J.M.W. Turner
 9781780423050, 1780423055

Table of contents :
Content: Inhalt
Das Leben
Die Meisterwerke
DAS KRIEGSSCHIFF "TÉMÉRAIRE" WIRD ZU SEINEM LETZTEN ANKERPLATZ GESCHLEPPT UM ABGEWRACKT ZU WERDEN
CAERNARVON CASTLE, NORDWALES
SCHNEESTURM: HANNIBAL ÜBERQUERT MIT SEINEM HEER DIE ALPEN
DIE ÜBERQUERUNG DES BACHES
DIDO ERBAUT KARTHAGO
ODER DER AUFSTIEG DES KARTHAGISCHEN REICHES
DIE SCHLACHT VON TRAFALGAR
ODYSSEUS VERHÖHNT POLYPHEM --
HOMERS ODYSSSEE
DER BRAND DES OBER- UND UNTERHAUSES, 16. OKTOBER 1834
SKLAVENHÄNDLER WERFEN DIE TOTEN UND STERBENDEN ÜBER BORD --
AUFKOMMENDER TAIFUN
DER LAUERZERSEE MIT DEN MYTHEN. St. anselms-kapelle mit teil von thomas beckets krone, kathedrale von canterburyder clyde-fall
popes villa in twickenham
dolbadern castle, nordwales
querschiff der klosterkirche von ewenny, glamorganshire
der große reichenbachfall im haslital, schweiz
fischer auf see
biegung des lune, mit blick auf hornby castle
der wohnsitz von william moffatt esq., in mortlake
früher (sommer- ) morgen
mortlake terrace, der wohnsitz von william moffatt, esq.
sommerabend
holländische boote in einem sturm: fischer bemühen sich, ihren fang an bord zu bringen. PIER IN CALAIS MIT FRANZÖSISCHEN "POISSARDS", DIE AUSFAHREN WOLLEN: ANKUNFT EINES ENGLISCHEN PAKETBOOTESDER SCHIFFBRUCH
RYE, SUSSEX
DER UNTERGANG DES KARTHAGISCHEN REICHES
REGEN, DAMPF UND GESCHWINDIGKEIT --
DIE GROßE WESTEISENBAHN
DER ERZBISCHÖFLICHE PALAST IN LAMBETH
WOLVERHAMPTON, STAFFORDSHIRE
INNENANSICHT DER KATHEDRALE VON SALISBURY, BLICK AUF DAS NÖRDLICHE QUERSCHIFF
DIE MORGENSONNE BRICHT DURCH DEN DUNST: FISCHER SÄUBERN UND VERKAUFEN FISCHE
NIEDERGANG EINER LAWINE IN GRAUBÜNDEN
AUSBRUCH DES VESUV
MARKSBURG UND BRAUBACH AM RHEIN
DOVER CASTLE
EIN STURM (SCHIFFBRUCH). DAS FORUM ROMANUM, FÜR MR. SOANES MUSEUMNORTHAMPTON, NORTHAMPTONSHIRE
DAS GOLDENE GEÄST
VENEDIG VOM PORTAL DER KIRCHE MADONNA DELLA SALUTE AUS GESEHEN
FLINT CASTLE, NORDWALES
DAS MODERNE ITALIEN --
DIE PIFFERARI
DAS ALTE ROM: AGRIPPINA TRIFFT MIT DER ASCHE DES GERMANICUS EIN. DIE TRIUMPHBRÜCKE UND DER PALAST DER CÄSAREN SIND WIEDER AUFGEBAUT
VENEDIG: EIN STURM AUF DER PIAZZETTA
VENEDIG: DER CANAL GRANDE, AUF DIE DOGANA BLICKEND
DER BLAUE RIGI: DER VIERWALDSTÄTTER SEE, SONNENAUFGANG
VIERWALDSTÄTTER SEE: DIE BUCHT VON URI VON OBERHALB BRUNNENS GESEHEN. SCHNEESTURM --
EIN DAMPFER VOR EINER HAFENEINFAHRT GIBT SIGNALE IN DER UNTIEFE UND BEWEGT SICH NACH DEM LOT. DER AUTOR WAR IN DIESEM STURM IN DER NACHT, ALS DIE ARIEL AUS HARWICH AUSLIEFDER PASS VON FAIDO
WALFÄNGER
EINE YACHT NÄHERT SICH DER KÜSTE
PETWORTH PARK, MIT LORD EGREMONT UND SEINEN HUNDEN
MUSTERSTUDIE
Turner 1775-1851: Chronologie
Turner 1775-1851: Liste der Tafeln.

Citation preview

J.M.W.

TURNER

Text: Eric Shanes Übersetzung: Dr. Martin Goch Layout: Baseline Co Ltd 127-129 A Nguyen Hue Fiditourist, 3rd Floor District 1, Ho Chi Minh City Vietnam © Confidential Concept, worldwide, USA © Sirrocco, London, UK Weltweit alle Rechte vorbehalten Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

ISBN : 978-1-78042-305-0

Inhalt 5

Das Leben

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Die Meisterwerke

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Chronologie

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Liste der Tafeln

Das Leben Von der Dunkelheit ins Licht: Vielleicht hat kein Maler in der Geschichte der westlichen Kunst eine größere visuelle Spannbreite abgedeckt als Turner. Wenn man eines seiner ersten ausgestellten Meisterwerke wie das recht zurückhaltende St. Anselms-Kapelle, Canterbury von 1794 mit einem lebhaft hellen Bild aus den 1840er Jahren wie Der Clyde-Fall (beide weiter unten abgebildet) vergleicht, mag man kaum glauben, dass sie von derselben Hand gemalt wurden. Die sofort ins Auge fallenden Unterschiede können jedoch leicht die große Kontinuität in Turners Kunst verschleiern, ebenso wie die blendenden Farben, die gesamte Farbkomposition und die schemenhaften Formen der späten Bilder den Eindruck erwecken, dass Turner die Ziele der französischen Impressionisten geteilt habe oder gar so etwas wie ein abstrakter Maler sein wollte. Beide Ansichten wären völlig falsch. Die Kontinuität demonstriert vielmehr, wie energisch Turner seine früh gesteckten Ziele verfolgte und in wie großartiger Weise er sie schließlich erreichte. Der Zweck des vorliegenden Bandes besteht darin, diese Ziele und ihre Verwirklichung durch ausgewählte Werke nachzuzeichnen sowie einen kurzen Überblick über Turners Leben zu geben. Joseph Mallord William Turner wurde in London in Covent Garden in der Maiden Lane 21 geboren, und zwar Ende April oder Anfang Mai 1775. (Turner selbst behauptete gerne, am 23. April geboren worden zu sein, dem Geburtstag des englischen Nationalheiligen St. George und gleichzeitig William Shakespeares Geburtstag. Es gibt allerdings keine Belege für diese Behauptung.) Sein Vater William arbeitete als Perückenmacher und später, als Perücken in den 1770er Jahren aus der Mode kamen, als Barbier. Wir wissen nur wenig über Turners Mutter Mary (geborene Marshall), außer, dass sie geistig labil war und sich ihr Zustand durch die tödliche Krankheit von Turners 1786 gestorbener Schwester noch verschlimmerte. Aufgrund der hieraus resultierenden Belastung für die Familie wurde Turner 1785 zu einem Onkel nach Brentford, einer kleinen Marktstadt westlich von London, geschickt. Hier trat Turner auch in die Schule ein. Brentford war die Hauptstadt der Grafschaft Middlesex und verfügte über eine lange Tradition des politischen Radikalismus, die viel später auch in Turners Werk zum Ausdruck kommen sollte. Wichtiger war jedoch, dass die Umgebung der Stadt – die ländliche Gegend der Themse hinunter nach Chelsea und die Landschaft den Fluss hinauf nach Windsor und darüber hinaus – dem jungen Turner geradezu arkadisch vorgekommen sein muss (besonders angesichts der schäbigen Umgebung von Covent Garden) und viel zu seiner späterer Vision einer idealen Welt beigetragen hat. Im Jahr 1786 ging Turner in Margate, einem kleinen Ferienort an der Themsemündung weit östlich von London, zur Schule. Einige Zeichnungen von diesem Aufenthalt sind erhalten. Sie sind bemerkenswert frühreif, insbesondere hinsichtlich des Verständnisses der Rudimente der Perspektive. Nachdem er seine formale Schulbildung offenbar abgeschlossen hatte, war Turner in den späten 1780er Jahren wieder in London und arbeitete für verschiedene Architekten oder architektonische Topographen. Zu ihnen zählte Thomas Malton jr., dessen Einfluss auf Turners Werk um diese Zeit erkennbar ist. Nachdem Turner ein Probetrimester an der Schule der Royal Academy verbracht hatte, führte der erste Präsident der Akademie, Sir Joshua Reynolds (1723-92), höchstpersönlich ein Auswahlgespräch und erteilte ihm die Zulassung zu dieser Einrichtung. Die Royal Academy Schools waren zu dieser Zeit die einzige reguläre Kunstschule in ganz Großbritannien. Malerei wurde hier jedoch nicht unterrichtet – sie fand erst 1816 Eingang in den Lehrplan –, sondern die Schüler lernten lediglich Zeichnen, zunächst anhand von Gipsabgüssen antiker Statuen und anschließend, wenn man sie für gut genug hielt, an Aktmodellen. Turner benötigte für diesen Schritt etwa zweieinhalb Jahre. Zu den Gastdozenten und Lehrern der Aktklassen zählten Historienmaler wie James Barry RA und Heinrich Füssli RA, deren hochgesteckte künstlerische Ziele den jungen Turner schon bald beeinflussen sollten. Da Turner in einer Zeit lebte, die noch keine Stipendien für Studenten kannte, musste er sich von Anfang an seinen Lebensunterhalt verdienen.

* * * 1 – J.M.W. Turner, Tom Tower, Christ Church, Oxford, 1792, Bleistift und Wasserfarbe auf weißem Papier, 27,2 x 21,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London.

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Im Jahr 1790 stellte er erstmals in einer Ausstellung der Royal Academy aus, und mit wenigen Ausnahmen sollte er bis zum Jahr 1850 in all diesen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vertreten sein. In dieser Zeit veranstaltete die Royal Academy jährlich nur eine Ausstellung, so dass sie eine weit größere Bedeutung hatte als ihre heutigen Expositionen, die mit vielen anderen (manche ebenfalls von der Royal Academy organisiert) konkurrieren müssen. Turners lebhafte und innovative Arbeiten heimsten schon bald eine sehr positive Resonanz ein. Im Jahr 1791 ergänzte er für kurze Zeit sein Einkommen als Kulissenmaler am Pantheon Opera House in der Oxford Street. Dieser Kontakt mit dem Theater zahlte sich auf lange Sicht durch die hier gewonnenen Erkenntnisse, nämlich dass die Bemalung großer Leinwandflächen keinen Schrecken barg, man Licht dramatisch einsetzen konnte und die Positionierung von Schauspielern und Requisiten in der Malerei erfolgreich adaptiert werden konnte, sehr aus. Auf diese Weise positionierte Turner in seinen reifen Werken Figuren und/oder Gegenstände häufig links unten, im Zentrum oder rechts, wenn er sicherstellen wollte, dass der Betrachter sie wahrnimmt. Anlässlich der Ausstellung der Royal Academy von 1792 erhielt Turner eine Lektion, die seine Kunst schließlich in bis dahin in der Malerei unbekannte Dimensionen des Lichts und der Farbe vorstoßen ließ. Turner wurde besonders von dem Aquarell Das Torhaus der Battle Abbey von Michael Angelo Rooker ARA (1746-1801) beeindruckt, das er zweimal in Wasserfarben kopierte (das Bild Rookers befindet sich heute in der Sammlung der Royal Academy in London, während Turners Kopien Bestandteil des Turner-Nachlasses sind). Rooker hatte es zu einer ungewöhnlichen Meisterschaft bei der Wiedergabe feiner Tonunterschiede von Mauerwerk gebracht (unter Ton wird hier die Abstufung von hell zu dunkel einer gegebenen Farbe verstanden). Das außergewöhnlich breite Spektrum an Tönen, das Rooker in Battle Abbey eingesetzt hatte, war für Turner eine wichtige Inspiration. Er ahmte Rooker in dieser Hinsicht nicht nur in seinen beiden Kopien, sondern auch in vielen später im Jahr 1792 angefertigten ausgefeilten Zeichnungen nach. Schon bald hatte der junge Künstler Rooker in Bezug auf die subtile Differenzierung von Tönen überflügelt. Die für derartige Tonabstufungen eingesetzte Technik war als “Tonleitertechnik” bekannt und hatte ihre Grundlage in der Eigenart der Aquarellmalerei. Da Wasserfarbe ein transparentes Medium ist, muss der Maler hier von hellen hin zu dunklen Tönen arbeiten (da es sehr schwierig ist, einen hellen Ton auf einen dunklen zu setzen, während das Gegenteil einfach ist). Anstatt eine Palette mit all den für ein Bild benötigten Tönen anzumischen, ging Turner wie Rooker vor und mischte nur jeweils einen Ton an und trug ihn an unterschiedlichen Stellen auf einem Blatt Papier auf. Während die Farbe auf diesem Bild trocknete, trug er die angefertigte Tonmischung von seiner Palette auf unterschiedliche Stellen weiterer Aquarelle auf, die in einer Art Produktionsstraße über sein gesamtes Atelier verteilt waren. Bis er zu dem ersten Bild zurückkehrte, war dieses getrocknet. Turner machte die jeweilige Farbe auf seiner Palette dann etwas dunkler und trug diese nächste “Note“ auf der “Tonleiter“ von hell zu dunkel auf dieses und die weiteren Bilder auf. Ein derartiges Vorgehen sparte selbstverständlich viel Zeit, da man nicht gleichzeitig ein breites Spektrum an Tönen anmischen musste und ebenso wenig eine riesige Palette und eine Vielzahl von Pinseln (für jeden Ton einen) benötigte. Aber diese Technik ermöglichte nicht nur die Produktion einer hohen Zahl an Aquarellen. Sie trug auch zur Verstärkung räumlicher Tiefe bei, da stets die dunkelsten Töne zuletzt aufgetragen wurden, so dass ihre Platzierung im Vordergrund eines Bildes den Eindruck des maximalen Zurückweichens hinter sie verstärken konnte. Es sollte nicht lange dauern, bis Turner ein unangefochtener Meister in der Differenzierung der kleinsten Unterschiede von hell und dunkel war. Am Ende hatte er sich zum weltweit subtilsten Tonalisten in der Kunst entwickelt. Schon in einer ganzen Reihe von nach dem Sommer 1792 gemalten Aquarellen ermöglichte Turner seine Fähigkeit, innerhalb eines extrem engen Tonspektrums von hell zu dunkel subtile Unterschiede zu erzielen, ein blendendes Strahlen des Lichts zu projizieren (da sehr helles Licht Töne in ein enges Tonspektrum zwängt). Schließlich sollte diese Fähigkeit Turner auch die Freiheit geben, in völlig neue Dimensionen der Farbe vorzudringen. Daher sind viele der in diesem Band abgebildeten sehr späten Werke mit Feldern purer Farbe überflutet, innerhalb derer lediglich etwas hellere oder dunklere Variationen derselben Farbe Menschen, Gegenstände, Landschaften oder Meereslandschaften bezeichnen.

* * * 2 – J.M.W. Turner, Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Feder und Tusche mit Aquarellfarben, 30,8 x 43,2 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Die Arbeit ist die Übertragung eines Bildes, das Michael Angelo Rooker für den Oxford Almanach geschaffen hat.

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3 – J.W. Archer, J.M.W. Turners zweites Elternhaus in der Maiden Lane Nr. 26, Covent Garden, 1852, Aquarell, British Museum, London. Die Familie Turner zog vom Geburtshaus des Künstlers auf der gegenüberliegenden Straßenseite 1782 oder 1783 in dieses Haus.

* * * Trotz der tonalen Subtilität dieser Formen wirken sie alle vollkommen konkret. Turners Fähigkeiten als Kolorist sollten immer ausgefeilter werden, besonders nach seiner ersten Italienreise im Jahr 1819. In der zweiten Hälfte seines Lebens entwickelte er sich zu einem der besten und innovativsten Koloristen in ganz Europa. Der Beginn dieser Entwicklung liegt früh in seinem Leben und resultierte aus dem Studium von Rookers Battle Abbey im Jahr 1792. Turner holte sich bei anderen Künstlern stets das, was er benötigte, und Rookers Aquarell gab ihm das, was er brauchte, genau zur rechten Zeit. Im Jahr 1793 zeichnete die Royal Society den 17-jährigen Turner mit ihrem Greater Silver Pallet-Preis für Landschaftsmalerei aus. Zu diesem Zeitpunkt konnte Turner seine Arbeiten bereits leicht verkaufen und besserte sein Einkommen während der 1790er Jahre durch Privatstunden auf. An Winterabenden zwischen 1794 und 1797 traf er mit anderen Künstlern – darunter Thomas Girtin (1775-1802), ein weiterer führender junger Aquarellmaler – im Haus von Dr. Thomas Monro zusammen. Dieser war ein Arzt König Georges III. und auf Geisteskrankheiten spezialisiert. Später behandelte er auch Turners Mutter. (Sie starb schließlich 1804.) Monro hatte in seinem Haus auf der Adelphi Terrace mit Blick auf die Themse eine inoffizielle künstlerische “Akademie” gegründet. Er zahlte Turner dreieinhalb Shilling sowie ein Austern-Abendessen für die Kolorierung der von ihm selbst in Umrissen abgezeichneten Kopien von Werken unterschiedlicher Künstler, u. a. Antonio Canaletto (1696-1768), Edward Dayes (1763-1804), Thomas Hearne (1744-1817) und Robert Cozens (1752-1797), der zu dieser Zeit wegen einer psychischen Erkrankung ein Patient Monros war. Turner geriet hierbei natürlich unter den Einfluss all dieser Maler. Er war, ebenso wie Tom Girtin, besonders von der Weite von Cozens Landschaften beeindruckt. Thomas Gainsborough RA (1727-1788), Philippe Jacques de Loutherbourg RA (1740-1812) Heinrich Fuseli RA (1741-1825) und Richard Wilson RA (1713?-1782) waren in den 1790er Jahren weitere wichtige Einflusspersonen Turners. Gainsboroughs von den holländischen Meistern inspirierte Landschaften ließen Turner eine Vorliebe für derartige Motive entwickeln, während de Loutherbourg Turner vor allem bei der Zeichnung der Figuren beeinflusste, da Turner wie jener ihren Stil von der Art Bild abhängig machte, in der sie auftraten. Auch Füsslis Herangehensweise an die menschliche Gestalt begegnet dem Betrachter

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in einigen von Turners Bildern wieder. Seine Hochachtung vor den Bildern Richard Wilsons, der einen italienischen Stil auf britische Landschaften anwandte, führte zu Turners Leidenschaft für die Arbeiten von Claude Gellée (bekannt als Claude Lorrain, 1600-1682), von dem Wilson sich stark hatte beeinflussen lassen und der Turners dauerhaftester malerischer Einfluss bis zum Ende seines Lebens sein sollte. Von seiner Jugend an aber verlieh vor allem ein beherrschender ästhetischer Einfluss Turners Denken über die Kunst Gestalt. Dieser stammte – wenig überraschend – aus der Royal Academy, wenn Turner ihn auch eher durch Lektüre als direkte Vermittlung rezipierte. Es handelt sich um die Lehren von Sir Joshua Reynolds. Turner hatte im Dezember 1790 Reynolds’ letzte Vorlesungen gehört. Durch die Lektüre der restlichen Vorträge scheint er sich mit allen Lektionen Reynolds über die idealisierende Funktion der Kunst vertraut gemacht zu haben, die dieser in jenen 15 Vorträgen so beredt ausführte. Turners kreative Entwicklung kann überhaupt nur im Kontext von Reynolds Lehren verstanden werden. In seinen Diskursen entwarf Reynolds nicht nur ein umfassendes Ausbildungsprogramm für angehende Künstler. Er vertrat auch die zentrale idealisierende Doktrin der akademischen Kunst, die sich in der italienischen Renaissance herausgebildet hatte. Man kann sie als die Theorie der poetischen Malerei bezeichnen. Dieser Doktrin zufolge sind die Malerei und die Bildhauerei der Dichtung verwandte Disziplinen. Daher sollten Maler und Bildhauer die tiefe Humanität, die Klangfülle, die Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik, die Großartigkeit der Anlage und den moralischen Diskurs der erhabensten Dichtung und poetischen Dramen mit den Mitteln ihrer jeweiligen Kunstform anstreben und nachbilden. Von der Mitte der 1790er Jahre an können wir Turner dabei beobachten, wie er sich anschickt, all diese Ambitionen zu verwirklichen. Von dieser Zeit an mangelt es seinen Landschaften und Bildern des Meeres kaum noch an einer menschlichen Dimension und die Sujets sind häufig der Geschichte, Literatur und Dichtung entnommen. Die Bilder sind außerdem immer stärker strukturiert, um das maximale Maß an visueller Harmonie, Kohärenz und Klangfülle zu erlangen. Das visuelle Äquivalent zur Angemessenheit der Sprache, des Versmaßes und der Metaphorik in der Poesie (sowie zur Angemessenheit der Gestik und des Verhaltens in poetischen Dramen wie den Stücken Shakespeares) wurde in der Reynolds und Turner geläufigen ästhetischen Literatur als decorum bezeichnet. Viele der von Turner verehrten Landschaftsmaler, besonders Claude, Nicholas Poussin (1594-1665) und Salvator Rosa (1615-1673), hatten häufig das Dekorum beachtet, indem sie die Tageszeit, das Licht und das Wetter der zentralen Aussage ihrer Bilder anpassten. Bis zum Jahr 1800 hatte Turner ebenfalls mit dieser Praxis begonnen. Ein Beispiel hierfür findet sich in dem im gleichen Jahr in der Royal Academy gezeigten Aquarell von Caernarvon Castle. Dieses Bild wird ebenso wie eine besonders einfallsreiche Verwirklichung des Dekorums in Popes Villa in Twickenham im Zustand der Baufälligkeit aus dem Jahr 1808 sowie dem weitaus bekannteren späteren Beispiel, Das Kriegsschiff “Téméraire” von 1839, unten diskutiert. Dekorum ist eine assoziative Methode und da Turner eine ungewöhnliche Begabung besaß, Verbindungen herzustellen, fand er es stets leicht, Tageszeiten, Licht und Wetter sehr gut mit der Aussage seiner Bilder in Einklang zu bringen. In vielen seiner Arbeiten setzte er auch assoziative Instrumente ein, denen man in der Dichtung häufig begegnet: Anspielungen, d. h. subtile Verweise auf spezifische Bedeutungen, Spielereien mit der Ähnlichkeit von Erscheinungen (Wortspielen vergleichbar), Gleichnisse oder direkte Vergleiche von Formen und Metaphern, bei denen etwas Sichtbares gleichzeitig für etwas Unsichtbares steht. Gelegentlich konnte Turner seine visuellen Metaphern sogar so ineinander verweben, dass komplexe Allegorien entstanden. (Viele dieser Techniken werden unten erläutert.) Auch hier folgte Turner Reynolds, der in seinem siebten Diskurs vorgeschlagen hatte, dass Maler und Bildhauer wie Dichter und Dramatiker “figurative und metaphorische Ausdrücke” gebrauchen sollten, um die imaginativen Dimensionen ihrer Kunst zu erweitern. In seinem letzten Vortrag, den Turner 1790 besuchte, hatte Reynolds ganz besonders die Erhabenheit von Michelangelos Kunst gerühmt. Schon ab 1794 begann Turner, die Maße der wiedergegebenen Gegenstände und Schauplätze (z. B. Bäume, Bauwerke, Schiffe, Hügel und Berge) zu verdoppeln oder zu verdreifachen, um sie zu vergrößern. Er sollte diese Praxis bis an sein Lebensende beibehalten, so dass seine Landschaften und Meerlandschaften genauso grandios erscheinen wie Michelangelos Figuren. Im Jahr 1796 begann Turner mit einem Aquarell der Kathedrale von Llandaff (in diesem Band abgebildet) auch moralische Aussagen zu transportieren.

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Häufig gab er einen Kommentar zu der kurzen Dauer des menschlichen Lebens und unserer Zivilisation, unserer Gleichgültigkeit gegenüber diesem Faktum, der Destruktivität der Menschheit etc. ab. Mit dieser Zielsetzung und um die zeitliche Dimension seiner Bilder auszuweiten, begann er ab 1800, komplementäre Paare von Bildern zu malen. Diese waren üblicherweise von gleicher Größe und im gleichen Medium ausgeführt, allerdings keineswegs immer (die unten diskutierten Bilder Dolbadern Castle und Caernarvon Castle, ein Ölgemälde und ein Aquarell, sind ein Beispiel). Auf diese und noch weitere Weisen setzte er Reynolds’ Forderung um, dass Künstler Moralisten sein und das menschliche Leben aus einer kritischen Perspektive betrachten sollten. Direkt verbunden hiermit war Reynolds’ Maxime, dass die Künstler sich nicht mit willkürlichen oder unbedeutenden menschlichen Erfahrungen abgeben sollten, sondern sich stattdessen mit den universalen Wahrheiten unserer Existenz, die in den höchsten Verkörperungen der Dichtung und des poetischen Dramas thematisiert werden, auseinander setzen sollten. Zur Erreichung dieses Ziels hielt Reynolds die Künstler an, sich nicht bei den bloßen Erscheinungen aufzuhalten, sondern stattdessen das, was Turner selbst in einer Randnotiz in einem Buch als “die Eigenschaften und Ursachen der Dinge” bezeichnen sollte, also die universalen Wahrheiten des Verhaltens und der Form, zu vermitteln. Wir werden gleich auf Turners Herangehensweise an die universalen Wahrheiten der menschlichen Existenz zurückkommen. Von Mitte der 1790er Jahre an begann er jedoch “die Eigenschaften und Ursachen der Dinge“ in seinen Abbildungen von Gebäuden auszudrücken, wie man leicht an dem unten abgebildeten Aquarell St. Anselms-Kapelle, Canterbury (1794) sehen kann. In Bildern wie diesem können wir bereits ein wachsendes Verständnis der grundlegenden strukturellen Dynamik menschlicher Bauwerke entdecken. Schon nach kurzer Zeit, in Aquarellen wie Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire (1797; ebenfalls unten abgebildet), sollte diese Einsicht zu voller Reife gelangen. Da Turner glaubte, dass die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Architektur von jenen der Architektur der Natur herrührten, war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Verständnis geologischer Strukturen. Turner legte schon von einem frühen Zeitpunkt im folgenden Jahrhundert an die “Eigenschaften und Ursachen” derartiger natürlicher Formen offen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Felsschichtungen in Der Große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz aus dem Jahr 1804. Gleichzeitig können wir etwa ab Mitte der 1790er Jahre Turners tiefes Verständnis der Grundregeln des Verhaltens des Wassers beobachten. Die Fischer auf See (1796; unten abgebildet) demonstrieren, wie vollkommen er die Wellenbildung, die Spiegelung und die unterschwellige Bewegung des Meeres durchdrungen hatte. Von nun an sollte seine Darstellung des Meeres immer meisterhafter werden und schon bald eine in der maritimen Malerei einzigartige mimetische und expressive Kraft entwickeln. Es gibt ohne Zweifel viele Maler, die Turner hinsichtlich des fotografischen Realismus bei der Abbildung des Meeres übertroffen haben und übertreffen. Aber keiner von ihnen hat bezüglich der Darstellung des fundamentalen Verhaltens von Wasser nur auf Meilen – gemeint sind natürlich Seemeilen – an Turner heranreichen können. Als Turner 1801 das Bridgewater-Seestück (Abbildung unten) ausstellte, war sein Verständnis dieser Dynamik perfekt. Gleichzeitig hatte Turner zu dieser Zeit begonnen, die essentielle Dynamik der Wolkenbewegungen und damit die fundamentalen Wahrheiten der Meteorologie zu verstehen. Hier hatte er es bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts schließlich zur Meisterschaft gebracht. Nur seine Bäume blieben etwas manieriert. Aber zwischen 1809 und 1813 durchdrang Turner auch die “Eigenschaften und Ursachen” der Gestalt von Bäumen, so dass nun eine größere Geschmeidigkeit der Linienführung und ein ausgeprägter Sinn für die strukturelle Komplexität derartiger Formen an die Stelle einer recht altmodischen Darstellung von Stämmen, Ästen und Blattwerk trat. Im Jahr 1815 war auch diese Verwandlung komplett, so dass im Verlauf des folgenden Jahrzehnts Turners Bäume in Arbeiten wie Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castle und den beiden Ansichten von Mortlake Terrace von 1826 und 1827 (alle drei Bilder sind unten abgebildet) vielleicht die hübschesten, blühendsten und expressivsten natürlichen Organismen waren, denen man in der Kunst überhaupt begegnen kann.

* * * 4 –J.M.W. Turner, Das Pantheon am Morgen nach dem Brand, RA 1792, Aquarell, 39,5 x 51,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Das Pantheon Opera House in der Londoner Oxford Street wurde von Brandstiftern am 14. Februar 1792 niedergebrannt. Turner hatte dort möglicherweise während der vorausgegangenen Jahre als Kulissenmaler gearbeitet.

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All diese Einsichten sind Manifestationen von Turners Idealismus, da sie auf subtile Weise die Idealität der Formen verdeutlichen, jene Wesenseigenschaften, die bestimmen, warum ein Bauwerk seine spezifische Gestalt aufweist, damit es fest steht, warum ein Felsen oder Berg eine ganz bestimmte Struktur hat, was die Bewegung des Wassers lenkt, was die Form und Bewegung von Wolken hervorruft und warum Pflanzen und Bäume auf eine ganz bestimmte Art wachsen. Kein Künstler hat jemals Turners Einsichten in diese Prozesse erreicht. Dies wurde von hellsichtigen Kritikern schon vor seinem Tod im Jahre 1851 erkannt, besonders von John Ruskin, der in seinen Schriften ausführlich auf Turners Verständnis der “Wahrheiten” der Architektur, der Geologie, des Meeres, des Himmels und weiterer Bestandteile eines Landschaftsbildes oder Seestücks einging. Turner befolgte während seines ganzen Lebens eine von Reynolds empfohlene Herangehensweise, um idealisierte Bilder zu schaffen. Es handelte sich um die idealisierende Synthese, mittels derer die Willkürlichkeit der Erscheinungen überwunden werden sollte. Reynolds wies der Landschaftsmalerei in seinem künstlerischen System nur eine relativ untergeordnete Rolle zu, da er die Landschaftsmaler als dem Zufall unterworfen ansah: Wenn sie z. B. einen Ort zufällig bei Regen besuchten, dann waren sie gezwungen, ihn auch bei Regen darzustellen, wenn sie “wahrheitsgetreu” sein wollten. Um diese Willkürlichkeit zu überwinden, trat Reynolds für eine andere Form der Wahrhaftigkeit in der Landschaftsmalerei ein, und zwar für die Vorgehensweise von Malern wie Claude Lorrain. Dieser hatte die attraktivsten Elemente unterschiedlicher Orte unter den besten Wetter- und Lichtverhältnissen zu fiktiven und idealen Landschaften synthetisiert und auf diese Weise die Willkürlichkeit transzendiert. Obwohl Turner ein größeres Gewicht auf die Abbildung spezifischer Schauplätze legte als Reynolds zugestehen wollte, wurde diese Konzentration auf das Individuelle in starkem Maße durch die uneingeschränkte Anwendung der von Reynolds propagierten Synthese-Techniken ausgeglichen (und zwar so sehr, dass seine Bilder bestimmter Orte häufig nur noch wenig Ähnlichkeit mit tatsächlichen Gegebenheiten aufwiesen). Turner beschrieb diesen Prozess 1810 selbst folgendermaßen: Es ist in genau dem Maße wie auch in anderen Kunstformen die Aufgabe des Landschaftsmalers, das, was in der Natur schön und in der Kunst bewunderungswürdig ist, auszuwählen, zu kombinieren und zu konzentrieren. Darüber hinaus überwand Turner die Willkürlichkeit, indem er seine außergewöhnlichen imaginativen Kräfte voll ausschöpfte. Er drückte seinen Glauben an die Überlegenheit der Imagination in einer Paraphrase Reynolds’ aus, die im Zentrum seines ästhetischen Denkens steht: … es ist erforderlich, die größere von der kleineren Wahrheit zu unterscheiden: nämlich die größere und freiere Idee der Natur von der vergleichsweise engen und begrenzten; nämlich die Gegenstände, die die Imagination ansprechen von jenen, die sich lediglich dem Auge darstellen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Turner das Auge vernachlässigte. Er fertigte fleißig Skizzen an; in seinem Nachlass befinden sich mehr als 300 Skizzenbücher, die mehr als 10.000 Skizzen enthalten. Häufig skizzierte er einen Ort, obwohl er ihn schon mehrere Male zuvor gezeichnet hatte. Auf diese Weise eignete er sich nicht nur das Aussehen der Dinge an, sondern schulte auch sein sehr leistungsfähiges Gedächtnis, ein für einen idealisierenden Künstler sehr wichtiges Instrument, da das Gedächtnis das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet. Turners Methode, die Erscheinung der Dinge zu studieren und sich gleichzeitig den Freiraum für das Wirken der Imagination zu erhalten, bestand darin, nur die Umrisse zu skizzieren und auf jegliche Wetter- und Windeffekte und häufig sogar auf die Aufnahme jeglicher Menschen oder anderer Lebewesen zu verzichten (wenn nötig, konnte man diese Elemente separat studieren). Er wandte sich dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder der Skizze zu und fügte zahlreiche visuelle Komponenten der Szene mit Hilfe des Gedächtnisses und/oder der Imagination hinzu. Turner bewahrte alle seine Skizzenbücher für eine mögliche spätere Verwendung auf. Manchmal kehrte er erst nach mehr als 40 Jahren zu ihnen zurück, wenn er Vorlagen für ein bestimmtes Bild benötigte. Turner begann in den frühen 1790er Jahren mit dieser Praxis.

* * * 5 – J.M.W. Turner, Der Sankt-Gotthard-Pass von der Mitte der Teufels Broch (Teufelsbrücke) in der Schweiz gesehen, signiert und datiert 1804, Aquarell, 98,5 x 68,5 cm, Abbot Hall Art Gallery, Kendal, Cumbria.

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6 – J.M.W. Turner, Frontispiz des “Liber Studiorum”, Mezzotinto-Radierung, 1812, Tate Britain, London.

* * * Es ist leicht nachvollziehbar, dass sie ein Ausfluss der idealisierenden Ermahnungen von Reynolds war. Reynolds’ Lehren brachten noch eine weitere, höhere Form der Idealisierung hervor. Schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt in seiner Laufbahn gelangte Turner zu der Auffassung, dass Formen letzten Endes eine vom Menschen unabhängige metaphysische, zeitlose und universale Existenz eignet. Die Urgründe dieser Ansicht liegen in der Analyse der Architektur. Wie viele vor ihm vertrat Turner die Meinung, dass es nicht nur eine große Ähnlichkeit zwischen menschlicher und natürlicher Architektur gibt, sondern dass beide auf einer universalen Geometrie beruhen. Nach der Mitte der 1790er Jahre erhielt diese Ansicht durch die Lektüre Turners weiteren Auftrieb, und zwar besonders durch die Verse von Mark Akenside, dessen langes Gedicht The Pleasures of Imagination (“Die Freuden der Imagination”) einen platonischen Idealismus vertritt, mit dem Turner sich mit gewichtigen Auswirkungen auf seine Kunst völlig identifizierte. In den aus der Zeit nach 1807 stammenden Manuskripten für seine Vorlesungen über Perspektive schrieb Turner über die ästhetische Notwendigkeit, irdische Formen jenen “imaginierten Spezies” archetypischer, platonischer Formen anzunähern. Wie viele andere charakterisierte er diese ultimativen Realitäten als “ideale Schönheiten”. Auf der Basis dieser Ansicht war es für Turner schließlich ein Leichtes, an die metaphysische Kraft des Lichtes zu glauben und sogar daran, dass – weil sie die Quelle alles irdischen Lichts und Lebens ist – ”die Sonne Gott ist” (wie er kurz vor seinem Tod feststellte). Die ausgeprägte Nähe von Turners späten Bildern zur Abstraktion ist trotz vieler gegenteiliger Behauptungen in jüngster Zeit also nicht bloß ein malerisches Instrument. Dieses Merkmal rührt vielmehr von seinem Versuch her, eine höhere Macht, wenn nicht gar das Göttliche selbst, darzustellen. Turners Idealismus prägte sein ganzes Leben. In seinem gesamten Oeuvre, vor allem aber in seinen späteren Werken, können wir die Projizierung einer idealen Welt der Farbe, der Form und des Gefühls beobachten. Nicht umsonst stellte ein Autor im Jahr 1910 fest, dass Plato, wenn er eine Landschaft Turners hätte sehen können, “der Malerei

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in seiner Republik umgehend einen Platz eingeräumt hätte”. Turner wich nur an einem wichtigen Punkt von Reynolds’ Lehren ab, und zwar hinsichtlich der Darstellung der menschlichen Gestalt. Ein weiterer Grund, warum Reynolds keine sonderlich hohe Meinung von der Landschaftsmalerei hatte, war die Tatsache, dass sie nie besonders viel über die menschliche Existenz aussagte, die für ihn notwendigerweise das zentrale Thema der hohen Kunst war. Von Anfang an strebte Turner an, Reynolds diesbezüglich zu widerlegen. Es war sein lebenslanger Ehrgeiz, der Landschaftsmalerei und Seestücken jenen Humanismus zu verleihen, den man in direkter mit dem Menschen befassten Gattungen fand. Er erkannte früh, dass er einen zentralen Aspekt von Reynolds’ Denken zurückweisen musste, wenn er seinen eigenen Einsichten in die menschliche Existenz treu bleiben wollte. Für Reynolds wie auch eine ganze Reihe ähnlich gestimmter akademischer Theoretiker bestand eine der wesentlichen Aufgaben der poetischen Malerei darin, die Menschheit durch die Projizierung einer idealen Schönheit der menschlichen Gestalt zu veredeln. Reynolds empfahl daher die Schaffung verschönerter menschlicher Erscheinungen, die jenen in den Arbeiten Michelangelos und vergleichbarer idealisierender Künstler ähneln sollten. Turner jedoch lehnte diese zentrale Lehre der Theorie der poetischen Malerei ab. Stattdessen entwickelte er ganz bewusst eine deutlich nicht idealisierte Erscheinung seiner Vertreter der Menschheit. Schon 1794, in der unten abgebildeten Ansicht der Kathedrale von Canterbury, können wir beobachten, wie Turner sich bezüglich der Formierung seiner menschlichen Figuren an die niederländische Malerei anlehnt. Er ahmte dabei besonders David Teniers den Jüngeren (1610-1690) nach. Gerade wegen seiner bewusst tölpelhaften Menschen hatte Teniers in Großbritannien eine große Anhängerschaft, insbesondere in der Oberschicht, die seine Figuren putzig fand (dies ist der Grund, warum in vielen englischen Landhäusern noch heute Bilder von Teniers hängen). Turner imitierte in eindrucksvollen Seestücken wie dem Bridgewater-Seestück von 1801, Pier in Calais (1803) und Der Schiffbruch (1805) (alle unten abgebildet) ganz bewusst die Erscheinung von Teniers Figuren, um den folgenden, für seine Kunst wichtigen Kontrast zu illustrieren: Die Welt um uns herum mag immens, schön, hässlich, friedlich, wild oder was auch immer sein, die Menschheit aber ist in jedem Fall klein, eitel und im Vergleich zu ihrer Umwelt schwach. Für Turner ist der Mensch nicht “Krone der Schöpfung”, ganz im Gegenteil. Der Mensch ist für Turner vielmehr ein unbedeutendes Körnchen in einem stets gleichgültigen, häufig sogar feindlichen Universum. Wir mögen versuchen, die Kräfte der Natur zu überwinden, aber diese Bemühungen sind nichts weiter als eine kosmische und komische Selbsttäuschung Um diesen “Trugschluss der Hoffnung” herauszustellen, ließ Turner den Menschen häufig so unvollkommen, tölpelhaft, grob und kindlich, ja puppenhaft wie möglich wirken, genau wie Teniers und ähnliche Maler es taten. In dieser Hinsicht wandte Turner sich ganz gezielt von einem wichtigen Aspekt des von Reynolds propagierten akademischen Idealismus ab, nämlich der Bildung verschönerter menschlicher Archetypen. Hätte Turner seine Werke jedoch mit heroischen Figuren in der Manier Michelangelos gefüllt, wäre seine Aussage über unseren unbedeutenden Platz im Universum verwässert worden. Indem er stattdessen ein anti-heroisches und “niedriges” Modell für die Menschheit entwarf, vergrößerte Turner nicht nur den Kontrast zwischen der Menschheit und unserer natürlichen Umgebung, sondern er artikulierte auch eine Aussage über die Menschheit, die wahrer und universeller, ist als Reynolds verlangte. In Turners Zeit sorgte die Härte des Kampfes ums Überleben häufig dafür, dass die Menschen recht hässlich waren und sie führten oft ein tragisch kurzes, brutalisiertes, ungebildetes und anonymes Leben. Turner bildete solche Menschen unzählige Male mit großer Wahrhaftigkeit ab. Dies ist die ultimative Form des Turnerschen Dekorums: eine vollkommene Deckung zwischen der menschlichen Erscheinung und der tiefen Realität unseres Lebens. Zusätzlich zur idealen “Imitation” – der Schaffung perfektionierter Formen, die qua Definition die Darstellung der ”Eigenschaften und Ursachen” der Dinge umfasste – trat Reynolds auch für die künstlerische “Imitation”, die Aufnahme der Merkmale der besten Maler der Vergangenheit durch die stilistische Imitation, ein. Hier folgte Turner Reynolds voller Engagement. Während seines gesamten Lebens ahmte er die malerischen Methoden einer großen Anzahl vergangener (sowie zeitgenössischer) Meister nach, von den Italienern Tizian (1490?-1576), Raphael (1483-1520) und Salvator Rosa, über die Franzosen Claude Lorrain, Nicolas Poussin und Watteau (1684-1721), die Holländer Rembrandt (1606-1669), Cuyp (1620-1691), van de Velde dem Jüngeren (1633-1707) und Backhuizen (1631-1708) bis hin zu unzähligen seiner englischen Malerkollegen.

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Dies war keineswegs ein Zeichen für Defizite Turners und noch weniger Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes, wie häufig behauptet worden ist. Turner folgte lediglich Reynolds’ Lehren. Es ist ein Beweis für seine kreative Vision, dass, wem auch immer er nacheiferte, die Ergebnisse am Ende immer typisch Turner waren (sogar wenn sie qualitativ nicht an ihre Vorbilder heranreichten). Im Jahr 1791 unternahm Turner die erste seiner Skizzenreisen. Am Ende seiner Karriere waren es mehr als 50. Allein in den 1790er Jahren bereiste er den Süden Englands, die Midlands und Nordengland (inklusive des Lake District). Er unternahm auf der Suche nach der Art von Orten, die Richard Wilson gemalt hatte, ferner fünf Reisen durch Wales. Auf jeder Reise füllte er mehrere Skizzenbücher mit trockenen topographischen Studien und dem gelegentlichen Aquarell, die er, zurück in London, zu ausgefeilten Gemälden und Aquarellen verarbeitete. Eine Erinnerung an eine Reise Turners von 1798 durch Wales und das West Country macht seine kreativen Prioritäten sehr klar: Ich erinnere mich an Turner als einen in Bezug auf Verhalten und Erscheinung recht unansehnlichen, uninteressanten jungen Mann. Er war bei seiner Kleidung sehr sorglos und schlampig und interessierte sich nicht für die Farbe seines Rocks und seiner Kleider und war alles andere als ein nett aussehender junger Mann … Er sprach über nichts anderes als seine Zeichnungen und die Orte, die er aufsuchen wollte, um sie zu skizzieren. Er wirkte wie ein ungebildeter Jüngling, der einzig an der Verbesserung seiner Kunst interessiert war … Dies scheint die allgemeine Meinung über Turner gewesen zu sein, die auch 1805 der topographische Künstler Edward Dayes äußerte: “Der Mann muss wegen seiner Werke geliebt werden; denn seine Person ist nicht bemerkenswert noch seine Konversation brillant.” Obwohl Turners Intellekt enorm war, ließen ihn seine lückenhafte Bildung und sein unermüdliches Engagement für seine Kunst im gesellschaftlichen Leben eine schlechte Figur abgeben, auch wenn er im Laufe der Zeit seine Kanten abschleifen und an Selbstvertrauen in der Öffentlichkeit gewinnen sollte. Emotional war er höchst sensibel, denn innerlich war er sehr verletzlich, was vielleicht durch seine unglückliche Kindheit aufgrund der Instabilität seiner Mutter bedingt war. Diese Unsicherheit ließ Turner stets eine emotionale Verteidigungshaltung bewahren, solange er sich nicht absolut sicher war, dass er Menschen vertrauen konnte und sie ihn nicht verletzen würden. Wenn er jedoch einmal Vertrauen gefasst hatte – und er vertraute Kindern immer –, kam eine völlig andere Seite seiner Persönlichkeit zum Vorschein. Dies illustriert eine andere Erinnerung an Turner als jungen Mann, und zwar von seiner Freundin Clara Wells: Von all den unbekümmerten und fröhlichen Wesen, die ich kannte, war Turner am meisten so; und das Lachen und der Spaß, wenn er in unserem Hause wohnte, waren unvorstellbar, besonders im Kontakt mit den jugendlichen Mitgliedern unserer Familie. Ich erinnere mich daran, wie ich eines Tages nach einem Spaziergang heimkehrte und der Aufruhr, als der Diener die Tür öffnete, so groß war, dass ich ihn fragte, was los sei. “Oh, die jungen Damen (meine jungen Schwestern) spielen nur mit dem jungen Gentleman (Turner), Ma’am.” Als ich das Wohnzimmer betrat, saß er auf der Erde und die Kinder wickelten seine lächerlich lange Krawatte um seinen Hals; er sagte, “Sieh nur, Clara, was diese Kinder tun!” Turners ”Heim fern der Heimat” im Hause von Clara Wells’ Vater, William Wells, in Knockholt in Kent, war die erste von mehreren derartigen Zufluchten, die Turner während seines Lebens aufsuchen sollte. Als die Geisteskrankheit seiner Mutter sich gegen Ende der 1790er Jahre verschärfte, muss es sich hier um eine lebenswichtige Fluchtmöglichkeit gehandelt haben. Und sobald er es sich leisten konnte, zog Turner aus dem elterlichen Haus in der Maiden Lane aus und bezog spät im Jahr 1799 Räume in einem Haus in der Harley Street 64, das er später ganz übernehmen sollte. Fischer auf See (1796) war Turners erstes ausgestelltes Ölgemälde. Es zeigt bereits seine natürliche Begabung für dieses Medium. Zu diesem Zeitpunkt hatte er es in der Aquarellmalerei bereits zur Meisterschaft gebracht und von nun an war er sogar in der Lage, ihr die Ausdrucksstärke und Qualität der Abbildung zu verleihen, die man eigentlich eher aus der Ölmalerei kennt.

* * * 7 – J.M.W. Turner, Llandaff Cathedral, South Wales, RA 1796, Aquarell, 35,7 x 25,8 cm, British Museum, London. Tanz auf den Gräbern mit Kindern – ohne zu bedenken, dass auch sie eines Tages in solchen Gräbern liegen werden. Diese Zeichnung war vermutlich Turners erste moralische Landschaft. 16.

Gleichzeitig erlangte Turner in seinen Ölgemälden immer stärker die eigentlich eher aus Aquarellen bekannte Brillanz und Leuchtkraft. Aber warum sollte er überhaupt einem bestimmten Medium den Vorzug geben? Das Malen mit Wasserfarbe ging schnell und ermöglichte große Spontaneität. Die schnelle Trocknung der Farbe erlaubte darüber hinaus die Herstellung einer großen Anzahl von Bildern in einer gegebenen Zeit und damit wiederum günstige Verkaufspreise. Ölbilder trockneten langsam, hatten aber einen höheren kulturellen Stellenwert und konnten in der Öffentlichkeit besser zur Geltung gebracht werden, da man hier viel größere Flächen als mit Wasserfarben füllen konnte. Man konnte außerdem höhere Preise verlangen (was zum Teil auch erforderlich war, da die Produktion von Ölbildern wesentlich länger dauerte). Turner ruhte sich niemals auf seinen technischen Lorbeeren aus. Er stellte sich häufig selbst technische Herausforderungen, um sich weiterzuentwickeln. In den 1820er und 1830er Jahren z.B. fertigte er eine Reihe von Aquarellen auf ungewöhnlichem Material wie blauem oder grauem Papier an. In einigen seiner noch späteren Arbeiten sollte sich sein Vertrauen in neue Materialien (wie etwa angeblich sowohl in Öl als auch in Wasser lösliche Farben) als ein Irrweg erweisen, der in einzelnen Werken zu katastrophalen Ergebnissen führte. Im Großen und Ganzen sind seine Gemälde und Aquarelle jedoch technisch solide. Und wenn er über eine besondere Inspiration verfügte, wie etwa bei Das Kriegsschiff “Téméraire” von 1839, wandte er große Mühe darauf auf, so sorgfältig wie möglich zu malen. Im Jahr 1798 wurden die Regeln für die jährlichen Ausstellungen der Royal Academy dahingehend geändert, dass es den Künstlern nun erlaubt war, in den Katalogen neben den Titeln der Werke auch Zitate aus der Dichtung aufzunehmen. Turner nutzte diese neue Möglichkeit sofort, um die Rollen der Malerei und der Dichtung, die fruchtbaren Wechselbeziehungen und die individuellen Stärken dieser Disziplinen öffentlich zu thematisieren. Zu fünf Werktiteln fügte er 1798 poetische Zitate hinzu, darunter Verse von John Milton und von James Thomson, die die Sonne mit Gott identifizierten. Mit einigen dieser Zitate lotete Turner die Möglichkeiten der Malerei aus, die Metaphorik der Dichtung zu realisieren und/oder zu übertreffen, während er mit anderen die Weise thematisierte, in der die poetische Metaphorik die Assoziationen dessen, was wir sehen, erweitert und uns so zu imaginativen Reaktionen führt, die der Mensch ohne derartige Hilfe nicht erlangen kann. Im Jahr 1799 trieb Turner diesen Prozess noch weiter voran, indem er neben den Titeln von fünf Werken Dichtung heranzog, die besonders metaphernreich war, um die Bilder imaginativ in Bereiche hinein zu erweitern, die die Bildkunst ohne verbale Hilfe nicht erreichen kann. Und 1800 kehrte Turner bei zwei Ansichten walisischer Burgen (unten abgebildet) diesen Prozess wieder um, indem er ausschließlich deskriptive Dichtung ohne jede Metaphorik zitierte. Stattdessen inkorporierte er die Metaphern in die Bilder selbst und vollendete auf diese Weise den Prozess der Integration von Malerei und Dichtung, während er gleichzeitig die Möglichkeiten visueller Bilder, Bedeutung zu vermitteln, erheblich erweiterte. Danach zitierte Turner in den Ausstellungskatalogen vier Jahre lang keine Dichtung mehr. Wenn er es tat, dann, um die inneren Gefühle der porträtierten Menschen zum Ausdruck bringen, wiederum etwas, das die Malerei ohne die Hilfe von Worten nicht bis zur letzten Konsequenz kann. Diese methodische Erkundung der Möglichkeiten der Malerei und der Dichtung sollte sich für den Rest von Turners Laufbahn als von unschätzbarem Wert erweisen. Turners in den Jahren 1798-1800 durchgeführte Untersuchung der Mechanismen, anhand derer visuelle Bedeutungen kommuniziert werden, wurden durch seine intensive Beschäftigung mit Claude Lorrain um das Jahr 1799 herum unterstützt. Möglicherweise wurde Turner durch den Eindruck, den vor allem zwei Bilder dieses Malers auf ihn gemacht hatten, zu dieser detaillierten Analyse veranlasst. Eines war die Landschaft mit dem Opfer des Vaters der Psyche an Apollo (Anglesey Abbey, Cambridgeshire), das gerade aus Italien nach Großbritannien gebracht worden war und angesichts dessen Turner ”sowohl erfreut als auch unglücklich” gewesen sein soll – “...es schien jenseits der Macht der Nachahmung zu sein”. Das andere Bild war eine Hafenszene, Der Seehafen: Die Einschiffung der Königin von Saba (National Gallery, London), die dem wohlhabenden Londoner Kunstsammler John Julius Angerstein gehörte. Turners Reaktion auf dieses Bild war recht dramatisch (und charakteristisch):

* * * 8 – J.M.W. Turner, Ausblick aus dem Kreuzgang nach Süden, Salisbury Cathedral, ca. 1802, Aquarell, 68 x 49,6 cm, Victoria and Albert Museum, London. Eines der vielen Exemplare aus der Reihe großformatiger Ansichten der Kathedrale, die Turner für Sir Richard Colt Hoare anfertigte.

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Als Turner sehr jung war, besuchte er Angerstein, um seine Bilder zu sehen. Angerstein kam in das Zimmer, während der junge Maler den Seehafen von Claude betrachtete und sprach ihn an. Turner war verlegen, erregt und brach in Tränen aus. Mr. Angerstein fragte nach dem Grund und drängte auf eine Antwort, bis Turner voller Leidenschaft sagte: “Weil ich niemals in der Lage sein werde, etwas wie dieses Bild zu malen.” Turners Analyse bestand nicht nur aus der genauen Betrachtung von großen Ölgemälden wie diesem, sondern auch in dem genauen Studium zweier Bücher mit dem Titel Liber Veritatis (“Buch der Wahrheit”). Es handelte sich um einen um 1776 von dem Londoner Graveur Richard Earldom produzierten Satz aus 200 Mezzotintos, die Zeichnungen Claudes reproduzierten, die dieser jeweils nach der Vollendung eines seiner reifen Gemälde angefertigt hatte. Der französische Meister setzte in starkem Maße visuelle Metaphern ein. Ohne jeden Zweifel erkannte Turner einen Großteil von ihnen, denn schon bald ahmte er sie sehr deutlich nach. Turners Claude-Rezeption hatte profunde Auswirkungen auf seine Art, Bedeutung auszudrücken. Außerdem bestimmte sie die Entstehung zahlreicher seiner Kompositionen und eines wesentlichen Teils seiner Sujets und Bildwelt. Im Verlauf der 1790er Jahre erzielte Turner aufgrund der gestiegenen Nachfrage immer höhere Preise für seine Werke. Die Tatsache, dass er im Juli 1799 Aufträge für nicht weniger als 60 Aquarelle hatte, ist ein deutliches Zeichen seiner Beliebtheit. Zu seinem kommerziellen Erfolg gesellte sich eine wachsende Anerkennung in der Royal Academy, die am 4. November 1799 auch offiziell Ausdruck fand, indem er zu einem Associate Royal Academician (Assoziiertes Mitglied) ernannt wurde. Dies war eine unerlässliche Voraussetzung, um ein vollwertiges Mitglied zu werden, und auch diese Ehre sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Turner leistete 1801 einen wichtigen Beitrag zu einer solchen Ehrung, als er sein bis dato bestes Seestück, Holländische Boote in einem Sturm: Fischer bemühen sich, ihren Fang an Bord zu bringen, das auch als Bridgewater-Seestück (nach dem Duke of Bridgewater, der es in Auftrag gegeben hatte) bekannt ist, malte. Das (unten abgebildete) Werk sorgte für eine Sensation. Reynolds’ Nachfolger als Präsident der Royal Academy, Benjamin West (1783-1820), verglich es lobend mit einem Rembrandt, was für einen jungen Maler, der erst noch Karriere machen musste, ein großes Kompliment war. Schließlich führte der Eindruck, den dieses Bild gemacht hatte, am 10. Februar 1802 zu Turners Ernennung zu einem vollwertigen Royal Academician, und zwar im beispiellos jungen Alter von 26 Jahren. Diese Ehrung gewährte ihm Zugang in einen sehr exklusiven Club und verschaffte ihm das ungeheure kulturelle und ökonomische Privileg, auf einem sehr prestigeträchtigen Markt alljährlich seine Werke der Öffentlichkeit vorstellen zu können, ohne sie einem Auswahlkomitee vorlegen zu müssen. Im Sommer 1801 unternahm Turner eine lange Schottlandreise, die ehrgeizigste bis zu diesem Zeitpunkt. Nach seiner Rückkehr zeigte er seine Zeichnungen seinem Kollegen, dem Landschaftsmaler Joseph Farington RA, der früh im Jahr 1802 notierte, dass “Turner Schottland für ein malerischeres Studienland hält als Wales, die Umrisse der Berge sind besser und die Felsen massiver”. Später im gleichen Jahr sollte Turner aber Gelegenheit haben, Berge kennen zu lernen, die die schottischen wie Zwerge wirken ließen. Im März 1802 schlossen Großbritannien und Frankreich nach neun Jahren Krieg Frieden. Dies erlaubte es zehntausenden Briten, erstmals das Festland zu besuchen. Obwohl Turner in Schottland und Wales bereits Berge gesehen hatte, wusste er, dass man die Schweizer Alpen sehen musste, wenn man in Europa von wirklich majestätischen Höhen beeindruckt werden wollte. Folglich begab er sich im Sommer 1802 dorthin und erkundete einige der westlichen Kantone und den nördlichen Teil des Aostatals, bevor er sich nach Schaffhausen und Basel begab. Von hier aus reiste er weiter nach Paris, um im Louvre die von Napoleon gestohlenen Kunstschätze zu besichtigen. Hier traf er Farington und erzählte ihm, dass er in der Schweiz “aufgrund des Wanderns unter großer Müdigkeit” gelitten habe und “häufig schlechtes Essen und schlechte Unterkunft erfahren hatte. Das Wetter war sehr schön. Er sah sehr schöne Gewitter in den Bergen.”

* * * 9 – J.M.W. Turner, Das Wrack eines Frachtschiffes, ca. 1810, Öl auf Leinwand, 172,7 x 241,2 cm, Fundação Calouste Gulbenkian, Lissabon. Mit diesem Bild erschöpfte Turner seinen Drang, sich mit Hilfe grauenvoller Schiffbruchszenarien auszudrücken, denn, von einer Ausnahme abgesehen, malte er in den darauf folgenden zwölf Jahren kein solches Motiv mehr.

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Im Louvre studierte Turner Werke von Poussin, Tizian und anderen, obwohl die zahlreichen Arbeiten von Claude Lorrain in der Sammlung zu diesem Zeitpunkt nicht ausgestellt gewesen zu sein scheinen (oder vielleicht hat Turner sie aufgrund seiner Ermüdung und visuellen Überfütterung auch einfach übersehen). Turner verarbeitete die Eindrücke der Schweizer Landschaft nach seiner Rückkehr nach England. Er schuf im Winter 1802/03 auch ein eindrucksvolles Gemälde über den Blick von Calais aus über den Ärmelkanal (Abbildung unten). Dieses Werk enthielt eine geistreiche anti-französische Aussage, womit Turner sich in eine Tradition stellte, die bis zu William Hogarth (1697-1764), einem weiteren von Turner bewunderten Künstler, zurückreichte. Dies war insofern natürlich, als Turner zu einer Zeit an dem Bild arbeitete, als ganz England von einer Wiederaufnahme der Feindseligkeiten gegenüber Frankreich sprach. Etwa um diese Zeit könnte Turner Vater geworden sein. Er weigerte sich stets, zu heiraten. Man geht jedoch schon seit langem davon aus, dass er zwei Töchter hatte, Evelina (1801-1874) und Georgiana (1811?-1843). Man hält eine gewisse Mrs. Sarah Danby (1760/66-1861), die etwa 10 bis 15 Jahre älter als Turner war, für die Mutter. Sie war die Witwe eines 1798 verstorbenen Londoner Komponisten namens John Danby. Neuere Forschungen haben aber Zweifel an der Annahme geweckt, dass Turner ein Verhältnis mit Mrs. Danby hatte, dass er der Vater der beiden Mädchen und sie ihre Mutter war. Es scheint ebenso gut möglich zu sein, dass Turners Vater die beiden Mädchen gezeugt hatte. Ein Eintrag in kirchlichen Urkunden in Guestling, Sussex, für den 19. September 1801 verzeichnet die Taufe von Evelina und nennt “William und Sarah Turner” als die Eltern. Obwohl Turner in der Tat meist William (statt Joseph) als Vornamen benutzte, könnte der Eintrag sich genauso gut auf seinen Vater beziehen. Da Turners Vater erst 1804 Witwer wurde, musste er im Geburtsjahr Evelinas noch recht diskret in Bezug auf eine außereheliche Beziehung sein (dies ist u.U. der Grund, warum Evelina in einer abgelegenen Kirche im tiefsten Sussex und nicht in London getauft wurde). Sarah Danby musste sogar noch stärker an Geheimhaltung interessiert sein, da sie von der Royal Society of Musicians eine Pension bezog, deren Zahlung eingestellt worden wäre, wenn sie ein Verhältnis mit einem Mann gehabt hätte. Zweifellos hinterließ J.M.W. Turner ihr in frühen Entwürfen seines Testaments Geld. Schließlich aber strich er dies wieder, was darauf hindeutet, dass er nicht der Vater der beiden Mädchen und sie nicht ihre Mutter war. Um die Angelegenheit noch weiter zu verkomplizieren, ist es schließlich auch möglich, dass Sarah Danby zuließ, dass man sie für die Mutter der Mädchen hielt, um ihre Nichte Hannah Danby zu schützen. Diese Dame blieb ihr gesamtes Leben unverheiratet und musste daher daran interessiert sein, nicht als die Mutter zweier unehelicher Töchter identifiziert zu werden. Sie diente Turner ab den 1820er Jahren in einem seiner Londoner Häuser als Haushälterin und Turner hinterließ ihr in seinem Testament eine nicht unerhebliche Summe, was ein Indiz dafür sein könnte, dass sie die Mutter und er der Vater der beiden Mädchen war. Über Hannah Danbys Charakter und ihr Aussehen als junge Frau ist nichts bekannt, später könnte sie eine die Besucher abstoßende Hautkrankheit gehabt haben. Insgesamt scheint es heute unmöglich zu sein, die wahren Eltern der beiden Mädchen zu identifizieren. Turner wurde im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts immer aktiver. 1803 begann er mit der Einrichtung einer Galerie für seine Arbeiten in seinem Haus in der Harley Street. Er tat dies, weil sich in der Royal Academy eine erbitterte politische Auseinandersetzung entwickelt hatte, die sogar die Akademie ihren königlichen Status zu kosten drohte und damit ihre ökonomische Basis gefährdete (die bei einem Verlust ihres Ranges nur noch eine Ausstellungsgesellschaft unter vielen gewesen wäre, und dann auch auf den Adel weniger Anziehungskraft ausgeübt hätte). Turner schützte insofern durch die Einrichtung einer eigenen Galerie lediglich seine wirtschaftlichen Interessen. Die erste Ausstellung dort mit 30 Bildern öffnete im April 1804 ihre Pforten. Bis 1810 fanden hier regelmäßig jährlich Ausstellungen statt und im sich anschließenden Jahrzehnt in unregelmäßigen Abständen. (In der gesamten Zeit stellte Turner jedoch gleichzeitig auch in der Royal Academy aus.) Turner verbrachte ab 1805 Teile des Jahres außerhalb Londons, zunächst westlich von London im Sion Ferry House in Isleworth und dann, im Herbst des folgenden Jahres, in dem nahe gelegenen Hammersmith.

* * * 10 – J.M.W. Turner, Norham Castle on the Tweed, Mezzotinto-Radierung für das Liber Studiorum, 1816, Tate Britain, London.

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Während er in Isleworth wohnte, ließ er sich ein Boot bauen. Er nutzte es als schwimmendes Atelier auf der Themse und malte unter freiem Himmel eine Reihe von Ölskizzen. Obwohl sie sehr lebhaft sind und auf die Impressionisten voraus verweisen, schätzte Turner sie nicht besonders und stellte sie niemals aus. Im Jahr 1811 begann er mit dem Bau eines kleinen Hauses in Twickenham, ebenfalls westlich von London gelegen. Zunächst nannte er es Solus Lodge. Später taufte er es in Sandycombe Lodge um. Turner entwarf das Haus selbst und es steht noch heute, obwohl es im Verlauf der Jahre verändert worden ist. Zwischen 1802 und 1811 reiste Turner nicht viel und war stark damit beschäftigt, für seine Galerie und die Akademie zu malen sowie unzählige Aquarelle als Auftragsarbeiten anzufertigen. Die Zahl seiner Kunden wuchs nach wie vor an und umfasste bald auch einige der führenden Kunstsammler der Zeit, wie Sir John Leicester (später Lord de Tabley) und Walter Fawkes. Dieser war ein rauer, aber herzlicher, bodenständiger und liberaler Mann aus Yorkshire, dessen prachtvollen Landsitz Farnley Hall in der Nähe von Leeds Turner erstmals um 1808 herum besuchte. Fawkes war vielleicht Turners engster Freund unter seinen Gönnern. Turner besuchte Farnley Hall bis in die Mitte der 1820er Jahre hinein regelmäßig, wurde gewissermaßen ein Familienmitglied und verfügte dort über einen ausschließlich ihm vorbehaltenen Raum. Turner begann 1806 mit der Arbeit an einem wichtigen Satz an Stichen, für die er die ursprünglichen Radierungen selbst anfertigte. Es handelte sich um das Liber Studiorum (“Buch der Studien”). Sein Titel eifert nicht nur jenem des Liber Veritatis von Claude und Earldom nach, sondern es wurde auch zum Großteil ebenfalls im Medium Mezzotinto angefertigt. Ursprünglich sollte das Liber Studiorum 100 Drucke enthalten. Bis 1819 waren aber lediglich 71 Stiche publiziert und das Projekt starb einen langsamen Tod, obwohl Zeichnungen für alle noch ausstehenden Drucke und sogar Probedrucke der noch ausstehenden 29 Reproduktionen angefertigt wurden. Turner war eindeutig durch das Vorbild von Claude-Earldom dazu inspiriert worden, sein Liber Studiorum als eine Lernhilfe für andere anzubieten. Theoretisch war dies ein finanzieller Schachzug, da es zu dieser Zeit in Großbritannien noch einen Mangel an Kunstschulen und infolgedessen außerhalb der großen Städte einen echten Bedarf für “Selbstlern”-Bücher gab. Um seine didaktischen Ziele zu erreichen, unterteilte Turner die Gegenstände des Liber Studiorum in unterschiedliche Kategorien, namentlich Architektur, Meer, Berge, Historie, Pastorale und Gehobene Pastorale. Er führte die letzte Klassifikation ein, um die auf klassischen Mythen basierende Pastorale, wie man sie bei Claude und Poussin findet, von der rustikaleren zu unterscheiden, die man aus der niederländischen Malerei und/oder der profanen Realität kennt. Ende 1807 unternahm Turner einen weiteren Schritt, der enorm positive Folgen für seine Kunst haben sollte. Er meldete sich freiwillig für die Position des Professors für Perspektive an der Royal Academy und widmete sich einem rigorosen Studienprogramm, um diese Aufgabe auch erfüllen zu können. In diesem Rahmen las er mehr als 70 Bücher über Perspektive sowie Kunst und Ästhetik. Die Mehrheit dieser Arbeiten vertrat mehr oder weniger die Theorie der poetischen Malerei. Turner hielt die erste Serie aus sechs Vorträgen pro Jahr im Januar 1811 und hielt diese Vorlesungen – mit gewissen Unterbrechungen – bis zum Jahr 1828 (obwohl er die Professur erst 1838 zurückgab). Seine Manuskripte befinden sich heute in der British Library. Sie dokumentieren, dass Turner sich nicht auf eine Analyse der Perspektive beschränkte, sondern ein weit größeres Spektrum von Themen ansprach. Sein Publikum, das natürlich etwas über Perspektive lernen wollte, war verwundert. Aber stattdessen erhielten sie Turners Version von Reynolds’ Lehren. (Der letzte Vortrag der Reihe beschäftigte sich z.B. damit, wie die alten Meister häufig die Landschaft als Hintergrund in ihren Bildern eingesetzt hatten). Aber auch wenn diese Veranstaltungen für Turners Zuhörer eine Zeitverschwendung waren, war dies für Turner selbst keineswegs der Fall. Die für die Vorlesungen erforderliche Lektüre führte zu einer konzentrierten Arbeit mit der Theorie der poetischen Malerei und förderte ganz besonders seinen Idealismus, wie zahlreiche nach 1811 geschaffene Werke dokumentieren.

* * * 11 – J.M.W. Turner, Die Bucht von Baiae: Apoll und die Sibylle, RA 1823, Öl auf Leinwand, 145,5 x 239 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Das Gemälde wurde mit der Inschrift “Waft me to sunny Baiae’s shore” ausgestellt. Turners Freund, der Maler George Jones, der wusste, dass die Landschaft sehr viel prosaischer war als sie hier dargestellt wurde, schrieb die Worte “Splendide Mendax” (Wundervolle Lügen) auf den Rahmen. Turner reagierte erfreut und sagte: “Alle Dichter lügen”; eine Aussage, die seine Gleichsetzung von Malerei und Dichtung bezeugt. Er ließ die Inschrift viele Jahre lang auf dem Rahmen stehen.

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12 – William Havell, Sandycombe Lodge, Twickenham, das Anwesen J.M.W. Turners, RA, ca. 1814, Aquarell, 10,8 x 20 cm, Privatsammlung, Großbritannien.

* * * Die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung dieser ästhetischen Theorie war nicht der einzige neue Stimulus für Turner in dieser Zeit. Im Jahr 1811 entwickelte er ebenfalls eine neue Wertschätzung der Ausdruckskraft von schwarz-weißen gestochenen Reproduktionen seiner Werke. (Hierbei wird ein Bild oder eine Zeichnung reproduziert, indem es in eine Metallplatte geätzt und gestochen wird; der farbliche und tonale Charakter wird dabei in monochromer Weise durch eine Variation der Dicke und der Konzentration der Linien wiedergegeben.) Turner hatte schon seit den frühen 1790er Jahren für Stiche vorgesehene Aquarelle produziert, aber im Jahr 1811 nahm er erstaunt die tonale Schönheit und Ausdruckskraft zur Kenntnis, die einer seiner Graveure, John Pye, bei einem Druck seines weiter unten diskutierten Ölgemäldes Popes Villa in Twickenham erzielte. Pyes Erfolg ließ Turner der Idee, auf diese Weise weitere seiner Werke reproduzieren zu lassen, sehr positiv gegenüberstehen. Da diese Haltung rasch bekannt wurde, erhielt er wenig später von zwei anderen Stechern und Verlegern, den Brüdern William Bernard und George Cooke, den Auftrag, eine umfangreiche Aquarellserie über die englische Südküste für den Zweck der anschließenden Anfertigung von Stichen zu produzieren. Das Projekt der Picturesque Views on the Southern Coast wurde erst in der Mitte der 1820er Jahre abgeschlossen. Turner bewies hierbei eine enorme Geschicklichkeit in der Darstellung des Wesenscharakters dieser Region und der sie prägenden tief liegenden sozialen, kulturellen, historischen und ökonomischen Faktoren. (Ein Beispiel aus der Serie, Rye, Sussex, von etwa 1823, findet sich unten.) Im Laufe der Zeit sollte Turner mehrere hundert Aquarelle für derartige Zwecke fertigen und in einem Großteil von ihnen den Geist des jeweiligen Ortes ähnlich erfolgreich einfangen. Turner stellte 1812 in der Royal Academy ein ungewöhnlich wichtiges Bild aus, nämlich Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen (unten abgebildet). Dieses Sujet hatte Turner schon seit den späten 1790er Jahren fasziniert, als er eine Kopie einer heute leider verlorenen Darstellung, wie Hannibal nach Italien hinunterblickt, von J.R. Cozens angefertigt

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hatte. Die unmittelbare Inspiration für das Gemälde erhielt Turner jedoch erst im Spätsommer 1810 während eines Aufenthalts in Farnley Hall. Eines Tages sah Fawkes Sohn Hawksworth Fawkes, wie Turner in der Tür des Hauses stand und über Wharfedale blickte. Wie Fawkes sich erinnert, rief Turner aus: “Hawkey! Hawkey! Komm her! Komm her! Schau dir dieses Gewitter an. Ist es nicht prachtvoll? – Ist es nicht wundervoll? – Ist es nicht erhaben?” Währenddessen machte Turner sich auf der Rückseite eines Briefes Notizen über seine Form und seine Farbe. Ich schlug ihm einen besseren Zeichenblock vor, aber er sagte, es reiche vollkommen aus. Er war gefesselt – er war verzaubert. Der Sturm rollte und fegte und schickte seine Gewitter über die Yorkshire-Hügel. Schließlich zog der Sturm vorüber und Turner beendete seine Arbeit. “Da! Hawkey”, sagte er. ”In zwei Jahren wirst du es wiedersehen und es 'Hannibal überquert die Alpen’ nennen.” Diese Anekdote illustriert nicht nur die Kraft von Turners innerem Auge, sondern auch seine ästhetischen Auffassungen. Seine unmittelbare Verbindung eines erhabenen Naturschauspiels mit einem epischen historischen Sujet ist zutiefst poetisch. Die Großartigkeit der Natur war für Turner eindeutig kein Selbstzweck, sondern lediglich ein Ausgangspunkt. Seine Befolgung der Theorie der poetischen Malerei wird ferner durch die Methode belegt, mit der er Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen entwickelte, da er das Bild in genau der von Reynolds propagierten Weise synthetisierte, in diesem Fall, indem er einen Sturm in Yorkshire mit einer Alpenansicht aus dem Jahr 1802 verband. Mit dem Hannibal-Gemälde machte Turner ferner sein verbales Debüt. Obwohl er seine Werktitel schon seit 1798 um Zitate aus der Dichtung ergänzt hatte und manche davon u.U. von ihm selbst stammten, fügte er 1812 erstmals eindeutig von ihm selbst stammende Zeilen hinzu. Sie stammten aus einem “Manuskriptgedicht” mit dem Titel Fallacies of Hope (“Trugschlüsse der Hoffnung”), das überhaupt nur in Form kurzer Auszüge in den Ausstellungskatalogen der Jahre zwischen 1812 und 1850, als Turner letztmals in der Royal Academy ausstellte, existiert zu haben scheint. Der Titel dieses angeblich epischen Gedichts und häufig auch die Verse selbst artikulieren Turners Ansicht, dass alle Hoffnungen, erfolgreich den Kräften der Natur zu widerstehen, die inhärente Schwäche und Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur zu überwinden und religiös erlöst zu werden, vergeblich sind. Im Falle von Hannibal erinnern die Verse an die zentrale Ironie im Leben des karthagischen Generals, der trotz seines sehr erfolgreichen Versuchs, die Alpen nach Italien zu überqueren, seinen Erfolg schließlich völlig verspielen sollte, indem er zuließ, dass seine und die Kraft seiner Landsleute durch ein Leben voll Luxus und Müßiggang in Capua verspielt wurden. Auf diese Weise gaben die Karthager jegliche Chance aus der Hand, die Römer wirklich zu besiegen. Diese Ironie galt eindeutig Turners gerade mit dem Aufbau des Empire beschäftigten Landsleuten und sollte vor den Gefahren warnen, die sich ergaben, wenn sie in ähnlicher Weise ihre selbstsüchtigen Interessen über die des Staates stellten. Zu einer Zeit, da sich England immer noch im Krieg mit Napoleon befand, war dies eine sehr relevante Aussage. Die Idee, dass die Bürger eines Landes zugunsten der Verfolgung des Gemeinwohls auf Egoismus, Eitelkeit und Luxus verzichten sollten, war in der augusteischen Dichtung des 18. Jahrhunderts häufig zu finden und Turner dürfte sie auch aus dieser Quelle bezogen haben. Er sollte diese altmodische Aussage nach 1812 in zahlreichen, immer innovativer werdenden Bildern wiederholen. Diese zeigen nicht nur Karthago, sondern weitere große Reiche wie Griechenland, Rom und Venedig, deren Niedergang aufgrund der Selbstsucht ihrer Bürger ebenfalls als Warnung an England dienen konnte. Diese politische Moral war ein Ausdruck von Turners 1811 in einem Brief geäußerter Ansicht, dass es die Pflicht des Dichters – und damit implizit auch die des poetischen Malers – sei, als ein moralischer Seher zu wirken. Turners Hannibal-Gemälde aus dem Jahr 1812 erhielt einige sehr positive Kritiken. Der amerikanische Maler Washington Allston nannte es z.B. ein ”wunderbar gutes Ding” und erklärte, Turner sei ”der größte Maler seit Claude”. Turners Arbeiten wurden jedoch nicht von allen so begeistert aufgenommen. Während des gesamten ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts wurden sie wegen der alarmierenden Freiheiten, die Turner sich bei der Erscheinung der Dinge und Figuren nahm sowie den von ihm eingesetzten immer helleren Tönen von dem einflussreichen Kunstliebhaber, Sammler und Künstler Sir George Beaumont scharf kritisiert.

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Wahrscheinlich war Beaumont, der einst selbst der ”Kopf der Landschaftsmaler” genannt worden war, neidisch auf den großen künstlerischen Erfolg Turners, der in den 1790er Jahren und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Position leicht ausfüllte. Aufgrund seiner Abneigung gegen Turners Bilder bemühte Beaumont sich sehr, auch andere Kunstsammler davon abzuhalten, sie zu erwerben. Turner war darüber verständlicherweise sehr erbost, obwohl er zu dieser Zeit bereits über eine loyale Anhängerschaft verfügte, die bereit war, hohe Preise für seine Arbeiten zu zahlen. In der Ausstellung der Royal Academy von 1813 war Turner mit einer ungewöhnlich gelungenen ländlichen Szene, Frostiger Morgen (Tate Britain, London), vertreten. Hier finden wir einmal keine große Aussage, sondern einen kleinen Ausschnitt aus dem Alltagsleben (leider verfügt das Gemälde heute nicht mehr über die Lasur, mittels derer die Weiße des Frostes wiedergegeben wurde). Ebenfalls ausgestellt war ein erstmals 1805 in Turners eigener Galerie gezeigtes Bild, eine scharfe, dramatische Antwort auf Poussins Die Sintflut. Turner stellte 1814 zwei Arbeiten aus, von denen Apullia auf der Suche nach Appullus (Tate Britain, London) einen verdeckten Angriff auf Beaumont enthielt. Im Jahr 1815 steuerte Turner zwei seiner bis zu diesem Zeitpunkt großartigsten Bilder bei: Die Überquerung des Baches und Dido erbaut Karthago, oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches, die beide weiter unten interpretiert werden. Turner nannte Dido erbaut Karthago sein ”chef d’oeuvre” und in der ersten Version seines Testaments von 1829 sah er vor, dass diese Leinwand als sein Leichentuch dienen sollte. Er fragte einen seiner Testamentsvollstrecker, Francis Chantrey, sogar, ob dieser Wunsch auch erfüllt werden würde. Chantrey machte seinem Amt alle Ehre und antwortete, dass Turners Wunsch respektiert werde, fügte aber sofort hinzu, dass “sobald ihr begraben seid, ich euch ausgraben lassen und [die Leinwand] entrollen lassen werde”. Turner sah die komische Seite der Angelegenheit und änderte sein Testament dahingehend, dass die National Gallery das Gemälde erhalten solle, um es neben die Hafenansicht Claudes zu hängen, die ihn in Angersteins Haus hatte in Tränen ausbrechen lassen. Es ist nicht überraschend, dass Turner Dido erbaut Karthago besonders schätzte. Er hatte schon lange eine Hafenszene malen wollen, die dem Vergleich mit Claudes Bild standhalten konnte. Mit diesem Bild gelang es ihm (ebenso wie er mit Die Überquerung des Baches seine bis zu diesem Zeitpunkt beste Landschaft nach Claudes Muster malte). Gleichzeitig fasste Dido all das zusammen, was er in seinen Perspektivevorlesungen so angestrengt und undeutlich auszudrücken versuchte. Das Gemälde ist mit seiner meisterhaften Perspektive, der superben Darstellung von Licht, Schatten und Spiegelungen, dem moralischen Kontrast zwischen Leben und Tod (repräsentiert durch die lebhafte Stadt und das feierliche Grabmal) und seiner absoluten Harmonie von Tageszeit, Bedeutung und malerischer Struktur mit Sicherheit weitaus aussagekräftiger als alle gewundenen Vorträge Turners. Zwei Jahre später stellte Turner das Gegenstück zu Dido aus, Der Untergang des Karthagischen Reiches (unten abgebildet). In der dazwischen liegenden Ausstellung der Royal Academy hatte er zwei einander ergänzende Bilder eines griechischen Tempels gezeigt. In einem von ihnen (Sammlung des Duke of Northumberland) porträtierte er das Gebäude, wie es sich in einem ruinierten Zustand unter der damaligen türkischen Herrschaft darstellte, während er es in dem anderen (unten abgebildet) so malte, wie es in der Antike wahrscheinlich ausgesehen hatte. Das ruinierte Gebäude wird passenderweise im Abendlicht gezeigt, da, metaphorisch gesehen, seine Zeit abgelaufen ist. Im Gegenstück stellte Turner das rekonstruierte Gebäude bei Sonnenaufgang dar, womit er nicht nur auf die ständige Erneuerung in der Welt der Antike, sondern auch auf die zukünftige Wiederherstellung der griechischen Freiheit verwies. Der letztgenannte Punkt war sehr wichtig für Turner, da er voll und ganz mit einem seiner bevorzugten augusteischen Dichter, James Thomson, darin übereinstimmte, dass Griechenland die alte Heimat von Freiheit und Demokratie war. Turner war 1812 durch das Erscheinen des zweiten Canto von Byrons Childe Harold’s Pilgrimage (“Ritter Harolds Pilgerfahrt”), in dem der Verlust der griechischen Freiheit beklagt wird, erneut an die Unterdrückung des damaligen Griechenland erinnert worden. Die beiden Bilder aus dem Jahr 1816 können insofern durchaus die bis dahin deutlichsten Identifizierungen Turners mit Freiheit und Demokratie gewesen sein. Turner lebte in der Zeit der größten politischen Umbrüche in Europa. Seine Affinität zu Forderungen nach politischer und religiöser Freiheit scheint erstmals um 1800 herum in Werken, die auf zeitgenössische Freiheitskämpfe in Großbritannien und im Ausland anspielen, Ausdruck gefunden zu haben. In dieser Zeit hoffte er auf eine Ernennung zum Mitglied der Royal Academy und viele ihrer führenden Mitglieder, wie Barry, Füssli und Smirke, waren bekanntermaßen Anhänger liberalen Gedankenguts. Möglicherweise wollte Turner sie mit derartigen Bildern für sich einnehmen. Zu dieser Zeit war Turners

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13 – J.M.W. Turner, Rom vom Vatikan aus gesehen. Raphael bereitet seine Fresken in der Loggia vor, begleitet von La Fornarina, RA 1820, Öl auf Leinwand, 177 x 335,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London.

* * * S. 28-29 14 – J.M.W. Turner, Der restaurierte Tempel des Jupiter Panellenius, RA 1816, Öl auf Leinwand, 116,8 x 177,8 cm, Privatsammlung, New York.

wichtigster zukünftiger Gönner, Walter Fawkes, sogar ein Anhänger der Republik, obwohl er seine Position später änderte (jedenfalls in der Öffentlichkeit). Es gibt keinen Zweifel, dass die Ähnlichkeit ihrer politischen Überzeugungen die Verbindung zwischen Turner und Fawkes nach 1808 stärkte. Darüber hinaus ist belegt, dass Turner in den frühen 1820er Jahren verbotene radikale politische Literatur gelesen hat. Turner sollte seine freiheitlichen Gedanken während dieses gesamten Jahrzehnts, in dem die Griechen um ihre Freiheit kämpften und die Rufe nach einer Parlamentsreform in England lauter wurden, auf subtile Weise artikulieren. In einer Reihe von zwischen 1829 und 1833 entstandenen Arbeiten spielte Turner sogar auf die letztgenannte Auseinandersetzung an, die wichtigste politische Frage in England in seiner gesamten Lebenszeit. In einem dieser Bilder – einem Aquarell über eine Parlamentswahl in Northampton – machte er sogar seine Sympathien mit der Parlamentsreform recht deutlich, denn die Zeichnung zeigt die Wahl von Lord Althorp, dem Schatzkanzler in der Reformregierung des Earl Grey. In mehreren Arbeiten aus der Zeit nach der Erlangung der griechischen Unabhängigkeit im Jahr 1830 glorifizierte Turner diese Wiedergeburt der Freiheit (siehe z.B. das unten abgebildete Aquarell eines Springbrunnens auf der Insel Chios). Turners Identifikation mit freiheitlichen Bestrebungen ist absolut nachvollziehbar, wenn man seine niedrige soziale Herkunft und seine große Sympathie mit den normalen Menschen in Rechnung stellt. Obwohl er bei der Artikulation seiner politischen Ansichten stets sehr vorsichtig sein musste – denn die meisten seiner begüterten Gönner waren Tories und deshalb Gegner der Parlamentsreform –, kehrte Turner weder seiner sozialen Herkunftsklasse noch deren politischen Zielen jemals den Rücken. Turner nahm im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wieder seine Reisen auf. In den Jahren 1811, 1813 und 1814 besuchte er das West Country, um Material für seine “Southern Coast”-Serie und andere Projekte zu sammeln.

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Auf der Reise von 1813 durchlebte er einen besonders angenehmen Aufenthalt in Plymouth, wo er sehr gefeiert wurde. Er lud seine Freunde zu Picknicks ein, unternahm in stürmischem Wetter Bootsfahrten – die er sehr genoss, da er seefest war – und malte wieder in Öl unter freiem Himmel. Im Jahr 1816 unternahm er eine ausgedehnte Reise durch den Norden Englands, um Sujets für Aquarelle zu sammeln, die in Form von Stichen im Rahmen eines Projekts “History of Richmondshire”, eines Überblicks über ein County, das im Mittelalter von Richmond in Yorkshire bis nach Lonsdale in Lancashire gereicht hatte, publiziert werden sollten. Er hätte für diese Reise keine weniger geeignete Zeit auswählen können, da im Vorjahr ein großer Vulkanausbruch im Pazifik das Wetter auf der ganzen Welt erheblich verändert und zu endlosem Regen in England (wo man vom “Jahr ohne Sommer” sprach) geführt hatte. Ursprünglich hatte Turner 120 Aquarelle für diese Serie anfertigen und dafür die riesige Summe von 3000 Guineas erhalten sollen. Unglücklicherweise kam das Projekt schon kurz nach seinem Beginn zum Erliegen, da es nur wenig Begeisterung für die antiquarischen Texte gab, die Turners Bilder begleiteten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Turner erst 21 Aquarelle produziert. Ein Beispiel findet sich unten (Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castle). Turner besuchte 1817 auch wieder den Kontinent. Er legte einen Zwischenstopp am Ort der Schlacht von Waterloo ein, bevor er das Rheinland und Holland bereiste, wo er die Rembrandts im Rijksmuseum in Amsterdam studierte. Eindrucksvolle Bilder von Waterloo unmittelbar nach der Schlacht sowie der Maas in Dordrecht fanden sich im nächsten Jahr in der Ausstellung der Royal Academy (beide Werke sind unten abgebildet). Nicht zum ersten Mal benutzte Turner ein Bilderpaar, um Krieg und Frieden miteinander zu kontrastieren. Die Ansicht von Dordrecht wurde von Walter Fawkes erstanden, der sie als zentrales Stück seiner Sammlung über den Kamin in Farnley Hall hängte. Fawkes, der 1819 einen großen Teil seiner großen Sammlung aus Turner-Aquarellen in seiner Londoner Residenz der Öffentlichkeit zugänglich machte, kaufte außerdem einen kompletten Satz aus 50 Aquarellen auf grau getöntem Papier, die Turner im Rheinland gemalt hatte. Für den Katalog verfasste er eine eindrucksvolle Widmung an Turner, in der er schrieb, dass er Turners Bilder niemals betrachten konnte, “ohne intensiv die Freude zu empfinden, die ich während des größeren Teils meines Lebens durch die Anwendung eures Talents und das Vergnügen eurer Gesellschaft erfahren habe”. Diese Widmung muss Turner sehr gerührt haben. Turner stattete 1819 schließlich auch Italien einen Besuch ab, obwohl er auf der Basis der Skizzen anderer bereits eine Reihe ausgezeichneter Aquarelle italienischer Landschaften gemalt hatte. Er besuchte Mailand, Venedig, Rom, Neapel, Sorrent und Paestum, bevor er sich wieder nach Norden wandte und Weihnachten wahrscheinlich in Florenz verbrachte. Er trat die Rückreise Ende Januar 1820 an und überquerte bei dieser Gelegenheit den Mont Cenis-Pass, wo seine Kutsche in einem Schneesturm umkippte (Turner ließ sich keine Chance entgehen und verewigte diese Erfahrung später in einem lebhaften Aquarell, das sich heute in der Birmingham Art Gallery befindet). Er traf in London mit etwa 2000 Skizzen und Studien ein und nahm sofort die Arbeit an einem Bild auf, das zu seinen größten überhaupt gehört (hier abgebildet). Es handelt sich um einen Blick von der Loggia des Vatikans, auf der man im Vordergrund den Maler Raffael sieht und war, offensichtlich um den italienischen Meister zu ehren, der genau 300 Jahre zuvor gestorben war, Bestandteil der Ausstellung der Royal Academy von 1820. Obwohl Turner in den 1820er Jahren sehr damit beschäftigt war, kleinformatige Aquarelle als Vorlage für Stiche zu produzieren (wie z.B. die juwelenartige Zeichnung Portsmouth unten), stellten die großen und hervorragend gearbeiteten Zeichnungen für das “Marine Views”-Projekt (von denen unten zwei Beispiele abgebildet sind) vielleicht die eindrucksvollsten Leistungen im Bereich der Wasserfarben der ersten Hälfte des Jahrzehnts dar.

* * * 15 – J.M.W. Turner, Der Künstler und seine Bewunderer, ca. 1827, Aquarell auf blauem Papier, 14 x 19 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London, TB CCXLIV 102.

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Nicht weniger eindrucksvoll sind die Ölgemälde Die Bucht von Baiae, mit Apollo und der Sibylle, das 1823 in der Akademie gezeigt wurde und Die Schlacht von Trafalgar, das zwischen 1822 und 1824 für den St. James Palace angefertigt wurde. In Die Bucht von Baiae (Abbildung unten) drückte Turner erneut seinen tiefen Sinn für die Ironie aus. Man sieht den Gott Apollon der Sibylle von Cumae im Tausch für ihre Gunst das ewige Leben geben. Dummerweise hat die arme Frau nur vergessen, auch die ewige Schönheit zu erbitten, die ihre Langlebigkeit begleiten sollte. Die Ruinen im Hintergrund verweisen auf ihren zukünftigen körperlichen Verfall, der von der sie umgebenden schönen Landschaft ironisch kommentiert wird. Dass Die Schlacht von Trafalgar (Abbildung unten) eindrucksvoll ist, überrascht nicht. Es ist das größte Bild, das Turner jemals gemalt hat und fängt die vom Krieg entfesselten Kräfte perfekt ein (die Schwierigkeiten Turners mit diesem Bild und sein trauriges Schicksal werden in der weiter unten zu findenden ausführlichen Diskussion des Gemäldes erörtert). Turner nahm 1825 die Arbeit an ehrgeizigen Aquarellen für ein weiteres Projekt auf. Es handelte sich um die Stichserie “Picturesque Views in England and Wales”, eine Gruppe von Zeichnungen, die völlig zu Recht “das zentrale Dokument seiner Kunst” genannt worden sind. Wie die Richmondshire-Serie sollte dieses Projekt 120 Stiche umfassen. Dieses Mal blieb das Projekt lange genug am Leben, um Turner 100 Bilder produzieren zu lassen. Leider wurde das Unternehmen 1838 eingestellt, weil sich die Drucke nicht verkauften und ihre Publikation auch aufgrund anderer Faktoren nicht mehr wirtschaftlich war. Im Jahr 1829 stellte Turner einen großen Teil der “England and Wales”-Aquarelle in London aus und wiederholte dies 1833, als in einer Ausstellung, die beeindruckend gewesen sein muss, 67 dieser Werke zu sehen waren. In den “England and Wales”-Entwürfen finden sich fast alle Aspekte der englischen Landschaft und des englischen Lebens, während gleichzeitig Turners Meisterschaft im Genre Aquarell überdeutlich wird. Während der gesamten 1820er und 1830er Jahre war Turner stark damit beschäftigt, daneben noch Aquarelle für weitere Stichpublikationen zu malen. Hierzu gehören topographische Darstellungen der Häfen, Flüsse und der Ostküste Englands, Erkundungen der Flüsse Frankreichs (Teil eines Projekts über die Flüsse Europas, das niemals über Vorstöße an Seine und Loire hinausgelangte) sowie Illustrationen für Sammlungen der Gedichte von Sir Walter Scott, Lord Byron, Samuel Rogers und Thomas Campbell. Darüber hinaus fand Turner auch noch Zeit für Illustrationen für Scotts gesammelte Prosawerke sowie Bilder der Landschaft der Bibel. Obwohl Turner das Heilige Land niemals besucht hatte, fertigte er diese Bilder auf der Basis der Skizzen von Reisenden an, die tatsächlich dort gewesen waren. Er hatte allen Grund für seine in der Mitte der 1820er Jahre geäußerte Klage, dass es “für mich niemals Urlaub gibt”. Wie bereits erwähnt, hatte Turner schon früh eine Art Fließband-Methode für die Herstellung von Aquarellen entwickelt, die sich selbstverständlich als extrem vorteilhaft erwies, wenn es um die Produktion großer Zahlen von Vorlagen für die Anfertigung von Stichen ging. Ein Zeuge hat uns zwei Berichte über Turners Vorgehensweise hinterlassen: Es gab vier Reißbretter, jedes mit einem Griff an der Rückseite. Nachdem Turner die Umrisse in sehr flüssiger Weise eingezeichnet hatte, ergriff er das Reißbrett und tauchte das ganze Bild in einen an seiner Seite stehenden Wassereimer. Anschließend wusch er rasch die gewünschten wesentlichen Farben hinein und ließ Ton in Ton fließen, bis dieser Schritt des Prozesses abgeschlossen war. Er ließ dieses Bild nun trocknen und wiederholte die Prozedur mit dem nächsten. Wenn das vierte Bild auf diese Weise bearbeitet worden war, war das erste schon wieder für die abschließenden Arbeiten bereit. ... [Turner] spannte das Papier auf Reißbretter und ließ, nachdem er sie ins Wasser getaucht hatte, die Farben auf das noch feuchte Papier tropfen, wobei er gleichzeitig Marmoreffekte und Abstufungen schuf. Sein Arbeitsprozess war wunderbar schnell und er deutete Massen und Ereignisse an, formte Halblicht, schabte Lichtpunkte aus und zog, schraffierte und tupfte, bis das Werk vollendet war. Diese Schnelligkeit, die auf der früh in seiner Laufbahn entwickelten Tonleitertechnik basierte, erlaubte Turner, die Reinheit und Leuchtkraft seiner Arbeiten zu erhalten und gleichzeitig sehr produktiv und schnell zu malen.

* * * 16 – William Radclyffe nach J.M.W. Turner, Deal, Kent, Kupferstich für die Reihe Malerische Ansichten der Südküste, 1826, British Museum, London.

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Man gewinnt bei diesem schnellen und kreativ ökonomischen Arbeitsprozess den Eindruck, dass der von den Graveuren auf Turner ausgeübte Druck eher seine Erfindungsgabe angestachelt als ihn behindert zu haben scheint. Im August 1828 reiste Turner wieder nach Italien. Er hielt sich vor allem in Rom auf, wo er malte und seine Bilder ausstellte. Die Ausstellung zog mehr als 1000 Besucher an, von denen die meisten dem, was sie sahen, völlig ratlos begegneten. Auf seiner Heimreise im Januar 1829 kippte seine Kutsche erneut im Schnee um (wie schon vor etwa neun Jahren), dieses Mal am Mont de Tarare in der Nähe von Lyon. Und wieder verarbeitete Turner dieses Erlebnis in einem 1829 in der Royal Academy ausgestellten Aquarell (hier abgebildet). In diesem Falle zeigte er sich auch selbst mit einem Zylinder im Vordergrund sitzend. Ein weiteres, 1829 ausgestelltes Werk war Odysseus verhöhnt Polyphem (unten abgebildet). Im Zusammenhang mit diesem Bild hieß es in der Times: “... kein anderer lebender Künstler ... kann auch nur annähernd die magische Kraft ausüben, derer sich Turner mit solcher Leichtigkeit bedient”. John Ruskin nannte Odysseus später ”das zentrale Bild in Turners Laufbahn”. Zumindest in Bezug auf die Koloratur ist dies nachvollziehbar, da Turner zu diesem Zeitpunkt eine Schönheit der Farbgebung erzielte, die vollkommen mit den ”Idealen Schönheiten” der Form harmonierte, die er schon früher gemeistert hatte. Diese ideale Farbe resultierte aus den Grundlagen des malerischen Umgangs mit Farbe selbst, da sie auf den Primärfarben Gelb, Rot und Blau basierte und wunderbar subtile Modulationen zwischen diesen Eckpunkten aufwies. Turner hatte selbstverständlich immer ein tiefes Interesse an der Farbtheorie, das von seiner Beschäftigung mit der Wissenschaft der Optik im Rahmen der Vorbereitung auf die Perspektive-Vorlesungen stark stimuliert worden war. Im Jahr 1818 hatte er auch das Thema Farbe in diese eigentlich der räumlichen und malerischen Organisation eines Bildes gewidmeten Vorträge aufgenommen. Zu dieser Zeit ist auch eine subtile Veränderung in Turners Umgang mit Farbe festzustellen. Er verließ sich von nun an mehr auf die Primärfarben, und seine Werke wiesen eine intensivere Leuchtkraft auf. Turners Sinn für die Lebhaftigkeit der Farbe wurde ferner durch seine Italienreise von 1819 verstärkt, was insofern nicht überrascht, als die Farbsensibilität der meisten aus nördlicheren Regionen stammenden Künstler durch den Kontakt mit dem Licht und den Farben Italiens eine Änderung erfährt. Jedenfalls erkannten auch seine Zeitgenossen spätestens 1823 den Unterschied, als es in einer in Edinburgh publizierten Enzyklopädie hieß, dass Turners ”Genius an der Grenze einer neuen Entdeckung der Farbe zu zittern scheint”. Am Ende der 1820er Jahre, als Odysseus verhöhnt Polyphem erschien, war diese “Entdeckung” mehr oder weniger abgeschlossen und Turner kreierte nun schon fast gewohnheitsmäßig Farbspektren, die von keinem anderen Maler erreicht, geschweige denn übertroffen worden sind. Im Oktober 1825 starb Walter Fawkes. Turner lehnte es seitdem ab, Farnley Hall jemals wieder zu besuchen, da dieser Ort mit zu vielen Erinnerungen verbunden war. Fawkes’ Tod hatte ihn verständlicherweise tief getroffen, da er selbst auch nur sechs Jahre jünger als der Gentleman aus Yorkshire war. 1827 schrieb Turner einem Freund: Oh weh! mein guter alter Freund ist gegangen ... und ich muss ihm folgen; ich fühle tatsächlich, wie ihr sagt, fast eine Million Mal die Grenze zur Ewigkeit, mit meinem Vater gewissermaßen nur einige Schritte vor mir ... Im September 1829 rückte diese Grenze mit dem Tod von William Turner, der Turner auch dieses Gefährten beraubte, noch ein gutes Stück näher. Wie ein Freund feststellte, “...schien Turner nach dem Tod seines Vaters nie mehr der Alte zu sein; seine Familie war zerbrochen”. Vater und Sohn hatten immer ein sehr enges Verhältnis gehabt, ohne Zweifel nicht zuletzt wegen der Krankheit von Mary Turner. William Turner hatte seinen Sohn über viele Jahre als Helfer unterstützt, er hatte seine Leinwände aufgespannt und sie nach ihrer Vollendung mit Firnis versehen. Turner scherzte, dass sein Vater seine Werke für ihn begann und vollendete.

* * * 17 –J.M.W. Turner, Szene an der Loire (in der Nähe von Coteaux de Mauves), ca. 1828-1830, Aquarellfarbe und Gouache mit Feder auf blauem Papier, 14 x 19 cm, Ashmolean Museum, Oxford. Diese Arbeit wurde für die Reproduktion als Radierung in Turner’s Annual Tour – The Loire, 1833, angefertigt.

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Dass Turner nach dem Tod seines Vaters die “Grenze zur Ewigkeit” näher rücken fühlte, wird dadurch belegt, dass er die erste Version seines Testaments weniger als zehn Tage später aufsetzte. Zu dieser Zeit kamen zum Verlust von Fawkes und seinem Vater noch weitere traurige Ereignisse hinzu, vor allem der Tod von Heinrich Füssli im Jahr 1825 und von Sir Thomas Lawrence, PRA, früh im Jahr 1830. Turner bildete Lawrences Begräbnis in einem später im Jahr in der Akademie ausgestellten eindrucksvollen Aquarell ab. Dies war das letzte Aquarell, das er dort ausstellen sollte, da Werke auf Papier generell schlechtere Ausstellungsbedingungen hatten und Turner zu dieser Zeit seine Aquarelle andernorts unter günstigeren Bedingungen zeigen konnte (wie er es 1829 und wieder 1833 tat). Da Turner nie wieder Farnley Hall besuchte, hielt er sich nach 1827 häufiger in einem anderen “Heim fern der Heimat” auf, nämlich in dem einem anderen Gönner gehörenden Petworth House in Sussex. Dies war der Landsitz von George Wyndham, dem dritten Grafen von Egremont, eines Sammlers von außergewöhnlichem Geschmack und Engagement, der sein erstes Turner-Bild schon früh im 19. Jahrhundert erstanden hatte und bei seinem Tod im Jahr 1837 immerhin 19 seiner Ölgemälde besaß. Turner konnte in Petworth kommen und gehen, wann er wollte, obwohl der Altersunterschied – der Graf war 76, als der 52-jährige Turner 1827 mit seinen regelmäßigen Besuchen begann – zur Folge hatte, dass die Beziehung niemals so eng sein konnte wie jene zwischen Turner und Fawkes. Nach dem Tod des Grafen mied Turner auch Petworth: der Tod schloss für ihn bestimmte Türen für immer. Während der Auswahl für die Royal Academy Exhibiton von 1831 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Turner und John Constable RA (1776-1837). Die beiden kannten sich seit 1813, als Constable bei einem Abendessen der Akademie neben Turner gesessen und seine Persönlichkeit und seinen Intellekt schätzen gelernt hatte. Constable hatte auch eine sehr hohe Meinung von Turners Arbeiten. Aber 1831, als Constable im Auswahlkomitee saß, ersetzte er Turners Caligulas Palast und Brücke (Tate Britain, London) durch eines seiner eigenen Bilder, Der Dom von Salisbury von den Feldern aus gesehen (National Gallery, London). Der Maler David Roberts RA (1796-1864) war Zeuge eines Treffens der beiden kurz darauf und er beschreibt es in seiner recht ungrammatischen Prosa folgendermaßen: Constables eingebildete egoistische Person ... war bei der Beschreibung all der schweren Pflichten, die er bei der Auswahl für die Ausstellung zu erfüllen hatte, laut. Nach seiner eigenen Aussage konnte nichts seine Unparteilichkeit oder sein Bemühen, diese Heilige Pflicht zu erfüllen, übertreffen. Zu seinem großen Leidwesen war ein Bild Turners nach der Neugestaltung des Raumes, in dem es gehangen hatte, ersetzt worden ... Turner brach ihn auf wie ein Frettchen; es war für alle Anwesenden erkennbar, dass Turner ihn verabscheute; alle Anwesenden waren ratlos, was man tun oder sagen könnte, um dies zu beenden. Constable zappelte und wand sich & erweckte den Eindruck oder wollte den Eindruck erwecken, dass das Abhängen des Bildes nur durch sein Bestreben um das beste Licht und den besten Ort für Turner bedingt gewesen sei. Turner kam jedoch immer wieder auf die Anklage zurück, ja, aber warum hängt ihr euer eigenes dort hin? – Ich muss sagen, dass Constable für mich und ich glaube auch für alle anderen wie ein ertappter Verbrecher aussah und ich muss sagen, dass Turner ihn ohne Erbarmen schlug. Aber da Constable sich dies selbst zuzuschreiben hatte, hatten nur wenige, wenn überhaupt jemand Mitleid mit ihm. Turner bekam jedoch in der Ausstellung des folgenden Jahres seine Rache, wie C.R. Leslie festhielt: 1832, als Constable sein Bild Öffnung der Waterloo-Brücke [Privatsammlung] ausstellte, wurde es in ... einem der kleinen Räume in Somerset House ausgestellt. Ein Seestück von Turner hing unmittelbar daneben – ein graues Bild, schön und wahrhaftig, aber mit überhaupt keiner positiven Farbe [Helvoetsluys; – Die Stadt Utrecht sticht (16)64 in See, Tokio, Fuji Museum]. Constables Waterloo wirkte, als ob es mit flüssigem Gold und Silber gemalt worden sei und Turner kam mehrmals in den Raum, während Constable den Schmuck und die Flaggen der städtischen Barkassen mit Zinnoberrot und Karmesinrot verstärkte. Turner stand hinter ihm und schaute von Waterloo zu seinem eigenen Bild.

* * * 18 – J.M.W. Turner, Messieurs les voyageurs auf der Rückreise aus Italien (par le diligence) in einem Schneetreiben in den Alpen – 22. Januar 1829, RA 1829, Aquarell, 54,5 x 74,7 cm, British Museum, London.

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Schließlich holte Turner seine Palette aus dem großen Raum, in dem er gerade die letzten Pinselstriche auf ein anderes Bild auftrug und ging ohne ein Wort weg, nachdem er einen Tupfen scharlachroter Farbe etwas größer als ein Schillingstück auf seine graue See aufgetragen hatte. Die von der Kühle seines Bildes verstärkte Intensität dieses Rot ließ selbst Constables Farben schwach wirken. Ich kam in den Raum, als Turner ihn gerade verließ. “Er war hier”, sagte Constable, “und hat eine Kanone abgeschossen.” ... Der große Mann betrat diesen Raum während der nächsten anderthalb Tage nicht mehr; und dann, in den letzten Minuten, in denen man noch malen durfte, lasierte er das scharlachrote Siegel und verlieh ihm die Form einer Boje. Turner liebte es, derartige visuelle Kunststücke an den Wänden der Akademie zu vollführen, an denen die Bilder unmittelbar nebeneinander hingen. Nicht immer jedoch war er der Sieger derartiger Spiele. Sein großer Freund George Jones RA (17861869) erinnert sich an die Ausstellung von 1833: Seufzerbrücke, Dogenpalast und Dogana, Venedig: Canaletto beim Malen [von Turner, heute in der Tate Britain] hing neben einem Bild von mir, das einen sehr blauen Himmel aufwies. [Turner] scherzte mit mir darüber und drohte, dass er, falls ich dies nicht ändern würde, diesen durch leuchtende Farbe übertreffen werde, was ihm auch sehr bald gelang, indem er zu seinem Bild blaue Farbe hinzufügte ... und dann die Arbeit an einem anderen Bild aufnahm. Ich genoss diesen Witz und beschloss, ihn zu imitieren und fügte viel zusätzliches Weiß zu meinem Himmel hinzu, was seinen viel zu blau wirken ließ. Am folgenden Tag sah er, was ich getan hatte, lachte herzlich, schlug mir auf den Rücken und sagte, ich möge den Triumph genießen. Turner demonstrierte in den 1830er Jahren seine Virtuosität auch in der Öffentlichkeit, indem er für die Ausstellungen der Royal Academy und der British Institution nur grobe Entwürfe einreichte, die er während der Firnistage vollendete. Das wohl spektakulärste Beispiel für diese Praxis datiert auf das Jahr 1835, als Turner an den Wänden der British Institution fast das gesamte Gemälde Der Brand des Ober- und Unterhauses (Abbildung unten) malte. Er hatte beim ersten Tageslicht mit der Arbeit begonnen und den ganzen Tag gemalt, wobei er von einem Kreis von Bewunderern umgeben war und nicht ein einziges Mal zurücktrat, um die visuellen Effekte seiner Arbeit zu prüfen. Schließlich war das Bild vollendet. Ein Augenzeuge berichtet: Turner sammelte seine Werkzeuge ein, tat sie in eine Kiste, verschloss diese und ging dann, sein Gesicht immer noch zur Wand gewandt, und unter Einhaltung des Abstandes seitlich weg, ohne mit jemandem zu sprechen und als er zur Treppe in der Mitte des Raumes kam, eilte er hinunter, so schnell er konnte. Alle schauten mit einem halb verwunderten Lächeln zu und Maclise, der in der Nähe stand, bemerkte “Dort, das ist meisterlich, er hält nicht inne, um sein Werk zu betrachten; er weiß, dass es vollbracht ist und ist weg.” Die These, dass Turner durch den Violinisten Paganini, der London in den 1830er Jahren durch eine ähnliche künstlerische Gelassenheit im Sturm genommen hatte, zur Demonstration derartiger virtuoser Unbekümmertheit angeregt wurde, ist durchaus plausibel. Turner reiste auch in den 1830er Jahren. 1833 unternahm er eine besonders wichtige Reise. Nachdem er die Ansicht Venedigs, die er im Wettbewerb mit George Jones mit Blau überarbeitet hatte, ausgestellt hatte, besuchte Turner die Stadt erneut, um mehr über sie herauszufinden (1819 war er nicht lange geblieben). Von 1833 an sollte Venedig in Turners Italien-Bildern eine immer größere Rolle spielen, da die häufig ätherische Erscheinung der Stadt seine Imagination ansprach. Er sollte 1840 erneut zurückkehren. Eine weitere wichtige Fahrt fand mit Turners großer Europareise im Jahr 1835 statt. Nachdem er mit dem Schiff nach Hamburg gefahren war, besuchte er Kopenhagen, Berlin, Dresden, Prag, Nürnberg, Würzburg und Frankfurt am Main, bevor er den Rhein hinunter nach Rotterdam reiste. Ein weiterer Grund für diese Fahrt mag in dem Wunsch bestanden haben, eine Reihe der führenden Museen und Sammlungen auf dem Kontinent zu inspizieren, um ein Regierungskomitee zu beraten, das zu dieser Zeit an Plänen für ein gemeinsames Gebäude für die National Gallery und die Royal Academy am Trafalgar Square arbeitete. Nach 1833 trat ein neuer Gefährte in Turners Leben. Turner hatte in all den Jahren immer wieder Margate besucht und in der letzten Zeit immer wieder bei einer Mrs. Sophia Caroline Booth und ihrem 1833 verstorbenen Ehemann gewohnt. Wenig später ging Turner ein Verhältnis mit der Witwe ein und 1840 holte er sie schließlich nach London und wohnte mit ihr in einem Haus, das sie in Chelsea gekauft hatte. David Roberts sprach kurz nach Turners Tod im Jahr 1851 mit ihr und berichtete später (in seiner unvollkommenen Prosa):

40.

19 – William Henry Hunt (?), Porträt J.M.W. Turners, ca. 1845, Lady Lever Art Gallery, Port Sunlight, Großbritannien.

41.

20 – William Parrot, Turner bei der Vernissage, ca. 1846, Öl auf Holz, University of Reading, Reading, Großbritannien.

* * * 21 – J.M.W. Turner, Eine Szene im Aosta-Tal, ca. 1836, Aquarell, 23,7 x 29,8 cm, Fitzwilliam Museum, Cambridge.

42.

... 18 Jahre lang ... lebten sie wie Ehemann & Ehefrau zusammen, unter dem Namen Mr. & Mrs. Booth ... Aber der außergewöhnlichste Teil ihrer Schilderung ist, dass er mit der Ausnahme des ersten Jahres niemals auch nur einen Shilling zu ihrem gemeinsamen Lebensunterhalt beitrug!!! – Stattdessen sorgte sie 18 Jahre lang allein für ihren Unterhalt und ihr Leben und kaufte auch das Haus in Chelsea mit Geld, das sie vorher gespart oder geerbt hatte ... Turner weigerte sich, auch nur einen Penny beizusteuern ... Sie versichert mir, dass das einzige ihm gehörende Geld, das sie in all den Jahren von ihm hat, drei half crowns waren, die sie nach seinem Tod in seiner Tasche fand, schwarz, sagt sie, weil sie so lange in seiner Tasche waren und sie bewahrt sie als Souvenir auf ... Turner hatte sich schon früh in seinem Leben den Ruf eines Geizhalses erworben. Zweifellos achtete er auf jeden Penny, weil er in seiner Kindheit in der slumähnlichen Gegend von Covent Garden häufig die zerstörerischen Auswirkungen der Armut gesehen hatte. Aber er behielt diese Angewohnheit auch bei, nachdem er es zu Reichtum gebracht hatte. In der ersten Version seines Testaments tritt aus seinem gewohnheitsmäßigen Geiz jedoch erstmals ein nobles Motiv hervor. Turner war sich stets der Unsicherheit des künstlerischen Erfolgs bewusst. Dies hatte ihn 1814 zu einem der Gründer der Artists’ General Benevolent Institution sowie zu einem der ersten Vorsitzenden und Schatzmeister dieser wohltätigen Einrichtung für Künstler werden lassen. Nach Meinungsverschiedenheiten über ihre Ausgabepolitik – Turner gab nicht gerne Geld aus – versuchte er, eine eigene wohltätige Stiftung aufzubauen. Diese sollte ihr Kapital aus seinem Nachlass erhalten und den Namen Turner’s Gift (“Turners Geschenk”) tragen. Ihr Zweck sollte darin bestehen, alte und mittellose Künstler in Armenhäusern zu unterstützen, die auf ebenfalls von Turner bereitgestelltem Grund in Twickenham erbaut werden sollten. Wie wir sehen werden, sollten diese Pläne leider nie realisiert werden. Während der 1830er und 1840er Jahre produzierte Turner einen nicht versiegenden Strom an Meisterwerken in Öl und Wasserfarbe. Die Öffentlichkeit konnte die Bilder nicht immer verstehen, aber dies veranlasste Turner nicht etwa dazu, seine Abbildungen der Dinge visuell zugänglicher zu machen oder seine Aussagen zu vereinfachen – eigentlich ließ ihn das Unverständnis die Dinge für sein Publikum sogar eher noch schwerer machen. Aber auch wenn Bilder wie die Venedigansicht Julia und ihre Amme von 1836 (Privatsammlung, Argentinien) nur schwer zu verstehen waren – denn was sollte Julia in einer Stadt, die sie in Shakespeares Stück niemals besuchte? – hatte die Öffentlichkeit dafür keine Schwierigkeiten, ein 1839 ausgestelltes noch bedeutenderes Meisterwerk zu verstehen. Von Anfang an wurde Das Kriegsschiff “Téméraire” als ein wehmütiger Kommentar zum Ende des Zeitalters der Segelschiffe und zum Aufkommen des Dampfzeitalters interpretiert. Es wäre allerdings ungewöhnlich, das Bild allein aus dieser Perspektive verstehen zu wollen, da Turner häufig den technologischen Fortschritt begrüßte. In den 1820er Jahren hatte er so den Beginn des Dampfzeitalters in einer unten diskutierten Ansicht Dovers gefeiert und fünf Jahre nach Das Kriegsschiff “Téméraire” sollte er 1844 seine Begeisterung für die Ankunft des Industriezeitalters in Regen, Dampf und Geschwindigkeit: Die Große West-Eisenbahn (unten abgebildet) zum Ausdruck bringen. In den 1840er Jahren interessierte Turner sich außerdem sehr für Polarexpeditionen, ein weiterer Beleg für sein anhaltendes Interesse am Fortschritt. In Das Kriegsschiff “Téméraire” verewigte Turner so nicht nur das Ende einer Epoche, sondern er begrüßte auch die neue Zeit, indem er, wie unten zu sehen ist, auf subtile Weise die Dampfkraft feiert. Die positive Aufnahme von Das Kriegsschiff “Téméraire” muss Turner sehr gefreut haben, vor allem, weil in den 1830er Jahren in Zeitungskritiken häufig Feindseligkeit gegenüber seinen Werken zum Ausdruck gebracht worden war. Seine “Undeutlichkeit”, seine malerische Wahrnehmung, seine komplexen und häufig verwunderlichen Aussagen sowie sein zunehmend helles Farbspektrum (vor allem seine Vorliebe für Gelb) kamen dem Geschmack der Viktorianer nicht entgegen. Man bevorzugte photographischen Realismus, Glätte und Sentimentalität statt akademischem Idealismus und Sacharinfarben gegenüber den blendenden Farben Turners. Seit 1839, insbesondere als Reaktion auf die von einem kleingeistigen Kritiker 1836 über Julia und ihre Amme ausgeschütteten Schmähungen jedoch wurde die öffentliche Wahrnehmung Turners und seiner Ziele von einem neuen Anhänger stark unterstützt. Es handelte sich um John Ruskin, der zwischen 1843 und 1860 eine Lobpreisung von Turners Werk in fünf Modern Painters betitelten Bänden veröffentlichte. Ruskins Buch sollte Folgendes demonstrieren: “In unserer Mitte lebt und arbeitet für uns der größte Maler aller Zeiten.” Turner war von Ruskins Unterstützung eindeutig nicht unbefriedigt, ja sie muss ihm in seinen letzten Lebensjahren viel gegeben haben.

43.

46.

Die späten 1830er und die 1840er Jahren waren in anderer Hinsicht keine besonders glückliche Zeit für Turner. Er war verbittert darüber, dass er im Gegensatz zu weniger bedeutenden Personen wie Augustus Wall Callcott RA (1779-1844) und William Allan RA (1782-1850) nicht geadelt worden war. (Dies war allerdings wohl unvermeidlich, da Königin Viktoria Turner für geisteskrank hielt.) Zusätzlich wuchs im Lauf der Zeit seine Verzweiflung über den Tod. Dies führte zu eigenartigen Verhaltensweisen, wie etwa seiner Geheimnistuerei um sein zweites Heim mit Mrs. Booth in Chelsea, wo er als “Admiral Booth” bekannt war. Er sprach außerdem dem Alkohol zu, wenn auch nur in begrenztem Maße. Sein besessenes Bemühen, seine Drucke zu horten, ließ ihn den gesamten verfügbaren Rest der “England and Wales”-Stiche aufkaufen, als diese 1839 versteigert wurden, um sie anschließend aber in seinem Haus in der Queen Anne Street West verkommen zu lassen. Zudem verwandte er wenig Sorgfalt darauf, seine fertig gestellten Ölgemälde in gutem Zustand zu erhalten, obwohl er in den 1840er Jahren die Idee entwickelte, dass sie alle bei seinem Tod an die National Gallery gehen sollten (ein Wunsch, den er in abschließenden Testamentszusätzen 1848 und 1849 zum Ausdruck brachte). Aber trotz seiner Angst vor dem Tod – eine Sorge, die nicht durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod abgemildert wurde – verdunkelten diese Ängste und die aus ihnen resultierende Exzentrik nicht Turners Werk. Stattdessen wurden seine späten Gemälde und Zeichnungen sogar noch schöner, da Turner sie nutzte, um seine Ängste zu bekämpfen und den Idealismus eines ganzen Lebens zu einem triumphalen Abschluss zu bringen. Im Jahr 1841 sowie den folgenden drei Sommern reiste Turner wieder in die Schweiz. Vier Aquarell-Sätze stellten das Ergebnis dieser Reisen dar. Sie gehören zu den großartigsten Schöpfungen Turners, da er in der Größe, Schönheit und Einsamkeit der Alpen offensichtlich einen gewissen Trost im Hinblick auf den Tod fand. Vor allem in der letzten Serie, die vermutlich aus der Zeit zwischen 1846 und 1850 stammt, ist ein kontinuierlicher Pulsschlag hinter den Erscheinungen der einzelnen Objekte zu spüren. Dadurch füllt sich das sichtbare Universum mit einer ursprünglichen Energie. Diese Charakteristika zeichnen ebenfalls eine nach etwa 1845 entstandene Reihe von Ölgemälden auf der Basis von Skizzen aus dem alten Liber Studiorum aus, in denen Licht, Farbe und Energie allesamt extrem intensiv dargestellt sind und sich die Formen in diesem Prozess auflösen. Diese Gemälde verherrlichen nicht die physische Welt: ihre pulsierende Energie, Lichtintensität und Auflösung der Formen sind eindeutig Ausdruck von etwas, das jenseits des Reichs der physischen Erscheinungen existiert. Angesichts von Turners lebenslanger Anziehung durch den akademischen Idealismus mit dem von Turner früh verinnerlichten, in seinem Kern liegenden platonischen metaphysischen System duldet es keinen Zweifel, dass er in diesen späten leuchtenden Bildern eine übernatürliche Realität projizierte, die mit der von Plato postulierten Welt der Ideen korrespondierte. Es besteht auch kein Widerspruch zwischen Turners lebenslanger Identifikation mit einem solchen metaphysischen System und seiner angeblichen Aussage “Die Sonne ist Gott”. Das brillante Licht dieser späten Bilder ist eindeutig mehr als der bloße hedonistische Sonnenschein, den die französischen Impressionisten später so lieben sollten. Stattdessen blicken wir auf Turners Gottheit, die Essenz und Quelle der Schöpfung, Gott selbst, dessen Energien alles erfüllen. Im Jahr 1845 saß Turner der Royal Academy offiziell für eine Weile vor, als der gewählte Präsident, Sir Martin Archer Shee (1769-1850), zu krank war, um seine Pflichten zu erfüllen. In diesem Jahr unternahm Turner auch die letzte seiner Skizzenreisen. Dieses Mal besuchte er Nordfrankreich und stattete König Louis Philippe, einem alten Freund aus Twickenhamer Zeiten, einen Besuch ab. 1845 verschlechterte sich jedoch Turners Gesundheitszustand und am Ende des folgenden Jahres war er in einer wirklich schlechten Verfassung. Die Lage wurde dadurch nicht besser, dass er alle seine Zähne verlor; in seinen letzten Lebensjahren musste er sich ernähren, indem er sein Essen lutschte. Nach wie vor zeigte er jedes Jahr ein paar Werke in der Royal Academy (allerdings nicht 1848, das erste Mal seit 1824, dass er nicht in einer Ausstellung vertreten war), aber nach und nach verlor er auch die fürs Malen erforderliche Koordinationsfähigkeit. Im Jahr 1850 bot er noch einmal alle ihm verbliebenen Kräfte auf, um vier Ölgemälde zum Sujet Dido und Aeneas zu voll- enden.

* * * 22 – J.M.W. Turner, Die auslaufende Flotte, RA 1850, Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London.

47.

Diese Thematik mag für ihn eine persönliche Bedeutung gehabt haben, da sein Engagement für seine Kunst Aeneas’ Hingabe an die Pflicht glich, die den trojanischen Prinzen dazu bewegt hatte, Königin Dido zu verlassen, um nach Italien zu segeln und Rom zu gründen. Wie Aeneas hatte auch Turner für seine höhere Bestimmung den Verlockungen eines leichten Lebens, der Ehe und Sinnenfreuden entsagt, so dass Dido all das symbolisierte, worauf er verzichtet hatte. Nach der Ausstellung dieser vier letzten großen Werke in der Royal Academy im Spätfrühling 1850 scheint Turner körperlich zu schwach gewesen zu sein, um weiter malen zu können. Während der folgenden 18 Monate wartete er traurig und voller Sorge auf den Tod. Hin und wieder half man ihm auf das flache Dach des Hauses in Chelsea, damit er den Sonnenaufgang über den flachen Wiesen von Battersea auf der anderen Flussseite – was er den ”Holländischen Blick” nannte – sehen oder den Sonnenuntergang hinter den flussaufwärts in der Ferne liegenden Hügeln – seinen ”Englischen Blick” – beobachten konnte. Aber das war alles; der Rest war Schweigen. Joseph Mallord William Turner starb am 19. Dezember 1851. Er wurde in der St. Paul’s Cathedral beigesetzt, wie er erbeten hatte fast unmittelbar neben Sir Joshua Reynolds. Neben mehr als 2000 Gemälden und Aquarellen in Privatbesitz hinterließ er eine Unmenge von Arbeiten in der Queen Anne Street West, dem Davis Place, der Cremorne New Road und in seinem Atelier in Chelsea – 282 vollendete und noch nicht fertig gestellte Ölgemälde und 19.049 Zeichnungen und Skizzen in Wasserfarbe, Bleistift und anderen Medien (wiederum zusätzlich zu zehntausenden Drucken, die 1874 verkauft wurden). Der Nachlass wurde auf 140.000 Pfund festgesetzt, eine Summe, deren heutiger Gegenwert konservativ auf etwa das Hundertfache zu schätzen wäre. Das Testament enthielt zwei wesentliche Regelungen: dass, um seine Werke unterzubringen, eine Galerie gebaut und Turner’s Gift etabliert werden sollte. Das Testament wurde jedoch von Turners Verwandten angefochten und aufgrund einer juristischen Formalität unglücklicherweise für ungültig erklärt. Das Ergebnis war, dass die Verwandten das Geld erhielten und die wohltätige Einrichtung nicht Wirklichkeit wurde. Aber zumindest erhielt die englische Nation alle vollendeten und alle noch nicht fertig gestellten Ölgemälde sowie alle Aquarelle, Skizzenbücher, Skizzen und Studien, die sich noch in den beiden Ateliers befanden. Es sollte aber noch bis 1987 dauern, bis tatsächlich eine eigens für sie reservierte Galerie gebaut wurde. Erst zu diesem späten Zeitpunkt wurde sie durch private Großzügigkeit und den von der Turner Society aufgebauten Druck realisiert. Der Triumph individueller Habgier über die Realisierung von Turner’s Gift stellte eine brutale Ironie dar, wenn man bedenkt, wie selbstlos Turner Reichtümer für die Gründung dieser wohltätigen Einrichtung angesammelt hatte. Später sollte der Wohlfahrtsstaat die Fürsorge für alte, verarmte Künstler übernehmen, darum ist diese Tatsache von nicht so ausschlaggebender Bedeutung. Turners entscheidendes Vermächtnis besteht so in dem Geschenk seiner Werke und seiner Kunst insgesamt an die englische Nation. Diese beiden enormen Erbschaften leben in einem Gesamtwerk fort, an das andere in Bezug auf Umfang und Qualität heranreichen mögen, dass aber hinsichtlich seiner Schönheit, Kraft und Einsicht niemals übertroffen wurde. Turners Kunst führt uns häufig zum Herzen der Erscheinungen und der Naturphänomene und sie stellt alle möglichen Verbindungen mit der imaginierten Wirklichkeit her. Aber Turner war im Kern nicht lediglich ein Maler von Landschaften und Seestücken, sondern in gleichem Maße ein Maler der Menschheit. Als solcher gewährte er uns tiefe Einblicke in die Natur der menschlichen Existenz und in die Bedingungen unseres Lebens. Die Tatsache, dass er dies mittels einer sehr innovativen Bildsprache tat, sollte nicht unseren Blick dafür verschleiern, dass diese neue Richtung in der Kunst ihre Grundlage in extrem traditionellen Zielsetzungen hatte. Turner stand exakt an der Grenze zu unserer gegenwärtigen Kunstepoche. Er war der letzte der Großen Meister und der erste Moderne. Nur wenn wir ihn in beiden Rollen wahrnehmen und gleichzeitig seine ungeheure visuelle, intellektuelle und malerische Komplexität würdigen, befinden wir uns in einer Position, aus der heraus wir das außergewöhnliche Ausmaß seiner Genialität, die immer noch in vollem Umfang zu entdecken ist, ermessen können.

* * * 23 – J.W. Archer, Das Haus J.M.W. Turners in Chelsea, 1852, Aquarell, British Museum, London.

48.

49.

24 – Selbstporträt, ca. 1799, Öl auf Leinwand, 74,5 x 58,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London.

50.

Das Kriegsschiff “Téméraire” wird zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt 53 Caernarvon Castle, Nordwales

55

Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen

57

Die Überquerung des Baches

59

Dido erbaut Karthago; oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches

61

Die Schlacht von Trafalgar

63

Odysseus verhöhnt Polyphem - Homers Odysssee

65

Der Brand des Ober- und Unterhauses, 16. Oktober 1834

67

Sklavenhändler werfen die Toten und Sterbenden über Bord

Die Meisterwerke

- Aufkommender Taifun

69

Der Lauerzersee mit den Mythen

71

St. Anselms-Kapelle mit Teil von Thomas Beckets Krone, Kathedrale von Canterbury

73

Der Clyde-Fall

75

Popes Villa in Twickenham

77

Dolbadern Castle, Nordwales

79

Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire

81

Der große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz

83

Fischer auf See

85

Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castle

87

Der Wohnsitz von William Moffatt Esq., in Mortlake; früher (Sommer-) Morgen

89

Mortlake Terrace, der Wohnsitz von William Moffatt, Esq.; Sommerabend 91 Holländische Boote in einem Sturm: Fischer bemühen sich, ihren Fang an Bord zu bringen

93

Pier in Calais mit französischen “Poissards”, die ausfahren wollen: Ankunft eines englischen Paketbootes

95

Der Schiffbruch

97

Rye, Sussex

99

Der Untergang des Karthagischen Reiches

101

Regen, Dampf und Geschwindigkeit - die Große Westeisenbahn

103

Der Erzbischöfliche Palast in Lambeth

105

Wolverhampton, Staffordshire

107

Innenansicht der Kathedrale von Salisbury, Blick auf das nördliche Querschiff

109

Die Morgensonne bricht durch den Dunst: Fischer säubern und verkaufen Fische

111

Niedergang einer Lawine in Graubünden

113

Ausbruch des Vesuv

115

MARKSBURG und BRAUBACH am Rhein

117

Dover Castle

119

Ein Sturm (Schiffbruch)

121

Das Forum Romanum, für Mr. Soanes Museum

123

Northampton, Northamptonshire

125

Das Goldene Geäst

127

Venedig vom Portal der Kirche Madonna della Salute aus gesehen

129

Flint Castle, Nordwales

131

Das Moderne Italien - Die Pifferari

133

Das alte Rom: Agrippina trifft mit der Asche des Germanicus ein. Die Triumphbrücke und der Palast der Cäsaren sind wieder aufgebaut

135

Venedig: Ein Sturm auf der Piazzetta

137

Venedig: Der Canal Grande, auf die Dogana blickend

139

Der blaue Rigi: Der Vierwaldstätter See, Sonnenaufgang

141

Die Bucht von Uri von oberhalb Brunnens gesehen

143

Schneesturm - ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe und bewegt sich nach dem Lot.

145

Der Pass von Faido

147

Walfänger

149

Eine Yacht nähert sich der Küste

151

Petworth Park, mit Lord Egremont und seinen Hunden; Musterstudie

153

51.

25. DAS KRIEGSSCHIFF “TÉMÉRAIRE” WIRD ZU SEINEM LETZTEN ANKERPLATZ GESCHLEPPT UM ABGEWRACKT ZU WERDEN 1839 Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm Turner Bequest, National Gallery, London

Dieser Effekt geht zweifellos darauf zurück, dass er in dem Bild Schlacht von Trafalgar die Victory ursprünglich fälschlicherweise zu hoch im Wasser schwimmend gemalt hatte. Wir wissen aus Zeitungsberichten des Jahres 1838, dass die Téméraire von zwei Schleppern gezogen wurde. Dadurch, dass er nur einen malte,

B

vereinfachte Turner seine Komposition und verdeutlichte gleichzeitig ei der Ausstellung dieses Bildes in der Royal Academy im

umso mehr die Macht der Dampfkraft. Ferner veränderte er auch das

Jahr 1839 fanden sich im Katalog als Ergänzung seines

Aussehen des Schleppers selbst. Als dieses Gemälde 1839 in der

Titels folgende Zeilen aus Thomas Campbells Ye Mariners

Royal Academy ausgestellt wurde, kritisierte man Turner, weil er den

of England (“Ihr Seeleute Englands”):

Vordermast und den Schornstein des Schleppers versetzt hatte.

Die Flagge, die der Schlacht und jedem Sturm standhielt,

Anstatt den Schornstein in der Mitte zwischen den Schaufelrädern

Besitzt sie nicht mehr.

und damit direkt über der Maschine zu platzieren, positionierte er

Turner war offensichtlich der Ansicht, dass finanzielle Interessen

ihn direkt am Bug des Schleppers, während der Vordermast oberhalb

den Nationalstolz mehr und mehr in den Hintergrund drängten,

der Maschine lag. (Dover Castle aus dem Jahr 1822 – siehe oben –

denn obwohl die Téméraire 1805 in der Schlacht von Trafalgar nobel

belegt, dass Turner durchaus die korrekte Anordnung kannte). Es ist

gekämpft hatte, verhinderten diese Verdienste nicht ihre Zerstörung.

jedoch erkennbar, warum Turner dies tat. Indem er den Schornstein

Man hat lange geglaubt, dass Turner selbst Zeuge war, wie die

ganz vorne platzierte, bildete dieser die Vorhut all der

Téméraire von ihrem normalen Ankerplatz in Sheerness am 5. und

windgetriebenen Schiffe des Bildes. Auf diese Weise symbolisierte er

6. September 1838 hinauf zu Beatsons Schiffsverschrottungswerft in

die “prophetische Idee des Dampfes, von Ruß, Eisen und Dampf, die

Rotherhithe

sich in der Schifffahrt in allen Belangen durchsetzt”, wie einer seiner

geschleppt

wurde.

Heute

erscheint

es

aber

wahrscheinlicher, dass er hiervon lediglich in der Zeitung gelesen

hellsichtigeren Zeitgenossen bemerkte.

hat. Was er las und was er malte, sind jedoch zwei völlig

Das Panorama ist sehr komprimiert, so dass wir in östlicher

unterschiedliche Dinge.

Richtung auf die links liegende Themsemündung und in westlicher

Zunächst einmal veränderte er die Téméraire. Die Royal Navy schrieb

Richtung auf das rechts liegende London blicken (Turner setzte in

grundsätzlich vor, dass alles, was von einem Schiff noch wieder zu

seinen topographischen Szenen häufig eine solche Kompression

verwenden war, auch abmontiert werden musste, bevor es von seinem

ein). Aufgrund der Tatsache, dass wir nach Osten blicken, ist häufig

normalen Ankerplatz zur Abwrackung geschleppt wurde. Folglich wies

die Vermutung geäußert worden, dass wir einen Sonnenaufgang

die Téméraire keine Masten mehr auf, als sie den Fluss

sehen. Turner selbst jedoch hat die Beweise dafür geliefert, dass es

hinaufgeschleppt wurde, so dass Turner, wenn er dies beobachtet hätte,

sich um einen Sonnenuntergang handelt, da der Mond links von der

nur noch ihren Rumpf gesehen hätte. Turner versetzte das Schiff mittels

Sonne zu sehen und an seiner rechten Kante beleuchtet ist, eine nur

der kompletten Masten und Segel jedoch in die alte Pracht seiner

bei Sonnenuntergang mögliche Konstellation (bei Sonnenaufgang

Blütezeit vor etwa 30 Jahren zurück. Gleichzeitig ließ er es wie ein

würde er rechts von der Sonne erscheinen und seine linke Kante

Geisterschiff wirken, indem er es in so vergleichsweise hellen Tönen

erleuchtet sein). Der großartige Sonnenuntergang ist ganz

malte. Diese ätherische Feinheit wird natürlich durch die

offensichtlich eine Metapher, denn Turner hat einmal mehr die

kontrastierenden dunklen Töne des Schleppers noch vergrößert. Ferner

Tageszeit mit seiner dramatischen Aussage in Einklang gebracht:

hob Turner die Téméraire – so als habe sie sich über den irdischen

genauso, wie die Téméraire ihrem Ende entgegenfährt, neigt sich

Kampf erhoben – weit aus dem Wasser, um sie so majestätisch wie

auch der Tag seinem Ende zu, wobei uns der Mondaufgang auf die

möglich wirken zu lassen. Folglich scheint sie über die Themse und

nahende Nacht hinweist. Im Falle des der Zerstörung geweihten

nicht in ihr zu gleiten, in der Tat ein erhebender Anblick.

Schiffes wird dies eine extrem lange Nacht sein.

52.

53.

26. CAERNARVON CASTLE, NORDWALES 1800 Wasserfarbe auf weißem Papier, 66,3 x 99,4 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

O

bwohl dieses Aquarell aus dem Jahr 1800 zu diesem

Burg und unterstützt auf diese Weise die verzweifelte Geste des

Zeitpunkt Turners ehrgeizigste Hommage an Claude

Protagonisten, während die Beugung ihres Stammes mit der Form

Lorrain war, hatte er bei seiner Herstellung noch

der Harfe korrespondiert. Wir sehen das Panorama im Abendlicht,

weitergehende Absichten. Im Katalog der Ausstellung der Royal

was dem Dekorum entspricht: ebenso, wie sich die Zeit des Barden

Academy

ihrem Ende zuneigt, nähert sich auch der Tag seinem Ende.

fanden

sich

zusätzlich

zum

Titel

abermals

möglicherweise ebenfalls von Turner selbst verfasste Verse:

Turner stellte 1800 drei Arbeiten in der Royal Academy aus, die

Und nun an Arvons hochmütigen Türmen

die Freiheit und ihre Beschränkung thematisierten: eine

gießt der Barde das Lied des Mitleids aus;

implizierte Aussage über ein Volk in Gefangenschaft in Form

Denn oft auf Monas fernen Hügeln seufzt er,

einer Darstellung der siebten ägyptischen Plage (die er fälschlich

Wo, eifersüchtig auf die Spielmänner,

die fünfte nannte); die oben diskutierte Ansicht von Dolbadern

Der Tyrann das Land mit Blut tränkte,

Castle und das vorliegende Aquarell. In der Zusammenschau der

Und, vom Grauen hingerissen, in ihren Schreien triumphierte.

beiden letztgenannten Bilder ergibt sich eine historische Ironie,

Die Burschen Arvons versammeln sich um ihn,

da der hier als das Land mit Blut tränkende und die walisische

Und stimmen in die Trauer seines Liedes ein.

Kultur zerstörende König in dem Dolbadern-Bild Owain Goch

Der Barde, auf den sich die Verse beziehen, sitzt an seiner Harfe und

die Freiheit bringt.

weist auf die in der Ferne stehende Burg, die König Edward I. von

Die Freiheit war im Jahr 1800 eine aktuelle politische Frage, da zu

England (1239-1307) zur Unterwerfung der Waliser erbaut hatte.

dieser Zeit Napoleon andere Völker unterdrückte und die britische

Turner kannte das berühmte Gedicht The Bard (1757) von Thomas

Regierung die Freiheitsrechte ihrer Bürger einschränkte.

Gray, das sich mit dem vermutlich letzten der mittelalterlichen

Selbstverständlich war man in der Royal Academy über diese

walisischen Barden befasste, und dieses Epos war zweifellos die

Entwicklung, vor allem die innenpolitische, sehr alarmiert. Es ist

Inspiration für dieses Aquarell. Man darf davon ausgehen, dass

deshalb durchaus möglich, dass Turner auch sein Ansehen in der

Grays und Turners Barde ein und dieselbe Person sind und der

Akademie befördern wollte, indem er mit Bildern, die sich auf

Barde Selbstmord begehen wird, nachdem er Schmähungen gegen

subtile Weise mit dem Verlust und der Wiedererlangung der

den in Wales einfallenden König geschleudert hat. Die Kiefer, unter

Freiheit in Großbritannien beschäftigten, an Gleichgesinnte in der

der der Barde seine Klage anstimmt, neigt sich in die Richtung der

Akademie appellierte.

54.

55.

27. SCHNEESTURM: HANNIBAL ÜBERQUERT MIT SEINEM HEER DIE ALPEN 1812 Öl auf Leinwand, 146 x 237,5 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

E

in 1810 in Yorkshire erlebtes Gewitter war der

Die Salassier attackieren sowohl die Karthager als auch ihre

imaginative Stimulus zu diesem Gemälde (siehe die

Gefangenen aus Sagunt, der griechisch-iberischen Stadt, deren

Einführung). Im Ausstellungskatalog der Royal Academy

Einnahme durch Hannibal im Jahr 219 v. Chr. den Zweiten

von 1812 ergänzten die folgenden Verse seinen Titel:

Punischen Krieg ausgelöst hatte. Hannibal kümmert sich aber

Hinterlist, Verrat und Betrug - das Heer der Salassier

nicht um die Probleme seiner Nachhut, sondern eilt in der

Verfolgte die schwache Nachhut! dann ergriff die Plünderei

Hoffnung weiter, dem Winteranfang entgehen und den Süden, wo

Den Sieger und die Gefangenen, Sagunts Beute

er die Römer schlagen kann, erreichen zu können.

Wurde ihre Beute, aber immer noch drang der Führer weiter vor,

Der Wind warnt Hannibal, sich vor “Capuas Freuden” zu hüten.

Sah voller Hoffnung zur Sonne - tief, breit und matt;

Diese werden schließlich zu seinem Untergang führen, da die 15

Während der wilde Bogenschütze des sich seinem Ende zuneigenden

Jahre, die er im Luxus in Capua verbringen wird, seine Kampfkraft

Jahres

schwächen und den Römern die nötige Zeit, ihre Kraft

Italiens weiße Grenze mit Stürmen befleckte.

wiederzugewinnen und ihn zu schlagen, geben werden. Letzten

Vergeblich, tief mit Leichen übersät,

Endes ist das Gemälde ein Kommentar zu der Ironie von Hannibals

Oder mit Felsbrocken, wütet jeder Pass.

vergeblichen Mühen bei der Überquerung der Alpen und zur

Immer noch an Kampaniens fruchtbare Ebenen - dachte er,

Vergeblichkeit territorialer Erweiterung. Im Kontext des damaligen

Aber die laute Brise schluchzte “Hüte dich vor Capuas Freuden!”

Krieges mit Napoleon richtete sich Turners Moral gleichermaßen

Dies waren die ersten eindeutig von Turner stammenden Verse

gegen den französischen Expansionismus und die zahlreichen

in einem Ausstellungskatalog. Sie stammten nominell aus

Mitglieder der englischen Oberschicht, die ihre persönlichen

seinem Epos Fallacies of Hope, dessen Existenz sich indes auf

Belange über die Pflichterfüllung für den Staat stellten.

Fragmente

Rechts sieht man eine Lawine; im Vordergrund picken sich die

in

Ausstellungskatalogen

der

Akademie

zu

beschränken scheint.

Salassier Nachzügler heraus und werfen Felsbrocken auf die

Der Auszug sagt natürlich viel über die Bedeutung des Bildes aus.

Karthager. Die Sonne wird durch Gewitterwolken verdeckt. Dies

Die erste Zeile führt in das zentrale Thema des Werks ein -

ist sowohl rein deskriptiv als auch metaphorisch zu verstehen. Die

“Hinterlist, Verrat und Betrug” - und verrät uns dann indirekt, dass

Wolken sind gleichzeitig “Wolken des Krieges”, die menschliche

Turner ein Anhänger der Theorie war, dass Hannibal die Alpen am

Dunkelheit nach Italien bringen. Eine solche Metapher ist in der

Kleinen St.-Bernhard-Pass überquerte, da die Salassier im oberen

Dichtung recht häufig, wie Turner sehr wohl wusste, da er sie auch

Aostatal lebten, das Turner 1802 besucht hatte.

in seinen Bildern häufig einsetzte.

56.

57.

28. DIE ÜBERQUERUNG DES BACHES 1815 Öl auf Leinwand, 193 x 165 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

T

urner kannte mindestens zwei Bilder von Claude Lorrain,

derjenigen ähnelt, aus der heraus wir alle das Licht der Welt

die von ihrer Komposition her sehr an das vorliegende,

erblicken, ist sie diesem Zweck sehr angemessen. Links von dieser

1815 in der Royal Academy ausgestellte, erinnern.

Öffnung sitzt ein Mädchen mit einem weißen Tuch über ihrem

Möglicherweise inspirierte eines von ihnen – Landschaft mit der

Schoß, einer großen weißen Tasche und einer roten verstöpselten

Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, heute im Cleveland Museum of

Flasche neben sich. Die reinen Farben und die blutfarbene, aber

Art, Turner aber wahrscheinlich in Form einer Mezzotinto-

verschlossene Flasche mögen ein prämenstruales Stadium

Reproduktion bekannt – die Anlage des vorliegenden Gemäldes.

symbolisieren. In der Mitte des Baches steht ein Hund, der Lindsay

Der Wunsch, die Landschaft mit einem einen Bach überquerenden

zufolge an “das tierische Leben Evelinas” erinnert. Diese

Mädchen zu bevölkern, mag auf den Einfluss zeitgenössischer

Interpretation wird ferner durch eine Spalte in einem Felsblock

Künstler, namentlich de Loutherbourg, Henry Thomson RA

oberhalb des Hundes gestützt, die auf das weibliche primäre

(1773-1843) und Sir Joshua Reynolds, zurückgehen.

Sexualorgan verweisen könnte. Daneben sieht man das Mädchen,

Jeder von ihnen hatte Bilder von Bäche überquerenden Mädchen

das schon fast den Bach durchquert hat.

gemalt und Turner kannte mindestens zwei dieser Arbeiten

Unter ihrem Arm trägt sie eine große rote Tasche, die in ihrem

(außerdem weisen die Bilder von de Loutherbourg und Reynolds

Schoß endet und insofern die Gebärmutter repräsentieren könnte.

von Tieren begleitete Mädchen auf, und dies ist auch hier der Fall).

Aus unerklärlichen Gründen sieht man auf dem Wasser zwischen

Ein Freund Turners identifizierte das links auf der Leinwand zu

ihren Beinen eine rote Reflexion von phallischer Form, deren

sehende Mädchen als Turners Tochter Evelina (die, wie wir in der

Herkunft unklar ist. Während das andere Mädchen sitzt, steht

Einführung gesehen haben, aber auch seine Halbschwester

dieses, vielleicht ein Symbol für Reife. Ein weiterer Verweis auf ein

gewesen sein könnte). Evelina war etwa 14 Jahre alt, als das Bild

Fortschreiten findet sich in der in der Ferne hinter dem linken

gemalt wurde. Man hat die Annahme geäußert, das Bild sei eine

Mädchen sichtbaren Brücke. Und schließlich gelangen wir zu den

Allegorie der weiblichen Pubertät:

hohen Bäumen zur Linken. Es handelt sich ohne Zweifel um die

Angesichts unseres Wissens über die Gedankengänge [Turners] dürfen

grazilsten und lebendigsten Bäume, die Turner bis zu diesem

wir Evelinas Überquerung des Baches als ein Symbol für ihre Ankunft

Zeitpunkt in Ölgemälden geschaffen hatte. Da ihre schöne

im Frauenalter ansehen. Ein anderes Mädchen (Georgiana) verharrt

Entfaltung mit Sicherheit das natürliche Wachstum ausdrückt,

am Ufer: Evelina steigt in das fließende Wasser und geht hinüber in

mögen sie durchaus dazu dienen, die unter ihnen stattfindende

das neue Leben des Erwachsenseins. (Lindsay, 1966, S.152)

menschliche Entwicklung zu verstärken. Wir wissen aus einem

Da Georgiana zu dieser Zeit erst etwa vier Jahre alt war, kann sie

Brief aus dem Jahr 1845 über dieses Bild, dass Turner das Leben als

aber eigentlich nicht das Vorbild für das am rechten Ufer sitzende

einen zu durchwatenden Fluss verstand. Möglicherweise

Mädchen gewesen sein. Andere Details des Gemäldes stützen diese

artikulierte er mit diesem Bild also sein Bewusstsein der

Interpretation jedoch. Auf der rechten Seite befindet sich eine im

organischen Existenz, die der Mensch mit dem Rest der

tiefen Schatten liegende und daher geheimnisvolle Öffnung, bei

natürlichen Welt teilt. Warum auch nicht? Für einen Künstler, der

der es sich um eine Grotte handeln könnte. Wenn dies der Fall sein

sich zur Theorie der poetischen Malerei bekannte, gab es

sollte, wäre dies die einzige jemals von Turner gemalte derartige

sicherlich keinen besseren Weg, eine Landschaftsdarstellung mit

Struktur. Wie er mit Sicherheit wusste, galten Grotten schon seit

einem universalen Aspekt der menschlichen Existenz zu vereinen,

der Antike als heilige Lebensquellen, weshalb die Höhle auch hier

besonders angesichts der Tatsache, dass die sexuelle Entwicklung

diese symbolische Funktion erfüllen könnte. Da ihre Öffnung sehr

notwendigerweise im Zentrum unserer Existenz steht.

58.

59.

29. DIDO ERBAUT KARTHAGO; ODER DER AUFSTIEG DES KARTHAGISCHEN REICHES 1815 Öl auf Leinwand, 155,5 x 232 cm Turner Bequest, National Gallery, London

T

urner stellte auch dieses Gemälde 1815 in der Royal

mit Helm und einem schwarzen Umhang und durch eine

Academy aus. So wie Die Überquerung des Baches eine

Steinplatte von ihr getrennt, der einzige in ihrer Gegenwart

Hommage an den Landschaftsmaler Claude ist, ehrt

stehende Mann. Es handelt sich mit an Sicherheit grenzender

dieses Gemälde Claude als einen Maler von Hafenszenen. Obwohl

Wahrscheinlichkeit um Aeneas.

Turner sich schon seit 1806 mit dem Gedanken trug, ein solches

In dem Teil von Vergils Epos, das dieses Gemälde inspiriert hat,

Bild zu malen, war er erst viel später, nämlich mit dieser Leinwand,

wandert der trojanische Prinz durch das entstehende Karthago, hat

auch tatsächlich dazu bereit.

die Königin aber noch nicht getroffen. Der zwischen ihnen liegende

Er hielt es für sein Meisterwerk und eine der Versionen seines

Block symbolisiert vielleicht, dass sie sich noch nicht kennen

Testaments verlangte, dass er in diese Leinwand eingerollt

gelernt haben. Die zwei vertikal auf Dido und den Mann in

begraben werden sollte (siehe hierzu die Einführung). Aus diesem

Soldatenkleidung

Grunde verkaufte er es auch nie, sondern vermachte es schließlich

Identifikation dieser beiden Figuren als der Hauptprotagonisten der

der National Gallery, der er zur Auflage machte, es neben Claude

Szene, da sie den Hafen ebenso wie Dido und Aeneas die anderen

Lorrains Der Seehafen: Die Einschiffung der Königin von Saba zu

Figuren dominieren.

hängen. Dies war sicherlich das Bild, vor dem er Jahre zuvor in

Vor dieser Gruppe sehen zwei gut entwickelte Mädchen den mit

Tränen ausgebrochen war, weil er gemeint hatte, dass er “niemals

Spielzeugschiffen spielenden Jungen zu. Diese Jungen und

in der Lage” sein werde, “so etwas wie dieses Bild zu malen”.

Mädchen könnten für Macht bzw. Fortpflanzung stehen, da die

Königin Dido floh mit den Überresten ihres von ihrem Bruder

jetzt noch mit Spielzeugschiffen beschäftigten Jungen schon bald

ermordeten Gatten Sychaeus aus Tyros und gründete an der

die

nordafrikanischen Küste eine neue Stadt. Das Grabmal ihres

verantwortlichen Schiffe segeln werden, während die Mädchen

Gatten steht auf der rechten Seite. Unterhalb davon befindet sich

ihnen die Kinder gebären werden, die diese Hegemonie aufrecht

ein Abwasserabfluss. Im Altertum hatte die Konstruktion

erhalten werden.

anständiger Abwassersysteme die zukünftige Größe und

Darüber hinaus geht die Sonne auf, was zur Entstehung der Stadt

Dauerhaftigkeit von Städten symbolisiert, wie Turner ohne Zweifel

passt und ein weiteres Beispiel für das in der Theorie der poetischen

wusste. In der Nähe des Grabmals steht ein toter Baum, aus dem

Malerei so wichtige Dekorum ist. Zur Linken wimmelt es von

jedoch ein junger Baum wächst, was für die Entstehung Karthagos

Leben und Energie, während es auf der rechten Seite einsam und

aus dem Tod des Sychaeus steht. Etwas weiter davon entfernt steht

ruhig ist. Dieser Kontrast unterstützt die dramatische Kraft des

der stattliche Hain, der Vergils Aeneis (aus der Turner sein Sujet

Bildes. Das Gemälde wird von einer implizierten linearen Struktur

bezogen hatte) zufolge im Zentrum Karthagos stand.

aus straffen, sich überschneidenden Horizontalen, Vertikalen und

Links sieht man Königin Dido mit einem Gefolge aus Architekten,

Diagonalen, die an die Grundanlage des Union Jack erinnern,

Bauarbeitern und Steinmetzen bei der Planung der vor ihnen

untermauert. Diese geraden Linien verleihen der Ansicht einer

erstehenden neuen Stadt. Vor der Königin befindet sich, bekleidet

wachsenden Stadt eine völlig angemessene Spannung und Kraft.

60.

für

ausgerichteten

Karthagos

Masten

Vorherrschaft

im

verstärken

die

Mittelmeerraum

61.

30. DIE SCHLACHT VON TRAFALGAR 1822-1824 Öl auf Leinwand, 259 x 365,8 cm National Maritime Museum, Greenwich

K

önig George IV. erteilte den Auftrag für das größte jemals

der Maler einen von drei möglichen Wegen auswählen, diese

von Turner gemalte Bild. Es war der einzige derartige

Begrenzung seiner Möglichkeiten zu umgehen: er oder sie kann die

Auftrag, den Turner je erhielt und wurde wahrscheinlich

zeitlichen

Beschränkungen

völlig

ignorieren,

Ereignisse

durch den Präsidenten der Royal Academy, Sir Thomas Lawrence

nacheinander darstellen oder auf in der jeweiligen Vergangenheit und

(1769-1830), vermittelt. Der König plante, das Gemälde in den St.

Zukunft liegende Ereignisse anspielen. In Die Schlacht von Trafalgar

James’ Palace neben Loutherbourgs Der Glorreiche 1. Juni und in

entschied Turner sich für die erste Alternative und komprimierte

die Nähe der Bilder über die Schlachten von Vittoria und Waterloo

Begebenheiten, die in der Realität Stunden auseinander gelegen

von Turners Freund George Jones zu hängen. Am Ende aber gefiel

hatten. Hierzu zählen die Übermittlung von Nelsons berühmter

das Bild nicht und wurde schnell in das Royal Naval Hospital in

telegraphischer Nachricht “England erwartet von jedem Mann, dass

Greenwich abgeschoben.

er seine Pflicht tut”, die etwa um 12 Uhr am 21. Oktobers 1805

Turner verfügte bereits über Studien von Nelsons Flaggschiff

erfolgte; der Fall des Topmastes der Victory etwa um 13 Uhr am

Victory, die er 1805 bei der Heimholung von Nelsons Leiche

gleichen Tag; der Brand der Achille neben der Victory am

angefertigt hatte. Um dieses Material zu ergänzen und weitere

Spätnachmittag und der Untergang der Redoubtable vor der Victory,

Informationen über die Victory zu bekommen, bediente sich

der sogar erst in der folgenden Nacht stattfand (überdies versank das

Turner der Skizzen des Marinemalers J.C. Schetky (1778-1874).

Schiff an einer anderen Stelle). Eine derartige Missachtung der

Als Die Schlacht von Trafalgar aber schließlich im St. James’ Palace

zeitlichen Logik und der Wirklichkeit war für ein Publikum, das die

gezeigt wurde, musste Turner 11 Tage für Korrekturen aufwenden.

möglichst wirklichkeitsgetreue Abbildung eines einzigen Moments in

Einer seiner Irrtümer ging auf Schetky zurück, der die Victory nach

der Schlacht erwartet hatte, völlig unverständlich.

ihrer Entladung in Portsmouth gezeichnet hatte, so dass sie zu

Aufgrund des niedrig gelegenen Blickpunkts ragen die Schiffe über

hoch im Wasser lag (wie wir sehen werden, sollte Turner diesen

uns und erscheinen sehr großartig (Bevor Turner den

Effekt später in Das Kriegsschiff “Téméraire” von 1839 produktiv

Meeresspiegel anhob, um die Victory tiefer ins Wasser zu legen,

einsetzen). Ferner mussten Details der Takelage verschiedener

muss dieser Effekt noch größer gewesen sein). Der Vordergrund

Schiffe und weitere Einzelheiten verbessert werden. Aber selbst

des Bildes ist voller Blut und Leichen, was an den tragischen Preis

nach diesen Korrekturen machte Turners Gemälde seine

erinnert, der für militärische Siege zu zahlen ist. Da es am Tag der

nüchternen Zeitgenossen, darunter der Herzog von Clarence, der

Schlacht praktisch windstill war, mussten alle beteiligten Schiffe so

spätere König Wilhelm IV., ratlos.

viel Segel wie möglich setzen (und selbst dann benötigten sie noch

Was Turners Kritiker nicht verstanden, war die Umsetzung einer

Stunden, um sich auf Schlachtentfernung zu nähern). Turner

der Grundsätze der Theorie der poetischen Malerei, nämlich die

bildet hier diese riesigen Leinwandflächen ab, obwohl die stark

Notwendigkeit, die Beschränkungen der Zeit zu umgehen. Da

aufgeblähten Segel der Victory sicherlich gleichzeitig auch als

ein Gemälde nur einen einzigen Moment festhalten kann, muss

Symbol für die vom Krieg entfesselten riesigen Kräfte dienen.

62.

63.

31. ODYSSEUS VERHÖHNT POLYPHEM – HOMERS ODYSSSEE 1829 Öl auf Leinwand, 132,5 x 203 cm Turner Bequest, National Gallery, London

I

n Buch IX von Homers Odyssee ist Odysseus mit zwölf seiner

Die Form der Köpfe ist eindeutig einem Pferdekopf entlehnt, der

Männer in der Höhle des Zyklopen gefangen. Das Ungeheuer

einst das Turner durch die Elgin Marbles bekannte östliche

isst bei Sonnenauf- und -untergang jeweils zwei der Männer.

Giebeldreieck des Parthenon schmückte. Am Bug von Odysseus’

Nachdem sie den Zyklopen betrunken gemacht haben, stechen

Schiff halten phosphoreszierende Meerjungfrauen Sterne in die

Odysseus und seine verbliebenen Gefährten das Auge des

Höhe. Phosphorus ist der Sohn der Aurora (die den

Zyklopen mit einem geschärften und im Feuer gehärteten Pfahl

Sonnenaufgang symbolisiert) und so die Verkörperung des

aus. Anschließend gelingt ihnen bei Sonnenaufgang die Flucht,

Morgensterns. Die Leuchtkraft illustriert Turners anhaltendes

indem sie sich an die Unterseite der dem Zyklopen gehörenden

Interesse an allen Formen visueller Phänomene. Seine Liebe

Schafe und Hammel klammern.

zum gespiegelten Licht kann auch in den großartigen Farben an

Oben links hält der geblendete Zyklop seinen Kopf in der einen

der im Schatten liegenden Seite von Odysseus’ Schiff gesehen

Hand und fuchtelt zornig mit der anderen herum, während

werden.

Odysseus weit unter ihm am Vordermast seines Schiffes steht und

Man nimmt gemeinhin an, dass Turner hier die tatsächliche

ihn zur Antwort verspottet. Eine Flagge am Hauptmast weist in

Flucht von Odysseus darstellt, was allerdings nicht korrekt ist.

Griechisch den Namen Odysseus auf und ein anderes Banner das

Als Odysseus entkommt, schleudert der Zyklop große

trojanische Pferd. Links vom Schiff befindet sich eine feurige

Felsbrocken hinter ihm her ins Meer. Derartige Felsblöcke sind

Höhle. Es handelt sich hier mit Sicherheit um einen Verweis auf

hier aber nicht zu sehen, obwohl die großen Felsenbögen in der

urzeitliche unterirdische Kräfte, die man zu Turners Zeit für den

Ferne auf sie anspielen mögen. Stattdessen folgt der griechische

Ursprung derartiger mythischer Kreaturen hielt. Weil einige

Heros hier seiner Flotte, wie wir anhand der Schiffe rechts und

Wolken am Horizont rechts von der Sonne wie Pferdeköpfe

ihrem über den unteren Bereich des Bildes verlaufendem

aussehen, verkörpert dieser Himmelsköper auch den Sonnengott

Fahrwasser sehen können. Wir befinden uns infolgedessen beim

Apoll, der in seinem Wagen nach oben getragen wird. Turner

Sonnenaufgang des Tages nach Odysseus’ erfolgreicher Flucht,

entlieh diese Erscheinung vermutlich Poussins Bild Cephalus und

denn Homer gibt genau diesen Zeitpunkt als den der Abreise vom

Aurora (National Gallery, London).

Land des Zyklopen an.

64.

65.

32. DER BRAND DES OBER- UND UNTERHAUSES, 16. OKTOBER 1834 1835 Öl auf Leinwand, 92 x 123 cm Philadelphia Museum of Art, Philadelphia

W

eines

besetzten Himmel. Turner erlaubte sich seine übliche

Kunststudenten, dass Turner von einem Boot auf

Unabhängigkeit von der Realität, indem er die Westminster

der Themse aus den Brand der Houses of

Bridge etwa eineinhalb Kilometer lang machte und sie dabei

Parliament in der Nacht des 16. Oktober 1834 beobachtete. Er

gleichzeitig deformierte. Die Brücke und beide Flussufer

malte zwei Ölgemälde dieses Ereignisses. Das vorliegende wurde

wimmeln von den Menschenmassen, die 1834 in der Tat dem

1835 in der British Institution ausgestellt, das andere (heute im

Brand zusahen. Nicht alle von ihnen bedauerten diese

Cleveland Museum of Art) im selben Jahr in der Royal Academy.

Katastrophe, da das Parlament im Herbst 1834 die Poor Law Bill

Beide Bilder stellen das Feuer vom Südufer des Flusses aus dar,

las, die das System der Arbeitshäuser begründete. Viele in

wobei das heute in Cleveland befindliche dies von Waterloo und

England sahen das Feuer als eine göttliche Strafe für eine

nicht Westminster Bridge aus tut, also aus einer größeren

derartig rigorose Gesetzgebung. Dieser Widerstand erklärt u. U.,

Entfernung. Turner fertigte ferner eine kleine Aquarell-Vignette,

warum auf einem Plakat im Vordergrund in der Bildmitte

die das Feuer von unterhalb der Westminster Bridge aus zeigt

deutlich das Wort “NO” zu lesen ist.

(Privatsammlung). Er produzierte diese als Vorlage für einen

Links unten knien mehrere bittstellende Menschen vor einer Figur

Stich in einem jährlichen Buch namens The Keepsake (“Das

in mittelalterlicher religiöser Kleidung. Dies könnte eine

Andenken”). Schließlich gibt es auch noch ein großes Aquarell

Anspielung auf Kleriker wie John Wyclif und Sir Thomas More, die

(Tate, London), das das Feuer über den New Palace Yard hinweg

einst für die Ausdehnung der britischen Freiheiten gekämpft

aus nächster Nähe darstellt. Dieses wurde vermutlich für die

hatten und insofern eine wichtige Rolle in der Geschichte des

England and Wales-Serie hergestellt, jedoch nie gestochen. Wie

Parlaments spielten, sein (Turner hatte schon vorher in anderen

schon in der Einführung geschildert, entstand das vorliegende

Arbeiten jeweils auf Wyclif angespielt und More abgebildet).

Bild zum Großteil an der Wand der British Institution, ein von

Vielleicht drücken die Menschen ihre Hoffnung aus, dass der Geist

allen Zeugen sehr bewundertes Kabinettstück. In der Ferne

der englischen Freiheit nicht durch den Brand des das Parlament

lodert das Feuer hell auf und streut Funken über einen mit Sternen

beherbergenden Palastes verloren gehen wird.

66.

ir

wissen

aus

dem

Tagebuch

67.

33. SKLAVENHÄNDLER WERFEN DIE TOTEN UND STERBENDEN ÜBER BORD – AUFKOMMENDER TAIFUN 1840 Öl auf Leinwand, 91 x 138 cm Museum of Fine Arts, Boston, Mass.

1838 im British Empire abgeschafft worden war, Schiffe aus anderen Ländern – besonders aus Spanien und Portugal – immer noch sehr aktiv den Sklavenhandel zwischen Afrika und Südamerika betrieben. Da England die Wirtschaft Westindiens nicht durch den Einsatz von

B

ei seiner Ausstellung in der Royal Academy im Jahr 1840

Sklaven im spanisch kontrollierten Kuba und anderen Teilen Mittel-

fanden sich in Ergänzung des Titels dieses Bildes die

und Südamerikas schädigen lassen wollte, war die Royal Navy bei der

folgenden Zeilen aus Fallacies of Hope:

Verfolgung von Sklavenschiffen und der Befreiung ihrer Fracht sehr

Empor alle Hände, kappt die Topmasten und macht fest;

aktiv. Um ihre Chancen zu entkommen in einem solchen Fall zu

Du wütende untergehende Sonne und Ihr wildkantigen Wolken

verbessern, warfen die Sklavenhändler häufig ihre Fracht über Bord,

Kündet vom kommenden Taifun. Bevor er über eure Decks fegt, werft

um ihre Schiffe leichter zu machen. Dies könnte auch hier der Fall

Die Toten und die Sterbenden über Bord – kümmert euch nicht um ihre

sein. Denn obwohl kein anderes Schiff zu sehen ist, könnte die

Ketten. Hoffnung, Hoffnung, vergebliche Hoffnung!

Tatsache, dass viele der ertrinkenden Sklaven noch ihre Ketten

Wo ist nun dein Markt?

tragen, darauf hindeuten. Offensichtlich sind sie in großer Eile über

Da das Wort “Hoffnung” sich hier lediglich auf die Hoffnung auf

Bord geworfen worden. Wäre weniger Eile erforderlich gewesen,

Profit bezieht, stellt das Gemälde insgesamt einen Kommentar zu

hätten

der durch Gewinnstreben hervorgerufenen Unmenschlichkeit dar.

vergleichsweise teuren Ketten abgenommen. Turner jedenfalls gab

Turner mag durch eine Passage in einem seiner Lieblingsgedichte,

genug Hinweise auf Spanien, die eine solche Interpretation

Summer aus James Thomsons schon mehrfach erwähnten The

unterstützen. So ist das vor dem Sklavenschiff auf dem Wasser

Seasons zu diesem Gemälde inspiriert worden sein. Viele Jahre lang

treibende Banner als die Flagge eines Schiffes aus Buenos Aires

glaubten manche allerdings, es sei durch ein von Thomas Clarkson

identifiziert worden, möglicherweise eine praktische Flagge für ein

in seiner 1839 wieder aufgelegten Geschichte der Sklaverei

spanisches oder portugiesisches Sklavenschiff. Ein weiterer Punkt ist

berichtetes Ereignis inspiriert worden. Turner besaß ein Exemplar

das Schiff selbst mit seinem Klipperbug und dem niedrigen,

dieses Buches. Es enthält einen Bericht über ein Gerichtsverfahren

geschmeidigen Bau, der hohe Geschwindigkeiten ermöglichte sowie

des Jahres 1783, das die Besitzer des Sklavenschiffes Zong, die

der polacca-Anlage seiner Masten. Derartige Schiffe wurden im

Anspruch auf Schadenersatz für ertrunkene Sklaven, nicht aber für

Mittelmeer gemeinhin barques espagnoles genannt. Ferner sind da

an Bord an Krankheit gestorbene Sklaven hatten, gegen ihre

noch die drei dunklen Spaniels, die aus unerklärlichen Gründen

Versicherer anstrengten. Der Kapitän der Zong behauptete, dass er

rechts unten über das Bild paddeln. Turner verwies im Rahmen eines

aufgrund des Wassermangels kranke Sklaven in drei Gruppen über

der von ihm so geliebten visuellen Wortspiele mit diesen Spaniels

Bord habe werfen lassen. Es konnte jedoch nachgewiesen werden,

sicherlich auf die “spanischen Hunde”, ein in England viel benutzter

dass ein drei Tage anhaltender “Regenschauer” der Ermordung der

abschätziger Begriff. Es kann also bis zu drei Quellen für dieses

zweiten Gruppe gefolgt war, so dass die Ermordung der dritten

Gemälde gegeben haben. In jedem Falle aber sehen wir, wie das

Gruppe nicht mehr “erforderlich” war. Angesichts der oben zitierten

Sklavenschiff in der Ferne aufgrund des nahenden Taifuns all seine

Verse erinnerte Turner sich möglicherweise an diese Begebenheit, als

Segel eingeholt hat, während seltsame exotische Fische das Fleisch

er dieses Bild malte, obwohl es hier um einen Taifun und nicht um

seiner tragisch aufgegebenen Ladung verspeisen. Stilistisch erinnern

einen Regenschauer geht. Erst kürzlich ist die These vertreten

die Fische stark an Brueghel den Älteren, dessen Drucke Turner im

worden (McCoubrey 1998), dass diese Geschichte nicht Turners

Print Room des British Museum gesehen haben könnte. Über allem

Quelle für das vorliegende Sujet war. Stattdessen habe Turner seinen

lodert ein blutroter Sonnenuntergang, die einzig angemessene Zeit

Ausgang von der Tatsache genommen, dass, obwohl die Sklaverei

und Farbe für eine derart brutale Szene voller Gemetzel und Tod.

68.

die

Sklavenhändler

mit

Sicherheit

zunächst

die

69.

34. DER LAUERZERSEE MIT DEN MYTHEN ca.1848 Wasserfarbe auf weißem Papier, 33,7 x 54,5 cm Victoria and Albert Museum, London

L

ange Zeit war dieses Werk unter dem Titel “Brienzersee”

Gebirgsstocks nahm er sich topographische Freiheiten. Während

bekannt. Meine Forschungen haben aber die wahre

sie in der Musterstudie in all ihrer gezackten Majestät abgebildet

Identität des abgebildeten Sees bestimmt. Das Bild wurde

werden, sind sie hier weniger spitz und im Verhältnis zu ihrer

für den vierten und letzten Satz der Schweiz-Aquarelle hergestellt.

Umgebung abgesenkt worden, der Große Mythen sogar fast bis auf

Der Lauerzersee ist ein kleiner See, nicht weit vom Vierwaldstätter

die Höhe des kleineren. Die Farbgebung dieses Bildes ist von

See in Brunnen. Die Stadt Schwyz liegt an seinem südöstlichen

gespenstischer Schönheit. Das Bild wird von konstanten

Ufer, das wir in der Ferne sehen. Obwohl Schwyz in der

Modulationen von Farben und Tönen, die durch die harten und

“Musterstudie” für dieses Bild (Privatsammlung, USA) zu sehen

scharfen Kanten der unbeweglichen Berg- und Felsmassen

ist, hat Turner die Stadt hier völlig ausgelassen, indem er den Raum

keineswegs begrenzt werden, zusammengehalten. Das unaufhör-

zwischen der Insel Schwanau links und dem Urmiberg rechts

liche Farbschimmern vermittelt einmal mehr ein Gefühl einer

geschlossen hat. Auch mit den beiden fernen Gipfeln des Mythen-

unmerklich durch alles fließenden universalen Energie.

70.

71.

35. ST. ANSELMS-KAPELLE MIT TEIL VON THOMAS BECKETS KRONE, KATHEDRALE VON CANTERBURY 1794 Wasserfarbe auf weißem Papier, 51,7 x 37,4 cm Whitworth Art Gallery, University of Manchester

D

ie Vorlage für dieses 1794 in der Royal Academy

Schon im jugendlichen Alter von 19 Jahren war Turner in der Lage,

ausgestellte Aquarell waren wahrscheinlich Skizzen aus

die Gesetze der Architektur zu meistern. Turner hat die Proportionen

den Jahren 1792 oder 1793. Wir blicken von der

der Kathedrale an manchen Stellen jedoch merklich verändert. Ihre

südöstlichen Ecke der Kathedrale von Canterbury in Richtung des

Breite ist halbiert worden, während die Höhe verdoppelt wurde. Ganz

als “corona” bekannten Oktagons, in dem einst die Überreste des

offensichtlich tat Turner dies, um die Kathedrale noch mächtiger und

Kopfes des 1170 in der Kathedrale ermordeten Heiligen Thomas

großartiger wirken zu lassen, als sie in der Wirklichkeit ist. Die Wahl

Becket aufbewahrt wurden. Im Spätmittelalter war dieser Teil des

eines niedrigen Blickpunktes unterstützt dies. Um die Großartigkeit

Gebäudes, wie die Canterbury Tales belegen, das wichtigste

der Architektur noch stärker zu betonen, gestaltete Turner außerdem

Pilgerziel in England.

die Figuren, Tiere und den Karren besonders plump und maximierte

Die südöstliche Ecke der Kathedrale von Canterbury ist aufgrund

so den Unterschied zum Bauwerk.

ihrer physikalischen Komplexität schwer wiederzugeben, da ihr

Das für die Abbildung des Mauerwerks eingesetzte tonale

Hauptteil eine Reihe von Winkeln aufweist, von denen Strebepfeiler

Spektrum zeigt den Einfluss von Michael Angelo Rooker, dessen

und Türme in unterschiedlichen Richtungen abgehen. Turner hat

herausragendes Talent bei der Darstellung von Gebäuden schon in

aber nicht nur Sinn in dieses Durcheinander gebracht, sondern

der Einführung erwähnt worden ist. Dieser Einfluss ist besonders

auch die vielfältigen Spiegelungen, Lichtpunkte und Schatten, die

in der im Schatten liegenden Seite der Ecke der Kathedrale zur

sich im Sonnenschein des frühen Morgens über das Gebäude

Linken zu erkennen. Jede Steinplatte weist hier in einem sich nach

verteilen, vereinigt. Ebenso evident ist sein Verständnis für die

oben leicht verdunkelnden Grundton einen etwas anderen Ton als

Dynamik der Architektur, für ihren Raumumfang, ihre Massen,

ihre Nachbarin auf. Diese feine und weit gefasste Beherrschung der

Belastungen und weiteren physikalischen Gegebenheiten.

Töne sollte Turner sein ganzes Leben lang zugute kommen.

72.

73.

36. DER CLYDE-FALL ca.1845 Öl auf Leinwand, 89 x 119,5 cm Lady Lever Art Gallery, Port Sunlight

D

ies ist ein Gemälde aus einer großartigen Gruppe zehn

Flussnymphen, die tiefen Kräfte der Natur personifizieren. Schon

später Bilder, die wiederum auf Bildern aus dem Liber

1802 bemühte Turner sich, die Universalien jenseits der

Studiorum, der zwischen 1806 und 1819 geschaffenen

Erscheinungen darzustellen.

Sammlung von Mezzotintos, beruhen. Das vorliegende Gemälde

In der Mitte der 1840er Jahre benötigte er jedoch nicht mehr die

basiert auf der 1809 publizierten Tafel 18. Diese Tafel selbst

symbolischen Verkörperungen natürlicher Antriebskräfte. Dies

dagegen erwuchs aus einem Sepia-Aquarell, das etwa ein Jahr

ist sicherlich der Grund, warum die Frauen/Gottheiten hier

vorher entstand. Turner bewahrte alle Druckplatten des Liber

nicht mehr so auffällig sind, denn die einst von ihnen

Studiorum auf und ließ 1845 noch einmal den gesamten Satz

verkörperten urzeitlichen Energien erfüllen nun die gesamte

drucken, obwohl die Druckplatten schon sehr abgenutzt waren.

Landschaft.

Dieser Neudruck war sicherlich der Stimulus für die späten

Der Clyde-Fall ist im Hinblick auf den Umgang mit Farben eins

Gemälde.

von Turners größten Meisterwerken. Es ist gleichermaßen eine

Der Cora Linn-Wasserfall ist einer von drei Fällen auf dem Clyde

Studie, wie sich starkes Licht aufgliedert, wenn es durch die von

südlich von Glasgow. Turner hatte diese Kaskade erstmals in

einem Wasserfall produzierte feine Gischt scheint. Die beiden

einem 1802 in der Royal Academy ausgestellten Aquarell gezeigt

Regenbogen rechts sind ungewöhnlich subtil, ebenso die

(das für das Liber Studiorum angefertigte Sepia-Aquarell basierte

phänomenal kleinen Tondifferenzierungen, mit denen die Bäume

auf diesem früheren Bild). Der Titel des Aquarells von 1802 im

an beiden Ufern des Clyde angedeutet werden. Turner vereinigte

Katalog der Akademie verwies den Betrachter auf Mark Akensides

hier all seine lebenslangen Interessen - Form, Bedeutung, Farbe,

Gedicht Hymn to the Naiads. Auf diese Weise offenbarte Turner

Ton und Optik - in einer großen Lobrede auf die Macht der Natur

seine Identifikation mit Akensides Ansicht, dass Najaden, d.h.

und der Kunst.

74.

75.

37. POPES VILLA IN TWICKENHAM 1808 Öl auf Leinwand, 91,5 x 120,6 cm Sudeley Castle, Winchcombe, Gloucestershire

D

ieses Bild wurde 1808 in Turners Galerie ausgestellt und

Der Baum wurde von späteren Besitzern von Popes Haus

von Sir John Leicester gekauft. Das Haus von Alexander

gepflegt, bis er 1801 starb und von einem einfallsreichen

Pope (1688-1744) wurde im November 1807 von Lady

Londoner Juwelier gekauft wurde, der ein Vermögen mit dem

Howe abgerissen, die sowohl über den ständigen Strom von

Verkauf von Teilen an Bewunderer des toten Dichters machte.

Besuchern im alten Haus des Dichters als auch die Enge der

Von diesem Bild existiert nur eine sehr grobe Skizze in einem

Residenz, die weder ihre große Familie noch ihr lebhaftes

Skizzenbuch (TB XCVI, f. 45).

Gesellschaftsleben beherbergen konnte, erbost war. Der Abriss

Sie lässt keine Rückschlüsse auf die Tageszeit oder die

sorgte für einen nationalen Aufschrei und Lady Howe wurde die

Wetterverhältnisse zu, bei der Turner Zeuge des Abrisses war. Aber

“Königin der Goten” genannt. Aber in Zeiten, die historische

Turner nahm die Tatsache, dass das Haus im Herbst 1807

Bauten noch nicht gesetzlich schützten, konnte man nichts zum

abgerissen wurde, zum Ausgangspunkt und intensivierte die

Schutz dieses Hauses tun.

melancholische Stimmung durch das Abendlicht (denn wir

Wir wissen aus einem Turnerbrief aus dem Jahr 1811 über die

blicken in nordöstlicher Richtung auf das Haus, während das Licht

gestochene Reproduktion dieses Bildes, dass er mit dem toten

von Westen kommt).

Baum im Vordergrund auf einen bekannten Baum anspielen wollte,

Alle diese Faktoren tragen zum tiefen Eindruck von Dekorum bei:

den Alexander Pope gepflanzt hatte. Man hielt diesen für den

wir sehen das sterbende Haus des toten Dichters während des

ersten Vertreter der Spezies salix babylonica (Trauerweide) in

Ersterbens des Tages und des Jahres, und ein toter Baum im

Großbritannien überhaupt. (Gemäß einer Turner bekannten

Vordergrund verweist auf Popes eigene tote Weide. Diese

Legende war Pope bei einer Soirée in Marble Hill House in

Ausrichtung aller Faktoren auf die zentrale Bedeutung des Bildes

Twickenham zugegen gewesen, als eine Kiste aus Spanien geöffnet

illustriert Turners Bestreben, die Theorie der poetischen Malerei

wurde; der Dichter entdeckte inmitten des Verpackungsmaterials

umzusetzen, indem er ihrer Anforderung der Angemessenheit

einen lebenden Zweig, den er später einpflanzte).

vollkommen entspricht.

76.

77.

38. DOLBADERN CASTLE, NORDWALES 1800 Öl auf Leinwand, 119,5 x 90,2 cm Royal Academy of Arts, London

D

olbadern Castle wurde vermutlich im frühen 13.

konsonantischen Zeilenenden sein. Turner erlaubte sich in diesem

Jahrhundert von Llywelyn the Great (1173-1240)

Bild eine große topographische Freiheit. Tatsächlich fallen die

erbaut. Wir sehen es hier bei Sonnenaufgang aus

Seiten des Llanberis-Pass viel weniger steil ab. Indem er sie in sich

nordwestlicher Richtung mit Blick auf den Llanberis-Pass vom

auftürmende Felsen verwandelte, deren Vertikalität durch das

Ufer des Llyn Padarn, des links zu sehenden Sees. Turner besuchte

Hochformat der Leinwand noch verstärkt wird sowie durch die

die Burg sowohl 1798 als auch 1799 und zeichnete sie in seinen

starke Verengung des Passes, lässt Turner die Landschaft sehr

Skizzenbüchern Hereford Court, North Wales und Dolbadern (TB

klaustrophobisch wirken. Diese Klaustrophobie repräsentiert

XXXVIII, XXXIX und XLVI). Das aus dem Jahr 1799 stammende

eindeutig Owain Gochs Gefangenschaft. In ganz ähnlicher Weise

Skizzenbuch Studies for Pictures (TB LXIX) enthält sechs Studien

schließt der implizierte Kreis um die Grenzen der Berge und der

in Pastellfarben für das Licht und die Komposition dieses Bildes,

Wolken die Burg ein und intensiviert unser Gefühl für die

während die National Library of Wales in Aberystwyth eine weitere

Einkerkerung von Owain Goch. Seine Unterwerfung wird durch

kleine Studie in Öl auf Holztafel besitzt. Bei der Ausstellung des

die erdrückende Platzierung der Burg im Verhältnis zum

Bildes in der Royal Academy im Jahr 1800 fanden sich im Katalog

niedrigen Blickpunkt des Betrachters und des Gefangenen

folgende, möglicherweise von Turner selbst verfassten Verse als

vermittelt.

Ergänzung zum Titel:

Das Zusammentreffen von tiefer Dunkelheit und intensivem Licht

Wie schrecklich ist die Stille der Ödnis,

dürfte für den Gegensatz zwischen Gefangenschaft und Freiheit

Wo die Natur ihre Gipfel gen Himmel erhebt,

stehen. Wie wir sehen werden, verband Turner in seinen Bildern

Majestätische Einsamkeit, siehe den Turm,

den Sonnenaufgang häufig mit Hoffnung oder Erneuerung und

Wo der hoffnungslose OWEN, lange eingekerkert, sich verzehrte

den Sonnenuntergang mit Unglück, so dass er auch hier das Licht

Und vergeblich seine Hände nach der Freiheit rang.

assoziativ eingesetzt haben könnte. Obwohl Owain Gochs

Der “hoffnungslose OWEN” bezog sich auf Owain Goch, der von

gegenwärtige Situation sehr unglücklich ist, wird er schließlich

1255 bis 1277 von seinem Bruder in Dolbadern Castle

befreit werden, wie der Ausdruck “lange eingekerkert” (aber eben

eingekerkert wurde, bis er von Edward I. von England befreit

nicht “für immer eingekerkert”) in den Versen andeutet. Das

wurde. Die im Vordergrund zu sehende bewachte Figur mit hinter

zurückkehrende Sonnenlicht, das die Burg sowohl vor uns als auch

dem Rücken gefesselten Händen ist zweifellos der “hoffnungslose

vor dem Häftling verbirgt, könnte deshalb durchaus die

OWEN”, der in tiefer Verzweiflung zu seinem Gefängnis geführt

schlussendliche Wiedererlangung der Freiheit repräsentieren.

wird, wie die deutende Gestalt neben ihm zeigt. Die Tatsache, dass

Zwei Jahre, nachdem Turner dieses Bild ausgestellt hatte, sollte die

Häftling und Gefängnis auf einer vertikalen Linie liegen, verstärkt

Royal Academy ihn um ein Gemälde oder ein Aquarell als seine

die Beziehung zwischen ihnen. Diese Verbindung sollte nach dem

Diplomarbeit anlässlich der Ernennung zum Vollmitglied der

Willen des poetischen Malers Turner möglicherweise auch

Akademie bitten. Turner legte zwei Bilder vor. Dieses wurde

eine Parallele zu den in der Dichtung häufig zu findenden

ausgewählt.

78.

79.

39. QUERSCHIFF DER KLOSTERKIRCHE VON EWENNY, GLAMORGANSHIRE 1797 Bleistift und Wasserfarbe mit Ausschabungen auf weißem Papier, 40 x 55,9 cm National Museum of Wales, Cardiff

H

ier sehen wir, wie der junge Turner die Idee der

Gerätehaus für Farmwerkzeug dienen. Turner kommentierte hier

moralischen Landschaftsmalerei entwickelt, wie es

auch die langfristigen zerstörerischen Folgen der Reformation des

einem Anhänger der Theorie der poetischen Malerei des

16. Jahrhunderts, die das Gebäude in seinen gegenwärtigen

Sir Joshua Reynolds gebührt. Das Aquarell basiert auf einer

traurigen Zustand versetzt hatte. Wie sein Bildnis sind auch die

Bleistiftzeichnung von der Wales-Reise von 1795 (siehe das

religiösen Hoffnungen von Sir Paganus völlig umgekehrt worden.

Smaller South Wales-Skizzenbuch, TB XXV, f.11) und wurde 1797

Dieses Bild illustriert, dass Turner im Jahr 1797 die wesentlichen

in der Royal Academy ausgestellt. Ewenny Priory, ein

Aspekte der Architektur vollkommen beherrschte. Wir sehen nicht

Benediktinerkloster in der Nähe von Bridgend in Glamorganshire,

nur den Schnittpunkt der großen Bögen, sondern wir spüren auch

wurde 1141 gegründet und 1539 aufgehoben. Als Turner 1795 sein

den großen physischen Druck, der sie aufrecht erhält. Einmal

Querschiff malte, legte er großes Gewicht auf das aus dem 12.

mehr begegnet uns auch die Balance zwischen kühlen und warmen

Jahrhundert stammende Grabmalbildnis des Sir Paganus de

Farben, die auf den Einfluss von Rembrandts Ruhe auf der Flucht

Turbeville of Coity, das im Eingang steht. Turner drehte die

nach Ägypten im Mondschein zurückgeht.

ruhende Figur in seinem Aquarell allerdings um 180 Grad. Warum

Vielleicht regte auch eine von Piranesis Gefängnisszenen mit

tat er dies?

ihren dramatischen tonalen Kontrasten, den architektonischen

Das Grabmal und die Figur liegen innerhalb des hellsten Bereichs

Betonungen und den von “hinter den Kulissen” stammenden

des Bildes, so dass unser Blick auf sie gelenkt wird. Um unsere

Lichtquellen Turners Phantasie an. Sein Bewusstsein der Art und

Aufmerksamkeit weiter zu lenken, bildet das nächstgelegene Ende

Weise, wie in einen dunklen Innenraum fallendes intensives

eines behelfsmäßigen Hühnerstalls, der direkt gegenüber unserem

Licht einen grellen Schein innerhalb eines sehr engen tonalen

perspektivischen Blickpunkt im Vordergrund platziert ist, ein

Spektrums erzeugt – dem wir bereits in der Ansicht des Eltham

Dreieck, das unser Auge auf die Grabstätte richtet. Da keines der

Palace begegnet sind –, ist außerdem in den extrem feinen

Tiere, der Gegenstände und keiner der Menschen in der

Tönen auf der Wand hinter dem Grabmal-Bildnis evident. Das

ursprünglichen Bleistiftzeichnung erscheinen, dürfen wir davon

durch das Fenster rechts fallende Licht und die Gestalten der

ausgehen, dass sie eine Funktion erfüllen. Angesichts ihres

gerade wegfliegenden Tauben wurden allesamt aus dem von

Charakters gelangen wir schnell zu der Erkenntnis, dass sie eine

Turner benutzten sehr starken, aus Lumpen hergestellten Papier

historische ironische Aussage transportieren: Sir Paganus de

ausgeschabt. Die entfernten Lichtpunkte in der Kirche zur

Turbeville of Coity mag in der Kirche von Ewenny Priory die ewige

Linken kreierte Turner mit Hilfe eines nicht permanenten

Ruhe gesucht haben, aber gegenwärtig dürfte er sie kaum

Firnisses, der das Papier davor schützt, übermalt zu werden und

genießen, da die Kirche als Schweinestall und das Querschiff

dann wieder entfernt wird, um die ungetönte oder weniger

gleichzeitig als Hühner- und Truthahn-Stall wie auch als

getönte Unterlage freizulegen.

80.

81.

40. DER GROßE REICHENBACHFALL IM HASLITAL, SCHWEIZ 1804 Wasserfarbe auf weißem Papier, 102,2 x 68,9 cm Cecil Higgins Art Gallery, Bedford

D

ie hier wiedergegebene Schreibweise ist jene, die

links in der Ferne um ein Feuer versammelten winzigen Figuren

benutzt wurde, als dieses Aquarell zum zweiten Mal,

sowie

und zwar 1819 in Walter Fawkes Londoner Haus,

gegenüberliegenden Hügel hinter streunenden Ziegen hersteigt,

ausgestellt wurde. Man hatte hier die Gelegenheit genutzt, zwei

betont wird. Die Aufnahme dieser Ziegen war ein besonders

Druckfehler zu berichtigen, die sich eingeschlichen hatten, als das

geschickter Schachzug Turners, da sie uns daran erinnern, dass

Bild 1815 in der Royal Academy gezeigt wurde (nämlich

man sich in einer solchen Landschaft leicht verirren kann.

“Riechenbach” und “Hasle”).

Die fundamentale geologische Wirklichkeitstreue des Steilhangs

Der Reichenbachfall im oberen Haslital nahe Meiringen war eine

ist offensichtlich. Am Fuß der Fälle sehen wir, wie aus erheblicher

beliebte Touristenattraktion und bot sich daher für Turner an. Er

Höhe herabfallende große Wassermassen eine feine Gischt

schuf zwei sehr detailreiche Aquarelle. Das hier nicht abgebildete

erzeugen.

kleinere Bild zeigt den Wasserfall von einem wesentlich näher

Im Vordergrund ist der gesamte ”Unrat der Schöpfung” sehr

liegenden Blickpunkt und aus einem schrägeren Winkel. Das

detailliert wiedergegeben, ohne die Rohheit und das Chaos der

vorliegende Bild basiert auf einer monochromatischen Studie aus

wilden Natur zu verwässern. Und indem Turner den Fluss aus

dem Jahr 1802, die sich heute in der irischen National Gallery

der Unterseite des Bildes herausfallen lässt, erweckt er den

befindet. Dies ist vielleicht das großartigste Aquarell, das direkt

Eindruck, wir befänden uns an der Grenze eines Abgrunds,

nach der ersten Schweizreise entstanden ist. Sein Hochformat

wodurch unser Gefühl für die intensive Räumlichkeit der

verstärkt die Gewaltigkeit der Landschaft, die ebenfalls durch die

Landschaft erhöht wird.

82.

den

einsamen

Ziegenhirten,

der

auf

einem

83.

41. FISCHER AUF SEE 1796 Öl auf Leinwand, 91,5 x 122,4 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

T

urner debütierte mit diesem 1796 in der Ausstellung der

von Rembrandt angezogen wurde und zwar insbesondere von

Royal Academy gezeigten Bild als Ölmaler. Wir blicken

einem Nachtbild des holländischen Meisters, nämlich Ruhe auf der

über die Freshwater Bay in der Nähe des südwestlichen

Flucht nach Ägypten im Mondschein, das zu diesem Zeitpunkt im

Endes der Isle of Wight. Turner hatte die Insel 1795 besucht und

Besitz eines seiner Gönner, Sir Richard Colt Hoare, war, sich heute

in seinem Isle of Wight-Skizzenbuch (TB XXIV) Bleistiftskizzen der

aber in der National Gallery of Ireland in Dublin befindet. Aber

Bucht angefertigt, obwohl keine von ihnen die hier dargestellte

obwohl das intensive chiaroscuro von Rembrandt stammen mag,

Topographie porträtiert.

hat sich Turner die Brillanz des Lichtes und den Eindruck von Auf

Das Gemälde dokumentiert die Assimilation einer Reihe

und Ab-Bewegungen ganz zu eigen gemacht.

künstlerischer Einflüsse. Es erinnert an die Werke des

Mit seiner ausgezeichneten Abbildung eines tiefen Auf und Ab

französischen Meeresmalers Joseph Vernet (1714-1789). Der

demonstriert dieses Bild, wie weit der junge Künstler bereits in

Nachteffekt verweist auf die monderhellten Szenen von Wright of

seinem Verständnis des Verhaltens großer Wassermassen

Derby (1734-1797), während die Formgebung der Wolken den

fortgeschritten war. Der Mond war ursprünglich über die Wolken

Einfluss von Philippe Jacques de Loutherbourg dokumentiert. Man

lasiert worden, die Zeit hat aber dafür gesorgt, dass die übermalten

weiß, dass Turner zu der Zeit, da er dieses Bild malte, auch sehr

Formen durchscheinen.

84.

85.

42. BIEGUNG DES LUNE, MIT BLICK AUF HORNBY CASTLE ca. 1817 Wasserfarbe auf weißem Papier, 28 x 41,7 cm Courtauld Institute of Art, University of London

T

urner fertigte dieses Aquarell als Modell für eine

vertikale Ausrichtung des sanften V, das die Seiten des Wegs mit

gestochene

of

dem Mann mit der Spitzhacke im Vordergrund, der hinter ihm auf

Richmondshire an. Der Rev. Thomas Dunham Whitaker,

der Straße nach Lancaster reitende Mann und das weidende Vieh

ein Kleriker, Antiquitätensammler und Baumpflanzer aus

auf dem gegenüberliegenden Ufer des Lune bilden, auf dieses

Lancashire, war der Autor dieses ehrgeizigen Projekts. Obwohl

Bauwerk gelenkt. Die damit kontrastierenden flachen Diagonalen

Turner einen Auftrag über 120 Aquarelle erhalten hatte, stellte er

des nahen Wegs ziehen das Auge in die Szene, während die Form

nur 21 fertig, bevor das Projekt mangels Nachfrage eingestellt

der Straße durch die steileren Diagonalen nahe dem linken und

wurde.

rechten Rand des Bildes verstärkt wird. Die verdrehte Form eines

Der Fluss Lune windet sich etwa sechs Kilometer oberhalb von

Asts unten rechts nimmt die “Biegung” des Flusses wieder auf und

Lancaster wieder in die entgegengesetzte Richtung und wir blicken

lenkt dadurch unsere Aufmerksamkeit auf sie. Unmittelbar

hier im Abendlicht in nördlicher Richtung auf diese “Biegung”. In

oberhalb des Astes wird die generelle horizontale Anordnung der

der Ferne oben rechts ist Ingleborough-Hill (723 m) zu sehen.

Szene sinnvoll durch ein Bäumchen gebrochen, dessen gewundene

Etwas näher und direkt gegenüber von unserem Blickpunkt liegt

Form und Verkörperung organischen Wachstums nicht nur sein

Hornby Castle, das Turner auch auf zwei weiteren Bildern aus der

inneres Leben symbolisiert, sondern auch die ideale Schönheit der

“Richmondshire”-Serie abbildete. Unser Auge wird durch die

Landschaft insgesamt unterstreicht.

86.

Reproduktion

in

der

History

87.

43. DER WOHNSITZ VON WILLIAM MOFFATT ESQ., IN MORTLAKE; FRÜHER (SOMMER-) MORGEN 1826 Öl auf Leinwand, 93 x 123,2 cm The Frick Collection, New York

D

ies ist das erste Bild eines Bildpaares, das der Londoner

Eine leicht rötliche Färbung des Blattwerks der Bäume deutet an,

Geschäftsmann William Moffatt (1758?-1831) in

dass wir uns an der Schwelle zum Herbst befinden. Turner benutzte

Auftrag gegeben hatte. Turner zeigte es 1826 in der

für beide Bilder eine weiße, rasch das Öl aus den Farben

Royal Academy. Das Gegenstück wurde im folgenden Jahr

absorbierende Grundierung, so dass die Farben sich im Grunde wie

präsentiert und wird weiter unten diskutiert. Hier sehen wir die

Wasserfarben verhalten und wesentlich rascher als Ölfarben

Ansicht, wenn man in Richtung von Moffatts Haus blickt, während

trocknen. Der an die Aquarellmalerei erinnernde Umgang mit der

man in dem anderen Bild von dem Herrenhaus aus am anderen

Farbe kommt besonders in der Wiedergabe der Boote und der

Ende des Tages in die entgegengesetzte Richtung blickt. Das –

Spiegelungen auf dem Fluss zum Ausdruck. Zunächst muss die

allerdings erheblich veränderte – Gebäude steht noch heute. Sein

dünn aufgetragene, absorbierte Farbe recht flach und leblos gewirkt

Name The Limes (“Die Linden”) ist in den Lindenalleen begründet,

haben. Die anschließende Aufbringung eines glänzenden Firnisses

die vor ihm standen, bis die Bäume 1896 gefällt wurden.

stellte aber wieder die Leuchtkraft und das tonale Spektrum her.

Turner nahm sich für beide Bilder eine Reihe von Bleistiftzeichnungen

Die Londoner Platanen in beiden Moffatt-Ölgemälden gehören zu

aus dem Mortlake and Pulborough-Skizzenbuch (TB CCXIII) zur

Turners am stärksten idealisierten und schönsten Bäumen. Dies

Vorlage. Eine grobe Kompositionsstudie des vorliegenden Gemäldes

gilt besonders für das Gemälde aus dem Jahr 1827, wo jede

findet sich auch auf CCLXIII(a)-3, während CCLXIII(a) Nr. 1 und 2

Windung von Stamm und Ästen wie von Energie erfüllt wirkt und

für das Bild von 1827 herangezogen wurden. In keiner dieser

die Bäume zu erblühen scheinen, während wir sie ansehen. In

Zeichnungen finden sich Hinweise auf Licht und Wetter. Dies mag die

beiden Werken ist das Blattwerk unvergleichlich lichtdurchlässig,

Tatsache erklären, dass das Licht des Sonnenaufgangs, das im

räumlich komplex und voller Leben. Das direkte Sonnenlicht des

Vordergrund auf den Rasen und den Weg fällt, von Süden und nicht

späteren Bildes lässt sein Blattwerk allerdings noch strahlender

aus seiner korrekten Richtung von hinter dem Haus kommt.

erscheinen, als es hier der Fall ist.

88.

89.

44. MORTLAKE TERRACE, DER WOHNSITZ VON WILLIAM MOFFATT, ESQ.; SOMMERABEND 1827 Öl auf Leinwand, 92 x 122 cm National Gallery of Art, Washington, DC

W

offensichtlich

ährend sich in der Sonnenaufgangsszene von 1826

Tatsächlich muss Turner selbst den Hund (und den benachbarten

Gärtner darauf vorbereiten, das Gras zu mähen, ist

Sonnenschirm) aus Papier ausgeschnitten haben. Anschließend

derselbe Bereich am anderen Ende des Tages

klebte er diese Formen auf die Leinwand und übermalte sie, eine

und

bekanntermaßen auch bei anderen Gelegenheiten von ihm

Kunstgenuss genutzt worden (wie ein liegen gelassener

angewandte Technik (z.B. bei Das Goldene Geäst, siehe unten).

Sonnenschirm, ein Reifen und einige Druckfolios illustrieren). Auf

Leider löste sich der Papierhund und fiel an einem der Tage, an

dem Fluss hat Turner auf subtile Weise die Klassenstruktur der

denen es den Künstlern gestattet war, ihre Bilder zu überarbeiten

englischen Gesellschaft abgebildet: vorüber fahrende Staatsbarken

oder zu firnissen, zu Boden. Landseer muss dies bemerkt und

befördern Mitglieder der königlichen Familie und des Adels, auf

den Hund wieder behelfsmäßig angeklebt haben, um Turner zu

Freizeitbooten sieht man Menschen in der Kleidung der

helfen (jemand wird dies gesehen und gedacht haben, Landseer

Mittelklasse und auf den Themsekähnen schuften Mitglieder der

habe den Hund selbst hinzugefügt). Dieser begab sich dann auf

Arbeiterklasse.

die Suche nach Turner, um ihn zu informieren. Turner kehrte

Die Brillanz der Reflexion von der Brüstung wird durch den Kontrast

dann vom Mittagessen zurück, “… ging gelassen zu dem Bild,

mit der dunklen Silhouette eines Hundes intensiviert. Zahlreiche

sagte kein einziges Wort, klebte den Hund ordentlich an, firnisste

Jahre kursierte die Geschichte, dass der Maler Edwin Landseer

das Papier dann und bemalte es. Und dort befindet es sich bis

(1803-73) das Tier in der Ausstellung der Royal Academy von 1827

zum heutigen Tage.”

zusätzlich auf die Leinwand geklebt habe, weil er der Meinung

Nur diese Version kann Turners anderenfalls überraschende

gewesen sei, das Bild benötige einen starken Fokus. Landseer war zu

Gleichgültigkeit angesichts der Tatsache, dass jemand von

diesem Zeitpunkt jedoch lediglich ein Associate Royal Academician,

geringerem Rang in der Akademie sich an seinem Bild zu schaffen

der noch auf die Ehre einer vollen Mitgliedschaft wartete (die er 1831

machte, erklären. Außerdem hatte er schon bei dem Bild Der

erlangen sollte). Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass er seine

Ausbruch des Vesuv von 1817 einen dunklen Akzent unmittelbar

diesbezüglichen Chancen aufs Spiel gesetzt hätte, indem er das Werk

neben eine Spiegelung platziert, um ihre Helligkeit zu

eines der langjährigsten und respektiertesten Akademiemitglieder,

intensivieren. Dies unterstützt die These, dass Turner auch in

das zudem etwa doppelt so alt war wie er, “verbesserte”.

diesem Fall selbst für den Hund verantwortlich ist.

90.

für

feine

Spaziergänge,

Kinderspiele

91.

45. HOLLÄNDISCHE BOOTE IN EINEM STURM: FISCHER BEMÜHEN SICH, IHREN FANG AN BORD ZU BRINGEN 1801 Öl auf Leinwand, 162,5 x 222 cm Privatsammlung, Leihgabe an die National Gallery, London

E

iner der führenden Kunstsammler Großbritanniens, der

des Zeitalters der Segelschiffe, da viele Schiffe an ihnen

dritte Herzog von Bridgewater, gab den Auftrag für dieses

Schiffbruch erlitten. Der im Grunde einzige Weg, die von ihnen

deshalb

bekannte

ausgehende Gefahr zu umgehen, bestand darin, in den Wind zu

Gemälde. Der Aristokrat wollte es in seiner Galerie in Bridgewater

segeln, den Anker zu werfen und den aufziehenden Sturm zu

House neben ein Gemälde von Willem van de Velde dem Jüngeren

überstehen. Die drei großen Schiffe in der Ferne haben diese

mit dem Titel Aufkommender Sturm (heute im Toledo Museum of

Vorsichtsmaßnahme getroffen. Das Gemälde sorgte anlässlich

Art, Toledo, Ohio) hängen. Ein wichtiges Merkmal des

seiner Ausstellung in der Royal Academy im Jahr 1801 für eine

letztgenannten Bildes ist das Gewicht, das van de Velde auf ein

Sensation und festigte Turners stetig wachsende Berühmtheit.

Spriet, d.h. eine das Hauptsegel haltende diagonale Spiere an

Der Präsident der Akademie, Benjamin West, bemerkte, dass es

einem nahe gelegenen holländischen Fischerboot, legte.

sich hier um eine Meereslandschaft handele, wie Rembrandt sie

Im Bridgewater-Seestück kehrte Turner diese Diagonale geschickt

habe malen wollen, aber niemals habe bewerkstelligen können

um. Obwohl das Spriet seines Fischerbootes durch das Segel

(er dachte wahrscheinlich an ein berühmtes Rembrandt-Bild, das

verdeckt und folglich nicht sichtbar ist, wird seine Existenz

Christus in einem kleinen Boot auf dem See Genezareth zeigt;

deutlich impliziert und visuell betont, jedoch in entgegengesetzter

dieses Bild befand sich zu dieser Zeit in England, gehört heute

Richtung. Diese Diagonalen müssen an der Wand von Bridgewater

aber dem Isabella Stewart Gardner Museum in Boston,

House eine starke Verbindung zwischen beiden Bildern

Massachusetts).

konstituiert haben.

West war nicht der einzige, der Turner mit Rembrandt verglich.

Die Komposition erhält ihre Einheit ferner durch die diagonale

Der Professor für Malerei der Royal Academy, Heinrich Füssli RA,

Linie sich nähernder Sturmwolken und die aufsteigende

stellte ebenfalls diese Verbindung her und pries das Bild darüber

Schattenlinie auf dem Meer. Wir begegnen hier auch einmal mehr

hinaus als das beste in der ganzen Ausstellung. Seine Figuren lobte

Turners Verständnis des Verhaltens von Wasser, der “Eigenschaften

er als “sehr clever”. Man weiß nicht, ob er bemerkt hatte, dass

und Ursachen, Folgen und Ereignisse”, die seine Bewegung

Turner die Seeleute in der Art von David Teniers dem Jüngeren

beherrschen. Rechts in der Ferne kann man eine zum Teil von der

gemalt hatte, aber er schätzte sicherlich das Dekorum, dass sie wie

Sonne erhellte Leeküste sehen, d.h. ein Landstück, in dessen

salzige niederländische Seebären aussahen, was zu dem hollän-

Richtung der Wind bläst. Derartige Küsten waren der Schrecken

dischen Sujet passte.

92.

auch

als

Bridgewater-Seestück

93.

46. PIER IN CALAIS MIT FRANZÖSISCHEN “POISSARDS”, DIE AUSFAHREN WOLLEN: ANKUNFT EINES ENGLISCHEN PAKETBOOTES 1803 Öl auf Leinwand, 172 x 240 cm Turner Bequest, National Gallery, London

an diesem Ölgemälde und stellte es im Mai 1803 in der Royal Academy aus. In dieser Zeit und besonders nach dem 8. März 1803 herrschte in England sehr stark die Meinung, dass die Feindseligkeiten mit Frankreich schon bald wieder beginnen würden. Diese Ängste mögen großen Einfluss auf das Bild gehabt

I

nfolge des Friedensschlusses zwischen England und

haben. Das Ereignis in der Bildmitte könnte eine Anspielung darauf

Frankreich vom März 1802 konnte Turner später in diesem

sein, dass England und Frankreich bis vor kurzem auf einem

Jahr erstmals den Kontinent besuchen. Er landete auf seinem

“Kollisionskurs” waren, den Zusammenstoß aber schließlich durch

Weg in die Schweiz in Calais und musste von dem Paketboot, mit

den Friedensschluss abwenden konnten. Wenn Turners Schiffe die

dem er den Ärmelkanal überquert hatte, in ein kleineres Boot

Kollision verhindern können, könnte dies als eine Erinnerung an

umsteigen, da sein Schiff aufgrund der Gezeiten nicht sofort in den

den Frieden dienen. Diese Möglichkeit wird durch die Platzierung

Hafen einlaufen konnte. Einer Notiz in einem seiner

der Boote unterhalb des einzigen friedlichen Bereichs im gesamten

Skizzenbücher zufolge wäre das kleinere Boot dabei “fast

Bild, dem blauen Himmel direkt über ihnen, angedeutet. Turner

gekentert”. Aber sein Erlebnis und das, was er in diesem Bild

könnte sich hier aber gleichzeitig sehr vorsichtig verhalten haben,

darstellt, sind natürlich keineswegs notwendigerweise das Gleiche.

da das Bild ebenso gut auf die Wiederaufnahme von

Links von der Bildmitte läuft das englische Paketboot mit der

Feindseligkeiten verweisen könnte: Wenn das französische

englischen Flagge an seinem Hauptmast in den Hafen ein.

Fischerboot und das englische Paketboot zusammenstoßen, könnte

An Deck befinden sich triefnasse Passagiere, die auch unter

dies eine Parallele zu einem neuerlichen Konflikt zwischen beiden

Seekrankheit leiden mögen, da in dieser Zeit die 33,8 km lange

Nationen sein. Diese Möglichkeit wird auch durch die Wolken

Überfahrt je nach Windverhältnissen und Gezeiten bis zu einer

angedeutet, denn wenn sie sich schließen – was angesichts des von

Woche dauern konnte. Unmittelbar vor dem Paketboot macht, um

Westen heraufziehenden Sturms (angedeutet durch die Flaggen)

eine Kollision zu verhindern, eines der im Titel erwähnten

durchaus wahrscheinlich ist -, wird der friedliche Himmel

französischen “Poissards”, die ausfahren wollen” (das Wort

verschwinden. Tatsächlich nahmen Frankreich und England nur 16

“Poissard” ist Turners korrupte Version des Wortes “poissarde”, das

Tage, nachdem dieses Bild in der Royal Academy erstmals gezeigt

Fischhändlerin bedeutet), ein Ausweichmanöver. Die Tatsache,

wurde, wieder Kampfhandlungen auf. Turner hielt sich also zu

dass das französische Boot in Gefahr ist, schon so bald nach dem

Recht geschickt alle Optionen offen.

Verlassen des Hafens mit dem Paketboot zusammenzustoßen, ist

Die Darstellung des Himmels wirkt recht theatralisch. Die Wolken

Turners geistreicher, wenn auch nationalistischer Kommentar zu

erinnern an Theaterkulissen. Es sollte nur wenige Jahre dauern,

den dürftigen seefahrerischen Fähigkeiten der Franzosen. Auch die

bis Turner ihre räumliche Komplexität und meteorologische

Menschen auf dem Pier scheinen anti-französischen Gefühlen zu

Dynamik weitaus sicherer wiedergeben konnte. Dem Meer eignet

schmeicheln, da sie ein wenig wie Karikaturen wirken. Sie stehen

jedoch eine ganz spezifische Energie und das Verständnis seines

damit in einer Tradition in der englischen Kunst, die von Hogarths

ständigen Auf und Ab ist vollkommen. Turners Zeitgenossen

“O das Roastbeef von Alt-England! (“Tor von Calais”)” verkörpert

empfanden die Definition der Dinge in diesem Bild als etwas zu

wird, das Turner mit Sicherheit als Bild oder Stich (oder als beides)

vage, aber gerade diese “Undeutlichkeit” trägt zu der Wahrheit

kannte. Turner arbeitete im Herbst, Winter und Frühling 1802/03

und Kraft des Bildes bei.

94.

95.

47. DER SCHIFFBRUCH 1805 Öl auf Leinwand, 170,5 x 241,5 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

A

ngesichts der Tatsache, dass auch heute noch

Menschen sich an das Tauwerk des Bugspriets, das Topsegel und

Passagierschiffe Schiffbruch und dabei viele Menschen

das Deck klammern). Da also keine klare Übereinstimmung

den Tod erleiden, ist diese tragische Arbeit immer noch

zwischen Bild und Realität gegeben ist, muss die exakte Identität

sehr relevant. Turner stellte sie 1805 in seiner eigenen Galerie aus

des Schiffes zweifelhaft bleiben. Das gekenterte Handelsschiff

und verkaufte sie im folgenden Jahr an Sir John Leicester. Dieser

wird teilweise von einem Fischerboot verdeckt, dessen

tauschte das Bild jedoch 1807 gegen ein anderes ein, da er gerade

Besatzung versucht, die Passagiere eines Rettungsboots zu

einen Verwandten durch Ertrinken verloren hatte und das Bild zu

retten.

viele traurige Assoziationen für ihn barg.

Turner stellte häufig in dieser Weise unterschiedliche Schiffstypen

Das Meer ist eine Masse aus kochendem Schaum. Turners

gegeneinander, wobei er zuweilen bis zu fünf Schiffe auf eine sich

Verständnis der Bewegungsgesetze des Wassers und seiner inneren

vom Betrachter entfernende Linie setzte. Er tat dies vermutlich

Energie ist evident. Es ist die Vermutung geäußert worden (siehe

aufgrund seines ausgeprägten Gestaltungssinns; eine solche

Venning 1985), dass Turner hier den Untergang eines ganz

Anordnung kreiert verwirrende Formen und Turner liebte es,

bestimmten Schiffes, der Earl of Abergavenny im Januar 1805

Formen zu schaffen.

(womit er etwa sechs Monate für das Bild gehabt hätte, was im

Das Gemälde hat eine relevante moralische Dimension. Wie in

Bereich des Möglichen liegt), gemalt hat. Die Earl of Abergavenny

mehreren seiner früheren Seestücke, darunter das Bridgewater-

war ein Ostindienschiff, dessen Rumpf aufgerissen wurde, als sie

Seestück und Pier in Calais, gestaltete Turner viele seiner

auf die Shambles-Riffe nahe der Isle of Portland gelotst wurde,

menschlichen Figuren in der Manier von Teniers dem Jüngeren

wobei 263 Menschen ihr Leben verloren. Eines der Opfer war der

(besonders der Mann in dem kleinen Boot unten in der Mitte mit

Kapitän des Schiffs, John Wordsworth, der Bruder des Dichters

der roten Kappe und dem uns zugewandten Rücken sieht wie eine

William Wordsworth. Die Earl of Abergavenny kenterte jedoch

Figur von Teniers aus). Im Vergleich mit ihrer Umgebung erinnern

nicht, wie es das große Schiff rechts in der Ferne hier im Bild tut.

uns derart bewusst tölpelhaft aussehende Menschen an die

Sie sank vielmehr sofort in relativ flachem Wasser, so dass ihre

“Winzigkeit des Menschen” und unterstreichen damit die

Masten noch herausragten und die Mehrheit der Überlebenden

Vergeblichkeit all unseres Bemühens, die riesigen Kräfte der Natur

sich an diese klammern konnte (bei Turner hingegen sieht man

zu überwinden.

96.

97.

48. RYE, SUSSEX ca. 1823 Wasserfarbe auf weißem Papier, 14,5 x 22,7 cm National Museum of Wales, Cardiff

D

ie Serie aus 40 Entwürfen, die zwischen 1811 und 1825

Winchelsea in westlicher Richtung stellte der Kanal allein die

entstand und unter dem Titel Picturesque Views on the

Verteidigungslinie dar. Turner scheint die Gegend um die Zeit

Southern Coast of England veröffentlicht wurde, war

1805-1807 herum besucht und dabei den Bau der Befestigungen

Turners erste große Serie topographischer Drucke. Das vorliegende

gesehen zu haben. Wir sehen von Winchelsea in östlicher

Aquarell stammt aus dieser Serie. Ursprünglich sollte die Southern

Richtung die Royal Military Road entlang nach Rye. Die nahe

Coast-Serie nur den ersten Teil eines auf vier Teile angelegten

Winchelsea gelegene Brücke über den Brede liegt links. Eine

Projekts über die gesamte Küste Großbritanniens darstellen.

Springflut schießt den Fluss hinauf und unter der Brücke durch.

Leider führte 1826 ein Streit zwischen Turner und dem Graveur

Dieser unerwartete Wassereinbruch hat einen hölzernen

dazu, dass dieser großartige Plan niemals realisiert wurde. Turner

Behelfsdamm zerstört, der die Arbeit an einem in westlicher

malte zwar noch einige Aquarelle der Ostküste und ließ einige von

Richtung verlaufenden Teilstück des Royal Military Canal rechts

ihnen sogar selbst stechen, sie wurden allerdings niemals

unten ermöglichen sollte. Unmittelbar vor dem Betrachter

publiziert.

klammern sich Arbeiter an die Holzbalken des zerstörten Damms,

Während der Napoleonischen Kriege gab es Befürchtungen, dass

um nicht von den Wassermassen fortgerissen zu werden. Auf der

Romney Marsh und das westlich gelegene Gebiet aufgrund der

Royal Military Road treibt ein Fuhrmann seine Pferde an, während

Flachheit des Landes und der Nähe zu Frankreich Schauplatz einer

Männer in unterschiedliche Richtungen davonlaufen.

feindlichen Invasion sein könnten. Aus diesem Grunde wurde in

In der Ferne, rechts von Rye, liegen Camber Castle und das Meer. Im

dieser Gegend zwischen 1804 und 1809 ein umfassendes

Rahmen seiner üblichen Vorliebe für die Vergrößerung bestimmter

Verteidigungssystem angelegt. Es bestand im Wesentlichen aus als

Dinge hat Turner Rye etwa doppelt so groß gemacht, wie es in

Martello-Türmen bekannten Forts und einem Wasserweg sowie

Wirklichkeit ist. Er hat außerdem Camber Castle wesentlich weiter

einer Straße, die Royal Military Canal und Royal Military Road

nach Osten gerückt, um es in seine Komposition aufnehmen zu

genannt wurden. Zwischen Rye und Winchelsea erfüllte der Fluss

können. In dem gesamten Bild vermittelt eine Vielzahl von

Brede die Funktion des Verteidigungskanals und die Royal Military

fließenden und wirbelnden Linien nicht nur ein Gefühl von Energie,

Road verlief über den Großteil seiner Länge parallel. Jenseits von

sondern auch die Panik der um ihr Leben kämpfenden Menschen.

98.

99.

49. DER UNTERGANG DES KARTHAGISCHEN REICHES 1817 Öl auf Leinwand, 170 x 238,5 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

O

bwohl dieses Bild erst 1817 in der Royal Academy

Stattdessen stellten sie 300 Kinder als Geiseln. Passenderweise

ausgestellt wurde, ist es eindeutig ein Gegenstück zu

sieht man trauernde Mütter. Luxusgüter liegen im Vordergrund

Dido erbaut Karthago. Sein ohnehin schon langer Titel

herum und unterstützen die Assoziation des Materialismus als der

wurde im Ausstellungskatalog noch durch Zeilen aus Turners

Ursache des karthagischen Niedergangs. Wie in Dido erbaut

“Fallacies of Hope” ergänzt.

Karthago entspricht die kompositorische Struktur der zentralen

Angesichts des trügerischen Lächelns der Hoffnung

dramatischen Aussage des Bildes. Das frühere Bild weist gerade

Wurden des Häuptlings Sicherheit und der Mutter Stolz

Linien auf, deren Straffheit die Macht Karthagos symbolisiert. Hier

Dem heimtückischen Griff des Eroberers ausgeliefert;

jedoch wird Schlaffheit assoziiert, indem die Gebäude allesamt in

Während über der westlichen Welle die blutrote Sonne

unterschiedliche Richtungen weisen und das gesamte Bild durch die

Im sich sammelnden Dunst ein stürmisches Zeichen verbreitete,

Großzahl an Kreisen, Halbkreisen und Ellipsen, die durch diese

Und unheilschwanger versank.

Strukturen gebildet werden, saft- und kraftlos wirkt. In der Ferne

Turner stellt hier jene Zeit zwischen dem Zweiten und dem Dritten

geht die Sonne “unheilschwanger” im Hinblick auf die Macht

Punischen Krieg dar, als die durch 50 Jahre des Friedens

Karthagos unter. Ruskin zufolge war der Himmel ursprünglich viel

geschwächten Karthager nicht mehr den Willen und die militärische

roter als heute und beschwor deshalb noch kraftvoller und

Macht besaßen, sich den Römern entgegenzustellen.

passenderweise Assoziationen von Blut und Tod herauf.

100.

101.

50. REGEN, DAMPF UND GESCHWINDIGKEIT – DIE GROßE WESTEISENBAHN 1844 Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm Turner Bequest, National Gallery, London

T

urner verherrlichte hier sowohl die Ankunft der

Leider hat die Zeit sie deutlich verblassen lassen. Turner machte

dampfgetriebenen Fortbewegung an Land wie auch den

hier einen Witz über die Geschwindigkeit. Vor dem Zug sieht man

Triumph englischer Technologie über das Wasser.

einen von der sich nähernden Lokomotive aufgeschreckten Hasen,

Die dargestellte Eisenbahnbrücke überquert bei Maidenhead die

der möglicherweise schneller als sie ist. Mit der Nähe zwischen

Themse. 1844 handelte es sich noch um ein sehr junges Bauwerk, da

dem Hasen und dem pflügenden Arbeiter auf einem Feld jenseits

sie erst 1839 fertig gestellt worden war. Die von Isambard Kingdom

der Brücke im Bild wollte Turner sein Publikum mit Sicherheit an

Brunel entworfene Brücke war ein Triumph der Ingenieurskunst, da

das beliebte, schon einmal (bei dem Bild der Wahl in

sie nur zwei Bögen aufweisen durfte, um den Wasserweg für den

Northhampton) erwähnte Lied Speed the plough (“Flitze mit dem

Flussverkehr frei zu halten. Es handelte sich so um die Brücke mit

Pflug”) erinnern.

der größten Spannbreite und den flachsten Bögen, die jemals aus

Neben der Geschwindigkeit und dem allgegenwärtigen Regen des

Backsteinen gebaut wurde. 1839 hatte ihre vorbildlose Form zu

Titels sehen wir auch den Dampf. Turner hat die Vorderseite der

Befürchtungen geführt, sie könnte einstürzen, insbesondere in

Lokomotive entfernt, um ihren Kessel offen zu legen. Nichts sonst

schlechtem Wetter. Sie steht jedoch noch heute. Links trägt die

könnte die leuchtende feurige Masse vorne an der Maschine erklä-

Brücke die Great West Road bei Maidenhead über die Themse.

ren, denn sie ist nicht geformt genug, um ein Scheinwerfer zu sein.

Bei seiner ersten Ausstellung in der Royal Academy im Jahr 1844 riet

Turner mag sich diesbezüglich bei schematischen Diagrammen be-

der anonyme Kritiker von Fraser’s Magazine sich zu beeilen, das

dient haben, die man in der viktorianischen populären Presse

Werk zu sehen, falls die Lokomotive vorher “aus dem Bild

häufig sehen konnte. Wir sehen hier eine weitere Realisierung

herausbrechen und durch die gegenüberliegende Wand schon in

seines Bestrebens, die tiefen “Ursachen” der Dinge sichtbar zu

Charing Cross sein sollte”. Diese Warnung ist angesichts der

machen.

gelungen dargestellten Geschwindigkeit der Lokomotive durchaus

Turner selbst besaß Aktien der Great Western Railway Company

angebracht. Heute kommt diese Geschwindigkeit nur durch die

und mag auch deshalb Gründe gehabt haben, die Kraft des

prononcierte Perspektive des Zuges, die Schienen und die Brücke,

Dampfes zu überhöhen. Er hatte die Ankunft des Dampfzeitalters

die aus einem fernen Regendunst erscheinen, zum Ausdruck. Als die

andererseits auch schon lange vorher verherrlicht, wie wir schon

Farbe noch frisch war, wurde das Gefühl von Geschwindigkeit auch

bei Dover Castle aus dem Jahr 1822 gesehen haben. Und auch

noch von drei von der Lokomotive ausgehenden Dampfstößen

wenn er, wie in Das Kriegsschiff “Téméraire” von 1839, den Preis

verstärkt, Wolken, die schon “von der Maschine hinter sich

des technologischen Fortschritts zeigte, feierte er, wie wir entdeckt

zurückgelassen” worden waren.

haben, doch auch die physische Kraft des Dampfes.

102.

103.

51. DER ERZBISCHÖFLICHE PALAST IN LAMBETH 1790 Wasserfarbe auf weißem Papier, 26,3 x 37,8 cm Indianapolis Museum of Art

L

ambeth Palace ist die offizielle Residenz des Erzbischofs

Funktion dieser Menschen, sowohl den Charakter als auch das

von Canterbury, dem Oberhaupt der Church of England.

Ausmaß des Dargestellten zu etablieren, zum Ausdruck. Wir sehen

Die ältesten Teile dieses Bauwerks gehen bis auf das 12.

von links nach rechts einen Ruderer, hinter dem die Westminster

Jahrhundert zurück. In mittlerer Entfernung sehen wir das Ende

Bridge zu erkennen ist, einige mit einem Reifen spielende Jungen,

des 15. Jahrhunderts gebaute Torhaus mit dem Gasthaus Swan Inn

eine Wäscherin auf ihrem Weg die Themse hinunter,

zur Rechten und dahinter dem Turm von St. Mary’s Church in

wahrscheinlich um ihrem Beruf nachzugehen, einen Dandy und

Lambeth, der 1851/52 ersetzt wurde.

seine modische junge Lady bei ihrem Abendspaziergang, zwei sich

Dieses Aquarell ist Turners erste ausgestellte Arbeit. Es wurde in

durch ein Seitenfenster der Swan Inn unterhaltende Menschen

der Royal Academy ausgestellt, als er gerade 15 Jahre alt war.

sowie einen geschlossenen Wagen, der vielleicht von der Gärtnerei

Angesichts der Tatsache, dass die meisten der Gebäude in

im Süden kommt.

unterschiedlichen Winkeln zueinander stehen, ist es durchaus

Es scheint sehr charakteristisch für den jungen Turner, einen

wahrscheinlich, dass der junge Turner dieses Sujet ausgewählt

Blickpunkt mit Sicht auf das hellste Licht gewählt zu haben, da auf

hatte, um seine frühreife Beherrschung der Perspektive zu

diese Weise das tonale Spektrum der Gegend maximiert wird. Die

demonstrieren. Denn selbst erfahrenen Künstlern können derart

Kontrolle über Licht und Schatten ist bereits meisterhaft. An der

komplexe architektonische Beziehungen Schwierigkeiten bereiten.

rechts im Schatten liegenden Seite der Gebäude können wir auch

Stilistisch illustriert das Bild den Einfluss von Thomas Malton Jr.,

bereits Turners Beobachtungsgabe erkennen, denn die Töne sind

bei dem Turner gewissermaßen inoffiziell in die Lehre ging,

hier aufgrund von Flecken auf den Wänden selbst sowie der

während er an den Royal Academy Schools, in denen aber die

Reflexion von der vorne an ihnen vorüber führenden alten

Malerei nicht gelehrt wurde, studierte. Maltons Einfluss kommt

Lambeth Road ungleichmäßig verteilt. Turner sollte später eine

besonders in der ausgeprägten Perspektive auf die rechts

seiner Vorlesungen der Studie der Spiegelungen widmen. Hier

stehenden Gebäude, der Formgebung und tonalen Definition der

können wir sein Interesse an diesem Thema schon im

Wolken, der Verlängerung der Figuren im Vordergrund und der

jugendlichen Alter von 15 Jahren erkennen.

104.

105.

52. WOLVERHAMPTON, STAFFORDSHIRE 1796 Wasserfarbe auf weißem Papier, 31,8 x 41,9 cm Art Gallery and Museum, Wolverhampton

D

ieses Aquarell basiert auf einer Bleistiftzeichnung auf

ebenfalls, um die Menschen auf die Sammlung exotischer Tiere

den folios 21 und 22 des 1794 entstandenen Matlock-

aufmerksam zu machen. In der Ferne, am westlichen Ende des

Skizzenbuchs (TB XIX). Es wurde 1796 in der Royal

High Green, nähert Turner sich malerisch Hogarths Jahrmarkt von

Academy ausgestellt. Das Bild demonstriert überdeutlich Turners

Southwark am stärksten. Er zeigt uns hier ein Reisetheater,

Bemühen um die von Sir Joshua Reynolds propagierte Vereinigung

komplett mit Kundenwerber, Trommler, Tamburinspieler und

der Abbildung eines Ortes und der Betonung der Humanität. Es

einem Kunden, der eine Außentreppe besteigt, um eingelassen zu

zeigt auch, dass der junge Turner bereits die Bilder von David

werden. Dieses Reisetheater könnte auf Holloways Kombination

Teniers dem Jüngeren und nicht nur die Bilder und Drucke von

aus Vaudeville, Pantomime und Varieté, das seine Bretter

Hogarth, dessen Jahrmarkt von Southwark das vorliegende Bild

regelmäßig auf dem Jahrmarkt von High Green aufbaute, basieren.

ähnelt, studiert hatte.

Vor dem Tot Shop sorgt ein Dompteur im Harlekinkostüm, der

Schon seit dem Mittelalter findet jeden Juli auf dem High Green in

seinen Hund mit einer Peitsche zu einer Bettelhaltung veranlasst,

Wolverhampton ein Jahrmarkt statt. Turner muss ihn an einem

für zusätzliche Unterhaltung. Gleichzeitig bringt eine Frau im

oder mehreren Tagen nach seiner Eröffnung am 8. Juli 1794 sehr

Vordergrund ihren Hund ohne Zwang und umsonst dazu,

genau beobachtet haben, denn die Bleistiftzeichnungen, auf denen

dieselben Kunststücke vorzuführen. Neben dem Harlekin-

das Bild basiert, verzeichnen die Gebäude, enthalten aber nur vier

Hundedompteur lenken ein Trommler und Tamburinspieler nicht

Menschen – Turner verfügte offensichtlich bereits über ein extrem

nur die Aufmerksamkeit auf den Schausteller, sondern

leistungsfähiges Gedächtnis. Er genehmigte sich auch hier seine

konkurrieren auch mit ihren für das Reisetheater arbeitenden

gewohnte Maßstabsvergrößerung, indem die Gebäude im

Kollegen. Wenn wir die von den beiden Musikantentruppen

abgeschlossenen Aquarell in Relation zu den Menschen wesentlich

produzierte Kakophonie hören könnten, wäre dies sicherlich

größer als in den ursprünglichen Zeichnungen oder der Realität

unerträglich. Rechts betrachten zwei Frauen durch Gucklöcher

sind.

Wachsfiguren, während ein benachbarter Stand Wild, Nüsse,

Zwei Uhren frieren die Zeit für immer ein. Turner hat ein Schild

Gewürze und Lebkuchen verkauft. Ein Banner mit der Aufschrift

mit der Aufschrift ”SMITH FOREIGN Spirituous Liquors” in das

“KING AND CONSTITUTION” wird in wenigen Minuten aus

Zentrum der Südfassade des sonnenbeschienenen Balkengebäudes

einem der oberen Fenster des Tot Shop heraus zu einer bald

rechts von der Bildmitte platziert. Es handelte sich hier um eine

beginnenden politischen Versammlung einladen.

Brandytaverne, Bevan’s Tot Shop. Links weist ein Schaustellerzelt

Unser Eindruck von dem tumultartigen Chaos der Menschheit

die Aufschriften “[L?]ION FROM AFRICA” und ”SURPRISEING”

wird durch die damit kontrastierenden stabilen geraden Linien der

auf, während auf einem Banner in der Nähe die Worte “THE

Zick-Zack-Kanten des Kneipendachs wie auch durch die

[IRON?] GIANT” zu lesen sind. Vermutlich hat Turner auf dem

diagonalen und vertikalen Linien der anderen Gebäude verstärkt.

Jahrmarkt von 1794 einen umherreisenden Zoo, Wombwell’s

Turner lenkt unseren Blick auf die warmen Töne im Zentrum der

Menagerie, gesehen. Ein weiteres Banner, das einen Elefanten, “TO

Komposition, indem er sie mit den kühlen Tönen der Zelte zur

BE SEEN ALIVE”, zeigt, wird gerade in der Nähe der von der

Linken, der beschatteten Seite des Tot Shop und St. Peter’s

Sonne erhellten Ecke des Tot Shop, aufgezogen, vermutlich

Gemeindekirche in der Ferne umgibt.

106.

107.

53. INNENANSICHT DER KATHEDRALE VON SALISBURY, BLICK AUF DAS NÖRDLICHE QUERSCHIFF ca. 1802-1805 Wasserfarbe auf weißem Papier, 66 x 50,8 cm Salisbury and South Wiltshire Museum

H

ier verwandelte Turner seine Liebe zur Architektur in den

Colt Hoare hängte die größeren Bilder in einem einzigen Raum in

Lebensnerv großer Kunst. Um das Jahr 1797 herum

seinem Landsitz in Stourhead auf und hielt sie völlig zu Recht für

erteilte

Landbesitzer,

“unübertrefflich”. Chorknaben gehen im Sonnenlicht des

Antiquitätensammler und Amateurkünstler, Sir Richard Colt Hoare,

Spätnachmittags für den Abendgottesdienst zur Orgelempore.

Turner den Auftrag für zehn große Aquarelle der Kathedrale von

Turners Liebe zu reflektiertem Licht kommt in den reichen

Salisbury und zehn kleinere Bilder von Gebäuden in und in der

Reflexionen, die jede im Schatten liegende Ecke des Gebäudes

Umgebung von Salisbury, die als Illustrationen für eine von ihm

erhellen und damit seine Feinheit und Pracht verdeutlichen, zum

geplante Geschichte von Wiltshire dienen sollten. Diese Publikation

Ausdruck. Die Konstruktion ist im Verhältnis zu den Figuren in

wurde allerdings nie realisiert und folglich wurden von Turners

der Höhe verdoppelt worden (bzw. die Menschen sind in der

Aquarellen auch keine Stiche angefertigt. Das erste dieser Aquarelle

Größe halbiert worden), während die ausgefeilten Linien der

wurde 1797 gemalt, aber Turner vollendete den Auftrag niemals und

Orgel, des Maßwerks, der Säulen, Rippen und Gewölbe sich zu

reichte am Ende nur acht Bilder des größeren Formats (von denen

dem visuellen Gegenstück einer komplexen musikalischen Fuge

das vorliegende eines ist) und neun des kleineren Formats ein.

zusammenfügen.

108.

ein

bekannter

Bankier,

109.

54. DIE MORGENSONNE BRICHT DURCH DEN DUNST: FISCHER SÄUBERN UND VERKAUFEN FISCHE 1807 Öl auf Leinwand, 134,5 x 179 cm Turner Bequest, National Gallery, London

T

urner stellte diese Sonnenaufgangsszene 1807 in der

Die Darstellung des diesigen Lichts bei Sonnenaufgang ist besonders

Royal Academy und im folgenden Jahr in der British

gelungen. Aber der Kontrast zwischen der natürlichen Schönheit

Institution aus. In einem Brief an Sir John Leicester (dem

und der groben Menschheit ist nicht der einzige. Der Frieden ist

er das Gemälde 1818 verkaufen sollte) aus dem Jahr 1810

auch dadurch zerstört worden, dass ein Kriegsschiff in der Ferne

beschrieb Turner den Gegenstand des Bildes als “Holländische

gerade seine Morgenkanone abgeschossen hat. Die miteinander

Boote”. Hierbei hatte er völlig vergessen, dass die Sonne nicht an

diskutierenden Fischer rechts tragen ebenfalls zu dem Tumult bei.

der gänzlich nach Westen blickenden holländischen Küste

Als Turner 1829 den ersten Entwurf seines Testaments verfasste,

aufgeht. Dieser Irrtum ist aber insofern zu verstehen, als Turner bis

hinterließ er der National Gallery zwei Gemälde unter der

1810 die Niederlande noch nie besucht hatte.

Bedingung, dass sie neben zwei bestimmten Bildern von Claude

Es ist mit einer gewissen Plausibilität darauf hingewiesen worden,

Lorrain hängen sollten. Es handelte sich um Dido erbaut Karthago;

dass die rechts angeordnete Pier auf der alten Pier in Margate basiert

oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches und Der Untergang des

und Turner hier in Wirklichkeit den Blick bei Sonnenaufgang in

Karthagischen Reiches, die beide später interpretiert werden. In

nordöstlicher Richtung über die Themsemündung wiedergibt. Dass

einer zweiten Version des Testaments aus dem Jahr 1831 ersetzte

er ein solches Panorama in eines von “Holländischen Booten”

Turner das Bild über den Niedergang Karthagos durch das

verwandelte, lässt sich eindeutig mit der Theorie der poetischen

vorliegende. Wahrscheinlich wollte er auch die holländische Seite

Malerei vereinbaren. Der Stil der Figuren erinnert einmal mehr an

seiner Kunst demonstrieren, anstatt zwei Übungen in der

David Teniers den Jüngeren und erweckt passenderweise

italienischen Manier Claude Lorrains zu nehmen. Sowohl Dido als

niederländische Assoziationen. Der Mann mit der roten Kappe

auch das vorliegende Werk sind Sonnenaufgänge (der Untergang

rechts von der Bildmitte mit den Händen hinter seinen Rücken

Karthagos ist ein Sonnenuntergang). Dies mag ein weiterer Grund

erinnert ganz besonders an eine Gestalt in einem Teniers-Bild, das

für die Änderung gewesen sein, da Turner 1831 Sonnenuntergänge

sich in einer englischen Privatsammlung befand, zu der Turner zu

mit dem Tod assoziierte. Unter Umständen zog er es vor, in

der Zeit, da er dieses Gemälde schuf, Zugang hatte.

optimistischer Form neben Claude zu hängen.

110.

111.

55. NIEDERGANG EINER LAWINE IN GRAUBÜNDEN 1810, Öl auf Leinwand, 90 x 120 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

die Formen. Turner hatte in seinen Seestücken im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts das Palettenmesser häufig für die Wiedergabe von

Wildwasser

benutzt,

allerdings

nicht

immer

mit

überzeugenden Resultaten – auch er war ein Opfer seiner

T

urner stellte dieses Bild 1810 in seiner eigenen Galerie

Fallstricke geworden. Aber nicht hier. Mit seiner Hilfe modelliert

aus und fügte seinem Titel im Katalog die folgenden

er hier überzeugend große Flächen weißer und grauer Farbe, um

Verse hinzu:

riesige Kaskaden fallenden Schnees abzubilden; später lasierte er

Die untergehende Sonne glänzt in Abschiedstrauer,

diese Flächen mit Ocker, bevor er es mit der Seite der Klinge

Unheilschwanger fahl durch den sich ansammelnden Sturm;

wieder abkratzte und die ursprünglichen Farben wiederherstellte,

Dicht treibt Schnee auf Schnee,

dabei der Ockerfarbe jedoch erlaubte, in den Furchen zu

Bis das riesige Gewicht durch die Felsenbarriere bricht;

verbleiben und so die Oberfläche anzureichern.

Auf einmal fallen ihre Kieferwälder,

Der taumelnde Weg der großen Schneemasse in der Ferne wird

Und sich türmenden Gletscher, das Werk von Zeitaltern

durch eckige Linien angedeutet, die er ebenfalls mit der Seite der

Durchbricht alles! Es folgt die Vernichtung,

Klinge in die Farbe geritzt hat. Während der Arbeit an diesem

Und die Mühe, die Hoffnung des Menschen – überwältigt.

Werk war Turner sehr mit der Lektüre zur Vorbereitung auf seine

Diese anonymen Zeilen stammen mit an Sicherheit grenzender

Perspektive-Vorlesungen beschäftigt, die er 1811 aufnehmen

Wahrscheinlichkeit von Turner selbst und sind einer Passage aus

würde. Eines der studierten Bücher war Charles Alphonse du

“Winter” in James Thomson’s Gedicht The Seasons (“Die

Fresnoys De Arte Graphica, das sich im Anhang seiner Ausgabe

Jahreszeiten”) nicht unähnlich. Sowohl stilistisch als auch

von Reynolds’ 1797 veröffentlichtem Gesamtwerk befand. 1831

emotional verweisen sie auf Verse voraus, die Turner 1812 aus

sollte er im Zusammenhang mit dem Titel eines seiner Gemälde

seinem eigenen angeblichen Epos “Fallacies of Hope” zitierte (siehe

aus der folgenden Passage von du Fresnoy zitieren. Aber er muss

Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen unten).

diese Verse schon 1810 gekannt haben:

Obwohl Turner 1802 die Schweiz besucht hatte, reiste er nie bis

Weiß, wenn es klar mit fleckenloser Helligkeit strahlt,

nach Graubünden. Man hat die plausible Annahme geäußert, dass

Mag ein Objekt zurücktragen oder nahe bringen.

er die Idee für dieses Gemälde von einem Zeitungsbericht über eine

Von Schwarz unterstützt, drängt es nach vorne;

im Dezember 1808 niedergegangene Lawine in Selva in

Ohne diese Hilfe verweilt es in der Ferne;

Graubünden, die allein in einer Hütte 25 Menschen tötete, bezog.

Aber Schwarz ungemischt von tiefster Mitternachtschattierung,

Zwei Lawinenszenen von de Loutherbourg mögen weitere

Bringt immer noch jeden Gegenstand näher zum Betrachter.

Inspirationsquellen gewesen sein, obwohl der Franzose nur eine

Turner mag dieselbe Aussage gemacht haben. Die intensiven

massive Sintflut aus Schnee und nicht den Sturz eines riesigen

Schwarztöne auf dem und in der Umgebung des riesigen

Felsblocks abbildete. Wie Ruskin 1856 ganz richtig bemerkte:

Felsblocks zwingen die Weißschattierungen der Lawine optisch

“Niemand hat sich [vor Turner] einen Stein im Flug vorgestellt.”

nach vorne auf die gleiche Ebene wie den Fels. Dies hat zur Folge,

Turner war hier besonders ausdrucksstark. Er füllte die

dass die vielen eckigen Betonungen in der Kaskade in der Ferne

Komposition mit krassen, einfachen Formen und großen

eine doppelte Funktion erfüllen, da sie gleichermaßen den Abgang

Farbflächen und synchronisierte Form und Inhalt, indem er wild

des Felsblocks sowie seinen weiteren Fall andeuten. Dass Turner

den Himmel pinselte, seine Finger gebrauchte, um bei der

auch diese alternative Bedeutung kommunizieren wollte, wird

Darstellung der fernen Hänge links von der Bildmitte die Farben

durch seine exakte Anordnung der Lawine und des Felsblocks

miteinander zu vermischen sowie sein Palettenmesser mit

bewiesen. Die letzte Zeile der Verse von 1810 verdeutlicht, dass

ungewöhnlicher Geschicklichkeit einsetzte. In weniger begabten

diese Lawine ein Menschenmörder ist. Wir müssen deshalb davon

Händen schmiert dieses Werkzeug die Farbe normalerweise nur

ausgehen, dass in der Hütte, die gerade zerschmettert wird,

herum und lässt Oberflächen sehr gipsern wirken und schwächt

Menschen sterben werden.

112.

113.

56. AUSBRUCH DES VESUV 1817 Wasserfarbe auf weißem Papier, 28,6 x 39,7 cm Yale Center for British Art, New Haven, Conn.

D

ie Inschrift “Mount Vesuvius in Eruption JMW Turner

weist eine dünne Dunstschicht auf. Viele der wahnsinnigen Muster

RA 1817” erscheint auf dem Rücken dieses Bildes, das

aus geschmolzenem Fels und Blitzen, die über den oberen Bereich

zwei Jahre vor der ersten Italienreise Turners entstand.

des Bildes verteilt sind, schuf Turner, indem er halbtrockene

Man weiß nicht, woher er das topographische Material für das Bild

purpurrote Pigmente über Bereiche zog, die er vorher mit einem

bezog. In jedem Falle aber bildete er die korrekte geographische

temporären Firnis, der das Papier vor Übermalung schützenden

Position ab, aus der wir blicken würden, denn auf der linken Seite

und anschließend entfernten Flüssigkeit, bedeckt hatte. Diese

wirft der Mond sein Licht herab und befindet sich somit vor

Technik erklärt die harten Kanten und zahlreichen Lichtpunkte

Sonnenaufgang korrekterweise im Osten – genau dort, wo wir ihn

der Feuerstöße, des Magmas, der Felsen und der Elektrizität.

vor Tagesanbruch in Relation zum Vesuv erwarten würden.

Die Wölbungen des Rumpfes und des halbrunden Segels des

Dies ist zweifellos die explosivste Feuerbrunst, die Turner jemals

Bootes, das rechts unten eine Welle überwindet, verstärken

in Wasserfarbe erschaffen hat und darüber hinaus eine der

ähnliche Wölbungen, die von aus der Seite des Vesuv

glühendsten Szenen, die überhaupt jemand gemalt hat. Turner

herausbrechenden Rauchwolken, der großen Wolkenmasse rechts

könnte eine oder mehrere der Abbildungen des Vulkanausbruchs

vom Gipfel des Vulkans und den langen runden Linien des aus

von Joseph Wright of Derby gekannt haben. Er übertraf seinen

seiner Öffnung strömenden Feuers und Magmas gebildet werden.

Vorgänger hinsichtlich der Brillanz des Lichtes, des dynamischen

In der sich in der Bildmitte befindenden Bucht von Neapel spiegelt

Magmaregens und der rhythmischen Bewegungen der Wolken

der rote Schein kein direkt oberhalb zu sehendes Rot, während die

allerdings bei weitem. Auf der linken Seite findet sich ein

Brillanz der weißen Spiegelung durch die Platzierung eines

charakteristisches

die

kontrastierenden dunklen Akzents sehr intensiviert wird. Turner

Implikationen von Naturphänomenen durchdachte, denn der

sollte dieses Mittel 1827 in einer unten diskutierten Ansicht von

untere Bereich des Himmels zwischen dem Vulkan und Neapel

Mortlake Terrace erneut einsetzen.

114.

Beispiel

dafür,

wie

sehr

Turner

115.

57. MARKSBURG UND BRAUBACH AM RHEIN 1820 (oben) Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,1 x 45,8 cm British Museum, London

1817 (unten) J.M.W. Turner, Marksburg, Aquarell auf weißem Papier mit einem grauen Überguss, 20 x 31,9 cm Indianapolis Museum of Art

T

Titel

Außerdem existieren anstelle der hinter der Burg sichtbaren

(MARXBOURG and BRUGBERG on the RHINE) wie auch

ausgedehnten Bergzüge in der Wirklichkeit lediglich niedrige,

das Datum selbst auf dieses Bild. Sein gallisches

sanfte Hügel, wie auch der tatsächlich relativ kleine Hügel links in

“Marxbourg” ist die in der Ferne zu sehende Marksburg, während

eine schroffe Felswand verwandelt worden ist. Wie auch bei einer

es sich bei seinem “Brugberg” um Braubach, das Dorf an ihrem

ähnlichen Erscheinung in Ein Kriegsschiff erster Klasse lädt Vorräte

Fuß,

des

ein, erweckt die Tatsache, dass ihr Gipfel aus dem Bild

Zusammenflusses von Rhein und Lahn, etwas mehr als 11 km

verschwindet, den Eindruck, dass sie fast grenzenlos groß ist.

südlich von Koblenz. Turner hatte diese Gegend auf seiner Reise

Die Räumlichkeit dieser Ansicht wird subtil durch die in der Nähe

durch das Rheinland im Jahr 1817 besucht und bei dieser

stehenden Eschen intensiviert. Einige ihrer Spitzen verschwinden

Gelegenheit ein Aquarell auf grauem Papier (unten abgebildet)

ebenfalls oben aus dem Bild heraus, so dass sie ebenfalls riesig

gemalt, das ihm später als Grundlage für dieses Bild für ein

groß wirken. Nach der Größe der im Vordergrund zu sehenden

Mitglied der Familie Swinburne diente.

Figuren zu urteilen, müssten die Stämme dieser Bäume bis zu den

Turner ist hier besonders phantasievoll und idealistisch. Wir sehen

ersten Ästen etwa acht Meter hoch sein, so dass ihre Gesamthöhe

die Gegend im Abendlicht. Rechts werden zwei junge Menschen,

geradezu gigantisch wäre. Turner war hier aber nicht an

die gerade eine Pause machen, von einem Erntearbeiter wegen

Plausibilität interessiert. Er gab der Wahrheit der Imagination den

ihrer Faulheit gescholten. Hinter ihnen kann man den Rhein

Vorrang und vergrößerte die Landschaft und ihre Bestandteile, um

hinter sich wesentlich weiter als in der Wirklichkeit ausdehnenden

der Szene die größtmögliche Pracht zu verleihen und all seinen

Feldern gerade eben ausmachen. Und dies ist nicht die einzige

elegant gewundenen Bäumen Leben einzuhauchen. Auf diese

Freiheit, die Turner sich genommen hat. Denn auch die Marksburg

Weise transportiert er uns in eine Welt, die unendlich viel schöner

ist wesentlich kleiner, als es hier erscheint.

als die Wirklichkeit ist.

116.

urner

handelt.

schrieb

Beide

sowohl

liegen

den

englischen

unmittelbar

unterhalb

117.

58. DOVER CASTLE Dezember 1822 Wasserfarbe auf weißem Papier, 43,2 x 62,9 cm Museum of Fine Arts, Boston, Mass.

D

ie Ankunft des Dampfzeitalters ist das tiefere Thema

Masten der Brigg und den Doppelsegeln des Loggers vor dem

dieses prachtvollen Bildes. Eine Reihe von Schiffen hat

Dampfer. Im Vordergrund vor dem Dampfschiff findet sich ein für

an der Einfahrt zum Hafen von Dover Schwierigkeiten

Turner charakteristisches spielerisches Element. Eine Ruderpinne

einzufahren, weil, wie mehrere Flaggen zeigen, Westwind

und ein teilweise versunkenes Ruder erinnern von der Form her an

herrscht. Um nicht wieder auf See hinausgetrieben zu werden,

eine Axt, was möglicherweise unseren Eindruck, dass der Dampfer

holen diese Schiffe Segel ein, obwohl das Boot rechts so entweder

durch den Wind schneidet, verstärken soll.

auf die Flut warten oder in den Hafen gerudert werden muss, da

Der Logger links hat eine ausländische Flagge und befindet sich in

nicht genug Raum zum Kreuzen vorhanden ist. Ein neumodischer

Schwierigkeiten. Die Crew hat versäumt, vorher beim Fischen

Raddampfer kann all diese Probleme einfach ignorieren und

verwendete Segel rechtzeitig zu verstauen, so dass das Deck nun

einfach gegen den Wind fahren. Auf der Nordpier winken

voller Leinwand ist. Der Steuermann ist dadurch zwischen all diesem

aufgeregte Menschen dem sich nähernden Schiff zu, während zwei

Segeltuch und einer gebogenen Maststütze eingeklemmt und hat

Jungen mit einem Hund von dem Dampfer weglaufen und so den

nicht genug Raum, um das Ruder hart nach Steuerbord zu drehen,

Eindruck seiner Bewegung in Richtung Hafen intensivieren.

was dringend erforderlich wäre, um eine Kollision mit einem

Den Ärmelkanal überquerende Dampfschiffe waren ein sehr

unmittelbar vor dem Logger aus dem Hafen ausfahrenden Schiff zu

aktuelles Thema, als dieses Bild im Dezember 1822 entstand.

vermeiden. Obwohl die Mitglieder seiner Crew ihn anschreien, etwas

Obwohl die Margery als erstes derartiges Dampfschiff 1816 nach

zu unternehmen, kann er kaum etwas tun, so dass der

Frankreich gefahren war, gab es erst seit 1821 einen regelmäßigen

Zusammenstoß unvermeidlich scheint. In dem Ölgemälde Pier in

Linienverkehr mit der Rob Roy. Der von Turner abgebildete

Calais von 1803 hat Turner bereits einen kritischen Kommentar zu

Dampfer war zunächst als Segelschiff gebaut worden, wie an Bug

den seefahrerischen Fähigkeiten von Ausländern abgegeben und hier

und Rumpf zu erkennen ist. Unmittelbar hinter ihr sieht man, um

weist er auf die nautischen Vorteile des englischen technologischen

uns an die Vorzüge der neuen Technologie zu erinnern, das Wrack

Erfindungsreichtums hin. Die Burg und die Klippen wirken im

einer Brigg. Der Vordermast und der Schornstein des Dampfers

feuchten Sonnenlicht des Spätnachmittags besonders ätherisch. Die

liegen in einer Linie mit den Türmen des römischen Leuchtturms

Bewegung des Meeres und seine Reflexionen sind mit einem tiefen

und der oberhalb davon liegenden Kirche von St. Mary in Castro

Verständnis ihres Verhaltens und ihrer Erscheinung wiedergegeben,

auf den East Cliffs. Eine ähnliche Paarbildung findet sich in den

die zu dieser Zeit charakteristisch für Turner war.

118.

119.

59. EIN STURM (SCHIFFBRUCH) 1823 Wasserfarbe auf weißem Papier, 43,4 x 63,2 cm British Museum, London

D

ies ist ohne Zweifel das wildeste Seestück, das Turner

Überleben, aber ihre Erfolgsaussichten scheinen auf tragische

jemals in Wasserfarbe gemalt hat. Es ist praktisch nicht

Weise extrem gering. Wie das oben diskutierte Dover Castle wurde

vorstellbar, dass jemand ein solches Unwetter überleben

dieses Aquarell als Vorlage für gestochene Reproduktionen in einer

könnte. Die sich überschlagenden Wogen, die berserkerartige

Meeresansichten

Wildheit des Himmels, die brillante Farbgebung und dynamische

produzierte zwischen 1822 und 1824 etwa acht Zeichnungen

Linienführung vermitteln allesamt den Eindruck einer vor Energie

hierfür und gestattete auch die Aufnahme älterer Bilder. Während

berstenden Welt. Puppenhafte Menschen kämpfen verzweifelt ums

er lebte, wurden allerdings nur zwei der Stiche fertig gestellt.

120.

betitelten

Druckserie

angefertigt.

Turner

121.

60. DAS FORUM ROMANUM, FÜR MR. SOANES MUSEUM 1826 Öl auf Leinwand, 145,5 x 237,7 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

W

ie der Titel dieser Leinwand verrät, handelt es sich

Rechts liegt die Basilika Konstantins und die Gebäude an der Via

um eine Auftragsarbeit für den Stararchitekten Sir

Sacra erstrecken sich bis in die Ferne. Das für die Einheit der

John Soane RA (1753-1837). Das fertige Bild erwies

Komposition so wichtige Gewölbe oben im Bild ist eine reine

sich aber als zu groß für Soanes Haus und Museum. Obwohl Soane

Erfindung Turners.

seinen Teil der Vereinbarung erfüllte und mit einem Wechsel über

Im Titusbogen kniet ein betendes Mädchen vor einem Mönch. In

500 Guineas zahlte, löste Turner den Wechsel nicht ein und behielt

der Ferne tragen weitere Mönche heilige Banner und folgen der

stattdessen das Bild. Soane kaufte später von Turner eine

unter einem Baldachin getragenen Hostie zur Kirche von San

holländische Flusslandschaft. Das vorliegende Bild wurde 1826 in

Lorenzo in Miranda. Vor der Prozession und den ihren Vorbeizug

der Royal Academy ausgestellt.

beobachtenden knieenden Figuren beschwört ein zweirädriger

Wir überblicken das Forum im Nachmittagslicht. Links sieht man

Karren Assoziationen einer Leichenkarre herauf, die vielleicht an

vor dem Palatin den Titusbogen aus dem Jahr 81 n. Chr. Mehrere

die Leiden der frühen Christen erinnern. (Er könnte aber auch

an sich von diesem Bogen verdeckte Gebäude werden quasi hinter

allgemeinere, aber in diesem toten Teil Roms nicht weniger

ihm hervorgeholt. Durch den Bogen sind drei verbliebene Säulen

angemessene Assoziationen an den Tod heraufbeschwören

des Tempels von Castor und Pollux zu sehen.

sollen.)

122.

123.

61. NORTHAMPTON, NORTHAMPTONSHIRE Winter 1830-31 Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,5 x 43,9 cm Privatsammlung

Das weiße Haar dieses Mannes, sein altmodischer Dreispitz und sein auf einem Puff ruhender gichtiger Fuß identifizieren ihn als ein Mitglied der der Parlamentsreform Widerstand leistenden alten Elite. Diese Annahme wird durch die links von ihm stehende junge

O

bwohl dieses Aquarell für die England and Wales-Serie

Frau gestützt. Sie ist überhaupt nicht nach der Art von

hergestellt wurde, ist es niemals gestochen worden. Der

Northamptonshire gekleidet. Stattdessen ist sie wie eine

Grund hierfür könnte darin liegen, dass der

“Marianne”, ein postrevolutionärer französischer Archetyp, das

Herausgeber der Drucke fürchtete, das Bild könne die zahlreichen

gallische Gegenstück zur “Brittania”, aufgemacht. Wie Turner sehr

Tories unter Turners Bewunderern vor den Kopf stoßen, weil seine

gut wusste, hatte es früher im Jahr in Frankreich eine

politische Aussage nicht mit ihren Ansichten übereinstimmt. Das

populistische Revolution gegeben. Indem Turner die Marianne

Aquarell zeigt die Countywahl von Lord Althorp, dem

nun eine Hand auf die gichtige Schulter des alten Engländers legen

Schatzkanzler in Earl Greys Whig-Regierung, am 6. Dezember

lässt, erinnert er uns sowohl an den erst kurz zurückliegenden

1830. Diese hatte es sich zum Ziel gesetzt, das kaum noch

Aufstand in Frankreich als auch an die möglichen Folgen, sollte es

repräsentative Parlament zu reformieren, was sie nach vielen

in England nicht auf friedlichem Wege zu einer Reform kommen.

Auseinandersetzungen auch mit der großen Parlamentsreform der

Die Tatsache, dass Turner den Balkon, auf dem diese Figuren zu

Reform Bill von 1832 tat, der wichtigsten gesetzlichen Neuerung

sehen sind, erfunden hat, stützt diese Interpretation, da an dem

in England während Turners gesamten Lebens.

dargestellten Ort kein solcher existierte.

Lord Althorp wird in der Ferne im matten Winterlicht auf einem

Turner hatte Northampton im Sommer 1830 besucht und bei dieser

Stuhl im Triumph durch die Straßen getragen. Auf Bannern und

Gelegenheit die Fassade der All Saints Church auf folios 17v und 18

Flaggen sind Slogans zu lesen, die jenen bei dieser Wahl ohne

des Birmingham and Coventry-Skizzenbuchs (TB CCXL) gemalt. Hier

einen Gegenkandidaten, von denen in der Presse berichtet wurde,

hat er die Kirche jedoch um 90 Grad gedreht, ihre Kuppel von ihrer

ähneln. “NO BRIBERY” (“Keine Bestechung”) spielt auf die

tatsächlichen Position hinter dem Turm ins Blickfeld gerückt und den

Korruption im parlamentarischen Prozess, die zu dem Ruf nach

Portikus hinzugefügt. Die Dynamik der Ansicht wird durch die im

Reformen geführt hatte, an. Der Titel des alten ländlichen

Wind wehenden Flaggen und Banner unterstützt, während die

Tanzliedes Speed the Plough (“Flitze mit dem Pflug”) verweist auf

Winterlichkeit des Tages durch das kalte, scharfe Blau des Himmels

die

vorhandenen

und die ansonsten eher blassen Farben, etwa der Unionsfahne rechts,

landwirtschaftlichen Interessen. “The Purity of Elections is the

vermittelt wird. Eine langsam durch die Menge fahrende Kutsche,

Triumph of Law” (“Die Reinheit der Wahlen ist der Triumph des

deren Passagiere ihre Hälse recken, um die Geschehnisse

Gesetzes”) erinnert sehr stark an den Namen einer bekannten

mitzubekommen, trägt zur Unmittelbarkeit der Szene bei.

radikalen politischen Versammlung aus dem Jahr 1829 und überall

Eine Wahlszene aus Hogarths Fleiß und Trägheit-Serie, Der fleißige

sieht

und

Lehrling wird Bürgermeister von London, könnte bei dem Bild

“Independence” (“Unabhängigkeit”). Links oben hat Turner einen

durchaus Pate gestanden haben. Auch dieses Bild enthält einen mit

seiner subtilsten und geistreichsten Scherze untergebracht. Er

Zuschauern

wusste natürlich, dass der Name “Althorp” traditionellerweise

Menschenmenge ihren Weg bahnende Kutsche sowie zahlreiche

“Altrop” ausgesprochen wird – d.h., “o” und “r” werden

Flaggen und Banner. Aber selbst wenn all diese Ähnlichkeiten rein

vertauscht. Turner tat das Gleiche mit dem “A” und dem “M” in

zufällig sein sollten, hat Turner hier einen Beitrag zur Tradition

“Northampton”,

“NORTHMAPTON

englischer politischer Kommentare geleistet, die von seinem

INDEPENDENCE FOR EVER” (“Northmaptons Unabhängigkeit

großen Vorgänger verkörpert wird. Gleichzeitig offenbarte er auf

für immer”). Lord Althorps rechter Arm ist ausgestreckt und

subtile Weise seine eigene verständliche Identifikation mit

deutet so direkt auf die links unten sitzende Person.

fortschrittlichen politischen Kräften in England.

124.

in

dieser

man

Landstadt

Banner

so

mit

dass

und

der

wir

Landwahl

Aufschrift

lesen

“Reform”

bevölkerten

Balkon,

eine

sich

durch

eine

125.

62. DAS GOLDENE GEÄST 1834 Öl auf Leinwand, 104 x 163,5 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

D

iese Ansicht des Avernus-Sees in Italien wurde 1834 in

Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber der Sterblichkeit,

der Royal Academy gezeigt. Eigentlich sollte ihr Titel im

während ihr Hedonismus und Materialismus auf den Grund für ihr

Katalog um Verse aus Fallacies of Hope ergänzt werden,

mangelndes Interesse verweisen. Dies ist jedoch nicht die einzige

aber diese wurden vom Rat der Akademie unterdrückt. Turner

mögliche Bedeutung des Werks. Turner kann gut auch eine

hatte diesen Blick schon zweimal wiedergegeben: um 1798 herum,

Parallele zwischen dem dargestellten goldenen Ast und seinem

als er von Sir Richard Colt Hoare (dem Auftraggeber für das oben

Gemälde Das Goldene Geäst intendiert haben, da er selbst-

diskutierte Salisbury-Aquarell) vor Ort angefertigte Skizzen zu

verständlich meinte, dass ein Kunstwerk Unsterblichkeit verleiht,

einem Bild verarbeitete und dann noch einmal um 1815 herum.

ebenso wie es nach der Überzeugung des klassischen Altertums die

In beiden früheren Arbeiten hatte Turner die Landschaft durch

von der Sibylle von Cumae aufgehobenen Äste taten. Turner hat in

Vergils Aeneis entnommene Figuren komplettiert, nämlich Aeneas

Das Goldene Geäst insofern die Menschheit möglicherweise an ihre

und Deiphobe, die Sibylle von Cumae. In beiden Bildern übergibt

Sterblichkeit erinnern und gleichzeitig die Macht der Kunst, über

die Sibylle Aenaes den goldenen Ast, den er benötigt, um von

den Tod zu triumphieren, verherrlichen wollen.

seinem Besuch bei seinem toten Vater in der Unterwelt, dem

Ganz links verweist eine Statue der Jungfrau Maria in einer blauen

Totenreich, zurückkehren zu können. In dem vorliegenden Bild ist

Aureole offensichtlich auf den frühchristlichen Glauben, die

Aeneas jedoch nicht zu sehen. Stattdessen erscheint die Sibylle von

Sibylle von Cumae habe die Ankunft Christi vorhergesagt. Die

Cumae links allein. Sie bietet den goldenen Ast einigen Tänzern

beiden Nackten rechts ersetzten wahrscheinlich drei ähnliche

und Nackten an, die von Luxuswaren umgeben sind. Das

Figuren, die Turner ursprünglich auf Papier gemalt und dann auf

Desinteresse dieser Menschen an einem Gegenstand, der sie vor

die Leinwand geklebt hatte, die sich aber etwa drei Jahre nach der

dem Tod schützen würde, ist zweifellos ein Symbol für die

Vollendung des Werks wieder abgelöst hatten.

126.

127.

63. VENEDIG VOM PORTAL DER KIRCHE MADONNA DELLA SALUTE AUS GESEHEN 1835 Öl auf Leinwand, 91,4 x 122 cm Metropolitan Museum of Art, New York

I

n diesem 1835 in der Royal Academy ausgestellten Bild

Diese Verlängerung erhöht den poetischen Eindruck, dass

blicken wir im Licht des späten Nachmittags in westlicher

venezianische Gebäude auf dem Wasser zu schweben scheinen

Richtung den Canal Grande entlang. Wir sehen den Anblick

und erinnert uns, dass wir Venedig hauptsächlich erfahren, indem

also nicht vom Portal der Kirche Santa Maria della Salute aus, wie

wir uns hindurch treiben lassen. Insofern drückte Turner hier

Turners Titel suggeriert, sondern schauen an diesem ganz rechts zu

wiederum eine tiefe Wahrheit über einen Ort aus.

sehenden Blickpunkt vorüber.

Turner erlaubte sich noch weitere Freiheiten mit der Wirklichkeit.

Turner besuchte Venedig erstmals 1819 und malte damals sowie im

Bei seinen Besuchen in den Jahren 1819 und 1833 litt Venedig

folgenden Jahr eine Reihe schöner Ansichten der Stadt in

immer noch unter Armut, da es sich noch nicht von der

Wasserfarbe. Er hatte zwar geplant, ein großes Gemälde des Canal

französischen Invasion des Jahres 1797, die das Ende für die

Grande vom Rialto aus zu malen, aber doch nur einen groben

unabhängige venezianische Republik bedeutete, erholt hatte. Sie

Entwurf angefertigt und den Plan dann verworfen. In der

schadete der Stadt auch finanziell, da sie dem jährlichen langen

Ausstellung der Royal Academy von 1833 jedoch zeigte er ein aus

Karneval ein Ende setzte, der über Jahrhunderte die an sexuellen

Skizzen von 1819 entwickeltes Bild, dessen Anfertigung ihn

Abenteuern interessierten Touristen angelockt hatte und ein

anspornte, die Stadt später im selben Jahr noch einmal zu

wirtschaftlicher Eckpfeiler der Stadt gewesen war. Sogar noch in

besuchen. In der Folge stellte die Mehrheit seiner Italienansichten

den 1840er Jahren äußerten sich Autoren über die “geisterhafte

Venedig dar. In den meisten von ihnen malte er die Gebäude,

und begräbnisartige Stille” Venedigs. Turner feiert in seinen

indem er zunächst Farbflächen auftrug und die architektonischen

späteren Arbeiten allerdings nicht diese tote Stadt. Stattdessen

Details dann mittels Linien darstellte (wie hier). Diese

stellte er, wie wir auch hier sehen, Venedig als einen magischen Ort

Vorgehensweise erlaubte ihm, sowohl das helle optische Blenden

dar, indem er die Boote randvoll mit Luxusgütern wie aus

oder die sanfteren dunstigen Massen der venezianischen

Schmuckdosen herausquellenden Juwelen und Ballen kostspielig

Architektur sehr einfach wiederzugeben.

aussehender Stoffe anfüllte. Er tat dies nicht, weil er so etwas

In der Ferne ist der Kampanile der Markuskirche um 45 Grad

jemals selbst gesehen hatte, sondern um Assoziationen an den

gedreht worden, so dass wir ihn frontal und nicht über zwei seiner

Reichtum, der die Stadt in der Renaissance so mächtig gemacht

Seiten sehen. Charakteristischerweise hat Turner den Canal

hatte, heraufzubeschwören. Darüber hinaus verweisen derartige

Grande doppelt so breit wie in der Realität gemalt, was seine

Luxusgüter auch auf den Grund des Niedergangs Venedigs, da die

Pracht mehr als verdoppelt. Die Spiegelungen der Gebäude an

Konzentration

diesem Wasserweg sind viel länger, als sie es in Wirklichkeit

Gemeinwohls schließlich zum politischen und militärischen

wären.

Zusammenbruch geführt hatte.

128.

auf

das

private

Vergnügen

anstelle

des

129.

64. FLINT CASTLE, NORDWALES 1835 Wasserfarbe auf weißem Papier, 26,5 x 39,1 cm National Museum of Wales, Cardiff

D

ies ist eines der letzten von Turner für die England and

viel zur farblichen Brillanz des Bildes bei und kontrastiert

Wales-Serie angefertigten Bilder und gleichzeitig eines

wunderbar mit der subtilen Farbgebung der weiter entfernten

seiner schönsten Aquarelle überhaupt. Er hatte Flint

Gegend. Ebenso unterstützen die dunklen Töne der Kleidung des

Castle erstmals 1794 im Rahmen seiner zweiten Wales-Reise

Krabbenfischers sowie des Ankers und des zerbrochenen Korbes

besucht. In den Jahren 1795 und 1797 wurden zwei seiner

hinter ihm die tonale Subtilität dieser ferneren Gegend und damit

Aquarell-Ansichten als Stiche reproduziert (eines der Bilder

auch unser Gefühl räumlicher Unermesslichkeit. Um uns daran

befindet sich heute in Privatbesitz, das andere ist verschollen).

zu erinnern, dass Flint Castle eine Ruine ist, hat Turner

1807 erschien im ersten Teil des Liber Studiorum ein Bild der Burg

unmittelbar vor die Burg die Spanten eines zerstörten Bootes

mit entladenen Schiffen im Vordergrund, während Turner in den

platziert.

1820er

als

Turners technisches Selbstbewusstsein kommt deutlich zum

Hochzeitsgeschenk für einen Freund malte (Privatsammlung,

Ausdruck. Er wischte die Sonne und ihre Reflexion, vermutlich

Japan).

mit einem feuchten Schwamm, einfach aus einer ersten

Hier vereinigte Turner seine früheren Reaktionen auf die Burg und

hellorangenen Tönung aus. Dies war eine von mehreren

ihre Umgebung zu einem triumphalen Bild. Während der Dunst

Tönungsfarben. Die anderen waren ein sanftes Gelb, Blau und

des Sonnenaufgangs bei Ebbe vom Strand aufsteigt und der

Grün. Turner fügte die Details später hinzu, als all diese Tönungen

Himmel mit endlosen Farben gefüllt ist, fährt ein Krabbenfischer

getrocknet waren und schabte die Lichtpunkte aus der Oberfläche

mit seinem vorne erhobenen Korb in die Mündung des Dee. Rechts

des extrem starken, aus Lumpen hergestellten Papiers aus. Turner

bietet ein anderer Krabbenfischer einem Kind eine Krabbe an, viel-

fertigte zunächst eine Studie in Wasserfarbe für dieses Bild an (TB

leicht wiederum eines der von Turner so geliebten visuellen

CCCLXV b 28). Sie weist lediglich die in der Ferne am Strand

Wortspiele (das Wort shrimp, engl. für “Krabbe”, bezeichnete

liegenden Boote in der Bildmitte, die benachbarten Pferde und

schon seit langem auch ein kleines Kind). Rechts möchte ein

Karren (die aber in die entgegengesetzte Richtung weisen), einen

anderes Kind auch einen Leckerbissen bekommen. Der starke

recht stürmischen Himmel und die Burg in einer dunstigen hellen

Einsatz von Zinnoberrot und Smaragdgrün im Vordergrund trägt

Silhouette auf.

130.

Jahren

eine

hübsche

Abbildung

der

Burg

131.

65. DAS MODERNE ITALIEN – DIE PIFFERARI 1838 Öl auf Leinwand, 92,5 x 123 cm Glasgow Art Gallery and Museums

D

ies ist ein Bild aus einem 1838 in der Royal Academy

Auf diese Weise kann man links das südlich von Rom liegende

ausgestellten Gemäldepaar. Bei dem anderen Bild

Palestrina, in der Bildmitte die dunkle Silhouette der

handelt es sich um Das alte Italien – Ovid wird aus Rom

mittelalterlichen Burg Poppi mit den hinter ihr liegenden Hügeln

verbannt (Privatsammlung, USA).

des Casentino und den Vestalinnentempel in Tivoli etwas rechts

Die pifferari sind Musikanten aus den Abruzzen, einer südlich von

von der Bildmitte sehen.

Rom gelegenen Bergregion. Um die (imaginären) Geburtswehen

Das Gemälde erinnert mit seinen Bergen, der Mönchsprozession

der Jungfrau Maria vor Weihnachten abzumildern, begeben sie

rechts sowie den pifferari stark an die Sinfonie Harold in Italien von

sich nach Rom und in andere italienische Städte hinunter, um ihre

Turners Zeitgenosse Hector Berlioz. Berlioz bezog seinen Titel aus

als pifferi bekannten Holzblasinstrumente zu spielen. Einer der

Byrons Childe Harold’s Pilgrimage, während das Werk selbst – mit

pifferari ist in der Nähe der unteren linken Ecke unmittelbar hinter

seiner Heraufbeschwörung der Berge im ersten Satz, der religiösen

der betend knienden Frau zu sehen. Diese Gegenüberstellung

Prozession im zweiten und den pifferari im dritten – auf Berlioz’

belegt, dass Turner um die religiöse Funktion dieser Bläser wusste.

Bekanntschaft mit den Bergen und den Menschen in der

Dadurch, dass er die pifferari auf diese Weise mit einem

Umgebung Roms beruht, wie es auch bei Turners vorliegendem

zeitgenössischen Gebet in Beziehung setzte, deutete Turner

Bild der Fall ist.

möglicherweise auch auf das Überleben heidnischer Praktiken in

Wahrscheinlich hat Turner Berlioz’ (1834 geschriebene und in

der modernen Zeit hin.

Paris uraufgeführte) Sinfonie niemals gehört, aber offensichtlich

In Das alte Italien – Ovid wird aus Rom verbannt siedelte Turner die

haben die parallelen Erfahrungen der beiden Künstler und die

Verbannung des großen Dichters inmitten riesiger Gebäude und

gemeinsame Liebe zu Byron zu zumindest vergleichbaren

im gleißenden Licht des Sonnenuntergangs an. Diese zeitliche

Ergebnissen geführt.

Anordnung reflektiert eindeutig den Niedergang Roms selbst.

Als dieses Gemälde von einem Graveur reproduziert wurde,

Gleichzeitig macht sie es sehr wahrscheinlich, dass wir im

verlangte Turner, dass ein Kind in Windeln und ein Vogelnest mit

vorliegenden Gemälde im Kontrast dazu eine Morgenszene sehen.

Eiern hinzugefügt werden, um “das Gefühl des Ganzen zu

Turner synthetisierte die Landschaft, wie von Reynolds empfohlen

erhöhen”. Er wollte mit dem Baby wohl auf das Christusbaby und

(von dem das folgende Zitat stammt), offensichtlich “aus den

mit den Eiern auf die Erzeugung von Leben anspielen, was nicht

verschiedenen Entwürfen, die er von unterschiedlichen Orten und

nur der Weihnachtszeit, sondern auch der Leben spendenden Kraft

Ansichten gemacht hatte”.

der schönen Landschaft angemessen ist.

132.

133.

66. DAS ALTE ROM: AGRIPPINA TRIFFT MIT DER ASCHE DES GERMANICUS EIN. DIE TRIUMPHBRÜCKE UND DER PALAST DER CÄSAREN SIND WIEDER AUFGEBAUT 1839 Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

D

ie Royal Academy stellte dieses Bild 1839 zusammen mit

Für Turner, ebenso wie für Goldsmith, markierte der Tod des

seinem Gegenstück Das moderne Rom – Campo Vaccino

Germanicus einen wichtigen historischen Wendepunkt. Denn

(National Gallery of Scotland, Edinburgh) aus.

dieser führte nicht nur dazu, dass Tiberius aus dem mentalen

Folgende Zeilen ergänzten im Katalog den Titel:

Gleichgewicht geriet, sondern letztlich auch dazu, dass ihm drei

“Der klare Strom,

weitere “wahnsinnige” Kaiser folgten, nämlich Caligula, Claudius

Ja, – der gelbe Tiber erstrahlt in seinem Glanz,

und Nero. In einem solchen Kontext können der letzte goldene

Sogar während die Sonne untergeht”.

Schein des Tages und das Nahen der Nacht nur auf den Tod Roms

Der letzte goldene Schein des Tageslichts und das Nahen der

voraus verweisen, wie auch in dem anderen Bild dieses Paares eine

Nacht, auf die hier verwiesen wird, weisen eindeutig Assoziationen

ähnliche zeitliche Ansiedlung und vergleichbare Lichteffekte einen

mit dem Sujet auf.

Kommentar zu dem traurigen anhaltenden Niedergang der Stadt

Germanicus Julius Caesar war der adoptierte Sohn und Erbe des

im 19. Jahrhundert darstellen.

Kaisers Tiberius. Turner kannte den Bericht über seinen Tod im

Eine unten rechts platzierte Sichel beschwört passende

Jahr 19 n. Chr. aus The Roman History (“Römische Geschichte”)

Assoziationen des Todes herauf. In der Wirklichkeit wurden die

von Oliver Goldsmith in seiner Bibliothek. Goldsmith schrieb,

Überreste des Germanicus (der in Antiochia in Syrien gestorben

dass zu Beginn der Herrschaft des Tiberius in dem Kaiser “nichts

war) nach Brindisi und nicht nach Rom gebracht. Turner folgte

als Klugheit, Großzügigkeit und Milde zutage trat”.

jedoch Goldsmith in diesem Irrtum. Ein interessanter Bestandteil

Im Verlauf der Zeit wurde er aber wahnsinnig eifersüchtig auf

des Bildes ist die sich links von der Bildmitte in der Ferne über

Germanicus, dessen Erfolge “zuerst seine natürliche Veranlagung

eine Brücke erhebende Säule mit Steinmetzarbeiten.

ans Licht brachten und die Bösartigkeit seines Geistes ohne

Um die derart besetzte Oberfläche dieser Säule darzustellen, baute

Verkleidung

den

Turner seine Farboberfläche mit einem kleinen Besatz aus

Germanicus vergiften, was für den Kaiser selbst katastrophale

Pigmenten auf, womit er eine physische Parallele zu dem

Folgen hatte, wie Goldsmith festhält:

dargestellten Objekt schuf. Das Gemälde ist eine großartige Übung

Bis jetzt hatte Tiberius Grenzen eingehalten … Aber von diesem

in historischer Rekonstruktion, für das sich Turner bei Piranesis

Zeitpunkt an, dem neunten Jahr seiner Herrschaft, fangen die

ganz ähnlicher Rekonstruktion des antiken Roms sowie jenen

Historiker

misstrauischen

seiner Zeitgenossen C.R. Cockerall und J.M. Gandy bediente. Es

Temperaments zu verfolgen … Da er nun kein Objekt der Eifersucht

handelt sich gleichzeitig um ein Bild mit magischen Farben. Es

hatte, vor dem er Respekt hatte, begann er die Maske abzulegen und

gehört zu jenen späten Werken Turners, deren Farben immer noch

erschien stärker als zuvor in seinem natürlichen Charakter.

unverblasst prachtvoll, subtil und schön sind.

134.

offenbarten”.

an,

die

Schließlich

blutigen

Folgen

ließ

seines

Tiberius

135.

67. VENEDIG: EIN STURM AUF DER PIAZZETTA ca. 1840 Wasserfarbe auf weißem Papier, 21,9 x 32,1 cm National Gallery of Scotland, Edinburgh

T

urner stattete Venedig 1840 einen erneuten Besuch ab

und hasten, um den Blitzen zu entgehen. Turner war bei der

und malte bei dieser Gelegenheit oder wenig später

Herstellung dieses Bildes voller technischen Selbstvertrauens.

dieses Bild. Wie kürzlich gezeigt wurde (Warrell, 2003),

Viele der brillant beleuchteten architektonischen Details des

stellte es ursprünglich ein Blatt in einem der beiden Skizzenbücher

Dogenpalastes sowie den gesamten sichtbaren Teil der

dar, die der Maler mit nach Venedig nahm. Das so genannte

Markuskirche (die man in der Ferne hinter der nahen Säule des

‚Sturm-Skizzenbuch enthielt eine Anzahl fertiger oder detaillierter

Heiligen Theodor sieht) schabte er einfach aus der Oberfläche

Aquarelle, die nun in der ganzen Welt verteilt sind. Ob Turner die

des enorm starken, aus Lumpen hergestellten Papiers aus,

Zeichnung aus seinem Buch heraustrennte oder ob sein Agent dies

wodurch er seine weißen Schichten unter der Oberfläche offen

zu einem späteren Zeitpunkt tat, ist nicht bekannt. Aber wie alle

legte.

anderen späten Venedig-Aquarelle wurde es zu seinen Lebzeiten

Links hat Turner, der Meister architektonischer Perspektiven (und

nicht ausgestellt.

ehemalige Professor für Perspektive an der Royal Academy), die

Das

genaue

Arkade unterhalb der Sansovino-Bibliothek um einen bestimmten

Beobachtungsgabe kommt entlang des oberen Randes des

Winkel gedreht, um gleichzeitig einen Blick ihre gesamte Länge

Dogenpalastes, wo die Elektrizität ihn schimmern lässt, zum

entlang zu bieten sowie die vor ihr liegende Piazetta aufzufächern.

Ausdruck. Auf der Piazetta vermitteln das Verschwimmen und die

Diese Erweiterung wird durch die diagonalen Schattenlinien über

Wiederholung von Formen ein Gefühl der Gefahr und

den Vordergrund des Bildes und das sich rechts über die Piazetta

Geschwindigkeit, während die Menschen Regenschirme schwingen

ergießende Licht noch weiter ausgedehnt.

136.

ganze

Werk

ist

voller

Energie.

Turners

137.

68. VENEDIG: DER CANAL GRANDE, AUF DIE DOGANA BLICKEND ca.1840 Wasserfarbe auf weißem Papier, 22,1 x 32 cm British Museum, London

A

uch dieses Werk war ein Blatt im Sturm-Skizzenbuch,

(ebenso wie der Canal Grande ebenfalls die doppelte Breite

das Turner 1840 mit nach Venedig nahm. Der hier

erhalten hat). Das nächste, dunklere Ocker in der ”Tonleiter”

gewählte Ansatz, Linie und Farbe fast vollständig

wurde dann eingesetzt, um die Bauwerke auf der fernen Seite

voneinander zu lösen, begegnet uns auch in mehreren anderen

des Canal Grande zu malen. Einige wenige Flecken dieses mit

Venedig-Aquarellen aus der Zeit um 1840. Er treibt die in früheren

einem noch dunkler gebrannten Umbra vermischten Ocker

Ölgemälden der Stadt (z.B. Venedig vom Portal der Kirche Madonna

reichten dann aus, um diese Gebäude räumlich zu verankern

della Salute aus gesehen aus dem Jahr 1835, siehe oben) zu

und auch um die Gondeln, Barken, Anlegeplätze, Dachziegel

beobachtende ähnliche Erscheinung noch weiter. Die durch diese

und Menschen unten rechts darzustellen; etwas Schwarz in

Methode ermöglichte Feinheit erlaubte es Turner, Venedig völlig

einem mittleren Ton diente anschließend dazu, die Gondeln in

schwerelos wirken zu lassen und ein diesem Ort angemessenes

der Mitte des Kanals und die Erdkugel auf der Dogana, d.h. dem

Gefühl des Schwebens auszudrücken.

Zollhaus, anzudeuten. Einige wenige breitere Pinselstriche eines

Technisch

hatte

es

Turner

hier

zu

bewundernswerter

tieferen Kobaltblau schaffen Reflexionen auf dem Wasser

Wirksamkeit gebracht. Zunächst trug er eine Tönung eines sehr

unmittelbar vor unserem Blickpunkt.

feinen Ocker für die von der Sonne beschienenen Bildbereiche

Ein oder zwei Flecken eines unveränderten Umbra platzieren die

auf. Nachdem diese getrocknet war, benutzte er einen anderen

Rümpfe von Gondeln unten rechts und dienen auch der

Pinsel, um ein ähnlich sanftes Ultramarin aufzutragen, zu dem er

Darstellung von benachbarten Schatten. Schließlich gebrauchte

ein paar Pinselstriche eines wärmeren Kobaltblau unten links

Turner ein intensives Schwarz für die abschließenden Pinselstriche

und rechts hinzufügte. Mit einem feineren Pinsel zeichnete er mit

an den Gondeln im Vordergrund. Alles in allem verwendete Turner

dem Ultramarin anschließend die Details einer Reihe von

zwölf Töne unterschiedlicher Farben für sein Bild, das er in vier

Gebäuden, um dann dieses Blau etwas zu verdunkeln und

Arbeitsschritten möglicherweise in weniger als einer Stunde

weitere Einzelheiten hinzuzufügen. Mit dem zuerst benutzten

produzierte. Er hat vermutlich nicht mehr als drei oder vier Pinsel

Pinsel mischte er dann ein etwas dunkleres Ocker an und trug es

benötigt. Einer von ihnen muss notwendigerweise ein

mit diesem Pinsel auf, was man in der Darstellung von Booten

langhaariger, feiner schwarzer gewesen sein, mit dem er die

unten links, dem Platz vor der Kirche rechts und der im Schatten

schärfsten Linien zeichnete. Obwohl die Vermutung geäußert

liegenden Seite des Gebäudes rechts außen sehen kann. In einem

worden ist, dass Turner dieses Bild an Ort und Stelle malte,

bestimmten Stadium kamen auch feine Rosatöne zum Einsatz,

erscheint dies sehr unwahrscheinlich. Turners Gewohnheit, an

um die Fassade des Dogenpalastes mit Kreuzlagen zu schattieren

Sequenzen von Aquarellen zu arbeiten, während die Tönungen

und den Kampanile der Markuskirche abzubilden. Wie in dem

trockneten, machte den Gebrauch eines Ateliers oder anderen

Ölgemälde von 1835 ist dieser um 45 Grad gedreht worden

Arbeitsplatzes unerlässlich.

138.

139.

69. DER BLAUE RIGI: DER VIERWALDSTÄTTER SEE, SONNENAUFGANG 1842 Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,7 x 45 cm Privatsammlung

T

urner produzierte auf seinen Schweizreisen von 1841 bis

Das Werk beruht möglicherweise auf einer vorbereitenden

1844 zahlreiche gröber gemalte Aquarelle. Er wies seine

Wasserfarbestudie (TB CCCLXIV 330). Obwohl alles völlig friedlich

Agenten in London an, diese ”Musterstudien” möglichen

wirkt, hat es gerade erst einen lauten Knall gegeben, da ein Jäger

Käufern zu zeigen, da er hoffte, sie würden komplexere Versionen

rechts auf einige Vögel links geschossen hat (wir sehen sogar noch

dieser Entwürfe bestellen. Am Anfang malte er aber auch schon

das Mündungsfeuer). Wie ein großer Platsch hinter den Wildvögeln

ohne einen solchen Auftrag vier detaillierte und ausgearbeitete

deutlich macht, hat er nicht getroffen. Die ins Wasser springenden

Aquarelle (das vorliegende gehört zu dieser Gruppe). Schließlich

Hunde des Jägers sorgen für zusätzlichen Lärm, und auch die Vögel

sollte es vier Sätze ausgearbeiteter Aquarelle geben, obwohl nicht

kreischen vermutlich. Turner war sich der Fähigkeiten des modernen

alle diese Bilder Auftragsarbeiten waren, da Turners potenzielle

Menschen, den Frieden der Natur zu zerstören, sehr wohl bewusst.

Kunden seinen späten Stil zuweilen etwas schwer verständlich

Die Sonne des Tagesanbruchs ist nicht direkt zu sehen, aber ihr

fanden.

Licht schimmert auf einer dünnen Wolkendecke über dem Berg.

Das vorliegende Bild ist eines aus einem Bildpaar, das exakt die

Sowohl der Morgenstern als auch seine Spiegelung sind aus dem

gleiche Ansicht der großen Berge östlich von Luzern zeigt, jedoch

Papier ausgeschabt. Wie in vielen anderen der späten Schweiz-

zu unterschiedlichen Tageszeiten und mit angemessenen

Bilder sorgt eine große Menge kleiner Tupfen für die Definition der

dramatischen und malerischen Unterschieden.

Formen und gleichzeitig für große Lebhaftigkeit.

140.

141.

70. VIERWALDSTÄTTER SEE: DIE BUCHT VON URI VON OBERHALB BRUNNENS GESEHEN 1842 Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,8 x 45,7 cm Privatsammlung

T

urner liebte den Vierwaldstätter See, ganz besonders

nicht mehr sonderlich bedeutsam waren. In derartigen

seinen als Urnersee oder Bucht von Uri bekannten

Landschaften

unteren Bereich, den wir hier von oberhalb der kleinen

Verrichtungen von Menschen und dann meist nur als Maßstab für

interessierten

ihn

nur

die

bescheidenen

Stadt Brunnen sehen. Neben einer ganzen Reihe skizzenhafter

die ungeheure Größe ihrer Umgebung.

Abbildungen der Gegend malte Turner zwischen 1841 und 1845

Die Komposition wird von dem großen Schwung aufwärts in die

auch drei sehr detaillierte Aquarelle des vorliegenden Blicks,

Regenwolken oberhalb der Tellsplatte und die auf der

während ein viertes den Blick weiter rechts in westlicher Richtung

gegenüberliegenden Seeseite über den Oberbauenstock hinweg-

entlang dem Hauptteil des Sees wiedergibt. Das vorliegende Bild

gehende runde Schattenlinie zusammengehalten. Diese Klammer

könnte auf einer ”Musterstudie” beruhen (TB CCCLXIV-354).

betont durch ihren Kontrast den ätherischen Charakter der weiter

Das Gefühl atmosphärischer Feuchtigkeit, die Subtilität der

in der Ferne liegenden Berge.

Farbgebung und die tonale Feinheit dieses Bildes des frühen Morgens

Sowohl die nahen Berge und Gipfel sowie der See selbst illustrieren

sind selbst für Turners Maßstäbe herausragend. In der Ferne liegt

Turners Einsatz der Tupfentechnik, die auch zur Darstellung der

links und in den See hineinreichend die Tellsplatte, an deren Fuß

zahlreichen Bäume und ihrer Spiegelungen dient und dem Ort ein

Wilhelm Tells Kapelle steht. Gegenüber, d.h. rechts, steht der große

Gefühl der Dynamik verleiht und ihn fast schimmern lässt. Turners

Berg Uri-Rotstock (2927 m). Vor ihm liegen die niedrigeren Gipfel

Künste bei der Farbgebung und dem Umgang mit Tönen kommen

des Oberbauenstocks, die golden oberhalb der enormen Masse des

hier voll zum Ausdruck. Obwohl die Farben des Uri-Rotstock und

Seelisberg-Vorgebirges und der Rütli-Wiesen, ein heiliger Ort der

der weiter entfernten Berge im Dunst des Sonnenaufgangs schön

Schweizer Geschichte, glänzen. Historische Assoziationen scheinen

sanft und perlenartig sind, ist die durch die unglaublich feinen

Turner hier aber nicht interessiert zu haben, da angesichts einer

Tonmodulationen erzielte Plastizität dieser Berge niemals in Frage

solchen Landschaft die vergangenen Angelegenheiten der Menschen

gestellt.

142.

143.

71. SCHNEESTURM – EIN DAMPFER VOR EINER HAFENEINFAHRT GIBT SIGNALE IN DER UNTIEFE UND BEWEGT SICH NACH DEM LOT. DER AUTOR WAR IN DIESEM STURM IN DER NACHT, ALS DIE ARIEL AUS HARWICH AUSLIEF 1842 Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

M

an kann dieses 1842 in der Royal Academy

Signalraketen abschießt, um die Position des Schiffes anzuzeigen.

ausgestellte Gemälde durchaus für Turners bestes

Aber

Seestück und die gelungenste Darstellung eines

Tatsachenbehauptungen nicht zutreffen und eine Disparität

selbst

wenn

einige

oder

alle

von

Turners

Sturms in der gesamten Kunst halten.

zwischen Titel und Bildinhalt vorliegt, steht die Wahrhaftigkeit

Turner behauptete einmal, dass er, um diese Szene zu malen, ”sich

von Turners Aussage darüber, was es bedeutet, sich im Zentrum

von den Seeleuten an den Mast binden ließ, um sie zu beobachten;

eines verheerenden Sturms zu befinden, außer Frage. Das gesamte

ich war vier Stunden lang angebunden und rechnete nicht damit,

sichtbare Universum dreht sich in einem riesigen Strudel, der uns

zu entkommen, fühlte mich aber verpflichtet, die Szene

in das Bild hineinzieht und gleichzeitig eine grenzenlose nach

festzuhalten, sollte ich es doch tun”. Er mag sich diese Geschichte

außen gerichtete Energie ausstrahlt.

allerdings auch ausgedacht haben, da sie verdächtig einer ähnelt,

Auf dem Dampfschiff befinden sich Vormast und Schornstein in

die der Seemaler Joseph Vernet erzählte. Außerdem ist kein

ihren korrekten Positionen, ein weiterer Beleg dafür, dass Turner sich

Dampfer namens Ariel bekannt, der in den Jahren bis 1842 von

drei Jahre zuvor bei Das Kriegsschiff ”Téméraire” bewusst gewisse

Harwich aus gefahren wäre. Vielleicht sollte der Name des Schiffes

Freiheiten erlaubt hatte. Turner war sehr über eine Kritik seines

auf Shakespeares Der Sturm anspielen. Der Titel des Bildes passt

Werks erbost, in der es hieß, es zeige eine Masse aus “Seifenlauge und

auch nicht ganz zu dem, was wir sehen, da der Ausdruck, ein

Tünche”. Man hörte ihn hierzu sagen: “Seifenlauge und Tünche?

Schiff ”bewegt sich nach dem Lot” bedeutet, dass ein Faden mit

Was wollen sie? Ich frage mich, was die denken, wie das Meer ist? Ich

einem Gewicht regelmäßig von seinem Bug aus herabgelassen

wünschte, sie wären drin gewesen.” Selbstverständlich fällt es uns

wird, um die Tiefe des Wassers zu testen und nicht aufzulaufen.

heute viel leichter anzuerkennen, dass die Freiheit, die Turner sich

Eine solch kluge Vorsichtsmaßnahme scheint überhaupt nicht zu

nahm, die rohe Energie eines Sturms weit authentischer einfängt, als

der Not eines in einem Unwetter gefangenen Schiffes zu passen,

wenn er jede Schneeflocke, jeden Regentropfen und jede Welle mit

während es absolut verständlich ist, warum die Besatzung

profaner Wirklichkeitstreue abgebildet hätte.

144.

145.

72. DER PASS VON FAIDO 1843 Wasserfarbe auf weißem Papier, 30,5 x 47 cm Pierpont Morgan Library, New York

D

ieses Bild wurde für John Ruskin gemalt, der es in

Wie in vielen der späten Schweiz-Aquarelle empfindet man ein

Auftrag

Turners

enormes Gefühl einer durch die riesige unbewegliche Felsmasse

entsprechende Musterstudie gesehen hatte, die in

fließenden Bewegung, so dass der gesamte sichtbare Bereich voller

Turners Nachlass verblieb (TB CCCLXIV-209). Ruskin nannte das

Energie zu sein scheint. Da wir aus Turners Schriften wissen, dass

Aquarell “das größte Werk, das [Turner] in seiner letzten

er hinter allem eine metaphysische Realität sah und ferner glaubte

Schaffensphase herstellte”.

“Die Sonne ist Gott”, wollte er hiermit sicherlich nicht nur

Der durch die Landschaft schießende Fluss ist der Ticino, der zum

physikalische

unteren St.-Gotthard-Pass gehört, an einer der wichtigsten Routen

Modulationen der Töne artikulieren eine emotionale Reaktion auf

durch die Schweizer Alpen nach Italien. Als Ruskin diesen Ort im

den Ort und fangen gleichzeitig die “Wahrheiten” der

Jahr 1845 besuchte, wunderte er sich über die Freiheiten, die

geologischen Formation ein, drücken die in den Alpen spürbaren

Turner sich in Bezug auf die Realität erlaubt hatte und erklärte “die

natürlichen Energien aus und kommunizieren die urweltlichen

Steine, die Straße und die Brücke sind alle wahr, aber die Berge

Energien, die diese Felsen hervorbrachten. Darüber hinaus

sehen im Vergleich mit Turners kolossaler Vorstellung wie

vermitteln sie aber auch Turners Wahrnehmung eines göttlichen

Pygmäen und erbärmlich aus”.

Kontinuums in allem.

146.

gegeben

hatte,

nachdem

er

Kräfte

darstellen.

Die

konstant

variierten

147.

73. WALFÄNGER 1845 Öl auf Leinwand, 91,7 x 122,5 cm The Metropolitan Museum, New York

I

n den Jahren 1845 und 1846 zeigte Turner Ölgemäldepaare,

des Wals durch die Luft, obwohl das Fehlen eines großen Platsches

die Wale und den Walfang zeigten. Die Titel der beiden Bilder

an der Stelle, an der er wieder in das Wasser eintritt, verdeutlicht,

aus dem Jahr 1845 waren identisch – deswegen ist das

dass Turner hier weniger illustrativ als vielmehr anspielend

vorliegende Gemälde aus praktischen Gründen auch als “Das

vorging. Diese Ansicht wird dadurch gestützt, dass eine Reihe von

Walfangboot” bekannt. Sie wurden im Ausstellungskatalog der

Rückenflossen jenseits des von dem Wahl umher geschleuderten

Royal Academy von spezifischen Seitenzahlenverweisen auf

Walfängerbootes wie auch vor dem Walfangschiff selbst zu sehen

Thomas Beales 1839 neu aufgelegtes Buch The Natural History of

sind. Diese gehören eindeutig nicht anderen Walen. Turner scheint

the Sperm Whale (“Die Naturgeschichte des Pottwals”) begleitet.

vielmehr unterschiedliche Zeitpunkte und damit unterschiedliche

Im Falle des hier diskutierten Bildes berichtet die zitierte Passage,

Stadien der Waljagd zusammengefasst zu haben. Wir haben schon

wie ein Pottwal vor Japan sowohl harpuniert als auch mit Lanzen

bei Die Schlacht von Trafalgar einen ähnlichen Umgang mit der

verletzt wurde. Er tauchte ab, kehrte dann aber an die Oberfläche

Chronologie gesehen.

zurück, um eines der Boote umzuwerfen, deren Besatzung ihn

Turner malte dieses Bild für den Walfischereimagnaten und

gequält hatte. Schließlich wurde er wieder mit Lanzen getroffen,

Sammler seiner Werke Elhanan Bicknell. Leider störte Bicknell

starb und versank in der Tiefe, bevor sein Körper geborgen werden

sich daran, dass einige Pinselstriche in Wasserfarbe hinzugefügt

konnte. Turner interpretierte dieses Verschwinden möglicherweise

worden waren. Er rieb diese mit seinem Taschentuch ab und bat

als ein weiteres Beispiel der Vergeblichkeit menschlicher

Turner dann, die entsprechenden Teile noch einmal in Öl

Anstrengungen.

nachzumalen, was dieser mürrisch tat. Aber selbst danach weigerte

Links sehen wir den wieder auftauchenden Wal, aus dessen

Bicknell sich aufgrund einer weiteren Meinungsverschiedenheit

Blasloch Blut und Wasser hervorschießen. Rechts verweist ein

mit Turner, das Bild anzunehmen. Zum Glück fand Turner rasch

übermalter halbrunder Streifen wohl auf die vorherige Bewegung

einen anderen Käufer.

148.

149.

74. EINE YACHT NÄHERT SICH DER KÜSTE ca.1850 Öl auf Leinwand, 102 x 142 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

D

er Titel dieses Gemäldes stammt nicht von Turner, da er

Turners lebenslange Liebe zu Gedichten, die die Kraft des Lichtes

es niemals ausstellte. Seine Datierung ist ähnlich

mit der Göttlichkeit in Verbindung brachten, seine offene

ungesichert. Die Art der Farbbearbeitung legt eine so

Identifikation mit der platonischen Metaphysik von Sir Joshua

späte Entstehungszeit wie 1850 nahe. Der Bereich dicker Pigmente

Reynolds und Mark Akenside, sein konstantes Interesse an den

um die Sonne herum und die Art, wie die Yacht gemalt ist,

Grundlagen – natürlicher Prozesse, menschlichem Verhaltens und

erinnern jeweils stark an die drei erhaltenen Bilder aus der vier

der Mechanismen von Licht und Form – stützen allesamt die

miteinander verbundene Bilder umfassenden Gruppe, die 1850 in

These, dass die Sonne für Turner weit mehr als ein physisches

der Royal Academy zu sehen waren. Eine weitere Verbindung

Objekt war. Es ist so nur natürlich, dass seine besten Bilder diesem

zwischen dieser letzten Gruppe ausgestellter Bilder und der

Glauben Ausdruck verleihen. In Werken wie dem vorliegenden

vorliegenden Arbeit ist die zentrale Rolle der Sonne.

brennt sich die Sonne ihren Weg in den Himmel, sowohl als die

Dies ist natürlich nicht in erster Linie ein Bild einer sich der Küste

ultimative Quelle allen Lebens auf der Erde als auch als Schlüssel

nähernden Yacht. Turner intendierte es stattdessen als eine große

zu all den anderen Grundlagen, die Turner sein Leben lang

Hymne an die Sonne, die er zuletzt als Gott identifizierte.

erforscht und verherrlicht hatte.

150.

151.

75. PETWORTH PARK, MIT LORD EGREMONT UND SEINEN HUNDEN; MUSTERSTUDIE ca. 1828 Öl auf Leinwand, 64,5 x 145,5 cm Turner Bequest, Tate Britain, London

G

eorge Wyndham, der dritte Graf von Egremont und

Vermutlich hing die Leinwand dort vorübergehend, um dem

Besitzer von Petworth House in Sussex, war ein

Gönner eine konkrete Idee des dekorativen Effekts des noch fertig

exzentrischer, gutherziger und paternalistischer Tory

zu stellenden endgültigen Gemäldes zu vermitteln. Dieses zeigt ein

der alten Schule. Seine moralischen Ansichten waren ausreichend

Cricketspiel und miteinander kämpfende Hirsche. Das vorliegende

elastisch, um ihm zwei langjährige Geliebte, dann eine Ehefrau,

Bild ist wesentlich simpler. Es enthält jedoch eine für Petworth

zahlreiche Kurzzeitgeliebte, einen illegitimen Sohn und Erben

zentrale Figur. Dies ist der Mann in der Ferne links von der

sowie eine unbekannte Zahl weiterer unehelicher Kinder zu

Bildmitte. Aufgrund der Zahl seiner tierischen Begleiter

gestatten. Turner malte für ihn mehrere Ansichten von Petworth

identifizierte Creevey ihn 1828 als “Lord Egremont bei einem

Park sowie Darstellungen von Projekten, in die der Adlige

Spaziergang mit neun Hunden, die seine ständigen Begleiter sind”.

investiert hatte, wie etwa den neu erbauten Chichester Canal und

Dass Egremont hier bei Sonnenuntergang gezeigt wird, ist

die Chain Pier in Brighton.

sicherlich bedeutsam, da Turner den Sonnenuntergang und das

Ausschließlich zu seinem eigenen Vergnügen malte Turner 1827-

Kommen der Nacht wiederholt mit dem Tod in Zusammenhang

28 zahlreiche Gouache-Aquarelle, die den lebhaften Alltag in

brachte. Im Jahr 1828 befand sich der alternde Egremont

Petworth wiedergeben.

zweifellos im Herbst seines Lebens (er starb schließlich 1837).

Die vorliegende Arbeit ist eine Studie für ein Ölgemälde, das von

Ganz links steht außerhalb von Petworth House ein Stuhl. Weil er

Lord Egremont in Auftrag gegeben worden war. Am 19 August

im Freien außerhalb eines Landhauses steht, handelt es sich hier

1828 sahen das Parlamentsmitglied und der fleißige Briefschreiber

um einen “Landsitz”. Dies dürfte eines der von Turner so geliebten

Thomas Creevey die Studie im Carved Room in Petworth.

visuellen Wortspiele sein.

152.

153.

* * * 76 –Das Moderne Italien – Die Pifferari, 1838. Öl auf Leinwand, 92,5 x 123 cm. Glasgow Art Gallery and Museums

154.

Turner 1775-1851: Chronologie 1775

Geburt von Joseph Mallord William Turner in

1819

Walter Fawkes stellt in seiner Londoner Residenz

London am 23. April (?).

mehr als 60 Aquarelle Turners aus. Turners erste

1787

Malt erste signierte und datierte Aquarelle.

Italienreise, Aufenthalte in Venedig, Florenz, Rom

1789

Beginnt wahrscheinlich Studium bei Thomas

und Neapel.

Malton Jr. und wird auch an den Royal Academy Schools als Student angenommen. 1790

Stellt erste Arbeit in der Royal Academy aus.

1791

Bereist das West Country.

1792

Bereist Süd- und Mittelwales.

1793

Erhält von der Royal Society of Arts für ein Landschaftsbild die Auszeichnung “Greater Silver

1821

Besucht Paris und bereist Nordfrankreich.

1822

Besucht Edinburgh wegen des Staatsbesuchs von König George IV.

1824

Bereist Südostengland, besucht auch die Meuse und die Mosel.

1825

Bereist Holland, Deutschland und Belgien. Tod von Walter Fawkes.

1826

Pallet”.

Bereist Deutschland, die Bretagne und die LoireRegion.

1794

Bereist die Midlands und Nordwales.

1795

Bereist Südengland und Südwales.

Architekten John Nash. Beginnt im Herbst mit

1796

Stellt erstes Ölgemälde in der Royal Academy aus.

regelmäßigen Besuchen in Petworth.

1797

Bereist Nordengland und den Lake District.

1798

Bereist Nordwales.

Professor of Perspective. Zweite Italienreise, hält

1799

Zum Associate Royal Academician gewählt. Bereist

sich vor allem in Rom auf.

West Country, Lancashire und Nordwales. 1801

Bereist Schottland.

1802

Zum Royal Academician gewählt. Schweiz-Reise.

1804

Tod der Mutter nach langer Krankheit.

1805

Erste Ausstellung in seiner eigenen Galerie in London.

1807

Zum Royal Academy Professor of Perspective

1827

1828

1829

Bereist Cheshire und Wales. Besucht wahrscheinlich

1830 1831

Bereist Schottland. Überarbeitet Testament.

1832

Besucht Paris, trifft wahrscheinlich Delacroix.

1833

Stellt in London 66 “England and Wales”-Aquarelle aus. Besucht Wien und Venedig.

1835

Bereist Dänemark, Preußen, Sachsen, Böhmen, das Rheinland und Holland.

Hält in der Royal Academy erste Serie von

1836

Bereist Frankreich, Schweiz und das Aostatal.

Perspektive-Vorlesungen. Bereist West Country, um

1837

Tod von Lord Egremont. Tritt als Royal Academy

sammeln. Erstes Zitat aus seinem Gedicht Fallacies of Hope im Ausstellungskatalog der Royal Academy. 1813

Bereist Midlands. Stellt zum letzten Mal ein Aquarell in der Royal Academy aus.

Professor of Perspective zurück.

Material für die “Southern Coast”-Serie zu 1812

Stellt in London 79 Aquarelle der “England and Bretagne. Tod des Vaters. Erster Testamentsentwurf.

erstmals Farnley Hall, den Sitz von Walter Fawkes. 1811

Hält letzte Vorlesungen an der Royal Academy als

Wales”-Serie aus. Bereist Paris, Normandie und

gewählt. 1808

Aufenthalt im Schloss East Cowes, dem Sitz des

Vollendet Sandycombe Lodge in Twickenham. Bereist erneut West Country.

1839

Besucht Meuse und Mosel.

1840

Begegnet erstmals John Ruskin. Venedig-Reise.

1841

Schweiz-Reise, wie auch in den folgenden drei Sommern.

1845

Vorübergehend Präsident der Royal Academy. Besucht im Mai Nordfrankreich und im Herbst

1814

Erneute Reise durch West Country.

1815

Bereist Yorkshire.

1846

Zieht etwa um diese Zeit nach Chelsea um.

1816

Bereist Yorkshire, um Material für die

1848-1849

Gesundheitszustand verschlechtert sich.

Dieppe und die Picardie, seine letzte Reise.

Richmondshire-Serie zu sammeln.

Überarbeitet Testament.

1817

Bereist Belgien, Deutschland und Holland.

1850

Stellt zum letzten Mal in der Royal Academy aus.

1818

Edinburgh-Reise.

1851

Stirbt am 19. Dezember in Chelsea, London. 155.

* * * 77 – Schneesturm, Lawine und Überschwemmung – eine Szene im Aostatal, Piemont, 1837. Öl auf Leinwand, 91,5 x 122,5 cm. Art Institute of Chicago

156.

Turner 1775-1851: Liste der Tafeln page 4 J.M.W. Turner, Tom Tower, Christ Church, Oxford, 1792, Bleistift und Wasserfarbe auf weißem Papier, 27,2 x 21,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London. page 7 J.M.W. Turner, Folly Bridge und Bacon’s Tower, Oxford, 1787, Feder und Tusche mit Aquarellfarben, 30,8 x 43,2 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Die Arbeit ist die Übertragung eines Bildes, das Michael Angelo Rooker für den Oxford Almanach geschaffen hat. page 8 J.W. Archer, J.M.W. Turners zweites Elternhaus in der Maiden Lane Nr. 26, Covent Garden, 1852, Aquarell, British Museum, London. Die Familie Turner zog vom Geburtshaus des Künstlers auf der gegenüberliegenden Straßenseite 1782 oder 1783 in dieses Haus. page 11 J.M.W. Turner, Das Pantheon am Morgen nach dem Brand, RA 1792, Aquarell, 39,5 x 51,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Das Pantheon Opera House in der Londoner Oxford Street wurde von Brandstiftern am 14. Februar 1792 niedergebrannt. Turner hatte dort möglicherweise während der vorausgegangenen Jahre als Kulissenmaler gearbeitet. page 12 J.M.W. Turner, Der Sankt-Gotthard-Pass von der Mitte der Teufels Broch (Teufelsbrücke) in der Schweiz gesehen, signiert und datiert 1804, Aquarell, 98,5 x 68,5 cm, Abbot Hall Art Gallery, Kendal, Cumbria. page 14 J.M.W. Turner, Frontispiz des “Liber Studiorum”, MezzotintoRadierung, 1812, Tate Britain, London. page 17 J.M.W. Turner, Llandaff Cathedral, South Wales, RA 1796, Aquarell, 35,7 x 25,8 cm, British Museum, London. Tanz auf den Gräbern mit Kindern – ohne zu bedenken, dass auch sie eines Tages in solchen Gräbern liegen werden. Diese Zeichnung war vermutlich Turners erste moralische Landschaft. page 18 J.M.W. Turner, Ausblick aus dem Kreuzgang nach Süden, Salisbury Cathedral, ca. 1802, Aquarell, 68 x 49,6 cm, Victoria and Albert Museum, London. Eines der vielen Exemplare aus der Reihe großformatiger Ansichten der Kathedrale, die Turner für Sir Richard Colt Hoare anfertigte. page 21 J.M.W. Turner, Das Wrack eines Frachtschiffes, ca. 1810, Öl auf Leinwand, 172,7 x 241,2 cm, Fundação Calouste Gulbenkian, Lissabon. Mit diesem Bild erschöpfte Turner seinen Drang, sich mit Hilfe grauenvoller Schiffbruchszenarien auszudrücken, denn, von einer Ausnahme abgesehen, malte er in den darauf folgenden zwölf Jahren kein solches Motiv mehr. page 22 J.M.W. Turner, Norham Castle on the Tweed, Mezzotinto-Radierung für das Liber Studiorum, 1816, Tate Britain, London.

page 25 J.M.W. Turner, Die Bucht von Baiae: Apoll und die Sibylle, RA 1823, Öl auf Leinwand, 145,5 x 239 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. Das Gemälde wurde mit der Inschrift “Waft me to sunny Baiae’s shore” ausgestellt. Turners Freund, der Maler George Jones, der wusste, dass die Landschaft sehr viel prosaischer war als sie hier dargestellt wurde, schrieb die Worte “Splendide Mendax” (Wundervolle Lügen) auf den Rahmen. Turner reagierte erfreut und sagte: “Alle Dichter lügen”; eine Aussage, die seine Gleichsetzung von Malerei und Dichtung bezeugt. Er ließ die Inschrift viele Jahre lang auf dem Rahmen stehen. page 26 William Havell, Sandycombe Lodge, Twickenham, das Anwesen J.M.W. Turners, RA, ca. 1814, Aquarell, 10,8 x 20 cm, Privatsammlung, Großbritannien. page 28-29 J.M.W. Turner, Rom vom Vatikan aus gesehen. Raphael bereitet seine Fresken in der Loggia vor, begleitet von La Fornarina, RA 1820, Öl auf Leinwand, 177 x 335,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London. page 31 J.M.W. Turner, Der restaurierte Tempel des Jupiter Panellenius, RA 1816, Öl auf Leinwand, 116,8 x 177,8 cm, Privatsammlung, New York. page 33 J.M.W. Turner, Der Künstler und seine Bewunderer, ca. 1827, Aquarell auf blauem Papier, 14 x 19 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London, TB CCXLIV 102. page 34 William Radclyffe nach J.M.W. Turner, Deal, Kent, Kupferstich für die Reihe Malerische Ansichten der Südküste, 1826, British Museum, London. page 37 J.M.W. Turner, Szene an der Loire (in der Nähe von Coteaux de Mauves), ca. 1828-1830, Aquarellfarbe und Gouache mit Feder auf blauem Papier, 14 x 19 cm, Ashmolean Museum, Oxford. Diese Arbeit wurde für die Reproduktion als Radierung in Turner’s Annual Tour – The Loire, 1833, angefertigt. page 38 J.M.W. Turner, Messieurs les voyageurs auf der Rückreise aus Italien (par le diligence) in einem Schneetreiben in den Alpen – 22. Januar 1829, RA 1829, Aquarell, 54,5 x 74,7 cm, British Museum, London. page 41 William Henry Hunt (?), Porträt J.M.W. Turners, ca. 1845, Lady Lever Art Gallery, Port Sunlight, Großbritannien. page 42 William Parrot, Turner bei der Vernissage, ca. 1846, Öl auf Holz, University of Reading, Reading, Großbritannien. 157.

page 44-45 J.M.W. Turner, Eine Szene im Aosta-Tal, ca. 1836, Aquarell, 23,7 x 29,8 cm, Fitzwilliam Museum, Cambridge.

page 75 Der Clyde-Fallca, 1845. Öl auf Leinwand, 89 x 119,5 cm. Lady Lever Art Gallery, Port Sunlight

page 46 J.M.W. Turner, Die auslaufende Flotte, RA 1850, Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London.

page 77 Popes Villa in Twickenham, 1808. Öl auf Leinwand, 91,5 x 120,6 cm. Sudeley Castle, Winchcombe, Gloucestershire

page 49 J. W. Archer, Das Haus J.M.W. Turners in Chelsea, 1852, Aquarell, British Museum, London.

page 79 Dolbadern Castle, Nordwales, 1800. Öl auf Leinwand, 119,5 x 90,2 cm. Royal Academy of Arts, London

page 50 Selbstporträt, ca. 1799, Öl auf Leinwand, 74,5 x 58,5 cm, Turner Bequest, Tate Britain, London.

page 81 Querschiff der Klosterkirche von Ewenny, Glamorganshire, 1797. Bleistift und Wasserfarbe mit Ausschabungen auf weißem Papier, 40 x 55,9 cm. National Museum of Wales, Cardiff

page 53 Das Kriegsschiff “Téméraire” wird zu seinem letzten Ankerplatz geschleppt um abgewrackt zu werden, 1839. Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm. Turner Bequest, National Gallery, London

page 83 Der große Reichenbachfall im Haslital, Schweiz, 1804. Wasserfarbe auf weißem Papier, 102,2 x 68,9 cm. Cecil Higgins Art Gallery, Bedford

page 55 Caernarvon Castle, Nordwales, 1800. Wasserfarbe auf weißem Papier, 66,3 x 99,4 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 85 Fischer auf See, 1796. Öl auf Leinwand, 91,5 x 122,4 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page57 Schneesturm: Hannibal überquert mit seinem Heer die Alpen, 1812. Öl auf Leinwand, 146 x 237,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 87 Biegung des Lune, mit Blick auf Hornby Castleca, 1817. Wasserfarbe auf weißem Papier, 28 x 41,7 cm. Courtauld Institute of Art, University of London

page 59 Die Überquerung des Baches, 1815. Öl auf Leinwand, 193 x 165 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 89 Der Wohnsitz von William Moffatt Esq., in Mortlake; früher (Sommer-) Morgen, 1826. Öl auf Leinwand, 93 x 123,2 cm. The Frick Collection, New York

page 61 Dido erbaut Karthago; oder der Aufstieg des Karthagischen Reiches, 1815, Öl auf Leinwand, 155,5 x 232 cm. Turner Bequest, National Gallery, London page 63 Die Schlacht von Trafalgar, 1822-1824. Öl auf Leinwand, 259 x 365,8 cm. National Maritime Museum, Greenwich page 65 Odysseus verhöhnt Polyphem – Homers Odysssee, 1829. Öl auf Leinwand, 132,5 x 203 cm. Turner Bequest, National Gallery, London page 67 Der Brand des Ober- und Unterhauses, 16. Oktober 1834-1835, Öl auf Leinwand, 92 x 123 cm. Philadelphia Museum of Art page 69 Sklavenhändler werfen die Toten und Sterbenden über Bord – Aufkommender Taifun, 1840. Öl auf Leinwand, 91 x 138 cm. Museum of Fine Arts, Boston, Mass. page 71 Der Lauerzersee mit den Mythenca, 1848. Wasserfarbe auf weißem Papier, 33,7 x 54,5 cm. Victoria and Albert Museum, London page 73 St. Anselms-Kapelle mit Teil von Thomas Beckets Krone, Kathedrale von Canterbury, 1794. Wasserfarbe auf weißem Papier, 51,7 x 37,4 cm. Whitworth Art Gallery, University of Manchester 158.

page 91 Mortlake Terrace, der Wohnsitz von William Moffatt, Esq.; Sommerabend, 1827. Öl auf Leinwand, 92 x 122 cm. National Gallery of Art, Washington, DC page 93 Holländische Boote in einem Sturm: Fischer bemühen sich, ihren Fang an Bord zu bringen, 1801. Öl auf Leinwand, 162,5 x 222 cm. Privatsammlung, Leihgabe an die National Gallery, London page 95 Pier in Calais mit französischen “Poissards”, die ausfahren wollen: Ankunft eines englischen Paketbootes,1803, Öl auf Leinwand, 172 x 240 cm. Turner Bequest, National Gallery, London page 97 Der Schiffbruch,1805, Öl auf Leinwand, 170,5 x 241,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London page 99 Rye, Sussexca, 1823, Wasserfarbe auf weißem Papier, 14,5 x 22,7 cm. National Museum of Wales, Cardiff page 101 Der Untergang des Karthagischen Reiches Fest entschlossen, den verhassten Rivalen zu vernichten, stellte Rom ihm solche Forderungen, dass er entweder in den Krieg gezwungen wurde oder an seiner Willfährigkeit zugrunde gehen musste: In ihrem Verlangen nach Frieden fanden sich die entkräfteten Karthager bereit, sogar ihre Waffen und ihre Kinder aufzugeben.1817. Öl auf Leinwand, 170 x 238,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 103 Regen, Dampf und Geschwindigkeit – die Große Westeisenbahn,1844. Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm. Turner Bequest, National Gallery, London page 105 Der Erzbischöfliche Palast in Lambeth,1790. Wasserfarbe auf weißem Papier, 26,3 x 37,8 cm. Indianapolis Museum of Art

page 131 Flint Castle, Nordwales, 1835, Wasserfarbe auf weißem Papier, 26,5 x 39,1 cm. National Museum of Wales, Cardiff page 133 Das Moderne Italien – Die Pifferari, 1838. Öl auf Leinwand, 92,5 x 123 cm. Glasgow Art Gallery and Museums

page 107 Wolverhampton, Staffordshire1796. Wasserfarbe auf weißem Papier, 31,8 x 41,9 cm. Art Gallery and Museum, Wolverhampton

page 135 Das alte Rom: Agrippina trifft mit der Asche des Germanicus ein. Die Triumphbrücke und der Palast der Cäsaren sind wieder aufgebaut, 1839. Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 109 Innenansicht der Kathedrale von Salisbury, Blick auf das nördliche Querschiffca, 1802-1805. Wasserfarbe auf weißem Papier, 66 x 50,8 cm. Salisbury and South Wiltshire Museum

page 137 Venedig: Ein Sturm auf der Piazzettaca, 1840. Wasserfarbe auf weißem Papier, 21,9 x 32,1 cm. National Gallery of Scotland, Edinburgh

page 111 Die Morgensonne bricht durch den Dunst: Fischer säubern und verkaufen Fische,1807. Öl auf Leinwand, 134,5 x 179 cm. Turner Bequest, National Gallery, London

page 139 Venedig: Der Canal Grande, auf die Dogana blickendca, 1840. Wasserfarbe auf weißem Papier, 22,1 x 32 cm. British Museum, London

page 113 Niedergang einer Lawine in Graubünden,1810, Öl auf Leinwand, 90 x 120 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 141 Der blaue Rigi: Der Vierwaldstätter See, Sonnenaufgang, 1842. Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,7 x 45 cm. Privatsammlung

page 115 Ausbruch des Vesuv, 1817. Wasserfarbe auf weißem Papier, 28,6 x 39,7 cm. Yale Center for British Art, New Haven, Conn. page 117 (oben) MARKSBURG und BRAUBACH am Rhein, 1820. Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,1 x 45,8 cm. British Museum, London

page 143 Die Bucht von Uri von oberhalb Brunnens gesehen, 1842, Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,8 x 45,7 cm. Privatsammlung

Page 117 (unten) J.M.W. Turner, Marksburg, 1817. Aquarell auf weißem Papier mit einem grauen Überguss, 20 x 31,9 cm. Indianapolis Museum of Art

page 145 Schneesturm – ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe und bewegt sich nach dem Lot. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel aus Harwich auslief, 1842. Öl auf Leinwand, 91,5 x 122 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 119 Dover CastleDezember,1822. Wasserfarbe auf weißem, Papier, 43,2 x 62,9 cm. Museum of Fine Arts, Boston, Mass.

page 147 Der Pass von Faido, 1843. Wasserfarbe auf weißem Papier, 30,5 x 47 cm. Pierpont Morgan Library, New York

page 121 Ein Sturm (Schiffbruch),1823. Wasserfarbe auf weißem, Papier, 43,4 x 63,2 cm. British Museum, London

page 149 Walfänger1, 845. Öl auf Leinwand, 91,7 x 122,5 cm. The Metropolitan Museum, New York

page 123 Das Forum Romanum, für Mr. Soanes Museum, 1826. Öl auf Leinwand, 145,5 x 237,7 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 151 Eine Yacht nähert sich der Küsteca, 1850, Öl auf Leinwand, 102 x 142 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 125 Northampton, NorthamptonshireWinter, 1830-31. Wasserfarbe auf weißem Papier, 29,5 x 43,9 cm. Privatsammlung

page 153 Petworth Park, mit Lord Egremont und seinen Hunden; Musterstudieca, 1828. Öl auf Leinwand, 64,5 x 145,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 127 Das Goldene Geäst, 1834. Öl auf Leinwand, 104 x 163,5 cm. Turner Bequest, Tate Britain, London

page 154 Das Moderne Italien – Die Pifferari, 1838. Öl auf Leinwand, 92,5 x 123 cm. Glasgow Art Gallery and Museums

page 129 Venedig vom Portal der Kirche Madonna della Salute aus gesehen, 1835. Öl auf Leinwand, 91,4 x 122 cm. Metropolitan Museum of Art, New York

page 156 Schneesturm, Lawine und Überschwemmung – eine Szene im Aostatal, Piemont, 1837. Öl auf Leinwand, 91,5 x 122,5 cm. Art Institute of Chicago 159.

Über die erste Ausgabe dieses Buches ist Folgendes geschrieben worden: „Eric Shanes’ Turner bietet, wie wir es vom Herausgeber der Turner Studies auch nicht anders erwartet hätten, eine ungewöhnlich reichhaltige und stimulierende Lektüre und präsentiert viele Ergebnisse der jüngeren Forschung.“ — Dr. John Gage, The Burlington Magazine