinger of German Classicism. Drawer 1995, S. 104. 51 Ich stütze mich im folgenden teilweise auf Erläuterungen, die mir freundlicherweise Frau Prof. Dr. Dr. Ortrun Riha (Direktorin des Karl-Sudhoff-Institutes der Universität Leipzig) zukommen ließ (Brief vom 2. April 2002). 52 Ernestis Krankheitsbericht lautet folgendermaßen: Gottsched sei scheinbar von bester Gesundheit gewesen, „sed laboris multitudo paullatim adfecerat, imique pedes ante multos annos tumorem contraxerant ab sedendi assiduitate, quem nee thermarum nee alia remedia discussere: ceterum ex eo nihil incommodi sentiebatur. Is repente sublatus praecordia inuaserat, nee remediorum, naturalisque roboris vi expugnari et detrahi sede sua, saluo domino, potuit. Nam in eo conatu naturae, per quem est expulsus, omnis vitae vis ita est consumata, vt languore paullatim deficeret, qui morbi ipsius vim sustinuisset et fregisset." (Anm. 38, S. XI). 53 Es bildet eine gewisse Ironie der Geschichte, daß Gottscheds Gegner Lessing an der Brustfellwassersucht gestorben ist.
Gottscheds Tod und Begräbnis
351
sammenziehung angereitzet und gebracht, desselben Bewegung aber mühsam und schwer gemachet wird, davon hernach die wahre Herzens-Angst entstehet, und der Puls sehr ungleich [...] anzutreffen ist [...]. Und auf diese Art wird das Hertz zusammen gedrucket, angetrieben und üblich und gröblich angegriffen, daß es dahero nicht so gut, sondern schwerlich seinem Amte vorzustehen vermögend ist."54 Daß die Krankheit sehr schmerzhaft verlief, deutet eine Bemerkung Kästners immerhin an.55 Über die eigentliche Ursache dieses Herzversagens läßt sich angesichts fehlender näherer Informationen nur spekulieren. Ein angeborener Herzfehler scheint weniger wahrscheinlich zu sein, eher könnte eine Erkrankung als Ursache vermutet werden. Denkbar wären z. B. eine eitrige Halsentzündung, die zur Beeinträchtigung der Herzklappenfunktion führt, oder eine Erkrankung des Herzmuskels. Wieweit Gottsched in dieser Zeit noch seinen Ämtern nachgehen konnte, insbesondere in der Ausübung der wichtigen Funktion des Dekans der Philosophischen Fakultät, wissen wir nicht. Immerhin kümmert er sich noch im September um den Einbau neuer Kapellen in die Paulinerkirche (s. S. 364) und noch am 14. Oktober 1766 hat er die Abrechnung über die Einnahmen und Ausgaben seines Amts Vorgänger s Carl Günther Ludovici eigenhändig bestätigt.56 Wir wissen nicht, welcher Arzt Gottsched während seiner tödlich ver Krankheit behandelte. Es liegt aber die Vermutung nahe, daß Johann Christoph Pohl (1706-1780) diese Aufgabe wahrgenommen hat. Er zählte, wie wir bereits hörten, zum engsten Kreis des älteren Gottsched und war einer der angesehensten Leipziger Ärzte seiner Zeit.57 Interessant ist auch, daß Pohl sich in verschiedenen Schriften mit dem Thema Wassersucht beschäftigt hat.58 Sonst erfahren wir wenig über das Krankenlager 54
55
56
57
58
Zedler 13 (1735), Sp. 1392. Verfasser des Artikels über die Wassersucht (Hydrops) war wahrscheinlich der Leipziger Arzt (Pracricus) Heinrich Winckler. Nach Mitteilung des ihm gewidmeten Artikels in Zedler 57 (1748), Sp. 509f.) hat er „gleich vom Anfange dieses grossen Universal-Lexicons bis noch jetzo die meisten medicinischen Artickel darein verfertiget [...]." „Wenn des armen Mannes Krankheit nicht so schmerzlich gewesen wäre, so hätte ich freylich darüber gelacht daß er eben an der Wassersucht gestorben ist." (Kastrier an Nicolai, 26. Januar 1767 [Anm. 9]). UAL, Phil. Fak. B 362: Rechnungsbuch der Fakultät, S. 566. Die Abrechung zu seinem eigenen Dekanat hat dann wiederum Ludovici im Auftrag der Witwe Gottsched vorgenommen: Des seel. Herrn Johann Christoph Gottscheds der Metaphysick Professors Decanat-Rechnung vom 19. April bis zum 15. Octobr. 1766 aufgesetzt und abgelegt am 18. April 1767 durch Carl Günther Ludovici der Logick Professorn, im Namen seiner Frau Curandin der verwittibten Frau Prof. Gottschedinn (S. 567—582). „Sehr selten; das ist, nur wenn die Uhr des Lebens abgelaufen war, und sonst niemahls, wurden die Kranken hülflos von ihm gelassen." (Hirsching [Anm. 20], 8. Band [1806], S. 134-36). Observatio de Hydrope pectoris et pericardii defuncti sectio anatomica; De hydrope saccato ab hydatibus; De tumore lienis saccato a causa hydropica.
352
DETLEF DÖRING
Gottscheds, das sich immerhin über mehrere Monate hinzog. Entsprechend der damals üblichen Praxis blieb der Kranke in seiner eigenen Wohnung und empfing hier die Besuche seines Arztes. Ernesti betont in seiner Rede die aufopfernde Pflege, die Gottsched durch seine Frau und durch die Schwiegermutter erfahren habe. Von seinen Freunden, heißt es lapidar, habe er häufigen Zuspruch erfahren. Besondere Erwähnung findet der Theologejohann Adolph Scharf (1724—1791), aus dessen Händen er auch das Abendmahl „religiöse" entgegengenommen und dem er seines Todesbereitschaft bekundet habe.59 Scharf, zur Zeit von Gottscheds Tod Diakon der Neuen Kirche (Matthäikirche), war vielleicht der beliebteste Leipziger Geistliche der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gerühmt wurde vor allem seine schier grenzenlose Aufopferung für die Gemeindemitglieder, zumal für alle Kranke.60 Frau Heck, die seit einigen Monaten bei Gottsched wohnte,61 gibt drei Tage nach dem Tod Gottscheds an Samuel Formey, den Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, folgenden Bericht über die letzten Stunden des Verstorbenen: „Je vous ecris celle ci Monsieur pour vous notifier la Mort de Monsieur le Professeur Gottsched. Vendredi dernier 12 de Decembre a 4 heure de l'apres dinee il ä passe de ce tems a l'eternite age de 67 ans moins deux mois; apres avoir ete malade de l'hidropisie pendant 18 semaines. II a ete entere lundi passe a 7 heure du Matin. II est mort en Philosophie, et j'ose le dire en Philosophe Chretien! II ä vu aprocher cette ennemie formidable du genre humain avec une fermete vraiement heroique. II n'ä point eu d'agonie, il n'a pas fait le 59
„De animi in eo periculo habitu interrogatus ab Theologo amico, ita se adfectum esse, magna oris constantia et tranquillitate, respondit, ut nee vivere, si Deo videretur, nee mori nollet." (Anm. 38, S. XI). 60 „Keine Arbeit, kein Geschafft, das sein Amt mit sich brachte, ward ihm zur Last, sondern Alles that er mit größter Lust und größtem Eifer. Täglich besuchte er von 9 bis 12 Uhr seine Patienten, wovon er sich durch nichts, selbst durch das schlechteste Wetter nicht abhalten ließ, und wobey er keine Unbequemlichkeit, keine Gefahr scheute [...]. So lebte er von Allen geliebt [...]." (Hirsching [s. Anm. 20] 10. Band [1808], S. 256f.). Der spätere Missionar Johann Gottlieb Burckhardt urteilt über Scharf, den er in seiner Studienzeit kennenlernte: „Man sah ihn fast immer auf den Straßen in Krankenbesuchen beschäftigt, und theils wegen dieses Amtsfleißes, theils wegen seiner Wohltätigkeit gegen die Armen stund er im Ruf eines würdigen Geistlichen." (J. G. Burckhardts Lebensbeschreibung, Veröffentlichung im Internet: bs.cyty.com/elmbs/jb.htm). Scharf hielt auch Lehrveranstaltungen an der Universität. Er scheint jedoch außer seiner Dissertation (De Paullo in Epistola ad Romanos Divinitatis lesu Christi Teste. Leipzig 1777) nichts publiziert zu haben, so daß seine theologische Ausrichtung nicht deutlich wird. Früher stand Gottsched wohl dem Theologen Christoph Wolle nahe, der auch der Beichvater Bachs war. In einem Schreiben des Leipziger Mediziners Friedrich Börner wird Wolle als „sehr guter Freund" Gottscheds bezeichnet (Börner an Gottsched, 26. August 1754, UBL, 0342 XIX, Bl. 427f.). 61 Sie hatte den Auftrag Gottscheds, Schriften seiner verstorbenen Frau Luise Adelgunde Victorie ins Französische zu übersetzen.
Gottscheds Tod und Begräbnis
353
moindre mouvement, ni la moindre contorsion on peut dire reellement de lui qu'il s'est endormi au Seigneur. Deux heures avant sä mort un Ministre s'aproche de lui, il lui a parle avec une si parfaite resignation qu'il ä tire des larmes de tous les assistans; II lui dit entre autres, je pardonne a tous mes ennemis, j'espere qu'ils laisseront reposer mes cendres. II prift] ensuite conge de sä femme dans les termes les p[lus] touchans, il aurait falu etre insensible pour [ne] pas etre attendri d'un spectacle si touchant. [La] veuve est inconsolable; eile est son heritie[re universelle."62 Auch Ernesti berichtet von der gefaßten und religösen Haltung, mit der Gottsched dem Tod entgegengesehen habe. Es ist natürlich fraglich, inwieweit die Berichterstattung hier auf Topoi zurückgreift, die ein sanftes und seliges Sterben schildern sollen: Bekenntnis zum christlichen Glauben, Schickung in das unvermeidliche Ende, der gelinde Tod, die Untröstlichkeit der Witwe. Die Mitteilung, der Sterbende habe allen seinen Feinden verziehen, dürfte sicher den Tatsachen entsprechen. Gottscheds Wunsch, seine Gegner sollten ihrerseits seine Asche in Frieden ruhen lassen, ist allerdings nicht in Erfüllung gegangen. Im übrigen gibt es noch einen anderen, allerdings aus zweiter Hand überlieferten Bericht über Gottscheds letzte Worte auf dem Sterbebett, den uns Anna Louisa Karsch überliefert: „Er that auff Seinem Sterbebett Ein sehr merkwürdiges Geständniß, Daß schöne Geschlecht sprach Er, und meine unüberwindliche Neigung zu denselben hat mich zu mancher Thorheit gereizt."63 Der Tod erfolgte, wie dies während der gesamten Frühen Neuzeit noch üblich war, in der Anwesenheit der Familie, die freilich allein aus Frau Gottsched bestand, und anderer Hausbewohner und Freunde bzw. Bekannter der Familie. Ob es sich bei dem „Ministre", der zwei Stunden vor Eintritt des Endes als Besucher erscheint, um einen Geistlichen oder um eine andere Person handelte, läßt sich schwer sagen. Eugen Reichel, Gottscheds berühmt-berüchtigter Biograph, berichtet von „vielen und verhältnismäßig umfangreichen Nachrufen" auf den Tod seines Helden. An keiner deutschen Hochschule habe es an „Kundgebungen" zu diesem Anlaß gefehlt. Die „Deutschen Gesellschaften", heißt es, „huldigten dem Entschlafenen durch anspruchsvolle Gedächtnisfeiern in würdiger Weise."64 Leider gibt der Autor hier, wie auch zu anderen Behauptungen an anderen Stellen, keinerlei Quellenbelege, abgesehen von dem Hinweis auf die bekannten Ansprachen von Kästner in Göttingen und Ernesti in Leipzig. Tatsächlich erbringt eine Sichtung der zeitgenössi62
63 64
Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Formey, K. 20, Bl. 3r-v. Die rechte untere Ecke des Blattes ist weggerissen worden. Die ergänzten Textstellen wurden in eckige Klammern gesetzt. Vgl. Anna Louisa Karsch an Gleim, 5. Januar 1767 (Anm. 32). Zumindest ist aus Gottscheds Briefwechsel ersichtlich, daß er ein ausgedehntes Liebesleben geführt hat. Eugen Reichel (Anm. 31), S. 879f.
354
DETLEF DURING
sehen Presse ein ausgesprochen dürftiges Ergebnis, schon in Bezug auf den Umfang der Reaktion auf Gottscheds Ende.65 Die wenigen nachweisbaren Stellungnahmen aber sind darüber hinaus eher als Belege dafür geeignet, wie weit das Ansehen des Verstorbenen unter seinen Zeitgenossen inzwischen gesunken war. Die Dresdner gelehrten ^ ^ teilen alle Titel und Mitgliedschaften Gottscheds umständlich mit und urteilen knapp, er sei „ein in der gelehrten Welt berühmter und um die Academic zu Leipzig rühmlichst verdienter Mann" gewesen.66 In Jena heißt es lapidar: „Zu Leipzig ist am 12. dieses der Hr Prof. Gottsched mit Tode abgegangen."67 Der als heftiger Feind Gottscheds bereits erwähnte Friedrich Nicolai berichtet mit einem unverkennbar spöttischen Unterton: „1766. den 12. December starb zu Leipzig Hr. Prof. Joh. Christoph Gottsched, an der Wassersucht. Seine Schriften und verschiedene geführte Streitigkeiten sind bekannt."68 Geradezu boshaft klingt die Meldung eines unbekannten Autors aus Rostock: „Am 12ten Dec. des vor. Jahr, verlohr die Universität Leipzig den Hrn. Prof. Joh. Christoph Gottsched. Er starb als ein Martirer seines ästhetischen Glaubens, mit der festen Ueberzeugung, daß, ein Schweitzer seyn, und gute Gedichte verfertigen, sich wiederspreche, und unter dem beruhigenden Tröste seines Gewissens, daß er nie seine Schriften durch das Lob eines Hexametrischen Dichters beflecket habe."69 In Leipzig erscheint kurz nach dem Todesfall eine knappe, aber doch durchaus würdige Anzeige: „Am 12. December Abends nach fünf Uhr verlohr unsere Universität einen ihrer berühmtesten und ver Lehrer, Hrn. Johann Christoph Gottsched, der Logik und Metaphysik ordentlichen, der Poesie außerordentlicher Profeßor, der Academic Decemvir, der Philoso65
66 67 68 69
Die Berücksichtigung der gesamten Presse war aus Zeitgründen nicht möglich. Der folgende Überblick stützt sich auf eine breite Auswahl von Periodika, die vor allem die Bestände in der ÜB Leipzig einbezieht. Eine vollständige Sichtung der zu jener Zeit existierenden Zeitschriften könnte vielleicht noch diese oder jene Notiz bringen, dürfte aber am Gesamtbild nichts ändern. Dresdner gelehrte Anzeigen, Jg. 1766, Nr. 53. Jenaische Zeitungen von Gelehrten Sachen, Jg. 1766, CII. Stück, 22. Dezember 1766. Allgemeine deutsche Bibliothek, 4. Band. Berlin; Stettin 1767, S. 307. Erneuerte Berichte von Gelehrten Sachen in dem Jahr 1767. ausgefertigt von einigen Mitgliedern der Akademie zu Rostock. Rostock, S. 32. Die Bemerkung über die Hexameter zielt wohl gegen Gottscheds heftige Kritik an Klopstocks Messias. Wieweit der Tod Gottscheds in der zeitgenössischen Korrespondenz Beachtung fand, bedarf noch der Untersuchung. Ein Negativbeispiel bietet Herder, der am 19. Februar 1767 an Nicolai sehr ausführlich den fast gleichzeitigen Tod Thomas Abbts (j· 3. November 1766) beklagt („für Deutschland unersetzbar"), mit keinem Wort jedoch Gottscheds Ableben erwähnt (Johann Gottfried Herder: Briefe. Bearbeitet von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. 1. Band. Weimar 1984, S. 70—72). Bemerkenswert ist auch ein Blick auf die Reaktionen, die die Nachricht vom Tod Lessings hervorrief. Vgl. Horst Steinmetz (Hg.): Lessing — ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Frankfurt/M.; Bonn 1969, S. 119ff.
Gottscheds Tod und Begräbnis
355
phischen Facultät und des großen Fürstencollegii Senior, Ephorus der Churfl. Stipendiaten, der Königl. Preußischen Societät der Wißenschaften, und anderer gelehrten Gesellschaften Mitglied. Er starb an der Waßersucht, in einem Alter von 66. Jahren. Sein Nähme allein sagt alles, was wir zur Empfehlung seines Andenkens hinzusezen könnten. Man würde es in Deutschland nicht ohne Undankbarkeit vergessen können, daß er zuerst in dem lehrenden Theil unserer schönen Wissenschaften die Bahn gebrochen, daß er unsere Sprache glüklich bearbeitet, für die deutsche Litteratur überhaupt viel Eifer, Fleiß, und nützliche Untersuchungen angewandt, sie mit den gelehrten Schätzen der Ausländer, sonderlich der Franzosen, bereichert, und überhaupt in der Morgenröthe des deutschen Witzes die Fackel vorgetragen hat. Unsere hohe Schule wird eben so wenig aufhören, die langen, treuen, und vielfachen Dienste zu schätzen, welche er ihr geleistet hat; und schon die Menge seiner Schüler von aller Art bleibt das beredteste und dauerhafteste Lob für ihn."70 Fehlgeschlagen ist der Versuch der Frau Heck, den angesehenen Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Samuel Formey, als Autor einer ganzen Biographie Gottscheds zu gewinnen. Dessen Feinde, meint sie, würden eine Darstellung aus der Feder eines so angesehenen Gelehrten akzeptieren und den Freunden könnte nichts besseres geschehen, als Formey als Historiographen Gottscheds zu sehen: „C'est le plus sur mo'ien de faire passer son Nom ä la Posterite." Allerdings hegt Frau Heck Bedenken, was die Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Gottsched und den Schweizern angeht. Man könne darüber nicht schweigen, andererseits handele es sich hier um eine für die Ehre des Verstorbenen unglückselige Angelegenheit. Jedoch vertraut sie auch in dieser Angelegenheit den Fähigkeiten ihres Briefpartners. Im übrigen bietet sie ihm weitere Auskünfte zu Gottscheds Person an („eclaircissemens sur le defunt"), sollte er sie wünschen.71 Formey ist bekanntlich nicht zum Historiographen Gottscheds geworden, ob aus äußeren Umstände oder aus Bedenken, dieses eben nicht unheikle Amt zu übernehmen, wissen wir nicht. 70
71
Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, 1766, S. 801. Einen relativ ausführlichen Lebenslauf Gottscheds setzte Johann Salomon Riemer in seine erst über einhundert Jahre später (teilweise) veröffentlichten Leip^igischen Jahrbuche. Die einzelnen Lebensstationen Gottscheds werden hier trocken aufgezählt. Lediglich im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Gottscheds universitärem Wirken heißt es wertend: „Das ausnehmende Lob, alle seine Ämter und auch die besonderen Aufträge, welche ihm von der ganzen Universität geschehen, besonders gezieret zu haben, wird ihm niemand absprechen können." (Gustav Wustmann: Quellen zur Geschichte Leipzigs. 1. Band. Leipzig 1889, S. 441). Frau Heck an S. Formey, 30. Januar 1768 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Formey, K. 20, Bl. 4). Als Beilage zu diesem Brief sendet Frau Heck das (uns nicht überlieferte) Programm der Universität zur Gedächtnisfeier für Gottsched.
356
DETLEF DURING
Ein ernsthaftes Bemühen, Gottscheds Verdienste um die Literatur und Wissenschaft zu würdigen, ist allein in Leipzig und in Göttingen zu beobachten. Der gebürtige Leipziger Abraham Gotthelf Kästner, der im Rahmen der Göttinger Deutschen Gesellschaft eine Gedenkrede hielt,72 versucht, zu einem abwägenden Urteil zur Person und zum Wirken seines einstigen Lehrers zu gelangen. Bei aller Beachtung der persönlichen Schwächen des Verstorbenen geht es zuerst und vor allem um die Themen, für die Gottscheds Name steht. Schon lange zuvor hatte Kästner Bodmer gegenüber gemeint: „Ich bin kein Freund von einem Witze der nur gefällt weil er beleidigend ist und Streitschriften die mehr Personen als Sachen betreffen verdienen den Nahmen critische nicht."73 In der Sache aber, urteilt Kästner, hat Gottsched überall, wo er sich zu Wort meldete, entscheidende Veränderungen auf den Weg gebracht. Ohne diese Entwicklungen hätten diejenigen, die jetzt über Gottsched spotten, niemals das werden können, was sie jetzt sind. Gottscheds Fehler, der ihn zum Fall brachte, war der, daß er „bey den Einsichten stehen [blieb], die er sich in seinen jungen Jahren erworben hatte."74 Daß sich die Künste weiterentwickeln, hat er nicht verstehen können und wollen. Im übrigen hätten die vielen Gegner Gottscheds ihren Kampf fast noch unsachlicher betrieben als er; auch hätten sie eigentlich nichts besseres bieten können als der von ihnen so heftig Angegriffene. So bleibt als Endurteil die Feststellung: „Um die deutsche Sprache und Litteratur hat er unläugbare und große Verdienste, nicht nur durch eigene Arbeiten, sondern auch durch solche, die er veranstaltet, unterstützt, dazu angetrieben hat."75 In Leipzig ist es der große Philologe Johann August Ernesti, Rektor des Wintersemesters 1766/67, der zu Gottsched das Wort ergreift.76 An 72
73 74 75 76
Betrachtungen über Gottscheds Charakter in der königl. Deutschen Gesellschaft zu Göttingen, den 12ten Sept. 1767 vorgelesen von Abraham Gotthelf Kästner, Aeltesten der Gesellschaft. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 6. Band (1768), S. 208—218. Nach der ironisierenden Mitteilung Kästners ist er aus der Schweiz wegen eines Nachrufes auf Gottsched getadelt worden: „Wehe der Bibliothek d. seh. W.! Hoch von den Alpen einher wälzt sich eine hufendeckende Schneelawine auf den Verfasser der Betrachtungen über Gottscheds Charakter und verbreitet sich über das ganze Journal das eine so unzürcherische Schrift aufgenommen hat." (Kästner an Christian Felix Weiße, 9. November 1767 [Anm. 9], S. 72). Abraham Gotthelf Kästner an Johann Jacob Bodmer, Leipzig, 27. April 1755 (Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 3.1.). Neue Bibliothek (Anm. 72), S. 211. Neue Bibliothek (Anm. 72), S. 217. Vgl. Anm. 38. Eine Rezension der Ansprache Ernestis findet sich in der Zeitschrift Unterhaltungen. Sie wird grundsätzlich positiv bewertet: „Wir finden hier zuerst einmal den wahren Ton getroffen, in dem die Deutschen von einem ihrer verdientesten Mitbürger sprechen sollten, und die Erzählung der Verdienste dieses Kunstrichters ist mit so vieler Billigkeit und Gerechtigkeits-Liebe abgefaßt, und durch viele sehr richtige Anmerkungen so lehrreich geworden, daß man sie nicht ohne Vergnügen lesen kann." Allerdings werde
Gottscheds Tod und Begräbnis
357
der Universität war es üblich, daß der Rektor einige Wochen nach dem Tod einer der Professoren in feierlichem Rahmen eine Gedächtnisrede hielt. Ernesti war ein Meister in der Kunst der Trauerrede, und so sind aus der Zeit der von ihm ausgeübten Rektorate zahlreiche Ansprachen auf mehr oder minder bekannte Leipziger Gelehrte überliefert, z. B. auf Johann Jakob Maskov, Christoph Wolle, Gottfried Heinsius, Christian Fürchtegott Geliert, August Friedrich Müller. In seiner Rede auf Gottsched ergeht sich Ernesti zuerst des längeren über die große Bedeutung der Rede und der Sprache. Ihre Beherrschung vor allem unterscheide uns vom Tier und mache uns zu Menschen; Kultivierung und Verfeinerung der Sprache bilden daher zentrale Verpflichtungen. Ein jeder, der sich dieser Aufgabe annimmt, mache sich um das Vaterland verdient77 und verdiene das höchste Lob. Jeder, der diese, Ernestis, Sätze lesen würde, müsse sofort zu der Vermutung gelangen, daß sie auf niemanden anderen gemünzt sein können als auf Gottsched, denn in der Verbesserung der deutschen Muttersprache bestehe dessen größter Verdienst. Alle, die sich dem gleichen Bestreben gewidmet haben, kämen aus seiner Schule. Ernesti erwähnt auch indirekt Gottscheds Gegner, denen er jedoch Mißgunst und Unfähigkeit zuschreibt; gesiegt habe letztendlich die Wahrheit, also Gottscheds Sache. Nicht in allem, was Gottsched an Verdiensten zugeschrieben wird, sei er der erste oder einzige gewesen, aber durch seinen Fleiß und durch seine Beharrlichkeit sei dasjenige, was bisher nur wenigen zu Eigen gewesen ist, nun vielen zum Besitz geworden. Es folgt ein Überblick über die verschiedenen Schaffensbereiche Gottscheds, z. B. Poetik, Dramatik, Grammatik, Übersetzungswesen. Vergessen wird auch nicht die Philosophie. Als erster in Leipzig habe er das Leibniz-Wolffsche System vertreten und popularisiert, insbesondere durch seine „Weltweisheit". Dann folgt eine knappe Skizze von Gottscheds Lebenslauf und der von uns schon herangezogene Bericht über seinen Tod. Abschließend spricht Ernesti über Gottscheds Charakterzüge: Die literarischen Arbeiten seien ihm rasch von der Hand gegangen; er habe zu Zornesausbrüchen geneigt, habe sich aber auch wieder alsbald beruhigt. Gerühmt werden seine Lehrmethoden: Auch die schwierigsten Dinge wären selbst von mittelmäßigen Gemütern begriffen worden. Sein Vortrag sei nicht durch alberne Spaße oder verächtliche Künste bestimmt gewesen, sondern durch eine Eleganz und Klarheit der Rede. Die Nachwelt, urteilt Ernesti und greift
77
Gottscheds Charakter zu positiv beurteilt. Auch seien seine Verdienste nicht in dem Maße groß gewesen, wie sie Ernestis Darstellung erscheinen lassen möchte (5. Band, 1. Stück. Hamburg 1768, S. 67f.). „Quo etiam melius de Patria merenrur, magisque laudibus ferendi sunt, qui curam linguae patriae emendandae ornandandae suscipiunt, et bene ac constanter sustinent [...]." (Anm. 38, S. IV).
358
DETLEF DÖRING
damit gleichsam auf den Beginn seiner Gedächtnisrede zurück, werde den Haß und Streit um Gottsched vergessen und ihn als denjenigen betrachten, der sich um die deutsche Sprache in Rede und Schrift unsterbliche Verdienste erworben habe; von ihm seien die Anfänge der besseren und eleganteren Redekunst ausgegangen.78 Beide Redner, Kästner und Ernesti, standen Gottsched lange Jahre nahe und bewerten die Person des Verstorbenen durchaus differenziert. Schwächen und Begrenztheiten werden nicht verschwiegen, als entscheidend wird jedoch sein großer Beitrag zur Modernisierung der deutschen Sprache und Literatur angesehen. Die Nachwelt hat sich diesem Urteil letztendlich angeschlossen, jedoch eher widerwillig; zu sehr hatte sich Gottsched durch sein unbedingtes Verharren auf Positionen, die immer mehr als überholt galten, ins Abseits gestellt. Wir wenden uns noch der Frage zu, wie und wo Gottsched bestattet wurde. Professoren wurden im 17. und 18. Jahrhundert normalerweise in einer feierlichen (solennen) Trauerveranstaltung zur letzten Ruhe gebettet.79 Das auffälligste äußere Merkmal einer solennen Bestattung bildete ihre zeitliche Ansetzung auf den späten Nachmittag bzw. den Abend.80 Der materielle und personale Aufwand, der bei dieser Gelegenheit betrieben wurde, war enorm:81 Professoren, Studenten, Gymnasialschüler, Bau78
79
80
81
„Posteritas, obrutis invidiae odiorumque causis, controversiarumque memoria obliterata, cum solam rem causamque videbit, omnium de Gotschedio iudicia sie aequabit, ut de sermone patrio et omni bene dicendi ac scribendi genere, quae est non parva res, immortaliter meritum esse, omnes fateantur, et initia melioris sermonis et elegantioris ab ipso ducant." (Anm. 38, S. XII). Zur Begräbnispraxis der Frühen Neuzeit vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 1. Band. München 1990, S. 218ff. Zu den konkreten Verhältnissen in Leipzig vgl. Thomas Weller: Theatrum Praecedentiae. Zeremonieller Rang und gesellschaftliche Ordnung in der frühneuzeitlichen Stadt: Leipzig 1500—1800, Darmstadt 2006, S. 230—263 zu Beerdigungen allgemein, S. 253—263 zu den Bestattungen der Universitätsrektoren. Diese Praxis stieß auf Kritik und wurde, letztendlich erfolglos, immer wieder verboten: „Die nächtlichen Beysetzungen sind an vielen Orten mit gutem Grunde verboten; es wäre aber zu wünschen, daß sie allenthalben abgeschafft möchten werden! Denn es ist nicht zu beschreiben, was vor ein unordentlicher Zulauff, vor ein ärgerlicher Tumult, vor Schwärmen, Eindringen in die Gottesacker-Kirchen, vor Üppigkeit, ja öffters vor Hurerey und Unzucht unter dem bösen Gesindel bey dieser Gelegenheit vorzugehen pflegt." (Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremonielwissenschafft der Privat-Personen. Berlin 1728 [Reprint Leipzig 1990], S. 666f.). Noch Schiller wurde auf eigenen Wunsch in der Nacht beigesetzt, was unter den Zeitgenossen ärgerliche Reaktionen hervorrief. „Sonderlich ist dieses Gepränge (der große Aufwand bei der Beerdigung, D. D.) sehr eingezogen an denen Orten, wo die Begräbnisse bey Abendzeit anzustellen eingeführet werden." (Zedler 16 [1737], Sp. 1560). Aufwand und Organisation dieser solennen Bestattungen orientierten sich an der Begräbnispraxis bei Adligen. Vgl. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren. Berlin 1733 (Reprint Leipzig 1990), S. 304ff.
Gottscheds Tod und Begräbnis
359
ern der Universitätsdörfer, Vertreter anderer Universitäten, der kurfürstlichen Regierung, der Stifte Merseburg und Zeitz usw. bildeten das Trauergefolge. Aus der Zeit um 1700 finden sich in Johann Jacob Vogels Annales der Stadt Leipzig mehrere Beispiele solcher solennen Bestattungen.82 Wie einer von Gottscheds Kollegen, der berühmte Juraprofessors Karl Ferdinand Hommel 1781 in einer solennen Trauerfeier zu Grabe getragen wurde, schildert uns ein handschriftlich überlieferter Bericht. Drei Tage lag die Leiche im Prunkgewand mit allen Orden und anderen Würdenzeichen versehen im Haus der Hofrätin Schubart aufgebahrt. Diese ganze Zeit über hielten abwechselnd je acht Personen Ehrenwache. Am 20. Mai um 5 Uhr nachmittags begann die Leichenprozession, eröffnet von 48 Studenten in schwarzer Kleidung, gefolgt von den Bewohnern der Dörfer, in denen Hommel Erb-, Lehn- und Gerichtsherr war. Den Zug beschlossen 14 Wagen mit je zwei schwarzgekleideten Bedienten. Die Beisetzung erfolgte, wie ausdrücklich vermerkt wird, „in das Paulinum in das Decemviral Begräbnis."83 Der Gegensatz zur solennen bildet die „frühe" Bestattung. Mit „früh" ist der zeitige Morgen gemeint, in der Regel 7 Uhr. Der Aufwand war hier weit geringer, die Verstorbenen zählten nicht zur sozialen Elite, sondern entstammten bescheideneren Verhältnissen. So gehörten z. B. Studenten zu den Bevölkerungskreisen, die am Morgen bestattet wurden, wie es ein Bericht über den Tod und das Begräbnis eines 22jährigen Studenten zeigt: Er wird 7 Uhr früh bestattet.84 Ausnahmsweise kann es aber sogar einen Professor treffen, nur „früh" begraben zu werden. Das zeigt das Beispiel Johann Friedrich Christs, der, was ihn noch weit über die Ebene der normalen Professorenschaft heraushebt, als Rektor der Universität stirbt. Dies geschieht jedoch in dem Moment des Einmarschs der Preußen in die Stadt zu Beginn des Siebenjährigen Krieges, was nicht nur eine allgemeine Unruhe verbreitet, sondern auch zu einer erheblichen finanziellen Beanspruchung der Leipziger Bürger und Institutionen führt. Das Konzil der Professoren legt daher angesichts der bestehenden Situation fest, Christ solle in Rücksicht auf die Kassenlage
82
83 84
Vgl. Johann Jacob Vogel: Leipzigisches Geschichts-Buch oder Annales. Leipzig 1756. Beschreibung von Bestattungen finden sich auf den Seiten 776f. (Gottfried Schilter), 980f. (Johann Christian Schamberger) und 1071 f. (Gottlieb Gerhard Titius). Hier ist freilich zu beachten, daß es sich um Beerdigungen von im Amt verstorbenen Rektoren handelt, die natürlich noch aufwendiger betrieben wurden. Das Ableben und das darauf erfolgte Leichenbegängnis des Wohlseel. Herrn D. Carl Ferdinand Hommels ... (UBL, 0719). Der mit denen neuesten und wichtigsten Stadt-, Land- und Weltgeschichten beschäftigte [...] Annaliste, Jg. 1758, S. 377. Auch Johann Sebastian Bach wird bemerkenswerterweise am frühen Morgen bestattet. Vgl. Philipp Spitta: Johann Sebastian Bach. 4. Auflage. Leipzig. 1930, 2. Band, S. 760.
360
DETLEF DÖRING
nicht solenne, sondern früh bestattet werden.85 Dennoch möchte man in Anbetracht der „vornehmen Leiche" gewisse Formen gewahrt wissen: So wird der Leichenwagen von sechs Pferden gezogen, sämtliche Professoren und die Senioren der vier Nationen werden eingeladen, vier „Curatores Funeris" organisieren gemeinsam mit dem kommissarisch eingesetzten Rektor die Bestattung. Sämtliche Professoren müssen vier Wochen Trauer tragen; ebenfalls vier Wochen wird von 11 bis 12 Uhr „mit dreyen unterschiedenen Pulsen auf dem Paulino" geläutet. Innerhalb dieses Zeitraumes darf kein Orgelspiel stattfinden.86 Gut zehn Jahre später stirbt Gottsched, der Krieg ist inzwischen beendet, die Verhältnisse haben sich einigermassen normalisiert, und doch wird gerade er, der wie kein anderer für die Bedeutung der Leipziger Universität im 18. Jahrhundert steht, „früh" bestattet. Frau Heck vermeldet dies ausdrücklich: „II ä ete entere lundi passe ä 7 heure du Matin."87 Über die Gründe für diese Entscheidung läßt sich nur spekulieren. Denkbar wäre allerdings, daß die zerrüttete Vermögenslage Gottscheds88 ein bescheidenes Begräbnis angeraten lassen 85
86
87
88
Die Bestattung fand um 4 Uhr in der Frühe statt. Vgl. UAL Rep. I/II/17: Acta das Absterben und Begräbniß des seel. Rectoris ... Johann Friedrich Christs ... betr. Anno 1756, Bl. lOv. Vgl. auch Th. Weller (Anm. 79), S. 261 f. UAL, Rep. I/XVI/I/40: Protocollum Concilii Dnor. Professorum ab Anno 1744, Bl. 132r (2. Dezember 1756). Mit welchem großen Aufwand Rektoren, die im Amt starben, normalerweise bestattet wurden, zeigt die Beschreibung der Beerdigungsfeierlichkeiten für Heinrich Klausing im Jahr 1745. Vgl. UAL Rep. I/II/15: Acta die Exequien des seel. verstorbenen Rectoris [...] Heinrich Klausings [...] betr., Bl. 44r-^t8v. Die 59 Blätter umfassende Akte bildet überhaupt eine hervorragende Dokumentation einer universitären Trauerfeier. Auffallig ist das fast völlige Fehlen von Vertretern des Rates der Stadt, der eigentlich „in corpore" hätte erscheinen müssen. Das wird im Bericht ausdrücklich erwähnt (Bl. 46v). Dieses Fehlen belegt die allgemeinen Spannungen zwischen Stadt und Universität, ist vielleicht aber auch vor dem Hintergrund der häufigen Streitigkeiten über Art und Weise der Bestattungen zu sehen, die zwischen Stadt und Schule geführt wurden. Vgl. auch den handschriftlich überlieferten Anschlag, der Mitteilung vom bevorstehenden Begräbnis Gottscheds macht: „Es ist in Gott sanfft und seelig entschlaffen der HochEdelgebohrne Veste- und hochgelahrte Herr Johann Christoph Gottsched, der Metaphisic und Dialectic Prof: Publ: Ordin: der Universitaet Decemvir, des großen Fürsten Collegii und der Philosophischen Facultaet Senior, der Churfürstlichen Stipendiaten Ephorus, der Königl. Preußischen, der Churfürstl. Mäynzischen auch Churfürstl. Bayerischen, wie auch des Instituiti zu Bononien und der Olmützischen Academic der Wißenschafften Mitglied, wie auch der Königl. Deutschen Gesellschafft zu Königsberg und Göttingen Ehrenglied, und der hiesigen Gesellschafft der freyen Künste Vorsteher, allhier auf dem Alten Neu Markte, deßen entseelter Leichnam soll morgenden Tages Christi. Gebrauch nach in die Pauliner Kirche zu Erden bestattet werden." (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig. Den Hinweis auf diesen Anschlag verdanke ich Herrn Dr. Rüdiger Otto.). Es handelt sich um einen standardisierten Text. Zu Klausings Tod ist ein ähnlicher „Abkündigungs-Zettel" erhalten. Vgl. UAL Rep. I/II/15: Acta die Exequien (Anm. 86), Bl. 5r. Das berichtet Bernhard Christoph Breitkopf an J. Stählin; vgl. Karl Stählin (Anm. 32), S. 390. Die Witwe könne von dem Erbe nicht standesgemäß leben. Daß sich die Witwe in bedrängten Verhältnissen befand, könnte auch der Auktionskatalog der Bibliothek ihres
Gottscheds Tod und Begräbnis
361
schien.89 Die Witwe Gottsched befand sich nämlich in einer schwierigen Situation, da ihr Mann zum Zeitpunkt seines Todes verschuldet war. Im Auftrag des früheren russischen Akademiepräsidenten und Ministers Johann Albrecht Korff hatte Gottsched eine größere Menge Bücher in Kopenhagen ersteigert, ohne jedoch das Geld zurückerhalten zu haben.90 Im übrigen scheint die Witwe bei der Universität nicht gerade ein besonderes Ansehen genossen zu haben.91
89
90
91
Mannes belegen. Er erweckt den Eindruck, daß man gleichsam alles Bewegbare versilbern wollte. So werden nicht nur die sonderbarsten Naturalien angeboten (u. a. „ausgeprützte Därme", eine Schlangenhaut, ein Insektennest, Stachelschweinborsten), sondern auch grosse Teile des Hausrates (Schränke, Tische, Bänke, „Opern-Gucker", Schrauben, ein Vergrößerungsglas usw.). Vgl. Catalogus bibliothecae quam Jo. Ch. Gottschedius [...] collegit atque reliquit. Leipzig o. J. (1767), S. 223ff. Die Kosten, die eine Beisetzung forderte, waren hoch. Allein der Leichenwagen verursachte einen Aufwand von 10 bis 12 Talern. Dazu kamen die Kosten für die Pferde (2 ' Taler). Die Universität mußte Wagen und Pferde beim Rat der Stadt mieten und diskutierte immer wieder die Frage, ob man nicht einen eigenen Wagen und eigene Pferde halten solle (vgl. z. B. UAL, Rep. I/XVI/I/37: Protocollum Concilii Dominorum Professorum de Anno 1721 usque ad annum 1733., Bl. 84r [5. Dezember 1726]). Die Gesamtkosten einer „vornehmen Leiche" konnten ca. 60 bis 90 Taler betragen (vgl. Stadtarchiv Leipzig, Tit. XLIV, Fasciculus Die Leichen-Kosten [...] betr., hier verschiedene Kostenaufstellungen). Vgl. Ulf Lehmann: Die Bedeutung der Korrespondenz Jacob von Stählins und Gerhard Friedrich Müllers für die deutsche und russische Literaturgeschichte. In: Forschungen und Fortschritte. 36. Jg. 1962, S. 183-186, hier S. 186. Lehmanns Angaben stützen sich auf die Materialien des Stählin-Nachlasses, der sich in St. Petersburg befindet. Das könnte die Auseinandersetzung um Gottscheds Kapelle in der Paulinerkirche belegen, die ganze sieben Tage nach seinem Tod entsteht (!). Es hätten sich „drey Liebhaber" gefunden, heißt es im Protokoll, nämlich Carl Andreas Bei, Christian Gottlieb Ludwig und die Witwe. Letztere findet anscheinend keine Fürsprecher, jedenfalls läßt man das Los entscheiden; das fällt zugunsten von Ludwig aus (UAL, Rep. I/XV1/ 39: Protocollum Concilii Dominorum Decemvirorum ab Anno 1744, Bl. 171v (19. Dezember 1766). Im Sommer 1767 beansprucht die Witwe die Auszahlung rückständiger Gelder, die in den Kriegsjahren 1758 und 1763 nicht verteilt werden konnten. Der Dekan Johann Heinrich Winkler plädiert dafür, dieser Bitte nachzukommen. Seine Kollegen sind nicht dieser Ansicht, sondern folgen dem Vorschlag des Professors Heinsius: Der Fiscus der Universität würde durch diese Auszahlung zu sehr geschwächt: „Würden nicht die lebenden leiden, u. der verstorbenen Erben würden fortfahren zu praetendiren. Mich däucht also, daß es gut wäre ein conclusum zum Vortheil und Aufrechterhaltung des Fisci zu machen; daß nur die lebenden [...] percipiren sollten; wie auch bißher beobachtet worden." Ein anderer Professor (Carl Andreas Bei) kann sich auch erinnern, daß Gottsched selbst dereinst die Fakultät zu dem Entschluß überredet habe, solche Gelder „nur den zur Zeit der Auszahlung lebenden Professoribus" zu reichen. Weiter geht es um die Austeilung des „Floß-Holzes" für das Jahr 1767. Vergeblich fordert Carl Günther Ludovici, der hier als Interessenwahrer der Witwe auftritt, die Vergabe der gesamten Holzmenge an seine Mandantin. Die Kollegen billigen ihr nur die Hälfte zu (UAL, Phil. Fak. A 2/ 2502 Akten betr. den Gnadengenuss der Hinterbliebenen der Professoren, 1767-1836, Bl. lr-3v, Schreiben des Dekans vom 11. Juli 1767 mit den Voten der Professoren der Fakultät). Wenige Monate später geht es um die Auszahlung der Hälfte „des salarium proffesorium" der Zeit von Aegidius 1766 bis Gregorius 1767. Die Professoren gestehen ihr diesmal die Zahlung zu. Ludovici meint jedoch,
362
DETLEF DÖRING
Über den konkreten Platz seines Begräbnisses unterrichtet uns Gottsched selbst. In einem Brief berichtet er über die Trauerfeier zum Tod seiner Frau u. a. folgendes: „Ihr Begräbniß ist ansehnlich gewesen, und sie ist ins Gewölbe unsres Decemvirorum, dahin ich selbst kommen werde, an die Seite unsres sei. Decani, Prof. Mayes beygesetzt worden. Ich werde ihr ein marmornes Denkmaal darüber aufrichten lassen."92 Die hier erwähnten Decemviri bildeten ein Gremium, das Concilium Decemvirorum, das für die ökonomische Verwaltung der Universität, insbesondere für die Universitätsdörfer, das Paulinerkollegium, das Konvikt und die Universitätskirche zuständig war. Seine Gründung fällt in die Zeit der großen Reform der Universität in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Zu dem Concilium Decemvirorum gehörten der jeweilige Rektor und der jeweilige Dekan der Philosophischen Fakultät sowie jeweils zwei Professoren aus den vier Fakultäten. Letztere wurden auf Lebenszeit gewählt.93 Gottsched war als Rektor und Dekan schon mehrfach innerhalb dieses Gremiums tätig gewesen, bis er 1761 zu dessen ständigem Mitglied gewählt wurde. Er vertrat fortan das Amt eines Administrators des Paulinerkollegs. Seiner Wahl gingen heftige Auseinandersetzungen voraus, da Gottsched auf eine bereits 1743 erfolgte Zuwahl seiner Person verweisen konnte. Er und August Friedrich Müller hatten sich damals um die Stelle des Administrators des Paulinerkollegs beworben und bekamen eigenartigerweise das Amt zur gemeinschaftlichen Verwaltung zugesprochen.94 Alsbald jedoch kam es infolge dieser Praxis zu „vielen Incommoda", so daß zwischen den beiden Amtsinhabern der Beschluß getroffen wird, Müller solle bis zu seinem Ableben allein die Administration ausüben, dann solle ihm Gottsched in dieser Funktion folgen. Das Concüium De-
92
93 94
der Witwe stünde die gesamte Summe zu (Schreiben vom 14. September 1767 und Voten, Bl. 3r-v). Gottsched an Christian Crusius, 11. Juli 1762 (ÜB Tartu, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Band II, Bl. 153f.). Über die Beschaffung des Marmors korrespondiert Gottsched ausführlich mit Martin Frobenius Ledermüller. Vgl. Neues aus der Zopfzeit. Emil Reicke (Hg.): Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller und dessen seltsame Lebensschicksale. Leipzig 1923. In einem Schreiben vom 8. März 1763 nennt Gottsched den Künstler, dem er die Errichtung des Grabmals anvertraut hat: Hofbaumeister Friedrich August Krubsacius: „Er ist ein vortrefflicher Meister in solchen Dingen." (S. 105) Es ist mir keinerlei Nachricht über die Existenz eines solchen Grabmales bekannt. Zu dem tatsächlich bedeutenden Architekten Krubsacius (1718— 1789), der übrigens auch in Gottscheds Neuestem aus der anmutigen Gelehrsamkeit publizierte vgl. Lexikon der Kunst. Neubearbeitung. 4. Band (Leipzig 1992), S. 79; Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, 21. Band (Leipzig 1927), S. 583f. Dort werden auch die plastischen Arbeiten Krubsacius' angeführt. Ein Denkmal für Frau Gottsched kommt hier nicht vor, jedoch hat Krubsacius ein Grabmal für die Neuberin geschaffen. Vgl. Wilhelm Stieda: Die Universität Leipzig in ihrem tausendsten Semester. Leipzig 1909, S. 32. Die Aufgaben der Decemvirn wurden 1834 vom Staat übernommen. UAL, Rep. I/XVI/I/36b, Bl. 225r-v (Sitzung vom 9. Mai 1743).
Gottscheds Tod und Begräbnis
363
cemvirorum bestätigt diese Vereinbarung.95 Als dann 18 Jahre später Müller starb, erschien jedoch den jetzigen Mitgliedern des Kollegiums jene Abmachung als bedenklich. Um die Wahlfreiheit der Decemviri zu wahren, forderte man Gottsched auf, mittels einer schriftlichen Erklärung auf jene inzwischen 18 Jahre zurückliegende Wahl Verzicht zu leisten; dann würde er im Gegenzug sofort zum Administrator des Kollegiums ernannt werden. Gottsched lehnt mit Nachdruck ab, die Entscheidung „von so vielen wackeren Decemviri" in Zweifel ziehen zu lassen, bietet aber an, nach seiner Wahl und nach seiner Bestallung seine „sub sigello Academiae" ausgestellte Urkunde von 1743 zurückzugeben.96 Die Diskussion dieser Angelegenheit wird unter den Decemviri kontrovers geführt. Die eine Partei unter der Führung von Gottscheds langjährigem Gegner Christian August Crusius verlangt eine öffentliche Mißbilligung der Entscheidung von 1743 und deren Erklärung zu einer „Nullität". Erst danach solle man Gottsched in das Kollegium wählen. Die andere Seite betrachtet die Wahl von 1743 als gültig und fordert die umgehende Aufnahme Gottscheds in das Concilium Decemvirorum, und zwar ohne irgendwelche Erklärungen.97 Welche Entscheidung letztendlich gefällt wurde, läßt sich bei der gegenwärtigen Aktenlage nicht sagen; jedenfalls gehört Gottsched in seinen letzten fünf Lebensjahren diesem wichtigen Entscheidungsorgan der Universität an. Zu den Aufgaben des Concilium Decemvirorum gehörte auch die Aufsicht über die Universitätskirche. Erst 1710 war hier der regelmäßige akademische Gottesdienst eingeführt worden. Obwohl die Kirche eindeutig zum Besitz der Universität zählte, war die Aufsicht über die dort stattfindenden kirchlichen Handlungen umstritten, da das Dresdner Oberkonsistorium hier das letzte Wort beanspruchte.98 Die gottesdienstliche Nutzung der Kirche bot die Veranlassung zu zahlreichen baulichen Veränderungen. So kam es zur Einrichtung von insgesamt 24 Kapellen, die an Interessenten verkauft oder vermietet werden konnten.99 Kapellen bzw. 95 96
97 98
99
UAL, Rep. I/XVI/I/36b, Bl. 230r-231 v (Sitzung vom 3. Oktober 1743). UAL, Rep. I/XVI/39, Bl. 129r-130r. Das Gespräch fand am 15. Mai 1761 statt. Gottsched betont in dieser Unterhaltung, er sei ein „simultanee electus", der ein „jus succedendi" besäße. Dieses Recht der Nachfolge ist, so weiterhin Gottsched, Teil eines Abkommens mit Müller gewesen. UAL, Rep. I/XVI/39, Bl. 129r-132v. So führt das Konsistorium 1721 Beschwerde, daß ein Trauergottesdienst nicht nach den testamentarischen Bestimmungen des Verstorbenen durchgeführt wurde. Auch habe die Universität in einem Schreiben dem Konsistorium die Jurisdiktion über die Kirche direkt abgesprochen; die in der Kirche predigenden Magister hätten sich nicht Vesperprediger zu nennen (UAL, Rep. I/XVI/I/37: Protocollum Concilii Dominorum Professorum de Anno 1721 usque ad annum 1733., Bl. 31v-32r). Vgl. UAL, Rep. II/III/B II 21: Verschreibungen und Concessiones wegen derer Capellen in der Pauliner Kirche (Kauf- bzw. Mietkontrakte für die Kapellen der Kirche), Rep.
364
DETLEF DÖRING
Betstübchen und Kirchenstühle100 spiegeln innerhalb des Kirchengebäudes die ständische Gesellschaft wider. Gottsched selbst hatte eine dieser Kapellen gemietet. 1745 bittet er darum, die ihm vermietete Kapelle (bisher 16 Taler pro Jahr) rückwirkend ab 1744 für nur 10 Taler zu verpachten. Die Decemviri geben diesem Wunsch nach, verfügen aber, daß im Falle eines höheren finanziellen Angebots von anderer Seite Gottsched gleichziehen müsse, wenn er die Kapelle behalten wolle.101 Noch zu Beginn seiner tödlichen Erkrankung, der in den September 1766 fällt, beantragt Gottsched den Bau von fünf neuen Kapellen, deren Vermietung der Kirche mindestens 300 Taler pro Jahr einbringen würde.102 Das Kollegium beschließt bei der nächsten Sitzung tatsächlich den Bau der Kapellen, stößt dabei aber auf den entschiedenen Widerstand von Crusius, der erklärt, „daß, da er die Erbauung solcher Capellen nicht anders, als dem wahren Haupt-Zwecke des Gottesdienstes in der Pauliner-Kirche wiedrig ansehen könne, er daher gegenwärtiges Conclusum suspendire und die Sache einer weiteren Überlegung und Besichtigung, daß die sämtlichen Herren Decemviri die Pläze nochmahls ansehen sollten, überließe, auch, wenn man allenfalls auf den Bau bestehen wollte, die Entscheidung dem hohen Erkänntniß E. Hochlöbl. Kirchen-Rath vorbehalte, auf welchen er sich beruffe."103 Tatsächlich ist im 18. Jahrhundert immer wieder kritisiert worden, daß sich die Rangstreitigkeiten, denen in der Frühen Neuzeit bekanntlich großes Gewicht zukommt,104 bis in die Kirchenräume und bis zu den gottesdienstlichen Handlungen erstreckten. Die Widerspiegelung der ständischen Gliederung in der Sitzordnung der Gemeinde war neu-
100
101
102 103 104
II/III/B II 18: Copiale über Die, von der Pauliner-Kirche verkaufften Capellen nebst dazu gehörigen Vollmachten und Legitimationen de Anno MDCCXTV. Der Verkaufspreis für eine Kapelle betrug in der Regel 400 Taler, dazu kam ein jährlicher Erbzins von l Taler, 18 Groschen. Die letzte nachweisbare Urkunde stammt aus dem Jahr 1792. Der Einbau von Privatkapellen in den Kirchen ist in jener Zeit verbreitet. So werden fast zeitgleich (ab 1707) mit der Veränderung der Paulinerkirche auch Kapellen in der Thomaskirche eingerichtet. Die teuerste Kapelle kostete hier 600 Taler. Vgl. Ernst-Heinz Lemper: Die Thomaskirche zu Leipzig. Leipzig 1954, S. 114ff. Zu den Kirchenstühlen in Leipzig vgl. Tanya Kevorkian: Laien und die Leipziger religiöse Öffentlichkeit. In: Leipziger Kalender 1996, S. 86-97. Der Aufsatz behandelt fast ausschließlich die Praxis der Vergabe der Kirchenstühle. Vgl. jetzt auch Th. Weller (Anm. 79), S. 339-358 (Kirchenstuhlstreitigkeiten als Rangkonflikte). UAL, Rep. I/XVI/ 39: Protocollum Concilii Dominorum Decemvirorum ab Anno 1744, Bl. 16r (17. Juni 1745). Die öffentliche Versteigerung von Kitchens fühlen bzw. Kapellen war durchaus verbreitet. In Preußen wird diese Praxis durch das Allgemeine Landrecht 1794 ausdrücklich untersagt (Teil II, Titel 11, § 679). UAL, Rep. I/XVI/39, Bl. 168r-v (Sitzung vom 25. September 1766). UAL, Rep. I/XVI/39, Bl. 169r-v (Sitzung vom 9. Oktober 1766). Vgl. jetzt Barbara Stollberg-Rilinger: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für historische Forschung Jg. 28 (2001), S. 385—418 (zahlreiche weiterführende Literaturhinweise).
Gottscheds Tod und Begräbnis
365
testamentlich kaum zu rechtfertigen; der Verkauf von Sitzplätzen in der Kirche bildete eigentlich ein Skandalon. Crusius, der eine ganz eigene „prophetische Theologie" entwickelte, die stark mystisch und chiliastisch geprägt war, mußte das Schachern mit Kirchenstühlen als unchristlich erscheinen, daher seine vehemente Reaktion auf Gottscheds ganz ungeschminkt finanziell begründeten Vorschlag. Wir kommen auf Gottscheds Bestattungsort zurück. Die Wahl in das Concilium Decemvirorum galt als eine ganz besondere Ehre, und so nimmt es nicht Wunder, daß den Decemviri ein eigener Begräbnisplatz in der Paulinerkirche105 eingeräumt worden ist. Noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein herrschte das schon bei den antiken Christen zu verfolgende Bestreben, die Bestattungen möglichst innerhalb der Kirche oder wenigstens in deren unmittelbarer Nähe durchzuführen.106 Auch der Protestantismus hielt an dieser Praxis fest, obwohl das dahinterstehende Motiv, der Wunsch, in der Nähe der Märtyrer begraben zu sein, verschwunden war. So diente die Paulinerkirche auch nach ihrer neuen Weihe als evangelisches Gotteshaus (1545) weiterhin als Bestattungsort für Universitätsangehörige und für andere Honoratioren der Stadt107 oder aus der
105 Zur Baugeschichte der Pauliner- bzw. Universitätskirche ist generell auf folgende Standardwerke zu verweisen: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. 18. Heft: Stadt Leipzig. II. Teil. Bearbeitet von Cornelius Gurlitt. Dresden 1896, S. 88-140. Elisabeth Hütter. Die Pauliner-Universitätskirche zu Leipzig. Geschichte und Bedeutung. Weimar 1993 (Diese Arbeit ist 1961 als Dissertation abgeschlossen worden, durfte aber nicht publiziert werden, da die damaligen Machthaber bereits mit den Gedanken umgingen, die Kirche aus ideologischen Gründen zu beseitigen, was dann bekanntlich 1968 auch geschehen ist. Erst nach der Revolution von 1989/90 war es möglich, den Text der Öffentlichkeit zugänglich zu machen). Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen. Stadt Leipzig. Die Sakralbauten. Hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Sachsen. Bearbeitet von Heinrich Magirius, Hartmut Mai, Thomas Trajkovits und Winfried Werner. München, Berlin 1995, S. 483—678 (hier auch umfangreiche Hinweise zu den schriftlichen und gedruckten Quellen). Zu den Begräbnissen innerhalb der Kirche vgl. jetzt Doreen Zerbe: Frühneuzeitliche Grab- und Gedächtnismale von Theologieprofessoren in Leipziger Kirchen. In: Andreas Gößner (Hg.): Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte. Leipzig 2005 (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Reihe A, Band 2), S. 219-236, zur Universitätskirche S. 222-228). Die Untersuchung ist jedoch rein kunstgeschichtlich orientiert. 106 Vgl. die klassische Studie von Philippe Aries: Geschichte des Todes. München 1980 (frz. Originalausgabe Paris 1978). Die meisten Verstorbenen wurden im 18. Jahrhundert freilich nicht in Kirchen bestattet, sondern auf Friedhöfen. In Leipzig war das der Friedhof an der Johanniskirche. Die steigende Sterbequote im Laufe des Siebenjährigen Krieges führte dazu, daß 1758 ein weiterer Friedhof angelegt wurde. 107 Zu ihnen gehört z. B. der Graf Ernst von Manteuffel, bekannt als großer Gönner der Universität, der der Universität 200 Taler für einen Grabstein in der Paulinerkirche anbietet. Allerdings knüpft er daran die Bedingung, das Geld für den Bau eines neuen Altars zu verwenden. Die Universität reagiert positiv, bittet jedoch darum, die genannte Bedingung
366
DETLEF DÖRING
Umgebung von Leipzig.108 Für die Beisetzung in der Kirche wurde eine Gebühr erhoben. Der Verkauf von Bestattungsplätzen bildete neben der Vermietung bzw. Veräußerung von Kapellen überhaupt die wichügste Einnahmequelle der Paulinerkirche. Auch für diesen Handel war das Concilium Decemvirorum zuständig. So schlägt der sich wiederum als sehr geschäftstüchtig erweisende Gottsched knapp ein Jahr vor seinem eigenen Tod die Einrichtung einer neuen Gruft vor.109 Es muß sich insgesamt um eine lukratives Angelegenheit gehandelt haben, boten doch auch Privatbesitzer von Grablegen bei der Kirche an, dort gegen ein Entgelt Leichen bestatten zu lassen.110 Da die geforderte Summe deutlich unter den „saftigen" Gebühren lag, die das Concilium Decemvirorum erhob, kam es zu einem makabren Wettkampf um den Besitz von Leichen. Im Protokoll einer Sitzung des Kollegiums heißt es: „Es wäre bishero vor eine Grabstelle in der neuen Gruft hinter der Sacristey in der Pauliner-Kirche 60 Taler gegeben worden, weil aber Privati in ihre Schwibbogen eine Leiche vor 20 Taler höchstens 30 Taler liegen ließen und dem Leichen-Bitter, Marcio, der ihnen solche zuwiese ein Gratial, gäben, wären bishero wenig Leichen in die Pauliner Kirche gekommen, ob man nicht also Marci von jeder Leiche, die er dem Templo Paulino zu weisen würde, einen Ducaten oder 2 Taler 18 Groschen als ein Gratial geben wolle." Entsprechend dem Antrag wird dann auch beschlossen.111
108
109 110
111
zu überdenken (UAL, Rep. I/XVI/I/36b: Protocollum Concilii Decemvirorum ab anno 1732-1743, Bl. 217, Sitzung vom 6. Dezember 1742). Eine Geschichte der Bestattungen in der Paulinerkirche gibt es nicht. Eine materialreiche (unveröffendichte) Studie zu diesem Thema bietet ein Vortrag, den Wilhelm Stieda in der Leipziger Deutschen Gesellschaft gehalten hat. Die vorliegende Darstellung verdankt Stiedas Text verschiedene Hinweise (Typoskript im Stieda-Nachlaß, UBL, Nachlaß 254). UAL, Rep. I/XVI/ 39: Protocollum Concilii Dominorum Decemvirorum ab Anno 1744, Bl. 163r (Sitzung vom 15. Dezember 1765). Andererseits mußten Besitzer von Grablegen eine Gebühr bezahlen, wenn sie Fremde dort bestatten ließen. Das Begräbnis von Verwandten war kostenfrei. So verlangt eine Frau Abicht die schon gezahlte Gebühr zurück, da der in ihrem Schwibbogen bestattete Vormundschaftsschreiber „ihrer Mutter Schwester Tochter zur Frau gehabt." Das Gesuch wird abgeschlagen (UAL, Rep. I/XVI/I/36b, Bl. 209r-210r, Brief der Frau Abicht vom 22. Juli 1741, Sitzung der Decemviri vom 10. Juli 1742). Die Frau gibt jedoch nicht nach und beschwert sich beim König. Die Decemviri bleiben dennoch bei ihrer Entscheidung; nur „nahe Anverwandte" könnten gebührenfrei bestattet werden (Sitzung vom 15. Januar 1743.B1. 219ff.). UAL, Rep. I/XVI/ 39: Protocollum Concilii Dominorum Decemvirorum ab Anno 1744, Bl. 159r, Sit2ung vom 6. Dezember 1764. Man sieht an diesem Dokument auch, daß die Gebühren von der Mitte des 17. Jahrhunderts (10 Taler, vgl. Anm. 112) bis zur Mitte des folgenden Jahrhunderts kräftig angestiegen waren. 1728 kostete eine Grablege 50 Taler (Protokoll einer Sitzung der Decemviri vom 26. August 1728, UAL, Rep. I/XVI/I/35). Auch für die Errichtung von Epitaphien mußte eine Gebühr entrichtet werden. So beantragt die Witwe des Universitätschirurgen 1735 die Aufstellung eines Epitaphs für ihren
Gottscheds Tod und Begräbnis
367
Wie groß die Zahl der Professoren gewesen ist, die in der Kirche oder ihrem unmittelbaren Umfeld bestattet worden sind, läßt sich heute nicht mehr sagen, da im Zuge der verschiedenen Baumaßnahmen des 19. Jahrhunderts viele Kapellen und Begräbnisstätten beseitigt worden sind. Aber schon zuvor wurden zahllose Särge im Laufe der Jahrhunderte „entsorgt", mußte doch immer wieder Platz für neue Leichen geschaffen werden, da die Aufnahmekapazität des Kirchenraums natürlich begrenzt war.112 Das gilt nicht nur für die Leipziger Universitätskirche, sondern für alle Sakralbauten. In der Regel wurden ca. aller dreißig Jahre die Grüfte gereinigt, d. h. die Leichenüberreste wurden in Gemeinschaftssärge überführt, um so Platz für neue Bestattungen zu schaffen. Waren die Begräbnisstätten schon zuvor „voll", erfolgte die Reinigung schon eher.113 Die Neubelegung von Grabstätten wird sicher dort am unkompliziertesten gewesen sein, wo die Familien der Bestatteten ausgestorben oder weggezogen waren.114 Auch entgleitet den Verantwortlichen immer wieder die Übersicht über die Belegung der Grabstellen. So heißt es 1729 auf einer Sitzung des Concilium Decemvirorum, es sei eine große Irregularität bei der Zählung der Schwibbogen festgestellt worden, „indem es sich zutrüge, daßwo in denen Büchern und nach denen alten Verschreibungen, mit einer gewißen Zahl bezeichnet wäre, iezund ganz andere Nummern daran zu sehen wären, welches eine große Unrichtigkeit causirete." Es wird beschloßen, daß Mann im Kreuzgang. Dafür muß sie 24 Taler zahlen (UAL, Rep. I/XVI/I/36b, Bl. 62v und 63v, Sitzung der Decemviri 1. Dezember 1735). 112 Daß es im Vergleich zu unseren Kenntnissen viel mehr Begräbnisstellen gegeben haben muß, zeigt ein Beispiel: „Demnach die Herren Decemviri der löbl. Universität Leipzigk mir endebenanten uf mein demütiges ansuchen undt bitten zu meines lieben Herrn M. Friedrich Leibnüzens, Profeß. Publ. seel. Beysetzung, eine grabstelle in der Pauliner Kirche unter der Orgel nebenst seines vorigen Eheweibes seel. Grabe vor zehen Reichsthaler aßigniren laßen, Alß thue ich mich kraft dieses dahin verpflichten, ermelten Herren Decemviris solche 10 Reichsthaler außgangs des Dreyßigsten dankbarlichen zubezahlen, uhrkundtlich habe ich diese obligation eigenhändige unterschrieben, So geschehen Leipzigk den 7 Septembris Anno 1652. Catharina H M Friedrich Leibnützens seel. Wittbe. UAL, Rep. II/III/B/1: Schwibbogen und Begräbniße beym Paulino betr., Bl. 3r). Das ist m. W. der einzige Beleg für die Existenz einer Grabstelle des Vaters des berühmten Philosophen in der Paulinerkirche. 113 Vgl. Edmund Kizik: Grabstätten im frühneuzeidichen Danzig des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: Sabine Beckmann und Klaus Garber (Hg.): Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005, S. 157-196. Der Beitrag fußt auf einer polnischsprachige Habilitationsschrift des Autors zur Funeralkultur in den Hansestädten. Die für den Ostseeraum getroffenen Beobachtungen lassen sich weithin auf die mitteldeutschen Verhältnisse übertragen. 114 Der Sonderfall der Exhumierung einer Leiche ereignete sich 1733. Ein in der Kirche beigesetzter adliger Student wird wieder aus der Gruft entfernt und in seine Heimat (Holstein) gebracht. Die Universität erhebt für diese Aktion keine Gebühr, erwartet aber „ein Andenken"; außerdem wird angeordnet, den Sarg „ja nicht" im Paulinum zu öffnen (UAL, Rep. I/XVI/I/36b, BL 22r-v, Sitzung der Decemviri vom 14. Januar 1733).
368
DETLEF DURING
sich der Rektor höchstpersönlich der Untersuchung dieser Angelegenheit widmen werde.115 Im übrigen schuf die Zersetzung der leiblichen Überreste immer wieder neuen Raum. In einer um 1700 in Zürich existierenden gelehrten Gesellschaft wird diese Tatsache gelegentlich einer Diskussion der Frage, warum auf dem Friedhof des Großmünsters immer noch Platz für neue Bestattungen sei, da doch im Laufe der Jahrhunderte viele tausend Leichen dort begraben worden sind, so beschrieben: „Weil auf der Welt ein Mensch dem ändern platz macht, so machen auch die Todten in den Gräbern von einer Zeit zur ändern durch Verfaulung einander Platz, also daß der jetzt sterbend schon wieder ein Losament fmdt an dem ohrt, wo vor 40. Jahren einer seine schlaffstall erlangt."116 Die einzigen im 20. Jahrhundert noch vorhandenen Hinweise auf Bestattungen von Universitätsangehörigen waren die Epitaphien, die bis zur Sprengung der Kirche 1968 zumeist im Chor angebracht waren.117 Stieda zählte für das 16. bis 18. Jahrhundert insgesamt 34 Epitaphien (oder deren Reste) für Angehörige der Universität. Neben Professoren werden damit auch deren Frauen und Kinder erfaßt. Auffällig ist, daß die Inschriften von 14 Epitaphien ausweisen, daß der Verstorbene dem Concilium Decemvirorum angehörte. Bei einigen anderen Personen möchte man eine entsprechende Mitgliedschaft vermuten. Vielleicht war es, so meine Vermutung, ein Privileg der Decemviri, sich ein Epitaph errichten lassen zu dürfen. Darauf deutet auch folgende testamentarische Festlegung des Decemvir Johann Christoph Schacher: „Was meinen Leib betrifft, so will ich denselben in das Schacherische Begräbniß in Paulino mit christlichen Ceremonien, Haltung eines Leichenbegängniß und Leichenpredigt begraben, in der Pauliner-Kirche aber, weil ich die Stelle eines Decemviri mit verwalte, ein Epitaphium aufgerichtet werde."118 Eine Besonderheit bildete auch das Recht der Decemviri, ihre Ehefrauen in der Kirche zu beerdigen; sechs der eben erwähnten 14 Epitaphien stehen auch für die Frauen der verstorbenen Professoren. Dieser Fesdegung ist es zuzuschreiben, daß
115 UAL, Rep. I/XV1/I/34: Acta, Protocol!. Concil. Dnn. Decanorum 1726-32, Bl. 108v109v (Sitzung vom 20. Oktober 1729). 116 Zentralbibliothek Zürich, MB 58: Adversaria Actorum Collegii der Wolgesinneten, Bl. 680r. 117 Eine Beschreibung aller um 1900 noch vorhandenen bzw. nachweisbaren Epitaphien gibt Gurlitt (Anm. 105), S. 100-140. Zur gegenwärtigen Situation vgl. Sakralbauten (Anm. 105), S. 567—670. Die Zahl der Epitaphien dürfte im 18. Jahrhundert weit höher gewesen sein. Es war jedoch in den Kirchen allgemein üblich, die billigeren, meist aus Holz verfertigten Epitaphien nach einer gewissen Zeit wieder zu entfernen; vgl. Kizik (Anm. 113), S. 189f/ 118 UAL, Rep. II/III/B/I 86a: Kirchensachen aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bl. 61r: Abschrift des Testaments von Johann Christoph Schacher vom 20. Juli 1719. Ein Rest dieses Epitaphs (die Inschrifttafel) hat sich bis heute erhalten. Vgl. Sakralbauten (Anm. 105), S. 660.
Gottscheds Tod und Begräbnis
369
Frau Gottsched in der Paulinerkirche beerdigt worden ist. Welche Bedeutung man einer Grablege in der Universitätskirche zumaß, zeigt folgendes Beispiel. Der in seiner Zeit sehr angesehene Theologe Salomon Deyling verweist als Decemvir auf sein Recht, daß „nach der bisherigen Verfaßung und Observanz jeder Herr Decemvir und seine Eheliebste nach ihrem Tode eine Grabstelle in der Pauliner-Kirche bekämen [...]." Er selbst benötige diesen Platz nicht, da er als Superintendent eine Grabstelle in der Nikolaikirche bekäme, jedoch wolle er das Anrecht seiner Frau auf ein Grab in der Paulinerkirche schriftlich bestätigt haben. Deylings Kollegen stimmen dem Antrag zu.119 Die Leichen der Decemviri und ihrer Frauen wurden in der Regel nicht irgendwo innerhalb der Kirche bestattet, sondern, wie bereits erwähnt, in einer besonderen Gruft in der Nähe des Altars.120 Es handelte sich um das sogenannte Neue Tombeaux, dessen Lage folgende Beschreibung skizziert: Es befindet sich „rechter Hand des Altars [...] als das ist in demjenigen Viereck, welches auf der einen Seite von der rechten Wand des Chors, auf der anderen von der Sacristey-Wand, auf der dritten von der Kirchen Mauer nach dem Kirchhofe, oder horto medico veteri zu und auf der 4ten ebenfalls von der Kirch Mauer nach dem Zwinger zu umschloßen wird, welches fol. 14. Act: in Riß gebracht, und worinnen zeithero die Herren Decemviri, sowohl andere honoratiores auf ihr oder der ihrigen Verlangen, gegen ein der Kirche zu Gute kommendes Aequivalent haben begraben zu verlangen pflegen."121 Ein beigelegter Grundriß aus dem Jahr 1783 (Bl. 26) zeigt, daß die Gruft eine Länge von 30 Ellen aufwies (gut 16 m) und in drei Abteilungen mit Zwischenwänden gegliedert war. Von oben zeigt sich die gesamte Gruft „zwar meistentheils gewölbet, es sind aber gleichwohl drey, bloß mit Balcken bedeckte, ziemliche große Oefnungen, zu Einsenckung der Särge von oben herein gelaßen worden."122 Im Neuen Tombeaux sind also Gottscheds sterbliche Überreste am 15. Dezember 1766 bestattet worden. Von einem Epitaph, auf das er ein Anrecht besessen hätte, findet sich in der schriftlichen Überlieferung nicht die geringste Spur. Wahrscheinlich hat es nie ein solches Denkmal gegeben, oder bestenfalls eine hölzerne Tafel, wohl schon aufgrund der
119 UAL, Rep. I/XVI/ 39, Protocollum Concilii Dominorum Decemvirorum ab Anno 1744, Bl. 80r (Sitzung vom 5. Dezember 1754). 120 Zeitweilig hat man die Decemviri aber auch im Kirchenschiff begraben: „Mitten in der Kirche und in deren Hallen sind keine Schwibbogen oder Erbbegräbniß, sondern man hat ehedem auch hier nomine der Kirche, theil die Decemviros Academiae denen Sepultra in templo gehöret, begraben [...]." Dies sei jedoch schon seit 20 Jahren nicht mehr geschehen (UAL, Rep. II/III/B III 23, Acta Die Begräbniße in der Paulliner Kirche betr.). 121 Vgl. Anm. 120, Bl. 29v-30r. 122 Vgl. Anm. 120, Bl. 32v.
370
DETLEF DURING
zerrütteten Vermögensverhältnisse, die der Witwe keine finanzielle Möglichkeit zur Errichtung von Grabmälern eingeräumt haben dürften. Es stellt sich noch die Frage, was mit Gottscheds Sarg und seinen Gebeinen geschehen ist. Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in der Öffentlichkeit eine intensiv geführte Diskussion um die gesundheitlichen Gefahren, die von der Bestattung der Leichen innerhalb der Stadt, insbesondere im Inneren der Kirchen ausgingen.123 Tatsächlich stellten die Ausdünstungen der verwesenden Leichen eine heute nicht mehr vorstellbare Gefährdung der Gesundheit dar, die im Laufe der Jahrhunderte unzählige Opfer gefordert haben dürfte. Immer nachdrücklicher wurde die vor allem von den Ärzten aufgestellte Forderung, Bestattungen nur noch außerhalb der Stadt vorzunehmen.124 Auch die Paulinerkirche geriet so unter den Druck, hier Änderungen herbeizuführen, d. h. die Beerdigungen in und um das Gotteshaus möglichst gänzlich einzustellen. Am 19. Juni 1783 beschließt das Konzilium der Decemviri, „vor der Hand" im „neuen Tombeaux" keine Begräbnisse mehr zuzulassen. Es sollten überhaupt die Begräbnisse in der Kirche eingestellt werden, jedoch wolle man zuerst ein Gutachten der Medizinischen Fakultät einholen.125 Wie umstritten innerhalb der Universität dieser Beschluß gewesen ist, 123 Vgl. Aries (Anm. 106), S. 604ff., hier zahlreiche Beispiele der gesundheitlichen Schäden, die von den sich zersetzenden Leichen ausgingen. Daß die Abschaffung der Bestattungen innerhalb der Kirchen ein Thema bildete, welches in der Öffentlichkeit breites Interesse fand, belegt Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809): Der Entschluß der Gutsherrin (Charlotte), alle Grabsteine eines Friedhofes zu entfernen und an einem Ort zusammenzuführen, löst eine grundsätzliche Diskussion über den Wandel der Begräbnissitten (Zusammenführung der Gebeine in ein Massengrab, Trennung zwischen Begräbnisstätte und Grabmonument) aus. Ein zeitweilig im Gut lebender Architekt verteidigt die Auffassung der Gutsherrin: „[...] da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz für uns und die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie gewiesen sind, so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie, meine gnädige Frau, eingeleitet haben, zu billigen. Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich nichts natürlicher und reinlicher, als daß man die zufällig entstandenen, nach und nach zusammensinkenden Hügel ungesäumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen, einem jeden leichter gemacht werde." (2. Teil, 1. Kapitel, zitiert nach: J. W. Goethe: Poetische Werke. Berliner Ausgabe, 12. Band, S. 138f.). 124 Für Kursachsen erging am 11. Februar 1792 ein Mandat, das u. a. die Bestattung innerhalb der Kirchen weitgehend verbot: „Das Begraben in den Kirchen, auser in gewölbten Grüften, davon Zugänge also verwahret sind, daß für die Kirchgänger kein Nachtheil zu besorgen stehet, soll förderhin gar nicht gestattet werden." (Ihrer Churfürstl. Durchlaucht zu Sachsen Mandat die Behandlung der Leichen [...] betreffend. Ergangen de Dato Dresden, am Uten Februar 1792, § 7). Zu den konkreten Leipziger Entwicklungen vgl. Frank Reichert: Das Ende der Kirchenbegräbnisse und der Bau der Hospitalgruft zu St. Johannis. In: Stadtgeschichte. Mitteilungen des Leipziger Geschichtsvereins e. V. Jg. 2006, S. 55—66. 125 UAL, Rektor, Rep. I/I/62, Acta Die von Herrn D. Ernst Platnern wider die Nichtbefolgung einiger Conclusorum unterthänigst eingewandte Apellation betr. 1783, Bl. 4r (Abschrift des Beschlusses der Decemviri vom 19. Juli 1783).
Gottscheds Tod und Begräbnis
371
zeigt die Tatsache, daß er nach dem Amtsantritt des Rektors des Wintersemesters 1783/84, Gottfried Winkler, suspendiert wird, und zwar unter der Angabe, jene Festlegung sei von Platner erst im Nachhinein eingebracht worden. Darauf klagt Ernst Platner, der Rektor des vorangegangenen Semesters, vehement über diese Verletzung des Beschlusses eines Universitätsgremiums. Den Hintergrund dieses Vorgehens sieht er darin, daß Winkler schon damals gegen jene Fesdegung gewesen sei. In einem mehr als 40 Seiten umfassenden Schreiben an den Kurfürsten legt Platner seinen Standpunkt dar:126 Er stünde fest hinter diesem Beschluß: Er fühle sich „durch das von Ew. Churfürstl. Durchl. mir gnädigst übertragene Lehramt der menschlichen Gesundheit, durch die Liebe zu meinen Mitbürgern, und selbst durch den Muth, welchen mir die Gottheit zur Beförderung des allgemeinen Besten verliehen hat, auf das stärkste verpflichtet." So hoffe er weiter, daß die Besitzer des den „ändern Menschen schädlichen Eigentumsrechts", Beerdigungen in ihren Kirchengrüften durchführen zu dürfen, diesem entsagen werden. Der Kurfürst möge seinen Standpunkt bestätigen. Der Streit um die Gültigkeit des Beschlusses der Decemviri vom 19. Juni zieht sich noch bis 1788 hin und ist hier von uns nicht weiter zu verfolgen. Wichtiger ist, daß das einige Monate später erstellte Gutachten der Medizinischen Fakultät mit „zuverläßigster Gewissheit" folgendes feststellt: „Daß das Begraben der todten Leichname in Kirchen, oder in den Ring Mauern der Städte und überhaupt an solchen Orten, wo sich eine Menge von Menschen aufhalten muß, allerdings der Gesundheit höchst nachtheilich und, wenn auch die aus diesen faulenden Körpern ausduftende Luft nicht plözliche und allgemeine Tödlichkeit bewircket, dennoch daraus vielerley Kranckheiten die den Tod befördern und allmählich nach sich ziehen, erreget werden können [,..]."127 Die Universitätsleitung ist einerseits gewillt, den aufgrund dieses Gutachtens gebotenen Schluß zu ziehen und die Bestattungen in der Kirche zu beenden, sieht aber andererseits erhebliche Probleme, wenn der Paulinerkirche diese wichtige Einnahmequelle verlorengeht. Man sucht also einen Kompromiß, d. h. weitere Beerdingungen unter Beachtung hygienischer Sicherheitsmaßnahmen. Was das „Neue Tombeaux" angeht, das als besonders gefährlich betrachtet wird, wkd vorgeschlagen, die drei Öffnungen im Gewölbe, durch die die „schädlichen Effluvia" ins Kircheninnere dringen, zuzumauern. Dafür soll an der Außenwand zum Kirchhof eine Tür gebrochen werden, durch 126 UAL, Rektor, Rep. 1/1/62 (Anm. 125), Bl. 15-36, Schreiben vom 23. Juli 1784. Es geht hier allerdings noch um andere Streitfragen, die zwischen Platner und Winckler bestanden. 127 Gutachten der Medizinischen Fakultät über die Schädlichkeit der Begräbnisse in den Kirchen vom 10. Oktober 1783 (UAL, Rep. II/III/B III 23, Acta Die Begräbniße in der Paulliner Kirche betr., Bl. 4r-12r, Zitat 10v-llv).
372
DETLEF DÖRING
die hinkünftig die Leichen in die Gruft getragen werden können. Die noch intakten Särge solle man in einer der drei Abteilungen der Gruft zusammentragen, übereinanderschichten und einmauern. Gleichermaßen soll bei den folgenden Bestattungen verfahren werden, d. h. die Särge sind einzumauern. Die „in den Tombeaux zerfallenen Särge und Todten Gebeine" dagegen sollten „in die Erde versencket" werden.128 Entsprechend diesem Vorschlag wird verfahren und der „Praepositus templi" kann an die Decemviri berichten, daß der Umbau des „Neuen Tombeaux" gemäß des Beschlusses geschehen sei: Die „Sache hat ein gutes Ansehen bekommen, und wer es siehet, billigt es."129 Die Annahme, nach zwanzig Jahren seien Gottscheds Gebeine und sein Sarg schon so vermodert und verrottet gewesen, daß sie in die Erde versenkt werden mußten, ist wenig wahrscheinlich. Vermutlich ist sein Sarg zusammen mit anderen, darunter sicher auch der seiner Frau, in der Gruft der Decemviri eingemauert worden. Dem Versuch, durch die geschilderten Baumaßnahmen doch noch die Fortsetzung des finanziell lukrativen Bestattungswesens innerhalb der Kirche zu ermöglichen, war kein Erfolg beschieden. Sowohl seitens der Dresdner Regierung130 als auch seitens der Stadt wuchs der gegen die Universität gerichtete Druck, die Bestattungen in der Kirche gänzlich einzustellen. Im November 1792 wandte sich der Rat der Stadt an die Universität und wies darauf hin, daß aus hygienischen Gründen schon längere Zeit keine Beerdigungen mehr in den Stadtkirchen erfolgen würden; dieses Verbot solle nun auch in der Paulinerkirche zur Anwendung gelangen („überhaupt keine" Bestattungen). Würde ein gewisser Herr Honig, so der drohende Abschluß des Schreibens, gemäß dem Wunsch seiner Mutter in der Kirche beigesetzt werden, wolle man sich mit einer Beschwerde an den Kurfürsten wenden.131 Die Beerdigungen in der Paulinerkirche scheinen damit tatsächlich ein Ende gefunden zu haben; jedenfalls liegen keine Nachrichten vor, die auf eine weitere Verbringung von Leichen in die Kirche schließen lassen. Die letzte in diesem Zusammenhang zu lösende Frage ist die nach dem Schicksal der 1785 eingemauerten Särge, unter denen sich wahr128 Beschluß des Rektors, des Praepositus und der Decemvirn vom 13. Juni 1785 (UAL, Rep. II/III/B III 23, Bl. 51 r—v). Das Einmauern der Särge entspricht der im Mandat von 1792 (Anm. 124) geforderten Praxis. 129 Schreiben des Praepositus templi Carl Gottfried Winckler an die Dezemviri 14. Juli 1786 (UAL, Rep. II/III/B III 23, Bl. 56r-61r, hier Bl. 57r). 130 Erst auf Anmahnung berichtet man 1788 endlich über die schon mehrere Jahre zurückliegenden Baumaßnahmen. Am 19. September 1788 erfolgt die Antwort der Regierung: Die bisherigen Maßnahmen werden gebilligt, aber man solle alsbald zur „gänzlichen Abstellung der Leichenbeysetzungen" in der Kirche schreiten (UAL, Rep. II/III/B III 23, Bl. 73r-v). 131 Schreiben vom 20. November 1792 (UAL, Rep. II/III/B III 23, Bl. 85r-v).
Gottscheds Tod und Begräbnis
373
scheinlich auch der Gottscheds befand. Die einzige nach dem gegenwärtigen Wissensstand zu erteilende Antwort ist die Mitteilung, daß sie 1898 nicht mehr vorhanden waren. In den Jahren 1897 bis 1899 wurden an der Universitätskirche erhebliche bauliche Eingriffe vorgenommen, die das Gebäude im gotischen Stil umgestalteten. Dazu gehörte die Errichtung einer neuen Chorfassade nach dem Beispiel des Doms von Orvieto. In diesem Zusammenhang wurden alle Grüfte im Chor geöffnet und untersucht, darunter auch das „Neue Tombeaux". Über das Ergebnis dieser Besichtigung unterrichten uns die schriftlichen Aufzeichnungen des Bauführers Th. Quietzsch: „Die noch weiter auszuführenden Arbeiten am Chor bedingten zur Sicherung derselben noch eine genauere Untersuchung des gesammten Fußbodens, denn es war an verschiedenen Stellen vorgekommen, daß die die Grüfte abschließenden Gewölbe sehr morsch und beim Darüber-Arbeiten zusammengebrochen waren. Bei dieser Untersuchung stellte sich denn auch heraus, daß sich an verschiedenen Stellen noch Grüfte befanden. Zur Besichtigung dieser so freigelegten Grüfte waren auf Einladung am 14. Februar Nachmittag 3 Uhr in der Kirche die Herrn Hofrath Gebhardt, Prof. Dr. Lamprecht, Prof. Dr. Rietschel Geschichtsschreiber Otto Moser und Bauführer Quitzsch erschienen, Herr Baurath Dr. Rossbach war durch Krankheit verhindert an der Besichtigung theilzunehmen. Nachdem die einzelnen Grüfte am Altarplatz in Augenschein genommen und in denselben etwas bemerkenswerthes zur Feststellung der Persönlichkeiten nicht gefunden worden war, begab man sich nach der früheren an der Nordseite des Chores gelegenen Sakristei. Unter diesem Raum hatte man einen 16,00 m langen, 4,00 m breiten und 3,70 m hohen mit einem Tonnengewölbe überspannten Raum entdeckt. Dieser Raum wurde durch 2 Mauern in 3 Theile getheilt und befanden sich in dem östlich gelegenen Abtheil noch drei ziemlich gut erhaltene Särge; dieselben wurden geöffnet und hierbei festgestellt, daß sie die Ueberreste einer weiblichen und zwei männlichen Personen enthielten. Von diesen Särgen hatte nur einer auf den Deckel ein Schild welches folgende Inschrift trug: Hier Ruhet in Gott Frau Christiane Margaretha Blaz, geborn Engelschall geb. d. 1. Januar 1716. gest. 6 Juni 1790. Weitere Merkmale waren nicht zu finden, nur der Fußboden des mittleren Raumes zeigte eine ziemlich tiefe Einsenkung und ließ darauf schließen, daß an betreffender Stelle schon einmal Sargtheile bzw. menschliche Ueberreste versenkt worden waren. Nach den ganzen Befund des Raumes gingen die Ansichten sämmtlicher Herren dahin, daß der betreffende Raum nicht von Anfang an als Gruft gebaut, sondern die vorgefundenen Särge erst später von anderer Stelle der Kirche oder des ehemaligen Friedhofes hier-
374
DETLEF DURING
her gebracht worden sind."132 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich bei der geschilderten Gruft um die der Decemvirn handelte. Darauf deutet schon der dort entdeckte Sarg. Christiane Margaretha Plaz133 war die Ehefrau des Decemvirn Wilhelm Plaz (1708-1784, Professor der Medizin) und ist deshalb als wohl eine der letzten Leichen in der Paulinerkirche beigesetzt worden. Die Lage innerhalb der Kirche, die Gliederung in drei Abteilungen und die identischen Längenangaben von 1783 (s. S. 369) und 1898 belegen die eben getroffene Feststellung zusätzlich. Auch die Beobachtung, es sei an einer Stelle der Gruft zu Versenkungen von Särgen und Gebeinen gekommen, entspricht den Mitteilungen, die wir den Akten von 1785 (s. Anm. 128) entnehmen können. Da die Untersuchungskommission von 1898 nur noch drei Skelette in der Gruft vorfand, müssen die anderen zu irgendeinem Zeitpunkt im 19. Jahrhundert beseitigt worden sein, wahrscheinlich ebenfalls durch Versenken. Es wäre denkbar, daß dies 1838 geschehen ist, als die Chorfassade durch den Architekten Albert Geutebrück klassizistisch umgebaut wurde. Zugleich wurde im Chor eine Grabtumba für den Markgrafen Diezmann errichtet. Vielleicht, aber das ist eine reine Vermutung, wurden damals die inzwischen zerfallenen Särge entfernt, und nur die drei Sarkophage blieben stehen, die sich noch in einem guten Zustand befanden. Das dürften die letzten Särge gewesen sein, die in die Gruft gebracht worden sind, also um 1790. Auch diese letzten in der Gruft der Decemviri noch vorhandenen drei Särge wurden 1898 auf Beschluß der Kommission „an Ort und Stelle" versenkt, und aus der ehemaligen Gruft wurde ein Kellerraum. Als auf Befehl der damaligen kommunistischen Machthaber die Universitätskirche am 30. Mai 1968 gesprengt wurde, waren die leiblichen Überreste Gottscheds und seiner Frau samt den Särgen schon längst nicht mehr vorhanden.
132 UBL, 0815, Bl. 26-29. 133 In ihrem Haus lebte Georg Forster während seines Aufenthaltes in Leipzig im Mai 1784. Vgl. seinen Brief vom 14. Mai 1784 an Samuel Thomas von Sömmering (Georg Forster: Werke in vier Bänden. Hg. von Gerhard Steiner. 4. Band. Leipzig o. J., S. 234-243, hier S. 234).
Nachleben im Bild: ein Überblick über posthume Bildnisse und Beurteilungen Gottscheds RÜDIGER OTTO Gemälde, die Gottsched und seine Frau abbilden, sind nicht zahlreich. Sieht man von dem in seiner Authentizität nicht gesicherten Bild ab, das sie als Ehepaar darstellen soll, und sieht man davon ab, daß von dem auf uns gekommenen Gottsched-Bild vermutlich schon zu Lebzeiten eine nur leicht modifizierte Kopie angefertigt wurde, die ebenfalls erhalten blieb, ist von beiden nur je ein Gemälde überliefert. Immerhin existiert eine ganze Anzahl von Stichen, denen die Zeitgenossen und nicht zuletzt auch beide Gottscheds selbst eine zuverlässige Wiedergabe attestiert haben, so daß wir uns von ihrem Äußeren hinlängliche Vorstellungen machen können. Während die graphischen Abbildungen der Luise Adelgunde Victorie Gottsched jedoch allesamt auf das eine Bild zurückgehen, bezeugen die graphischen Darstellungen Gottscheds die Existenz weiterer Gemälde, die verschollen sind. Auch nach beider Tod wurden weitere Stiche hergestellt. Für die Kenntnis des Aussehens der Porträtierten sind sie ohne Wert, allenfalls wäre zu überlegen, welchen Vorlagen die jeweiligen Porträts folgen. Dagegen sind sie in anderer Hinsicht von Bedeutung. Da das Eingedenken weniger über die geehrte — oder geschmähte — Person, viel dagegen über die die Erinnerungen pflegenden Personen oder Zeiten verrät, eignen sich die Bildnisse als Zugänge zu den zeitspezifischen Sichtweisen auf Gottsched. In diesem Sinn wird im folgenden Text der Versuch unternommen, am Leitfaden von Abbildungen oder anderen Werken der bildenden Kunst Einblicke in die unterschiedlichen Beurteilungen Gottscheds zu erlangen. Die Bilder selbst bilden nicht mehr als eine Art unauffälliger Wegmarkierung. Erst indem man den Markierungen nachgeht, ergeben sich Zugänge zu Personen und ihren Auffassungen, gewinnt man Einsichten in personelle Verflechtungen und in verschiedene Formen und Medien des Erinnerns.
l
Vgl. dazu im vorliegenden Band Rüdiger Otto: Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen.
376
RÜDIGER OTTO
Ein Anspruch darauf, die nach Gottscheds Tod entstandenen Bildnisse vollständig zu erfassen, wird nicht erhoben. Die Abbildungen sind bei der Durchsicht von Bildwerken, per Zufall oder durch einen freundlichen Hinweis entdeckt worden. Eine vollständige Erfassung erforderte ein systematisches Vorgehen, und das könnte nur bedeuten, sämtliche sachlich in Frage kommenden Druckwerke eines Zeitabschnitts auf Abbildungen hin zu untersuchen. Da die Wahl der Fragestellungen an Bildwiedergaben anknüpft, sind den folgenden Ausführungen von vornherein Schranken gesetzt. Es kann nicht darum gehen, den Verlauf der Forschung bzw. der Urteile über Gottsched in den angemessenen Proportionen zu rekonstruieren. Wenn auch versucht wurde, die allgemeinen Verlaufslinien als Rahmen anzudeuten, so sind es doch die Bilder oder bildkünstlerischen Objekte, die die Schwerpunkte vorgeben.
1. Gottsched im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Die Grundtatsachen sind bekannt. Nach einem kometenhaften Aufstieg in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts war Gottsched seit den vierziger Jahren zunehmenden Angriffen ausgesetzt. In der Kontroverse mit den Schweizern Johann Jacob Bodmer (1698—1783) und Johann Jacob Breitinger (1701-1776) verfuhren die Vertreter beider Parteien mit schonungsloser Polemik. Gottscheds Ablehnung Klopstocks (1724—1803) brachte ihn bei der jüngeren Generation um jeden Kredit. Es erschienen zahlreiche Satiren, die Gottsched der Lächerlichkeit preisgeben sollten. Im Spiegel privater Zeugnisse verstärkt sich der Eindruck, daß Verachtung oder Spott über Gottsched an der Tagesordnung waren. Johann Samuel Krickende (1733—1797), zuletzt Oberkonsistorialrat in Schlesien, berichtete seinem Freund Johann George Scheffner (1736—1820), einem entfernten Verwandten Gottscheds, von einer Gesellschaft, in der der Satiriker Gottlieb Wilhelm Rabener (1714—1771) die Anwesenden dazu anregte, den unteren Teil des Gesichts mit der Hand zu bedecken, da dann „ein ieder Mensch irgend einem Thiere ähnlich wäre. So legte sich ein ieder die Hand vor, u man bestimmte die Aehnlichkeit. Dieser war ein Löwe, dieser So sind beispielweise in den folgenden beiden Veröffentlichungen zwei verschiedene Abbildungen Gottscheds enthalten, die hier nicht wiedergegeben werden, weil ihr Entstehungsdatum und der Ort der Erstveröffentlichung nicht bekannt sind: Roswitha Platz (Hg.): Theaterhistorische Porträtgraphik. Ein Katalog aus den Beständen der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln. Berlin 1995, S. 235, Nr. 1855 und Kristof Magnussohn: „Ihr Dichter, schreibt! wir wollens lesen". In: GewandhausMAGAZIN Nr. 26, Frühjahr 2000, S. 50-55, 52. Die ausfuhrlichste Behandlung der gesamten Pamphletliteratur findet sich bei Waniek.
Nachleben im Bild
377
ein Fuchs pp. Aber wem sieht nun C. ähnlich, sagte Rabener? Ich mag auf ein Thier dencken, welches ich will, so sehe ich nicht, welchem C. gleiche, den einzigen Prof. Gottsched ausgenommen, dem er gleicht, wie ein Tropfe dem ändern." In der Korrespondenz des Halberstädter Dichters und Sekretärs am Domkapitel, Johann Wilhelm Ludwig Gleim (17191803), wird mit hämischer Freude der Verfall von Gottscheds Ansehen registriert, es werden Äußerungen wie diese kolportiert: „Herr Sultzer hat letzthin Herrn Gottsched gesprochen. Er schreibt mir, er sey in der That nicht recht bey Sinnen. Der arme Mann!" In einer Mitteilung über den in Dresden lebenden Satiriker Christian Ludwig Liscow (1701—1760) beklagt Gleim, daß Liscow nichts mehr schreibe und vermutet: „ ... vielleicht fehlt ihm ein würdiger Held. Gottsched ist ihm zu klein. Er hat letztens zu Dreyern gesagt: Man muß selbst zum Hundsfott werden, wenn man wieder ihn schreibt." Nach der Audienz bei der Kaiserin Maria Theresia (1717—1780) im Jahre 1749, in der Gottsched und seine Frau äußerst zuvorkommend behandelt worden waren, verfaßte Gottsched ein Gedicht. Gleims Kommentar: „Ich hatte neulich einen Satirischen Kützel, und wolte ihnen einen Beweiß schicken, daß Gottsched nicht in Wien gewesen, und daß Gedicht auf die Kayserin nicht gemacht hätte. Denn wie könte der große Gottsched ein so schlechtes Gedicht machen und wie könte die große Kayserin den Verfasser eines so schlechten Gedichts vor sich kommen ... laßen." U. s. w. Zu den unerbittlichsten Gegnern Gottscheds zählte Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Daß Lessing als Polemiker nicht um eine ausgewogene Beurteilung seiner Gegner bemüht war, ist bekannt. Die Gestalt Gottscheds hat seine Iraszibilität jedoch in einem Maße beansprucht, das sachlich nicht mehr zu erklären ist. Seine Krickende an Scheffner, Berlin 9. November 1764. In: Arthur Warda (Hg.): Briefe an und von Johann George Scheffner. Band 1. München; Leipzig 1918, S. 445—448, 447. Gleim an Ramler, Oranienbaum 26. Juni 1746. In: Carl Schüddekopf (Hg.): Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Band 1. Tübingen 1906, S. 11-12,12. Gleim an Uz, Berlin 22. Dezember 1746. In: Carl Schüddekopf (Hg.): Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Tübingen 1899, S. 146-149, 147. Mit „Dreyern" ist der Diplomat und Dichter Johann Matthias Dreyer (1717—1769) gemeint. Gleim an Ramler, Halberstadt 6. Februar 1750. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler (Anm. 5), S. 209-212, 210. Abdruck des Gedichts in Gottsched: Gedichte. 2 Teüe. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1751, 2, S. 21-23. Vgl. Klaus L. Berghahn: Zur Dialektik von Lessings polemischer Literaturkritik. In: Wolfram Mauser und Günter Säße (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tübingen 1993, S. 176—183. Gunter E. Grimm: ,O der Polygraph'! Satire als Disputationsinstrument in Lessings literaturkritischen Schriften. In: Streitkultur, S. 258—268. Vgl. Joachim Birke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds. In: Euphorien 62 (1968), S. 392—404. Eine Rekonstruktion des Verhältnisses Lessings zu Gottsched in seinem Wandel auch bei Karl S. Guthke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds und Bodmers. In: Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern; München 1975, S. 24-71.
378
RÜDIGER OTTO
Rezensionen richten sich gegen die verschiedensten Bereiche der Wirksamkeit Gottscheds, gegen die Gedichte, gegen die Sprachlehre, selbst gegen die Bibliographie Nöthiger Vorrath %ur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst, die als erste ihrer Art noch heute als Referenzpublikation zitiert wird. Als dieses Buch in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste anerkennend rezensiert und die Rezension mit den Worten eingeleitet wurde, „Niemand wird läugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Theil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Prof. Gottsched zu danken habe", reagierte Lessing mit den apodiktischen, später berühmten Worten im 17. Literaturbrief: „Ich bin dieser Niemand; ich leue17 ne es gerade zu" . Gottscheds Einsicht in den Reformbedarf des deutschen Theaters wird von ihm als Selbstverständlichkeit bagatellisiert, seine Reformaktivität als Selbstüberschätzung gekennzeichnet, die Orientierung am französischen Drama als Verfehlung des deutschen Nationalcharakters. War für die Bibliothek der schönen Wissenschaften die reiche Materialsammlung des Nöthigen Vorraths Grund zur Anerkennung, zählte Lessing einige nicht enthaltene Theaterstücke auf, führte diesen Mangel als paradigmatisch für „andere Unterlassungssünden" vor und suggerierte damit, daß Gottsched noch nicht einmal eine Fleißarbeit zufriedenstellend beenden könne. Das durch die Literaturbriefe vermittelte Urteil über Gottsched, im fünfundsechzigsten Brief auf den Begriff gebracht, lautet, „daß ein seichter Kopf nirgends erträglich ist".14 Die Literaturbriefe haben eine damit eine weitverbreitete Haltung gebündelt, für die weitere Beispiele anzuführen keine Schwierigkeit bedeutet, sie haben ihrerseits einen beträchtlichen Anteil daran gehabt, Gottsched unter den Zeitgenossen der
10
11
12 13 14 15
Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst. 2 Bände. Leipzig: Johann Michael Teubner, 1757 und 1765 (Nachdruck Hildesheim; New York 1970). Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Band 3, 1. St. 2. Auflage. Leipzig: Johann Gottfried Dyck, 1762 (Nachdruck Hildesheim; New York 1979), S. 85-95, 85. Gotthold Ephraim Lessing: Briefe die neueste Literatur betreffend. Mit einer Dokumentation zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Leipzig 1987, S. 51. Lessing, Briefe (Anm. 12), S. 50. Lessing, Briefe (Anm. 12), S. 207. Für weitere Belege vgl. Detlef Döring: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung. In: Lessing. Kleine Welt — Große Welt. 39. Kamenzer Lessing-Tage 2000. Kamenz 2000, S. 143-164, 143-146; Danzel, S. 154-158. Anhand der Kritiken der Berlinischen Privilegien Zeitung und ihrer Beilage wird deutlich, daß Gottsched-Verrisse in Mode gekommen waren und die Beteiligten sich zu wechselseitiger Überbietung animiert haben; vgl. Rainer Baasner: Lessings frühe Rezensionen. Die Berlinische Privilegirte Zeitung im Differenzierungsprozeß der Gelehrtenrepublik. In: Streitkultur (Anm. 8), S. 129-138,131f.
Nachleben im Büd
379
Verachtung und dem Vergessen auszuliefern,16 und schließlich wurde durch den souveränen Rang, der Lessing in der deutschen Literaturgeschichte zuerkannt wird, eine nicht zu unterschätzende Fernwirkung für die Beurteilung Gottscheds erzielt. Vergessen oder Verachtung — beide Reaktionsweisen scheinen in zwei biographisch angelegten literaturgeschichtlichen Werken auf, die 1785 bzw. 1787 erschienen sind. Christian 1 ft Heinrich Schmids (l 746—1800) Necrolog der deutschen Dichter nimmt Gottsched und seine Frau in die Galerie der Dichter gar nicht erst auf, obwohl zahkeiche Zeitgenossen Gottscheds, darunter Gegner wie Jakob Immanuel Pyra (1715-1744) und Johann Christoph Rost (1717-1765) und Schützlinge wie Johann Elias Schlegel (1719-1749) und Magnus Gottfried Lichtwer (1719—1783), zu den gewürdigten Dichtern zählen. Leonard Meisters (1741-1811) Cbaractenstik deutscher Dichter erschien wenig später. Die Veröffentlichung eines ganz ähnlichen Werks kurz nach Schmids Necrolog rechtfertigte Meister unter anderem damit, daß sein Buch Bildnisse der Dichter, gestochen von Heinrich Pfenninger (1749-1815), enthalte. Zu den abgebildeten Personen zählen die Eheleute Gottsched (Abbildung l und 2). Als Quellenangaben für den Begleittext sind die biographischen Abrisse der Gottschedkorrespondenten und dadurch aus erster Hand unterrichteten Gabriel Wilhelm Goetten (1708-1781) und Jakob Brucker angegeben, ferner wird auf Karl Friedrich Flögels (1729— 1788) Geschichte der komischen Literatur hingewiesen, deren 3. Teil kurz zuvor, 1786, erschienen war. Von dem Enthusiasmus, den diese Texte für Gottsched zum Ausdruck brachten, ist bei Meister nicht viel übriggeblieben. Er spricht Gottsched nicht alle Verdienste ab, tonangebend aber sind Bemerkungen wie die folgende: „Ohngeachtet des Eindrucks, den die damals er schienen [en] Discurse der Mahler auch auf Gottscheden machten, so hielten ihn doch theils Partheygeist, theils Mangel an originellem Genie auf dem einmal betretenen Pfad der Mittelmäßigkeit für 16
17 18
19
„Die Verfasser der Literaturbriefe machten, daß Gottsched mit Bodmern vergessen wurde". Friedrich Just Riedel: Über das Publikum, Briefe an einige Glieder desselben (1768). Zitiert nach Lessing, Briefe (Anm. 12), S. 460. Vgl. Birke, Lessing (Anm. 9), S. 392; Brigitte Peters: Der 17. Literaturbrief und seine Folgen. In: Zeitschrift für Germanistik 10 (1989), H. l, S. 70-75. Christian Heinrich Schmid: Nekrolog oder Nachrichten von dem Leben und den Schriften der vornehmsten verstorbenen teutschen Dichter. Berlin: August Mylius, 1785. Über Schmids literaturgeschichtliche Arbeiten vgl. Gerhard Kurz: Lumpensammler am Parnaß: Christian Heinrich Schmid und die Anfänge der deutschen Literaturgeschichte. In: Gerd Richter u. a. (Hg.): Raum, Zeit, Medium - Sprache und ihre Determinanten. Festschrift für Hans Ramge zum 60. Geburtstag. Darmstadt 2000, S. 909-928. Leonard Meister: Characteristik deutscher Dichter, Nach der Zeitordnung gereyhet, Mit Bildnissen von Heinrich Pfenninger. Zürich: Heinrich Pfenninger. Band l, 1785, Band 2, 1787; hier zitiert nach der vom Titelblatt abgesehen identischen Ausgabe St. Gallen und Leipzig: Huber und Compagnie, 1789, Band l, Vorrede.
380
RÜDIGER OTTO *?n
immer zurük." Die moralische Wochenschrift Discourse der Mahler erschien von 1721—1723 als erste Gemeinschaftsarbeit der Schweizer Bodmer und Breitinger, die später die unerbittlichsten Gegner Gottscheds wurden. Mit seinem Satz bringt Meister erstens zum Ausdruck, daß die Schweizer bereits vor Gottsched eine moralische Wochenschrift geschrieben hatten — Gottscheds Vernünfftige Tadlennnen erschienen seit 1725, der Biedermann seit 1728 —, zweitens, daß Gottsched Leser und Nachahmer, um nicht zu sagen Plagiator der Schweizer war, und drittens, daß er ihre Höhe aus Eigensinn und Mangel an Befähigung von Anfang an nicht erreicht hat. Der Schweizer Leonard Meister war Schüler seiner älteren Landsleute und blieb, wie dieser Satz und die wiederholten Bemerkungen über Gottscheds Mittelmäßigkeit, Pedanterie und Despotie zeigen, ihr entschiedener Parteigänger.22 Nach Gottscheds Tod hat es vereinzelte Versuche namhafter Kollegen des Verstorbenen gegeben, der verbreiteten Geringschätzung Gottscheds durch den Aufweis seiner historischen Leistungen entgegenzutreten. Im Süden Deutschlands konnten die Schweizer und die norddeutschen Verwerfungen Gottscheds Ansehen ohnehin nicht grundsätzlich beschädigen. Seine Werke wurden dort weiter aufgelegt und gelesen. Es gab aber auch inmitten der Verächter Personen, die sich den Blick für Gottscheds historische Leistung nicht trüben ließen. Schon Werner Rieck hat auf Publikationen dieser Zeit hingewiesen, die eine durchaus ausgewogene und anerkennende Bilanz des Gottschedschen Lebenswerkes zie-
20 21
Meister, Characteristik (Anm. 19), 2, S. 47. Diese unangemessene Charakterisierung Gottscheds als inferioren Nachahmer der Schweizer wurde auch in anderen literaturhistorischen Darstellungen vorgenommen; vgl. darüber Danzel, S. 195-200. 22 Vgl. auch Leonard Meister: Hauptepochen der deutschen Sprache seit dem achten Jahrhundert. Eine gekrönte Preisschrift. In: Schriften der Kurfürstlichen deutschen Gesellschaft in Mannheim. Mannheim 1787, Band 1. S. 255-306 und Band 2, S. 235-241. 23 Vgl. im vorliegenden Band Dedef Döring: Johann Christoph Gottscheds Tod und Begräbnis, S. 339f. 24 Vgl. z. B. Paul Legband: Münchener Bühne und Litteratur im achtzehnten Jahrhundert. München 1904, S. 129; Ernst Baum: Phil. Hafners „Reisende Komödianten" und die Wiener Gottschedianer. In: Euphorion 8. Ergänzungsheft (1909), S. 49-72, 49-52; Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule: Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien; München 1980, S. 272-329; Herbert Zeman (Hg.): Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750). Graz 1986; Norbert Bachleitner; Franz M. Eybl; Ernst Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Wiesbaden 2000, S. 142-146 u. ö.; Ludwig Hammermayer: Die Aufklärung in Salzburg (ca. 1715—1803): In: Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger (Hg.): Geschichte Salzburgs. Band 2, 1. Teü, Salzburg 1988, S. 375-452, 382 und 390; Eduard Beutner: Literatur und Theater vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Geschichte Salzburgs. Band 2, 3. Teü, Salzburg 1991, S. 1707-1732,1726.
Nachleben im Bild
381
hen.25 Es lassen sich für diese nach heutigen Maßstäben abseits der literarischen Avantgarde agierende literarische Öffentlichkeit weitere Beispiele für eine differenzierte Sicht auf Gottsched entdecken. Ein kleines Porträt in einer weniger bekannten Zeitschrift kann dabei als Wegweiser dienen. Die Zeitschrift Olla potnda erschien jährlich in vier eigenständig paginierten Stücken, jedem Stück war ein Frontispiz beigegeben. Das Programm der Zeitschrift ist durch den Titel gut bezeichnet: Sie ist offen für alles. Sie enthält die Rubriken Gedichte, Auszüge, Abhandlungen und vermischte Aufsätze, Naturgeschichte, Anekdoten, Biographie, Roman und Miscellaneen, in denen nahezu jedes Thema untergebracht werden konnte. Sie befaßte sich mit deutscher Dichtkunst und mit dem erbarmenswürdigen Leben der Sklaven, mit der Umwälzung in Frankreich, mit den besten Tafeläpfeln und stellte das Leben John Gays (1685-1732), des Dichters der Bettleroper vor.26 Hier wurde 1781 die erste deutsche Bearbeitung von Shakespeares Hamlet gedruckt. Wie die Themen der Beiträge lassen auch die als Frontispiz wiedergegebenen Personen kein besonderes Auswahlprinzip erkennen. So sind 1788 der Publizist Johann Wilhelm von Archenholtz (1741-1812)28 und der durch seine Kerkerhaft auf dem Hohenasperg zum Märtyrer avancierte Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791)29 abgebildet, 1789 Jacques Necker (1732-1804) als „Restaurateur du bien public",30 1792 findet man den Schauspieler August Wilhelm Iffland (1759-1814), den Theologen und Physiognomiker Johann Kaspar Lavater (1741—1801) und Friedrich Schiller (1759-1805). Der Jahrgang 1790, dessen 1. Stück ein Porträt Gottscheds ziert (Abbildung 3), enthält im darauffolgenden Stück das Bild Johann Joachim Winckelmanns (1717-1768). Soviel ist erkennbar: Die abgebildeten Personen sind anerkannte Repräsentanten der intellektuellen und künstlerischen Elite, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, daß auch Gottsched unter diesem Gesichtspunkt aufgenommen wurde. Angaben über die Urheber der Stiche erfolgen nur partiell. Gottscheds Porträt ist mit den Initialen F. R. signiert,31 vermutlich F. Ramberg,32 über den Künstler war nichts in Erfahrung zu bringen. Die Darstellung Gott-
25
26 27 28 29 30 31 32
Werner Rieck: Eugen Reichel als Gottschedforscher. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Gesellsch.-Sprachw. Reihe 10 (1966), S. 231-241, 233. Olla Potrida 1788, 4. Stück, S. 99-113. Wilhelm Widmann: Hamlets Bühnenlaufbahn (1601-1877). Leipzig 1931, S. 16. Olla Potrida 1788, 2. Stück. Olla Potrida 1788, 4. Stück. Olla Potrida 1789, 3. Stück. Olla Potrida 1790, l. Stück; so auch 1788, 3. und 4. Stück. Zu dieses Namensangabe vgl. Olla Potrida 1789, l. und 2. Stück.
382
RÜDIGER OTTO
scheds ist keiner der älteren Abbildungen verpflichtet und offenbar eine freie Erfindung. Ein Bezug zwischen Abbildung und Inhalt der Stücke ist nicht erkennbar. Allerdings sind im zweiten Stück des Jahres 1790 als Teil der über mehrere Jahrgänge veröffentlichten Ski^en einer Geschichte der deutschen Dichtkunst die 8.-10. Epoche der deutschen Literaturgeschichte mitgeteilt. Wie zu den anderen Dichtern auch werden zu Gottsched und seiner Frau, die zur 9. Epoche von 1725 bis 1744 gezählt werden, nur die Lebensdaten und einige bibliographische Angaben mitgeteilt.34 Ein anderes als dieses rein äußerliche Ordnungsprinzip ist nicht zu erkennen, aber wenn Darstellung und Abbildung nicht gänzlich unmotiviert sind, könnten sie als Ausdruck einer Normalisierungsstrategie betrachtet werden, mit der Gottsched der ihm zukommende Rang zuerkannt werden sollte. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man weitere Aktivitäten des Herausgebers Heinrich August Ottokar Reichard (1751-1828)35 in Augenschein nimmt. Er war ein äußerst produktiver Schriftsteller und maßgeblich an der Entfaltung des Theaterlebens am herzoglich-gothaischen Hof beteiligt. Reichard gab mehrere Periodika heraus, darunter den von 1775-1800 jährlich erscheinenden Theater-Kalender. Neben zahlreichen Berichten über das zeitgenössische deutsche und europäische Theater enthält der Kalender historische Abhandlungen über die Entwicklung des neueren deutschen Theaters. Gottsched wird in diesem Zusammenhang gegen seine Verächter mit allem Nachdruck verteidigt, indem die schwierige Ausgangs situation, der qualitative Tiefstand von Literatur und Theater benannt und vor diesem Hintergrund die historische Leistung gewürdigt wird. Durch die Abschaffung des Hanswursts, die Einführung regelmäßiger Stücke, die anregende Wirkung seiner Sammlung deutschsprachiger Stücke in der Deutschen Schaubühne habe Gottsched Grundlagen für den kommenden Höhenflug der dramatischen Poesie geschaffen. Die Verächter Gottscheds werden ihrerseits als Ignoranten behandelt, die über die Situation des Theaters zu Zeiten der Anfänge Gottscheds nicht im Bilde sind. Das Plädoyer für Gottsched ist nicht mehr von den parteigebunde33 34 35 36
Sie stammen von Christian Heinrich Schmid, dem oben erwähnten Verfasser des Necrologs der deutschen Dichter, vgl. Gerhard Kurz: Lumpensammler (Anm. 18), S. 922f. Olla Potrida 1790, 2. Stück, S. 144-166, S. 155. Vgl. ADB 27 (l888), S. 625-628. „Lange war das dramatische Feld in Teutschland mit Disteln bewachsen. Vater Gottsched kam und fieng an es urbar zu machen. Mit Recht gebührt ihm diese Ehre. Nach seinen Kräften suchte er Licht zu verbreiten, und ihm glückte es, daß er in vielen Stücken die Bühne von Gegenständen, die nur ein tölpisches Parterre belachte, gereinigt hat. Und doch spotten itzt so viele seiner Asche, und bemühen sich seine Verdienste um die Bühne lächerlich zu machen, daß da er einen steinigten Weg vor sich gehabt, und, indem er ihn säuberte, hie und da noch ein Steinchen zurückgelassen, ist natürlich ..." Und dennoch wurde ihm genau dies vorgeworfen. „Solche Denkungsart verräth so vielen Undank, so
Nachleben im Büd
383
nen Standpunkten geprägt, die die Auseinandersetzungen seit den vierziger Jahren bestimmt hatten. Es ist vielmehr Ausdruck des Bemühens, den Gang der Literaturentwicklung im 18. Jahrhundert möglichst genau, ohne Vorurteile und unter Berücksichtigung der historischen Bedingungen zu beschreiben. Damit steht der Text im Zusammenhang weiterer literaturund theaterhistorischer Essays des späteren 18. Jahrhunderts, die im Blick auf Gottsched den Willen zur historischen Gerechtigkeit erkennen lassen und mitunter dezidiert die stereotype Geringschätzung Gottscheds mißbilligen.37 Ein markantes Beispiel für diese Haltung findet sich im Almanack für Dichter und schöne Geister Auf das Jahr 1785. Der Herausgeber des Almanacks bekundet große Sympathien für jüngere Autoren wie Wieland und Goethe, er schätzt Lavater, steht aber seinen Verstiegenheiten skeptisch gegenüber, und nennt Lessing einen „der ersten Köpfe unsers Vaterlands".39 Diese Positionsbestimmung signalisiert, daß er nicht auf bestimmte Richtungen eingeschworen ist, sondern als freier Geist ein eigenständiges Urteil pflegt. Vorbehaltlose und unkritische Anhängerschaft ist für ihn per se ein Übel, wie man der Bemerkung zu Gottscheds Gefolgschaft entnehmen kann: „Das Lobpreisen und Posaunen seiner Anhänger hat Gottscheden mehr geschadet, als die Angriffe anderer". Dank dieser Freiheit bekommen seine Ausführungen zu Gottsched ihr spezifisches Gewicht: Er betont mit Blick auf Literatur und Theater, daß die Gegenwart auf Gottscheds Leistungen aufbauen kann und verwendet das Bild wenig Kenntnisse von der Arbeit, die er unternommen hatte. — So viel ist gewiß, daß er einer von den würdigen Männern gewesen war, durch den die treflichsten Genies entstunden. Es kam ein Schlegel, ein Geliert, ein Sulzer". Theater^Kalender 1783, S. 75; vgl. auch 1781, S. 114-132; 1782, S. 40,127; 1783, S. 75-81, 82-102. 37 Statt einzelner Nachweise soll ein Hinweis auf die Bibliographie genügen, durch die zahlreiche zeitgenössische Titel erschlossen werden, die für die Beschäftigung mit der Präsenz Gottscheds in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herangezogen werden können: Wolfgang F. Bender u. a.: Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts. Bibliographie und inhaltliche Erschließung deutschsprachiger Theaterzeitschriften, Theaterkalender und Theatertaschenbücher. 3 Bände. München 1994-2005. 38 Der Autor berichtet, ihm sei die Neuauflage des Almanacksför Belkttristen von 1782 übertragen worden, aber dessen Unzulänglichkeit habe ihn bewogen, einen ganz neuen Almanach zu verfassen; vgl. Almanach für Dichter und schöne Geister Auf das Jahr 1785, Vorbericht. Dieser Vorgängeralmanach zeichnet sich eher durch launige Bemerkungen als durch nachvollziehbare Urteile aus, er belustigt sich vorwiegend über Gottscheds Schüler und gelangt zu dem Schluß „Gottsched ist nun bei all' seinem Lermen und Toben und bei den wirklich guten Seiten, die er hatte, beinahe vergessen; das hätte der grosse Dichter wol nie gedacht! Seine Poesie, Lustspiele und übrigen Werke liest kein Mensch mehr, daß er den Harlekin feierlich von unsrer Bühne verjagte, weis man nur noch hier und dort"; so werde es vielen ergehen. Johann Christoph Friedrich Schulz: Almanach der Bellettristen und Bellettristinnen für's Jahr 1782, S. 72f. 39 Almanach für Dichter (Anm. 38), S. 74.
384
RÜDIGER OTTO
vom Kind auf den Schultern des Mannes, das weiter sieht als er, aber auf ebener Erde einen viel beschränkteren Horizont habe. „Man darf es, ohne den Vorwurf des Pedantismus auf sich zu laden, laut sagen, daß unsre schöne Litteratur das so bald nicht geworden wäre, was sie geworden ist, wenn nicht Gottsched vorgearbeitet, die Sprache von vielem Wust gereiniget, Lehrbücher der Dichtkunst und Beredsamkeit geschrieben, und auf die Schönheiten der Alten und Ausländer aufmerksam gemacht hätte." Über dichterische Fähigkeiten habe Gottsched nicht verfügt, aber für seine gegen alle Widerstände und Rückschläge erbrachte Lebensleistung findet der Autor anerkennende Worte: „Nimmt man die unzähligen Verdrüßlichkeiten dazu, und die mannigfaltigen Kränkungen, die ihm wiederfuhren; so muß man den Mann bewundern, daß sein Enthusiasmus für das Aufkommen der schönen Künste und Wissenschaften in dem undankbaren Deutschland etwas zu thun, nicht längst vergangen war. Man darf getrost fragen: ,Wer hätte in seiner Lage, unter den damaligen Umständen mehr gethan?'" Mit seiner Sicht auf Gottsched fühlt sich der Verfasser nicht als Einzelgänger. Er konstatiert vielmehr einen allgemeinen Wandel im Urteil.42 Das ist allerdings verwunderlich und steht im Widerspruch zur vorherrschenden und durch zahkeiche Belege gesicherten Auffassung über den nachhaltigen Anerkennungsverlust Gottscheds. Als Autor des Almanacks gilt Christian Jakob Wagenseil (1756-1839),43 der die Jahre 1778—1779 im Umkreis des Gothaer Theaters zugebracht hatte. Da auch Reichard, der Herausgeber der Olla potrida und des Theaterkalenders, in Gotha gewirkt hat, könnte es sein, daß speziell am Godiaer Hof eine Auffassung über Gottsched tradiert wurde, die sich von der Mehrheitsmeinung unterschied. Tatsächlich stand das Ehepaar Gottsched schon zu Lebzeiten in Gotha in hohem Ansehen. Gottsched hat mit der kunstsinnigen und für die Moderne aufgeschlossenen Herzogin Luise Dorothea44 (1710-1767) einige Briefe gewechselt. Ihr ältester Sohn soll nach Gottscheds Weltweisheit unterrichtet worden sein, sie selbst erklärte das
40 41 42
43 44
AJmanach für Dichter (Antn. 38), S. 39. Almanach für Dichter (Anm. 38), S. 40. „Es war lange Zeit Mode, und großer Ton in der Belletristen Welt, mit Gottscheds Namen ordentlich Gespötte zu treiben, und es ist wahrlich wohl gethan, wenn man anfängt seinen Verdiensten die gehörige Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen." Almanach für Dichter (Anm. 38), S. 39. Vgl. Hans Köhring: Bibliographie der Almanache, Kalender und Taschenbücher für die Zeit von ca. 1750-1860. Hamburg 1929 (Nachdruck Bad Karlshafen 1987), S. 10. Vgl. Bärbel Raschke: Der Anteil der Frauen am französisch-sächsischen Kulturtransfer: Der Briefwechsel der Herzogin Luise Dorothee von Sachsen-Gotha mit Voltaire. In: Michael Espagne und Matthias Middell (Hg.): Von der Elbe bis an die Seine: Kulturtransfer zwischen Sachsen und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. Leipzig 1993, S. 105—116.
Nachleben im Büd
385
Werk ihren Hofdamen.45 Auch andere Personen des Gothaer Hofes wie der Kriegsrat Johann Gottlieb Laurentii (1705-1765), der Bibliothekar und Hofrat Gottfried Christian Freiesleben (1714—1774) und Emanuel Christoph Klüpfel (1712-1776), der als Geistlicher dem engeren Zirkel der Herzogin Luise Dorothea angehörte und den Gothaer Hofkalender begründet hat, bezeugten Gottsched in ihrer Korrespondenz alle Wertschätzung. Es bedarf noch einer genaueren Untersuchung, aber es scheint, daß in diesem für neue Entwicklungen durchaus aufgeschlossenen Milieu eine durch persönliche Überlieferungen informierte größere Achtsamkeit auf übergreifende künstlerische Epochenkonstellationen geherrscht hat, in deren Folge auch Gottsched ein gerechteres Urteil zuteil wurde.
2. Gottsched in der Gartenlaube (Abbildung 4) Daß sich dadurch unter den Meinungsführern der klassisch-romantischen Epoche bzw. den ihr verpflichteten Literaturhistorikern eine Änderung im Urteil über Gottsched ergeben hätte, kann allerdings nicht behauptet werden.46 Als Theodor Wilhelm Danzel 1848 sein Buch Gottsched und seine Zeit vorlegte, konnte er seine Veröffentlichung, die auf der Lektüre der über 4700 in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrten Briefe beruhte, als Pionierleistung in einem von Konventionen und Klischees beherrschten Feld präsentieren. Nach Danzels Gegenwartsdiagnose war die Ära der modernen, mit den Namen Goethe und Schiller assoziierten Literatur, die „ganz eigentlich im Gegensatz gegen Gottsched entstanden" war und diesen Gegensatz zu Recht konserviert habe, an ihr Ende gelangt. War es vordem ein Signum der intellektuellen Zeitgenossenschaft, die Anschauungswelt dieser Ära zu verinnerlichen und ihre Kriterien zu übernehmen, so ist nach Danzel die Gegenwart durch Problemlagen gekennzeichnet, die über die Goethe-Schiller-Ära hinausweisen. Diese selbst ist aus der unmittelbaren Leitkultur zum Gegenstand historischen Interesses geworden. Ein Bestandteil ihrer historischen Betrachtung ist die Kenntnis 45 Jenny von der Osten: Luise Dorothee. Herzogin von Sachsen-Gotha 1732—1767. Leipzig 1893,8.26-30. 46 Vgl. aber Ludwig Tiecks ausgewogenes Urteil, das in sachlicher Übereinstimmung mit der Bewertung der Theaterhistoriker des späten 18. Jahrhunderts Gottscheds Bedeutung für die Entwicklung der Schauspielkunst, für das Urteilsvermögen hinsichtlich der dramatischen Literatur und Praxis und für die Entwicklung der deutschen Sprache betont: Richard Mahrenholtz; August Wünsche: Deutsche Dichter von Gottsched bis auf unsere Tage in Urtheilen zeitgenössischer und späterer deutscher Dichter. Leipzig 1888, S. 2-4. Eine ausführliche Zusammenstellung von Urteilen über Gottsched findet sich bei Gerhard Schimansky: Gottscheds deutsche Bildungsziele. Königsberg; Berlin 1939, S. 1—21. 47 Danzel, S. l.
386
RÜDIGER OTTO
und gerechte Beurteilung der ihr vorausliegenden und ihren Widerspruch provozierenden Epoche, d. h. „so lange man nicht gründlich erkannt hat, was Gottsched gewollt und geleistet, ist von Lessings, Göthes, Schillers Wollen und Leisten eine gründliche Erkenntniß nicht möglich". Unter dieser Voraussetzung kritisiert Danzel, daß sich Georg Gottfried Gervinus in seiner zuerst 1835-1842 erschienenen Geschichte der deutschen Nationalliteratur nicht scheut, „die Invectiven seiner unmittelbaren Gegner gegen ihn zu wiederholen".49 Im Gegensatz zu dieser noch immer herrschenden distanzlosen Ablehnung versteht Danzel sein Werk als einen Beitrag zur historisch vermittelten Würdigung Gottscheds. Es mag sein, daß die professionelle Literaturgeschichtsschreibung dank der Arbeit Danzels Gottsched unter jeweils unterschiedlichen Fragestellungen angemessener darstellen konnte.50 Tatsächlich sind im Gefolge Danzels die in der Fülle der Detailkenntnisse noch heute immer aufs neue überraschende Arbeit Gustav Wanieks und Eugen Wolffs breit angelegte Studie über Gottscheds Stellung im deutschen Eildungslebens2 erschienen. Diese Darstellungen vermitteln genaue Informationen über die unterschiedlichen Lebens- und Wirkungsphasen Gottscheds. Gottscheds Persönlichkeit bekommt durch diese Arbeiten jedoch kaum sympathischere Züge, wie schon Danzel trotz der Neuvermessung der historischen Leistung Gottscheds eine deutliche Distanz gegen den Protagonisten seines Buchs zum Ausdruck gebracht hatte. Vielleicht liegt es an dieser Distanz, daß die veränderte literaturgeschichtliche Bewertung nicht nachhaltig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit, der Gebildeten und der für kulturelle Belange aufgeschlossenen Leserschaft drang. Zu einprägsam waren im übrigen die Schilderungen oder Urteile, mit denen die unbestrittenen Geister erster Ordnung wie Lessing oder Goethe ihre Sicht auf Gottsched formuliert und in Texten hinterlassen hatten, die kanonische Geltung gewonnen und den Vorzug hatten, gelesen zu werden. Symptomatisch für diese Wirkung und das dadurch konservierte Bild Gottscheds auch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts 48 49 50 51 52
Danzel, S. 2. Danzel, S. 3. Ulrich Friebel: Auf der Schwelle zur .neuen Zeit'. Zur Einschätzung Gottscheds und seiner Zeit im 19. Jahrhundert. In: Lessing Yearbook 12 (1981), S. 85-106, 94-101. Waniek. Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Büdungsleben. Kiel; Leipzig 1895-1897. Weitere wichtige Veröffentlichungen aus diesem Zeitraum sind Johannes Crüger: Joh. Christoph Gottsched und die Schweizer J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. Berlin 1882 (Nachdruck Darmstadt 1965); Johannes Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched's Lehrjahren auf der Königsberger Universität. In: Altpreußische Monatsschrift 29 (1892), S. 70-150 (auch als Separatdruck) und Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Festschrift zur Erinnerung an das 150 jährige Bestehen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen. Leipzig 1893.
Nachleben im Bild
387
dürfte eine Abbildung sein, die in der Familienzeitschrift Die Gartenlaube mitgeteilt wurde. Den ersten Plan für diese Zeitschrift entwarf der wegen Pressevergehens inhaftierte Journalist Ernst Keil (1816—1878) 1852 im sächsischen Landesgefängnis Hubertusburg. Nachdem Keil als engagierter politischer Beobachter des Vormärz zahlreichen Nachstellungen ausgesetzt gewesen war, konzipierte er eine Zeitschrift, die direkte politische Auseinandersetzungen vermeiden und sich kulturellen Themen im weitesten Sinne mit Einbeziehung der jüngsten naturwissenschaftlichen Entwicklung zuwenden und durch einen vertraulichen Tonfall eine unmittelbare Nähe zum Leser suggerieren sollte, „es soll Euch anheimeln in unserer Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemütlichkeit findet, die zu Herzen spricht". Das breitgefächerte Themenangebot, die Verknüpfung von Belehrung und Unterhaltung und die persönliche Ansprache an die Leser trafen offenbar den Publikumsgeschmack. Durch den erschwinglichen Preis und die konsequent beibehaltene Qualität der Abbildungen u. a. m. gelang es den Autoren und Redakteuren, die Gartenlaube zum angesehensten Massenmedium ihrer Zeit in Deutschland zu entwickeln.55 Die Auflagenzahlen sind beeindruckend. Überdies wurde die Zeitschrift nicht nur für die einmalige Lektüre genutzt. Nach dem Resümee der Herausgeber hatte sich die Gartenlaube zu einem Medium entwickelt, das man „als geistigen Hausschatz ... zu immer weiterem Gebrauche der heranwachsenden Familie"57 aufbewahrte. Die Gartenlaube verfügt über ein sehr großes Spektrum von Bilddarstellungen, die offenbar einem ebenso großen Bedarf auf selten der Leser entsprachen. Unter diesen Voraussetzungen geht man sicher nicht fehl, wenn man der Bilddarstellung Gottscheds einen hohen Aussagewert beimißt: Sie kann als Ausdruck einer verbreiteten Sicht und zugleich als deren Multiplikator angesehen werden. Es markiert schon die Perspektive der Wahrnehmung, daß die Darstellung Gottscheds einen Beitrag über Goethes Leipziger Studentenzeit illur
53 54
55
56 57
58
*-^
Den Hinweis auf die Abbildung verdanke ich Prof. Detlef Döring (Leipzig). Aus dem l. Jahrgang der Gartenlaube von 1853, zit. nach Johann Proelß: Zur Geschichte der Gartenlaube 1853 bis 1903. Leipzig 1903, Wiederabdruck in: Faycal Hamouda (Hg.): Der Leipziger Verleger Ernst Keil und seine „Gartenlaube". Leipzig 2005, S. 65—144, 77. Vgl. Marcus Koch: Nationale Identität im Prozess nationalstaatlicher Orientierung. Dargestellt am Beispiel Deutschlands durch die Analyse der Familienzeitschrift Die Gartenlaube von 1853-1890. Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 117-122. Vgl. Hamouda, Keil (Anm. 54), S. 12. Friedrich Hofmann: Vorwort. In: Friedrich Hofmann: Vollständiges Generalregister der Gartenlaube vom ersten bis achtundzwanzigsten Jahrgang (1853—1880). Leipzig 1882 (Nachdruck Hildesheim 1978), S. III-IV, III. Vgl. Birgit Wildmeister: Die Bilderwelt der „Gartenlaube". Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des bürgerlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Würzburg 1988.
388
RÜDIGER OTTO
striert.59 Die nach einer Zeichnung Theobald von Oers60 ins Bild gesetzte Szene aus Goethes Dichtung und Wahrheit zeigt den Moment, in dem Goethe und sein späterer Schwager Johann Georg Schlosser (1739—1799) Gottsched ihre Aufwartung machten und, vom Diener in das falsche Zimmer gewiesen, Gottsched im Morgenmantel ohne Perücke erblickten; der Diener eilte „mit einer großen Allongenperrücke" hinzu und „reichte den Hauptschmuck seinem Herrn mit erschrockener Miene. Gottsched, ohne den mindesten Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perrücke von dem Arm des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß dieser, wie es im Lustspiele zu geschehen pflegt, sich zur Thür hinaus wirbelte, worauf der Herr Professor seine Gäste gravitätisch zum Sitzen nöthigte und einen ziemlich langen Discurs mit gutem Anstände durchführte".61 Gottsched erscheint als ein latent gewalttätiger Riesenkerl, der zur komischen Figur wird, indem er seine Macht an einem unterprivilegierten Bediensteten ausübt und meint, mit einer unzeitgemäßen Perücke Eindruck auf seine Gäste machen zu können. Gerechterweise darf man nicht verschweigen, daß man ihn im Begleittext „den damals hochberühmten und später mit Unrecht geschmähten Professor Gottsched" nennt. An dem durch die Abbildung vermittelten Eindruck ändert das nichts. Das vielleicht auffälligste Detail des Bildes ist die auf dem Schrank stehende Büste, die augenscheinlich Voltaire darstellen soll. Gottsched hatte mit Voltaire Kontakt, als dieser im April 1753 einige Tage in Leipzig verbrachte, auch einige Briefe aus dieser Zeit sind überliefert.6 Die Büste soll freilich nicht an diese persönliche Bekanntschaft erinnern. Wenn nicht alles täuscht, bedient sie vielmehr das Klischee von Gottsched als plattem Nachahmer der Franzosen, das vor allem durch Lessing geprägt wurde. Gottscheds Haltung zu Frankreich war in Wirklichkeit ambivalent und durchaus nicht auf bloße Imitation ausgerichtet,63 sein späteres Urteil über Voltaire war von Vorbehalten 59
60
61 62 63
In der Gartenlaube erschienen noch zwei weitere Artikel, in denen Gottscheds Verdienste um die Vereinheitlichung der deutschen Orthographie (1880, S. 304—308) und um die Verbesserung des Theaters (1860, S. 678-680) berührt werden; vgl. Alfred Estermann: Inhaltsanalytische Bibliographien deutscher Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts. Band 3: Die Gartenlaube (1853-1880 [-1944]). 2 Teile. München u. a. 1995. Theobald Freiherr von Oer (l 807-1885); vgl. Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Band 25 (1931), S. 569. Max Ring: Der Dichter des Faust im Studentenrocke. In: Die Gartenlaube 1865, S. 740742, die Formulierung ist nahezu identisch mit dem Text von Dichtung und Wahrheit. Vgl. Danzel, S. 63-67. Am ausführlichsten informiert noch immer Theodor Süpfle: Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich mit besonderer Berücksichtigung der literarischen Einwirkung. Band 1. Gotha 1886; vgl. auch Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als
Nachleben im Bild
389
bestimmt.64 Zu einer Zeit entwickelter nationalistischer Stereotype, in der insbesondere die Gegensätze zu Frankreich gepflegt wurden, hatte die Charakterisierung Gottscheds als Franzosenfreund vor allem eine zusätzliche denunziatorische Funktion. 1900 wurde in einer Rezension von Eugen Reicheis Gottsched-Denkmal festgehalten, daß bis zu dieser Stunde „Lessings höhnische Kritik" und „Goethes drastische Karikatur der , longeperücke"' die öffentliche Wahrnehmung Gottscheds geprägt hätten. 5 Die Darstellung in der Gartenlaube ist ein signifikanter Bestandteil dieser Wahrnehmung.
3. „Herr Reichel, der bekannte Gottschedprophet" Erst das Auftreten Reicheis, so der Rezensent, habe die Situation grundlegend verändert. In der Tat: Reichel wollte etwas anderes als eine differenziertere und ausgewogenere literaturhistorische Bewertung vornehmen. Er zielte auf eine grundsätzliche und programmatische Umwertung der Gestalt Gottscheds.66 Eugen Reichel (1853-1916) war gebürtiger Königsber-
64
65
66
Vermittler der französischen Aufklärung. In: Wolfgang Martens (Hg.): Zentren der Aufklärung III: Leipzig Aufklärung und Bürgerlichkeit. Heidelberg 1990, S. 179-204; Werner Krauss: Gottsched als Übersetzer französischer Werke. In: Werner Krauss: Das wissenschaftliche Werk. Band 7, 3: Deutschland und Spanien. Hg. von Martin Fontius. Berlin; New York 1996, 274-282. Über die Gründe und Strategien der Frankreichkritik Gottscheds vgl. Christiane Maaß: Die Rolle der Sprachgeschichte in Gottscheds Auseinandersetzung mit Frankreich. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 136 (2004), S. 15&-177. Vgl. H. A. Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Heidelberg 1917, über die Haltung des späten Gottsched S. 635—639; Roland Krebs: „Schmähschrift wider die weiseste Vorsehung" oder „Lieblingsbuch aller Leute von Verstand"? Zur Rezeption des ,Candide' in Deutschland. In: Ernst Hinrichs; Roland Krebs; Ute van Runset: „Pardon, mon eher Voltaire ...". Drei Essays zu Voltaire in Deutschland. Göttingen 1996, S. 87-124, 90-92. Karl Berger: Rezension von Eugen Reichel: Ein Gottsched=Denkmal. In: Der Kunstwart 14, l (1900/1901), S. 33. Er fügt hinzu: „Die Gottsched=Belächlung und Beschimpfung wurde geradezu ein literarischer Sport für große und kleine Geister, als Typus der Nüchternheit und Langeweile figurierte der .steife Pedant' im Schattenreiche der Literaturgeschichte". S. 33f. Etwa zu gleicher Zeit wurde auch von anderer Seite, allerdings nicht in aktualisierender Absicht, das Gewicht der Wirkung Gottscheds neu vermessen: Jakob Bleyer entdeckte im Korpus der an Gottsched gerichteten Schreiben zahlreiche Briefe aus Wien, und da er in den Wiener Korrespondenten Vermittler eines von Gottsched ausgehenden Impulses sah, der die Kaiserin Maria Theresia zu sprachreformerischen Bestrebungen veranlaßte, wurde Gottsched zum Inaugurator des neueren deutsch-ungarischen und ungarischen Geisteslebens. „Bleyer suchte durch die unbekannten Briefe an Gottsched hinter das Geheimnis zu kommen, das den Ursprung der neuen ungarischen Literatur verdeckt." Theodor Thienemann: Jakob Bleyer als Germanist. In: Ungarische Jahrbücher 14 (1934) S. 3—23, 13. Er
390
RÜDIGER OTTO
get und lebte seit 1883 als Schriftsteller in Berlin.67 Seit etwa 1900 engagierte er sich für eine veränderte öffentliche Wahrnehmung Gottscheds.68 Reichel hielt 2ahlreiche Vorträge, veröffentlichte mehrere Bücher über Gottsched und arbeitete an einem Wörterbuch der Gottschedsprache, um dem im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm vernachlässigten Wortschatz Gottscheds zur Geltung zu verhelfen. Die Gottsched gewidmete literarische Produktion gipfelte in einer monumentalen zweibändigen Biographie. Für die Publikation der Bücher gründete er einen eigenen Gottsched-Verlag, in dem auch eine von ihm verantwortete Ausgabe von Gottschedwerken und eine Zeitschrift, die Gottsched-Halle, seit 1902 Kleine Gottsched-Halle™ erschien. Die vierteljährliche Publikation kann als Organ verstand Gottsched als „Wegbereiter der neuen deutschen Bildung, der für seine Zeit getan, was sie gebot". S. 11; vgl. auch György M. Vajda: Wien und die Literaturen in der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740—1918. Wien u. a. 1994, S. 21. 67 Vgl. Altpreußische Biographie 2 (1969), S. 545. 68 Reicheis erste selbständige Veröffentlichung über Gottsched erschien 1900. Hier stellte er einleitend fest: „Eine der hauptsächlichsten Tendenzen meiner Lebensarbeit bildet seit etwa 10 Jahren der Kampf für Gottsched." Eugen Reichel: Ein Gottsched-Denkmal Den Manen Gottscheds errichtet. Berlin 1900, S. VII. Demnach ist der Beginn seiner Ausrichtung auf Gottsched in die frühen 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zu setzen. In seiner ersten Veröffentlichung zum Thema ist Gottsched nur Teil einer Darstellung der ostpreußischen Literatur; vgl. Eugen Reichel: Die Ostpreußen in der deutschen Litteratur. Eine Studie. Leipzig: Reißner, 1892, S. 13-18 (Angabe nach Mitchell, Gottsched-Bibliographie [Anm. 86], S. 418f.); Reichel, Gottsched-Denkmal, S. IX räumt freilich ein, daß Gottsched ihm zu diesem Zeitpunkt „nur in dürftigen Bruchstücken bekannt war". Die öffentliche Wirksamkeit begann 1900 mit Blick auf den 200. Geburtstag Gottscheds. In Reicheis Diktion: „Dieser Tag aber war von mir zur Anbahnung einer gründlichen Umgestaltung der Meinung über Gottsched ausersehen. Ich sorgte rechtzeitig für Agitations-Artikel und setzte es durch, dass am Jubiläumstage selbst eine ganze Reihe von Festartikeln aus meiner Feder erschienen ... So erlebte ich die Freude, dass am 2. Februar die Blicke der Welt wieder auf den vergessnen Mann hingelenkt wurden." Reichel, Gottsched-Denkmal, S. VIII; vgl. auch Rieck, Eugen Reichel (Anm. 25), S. 233. 69 Eugen Reichel: Kleines Gottsched-Wörterbuch. Berlin 1902; das große Wörterbuch, das Gottscheds Wortschatz vollständig erschließen sollte, blieb ein Torso; im Vorwort zum ersten und einzigen Band klagte der von einem Augenleiden betroffene Reichel über Krankheit, finanzielle Erschöpfung und den mit dem Engagement für Gottsched verbundenen Kräfteverschleiß. Angesichts der Größe der Aufgabe — er habe etwa 50000 Wörter registriert, für die Buchstaben F-Z aber erst ein Fünftel der Quellen ausgewertet —, rechnete er nicht damit, das Werk, dessen erster Band bereits 982 Seiten umfaßte, selbst zu beenden; vgl. Eugen Reichel: Gottsched=Wörterbuch. Ehrenstätte für alle Wörter, Redensarten und Redewendungen in den Schriften des Meisters. Erster Band: A—C. Berlin 1909. 70 Gottsched-Halle. Vierteljahrschrift der Gottsched=Gesellschaft. 1. Jahrgang, Heft 1-4. 1902; 2. Jahrgang, Heft 1-4. 1903; Eugen Reichel (Hg.): Kleine Gottsched-Halle. Jahrbuch der Gottsched=Gesellschaft. Band 1-8. Berlin: Gottsched=Verlag, 1904-1912; Jahrhefte der Gottsched-Gesellschaft, Heft l^J (1912-1915); das letzte Heft umfaßte nur noch 12 Seiten. Im Gottsched-Verlag erschien auch die Kleine Bücherei der Gottsched-Gesellschaß mit dem Titelblattvermerk: „Nur für Mitglieder der Gottsched^Gesellschaft gedruckt". Die drei von 1913—1915 gedruckten Bändchen enthalten ausschließlich Produktionen Reicheis, Essays, ein Drama und Spruchdichtungen.
Nachleben im Bild
391
der Gottsched-Gesellschaft angesehen werden, die an Gottscheds Todestag, am 12. Dezember 1901, von Reichel und dem Schriftsteller und Geheimen Justizrat Ernst Wiehert (l 831-1902)71 gegründet wurde. Man fand zunächst monatlich, später in größeren Abständen zusammen. In der Gottsched-Halle und ihren Folgebänden sind die Aktivitäten der Gesellschaft penibel registriert, auch die Klagen über einen Mangel an Versammlungsfreude oder Spendenwilligkeit sind festgehalten und mit der latenten und offenen Aufforderung zu mehr Engagement verbunden. Das ist aber nur die Kehrseite einer Berichterstattung, die regelmäßig das Wachsen des Zuspruchs, die, zugespitzt formuliert, Ausbreitung des Gottschedreiches als ein epochales Geschehen zur Kenntnis gibt. Eine Reihe von Indizien sprechen für eine quasireligiöse Verehrung Gottscheds im Wirkungsradius Reicheis. In der Gottsched-Halle werden regelmäßig „Gottsched-Worte" abgedruckt. Diese isolierten Sentenzen aus den Werken des Meisters konnten kaum dazu dienen, Autor und Werk einem besseren Verständnis in seinem historischen Kontext zu erschließen. Durch ihre Präsentation werden sie zu Losungen, die auf die Erbauung des Lesers abzielen. Als ein Rezensent feststellte, daß die von Reichel veranstaltete Gottsched-Ausgabe für wissenschaftliche Zwecke wertlos sei, da Reichel die Texte der einzelnen Werke aus verschiedenen Auflagen kompiliere und die Texte modernisiere, rechtfertigte Reichel sein Vorgehen mit der — ursprünglich religiösen - Unterscheidung von Buchstaben und Geist und fügte hinzu: „Es wäre mir ja eine Spielerey gewesen, mich bei meinen Ausgaben sklavisch an die alten Originaldrucke ... zu halten; aber ich habe die schwerere Aufgabe gewählt und auf Grund der verschiedenen alten Ausgaben kritisch das gewählt, was die lebendige Wirkung dieser Schriften (und auf sie darf und kann es mir allein ankommen) steigern muss". Von der Ignoranz gegen Grundsätze der Textdarbietung abgesehen: Reicheis Erklärung unterstellte einen uneingeholten und in die Gegenwart zu vermittelnden Bedeutungsgehalt der Ideen Gottscheds, und zugleich nahm er für sich in Anspruch, der autorisierte Vermittler dieses Gehaltes zu sein. Am Verhältnis zu seinem Gegenstand werden Freund und Feind unterschieden.73 Bezeichnenderweise bestand die Sammlung von Gottschedanhängern aus Schauspielern, Unternehmern, Beamten, Ingenieuren, Künstlern und vielen Frauen. Professionelle Germanisten waren wenige darun-
71 72 73
Heinrich Spiero: Schicksal und Anteil. Ein Lebensweg in deutscher Wendezeit. Berlin 1929,5.221. Gottsched-Halle 2 (1903), S. 71 f. „Wie alle Fanatiker einer Idee beurteilte er schließlich jeden nach seiner Stellung zu ihr, und das verwickelte ihn dann auch, und gerade mit freundwilligen Helfern, immer wieder in vergeblichen Streit". Spiero, Schicksal (Anm. 71), S. 222.
392
RÜDIGER OTTO
ter. Demonstrativ wurden Mitgliederverzeichnisse oder Mitgliederzahlen der Gesellschaft veröffentlicht, auch Reicheis Veröffentlichungen beginnen mit mehrseitigen Subskribentenlisten: Zuerst erscheinen die Fürsten, dann Adlige, Städte, Bibliotheken, Vereine, zuletzt Privatpersonen nach dem Alphabet. Dieses Ostentative in der Mitteilung der wachsenden Zahlen und im Hinweis auf die Einbindung der höheren Stände der wilhelminischen Gesellschaft ist nicht primär ein Ausweis von Reicheis Eitelkeit, sondern Zentrum des Programms und Ziel seiner Agitation. Nicht zufällig bezeichnet er die Anhänger und die Veranstaltungen, die von ihm als Mobilitätszentrum ausgingen, mit dem Begriff der Bewegung, der in soziologischer Betrachtung Gruppen mit ausgeprägtem weltanschaulichgesellschaftspolitischen Wertbewußtsein bezeichnet, die eine „Strukturveränderung der Gesellschaft" anstreben.76 Zumindest die Fiktion einer solchen Veränderung erzeugt Reichel, wenn er die Vierteljahrschrift der Gottsched-Gesellschaft mit den markigen Worten einleitet: „Die Lawine 77 ^^ rollt." In einem Vortrag, „Die Gottsched^1 Bewegung", legte Reichel über sein Verständnis Gottscheds und die Gründe für sein Engagement in grundsätzlicher Weise Rechenschaft ab. Er sah in Gottsched „den feurigen Vaterlandsfreund, den Erretter und Befruchter, den trotzig vor ganz Europa für die Ehre und Würde deutschen Geistes = und Gemütslebens kämpfenden Vertreter unserer Sprache, den eigentlichen Begründer des hochdeutschen Sprachreichs, das eine notwendige Vorbedingung für die staatliche Einigung der deutschen Stämme gewesen ist."78 Da es - so Reichel — nicht gleichgültig sei, wer im Gedenken eines Volkes präsent ist, wurde für ihn die Durchsetzung seiner an den Namen Gottsched gebundenen Idee zu einer nationalpädagogischen Mission. Die Wiedergutmachung des an Gottsched begangenen Unrechts diene „zum Heile vor allem für unser Volk selbst". Gottsched habe gewußt, „dass die Macht und Größe eines Volkes an die Vollendung und Ausbreitung seiner Sprache gebunden ist. Er aber wollte, dass die Deutschen ein einiges, großes und mächtiges Volk würden".80 Die Normierung und Durchsetzung einer einheitlichen deutschen Sprache war folglich Vorbedingung der politischen Einigung und nach Reichel von Gottsched auf dieses politische Ziel 74 75 76 77 78 79 80
Vgl. z. B. Gottsched-Halle l (1904), S. 96-98; 3 (1906), S. 92-96. Vgl. Eugen Reichel: Gottsched der Deutsche. Berlin 1901; Reichel: Gottsched. Berlin 1908 und 1912. Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. 4. Auflage. Stuttgart 1994, S. 98. Gottsched-Halle l (1902), S. 1. Eugen Reichel: Die Gottsched=Bewegung. Vortrag, gehalten am 2. Februar 1902. In: Gottsched-Halle l (1902), S. 65-75, 68. Reichel, Gottsched=Bewegung (Anm. 78), S. 68. Reichel, Gottsched ^Bewegung (Anm. 78), S. 71.
Nachleben im Büd
393
hin konzipiert. Ohne Gottsched, der im übrigen vor dem Erbfeind Frankreich gewarnt habe, wäre „kein Bismarck und kein deutsches Reich möglich gewesen".81 Reichel nimmt den in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entfalteten Gedanken auf, wonach die kulturelle nationale Identität als Voraussetzung und Movens des politischen deutschen Nationalstaats zu verstehen ist, und stilisiert Gottsched zur Leitfigur dieser kulturellen Antizipation. Gleichzeitig löst er Gottscheds gegen die Frankophilie der höfischen und die auf Latinität fixierte Tradition der gelehrten Gesellschaft gerichteten Aktivitäten zur Emanzipation der deutschen Nationalkultur aus ihrem historischen und sozialen Konstellation, und macht Gottsched zum Bürgen des für die wilhelminische Gesellschaft charakteristischen Nationalbewußtseins mit seinen frankophoben Einschlägen. Reichel sieht Gottsched allerdings nicht nur als Repräsentanten des deutschen Nationalgedankens im außenpolitischen Kontext, er empfiehlt ihn auch als Zuchtmeister gegen Labilität und Orientierungslosigkeit, die Reichel als Gefahr unter seinen Zeitgenossen diagnostiziert. Hier insbesondere scheint für ihn eine Aktualisierung Gottscheds möglich und nötig zu sein, da das deutsche Volk „eines Gottsched seit 150 Jahren vielleicht nie so sehr bedurft hat, wie heute".83 Daß Reichel seine Werke als Gottsched-Denkmal bezeichnet und daß er verschiedene zeitgemäße Ausdrucksformen des öffentlichen Gedenkens, auf die im einzelnen unten einzugehen ist, für Gottsched durchzusetzen bestrebt ist, verweist auf eine allgemeine Zeiterscheinung. Die Suche nach einem Nationaldenkmal und die mit wachsender Intensität betriebene Errichtung von (Kaiser- bzw. Bismarck-)Denkmälern sind für das 19. Jahrhundert und insbesondere für die Jahre nach der Reichseinigung symptomatisch. Man geht sicher nicht zu weit, wenn man Reicheis Konzept und die daraus folgenden Titel seiner Bücher in den Kontext dieser Denkmalaktivitäten stellt. Ist Reichel in diesem Punkte keine singuläre Gestalt, sondern Repräsentant oder Teilhaber eines allgemeinen Trends, so steht er mit der Proklamation Gottscheds zum nationalen Heros allein. Die Reaktion auf sein Vorgehen war unterschiedlich. Einerseits trug die 81 82
83 84
Reichel, Gottsched=Bewegung (Anm. 78), S. 73. Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Kultur als Instrument der Legitimation bürgerlicher Hegemonie im Nationalstaat. In: Claudia Rückert und Sven Kuhrau (Hg.): „Der Deutschen Kunst ...". Nationalgalerie und nationale Identität 1876-1998. Amsterdam 1998, S. 15-29,15. Eugen Reichel: Gottsched der Deutsche Dem deutschen Volke vor Augen geführt. Berlin: Gottsched=Verlag, 1901, S. XIII. Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529-585; Wolfgang Hardtwig: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871—1914. In: Wolfgang Hardtwig: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500—1914. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1994, S. 191-218.
394
RÜDIGER OTTO
monomanische Überhöhung Gottscheds zum geistigen Wegbereiter der Reichsgründung zur Reserviertheit gegen Reicheis Enthusiasmus bei - in der Gottsched-Halle wurden kritische Stimmen regelmäßig vorgeführt und ins Unrecht gesetzt, Unfreundlichkeiten gegen Gottsched als „Attentat" bezeichnet. Andererseits gab es Stimmen, die Reichel Respekt zollten, auch wenn sie nicht wie Rudolf Steiner (1861-1925), der Begründer der Anthroposophie, Reicheis Sicht Gottscheds ohne Einschränkung teilten und in Reichel den freien autonomen Geist feierten, der gegen gedankenlos wiederholte Vorurteile antritt. Um ein ausgewogenes Urteil über die Resonanz auf die Bestrebung Reicheis zu finden, müßte man mit einer Auswertung der in seinen Publikationen kontinuierlich mitgeteilten Urteile und der zahlreichen bibliographisch gut erfaßten Rezensionen seiner Werke beginnen. Soviel aber wird man nach der Kenntnis einzelner Urteile festhalten können: Reichel hat zumindest das Bewußtsein dafür geweckt, daß die Sicht auf Gottsched weithin durch wenige Stereotype geprägt war, die ohne nennenswerte Beschäftigung mit dem Gegenstand kolportiert wurden, und insofern eine Revision in Gang gesetzt. Andererseits war sein völliger Verlust vertretbarer Maßstäbe eher abschreckend als förderlich.87 Sein Versuch, Gottsched einen exzeptionellen Platz in der Galerie der Gründergestalten des Deutschen Reichs zu geben, ist fehlgeschlagen, so sehr er das nötige Instrumentarium der Mythenbildung einzusetzen bemüht war. „Die kognitiven, emotionalen und ästhetischen Erwartungshorizonte bestimmen weitgehend, was in den öffentlichen kommunikativen Haushalt Eingang findet und was nicht." Sein Engagement stieß auf einen für seine Sicht Gottscheds gänzlich unvorbereitete und letztendlich, wie die Ausführungen zu den nationalen Heroengalerien unten zeigen werden, nicht aufnahmewillige Öffentlichkeit. Die Intensität und Entschlossenheit seines Vorgehens ist freilich gleichwohl beeindruckend. Nach der Gründung der Gottsched-Gesellschaft am 12. Dezember 1901 wurden „mehr denn 1000 WerberundQQ
85
86
87
88
Rudolf Steiner: Rezension von Reichel: Ein Gottsched-Denkmal. In: Magazin für Literatur 69 (1900), Nr. 32-34; Wiederabdruck in: Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902. Dornach 1971, S. 401-415. Steiner stand mit Reichel in persönlicher Verbindung; er hat gelegentlich vor der Gottsched-Gesellschaft referiert; vgl. Kleine Gottsched-Halle l (1904), S. 69; 3 (1906), S. 79f. Vgl. Phillip M. Mitchell: Gottsched-Bibliographie. Berlin; New York 1987, S. 328-330 u. ö.; Rezensionen werden gelegentlich auch von Reichel selbst wiedergegeben; vgl. Kleine Gottsched-Halle 6 (1909), S. 58-63. Rieck, Eugen Reichel (Anm. 25) betont mit Hinweis auf Reicheis spätere Klagen dessen Wirkungslosigkeit und führt diese auf die maßlose Bedeutungsüberhöhung Gottscheds durch Reichel zurück. Andreas Dörner: Politischer Mythos und symbolische Politik: Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos. Opladen 1995, S. 96.
Nachleben im Büd
395
schreiben, Hunderte von Briefen und Postkarten" versandt und Anzeigen in Zeitungen geschaltet. In Verfolgung seines Ziels einer sichtbaren Präsenz Gottscheds setzte er sich dafür ein, Straßen nach Gottsched zu benennen, was ihm in Berlin und anderswo dank landsmannschaftlicher Verbindungen auch gelang. Noch im vorletzten Jahrheft der Gesellschaft, das im ersten Kriegsjahr und ein Jahr vor Reicheis Tod erschien, konnte er wenigstens die Absichtserklärung des Halleschen Magistrats zu Einrichtung einer Gottschedstraße vermelden und aus Bad Lauchstädt die Nachricht mitteilen, daß man „sich entschlossen hatte, noch in diesem Herbst den beliebten, von Gottsched gern besuchten, Badeort mit einer Gottschedstraße, einer Gottsched=Eiche und einer Gedenktafel zu schmücken". Zweifellos hatte Reichel die Planung durch persönliche Kontakte angeregt: Der Versuch, Gottscheds Wirkungsorte zu entsprechenden Schritten zu motivieren, ist mehrfach zu beobachten. Da in Weißenfels eine ganze Reihe von Korrespondenten Gottscheds im damaligen akademischen Gymnasium ansässig waren und eine Filiale der von Gottsched maßgeblich geprägten Alethophilengesellschaft93 gegründet worden war, bot Reichel an, „was sich an Beziehungen zu Weißenfelser Persönlichkeiten in Gottscheds Schriften findet", zusammenzustellen, um eine Gedenktradition zu beleben.94 In diesen Rahmen dürfte das Projekt 89 90
91 92
93
94
Gottsched-Halle 1902, S. 126. Vgl. den Bericht über seinen Erfolg in: Kleine Gottsched-Halle 4 (1907), S. 66; Reichel „veranlaßte die Benennung von Straßen in Berlin, Hamburg, Königsberg nach Gottsched". Spiero, Schicksal (vgl. Anm. 71), S. 221. Es trägt skurrile Züge, daß Reichel künftig für die Mitglieder der Gottsched-Gesellschaft Zeitungsmeldungen kolportierte, in denen die Gottschedstraßen erwähnt wurden, zumal es sich um meist um Unglücksfälle handelte; vgl. z. B. Jahrhefte der Gottsched=Gesellschaft l (1912), S. 9. Jahrheft der Gottsched-Gesellschaft 3 (1914), S. 13. Reichel befürchtete ein Scheitern des Planes durch den Kriegsausbruch. Möglicherweise kann anhand des Reichel-Nachlasses in der Berliner Staatsbibliothek ein umfassender Überblick über die Aktivitäten gewonnen werden; vgl. Ludwig Denecke: Die Nachlässe in den Bibliothek der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage bearb. von Tilo Brandis. Boppard 1981, S. 294. Stefan Lorenz: Wolffianismus und Residenz. Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Weißenfels. In: Detlef Döring und Kurt Nowak (Hg.): Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650-1820). Teil III. Stuttgart; Leipzig 2002, S. 113144. Vgl. das Schreiben an einen Weißenfelser Briefempfänger: „Schönberg d. 20.12.04/ Sehr geehrter Herr! Wenn Ihnen die Sache nicht allzu eilig ist, so will ich Ihnen gern alles zusammenstellen, was sich an Beziehungen zu Weißenfelser Persönlichkeiten in Gottscheds Schriften findet. Da ich sehr augenleidend bin und in diesen kurzen Tagen kaum den dringensten Pflichten nachkommen kann; so wollen Sie die Güte haben Sich bis Ende Februar oder Anfang März gedulden. Es ist mir übrigens sehr schmerzlich daß gerade Weißenfels an der Gottsched=Bewegung anscheinend so gar keinen Anteil nimmt. Ließe sich dem nicht abhelfen? Sollte es nicht ein par [!] gebildete deutsche Männer sollen p] es keinen Verein dort geben, der geneigt wäre, der Gottsched-Gesellschaft beizutreten? Wenn auch
396
RÜDIGER OTTO
gehören, in Gottscheds ostpreußischer Heimat ein Denkmal zu errichten.95 Die Chancen dafür standen nicht schlecht, denn Reichel hatte einen namhaften Bildhauer für Gottsched gewonnen, Emil Hundrieser (1846— 191l).96 Als einer der angesehensten Künstler seiner Zeit schuf Hundrieser die gewaltige Berolina-Statue auf dem Berliner Alexanderplatz97 und das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. auf dem Kyffhäuser. Wie Reichel stammte er aus Königsberg und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gottsched-Gesellschaft. Seine beiden Gottsched gewidmeten Werke, der „Entwurf für das Gottsched=Denkmal für Ostpreußen" (Abbildung 5) und eine „Kolossalbüste Gottscheds" (Abbildung 6) wurden erstmals gezeigt, als der Künstler am 18. und 20. März 1900 seine neuen Arbeiten im eignen Atelier den „geladenen Kunstfreunden" präsentierte. Büste und Denkmalentwurf sind demnach bereits vor der Gründung der Gesellschaft entstanden, aber sie stehen im engen Zusammenhang mit Reichel. Die Büste wurde, wie in der Nachricht über die Atelierausstellung zu lesen ist, als „Dekoration für die Gottsched=Feier des Vereins für ,Förderung
die Gottsched=Gesellschaft und mit ihr die Gottsched=Sache von Jahr zu Jahr Fortschritte macht so fehlt doch noch viel./ Mit vorzüglicher Hochachtung/ Ihr ergebener/ Eugen Reichel". Weißenfels, Schloßmuseum, V-46-S. 95 Auch das, was außer seinem Kreis für Gottsched unternommen werden sollte, verfolgte und dokumentierte Reichel aufmerksam. Als im Januar 1910 eine Pressenotiz durch verschiedene deutsche Zeitungen ging, der „Interessenverband Lawsken-Juditten" plane in Gottscheds Geburtsort die Errichtung eines Gottsched-Denkmals, erkundigte sich Reichel bei dem Verband über den Stand der Dinge und erhielt am 23. März 1910 die Antwort, der Verband habe „sich vornehmlich mit der Anlage von Wegen und Beleuchtungszwecken zu befassen, während derartige ideale Bestrebungen wie die eines Gottsched=Denkmals erst in 2ter Linie stehen können./ Wir sind nicht abgeneigt uns für Ihre Ideen weiter zu begeistern". Süffisant kommentiert Reichel den Brief: „Man wird nun abwarten müssen, was die stille Begeisterung der hochverehrten Herren Landsleute da droben in dieser ,idealen' Angelegenheit zu Stande bringen wird." Kleine Gottsched-Halle 7 (1910), S. 51 f., 52. 96 Thieme/Becker (Anm. 60) 18 (1925), S. 137f.; Peter Bloch: Büdwerke 1780-1910. Aus den Beständen der Skulpturengalerie und der Nationalgalerie. Berlin 1990, S. 214f. Peter Bloch u. a. (Hg.): Ethos und Pathos. Die Berliner Bildhauerschule 1786-1914, Ausstellungskatalog. Berlin 1990, S. 130-133; Peter Bloch; Waldemar Grzimek: Die Berliner Bildhauerschule im neunzehnten Jahrhundert. Das klassische Berlin. 2. Auflage. Berlin 1994, Sp. 191 u. ö. 97 Vgl. die Abbildungen in Knut Brehm u. a. (Hg.): Stiftung Stadtmuseum Berlin. Katalog der Büdwerke 1780-1920. Köln 2003, S. 64 und 143. 98 Nr. 3058 der Wustnrten Zeitung enthielt aus Anlaß von Gottscheds Geburtstag einen Beitrag von Hundriesers Bruder Reinhold Hundrieser über die neueren Bestrebungen zugunsten Gottscheds. Unter anderem erfolgte der Hinweis auf die Gründung der GottschedGesellschaft. „Männer, wie Houston Stewart Chamberlain, Prof. Dr. Karl Gaedertz, Maler Hermann Hendrich, Bildhauer Prof. Emil Hundrieser, Max Kretzer, Prof. Bruno Meyer, Eugen Reichel, Maler Franz Stassen, Dr. Heinrich Vierordt, Geh. Justizrath Dr. Ernst Wiehert, der der Gottsched=Gesellschaft durch den Tod leider so bald entrissen wurde, gehören letzterer seit dem Tage ihrer Gründung an." Illustrirte Zeitung 118 (1902), Nr. 3058 vom 6. Februar, S. 190.
Nachleben im Büd
397
der Kunst"'geschaffen." Eine Anzeige dieser Feier vom 6. März vermerkt: „Den Mittelpunkt des Abends bildete die Festrede, die Eugen Reichel hielt. Sie behandelte das Thema: .Gottsched, ein Kämpfer für Aufklärung und Volksbildung'." Eine Abbildung der Büste schmückte das GottschedDenkmal™ Reicheis erstes Werk über Gottsched, und als in der in Leipzig und Berlin erscheinenden Illustrirten Zeitung, der ersten Zeitung, die Illustrationen im Titel verwendete, Hundriesers Bruder Reinhold über die Gründung der Gottsched-Gesellschaft unterrichtete, war in derselben Ausgabe eine ganzseitige Abbildung der Büste im großen Format enthalten. 3 1900 veröffentlichte Reichel noch ein Kleines Gottsched-Denkmal mit einer Anzeige, die „Gottsched-Gedenkkarten" als „Rarität für Sammler" anpries. Als Motive der beiden Karten standen Hundriesers Kolossalbüste und sein Denkmalentwurf zur Verfügung.104 Es scheint, daß Hundriesers Werke, wenn sie nicht geradezu auf Reicheis Anregung zurückgehen, doch in dessen Programm bruchlos vereinnahmt wurden. Was im weiteren Verlauf zur Errichtung des Denkmals in Ostpreußen unternommen wurde, ist nicht zu rekonstruieren. Die Gottsched-Halle enthält die eher beiläufige Mitteilung: „Auch die Denkmalsangelegenheit ist in der Stille betrieben worden; und wenn zunächst noch kein greifbares Ergebnis vorliegt, so darf doch darauf gerechnet werden, dass spätestens im Jahre 1916 ein Gottsched=Denkmal auf deutschem Boden stehen wird, an welchem die Ehrfurcht und Liebe der Nachwelt wird Kränze niederlegen können,
99
100 101 102
103
104
Die Kunst=Halle. Zeitschrift für Kunst und Kunstgewerbe 5 (1899/1900), S. 203f. Nr. 7 und 8. Die Auskunft, Hundriesers Büste sei 1902 im Auftrag der „Gottsched-Gesellschaft in Leipzig" (Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland: Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988, S. 168) entstanden, trifft demnach so nicht zu. Der Bär. Illustrierte Wochenschrift 26 (1900), Nr. 11 vom 17. März, S. 183. Eugen Reichel: Ein Gottsched-Denkmal Den Manen Gottscheds errichtet. Berlin: Gottsched-Verlag, 1900, Frontispiz. Vgl. Jürgen Schlimper: Tabellarische Chronik zur Leipziger Zeitungsgeschichte. In: „Zeitung Drucken ist ein wichtiges werck". 350 Jahre Tagespresse in Leipzig. Leipzig 2000, S. 279-293, 283. Die Wustnrte Zeitung erschien 1843-1944; vgl. auch Christoph-Hellmut Manling: Die Leipziger Illustrirte Zeitung. Bemerkungen zu einer Quelle für die Erforschung der Oper im 19. Jahrhundert. In: Jürgen Schläder und Reinhold Quandt (Hg.): Festschrift Heinz Becker zum 60. Geburtstag am 26. Juni 1982. Laaber 1982, S. 302-324, 302. Illustrirte Zeitung 118 (1902), Nr. 3058 vom 6. Februar, S. 189 und 190; Hundrieser wies in diesem Zusammenhang auch auf den Beitrag hin, der zum 200. Geburtstag in derselben Zeitung erschienen war; vgl. Illustrirte Zeitung 116 (1900), Nr. 2953 vom 1. Februar, S. 161, zum Verfasser vgl. Mitchell, Gottsched-Bibliographie (Anm. 86), S. 322; der Beitrag enthielt Abbildungen Gottscheds und seiner Frau (Otto, Gottsched [Anm. 1], Nr. 14 und Nr. 21); eine weitere Abbildung der Büste in: Ostpreußische Woche. Königsberger Illustrierte Zeitung Nr. 21 vom 22. Februar 1922, S. 314. Eugen Reichel: Kleines Gottsched-Denkmal Dem deutschen Volke zur Mahnung errichtet. Berlin: Gottsched-Verlag, 1900, letzte Seite, nicht paginiert.
398
RÜDIGER OTTO
wenn 150 Jahre seit dem Tode des Meisters verstrichen seyn werden."105 Die Prognose bewahrheitete sich nicht. Ob dies an Hundriesers frühem Tod oder an dem von Reichel resigniert beklagten Desinteresse an Gottsched lag, ist nicht ohne weiteres zu klären. Im Nachruf auf Hundrieser schrieb Reichel: „Sein letzter Wunsch, für die Heimat ein Gottsched=Denkmal schaffen zu dürfen, gieng ihm (und uns) nicht in Erfüllung." Aber auch die im Anschluß daran vorgebrachte Erwartung, „vielleicht entschließt sich nun endlich Königsberg oder Juditten den größten, edelsten Sohne Ostpreußens (um nicht zu sagen: Deutschlands) wenigstens durch die Aufstellung der gewaltigen Gottschedbüste unseres entschlafenen Mitglieds zu ehren", °6 erfüllte sich nicht. Wie es scheint, scheiterte die Ausführung am Mangel finanzieller Unterstützung und am Krieg. Mit Reicheis Tod 1916 war das Interesse an der Angelegenheit erloschen. Die beiden Gottsched-Werke Hundriesers sind offenbar verlorengegangen.107 Immerhin existieren die Abbildungen, die hier eine Bildwiedergabe der beiden Kunstwerke ermöglichen. Da Reichel an Gottscheds Wirkungsorten wie Königsberg und Weißenfels ein stärkeres Engagement für seinen Helden und Zeichen der Erinnerung anmahnte, nimmt es nicht wunder, daß auch Leipzig in seine Aktivitäten einbezogen wurde. Für die Benennung von Straßen nach Gottsched mußte er sich in Leipzig nicht bemühen. Eine Gottschedstraße existierte bereits seit 188l.10 In 105 Gottsched-Halle, l (1902), S. 126; in den vorangegangenen Mitteilungen der GottschedGesellschaft hatte Reichel schon seinen Plan vorgestellt, in Gottscheds Geburtsort Juditten ein Zeichen des Gedenkens zu setzen, „und ich wüsste nicht, was in diesem Falle passender seyn könnte, als eben eine lebendige, sich alljährlich mit neuem Grün schmückende deutsche Eiche, die einen Gedenkstein zu Ehren des großen Sohnes Judittens überschattet". Zusammen mit dem Ortsvorsteher und dem Judittener Pfarrer, einem Nachfolger von Gottscheds Vater, hatte Reichel bei einer Vortragsreise in Sachen Gottsched bereits einen Platz ausgewählt. Reichel hoffte, durch die Spendenbereitschaft der ostpreußischen Landsleute binnen kurzem die erforderlichen 2000 Mark zu bekommen und „den Gottschedstein noch in diesem Sommer vor die Gottschedeiche zu setzen". Gottsched-Halle l (1902), S. 62. 106 Jahrhefte der Gottsched=GeseUschaft l (1912), S. 8. 107 In einem einschlägigen Werk wird nur die „Büste Johann Christoph Gottsched für das nur geplante Juditter Denkmal", nicht aber der Denkmalentwurf selbst erwähnt und notiert: „Schicksal: Unbekannt". Herbert Meinhard Mühlpfordt: Königsberger Skulpturen und ihre Meister 1255-1945. Würzburg 1945, S. 92. Vgl. auch Gabriele Pätzold: Emu Hundrieser 1846-1911. Das Schaffen eines Bildhauers in Berlin. Berlin, Freie Universität, Kunsthistorisches Institut, Magisterarbeit, 1987, S. 29 f. mit Anmerkungen; Hinweise über den Verbleib der Werke sind nicht enthalten. Herrn PD Dr. Hartmut Hecht, Berlin, danke ich herzlich für die Hilfe bei der Bereitstellung der Informationen aus der Magisterarbeit G. Pätzolds. 108 Leipzig, Stadtarchiv, Tit. XLVIII B (K) Nr. 25 Band 3, Bl. 79-80; 1934 wurde der Name auch auf den Abschnitt der vorherigen Poniatowskistraße ausgedehnt; vgl. Gina Klank; Gernot Griebsch: Lexikon Leipziger Straßennamen. Leipzig 1995, S. 87. Am 26. November 1927 erhielt die 1923 gegründete III. Höhere Mädchenschule, die als eine „der mo-
Nachleben im Bild
399
einem Schreiben an den Rat der Stadt Leipzig vom Ende des Jahres 1901 plädierte er jedoch dafür, 1902 am Goldenen Bären,109 dem 1736 fertiggestellten Haus des Verlegers Bernhard Christoph Breitkopf (1695-1777), in dem Gottsched von 1736 bis zu seinem Lebensende gewohnt hatte,110 „entweder am 2. Februar, dem Geburtstage Gottscheds, oder am 18. Februar, (dem Tage, an dem Gottsched vor 178 Jahren zuerst den Boden Leipzigs betrat, an dem er vor 168 Jahren zum ersten Male als ordentlicher Professor der Philosophie seines Amtes waltete) eine Gedenktafel anbringen zu lassen."111 Der Stadtrat befürwortete den Plan, konnte aber nichts tun, da das Gebäude im Besitz der Universität war. Deren Rektor präsentierte dem akademischen Senat das Ansinnen mit der Bemerkung: „Meines Bedünkens wäre Herr Reichel, der bekannte Gottschedprophet, kurzerhand abzuweisen, da das betr. Haus zum Abbruch bestimmt ist und 110 wahrscheinlich im nächsten Jahren fallen wird." Der Senat folgte diesem Votum nicht. Zur Übernahme der Kosten für eine Tafel war er jedoch auch nicht bereit. Zugleich behielt man sich das Recht einer Mitbestimmung über die Inschrift vor. Infolgedessen wurde in Reicheis Textentwurf eingegriffen — die mißliebigen Stellen wurden mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt bzw. gestrichen, und in dieser Gestalt ist der Text im Universitätsarchiv überliefert: „An dieser Stätte hat Johann Christoph Gottsched vom Jahre 1736 bis zu seinem am 12. Dezember 1766 erfolgten Tod gewohnt und [zum Heile des deutschen Schrifttums, des deutschen Volkes und Vaterlandes ruhmvoll] gewirkt. Leipzig 1902 ... Akademischer Senat der Königl. Universität und der Rat der Stadt Leipzig".
109 110
111 112
dernsten und fortschrittlichsten Schulens Sachsens" bezeichnet wurde (Die Gottschedschule l [1930/31], Nr. l, S. 4), auf Beschluß des Leipziger Rats den Namen Gottschedschule. Bei dieser Gelegenheit erhielt die Schule eine Kopie des modifizierten Schorerschen Gottsched-Gemäldes (Otto, Gottsched [Anm. 1], Nr. 18) von Walther Kühn. Vermutlich ist die Kopie des Haußmann-Gemäldes der Frau Gottsched ebenfalls von Kühn; beide Gemälde hingen im Rektorzimmer der Schule; vgl. die Abbildungen in Die Gottschedschule l (1931), Nr. 2, S. l und 2 (1931), Nr. 3, S. 1. Der Festvortrag anläßlich der Namensgebung geht von den berühmten Stellen aus, in denen Gottsched der Nachwelt bekannt geblieben ist, Lessings 17. Literaturbrief und Goedies Dichtung und Wahrheit, vgl. Regine Strümpell: Gottsched und seine Bedeutung für die deutsche Bildung. In: Gottschedschule: Städtische höhere Mädchenschule mit Studienanstalt i. E. Leipzig [1928], S. 6—9, 7. Über die Besitzverhältnisse vgl. Ernst Müller: Häuserbuch zum Nienborgschen Adas. Berlin 1997, Nr. 734. Vgl. Oskar von Hase: Breitkopf & Härtel. 5. Auflage. Wiesbaden 1968, Band l, S. 61f. Dort sind auch die verschiedenen Jahresdaten für die Vollendung des Hausbaus angegeben. Leipzig, Universitätsarchiv, Rep. Ill/V Nr. 103 Acta die Anbringung einer GottschedGedenktafel am sogen. „Goldenen Bären" betr., Bl. l r. Rep. III/V Nr. 103 (Anm. 111), Bl. Ir
400
RÜDIGER OTTO
Man verwahrte sich gegen die Angabe der Institutionen, die die Zuständigkeit ausdrücklich abgelehnt hatten, und wollte das Werturteil nicht stehenlassen. Da außerdem noch nicht einmal garantiert wurde, daß die Tafel nach dem Abriß an gleicher Stelle wieder angebracht werden würde, erklärte Reichel, daß die Gottsched-Gesellschaft, „wenn sie schon die Kosten der Gedenktafel tragen soll, zu warten wünscht, bis der im Aus1 1" sieht stehende Neubau fertig sein wird". Der abschließende Aktenvermerk des Rektors vom 14. Mai 1902 lautete „Beschl. Ad acta: Weiterer Antrag abzuwarten".114 Soweit erkennbar, hat es keine neue Initiative Reicheis in Leipzig gegeben. Gleichwohl wurde eine von ihm ausgesprochene Empfehlung wenig später verwirklicht, ohne daß jedoch ein Zusammenhang zwischen der Ausführung und Reicheis Anregung erkennbar wäre. Reichel hatte vorgeschlagen: „Sollte der hohe Senat es für gut befinden, der einfachen Tafelplatte noch ein Reüefbildnis Gottscheds (über oder unter der Tafelplatte) anzugliedern, so würde das den Eindruck des Ganzen gewiß noch steigern."115 Nachdem das Gebäude nicht, wie ursprünglich angekündigt, abgerissen, sondern für den Historiker Karl Lamprecht „unter Verwendung der alten Raumeinteilung zum Institut für Kultur- und Universalgeschichte umgebaut"116 worden war,117 wurde ein 130 cm hohes Bronzerelief angebracht (Abbildung 7), der Name des Dargestellten war am unteren Rahmen vermerkt. Eine gleiche Tafel entstand für Johann Gottlieb Immanuel Breitkopf (1719-1794), den Sohn von Gottscheds Hausherren Bernhard Christoph Breitkopf. Die Inschrift auf der Ehrentafel zwischen den beiden Reüefbildern lautete: „1909/ Haus zum Goldenen Bären/ Errichtet 1736/ Im Dachgeschoss umgebaut 1799/ Bis 1867 Sitz der Breitkopfschen/ später Breitkopf & Härteischen Buchhandlung/ Bis 1767 im ersten Stockwerk/ Wohnung Gottscheds/ Goethe/ Besuchte als Leipziger Student/ Herrn Gottsched und verkehrte/ In der Familie/ Bernhard Christoph Breitkopfs/ und seines Sohnes/ Johann Gottlob Im113 Reichel an den Senat der Universität Leipzig, 23. Februar 1902, Rep. III/V Nr. 103 (Anm. 111), Bl. 13r. Reichel teilt mit, daß die Gottsched-Gesellschaft, „wenn sie schon die Kosten der Gedenktafel tragen soll, zu warten wünscht, bis der im Aussicht stehende Neubau fertig sein wird. Da es nützlich ist, auf solchen Gedenktafeln anzugeben, wer sie hat anbringen lassen, so bitten wir ergebenst, den Namen der Gottsched-Gesellschaft, als der Stifterin der Tafel auf die Tafel anbringen zu lassen". Unter der Rubrik „Mitteilungen der Gottsched-Gesellschaft" wurde der vorläufige Verzicht auf die Tafel wegen des geplanten Umbaus bekannt gegeben in: Gottsched-Halle l (1902), S. 61. 114 Rep. III/V Nr. 103 (Anm. 111), Bl. 13r. 115 Rep. III/V Nr. 103 (Anm. 111), Bl. 4r. 116 Müller, Häuserbuch (Anm. 109), Nr. 734. 117 Reichel wies auf die Eröffnung des Instituts in einer Notiz unter dem Titel „In Gottscheds Heim" hin und beschloß die Mitteilung mit dem Wunsch „Möge der Geist Gottscheds die nachweltlichen Verwalter seines Heimes seg[n]en." Kleine Gottsched-Halle 6 (1909), S. 26.
Nachleben im Büd
401
manuel". Urheber der Bronzen bzw. der Tafel war der Leipziger Bildhauer Artur Volkmann (l 851-194l),119 finanziert wurden die Arbeiten von der Stadt Leipzig.120 Aus Datumsangaben geht hervor, daß die Bronzereliefs eigens für den Bezug des Hauses durch das neue Institut angefertigt worden waren. Da sie im Treppenhaus angebracht und damit für die Öffendichkeit nicht ohne weiteres zugänglich waren, sind sie in das zeitgenössische Verzeichnis Leipziger Denkmäler nicht aufgenommen worden.122 Zum letzten Mal wurde die Bronzetafel im Oktober 1944 im Nachtrag zu einem handschriftlichen Verzeichnis von Kunstgegenständen erwähnt, die in der Leipziger Moritzbastei vor einer geplanten Sprengung schwer bombengeschädigter Universitätsgebäude in Sicherheit gebracht werden sollten.1 Seither ist die Tafel verschollen. Es bleibt die vage Hoffnung, daß sie von einem Kunstliebhaber in sichere Verwahrung genommen wurde und eines Tages wieder den Weg in die Kunstsammlung der Leipziger Universität finden wird. Ansonst erinnert im öffendichen Raum Leipzigs eine Tafel an das Wirken Gottscheds und seiner Frau. Sie wurde anläßlich der Festveranstaltung zum 300. Geburtstag enthüllt, später am einstigen Wohnhaus in das Straßenpflaster eingelassen und wird nach der Errichtung des neuen Universitätsgebäudes voraussichtlich an 118 Vgl. die Fotographie, die allerdings das Gottsched-Relief nur schwach wiedergibt, in: von Hase, Breitkopf & Härtel (Anm. 110), Band l, S. 112 und 2, 2, S. 758. 119 Vgl. dazu Thieme/Becker (Anm. 60) 34 (1940), S. 521 f. und Franz Josef Neckenig: Das Problem der Form- und Inhaltsreduktion im künstlerischen Schaffen und theoretischen Denken deutscher Plastiker der Marees-Nachfolge — Adolf Hildebrand und Artur Volkmann. Berlin, Freie Universität, FB Geschichtswissenschaft, Dissertation, 1982; Anette Niethammer: Wie auf den Tag das Abendsonnenlicht... Hans von Marees" Meisterschüler Artur Volkmann (1851-1941). Nordhausen 2006. 120 Vgl. von Hase, Breitkopf & Härtel (Anm. 110), Band l, S. 112. 121 Der Umbau war 1908 beendet, denn der Direktor des Instituts, Karl „Lamprecht moved into his new quarters at the end of 1908". Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856-1915). New Jersey 1993, S. 352. Über die Ausstattung vgl. Matthias Middell: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung: Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990. Leipzig 2005, Band l, S. 216—240. Zur Entstehungszeit der Kunstwerke hinwiederum rindet sich die Notiz: „Reliefs (Bronze) von Joh. Gottlob Immanuel Breitkopf und Gottsched. 1908. Leipzig, im Treppenhaus des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte im .Goldenen Bär"'. Ludwig Volkmann: Die Familie Volkmann: Nachträge aus den Jahren 1895—1911. Leipzig 1911,5.167. 122 Vgl. Max Eschner: Leipzigs Denkmäler Denksteine und Gedenktafeln. Leipzig 1910. 123 Regierungsrat Schleinitz an den Rektor, 7. Oktober 1944: Nachtrag zum Verzeichnis vom 27. Juni 1944. Leipzig, Universitätsarchiv, Rep. I/I 173, Bl. 185r: „ ... Ein großes ovales Relief = Gottsched aus dem Goldenen Bär/ Eine Bronzegedächtnistafel für Goethe ...". Vgl. auch Annegrete Janda-Bux: Katalog des Kunstbesitzes der Universität Leipzig mit besonderer Berücksichtigung der Gelehrtenbildnisse. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der KarlMarx-Universität Leipzig 4 (1954/55), gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, H. 1/2, S. 169-197,171, Nr. 40 und 48.
402
RÜDIGER OTTO
gleicher Stelle wieder zu besichtigen sein. Um Gottscheds Zeitgenossen ist es besser bestellt: Leibniz (1646-1716), Bach (1685-1750) und Goethe (1749-1832) sind mit Denkmälern aus dem 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert vertreten. Dem von Schülern und Lesepublikum verehrten Geliert (1715—1769) wurden bald nach seinem Tod gleich mehrere Denkmäler errichtet,1 darunter das „älteste frei aufgestellte Dichterdenkmal in Deutschland", das von Adam Friedrich Oeser entworfen und 1774 ausgeführt wurde.127 Der Sockel des großen Geliert-Wandgrabmals in der alten Johanneskirche enthielt auf der rechten Seite 63 Namen. So viele Per124 Die Tafel ist abgebildet auf dem Einband von: Gotthard Lerchner (Hg.): Johann Christoph Gottsched zum 300. Geburtstag. Gelehrter, Theaterreformer und Schriftsteller der Aufklärung. Stuttgart; Leipzig 2000. 125 Vgl. Stefan Voerkel: Sächsischer Barock-Kantor und fabulierender Rokoko-Student — Zur Entstehungsgeschichte der Denkmäler für Bach und Goethe von Carl Ludwig Seffner. In: Ernst Ullmann (Hg.): „... die ganze Welt im kleinen ...": Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig. Leipzig 1989, S. 233—247; Grundlageninformationen in: Markus Göttin u. a.: Leipziger Denkmale. Beucha 1998. 126 Der Kult um Geliert wurde von den Zeitgenossen als beispielhaft und im Vergleich mit der Vernachlässigung anderer verdienstvoller Persönlichkeiten nicht ohne einen Anflug von Neid registriert; so konnte ein Verehrer Johann August Ernestis (1707—1781) fragen, „warum Leipzig und Sachsen und Teutschland, deren beste Schulen und Akademien ihre besten Lehrer aus der Schule des grossen Ernesti empfingen, warum Männer von Uiberfluß an Glücksgütern, deren Söhne Ernesti zu wichtigen und brauchbaren Gliedern des Staats badete, warum dankbare Schüler Ernestifs], das Grab desselben verfallen lassen und ihm nicht, wie dem teutschen Lieblings=Schriftsteller der Nation, Geliert, wenigstens zum dankbaren Andenken, ein marmornes oder ehrnes Denkmal setzen ...". Gottlob Friedrich Rothe: Etwas über Ernesti, über und für die Uebersetzung. In: Johann August Ernesti: Denkmäler und Lobschriften auf gelehrte, verdienstvolle Männer, seine Zeitgenossen, nebst der Biographie Johann Matthias Geßners in einer Erzählung für David Ruhnken. Aus dem Lateinischen übersetzt... von Gottlob Friedrich Rothe. Leipzig: Schwickert, 1792, S. III-XXVI, S. XXV. Gellerts Tod wurde in so zahlreichen Schriften betrauert, daß diese Publikationen schon wieder ein Gegenstand der Satire wurden; vgl. Moralische, Satyrische und Kritische Anatomie der Schriften, auf Herrn Professor Gellerts Tod. Frankfurt; Leipzig 1770: „Der plötzliche Tod des Hrn. Prof. Gellerts hat in der gelehrten Welt große Bewegungen verursacht. Große und kleine Geister bemühten sich um die Wette, Deutschland von dem Verlust zu überführen, den es durch sein Absterben erlitten hat. Alle Pressen wurden mit Schriften, wie im Sommer das Kraut durch Raupen, überschwemmt." S. 5. Auf 198 Seiten werden in dieser in drei Fortsetzungen erschienenen Schrift die Veröffentlichungen zum Tod Gellerts einer Analyse unterzogen. Über die Schwierigkeiten, Geld für ein Lessing-Denkmal aufzubringen, vgl. Gustav Friedrich Wilhelm Grossmann: Lessings Denkmal. Eine vaterländische Geschichte; dem deutschen Publikum zur Urkunde vorgelegt. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Axel Fischer. Hildesheim u. a. 1997. 127 Selbmann, Dichterdenkmäler (Anm. 99), S. 22. In den Anlagen an der Schillerstraße steht heute eine 1909 entstandene Nachbildung dieses Urnendenkmals; vgl. Eschner, Denkmäler (Anm. 122), S. 88; Volker Rodekamp (Hg.): Leipzig original. Stadtgeschichte vom Mittelalter bis zur Völkerschlacht. Katalog der Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig im Alten Rathaus, Teil 1. Leipzig 2006, S. 164. 128 Vgl. Heinrich Magirius u. a. (Bearb.): Stadt Leipzig. Die Sakralbauten. Band 2. München; Berün 1995, S. 859, Abbüdungen des Denkmals S. 860-862.
Nachleben im Büd
403
sonen fanden sich bereit, für die Erinnerung an Geliert zu spenden. Für Gottsched hat sich offenbar niemand interessiert, geschweige denn Geld gegeben. Er wurde vergessen. Als die Universität zum Jubiläum einen Festumzug veranstaltete, in dem an prominente Gestalten ihrer 500jährigen Geschichte erinnert wurde, war Gottsched nicht dabei. Immerhin: Der Leipziger Kalender nach dem Jubiläumsjahr macht diese Unterlassung wieder wett. In einer Serie von Porträtzeichnungen Erich Gruners (1881—1966) werden den einzelnen Monatskalendern gegenüber 12 berühmte Leipziger oder Wahlleipziger vom ersten lutherischen Superintendenten Johannes Pfeffinger (1493—1573) bis zu dem für Leipzigs industrielle Entwicklung maßgeblichen Unternehmer Karl Heine (1819-1888) abgebildet.130 Neben Leibniz und Christian Thomasius (1655-1728), neben Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) und Richard Wagner (1813-1883) hat hier endlich auch Gottsched (Abbildung 8) seinen Platz in einem Leipziger Olymp gefunden.
4. Gottsched — ein deutscher Mann? Als eine eigene Sorte können Bücher angesehen werden, die mit Titeln wie Deutsche Männer (und Frauen), Deutsche Köpfe., Galerie deutscher Dichter u. s. w. veröffentlicht wurden. Der Begriff der Galerie legt die Assoziation zur Ahnengalerie nahe, und das nicht zu Unrecht. Es geht hier wie dort um historische Vergewisserung, um die Konstruktion einer Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit, nur daß im Unterschied zur Ahnengalerie die Möglichkeit besteht, die Ahnen nach Belieben auszuwählen. Soweit ich sehe, gibt es keine Untersuchung, die sich mit dieser Art häufig, aber nicht zwangsläufig illustrierter Veröffentlichungen befaßt hat, und infolgedessen auch keine entsprechende Bibliographie. Für ein solches Unterfangen 129 Vgl. Die Jubelfeier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig. 985 Bilder nach photographischen Aufnahmen ... Leipzig 1909: An der Spitze des Umzugs wurde die Ankunft der Prager Studenten 1409 nachgebildet, Leibniz' Abreise aus Leipzig wurde dargestellt (S. 43), der Schauspieltruppe um Friederike Caroline Neuber wurde charakteristischerweise nicht ihr früher Förderer Gottsched als Dichter und Universitätsangehöriger zugesellt, sondern der jugendliche Lessing (S. 44), dessen in Leipzig entstandenes Stück Der junge Gelehrte von ihr aufgeführt wurde; vgl. auch Der historische Festzug anläßlich des 500jährigen Bestehens der Universitäts Leipzig in 25 kolorierten Vollbildern nach Originalen von Erich Grüner ... Leipzig 1909. 130 Leipziger Kalender 7 (1910), zum Monat Juni. Wiederabdruck in: Bernhard Riedel: Leipzig in Bildern. Ein neues Album hg. vom Leipziger Dürerbunde. Leipzig 1912, S. 21. 131 Außer den im folgenden Text genannten wurden folgende Werke konsultiert: Wilhelm Hennings (Hg.): Deutscher Ehren-Tempel. Bearbeitet von einer Gesellschaft Gelehrten. 13 Teile. Gotha 1821-1836; Deutschlands berühmte Männer in einer Reihe historischer Gemälde zur Ermunterung und Bildung der reiferen Jugend. 2. Auflage. 2 Bände. Leipzig
404
RÜDIGER OTTO
wären zunächst Eigenart und Kontur und die spezifische Differenz dieser Literatur gegenüber vergleichbaren Titeln festzustellen. Obwohl eine äußerliche Übereinstimmung vorhanden ist, sind sie von den Personenlexika, die in die Biographischen Archive eingegangen sind, zu unterscheiden. Auch die Personenlexika, gleich, ob sie nach regionalen oder fachlichen Gesichtspunkten aufgebaut sind, orientieren sich an dem Kriterium einer besonderen Leistung, die für die Aufnahme qualifiziert. Die lexikalische Erfassung geht einher mit der möglichst exakten neutralen Benennung der Leistung der betreffenden Personen und einer, sofern es sich um Gelehrte handelt, genauen Bibliographie ihres Werks. Dagegen verfolgt die hier in Rede stehende Literatur das Ziel einer speziellen Würdigung. Sie sollen als Vorbild, möglicherweise als Typus vorgeführt werden, der Leser und Betrachter soll nicht nur informiert, sondern zur Verehrung und, in den Grenzen des Möglichen, zur Nachahmung angeregt werden. Hubert Göbels, Herausgeber eines Reprints der vermutlich erfolgreichsten Veröffentlichung des Genres, stellt die Kontinuität zur pädagogischen Literatur des Aufklärungszeitalters heraus. Karl Theodor Gaedertz, der Verfasser des Buches, bekennt, er habe „in erster Linie" für den „jugendlichen Leser" geschrieben. Die aufklärungspädagogische Komponente liegt darin, daß Vorbild und Anschauung eine nachhaltigere erzieherische Wirkung erzielen als theoretische Moralvorschriften. So zutreffend diese pädagogikgeschichtliche Zuordnung ist, eine hinreichende Beschreibung dieses Literaturtyps liefert sie nicht. Zumindest ist sie als Kinder- oder 1835; Gustav F. Kühne: Deutsche Männer und Frauen. Leipzig 1851; Wilhelm Buchner: Deutsche Ehrenhalle. Die grossen Männer des deutschen Volkes in ihren Denkmalen. Darmstadt 1862; Hans F. Helmolt: Das Ehrenbuch des deutschen Volkes. Königstein i. T., Leipzig 1923; Franz Servaes: Deutsche Köpfe. Siebenunddachtzig Bildnisse großer deutscher Männer nach zeitgenössischen Meistern. Berlin 1924; Heinrich Spiero: Deutsche Köpfe: Bausteine zur Geistes- und Literaturgeschichte. 2. Auflage. Darmstadt; Leipzig 1927; Deutsche Männer. Eine Sammlung von Bildnissen berühmter Deutschen. Hg. von der Cigarettenfabrik BASMA. Dresden, ca. 1935; Bogislav von Selchow: Deutsche Köpfe im Zeitalter Friedrichs des Großen. Leipzig 1936; Wilhelm Schüssler: Deutsche Männer. 200 Bildnisse und Lebensbeschreibungen. Berlin 1938; Erwin Hölzele: Das Werden unseres Volkes. Ein Bildersaal Deutscher Geschichte. Stuttgart 1938. Auch Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen kann, wenn auch als Gegenentwurf, in diesen Zusammenhang gestellt werden; vgl. Deutsche Menschen: Eine Folge von Briefen. Ausgewählt und kommentiert von Walter Benjamin. Leipzig; Weimar 1979 (zuerst Luzern 1937). 132 Vgl. Bibliographie zu den Biographischen Archiven. München u. a. 1994. 133 Hubert Göbels: Nachwort. In: Hubert Göbels (Hg.): Dreihundert berühmte deutsche Männer. Bildnisse und Lebensabrisse (= Nachdruck von: Dreihundert Bildnisse und Lebensabrisse berühmter deutscher Männer. Begonnen von Ludwig Bechstein. Neu bearbeitet und fortgeführt von Karl Theodor Gaedertz. 5, Auflage. Leipzig 1890). Dortmund 1980,5.319-337,319-322. 134 Karl Theodor Gaedertz: Zur Geschichte des Buches. In: Dreihundert Bildnisse (Anm. 133), nicht paginiert.
Nachleben im Bild
405
Jugendliteratur nicht vollständig charakterisiert, da sie einen weitergehenden erzieherischen Anspruch und darüber hinausgehend das Ziel der Identitätsstiftung verfolgt. Die nationalpädagogische Ausrichtung wiederum unterscheidet sie von Bildwerken, die einen universellen Anspruch verfolgen und die Veranschaulichung großer Persönlichkeiten nicht an nationale Grenzen binden, wie das zeit- und raumübergeifende TextBildwerk Neuer Plutarch, oder Bildnisse und Biographien der berühmtesten Männer und Frauen aller Nationen und Stände (Abbildung 9)1 5 oder Woldemar von Seidlitz' Allgemeines historisches Porträtwerk. Als eines der frühesten Bildnisvitenbücher mit nationaler Ausrichtung kann wohl der von Jacob Brucker und Johann Jacob Haid veröffentlichte Ehren—tempel der Deutschen Gelehrsamkeit angesehen werden. Das ist insofern interessant, als mit dem Brucker-Haidschen Bilder=sal zur selben Zeit ein Werk erschien, das noch dem traditionellen Verständnis der Gelehrtenrepublik verpflichtet war.137 Die nationale Zugehörigkeit war für die Anerkennung des Bürgerrechtes in dieser Republik irrelevant. Nur die besondere individuelle Leistung, der Nutzen für das Gemeinwohl und die daraus resultierende Respektabilität und Nachahmungswürdigkeit qualifizierten für die Aufnahme. Im Vorwort zum Ehren—Tempel gab Brucker hingegen bekannt, daß namhafte Gelehrte ihn und Haid nach dem erfolgreichen Start des Bilder=sals aufgefordert hätten, ein ähnliches Werk nach nationalen Gesichtspunkten zu veröffentlichen. „Sie stellten uns vor/ Deutschland habe sich von dreyhundert Jahren her um die schönen und ernstlichen Wissenschafften so verdient gemacht/ daß man dessen Gelehrten gar wohl ändern Nationen entgegen stellen/ und die Ehre unsers Vaterlandes wider die Pralerey und Verachtung fremder Völcker behaupten könnte. Sie erinnerten/ daß bey der Menge von solchen Sammlungen/ welche Bildnisse der Gelehrten enthalten/ es dannoch noch an einer feh-
135 Neuer Plutarch, oder: Bildnisse und Biographien der berühmtesten Männer und Frauen aller Nationen und Stände; von den altern bis auf unsere Zeiten. Nach den zuverlässigsten Quellen bearbeitet von einem Vereine Gelehrter. 4 Bände. Pesth 1842—1846, Gottsched: Band 4, zwischen S. 208 und 209 (Abbildung) und S. 217-220 (Text); ein anderes Bildwerke der Zeit ignoriert Gottsched, obwohl unter den 420 von Kurzbiographien begleiteten Stichen zahlreiche seiner Dichter-Zeitgenossen vertreten sind; vgl. Bildnisse der berühmtesten Menschen aller Völker und Zeiten. Ein Supplement-Kupferband zu jedem biographischen Wörterbuch, besonders zu dem Conversations-Lexicon. Suite 1—35. Zwickau und Leipzig 1818-1832. 136 Woldemar von Seidlitz: Allgemeines historisches Porträtwerk. Eine Sammlung von über 600 Porträts der berühmtesten Personen aller Nationen von c. 1300 bis c. 1840. 6 Bände. München 1884—1890. Es gibt eine chronologische und eine berufsständisch geordnete Ausgabe des Werks, in dieser ist Gottsched in der Serie V—VII (Dichter und Schriftsteller, 1887) nach der Vorlage Reiffensteins (vgl. Otto, Gottsched [Anm. 1], Nr. 21) abgebildet. 137 Vgl. Otto, Gottsched (Anm. 1), Nr. 13.
406
RÜDIGER OTTO
le/ welche Deutschland dasjenige leiste/ was Perrault138 Franckreich geleistet hat." Nach Bruckers Darstellung sollte mit dieser Publikation eine Lücke geschlossen werden, da bislang noch kein Werk existiere, das Porträts nach dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zur deutschen Nation erfaßt und nicht bloß die Vertreter einzelner Reichsstädte, Universitäten oder Stände aufführt, wie es beispielsweise Friedrich Roth-Scholtz' Bildersammlung verdienter Drucker getan hatte.140 Auffällig ist der apologetische Charakter des Projekts: andere Völker sollen erfahren, daß auch Deutschland große Geister hervorgebracht hat. Die Motivation erinnert an Gottsched, der sich zeitlebens gegen einen tatsächlichen oder vermeintlichen Überlegenheitsanspruch insbesondere Frankreichs dazu aufgefordert fühlte, die Leistungen der Deutschen auf dem Felde von Kunst und Wissenschaft zur Geltung zu bringen.141 Noch sein Nöthiger Vorrath %ur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst tritt mit dem Anspruch auf, den Ausländern und den deutschen Bewunderern des Auslandes die Leistungen deutscher Dramatiker vor Augen zu führen, Gottsched legt über diesen Beweggrund ausführlich Rechenschaft ab.142 Tatsächlich scheint Gottsched auch die entscheidende Anregung für den 'Ehren—Tempel gegeben zu haben. Brucker schickte ihm den ersten Teil des Werks, das wie der Bi/äer=sa/ in Zehende, Teile mit je zehn Bildviten, unterteilt war, mit um „so größerm Vergnügen" zu, „da Selbige gleichsam die Hebamme dieser Arbeit geworden, indem ich mich ohne Dero Zuspruch, Vorschlag und Rath nimmermehr dazu würde entschloßen haben". Mit den Gelehrten, deren Aufforderung die Publikation nach dem Bekenntnis der Vorrede überhaupt erst in Gang gebracht hat, ist demnach zuallererst Gottsched gemeint, so daß man ohne große Übertreibung Gottsched als Geburtshelfer des Literaturtyps der national ausgerichteten Bild-Biographien ansehen kann. Ein besonderes Pathos der nationalen Verpflichtung ist dem Band allerdings fremd. Brucker läßt es bei dem 138 Charles Perrault: Les Hommes illustres qui ont paru en France pendant ce siecle Avec leurs portraits au naturel. Texte etabli... par David J. Culpin. Tübingen 2003 (zuerst 1696). 139 Jacob Brucker: Vorrede. In: Jacob Brucker und Johann Jacob Haid: Ehren=tempel der Deutschen Gelehrsamkeit, in welchem die Bildnisse gelehrter, und um die schönen und philologischen Wissenschafften verdienter Männer unter den Deutschen aus dem XV. XVI. und XVII. Jahrhunderte aufgestellt, und ihre Geschichte, Verdienste und Merckwürdigkeiten entworfen sind. Augsburg: Johann Jacob Haid, 1747, nicht paginiert. 140 Friedrich Roth-Scholtz: Icones Bibliopolarum et typographorum de Republica litteraria bene meritorum ... Pars secunda. Nürnberg; Altdorf 1729. 141 Vgl. Maaß, Sprachgeschichte (Anm. 63). 142 Gottsched: Vorrede. In: Gottsched, Nöthiger Vorrath (Anm. 10), S. br-c2v. 143 Jacob Brucker an Gottsched, Augsburg 18. Februar 1747, UBL, 0342, Band XII, Bl. 85-86, 85r. In der Rezension des Buches wies Gottsched seinerseits auf seine Anteilnahme hin; vgl. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 4 (1747), S. 220— 231,222.
Nachleben im Bild
407
Hinweis auf die Absicht des Ehren—Tempels bewenden, Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der Deutschen entgegenzutreten. In ganz anderer Weise ist das gegen Ende des Jahrhunderts veröffentlichte Pantheon der Deutschen von patriotischer Rhetorik erfüllt, ein aussagekräftiges Beispiel für die inzwischen erlangte Präponderanz des Nationalen. Es wurde vom Chemnitzer Verleger Karl Gottlieb Hofmann (1762-1799) begründet. Die Subskribentenliste wird als „Verzeichniß der patriotischen Beförderer des Pantheons der Deutschen" bezeichnet. Die Vorrede richtet sich „An die deutschen Patrioten", deren zu erwartender Beistand „ein solches Unternehmen bei beträchtlichem Kostenaufwand nicht einem ganz Ungewissen Schiksal überlassen" wird. Die Widmung an Kaiser Franz I. bedient sich der schon im Titel eingeführten sakralen Tönung: „Das Andenken des mit glänzenden Charakterzügen verherrlichten Deutschen Ruhms, unvergeßlicher Deutscher Geschichtsszenen und der Deutschen großen und edeln Geister, die der Stolz und die Zierde ihres Vaterlandes sind, gewährt eine Empfindung, die der ganzen Nation angehört, jedes deutsche Herz entflammt, den Patriotismus belebt, den Gemeingeist veredelt und aus der schönen Idee entspringt, daß die Deutschen ... nur eine Nation sind, und ein gemeinsames Vaterland haben." Die entscheidenden Elemente des Literaturtyps sind hier, was die Programmatik angeht, beieinander: Die Erinnerung ist selektiv. Sie gilt den großen Geistern, die nicht als problematische Naturen, sondern per se als untadelig angekündigt werden, diese Gestalten werden nicht so sehr als separate Individuen, sondern als Teil der Nation begriffen, die damit als etwas umfassenderes, eine Art corpus mysticum verstanden wird, an dem der einzelne im Vollzug dieser historischen Andacht partizipiert, um über sich selbst hinauszuwachsen. Teilnahmebedingung ist die nationale Zugehörigkeit, sowohl die der Leser als auch der Geehrten. Wie aber deren Leistung damit nicht mehr das alleinige Merkmal ist, das zur Würdigung führt, so wird die Leistung auch nicht mehr als ausschließlich individuelle Qualität zugerechnet. Vielmehr ist sie zugleich Ausdruck eines überindividuellen, in der nationalen Gemeinschaft verankerten und tradierten Geistes, dem sich der einzelne verdankt. Die erlesenen Personen sind Repräsentanten derselben Nation, der der Betrachter zugehört, und so wird suggeriert, daß zwischen Helden und Betrachter ein untergründiger Zusammenhang besteht. Kraft dieses Zusammenhangs ist der Betrachter Teilhaber und Mitproduzent dessen, was der Held hervorgebracht hat. Diese Teilhabe verpflichtet zugleich: Das Gemeinsame geht dem einzelnen voraus und verkörpert einen höheren Rang. Das betrachtende Individuum soll auf diese Weise in eine Haltung 144 Pantheon der Deutschen. 1. und 2. Theil. Chemnitz: Karl Gottlieb Hofmann, 1794-1795. 3. Theil. Leipzig: Friedrich Gotthold Jacobäer, 1800. 145 Pantheon der Deutschen, 1. Theil (Anm. 144), Widmung.
408
RÜDIGER OTTO
eingeübt werden, die eigene Interessen bereitwillig und bewußt den wie auch immer definierten Gemeinschaftsinteressen unterordnet. Die Transformation der Bildnisvitenbücher aus der Sphäre der Gelehrsamkeit hin zur nationalen Selbstvergewisserung ist ein Symptom der Belebung des Nationalbewußtseins im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.146 Bücher dieser Art begleiten die Ära nationalstaatlichen Denkens und eignen sich vermutlich als Indikatoren der zwischen Zweifel, Selbstgewißheit und Selbstüberhebung wechselnden Sicht auf die eigene Nation. Der erste Teil des mit Porträts der beschriebenen Personen und einprägsamen Szenen aus ihrem Leben ausgestatteten Pantheon der Deutschen beschreibt Martin Luther (1483-1546) und den Preußenkönig Friedrich II (1712-1786). Der zweite Teil enthält neben einer Darstellung des Kaisers Rudolph von Habsburg (1218—1291) die Biographien von Leibniz und Lessing. Im dritten Teil ist unter den Autoren der Biographien einer der ganz großen Schriftsteller der Zeit und noch dazu einer, dessen Name eher für das Gegenprogramm zu jeder Art von Schwärmerei und Enthusiasmus steht: Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Auf Bitten des Verlegers hatte er einen Beitrag über Kopernikus (1473—1543) verfaßt. Mit diesem Teil endete das Unternehmen, vermutlich weil der junge Verleger Hofmann, der, wie aus dem Vorwort zum zweiten Teil erkennbar ist, die Beiträge des 1 Aft dritten Bandes noch in Auftrag gegeben hatte, verstorben und weil damit die treibende Kraft des Unternehmens verlorengegangen war. Hofmann hatte durchaus an weit mehr Folgen gedacht, und ihm scheint es an Energie und Begeisterung dafür nicht gefehlt zu haben. Ob ä la longue Gottsched zu diesem Pantheon Zutritt erhalten hätte, ist allerdings fraglich. In dem einschlägigen Schrifttum ist er eher selten vertreten. In dem
146 Wolfgang Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung: Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500-1840. In: Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur (Anm. 84), S. 34—54, 46f. Vgl. auch Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse: VI. Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 7 (1992), S. 281-389. 147 Pantheon der Deutschen, 3. Theil (Anm. 144), 3. Seitenzählung. 148 Pantheon der Deutschen, 2. Theil (Anm. 144), S. XII. 149 Im Vorwort zum zweiten Teil fordert er die Leser auf: „Möchten doch Sie alle, die Sie dies lesen, aufgemuntert werden, unter Ihren Freunden nichts unversucht zu lassen, sich für dieses Pantheon zu interessiren und es immer weiter zu verbreiten! Welche Wonne würde es dann nicht für mich seyn, wenn ich so thätig unterstützt, zur Belebung des sonst so allgemein beklagten verlöschten deutschen Patriotismus meinen Theil mit beitragen könnte." Pantheon der Deutschen, 2. Theil (Anm. 144), S. Xllf. Und er appelliert erneut an „Teutschlands berühmte Schriftsteller, ihren Beitritt zu diesem Werke mir nicht zu versagen, durch den allein ich in den Stand gesetzt werden kann, die hier ausgeführte schon so allgemein für glücklich anerkannte Idee zur Befestigung unsers Nationalruhms und zur Belebung eines heilsamen Patriotismus immer mehr zu verfolgen". S. XIV.
Nachleben im Büd
409
Band Deutsche Männer... von Hermann dem Cherusker bis auf unsere Tage wird er mit seinem Erzrivalen Bodmer auf einer Seite dargestellt (Abbildung 10). Der Hinweis auf seine Verdienste um Theater, Schauspielliteratur und um die deutsche Sprache wird durch die gängigen Charakterisierungen ergänzt, er habe die Vernunft als Quelle der Kunst angesehen, die Phantasie verbannt und ,„Korrektheit' oder verständige Natürlichkeit" als oberstes Gesetz postuliert. Im Vergleich zu Bodmer schneidet Gottsched schlecht ab: „Lebendiges Naturgefühl ließ die Züricher sowohl den Schwulst der zweiten schlesischen Schule als die platte Nüchternheit Gottscheds und Voltärs, die alles was nicht der Logik entsprechen wollte mit einem Versailler Gartenmesser zustutzten, als Unpoesie erscheinen."151 Möglicherweise verdankt sich die Aufnahme Gottscheds der Absicht des Herausgebers, neben den „Lichtgestalten" auch die „Feinde des vollen und fortschreitenden Lebens" aufzunehmen. Das deutsche Volk, heißt es zur Begründung, sei „frei von der Eitelkeit, die andere Völker verleitet, alles was nur national ist, zu verhimmeln".152 Daß dieses Urteil über Gottsched vorherrschend war und vermutlich dazu geführt hat, ihn aus den Bilderbüchern nationaler Erbauung fernzuhalten, zeigt der Bildersaal deutscher Geschichte, der Porträts der Dichter abbildet, „die dem deutschen Volke lieb und wert geworden sind". Der Bildersaal will geschichtliche Taten und Personen im Bild vergegenwärtigen und dadurch „in recht vielen Familien die deutsche Geschichte eindringlicher reden lassen und das Herz unseres Volkes mit patriotischer Begeisterung und nationalem Stolz erfüllen".153 Die Erweckung patriotischer Gefühle gelingt nach Auffassung der Herausgeber mit Herder (1744—1803) und Lessing, Geliert und Klopstock (1724—1803). Gottsched ist nicht dabei, und man muß nicht nur e silentio den Schluß ziehen, daß nach Meinung der Herausgeber Gottsched weder geliebt wurde noch zur Begeisterung diente. Sein Name wird im Gegenteil ausdrücklich genannt, um die Verirrung zu brandmarken, in die die deutsche Dichtung zur Zeit der Aufklärung geraten war: „Die kalte Verstandesrichtung brachte es fertig, daß ein Mann wie Gottsched in Leipzig trotz seiner geradezu erschreckenden Nüchternheit von
150 Deutsche Männer. Bilder aus der Geschichte des deutschen Volkes von Hermann dem Cherusker bis auf unsere Tage. 317 Porträts in Original-Holzschnitten aus J. J. Webers xylogr. Anstalt in Leipzig. Text von Manuel Raschke. 2. Auflage. Leipzig; Teschen [1869], S. 73. 151 Deutsche Männer (Anm. 150), S. 73. 152 Deutsche Männer (Anm. 150), Vorwort vor Inhaltsverzeichnis. 153 Adolf Bär und Paul Quensel (Hg.): Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Wort und Bild. Stuttgart; Berlin; Leipzig 1890 (mehrere Nachdrucke, zuletzt Wiesbaden 2004), S. 11.
410
RÜDIGER OTTO
1727-1740 den Mittelpunkt der deutschen Literatur bilden konnte, bis ihn ein Streit mit Bodmer [...] von seiner stolzen Höhe stürzte". Als Ludwig Bechstein (1801-1860) 1854 erstmals sein Porträtbuch berühmter Deutscher veröffentlichte, waren Friedrich von Hagedorn (17081754) und Albrecht von Hauer (1708-1777), Gottlieb Wilhelm Rabener (1714-1771) und Geliert, Ewald Christian von Kleist (1715-1759) und Gleim (1719-1803) unter den Dichtern des Bandes vertreten.155 Gottsched fehlte.156 Auch die folgenden drei Ausgaben, in denen der Bestand an Porträts immer wieder verändert wurde, allerdings meist zugunsten jüngst verstorbener Personen - lebende Personen wurden nicht aufgenommen —, enthielten kein Bild und keinen Kommentar zu Gottsched. Erst als in der fünften Auflage von 1890 das Buch unter dem Titel Dreihundert Bildnisse und Lebensabrisse berühmter deutscher Männer erschien, war auch