Jeremia und die Völker: Untersuchungen zu den Völkersprüchen in Jeremia 46-49 3161467744, 9783161467745, 9783161578045

Originally presented as the author's thesis--Basel, 1995/96.

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Jeremia und die Völker: Untersuchungen zu den Völkersprüchen in Jeremia 46-49
 3161467744, 9783161467745, 9783161578045

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
1. Völkersprüche im Alten Testament
2. Die Völkersprüche des Jeremiabuches
3. Forschungsgeschichtlicher Überblick
a) Die Phase der Literarkritik
b) Gattungsgeschichte, Religionsgeschichte, Traditionsgeschichte
c) Der redaktionsgeschichtliche Ansatz
4. Fragestellungen und methodische Aspekte
II. Die Textgrundlage: Zum Problem der verschiedenen Fassungen des Jeremiabuches
1. Der Ausgangspunkt
2. Die Septuaginta-Frage im 19. Jahrhundert und der pragmatische Status quo
3. Neue Perspektiven durch die Funde in Qumran
4. Methodische Schlußfolgerungen
III. Textanalysen
1. Ägypten, Jer 46/26
A. Das erste Ägypten-Gedicht, 46/26,2–12
a) Der Text
b) Die Struktur der Einheit
c) Strophe 1 (V. 3–6)
d) Strophe 2 (V 7–10)
e) Strophe 3 (V 11f.)
f) Einheit und Herkunft des Gedichts V 3–12
g) Der historische Kontext des ersten Ägypten-Gedichts
B. Das zweite Ägypten-Gedicht, 46,13–26/26,13–25
a) Der Text
b) Die Struktur der Einheit
c) Strophe 1 (V 14–19)
d) Strophe 2 (V. 20–24)
e) Anhang, V. 25f.
f) Der historische Kontext des zweiten Ägypten-Gedichts
C. Das Heilsorakel für Jakob-Israel 46/36,27f.
2. Philister, Jer 47/29,1–7
a) Der gemeinsame Text von LXX und MT
b) Der jeremianische Kern des Philister-Gedichts
c) Die Unterschiede zwischen dem MT und der LXX
3. Moab, Jer 48/31
a) Der Text
b) Die Struktur des Kapitels
c) V. 1–10
d) V. 11–13
e) V. 14–17
f) V. 18–27
g) V. 28.38b–44
h) Der Horizont der Moab-Sprüche
i) Die Parenthese V. 29–38a
j) Der prämasoretische Anhang V 45–47
4. Ammon, 49,1–6/30,1–5
a) Der Text
b) V. 1f.
c) V. 3–5
d) Herkunft und Datierung des Ammon-Spruchs V. 3–5
5. Edom, Jer 49,7–22/29,8–23
a) Der Text
b) Die Struktur des Textes
c) V 7–11
d) V. 12f.
e) V 14–16
f) Das Verhältnis von V 7.9.10a.14–16 zu Obadja 1–8
g) V. 17f.
h) V 19–22
i) Das Verhältnis von V 18–21 zu Jer 50,40.44–46
j) Der Horizont der Edom-Worte
6. Damaskus, Jer 49,23–27/30,12–16
a) Der Text
b) Der Damaskus-Spruch
c) Herkunft und Horizont des Damaskus-Spruches
7. Kedar und Hazor, Jer 49,28–33/30,6–11
a) Der Text
b) Der Kedar- und der Hazor-Spruch
c) Herkunft und Horizont des Kedar- und des Hazor-Spruches
8. Elam, Jer 49,34–39/25,14–19
a) Der Text
b) Struktur und Inhalt des Elam-Spruches
c) Herkunft und Horizont des Elam-Spruches
IV. Die Völkersprüche Jeremias
1. Stil und Gestaltung
2. Begründungen
3. Die Unheilsankündigung
a) Die Völkersprüche und Kriegsorakel bzw. Fluchsprüche
b) Die Völkersprüche und kultische Heilsorakel
4. Der „Feind“ bei Jeremia
a) Die Aussagen über den „Feind“ in den jeremianischen Völkersprüchen
b) Die Völkersprüche und der Heilige Krieg
c) Die Völkersprüche und die Gedichte über den „Feind aus dem Norden“
5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen Völkersprüche
a) Methodische Vorüberlegungen
b) Jeremia als Prophet für die Völker
c) Jeremia als Prophet für Juda-Jerusalem
d) Juda und die Völker
V. Die Bearbeitungen der jeremianischen Völkersprüche
1. Die deuteronomistische Bearbeitung
a) Der Befund
b) Jer 25,1–14 (LXX 25,1–13) und das deuteronomistische Jeremiabuch
2. Die Stellung des Korpus der Völkersprüche und die Reihenfolge der Texte
a) Zur Fragestellung
b) Die Becherperikope Jer 25,15–38/Kp. 32
c) Zwischenreflexion: Das methodische Problem
d) Das System der Überschriften
3. Der prämasoretische Text
4. Der alexandrinische Text
Ertrag und Ausblick
Literaturverzeichnis
Bibelstellenregister
Autorenregister
Sachregister

Citation preview

Forschungen zum Alten Testament herausgegeben von Bernd Janowski und Hermann Spieckermann

20

Beat Huwyler

Jeremia und die Völker Untersuchungen zu den Völkersprüchen in Jeremia 46-49

Mohr Siebeck

Beat Huwyler, geb. 1961; Studium der Theologie in Basel; Vikariat und Ordination; seit 1991 wiss. Assistent für Altes Testament an der Universität Basel; 1995 Promotion.

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Förderung.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Huwyler, Beat: Jeremia und die Völker: Untersuchungen zu den Völkersprüchen in Jeremia 46-49 / Beat Huwyler. - Tübingen: Mohr Siebeck, 1997 (Forschungen zum Alten Testament; 20) ISBN 3-16-146774-4

978-3-16-157804-5 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019

© 1997 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Weissenstein in Pforzheim gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden. ISSN 0940-4155

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich lediglich einige noch verbliebene Druckfehler korrigiert. Seither erschienene Literatur habe ich nicht eingearbeitet; dies ist insofern zu verantworten, als die Literatur zu den Völkersprüchen nicht überreichlich fließt. Nachdrücklich sei jedoch hingewiesen auf den zweiten Band des Jeremiakommentars von W. McKane (Edinburgh 1996), der erst nach Abschluß meiner Arbeit erschienen ist; von diesem bedeutenden Werk konnte ich nur den ersten Band benützen. Zu danken habe ich in erster Linie Herrn Prof. Dr. K. Seybold, der die Untersuchung angeregt und betreut hat. Das Gespräch mit ihm hat vieles in Gang gesetzt und zur Reifung und Klärung der Gedanken beigetragen. Weiter danke ich Herrn Prof. Dr. E. Jenni, der mich in verschiedenen Detailfragen beraten und das Zweitgutachten verfaßt hat. Beide haben mich als ihren gemeinsamen Assistenten in ihre Lehr- und Forschungstätigkeit einbezogen und mir dadurch wertvolle Erfahrungen in der Arbeit am Alten Testament und im Bereich der Semitistik ermöglicht. Gleichzeitig haben sie mir stets den nötigen Freiraum gewährt, daß die eigene Arbeit fortschreiten konnte. Für beides wie für stetes Wohlwollen und mannigfaltige Förderung bin ich ihnen aufrichtig dankbar. Weitere Gutachten zur Dissertation haben Herr Prof. Dr. E. W. Stegemann und Herr Prof. Dr. R. Brändle erstellt; auch ihnen danke ich. Den Herausgebern der „Forschungen zum Alten Testament", Herrn Prof. Dr. B. Janowski und Herrn Prof. Dr. H. Spieckermann, spreche ich meinen Dank dafür aus, daß sie meine Arbeit bereitwillig in die Reihe aufgenommen haben. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), die mich während der Erstellung der Druckvorlagen geduldig beraten haben. Schließlich danke ich meiner Frau, Annette Huwyler-Van der Haegen, für ihre Unterstützung, Geduld und Ermutigung in der Zeit, in welcher diese Arbeit entstanden ist. Beat Huwyler

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Abkürzungsverzeichnis I.

XI

Einleitung

1

1. Völkersprüche im Alten Testament 2. Die Völkersprüche des Jeremiabuches 3. Forschungsgeschichtlicher Überblick

1 5 8

a) Die Phase der Literarkritik b) Gattungsgeschichte,

11

Religionsgeschichte,

c) Der redaktionsgeschichtliche

Traditionsgeschichte

...

Ansatz

23 30

4. Fragestellungen und methodische Aspekte II. Die Textgrundlage: Zum Problem der verschiedenen Fassungen des Jeremiabuches 1. Der Ausgangspunkt 2. Die Septuaginta-Frage im 19. Jahrhundert und der pragmatische Status quo 3. Neue Perspektiven durch die Funde in Qumran 4. Methodische Schlußfolgerungen III. Textanalysen

31

42 42 44 48 64 73

1. Ägypten, Jer 46/26

74

A. Das erste Ägypten-Gedicht, 46/26,2-12

76

a) Der Text

76

b) Die Struktur der Einheit

78

c) Strophe 1 (V. 3-6)

79

d) Strophe 2 (V. 7-10)

86

e) Strophe 3 (V. 11f.)

91

f ) Einheit und Herkunft des Gedichts g) Der historische

V. 3-12

Kontext des ersten Ägypten-Gedichts

93 100

B. Das zweite Ägypten-Gedicht, 46,13-26/26,13-25

107

a) Der Text

107

b) Die Struktur der Einheit

108

VIII

Inhaltsverzeichnis c) d) e) f)

Strophe 1 (V 14-19) Strophe 2 (V. 20-24) Anhang, V. 25f. Der historische Kontext des zweiten Ägypten-Gedichts

C. Das Heilsorakel

für Jakob-Israel

46/36,27f

111 118 120 125 126

2. Philister, Jer 47/29,1-7 a) Der gemeinsame Text von LXX und MT b) Der jeremianische Kern des Philister-Gedichts c) Die Unterschiede zwischen dem MT und der LXX

134 134 140 142

3. Moab, Jer 48/31 a) Der Text b) Die Struktur des Kapitels c) V. 1-10 d) V. 11-13 e) V. 14-17 f ) V. 18-27 g) V. 28.38b-44 h) Der Horizont der Moab-Sprüche i) Die Parenthese V. 29-38a j) Der prämasoretische Anhang V. 45-47

150 153 154 156 164 169 170 174 177 180 232

4. Ammon, 49,1-6/30,1-5 a) Der Text b) V. l f . c) V. 3-5 d) Herkunft und Datierung des Ammon-Spruchs V 3-5

193 193 195 200 206

5. Edom, Jer 49,7-22/29,8-23 a) Der Text b) Die Struktur des Textes c) V. 7-11 d) V. 12f. e) V. 14-16 f ) Das Verhältnis von V. 7.9.10a.l4-16 zu Obadja 1-8 g) V.17f. h) V. 19-22 i) Das Verhältnis von V. 18-21 zu Jer 50,40.44-46 j) Der Horizont der Edom-Worte

207 209 209 210 214 216 217 227 228 229 232

6. Damaskus, Jer 49,23-27/30,12-16 a) Der Text b) Der Damaskus-Spruch c) Herkunft und Horizont des Damaskus-Spruches

233 233 234 242

Inhaltsverzeichnis

IX

7. Kedar und Hazor, Jer 49,28-33/30,6-11 a) Der Text b) Der Kedar- und der Hazor-Spruch c) Herkunft und Horizont des Kedar- und des Hazor-Spruches

246 246 248 252

8. Elam, Jer 49,34-39/25,14-19 a) Der Text b) Struktur und Inhalt des Elam-Spruches c) Herkunft und Horizont des Elam-Spruches

256 258 259 262

IV. D i e V ö l k e r s p r ü c h e J e r e m i a s 1. Stil und Gestaltung 2. Begründungen 3. Die Unheilsankündigung a) Die Völkersprüche und Kriegsorakel bzw. Fluchsprüche b) Die Völkersprüche und kultische Heilsorakel 4. Der „Feind" bei Jeremia a) Die Aussagen über den „Feind" in den jeremianischen Völkersprüchen b) Die Völkersprüche und der Heilige Krieg c) Die Völkersprüche und die Gedichte über den „Feind aus dem Norden" 5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen Völkersprüche a) Methodische Vorüberlegungen b) Jeremia als Prophet für die Völker c) Jeremia als Prophet für Juda-Jerusalem d) Juda und die Völker V. D i e B e a r b e i t u n g e n d e r j e r e m i a n i s c h e n V ö l k e r s p r ü c h e 1. Die deuteronomistische Bearbeitung a) Der Befund b) Jer 25,1-14 (LXX 25,1-13) und das deuteronomistische Jeremiabuch 2. Die Stellung des Korpus der Völkersprüche und die Reihenfolge der Texte a) Zur Fragestellung b) Die Becherperikope Jer 25,15-38/Kp. 32 c) Zwischenreflexion: Das methodische Problem dj Das System der Überschriften 3. Der prämasoretische Text 4. Der alexandrinische Text

267 268 271 274 274 277 278 278 285 300 304 304 307 315 321 324 325 325 332 347 347 350 365 371 381 384

X

Inhaltsverzeichnis

Ertrag und Ausblick

387

Literaturverzeichnis

395

Bibelstellenregister

411

Autorenregister

427

Sachregister

432

Abkürzungsverzeichnis Die Kommentare zum Jeremiabuch werden in den Anmerkungen nur mit dem Namen des Verfassers und Seitenzahlen zitiert, bei mehrbändigen Werken zusätzlich mit Angabe des Bandes. Die übrige Literatur wird mit Kurztiteln zitiert, die mit Hilfe des Literaturverzeichnisses aufzulösen sind. Die Abkürzungen richten sich nach S.M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin-New York 2 1992. Zusätzlich werden folgende Abkürzungen verwendet: A1T AoJ

Alexandrinischer Text, alexandrinische Textform usw. HOMES-FREDERICQ, D. - HENNESSY, J. B. (eds.), Archaeology of Jordan I / 11,1 /11,2 (Akkadica Suppl. 3/7/8), Leuven 1986/1989

BDR

BLASS, F. - DEBRUNNER, A . - R E H K O P F , F., G r a m m a t i k d e s

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neutesta-

mentlichen Griechisch, Göttingen 151979 BAUER, H. - LEANDER, R, Historische Grammatik der hebräischen Sprache I, Hildesheim-Zürich-New York 1991 (2. Nachdruck der Ausgabe Halle 1922) BORNEMANN, E. - RISCH, E., Griechische Grammatik, Frankfurt am Main-Berlin-München 1973 Deuteronomist, deuteronomistischer Redaktor deuteronomistisch GESENIUS, W. - BUHL, F., Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin-Göttingen-Heidelberg 17 1915 (Nachdruck 1962) GESENIUS, W., Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Lfg. 1: K-', unter verantwortlicher Mitarbeit von U. RÜTERSWÖRDEN b e a r b e i t e t u n d h e r a u s g e g e b e n v o n R . M E Y E R u n d

GK JM L LÜ LXX LXX 1 LXX' MGW

MT NEAEHL

H.

DONNER, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo l 8 1987 GESENIUS, W. - KAUTZSCH, E., Hebräische Grammatik, Leipzig 2 8 1909 JOÜON, R - MURAOKA, T., A Grammar of Biblical Hebrew I/II (SubsBibl 14,1/11), Rom 1993 Codex Leningradensis / Codex Firkowitsch Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1985 Septuaginta RAHLFS, A. (ed.), Septuaginta I/II, Stuttgart 8 1965 ZIEGLER, J., Septuaginta XV: Ieremias, Baruch, Threni, Epistula Ieremiae, Göttingen 1957 MENGE, H., Menge-Güthling. Enzyklopädisches Wörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, I: Griechisch-Deutsch, Berlin " 1 9 1 3 (Lizenzausgabe Basel 1951) Masoretischer Text, masoretische Textform usw. STERN, E. (ed.), The New Encyclopedia of Archaeological Excavations in the Holy Land, I-IV, Jerusalem 1993

I. Einleitung 1. Völkersprüche im Alten Testament Die prophetische Literatur des Alten Testaments enthält neben Worten, die sich an Israel und Juda richten und deren Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft thematisieren, zahlreiche Sprüche, die sich auf andere Völker beziehen und diesen mehrheitlich Unheil, aber auch Heil ankündigen. Die alttestamentliche Forschung belegt diese Prophetenworte aufgrund des gemeinsamen Merkmals, dem Bezug auf nichtisraelitische Völker, jedoch unter Absehung von inhaltlichen und formalen Unterschieden, mit den Termini (Fremd-)Völkersprüche bzw. -orakel, Heidenorakel, (Fremd-)Völkerweissagungen o. ä.1 Die ältere Forschung sprach vorwiegend von „Heidenorakeln";2 dieser Begriff impliziert, daß die Sprüche sich auf das Heidentum der bedrohten Völker beziehen.3 H. Gressmann unterschied zwischen „Völkerorakeln", Drohungen an die Adresse der Völker insgesamt, meist verbunden mit Heilsankündigungen für Israel, und „Heidenorakeln", Drohungen gegen Einzelvölker, H. Bardtke dagegen zwischen „Fremdvölkerweissagungen" und „Heidenorakeln", wobei letztere das Moment der Heilsweissagung für das eigene Volk mit einschließen.4 Diese Differenzierungen haben sich nicht bewährt und deshalb nicht durchgesetzt. Oft werden auch verschiedene Begriffe ohne erkennbare Unterschiede nebeneinander verwendet, so z.B. bei O. Eißfeldt, der abwechselnd von „Drohungen gegen fremde Völker"5, „Orakeln gegen die fremden Völker"6 und „Fremdvölker-Orakeln"7 spricht. Im englischsprachigen Raum sind die Bezeichnungen „oracles against the nations"8, „oracles against foreign nations" bzw. „against non-Israelite nations" und „nation oracles"9 sowie „foreign-nation oracles" 10 gebräuchlich. Als gattungsgeschichtliche Begriffe werden auch „Gerichts-" bzw. „Unheilsankündigung gegen ein Fremdvolk" o. ä. verwendet.

1 Zur Terminologie vgl. die Referate bei HÖFFKEN, Begründungselemente 387f. Anm. 3, und FECHTER, Bewältigung der Katastrophe 2f. 2

S o z . B . STEUERNAGEL, L e h r b u c h 4 6 3 u.ö.; HÖLSCHER, P r o f e t e n 394.

3

S o z.B. SCHWALLY, Reden 206: „Das ihnen zu Grunde liegende Motiv kann vielmehr nur der Gegensatz zwischen dem Volke Gottes und den Gojim als solcher sein." 4

GRESSMANN, M e s s i a s 94; BARDTKE, F r e m d v ö l k e r p r o p h e t 211 A n m . 3.

5

EISSFELDT, Einleitung 410.502. Ebd. 419.488. 7 Ebd. 509. 8 HAYES, Oracles passim. 6

9

HAYES, U s a g e 81.

10

Ebd. 92.

2

I.

Einleitung

In der letzten das gesamte Korpus der Völkersprüche einbeziehenden Monographie von P. Höffken wird der Ausdruck „Völkerorakel" als konventioneller Begriff für Sprüche verwendet, die sich gegen ein bestimmtes, unter Umständen auch gegen zwei namentlich genannte Völker (Volksgruppen, Staaten) richten, wobei „Orakel" nichts über eine bestimmte Herkunft dieser Sprüche, etwa aus der Befragungspraxis, präjudiziere." Um ebendiesem Präjudiz, welchem durch den Begriff „Orakel" m.E. Vorschub geleistet wird, entgegenzuwirken, wird in dieser Arbeit der in dieser Hinsicht neutralere Ausdruck „Völkersprüche" verwendet. 12 Im forschungsgeschichtlichen Überblick (1.3) werden gelegentlich andere Begriffe verwendet, wenn verschiedene Positionen referiert werden und dabei die Terminologie der entsprechenden Vertreter übernommen wird. Nicht alle prophetischen Worte, die Namen fremder Völker nennen, sind deswegen als Völkersprüche zu bezeichnen. Für diese ist konstitutiv, daß ein Volk oder die Völker insgesamt angesprochen werden oder aber jedenfalls in irgendeiner Form deren gegenwärtiges oder zukünftiges Schicksal thematisiert wird. 13 Außer Betracht fallen von daher Stellen wie etwa Am 3,9 (Aschdod und Ägypten werden zu Zeugen des Unrechts in Israel aufgerufen), Am 6,2 (Israel wird zum Vergleich mit Kalne, Hamat, Gat und anderen Reichen aufgefordert), Am 9,7 (die Israeliten sind für JHWH gleich wie Kusch; wie Israel aus Ägypten hat JHWH auch die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir geführt) oder Mi 7,15-17 (Bitte um Wunder, die auch die Völker sehen sollen). Auch das Jonabuch kann, da es insgesamt eine Prophetenerzählung darstellt, deren theologische Aussage auf einer anderen Ebene liegt, trotz des Bezugs auf ein fremdes Volk nicht zu den Völkersprüchen im eigentlichen Sinne gerechnet werden. Nicht unter den Begriff „Völkersprüche" fallen schließlich etwa die jeremianischen Gedichte über den „Feind aus dem Norden" (Jer 4-6), die an Juda gerichtet sind, und die Vision des Reitersturms in Hab 1,5-7, aber auch die an Israel und Juda gerichteten Worte innerhalb einer Sammlung von Völkersprüchen (z.B. Am 2,4-16). 14

In den Büchern der großen Schriftpropheten finden sich Völkersprüche verstreut (Jes 8,4.9f.; 10,5-19.24-34; 25,10-12; 34; 47; 63,1-3; Jer 9,24f.; 12,14-

11

HÖFFKEN, B e g r ü n d u n g s e l e m e n t e 3 8 8 A n m . 3.

^ E i n s c h r ä n k e n d muß jedoch auch zu diesem Terminus bemerkt werden, daß er weder ein Präjudiz über ursprüngliche Mündlichkeit noch über den U m f a n g der originalen Prophetenlogien (etwa in Abgrenzung gegenüber Begriffen wie „Völkergedicht", „Völkerdichtungen" o.a.) enthält. 13 FECHTER nennt als Kriterien für Fremdvölkersprüche ein inhaltliches und ein formales Merkmal: (1) inhaltlicher Schwerpunkt ist „das Geschick konkreter, nicht-israelitischer Völker", und (2) die Fremdvölkersprüche begegnen „vorwiegend in größeren Komplexen als Sammlungen" (Bewältigung der Katastrophe 2). Letzteres Kriterium muß allerdings, wie FECHTER selbst erkennt (ebd. 3), stark relativiert werden, da auch außerhalb von eigentlichen Sammlungen - auch in den Büchern Jes, Jer und Ez - zahlreiche Sprüche vorkommen, die sich nicht auf das Geschick Israels, sondern eines oder mehrerer anderer Völker beziehen. Außerdem ist die Vermengung von inhaltlich-formalen und (demgegenüber sekundären) redaktionsgeschichtlichen Kriterien in der Begriffsbestimmung methodisch nicht unproblematisch. ,4 Letzteres gegen FECHTER, der auch .„Fremdkörper"' wie Am 2,4-16, die das inhaltliche Kriterium des Bezugs auf ein Fremdvolk nicht erfüllen, jedoch im Kontext von Völkersprüchen überliefert sind, unter den Oberbegriff „Fremdvölkersprüche" stellt (Bewältigung der Katastrophe 3 und ebd. Anm. 17). Demgegenüber sollte m . E . um der terminologischen Klarheit willen am inhaltlichen Kriterium strikte festgehalten werden.

1. Völkersprüche

im Alten

Testament

3

17; 43,8-13; Ez 21,33-37; 35; 38f.), jedoch auch in zusammenhängenden Komplexen gesammelt (Jes 13-23 [ohne 22]; Jer 46-51; Ez 25-32). Von den Büchern des Dodekapropheton enthalten Joel 4, Mi 4f.; 7, Zeph 2, Hag 2, Sach 2; 9; 1 lf.; 14 und Mal 1 kaum mehr als einige Namen von fremden Völkern oder die Völkersprüche sind ganz allgemein gehalten, während der Anfang des Amosbuches durch ein umfangreiches Gedicht mit Sprüchen gegen eine Reihe von Nachbarvölkern gebildet wird (1,1-2,3) und Obadja und Nahum sich ausschließlich auf eine fremde Nation beziehen. Neben pauschalen Aussagen über „alle Völker" kommen fast alle Völker der näheren und auch ferneren Umwelt Israels in den Völkersprüchen vor: Ägypten, Äthiopien, Ammon, Arabien, Assyrien, Babylon, Edom, Elam, Moab, Philistäa, Phönizien und Syrien; einzig ein Spruch, der namentlich Persien nennt, fehlt. In den Büchern Jesaja, Jeremia und Ezechiel zusammen machen allein die Völkerspruchkomplexe etwas über 14% des Textbestandes aus; der Wert erhöht sich, wenn die außerhalb dieser Sammlungen überlieferten Texte mit eingerechnet werden, auf gegen 20%. 1 5 Diese Bücher - in Jer nur in der Fassung der Septuaginta 16 - sind jeweils so geordnet, daß im ersten Teil vorwiegend Unheilsworte gegen Juda-Israel, im zweiten solche gegen die Völker und im dritten Heilsworte für Juda-Israel zusammengestellt sind (sog. „eschatologisches Schema") 17 . Schon an diesen beiden Beobachtungen wird deutlich, welch bedeutende Stellung die Völkersprüche innerhalb der alttestamentlichen Prophetie einnehmen. Israel hat sich zu allen Zeiten als Volk unter Völkern verstanden, seine Geschichte und sein Schicksal im Zusammenhang mit und in Abgrenzung von der Geschichte und dem Schicksal der Nachbarvölker, ja auch der fernen Völker der Erde gesehen. Israel hat nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch diejenige der Völker theologisch reflektiert und interpretiert. Nicht erst in der späten Eschatologie und Apokalyptik, sondern schon in der Phase der klassischen Prophetie und weit früher, freilich mit jeweils unterschiedlichen Akzenten, begreift die Theologie Israels die Völker der Erde mit ein. Dies ist an sich nicht erstaunlich. Das Israel der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. stellt ein relativ kleines Staatsgebilde unter anderen innerhalb des syrisch-palästinischen Raumes dar; sein politisches Schicksal ist mit dem der anderen Völker des Alten Orients, insbesondere der Landbrücke zwischen Ägypten und Mesopotamien, unlösbar verknüpft. Die Staatsbildung wurde durch ein machtpolitisches Vakuum in diesem Gebiet ermöglicht, zwang 15 Im Buch Jes umfassen die Kapitel 13-23 (ohne 22) zusammen 12,3% des Gesamttextes, Jer 46-51 und Ez 25-32 je 15,0%. Als Basis für die (sehr grobe) Berechnung dient der Konsonantenbestand der entsprechenden Texte in der BHS. Werden z.B. die ausschließlich Völkersprüche enthaltenden Kapitel Jes 34; 47 mitgerechnet, beträgt deren Anteil im Buch Jes 14,8%; bei Ez (mit Kp. 35; 38f.) gar 20,2%. 16 Zum Problem der Septuaginta des Jeremiabuches s. 1.2 und ausführlich Kp. II. 17 Zum „eschatologischen Schema" und seiner Bedeutung s. HAYES, Oracles 22-25; HÖFFKEN, Begründungselemente 391 Anm. 16, SMEND, Entstehung 141.

4

/.

Einleitung

jedoch zu ständiger militärischer Auseinandersetzung mit der autochthonen kanaanäischen Bevölkerung und den neuen Nachbarn. Ägyptische, assyrische und babylonische Bedrohungen und Vorherrschaft brachten nacheinander unterschiedliche politische Konstellationen mit sich, mit denen sich auseinanderzusetzen und auf die zu reagieren Aufgabe der politischen Führung war. Und wiederum kann es nicht erstaunen, daß gerade die Propheten Israels zu diesem Themenbereich Stellung bezogen und sich auch zu außenpolitischen Fragen äußerten. Als von JHWH, dem Gott Israels, gesandte und beauftragte Boten vertraten sie den Anspruch, der sich aus der Grundüberzeugung Israels ergab, daß es nämlich seine politische Existenz nicht sich selbst und nicht historischen Zufällen oder politischer Eigendynamik verdanke, sondern der geschichtswirkenden Macht JHWHs. „Wenn von Israel die Rede ist, dann ist zugleich an Jahwe gedacht, dessen Heilstaten die Größe ,Israel' begründet und legitimiert haben. Das gilt grundsätzlich und ohne Einschränkungen auch für den Bereich der Politik. Politische Autonomie ist im Räume Israels unvollziehbar, weil es überhaupt keine Autonomie gibt, sondern alle Lebensäußerungen vom Herrschaftsanspruch Jahwes bestimmt und geprägt werden." 1 8 Prophetie und Politik, Politik und Theologie gehören nach diesem Verständnis untrennbar zusammen. Trotz dieses engen Zusammenhangs und des recht großen Anteils von Völkersprüchen an der prophetischen Literatur gehören diese zu den in der Forschung vergleichsweise wenig beachteten 19 und zu den umstrittensten Teilen des Alten Testaments. Namentlich Verfasserschaft, Datierung und Funktion der Völkersprüche werden völlig unterschiedlich beurteilt, wovon auch das Verständnis der alttestamentlichen Propheten und ihrer Theologie insgesamt wesentlich beeinflußt wird. 20 Daß diese Texte etwa im religiösen Bewußtsein

18

DONNER, Israel unter den Völkern IX. "Bezeichnend ist etwa die Beobachtung, daß WESTERMANN im Standardwerk zu den „Grundformen prophetischer Rede" dem Phänomen der Völkersprüche nicht einmal ganz eine Seite widmet (Grundformen 147f.). Zwar ist dies damit begründet, daß in den Völkersprüchen das zur Hauptsache interessierende Thema, das prophetische Gerichtswort, verlassen sei, da die Gerichtsworte an fremde Völker im wesentlichen Heil für Israel bedeuten und ursprünglich wahrscheinlich nicht die Form von Gerichts-, sondern Unheilsankündigungen hatten (ebd.). Dennoch entsteht durch diese Ausklammerung der Eindruck, als gehörten Völkersprüche von vornherein nicht zu den „Grundformen prophetischer Rede", sondern seien als nicht- bzw. voroder nachprophetische Gattung zu beurteilen. 20 Von daher trifft die Kritik FOHRERS am mangelnden Interesse der alttestamentlichen Exegese und Theologie an den Völkersprüchen einen wunden Punkt: „Dies schließt ein, daß das Bild der israelitischen Prophetie weithin verzeichnet wird. Man sieht ihre Verkündigung zu einseitig und zu ausschließlich auf ihr Volk bezogen und berücksichtigt die Einbeziehung der Völkerwelt zu wenig." (Vollmacht 51; vgl. auch SMOTHERS, Lawsuit 545f.) Ähnlich BRIGHT 307, der außerdem darauf hinweist, daß sich gerade in den Völkersprüchen eine Poesie findet, die zur schönsten des ganzen alttestamentlichen Kanons zählt: „Moreover, sayings of the type found here do represent a characteristic feature of prophetic preaching, and one that must be kept in view if a rounded picture is to be obtained."

2. Die Völkersprüche

des

Jeremiabuches

5

und in der Praxis der christlichen Kirche so gut wie nicht präsent sind, ist von daher so symptomatisch wie problematisch. 21

2. Die Völkersprüche des J e r e m i a b u c h e s Der weitaus größte Teil der Völkersprüche des Jeremiabuches ist im Masoretischen Text (MT) 22 in sechs, in der Septuaginta (LXX) 23 in sieben zusammenhängenden Kapiteln gesammelt (MT 46-51, LXX 25 [ab V. 14] bis 31). Im MT ist dieser Komplex am Anfang mit einer Überschrift versehen (iTH "ItÖS ••"iarrbi? i c n r i 'rx 46,1); das Ende der Sammlung wird im Anschluß an eine in 51,59-64 berichtete Symbolhandlung, die mit den vorangehenden Babelsprüchen in Beziehung steht (vgl. 51,60), durch eine Unterschrift markiert CirPDT ,~Q'T! H3n—[4;, 51,64b). Durch die Rahmung sind diese Kapitel als geschlossenes Korpus gekennzeichnet. Die Überschrift trägt dem Umstand Rechnung, daß die in diesem Textkomplex gesammelten Sprüche darin miteinander verwandt sind, daß sie sich - vom Heilsorakel für JakobIsrael 46,27f. abgesehen - ausschließlich mit dem Geschick nichtisraelitischer bzw. -judäischer Völker (D'iil) befassen. Entsprechende Über- und Unterschrif21 Zum Fehlen der Völkersprüche in Perikopenordnungen und Lehrplänen vgl. FECHTER, Bewältigung der Katastrophe 1 Anm. 2. Als Gründe für die periphere Rolle, welche die Völkersprüche in Theologie und kirchlicher Praxis spielen, nennt BRICHT 307 ihren Nationalismus, den Rachegedanken sowie die schwierigen Anspielungen auf Orte und Ereignisse, die im Dunkel der Vergangenheit liegen. Charakteristisch ist etwa die Bemerkung KAISERS: „Die Fremdvölkersprüche der protojesajanischen Sammlung bilden wie die der anderen Prophetenbücher für die Theologie der Gegenwart eher eine Verlegenheit als daß sie diese in ihrer kompositioneil verschlüsselten Intention zu verstehen sucht." (Jesaja/Jesajabuch 651) 22 Als Hauptzeuge der masoretischen Textform (MT) dient nach wie vor der in der BHS wiedergegebene Codex Firkowitsch (früher Codex Leningradensis); davon abweichende masoretische Varianten werden in der vorliegenden Arbeit nur dann ausdrücklich aufgeführt, wenn sie exegetisch relevant oder in irgendeiner Weise besonders auffällig sind. Die explizite Differenzierung zwischen masoretischer Textform einerseits und tiberischer Vokalisation und Akzentsetzung andererseits kann hier unterbleiben; strenggenommen wäre terminologisch zu unterscheiden zwischen der masoretischen Textform und ihrem tiberischen Subtypen (vgl. STIPP, Sondergut 3: ,JerMT' bzw. „Jer7T"; der Einfachheit halber spricht jedoch auch STIPP häufig vom MT, wenn dieser einschließlich der tiberischen Vokalisierung zitiert wird, ebd., vgl. Jeremia im Parteienstreit 13 Anm. 43). Zur Terminologie („Textform", „Texttyp" usw.) s. Kp. II. 23 Die Bezeichnung „Septuaginta" (LXX) wird in der vorliegenden Arbeit ausschließlich im engen Sinn für die ursprüngliche griechische Übersetzung, d.h. unter Ausschluß der jüngeren Rezensionen (kaige, Lukian, Origenes, Aquila, Theodotion, Symmachus u.a.), verwendet, entsprechend dem im englischsprachigen Raum gebräuchlichen Ausdruck „Old Greek". (Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs Septuaginta s. Tov, Textual Criticism 135-137.) Diese Abgrenzung ist insbesondere im Jeremiabuch dadurch gefordert, daß zwischen der ursprünglichen griechischen Übersetzung und den Revisionen wesentliche Unterschiede bestehen (vgl. unten Kp. II). Als Textausgabe dient die Rekonstruktion des LXX-Textes des Jeremiabuches durch J. ZIEGLER im Rahmen des Göttinger Septuagintaunternehmens (vgl. dazu die Evaluation bei SODERLUND, Greek Text 97-152), in zweiter Linie auch die Handausgabe der LXX von A. RAHLFS; die beiden Ausgaben werden bei Bedarf als L X X Z und LXX R voneinander unterschieden.

6

I.

Einleitung

ten fehlen in der LXX; hier beginnt die Sammlung ohne weitere Kennzeichnung mit dem ersten Text bzw. dessen Überschrift, und das Ende der Sammlung, zu welcher die Becherperikope (MT 25,15ff.) als Kapitel 32 gehört, wird lediglich durch die neue Überschrift in 33,1 sowie die neue Thematik (Tempelrede Jeremias, im MT Jer 26) angezeigt. Zwischen dem MT und der LXX bestehen im Hinblick auf die Stellung des Komplexes der Völkersprüche im Ganzen des Buches und die Reihenfolge der Sprüche im Innern der Sammlung augenfällige Unterschiede. Der Befund stellt sich folgendermaßen dar: (1) Dem ersten Hauptteil des Jeremiabuches (1,1-25,14), der im wesentlichen Unheilsweissagungen über Jerusalem und Juda enthält und mit einem Rückblick auf die Wirksamkeit Jeremias vom 13. Jahr Josias (627/6, 25,3) bis ins vierte Jahr Jojakims (605/4, 25,1) endet, folgt im MT die Becherperikope (25,15-38), in der Jeremia von JHWH beauftragt wird, verschiedenen Völkern bzw. deren Repräsentanten einen Becher mit Wein zu reichen, „daß sie trinken, taumeln und toll werden..." (25,16). Der Text nennt in V. 18-26 eine Reihe von Völkern, zu denen Jeremia mit dem Becher gesandt wird, und verbindet damit mehrere JHWH-Worte, die der Prophet auszurichten hat (V. 27ff.30f.32ff.). Ab Kapitel 26 schließt sich im MT ein zweiter Hauptteil an, der zur Hauptsache Erzählungen über Jeremia enthält und bis Kapitel 45, dem Heilswort für Baruch, reicht. Als dritter und letzter Teil vor dem historischen Anhang Kapitel 52 folgt schließlich der Komplex der Völkersprüche in Kapitel 46-51. Die LXX weist gegenüber diesem Aufriß zwei Unterschiede auf: Die Becherperikope (Kp. 32) ist mit dem Komplex der Völkersprüche (Kp. 26-31) direkt verbunden, indem sie unmittelbar auf diesen folgt, und die ganze Einheit findet sich nach dem ersten, dem MT mit Ausnahme von V. 14 entsprechenden Komplex (1,1-25,13) als zweiter großer Teil vor den Jeremiaerzählungen, die den dritten Teil des Buches darstellen (Kp. 33-51). Der MT und die LXX weisen also einen unterschiedlichen Gesamtaufriß auf: Während der LXX-Text im großen und ganzen entsprechend dem vom Jesaja- und Ezechielbuch bekannten „eschatologischen Schema" gegliedert ist, wobei die Völkersprüche und die Becherperikope miteinander verbunden sind, finden sich die Völkersprüche im MT am Schluß des Buches vor dem Anhang Kapitel 52, während die Becherperikope davon getrennt zwischen dem ersten und dem dritten Teil des Buches eingeordnet ist. Aus diesem unterschiedlichen Aufbau des Jeremiabuches im MT und in der LXX folgt in den beiden Fassungen eine unterschiedliche Zählung der Kapitel:

2. Die Völkersprüche

des

Jeremiabuches

LXX

MT I II III IV V

1,1-25,13 25,14 25,15-38 26-45 46-51 52

1

I

1,1-25,13

III IV II V

3224

33-51 25[,14]-31 52

(2) Neben der unterschiedlichen Stellung des gesamten Komplexes bieten der M T und die LXX die Sprüche über die einzelnen Völker in einer unterschiedlichen Reihenfolge: LXX 25, U f f . 2 5

M T 46ff. 1.

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

46 47 48 49,1-6 49,7-22 49,23-27 49,28-33 49,34-39 50f.

Ägypten Philister Moab Ammon Edom Damaskus Kedar und Hazor Elam Babylon

2. 4. 9. 6. 5. 8. 7. 1.

3.

26 29,1-7 31 30,1-5 (30,17-21) 29,8-23 (30,1-16) 30,12-16(30,29-33) 30,6-11 (30,23-28) 25,14-26,1 (25,14-20 2 6 ) 27f.

Durch den unterschiedlichen Gesamtaufriß des M T und der LXX und die unterschiedliche Reihenfolge der Völkersprüche liegt das Jeremiabuch in zwei verschiedenen Textformen mit je eigenen Charakteristika vor. Analog zur

24

LXX Z numeriert von V. 1 bis 24, während LXX R den Text dem MT entsprechend als V. 1538 zählt und an V. 13 anschließt, der eine MT 46,1 entsprechende Überschrift enthält, die nur der Codex Alexandrinus bietet und im Haupttext der LXX Z nicht wiedergegeben ist. 25 Die Angaben beziehen sich auf die Kapitel- und Verszählung von LXX Z ; in Klammern ist die Zählung von L X X r beigefügt, die vor allem in Kp. 29f. leicht abweicht, weil der PhilisterSpruch Kp. 29 analog zum MT 47 als eigenes Kapitel gezählt und mit dem Edom-Spruch Kp. 30 eröffnet wird, während in LXX Z der Edom-Spruch als 29,8-23 zu Kp. 29 gezogen wird. Die interne Reihenfolge der einzelnen Sprüche ist davon jedoch nicht betroffen. Bei Stellenangaben gilt in der vorliegenden Untersuchung folgende Regelung: Angaben ohne weitere Kennzeichnung (z.B. 46,3) beziehen sich im Normalfall auf den MT (gemäß BHS); wenn die abweichende Zählung der LXX mit angegeben wird, so folgt sie nach einem Schrägstrich der Stellenangabe des M T (z.B. 46/26,3 bei gleichem Vers, 49,23/30,12 bei ganz verschobener Numerierung). Nur um Zweideutigkeiten zu vermeiden, werden gelegentlich Stellenangaben die Abkürzungen MT oder LXX vorangestellt (z.B. MT 46,3, LXX 26,3). Bei der LXX wird um der Lesbarkeit willen darauf verzichtet, in jedem Fall die zwischen LXX Z und LXX R unterschiedlichen Zählweisen anzuführen; im Zweifelsfalle ist hier LXX Z maßgebend. 26 In LXX R existiert 26,1 nicht.

8

I.

Einleitung

Bezeichnung „masoretisch" für die Textform des maßgebenden hebräischen Textes wird diejenige der LXX nach deren wahrscheinlichem Ursprung häufig „alexandrinische" Textform genannt. 27 Offenbar liegen den beiden Textformen - zumindest im Blick auf die unterschiedliche Anordnung der Buchteile - verschiedene redaktionelle Konzepte zugrunde, die für das Veständnis der Völkersprüche von Bedeutung sind. Den damit aufgeworfenen Fragen wird deshalb im Zusammenhang mit der Redaktionsgeschichte der Völkersprüche des Jeremiabuches (Kapitel V) nachzugehen sein. Die (bis auf die Becherperikope 25,15-38/Kp. 32, die im MT in keiner direkten Beziehung zu den Völkersprüchen steht, während sie diese in der LXX abschließt) geschlossene Einordnung des Textkorpus an jeweils unterschiedlicher Stelle im Gesamtaufriß des Jeremiabuches zeigt jedenfalls, daß der Komplex als solcher von den Bearbeitern und Herausgebern des Buches als zusammengehörig betrachtet wurde, ja, ihnen in dieser Form möglicherweise schon vorlag.

3. Forschungsgeschichtlicher Überblick Die Völkersprüche des Jeremiabuches sind inhaltlich und formal mit denjenigen der anderen Prophetenbücher des Alten Testaments verwandt. Aus diesem Grund werden die Völkersprüche in der monographischen Literatur meist als eigene Gattung betrachtet und folgerichtig gemeinsam behandelt. 28 Die Untersuchung der Völkersprüche eines einzelnen Prophetenbuches kann von diesem elementaren Zusammenhang nicht absehen, ebensowenig von der Tatsache, 27 Vgl. zuletzt STIPP, Sondergut 3: „ J e r A I T ' . Zur Terminologie vgl. die präzisen Abgrenzungen ebd. 1-3. Um mögliche Mißverständnisse auszuschließen, sei auch d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß die Bezeichnungen „ L X X " und „ M T " nicht auf derselben Ebene liegen: M T bezeichnet eine Textform (im Gegensatz zur nichtmasoretischen - alexandrinischen - Textform), L X X dagegen einen Subtypen, wie er konkret in der LXX vorliegt und innerhalb der masoretischen Textform dem tiberischen Text entspricht. Die scheinbare terminologische Inkonsequenz der Gegenüberstellung von M T und LXX (statt M T und AIT bzw. Tiberischer Text und LXX) ist jedoch insofern gerechtfertigt, als die LXX für die Völkersprüche - anders als an anderen Stellen - die einzige Repräsentantin der alexandrinischen Textform ist. In der Literatur werden „ L X X " und „ M T " praktisch immer ohne methodische bzw. terminologische Reflexion verglichen (eine Ausnahme bildet STIPP, Sondergut 3). Die gelegentlich anzutreffende Formulierung, ein Textstück sei erst nach der Übersetzung der L X X in den M T gekommen (so z.B. LOHFINK, Der junge Jeremia 352 Anm. 6), beruht auf der Nichtunterscheidung bzw. Verwechslung von „Textform" und „Subtyp"; strenggenommen bildet nicht die Übersetzung, sondern das Auseinandergehen des alexandrinischen und des prämasoretischen Texttyps den terminus a quo (s. dazu Kp. II). Die Ausprägung der verschiedenen Textformen läßt sich nicht durch ihre Subtypen datieren; diese vermögen lediglich den terminus ad quem anzugeben, bis zu welchem spätestens mit der Verzweigung der Texttradition zu rechnen ist. Allgemein formuliert: Das Alter der Quelle und das Alter des von ihr bezeugten Texttyps hängen nicht direkt zusammen (vgl. Tov, Literary History 214). 28

So etwa SCHMERL, Völkerorakel, HAYES, Oracles, ders., Usage, MARGULIS, Oracles, CHRI-

STENSEN, T r a n s f o r m a t i o n s , H O F F M A N N , P r o p h e c i e s , H Ö F F K E N , B e g r ü n d u n g s e l e m e n t e .

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

9

daß die Erforschung der Völkersprüche ihrerseits wieder einen Teilaspekt innerhalb des weiteren Horizontes der Prophetenforschung darstellt. Da jedoch zu den letzteren beiden Fragenkreisen mehrere ausführliche forschungsgeschichtliche Darstellungen vorliegen, 29 kann sich der folgende Überblick auf die Nachzeichnung der Hauptlinien beschränken. Dabei soll so vorgegangen werden, daß das Hauptaugenmerk auf den jeremianischen Texten liegt und davon ausgehend die Querverbindungen zu den übrigen Völkersprüchen, deren Erforschung diejenige der jeremianischen Texte zunächst voran-, dann über weite Strecken parallel ging, sowie zur Entwicklung der Prophetenforschung im allgemeinen knapp gehalten und nur dann ausführlich hergestellt werden, wenn dies von der Sache her ausdrücklich gefordert ist, namentlich im Blick auf gattungs-, religions- und traditionsgeschichtliche Aspekte, die textübergreifend sind und sich deshalb nicht auf ein einzelnes Buch beschränken. Vollständigkeit kann im Blick auf die Fülle der Literatur 30 nicht angestrebt werden, doch sollen zumindest alle Positionen zur Sprache kommen, die in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht wesentliche Impulse vermittelten oder zu forschungsgeschichtlich neuen Konstellationen führten. Eine inhaltliche Auseinandersetzung wird in Kapitel IV zu führen sein. Die kritische Beschäftigung mit den Völkersprüchen des Jeremiabuches läßt - entsprechend der Entwicklung der exegetischen Methoden im allgemeinen und der Prophetenforschung im besonderen - mehrere Phasen mit unterschiedlichen Fragestellungen und Forschungsinteressen erkennen. In der ersten Phase, die - wie viele „moderne" Fragestellungen der Bibelwissenschaft - gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der neu entstehenden Literarkritik, einsetzte, wurde hauptsächlich nach der Echtheit der Texte, d.h. nach ihrer Verfasserschaft und Datierung, gefragt. Dieser Gesichtspunkt beherrschte die Diskussion der Völkersprüche während des 19. und bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein praktisch ausschließlich und ist auch in modernen Kommentaren bisweilen der einzige, der

29

Ausführliche Darstellungen der Forschungsgeschichte der Völkersprüche bieten HAYES,

O r a c l e s 1 4 - 3 8 , HÖFFKEN, B e g r ü n d u n g s e l e m e n t e 1 2 - 3 6 , CHRISTENSEN, T r a n s f o r m a t i o n s 2 - 6 u n d

jüngst FECHTER, Bewältigung der Katastrophe 3-16. Die wichtigsten Verwendungsweisen von Völkersprüchen in der Zeit vor der Schriftprophetie sind kurz und informativ zusammengefaßt in HAYES, Usage. Zur Prophetenforschung im allgemeinen sei nur verwiesen auf NEUMANN, Prophetenforschung, und die umfangreichen Literaturhinweise ebd. 1 Anm. 1. 30 FECHTER weist zu Recht auf eine Schwierigkeit einer sachgemäßen Darstellung der Forschungsgeschichte der Völkersprüche hin: Während nur relativ wenige Monographien der Untersuchung der Völkersprüche gewidmet sind, finden sich Thesen zu Entstehung und Funktion dieser Texte in zahlreichen Arbeiten mit anderen Fragestellungen (Bewältigung der Katastrophe 3f.). Dies hängt m.E. mit einem verbreiteten Vorurteil gegenüber den Sprüchen zusammen, die sich nicht an Israel und Juda, sondern an andere Völker richten und deshalb den israelitischen bzw. judäischen Propheten gerne a priori abgesprochen werden. Solcherart an den Rand des Forschungsinteresses gedrängt, kommen die Völkersprüche selten für sich, umso häufiger dafür im Zusammenhang mit übergeordneten methodischen Aspekten, etwa religions- oder redaktionsgeschichtlichen Fragestellungen, in den Blick.

10

I.

Einleitung

ausführlicher behandelt wird. Das Vorherrschen dieser Fragestellung drückt sich in Untersuchungen aus, die dem Stil der Völkersprüche gewidmet sind und deren Gemeinsamkeiten mit oder Unterschiede zu der übrigen Verkündigung und Theologie Jeremias erweisen sollen. Die im wesentlichen literarkritisch orientierte Phase der Arbeit an den Völkersprüchen des Jeremiabuches führte in methodischer Hinsicht zu einer Trennung der Kapitel 25; 46-49 auf der einen und 50f. auf der anderen Seite. Ein recht breiter Konsens wurde im Grundsatz für die Babelsprüche in Kapitel 50f., jedoch nicht für die übrigen Völkersprüche des Jeremiabuches erreicht; zu unterschiedlich waren und sind die Maßstäbe, an denen die Texte gemessen werden, und die Auffassungen von Amt und Aufgabe der alttestamentlichen Propheten, vor denen sie sich zu verantworten haben. Mit der sukzessiven Verschiebung des Schwerpunktes von der klassischen Literarkritik auf neue methodische Ansätze kamen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in mehreren Schüben 31 auch in der Untersuchung der Völkersprüche neue Fragestellungen ins Blickfeld, welche die literarkritische zunächst hilfreich ergänzten und schließlich überlagerten. Es handelt sich dabei um Versuche, die Völkersprüche gattungs-, religions- und traditionsgeschichtlich einzuordnen und mögliche Parallelen außerhalb der Prophetenbücher einerseits und in den altorientalischen Kulturen des Nahen Ostens andererseits aufzuweisen. Neben diesen Fragenkreis, der über das Jeremiabuch hinausweist auf den Kontext der Schriftprophetie bzw. der erzählenden Texte des Alten Testaments und der Religionsgeschichte, traten schließlich die Frage nach den innerjeremianischen Bezügen der Völkersprüche, dem Verhältnis zu Kapitel 1 und der Bezeichnung Jeremias als „Völkerprophet" sowie die redaktionsgeschichtliche Fragestellung, welche das Wachstum des Buches von ersten Quellen zum vorliegenden komplexen Sammelwerk untersucht und insbesondere die Rolle des Korpus der Völkersprüche bei diesem Prozeß analysiert. Diese Hauptphasen der Forschung an den jeremianischen Völkersprüchen waren außerdem begleitet von der Untersuchung des Textproblems im Jeremiabuch, das durch die Unterschiede zwischen dem hebräischen MT und dem griechischen Text der LXX gegeben ist. Aus der folgenden Darstellung kann diese Frage ausgeklammert werden, da ihr aus methodischen Gründen im Zusammenhang mit der Feststellung der Textgrundlage in Kapitel II eigens nachzugehen ist. Die folgende Darstellung ist um der Übersichtlichkeit willen zunächst nach sachlichen und erst in zweiter Linie nach chronologischen Gesichtspunkten gegliedert. Daß die verschiedenen Aspekte sich teilweise überlappen und gegenseitig beeinflussen, so daß eine eindeutige und konsequente Abgrenzung nicht in jedem Fall möglich ist und auch anders vorgenommen werden könnte,

31 Zum „Rhythmus" des Auftauchens der Völkersprüche in der Forschung vgl. FECHTER, Bewältigung der Katastrophe 4 und ebd. Anm. 20.

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

11

braucht im Hinblick auf die Interdependenz der methodischen Ansätze nicht hervorgehoben zu werden. 32 a) Die Phase der

Literarkritik

Unter den alttestamentlichen Völkersprüchen waren es zunächst die Babelsprüche des Jeremiabuches (Kp. 50f.), die aufgrund ihrer Eigenart das Interesse der Forschung weckten. J.G. Eichhorn vertrat in seiner Darstellung „Die hebräischen Propheten" von 1816/19 als erster die Auffassung, daß diese Texte nicht vom Propheten Jeremia, sondern aus der nachexilischen Zeit stammen. Eichhorn begründete dieses Urteil von seinem Gesamtverständnis alttestamentlicher Prophetie her, das in den Propheten Dichter sieht, die vergangenes Geschehen in poetischer Form darstellen. Insbesondere kommt keine Nation, mit der sich die Propheten beschäftigen, ins Blickfeld, bevor sie die Oberherrschaft über Asien und damit Einfluß auf das Schicksal Israels bzw. ludas erlangt hat. Da die Babelsprüche den durch die Perser herbeigeführten Untergang Babels zum Thema haben, diese jedoch den Schauplatz der Geschichte zur Zeit leremias noch nicht betreten hatten, können diese Texte nicht von leremia stammen. Vielmehr wurden sie später hinzugefügt, weil sie den Sturz der Babylonier betreffen, mit deren Herrschaft sich der größte Teil der jeremianischen Weissagungen beschäftigt hatte; so war eine Abrundung im Thema, das nunmehr vom Anfang bis zum Ende der babylonischen Herrschaft reichte, geschaffen. Die Babelsprüche wurden frühestens nach 510 v.Chr. verfaßt und stammen alle vom selben Verfasser. 33

Die von Eichhorn angeführte Begründung der nachjeremianischen Abfassung von Kapitel 50f. wurde in dieser Form kaum direkt übernommen, wohl aber das Unechtheitsverdikt als solches. Als K. Budde im Jahre 1878 die bis dahin ausführlichste Untersuchung der beiden Kapitel vorlegte, konnte er darauf hinweisen, daß eine große Zahl von Forschern in der Zwischenzeit dem Urteil Eichhorns gefolgt war; die prominentesten und einflußreichsten waren die Darstellungen der alttestamentlichen Propheten von A. Knobel (1837), H. Ewald (1841/1868) und E. Meyer (1863), die Einleitungen von A. Kuenen (1863) und Th. Nöldeke (1868) sowie die Darstellungen der Theologie der Propheten von H. Schultz (1869, 5 1896) und B. Duhm (1875). 34

32 Z u m methodischen Problem der Periodisierung und der Interdependenz der exegetischen Gesichtspunkte vgl. KRAUS, Historisch-kritische Erforschung 1. 33 EICHHORN, Propheten III, 255; vgl. II, 255 Anm. 2; Einleitung IV, 211. 34 BUDDE, Capitel 50 und 51, 429f. Als Bestreiter der Echtheit von Kp. 50f. im A n s c h l u ß an

E I C H H O R N n e n n t B U D D E a u ß e r d e m v . C Ö L L N ( 1 8 2 8 ) , GRAMBERG ( 1 8 3 0 ) , M A U R E R ( 1 8 3 5 ) , B U N -

SEN (1857/70). An der Echtheit hielten dagegen weiterhin fest: DAHLER (1825/30), KUEPER ( 1 8 3 7 ) , U M B R E I T ( 1 8 4 2 ) , HÄVERNICK ( 1 8 4 4 ) , NÄGELSBACH ( 1 8 6 8 ) , N E U M A N N ( 1 8 5 8 ) ,

GRAF

(1862), BLEEK (1870), KEIL (1872), bis auf 51,59-64 ROSENMÜLLER (1827). Spätere Überarbeitung eines ursprünglich jeremianischen Textes n a h m e n MOVERS (1837), HITZIG (1841), DE WETTE ( 1 8 6 9 ) , STÄHELIN ( 1 8 6 4 ) u n d G U T H E ( 1 8 7 7 ) an.

12

I.

Einleitung

Buddes eigene gründliche Analyse faßte die vorhergehenden z u s a m m e n und führte zu e i n e m gewissen A b s c h l u ß der Diskussion. G e g e n die j e r e m i a n i s c h e H e r k u n f t auch eines Kerns der Babelorakel sprechen die zahlreichen Entlehnungen aus anderen Prophetenbüchern (Deuterojesaja, Ezechiel, N a h u m , Habakuk), aber auch aus d e m Jerem i a b u c h selbst, die nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Sätze u n d Motive umfassen.35 Die Orakel w u r d e n von einem späten Schriftsteller verfaßt, der eine Weiss a g u n g „ e x p r o f e s s o " g e g e n B a b e l s c h r e i b e n w o l l t e u n d d a z u in d i e V o r l a g e a u s J e s 13 verschiedene j e r e m i a n i s c h e und andere prophetische Texte einarbeitete.36 Sie knüpf e n an d i e S y m b o l h a n d l u n g an, d i e in 5 1 , 5 9 - 6 4 w i e d e r g e g e b e n u n d i m G e g e n s a t z z u m R e s t d e r b e i d e n K a p i t e l h i s t o r i s c h z u v e r l ä s s i g ist. 3 7 Die Untersuchung

Buddes und seine mehr oder weniger

abschließende38

Feststellung der U n e c h t h e i t der B a b e l s p r ü c h e in Kapitel 50f. b e d e u t e t e f ü r die folgende

Forschung

eine

wesentliche

Weichenstellung.

Zwar

wurden

Kapitel seither mehrfach untersucht und neue Fragestellungen und

die

Gesichts-

punkte, die sich aus der fortschreitenden M e t h o d e n d i s k u s s i o n ergaben, eingebracht, doch wurde dadurch das Ergebnis Buddes nur unwesentlich

modifi-

ziert u n d i m g a n z e n bestätigt. D i e Echtheit der B a b e l s p r ü c h e w u r d e

danach

n u r n o c h v e r e i n z e l t v e r t r e t e n , 3 9 j e d o c h nicht m e h r in d i e s e r W e i s e g r u n d s ä t z lich diskutiert. D e m g e g e n ü b e r k a m es in b e z u g auf die V ö l k e r s p r ü c h e in K a p i t e l 4 6 - 4 9 nie zu einem breiten Konsens. A u c h hier w u r d e die Debatte nicht durch eine Spe-

35 BUDDE, Capitel 50 und 51, 432-456. Zwar ist ein strikter Beweis dafür, daß nicht einzelne Verse von Jeremia verfaßt sein könnten, nicht zu führen, doch können umgekehrt auch kaum Argumente dafür genannt werden, so daß von einer nichtjeremianischen Originalkomposition auszugehen ist (ebd. 461-468). 36 Ebd. 468-470. 37 Ebd. 552-562. 38 Von einer „endgültigen Entscheidung" bezüglich der Echtheitsfrage bei BUDDE spricht CORNILL 492. Auch die in den Jahren 1888 bzw. 1894 veröffentlichten ausführlichen Untersuchungen der Völkersprüche des Jeremiabuches von SCHWALLY und BLEEKER konnten davon ausgehen, daß zu Kp. 50f. das Wesentliche gesagt war und lediglich die Kp. 25; 46-49 noch zur Debatte standen (vgl. SCHWALLY, Reden 177; BLEEKER, Profetieén 3f. 198). 39 So etwa VON ORELLI 211, der es allerdings für möglich hält, daß die heutige Konzeption der Kapitel jünger ist als 587 und die Texte zusätzlich erweitert wurden; denkbar sei, daß Jeremia sie selbst zusammenstellte und seine Schüler aus ihrer Erinnerung weitere Texte hinzufügten, wodurch sich die Unebenheiten und Wiederholungen erklären. NÖTSCHER 301 hält die jetzige Gestalt von Kp. 50f. aufgrund ihrer Perspektive für spätexilisch, geht jedoch davon aus, daß der Sammlung Drohworte zugrundeliegen, die von Jeremia stammen. A m wahrscheinlichsten sei, daß „ein Späterer, vielleicht ein Schüler Jeremias, sich bemüht, im Geiste, im Sinne und auch im Stile des Meisters zu schreiben, wobei er naturgemäß die veränderten Zeitverhältnisse berücksichtigt" (332). Von 51,59-64 her hält es EISSFELDT für wahrscheinlich, daß Jeremia auch Drohungen gegen Babel geäußert hat (Jeremias Drohorakel 35); zu denken ist etwa an ein Wort wie 50,17-20 (ebd. 36-38). Mit der Möglichkeit, daß echte Gedichte Jeremias in Kp. 50f. erhalten sind, rechnet neuerdings auch wieder THOMPSON 73 lf., ohne sich jedoch imstande zu sehen, sie gegenüber späterem editorischem Kommentar und anonymem Material aus prophetischen Kreisen der Exilszeit abzugrenzen. Jedenfalls sieht er keinen Grund, die Texte nachexilisch zu datieren, sondern rechnet mit ihrer Abfassung vor 550, möglicherweise sogar vor dem Tode Nebukadnezars im Jahre 562.

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

13

zialuntersuchung eröffnet, sondern - wie diejenige über Kapitel 50f. von Eichhorn - durch eine Reihe von Beobachtungen, die mehr am Rande mitgeteilt w u r d e n . Aufgrund einer arabischen Legende bestritt im Jahre 1866 erstmals O. Blau die Echtheit auch der Kapitel 46-49; er schrieb sie - der an 49,28ff. anknüpfenden Legende folgend, die er für zuverlässig hält, da sie ältere jüdische Tradition aufnehme - Berechja b. Zerubabel (vgl. IChr 3,20) zu. 4 0 Die folgenden Argumente wurden von Blau angeführt: (1) Kapitel 46-49 unterscheiden sich deutlich von den übrigen Teilen des Jeremiabuches; sie sind „nichts als eine Blumenlese ziemlich allgemein gehaltener Drohsprüche gegen die Nachbarvölker", die wie eine „künstliche, schulmäßige Ausschmückung" der Becherperikope 25,15ff. wirken und insofern N a c h a h m u n g des jeremianischen Stils darstellen. (2) Die Stellung von Kapitel 46-49, die chronologisch vor Kapitel 36 gehören, widersprechen im M T jeglichem Redaktionsprinzip und sind auch in der LXX deutlich sekundär, da 25,17-26 ein syntaktisch und logisch schlechter Einschub ist. (3) Inhaltlich besteht zwischen Kapitel 46-49 und der echten Prophetie Jeremias ein Widerspruch, vor allem zu Kapitel 27. Während dort Jeremia die Völker zu freiwilliger Unterwerfung auffordert, haben die Völkersprüche nur ihre Ausrottung im Blick. (4) Die Weissagungen gegen M o a b (Kp. 48) stammen aus Jesaja, diejenigen gegen Edom (49,7-22) aus Obadja, und viele Wendungen sind aus jeremianischen und anderen Texten entwendet; daran wird „Mangel an Originalität" sichtbar. (5) In einer Reihe von Sprüchen fehlt die sonst bei Jeremia übliche Einleitungsformel. (6) Die gelegentlich an die Unheilsankündigung angehängten stereotypen Heilszusagen (46,26b; 48,47; 49,6; 49,39) brechen den Dichtungen die Spitze. (7) Die Völkersprüche sind arm an Gedanken und, was die Grundlage für die Weissagungen betrifft, dürftig an Tatsachen, so daß der Eindruck entsteht, daß der Verfasser weder über historische noch über geographische Kenntnisse verfügte. Diese Schwierigkeiten lösen sich, wenn man annimmt, daß die Völkersprüche von einem späteren Verfasser stammen, der „in der Weise Jeremias, vielleicht selbst schon unter dessen N a m e n " das Bild vom Taumelbecher (25,25) weiter ausführte und so eine Reihe von Texten schuf, die nicht für eine konkrete Anwendung, sondern für die „dichterische Übung" gedacht waren. 41 Blaus eigene Hypothese bezüglich der Entstehung der Völkersprüche des J e r e m i a b u c h e s k o n n t e sich z w a r n i c h t h a l t e n ; 4 2 d i e f ü r d i e U n e c h t h e i t v o r g e b r a c h t e n A r g u m e n t e w i r k t e n j e d o c h in d e r w e i t e r e n F o r s c h u n g v i e l f ä l t i g n a c h . E i n e a n d e r e f r ü h e S t i m m e , d i e in d i e s e l b e R i c h t u n g w i e s , w a r d i e j e n i g e v o n W. Vatke. Er vertrat die A u f f a s s u n g , daß die V ö l k e r s p r ü c h e einander so nahe v e r w a n d t s i n d , d a ß sie alle v o m s e l b e n V e r f a s s e r s t a m m e n m ü s s e n , j e d o c h v o n der F o r m und A n s c h a u u n g s w e i s e des Propheten - trotz einiger jeremianischer 40

Blau, Benu-Hadür 172f. Ebd. 173f. 42 Die These BLAUS wird - so weit ich sehe - außer bei SCHWALLY, Reden 216, und HITZIG 353 nirgends auch nur erwähnt. Ersterer bemerkt dazu mit Recht, daß der Schluß von einer arabischen Legende methodisch problematisch ist: „Wer mit der Genesis der Legendenlitteratur vertraut ist, weiß, daß nicht einmal im Judenthum, geschweige denn im Bereiche des Islam glaubwürdige geschichtliche Traditionen über kanonische Schriften des Alten Testaments vorhanden sind." (Reden 216) 41

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/.

Einleitung

E l e m e n t e - so v e r s c h i e d e n seien, d a ß sie nicht von J e r e m i a s t a m m e n k ö n n e n . Sie seien d e s h a l b e i n e m Z e i t g e n o s s e n J e r e m i a s z u z u w e i s e n . 4 3 Das Korpus der Völkersprüche im Jeremiabuch, Kapitel 46-51 unter Eins c h l u ß v o n Kapitel 25, w u r d e als G a n z e s e r s t m a l s i m J a h r e 1888 von F. S c h w a l l y kritisch u n t e r s u c h t . D i e s e A r b e i t n e n n t p r a k t i s c h alle F r a g e s t e l l u n gen, die i m V e r l a u f e d e r w e i t e r e n F o r s c h u n g von B e d e u t u n g w a r e n u n d bis in die G e g e n w a r t hinein sind, s o w i e e i n e R e i h e von A r g u m e n t e n , w e l c h e a u c h in d e r F o l g e i m B l i c k auf d i e V e r f a s s e r s c h a f t dieser Texte i m m e r w i e d e r vorgeb r a c h t w u r d e n u n d w e r d e n . In s e i n e m A u f s a t z f a ß t S c h w a l l y n i c h t n u r die g e n a n n t e n älteren Versuche, sich d e m P h ä n o m e n d e r V ö l k e r s p r ü c h e i m Jerem i a b u c h ü b e r e i n z e l n e A s p e k t e a n z u n ä h e r n , z u s a m m e n , s o n d e r n stellt seine e i g e n e A r b e i t m e t h o d i s c h i n s o f e r n auf eine n e u e G r u n d l a g e , als er d i e einzelnen F r a g e s t e l l u n g e n in ihrer K o m p l e x i t ä t und I n t e r d e p e n d e n z e r k e n n t u n d b e h a n d e l t . D i e s gilt i n s b e s o n d e r e f ü r die F r a g e n a c h d e m Verhältnis v o n K a p i tel 2 5 z u m K o r p u s K a p i t e l 4 6 - 5 1 , die sich d u r c h die u n t e r s c h i e d l i c h e n Textf a s s u n g e n i m M T u n d in d e r L X X , vor a l l e m die u n t e r s c h i e d l i c h e S t e l l u n g d e s K o m p l e x e s d e r V ö l k e r s p r ü c h e u n d d e r e n d i f f e r i e r e n d e R e i h e n f o l g e , stellt. 4 4 Die Analyse von Kapitel 25, mit der Schwally die Untersuchung einleitet, ergibt, daß die Perikope 25,1-14 von einem Redaktor stammt, der am Schluß der Weissagungen Jeremias, die er in die Zeit vom 13. Jahr Josias bis ins 4. Jahr Jojakims datierte, „die Quintessenz derselben, doch ohne eindringendes Verständniß, in möglichster Anlehnung an die Diction des Propheten in Form eines Orakels zusammenfaßte" (183f.). Die Becherperikope 25,15-38 stellt einen Index zum Korpus der Völkersprüche dar, der stehenblieb, als dieses von seinem ursprünglichen Ort entfernt wurde; die Stellung der Völkersprüche in der LXX ist somit die ältere (189f.). Der Index, der - von kleineren Zusätzen abgesehen - im MT und in der LXX identisch ist, weicht jedoch in bezug auf die Reihenfolge der einzelnen Völker sowohl vom hebräischen als auch vom griechischen Text der Völkersprüche ab. Daraus kann geschlossen werden, daß dem Verfasser des Indexes nur diejenigen Sprüche vorlagen, welche jenem und dem Korpus gemeinsam sind (Ägypten, Philistäa, Edom, Moab, Ammon, Dedan, Elam), während die übrigen (Damaskus, Kedar, Hazor) erst nach der Abfassung des Indexes hinzukamen. Weitere in V. 18ff. folgende Namen stammen entweder vom Verfasser des Indexes oder noch wahrscheinlicher von einem späteren Ergänzer, der um den Zusammenhang zum Korpus der Völkersprüche nicht mehr wußte. Für die Frage der ursprünglichen Reihenfolge der Sprüche bietet ebenfalls der Index den sichersten Anhaltspunkt (190). Die entscheidende Frage ist jedoch für Schwally, ob die Gedanken, die in den Kapiteln 46-49 begegnen, als jeremianisch bezeichnet werden können; darin liegt das Hauptkriterium für die Beurteilung der jeremianischen Abfassung der Völkersprüche. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Gottesvorstellung: Die Völkersprüche präsentieren durchgängig einen „Rachegott, welcher die Heiden unabänderlichem Untergang geweiht hat"; sie beinhalten nur Vernichtungsandrohungen, jedoch keine Bußpredigten, ohne welche die alttestamentliche Prophetie undenkbar ist (204f.). Uberhaupt ist 43

VATKE, E i n l e i t u n g 6 3 7 .

44

Die folgenden Stellenangaben in Klammern beziehen sich auf SCHWALLY, Reden.

5. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

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es von der Aufgabe und der Wirksamkeit der Propheten her undenkbar, daß Jeremia sich in dieser Art an Nachbarvölker gewandt haben könnte. In der zunehmenden Krise des Staates Juda steht er dem König und seinen Beamten, dem Volk und den anderen Propheten gegenüber und erschließt im Blick auf die Konstellation Vorderasiens die Pläne JHWHs. Daß er andere Nationen mit dem Untergang bedroht, dazu ohne die Situation in seinem eigenen Land zu reflektieren, widerspricht der zeitgeschichtlichen Funktion der Propheten und „den Gesetzen alles menschlichen Geisteslebens"; von daher ist an eine Zeit zu denken, in welcher Juda kein unabhängiger Staat mehr war. Wenn Amos fremde Völker mit dem Untergang bedroht, dann mit der ausdrücklichen Begründung, daß sie sich gegen sein Volk vergangen haben. Das in Jer 46-49 zugrundeliegende Motiv jedoch ist der Gegensatz zwischen dem Volk Israel und den Gojim als solcher, ein Thema, das sich erst im Exil ausprägt. Ebenso weist die Tatsache, daß der Verfasser von den konkreten Verhältnissen jener Völker nichts mehr weiß, sich vielmehr „in den allgemeinsten Phrasen ergeht", in eine spätere Zeit und läßt „auf einen Dichter schließen, der nur auf Grund abstracter dogmatischer Reflexionen arbeitete" (205f.). Ein schwerwiegendes Argument gegen die Echtheit der Völkersprüche in Kapitel 46-49 stellt ihr „schriftstellerischer Charakter" dar. „Während der echte Jeremia klar und ruhig entwickelt, sind diese Capitel unruhig und verworren, voll Wiederholungen, ohne jede Disposition. Ein jedes Orakel könnte an beliebiger Stelle abgebrochen werden, ohne daß ein Gedanke verloren ginge." Alle Völkersprüche - mit Ausnahme der sekundären Partien - werden von einem einzigen Gedanken beherrscht: In unzähligen Variationen, aber dennoch stereotyp ist von der Vernichtung der Heiden die Rede, und verschiedene Ausdrücke für „Verwüsten, Fliehen, Wehklagen" bestimmen den Wortschatz (206f.). Im weiteren sprechen gegen die Echtheit der Völkersprüche die umfangreichen Entlehnungen, denn „diese können einem Schriftsteller wie Jeremia nicht zur Last gelegt werden. Sie verweisen in die Zeit der reproducirenden prophetischen Schriftstellerei, der nicht nur die Gedanken der Prophetie, sondern auch ihre äußere Form auctoritativ und göttlich erschienen. Es ist dabei das Wort Gottes in einer Weise unlebendig und eine äußere Auctorität geworden, wie man das von der älteren Prophetie, soweit wir ihre Litteratur überschauen, nicht voraussetzen kann." (213) Die Frage nach dem Verfasser der Völkersprüche kann Schwally nicht genauer beantworten; möglicherweise handelt es sich um mehrere (216). M i t dieser K l a s s i f i z i e r u n g d e r V ö l k e r s p r ü c h e d e s J e r e m i a b u c h e s als z u n ä c h s t nicht n ä h e r spezifiziert - un- bzw. n a c h j e r e m i a n i s c h w a r w i e d e r u m eine W e i c h e n s t e l l u n g v o r g e n o m m e n w o r d e n , w e l c h e j e d o c h i m G e g e n s a t z zu d e n E r g e b n i s s e n B u d d e s , die in b e z u g auf K a p i t e l 5 0 f . breite A n e r k e n n u n g g e f u n d e n h a t t e n , d i e f o l g e n d e F o r s c h u n g deutlich in z w e i L a g e r spaltete. A u f d e r e i n e n Seite stehen die Vertreter der nicht- bzw. n a c h j e r e m i a n i s c h e n A b f a s s u n g ; sie g e h e n - i m w e s e n t l i c h e n S c h w a l l y f o l g e n d u n d seine A r g u m e n t a t i o n direkt o d e r i n d i r e k t a u f n e h m e n d u n d w e i t e r f ü h r e n d - d a v o n aus, d a ß d i e V ö l k e r s p r ü c h e als s o l c h e g r u n d s ä t z l i c h nicht v o m P r o p h e t e n selbst s t a m m e n k ö n nen, a u c h nicht ein Kern. U n t e r den Vertretern d i e s e r „ N u l l p o s i t i o n " lieferten B. D u h m u n d P. Volz in ihren J e r e m i a - K o m m e n t a r e n 4 5 d i e g r ü n d l i c h s t e n U n t e r s u c h u n g e n u n d die g e s c h l o s s e n s t e n E n t w ü r f e (1). A u f d e r a n d e r e n Seite findet sich die ü b e r a u s i n h o m o g e n e G r u p p e d e r j e n i g e n Forscher, w e l c h e d i e

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I. Einleitung

Möglichkeit, daß Jeremia selbst Sprüche gegen fremde Völker verfaßt haben könnte, nicht a priori ausschließen und deshalb die Sammlung der Völkersprüche differenziert betrachten. Ihr Urteil darüber, wieviel im jetzt vorliegenden Korpus von Jeremia stammt und welches die Funktion dieser Texte ist, geht teilweise weit auseinander und verdankt sich unterschiedlichsten Kriterien und Argumenten. Hier können je nach Umfang der als echt beurteilten Teile etwas vereinfachend (2) eine „Mittel-", (3) eine „Minimal-" und (4) eine „Maximalposition" unterschieden werden, deren Grenzen allerdings fließend sind. (1) Die Jeremia-Forschung empfing durch den Kommentar B. Duhms aus dem Jahre 1901 wesentliche Impulse. Seine Analyse des Buches, die zwischen prophetischen Gedichten Jeremias, dem Buch des Baruch und späteren Ergänzungen zu beiden unterschied, 46 hat sich in der durch S. Mowinckel 47 weitergeführten und verfeinerten Fassung - nicht zuletzt durch den JeremiaKommentar von W. Rudolph aus dem Jahre 1947 ( 3 1968) - mehr oder weniger durchgesetzt und zum Status quo entwickelt. Den Komplex der Völkersprüche ordnet D u h m als „Komplement der positiven H o f f n u n g " bzw. der messianischen Verheißungen unter den „Ergänzungen zu den Schriften Jeremias und Baruchs" ein (XVII bzw. XX). Hatte er als Merkmal für die echten Dichtungen Jeremias deren Versmaß - Vierzeiler mit abwechselnd drei und zwei Hebungen - und poetische Diktion erkannt (XII), 4 8 so hebt sich der Stil der Völkersprüche deutlich davon ab. Das Bild des Propheten, das die Texte vermitteln, hat mit demjenigen der echten Dichtungen und auch der Baruch-Biographie kaum etwas gemeinsam. Als „ein Automat, der immer wieder dieselben ärmlichen Gedanken und Redensarten, ob sie passen oder nicht passen, von sich giebt", ist er „kein Prophet, sondern ein Thoralehrer, ein Schriftgelehrter, wie die Ergänzer selber, der wohl Zukunftsenthüllungen - vaticinia ex eventu - , aber keine neue Offenbarung über Gott 45 Für DUHMS Einordnung der Völkersprüche als sekundäre Zusätze zum Jeremiabuch ist gegen HÖFFKEN, Begründungselemente 12 - nicht die „Theologie der Propheten" von 1875 maßgebend. Zwar scheint es konsequent, daß die berühmte und folgenschwere These Duhms, wonach die vorexilische Schriftprophetie reine Unheilsprophetie war, die grundsätzliche Unechtheit der Völkersprüche impliziere, wobei unterstellt ist, daß die Verkündigung von Unheil für die Völker Heil für Israel bedeute und deshalb nicht vom Unheilspropheten herrühren könne (HÖFFKEN, ebd.). Doch hat DUHM selbst diese Konsequenz 1875 nicht gezogen und die Texte in Kp. 46-49 mit der i/n/IEI/sverkündigung Jeremias in Verbindung gebracht, die schon in der Urrolle aus dem Jahre 604 niedergeschrieben wurde (Theologie 233). Die Einbeziehung der Völker in das Unheil entspringt nach DUHM einem systematischen Gedanken, den die früheren Propheten so nicht gekannt hatten: daß JHWH, der die ganze Erde erschaffen hat, die Weltgeschichte nach seinem Plan lenkt (ebd. 249). Darin kommt eine „Ahnung von der zum Begriff der höchsten Religion nothwendigen Universalität" zum Ausdruck (ebd.; Hervorhebung im Original). Erst im Jeremia-Kommentar, ein Vierteljahrhundert später, hat DUHM mit dieser Position radikal gebrochen und die nachjeremianische Abfassung auch von Kp. 46-49 vertreten. 46 DUHM X-XX. Die in der folgenden Zusammenfassung im Text in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich ebenfalls auf den Jeremia-Kommentar. 47

48

MOWINCKEL, K o m p o s i t i o n .

Jeremia gilt ihm als „geborener Dichter" und „Lyriker" (XII), wogegen Prosa und Halbprosa mit Sicherheit nicht auf ihn selbst zurückzuführen sind (VII).

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

17

bringt, der auf Grund der längst abgeschlossenen Offenbarung Seelsorge übt..." (XVIII). 49 Wie die messianischen Verheißungen gehören die Völkersprüche zu den jüngsten Teilen des Jeremiabuches, die nicht vor dem Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. in einem separaten Büchlein gesammelt wurden, das, wie der Vergleich zwischen der hebräischen und der griechischen Fassung zeigt, noch jüngere Zusätze aufweist, ja niemals fertig wurde (XXf.). Dem entspricht, daß die Texte einen „theoretischen Universalismus" vertreten, wie er in den kanonischen und pseudepigraphischen Apokalypsen ausgebildet wurde (XIX). Angeregt wurde die Abfassung der Völkersprüche durch die Becherperikope 25,15ff. (XXI), die jedoch ebenfalls nicht vom Propheten Jeremia stammen kann, da dieser trotz 1,5 kein Prophet für die Völker, sondern nur für das eigene Volk war (203). Wenngleich die Sprache der Völkersprüche bisweilen (z.B. in 46,2-12) „poetisierend" ist, weist sie - wie häufig die nachexilische Prophetie - kein bestimmtes Versmaß auf und ist daher offen für Entlehnungen. An solchen sind die Völkersprüche reich; sie entpuppen sich dadurch als junge Kunstprodukte (337 u.ö.). A n d i e B e z e i c h n u n g J e r e m i a s als V ö l k e r p r o p h e t in 1,5.10 k n ü p f t a u c h d e r A r g u m e n t a t i o n s g a n g i m J e r e m i a - K o m m e n t a r von P. Volz ( 1 9 2 2 , 2 1 9 2 8 ) an. Anders als Duhm bestreitet Volz nicht, daß Jeremia sich so bezeichnet habe. Jedoch ist diese Kennzeichnung nicht in dem Sinne zu verstehen, daß Jeremia besondere Weissagungen für die Völker erhalten und ausgesprochen habe, sondern als Bezeichnung für den „Propheten des Weltgottes, dessen Walten und Worte die ganze Welt angehen und dessen Bote die Geschicke Judas innerhalb der Völkergeschichte zu verkündigen und mit diesem Augenmaß zu betrachten hat" (379, Hervorhebungen im Original). Im übrigen Buch ist Jeremias Standpunkt immer innerhalb des eigenen Volkes, und wenn er die Völker einbezieht, dann nur, um ihr Schicksal mit demjenigen seiner Zuhörer in Verbindung zu bringen, ähnlich wie die Reden Jesajas über Assur immer zugleich Jerusalem unmittelbar betrafen. Die Art und Weise dagegen, wie die Völkersprüche des Jeremiabuches JHWH als absoluten Herrn und Gebieter über die Welt und über die Weltmächte bezeichnen und das Gericht über die Großstaaten zugleich als Gericht über die heidnischen Götter darstellen, erinnert stark an die Zeit Deuterojesajas (380). In anderer Hinsicht dagegen, in bezug auf die „religiösen und ästhetischen Werte", zeigen die Texte einen Rückschritt hinter die alte Schriftprophetie: Keiner der großen Propheten des 8. und 7. Jahrhunderts hätte sich so eingehend mit Orakeln über die Völkerwelt befaßt, da sie zu sehr von der Not ihres eigenen Volkes ergriffen waren. Diese ungewöhnliche Akzentsetzung erweist den Verfasser von Kapitel 46ff. als einen Prophetenschüler, dessen religiöse Vorstellungswelt - trotz des erhabenen Gottesbegriffs - nicht mehr die „geläutert prophetische" ist (380). Dieses Urteil wird durch den Stil der Völkersprüche - Gestaltungskraft und Plattheit, bedeutende und unbedeutende Bilder stehen nebeneinander, der Anschluß an prophetische Vorlagen ist offensichtlich - bestätigt (380).

49 Diese Darstellung Jeremias entspricht nach DUHM dem Bild, das sich die späteren Juden von den Propheten machten: Als göttliche Bevollmächtigte über alle Welt war ihr Wort richtend, zerstörend und schaffend wie das göttliche Wort selbst, sie selbst jedoch mehr „Vehikel der göttlichen Mitteilungen" und „unlebendige Schemen". Dieses Prophetenbild ist nicht von Jeremia, sondern von Ezechiel beeinflußt (XVIII). 50 Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Kommentar.

18

I. Einleitung

Der Versuch, einzelne Stücke innerhalb der Sammlung Jeremia zuzuschreiben, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, da diese als Ganzes entstanden ist und als Ganzes steht und fällt. Weshalb sie an das Jeremiabuch angehängt wurde, ist nicht bekannt; jedoch müssen noch die Schriftgelehrten, welche Kapitel 1-25 und 26ff. zusammenstellten und dabei die Völkersprüche an das Ende setzten, gewußt haben, daß diese Texte nicht von Jeremia stammten (381). Als Abfassungszeit erscheinen die Jahre 560-550 am wahrscheinlichsten. Der Tod Nebukadnezars im Jahre 562 mag dabei eine wichtige Rolle gespielt haben, indem er „einen ahnungsvollen Dichter zu der Vorstellung des Hinsterbens der alten Welt, des Gerichts über den Orient" führen konnte. Der Verfasser der Völkersprüche sah in den Medern bzw. Persern das neue Weltreich aus dem Norden, wenngleich er die genaue Identifizierung offenließ (383f.). Ganz anders als Duhm schätzt Volz auch die Qualität der Völkersprüche ein. Obwohl deren Verfasser von seinen Vorlagen, insbesondere Arnos, Jesaja, Zephanja, Jeremia, Ezechiel und Obadja, stark abhängig ist, wobei manche Parallelen als zusätzliche sekundäre Überarbeitungen einzustufen sind, ist er dennoch „ein Dichter von geistiger Kraft und Ursprünglichkeit." Die Gedichte sind künstlerisch gestaltet und fein durchdacht: „Der ganze Aufriß der Sammlung, die lebendige Art, von Jahwe zu reden, die dramatische Kunst im Aufbau und Wechsel der Szenen, die Stimmen handelnder und leidender Personen, die man überall hört, die Beschreibung der kriegerischen Aufmärsche, die Fülle geistreicher und packender Bilder sind Beweis genug." (388f., Hervorhebungen im Original). Anders als etwa Schwally kann Volz auch die Theologie der Völkersprüche nicht negativ beurteilen. Aus dem Gedichtbuch spricht „die Persönlichkeit eines kraftvoll religiösen, geistig bedeutenden, vornehm gesinnten Mannes. Sein Gott ist über alle Welten erhaben und doch zugleich außerordentlich lebendig". Die Texte bezeugen die „starke Religiosität", „gelehrte Bildung" und „männliche Kraft" des Verfassers, die in allem „vornehm und ruhig" bleibt: Es findet sich kein gehässiges Wort über Edom, nur kurzer, verdienter Spott über Moab, und die Anklage gegen Babel ist - im Gegensatz etwa zu Ez 25,1-7; 35; Ps 137,7-9; Jes 25,10-12; Zeph 2,9f. u.a. - bewegt. „Als Dichter und als Persönlichkeit darf unser Verfasser den edlen Gestalten des Judentums zugezählt werden, und wir freuen uns, mit diesem ,Deuterojeremia' einen weiteren charaktervollen Vertreter der exilischen Gemeinde neben Ezechiel und Deuterojesaja gefunden zu haben." (390, Hervorhebungen im Original). D i e „ N u l l p o s i t i o n " , w o n a c h d i e V ö l k e r s p r ü c h e d e s J e r e m i a b u c h e s insges a m t nicht v o m P r o p h e t e n J e r e m i a s t a m m e n , s o n d e r n späteres o d e r g a r spätestes G u t darstellen, f a n d - vor u n d n a c h den w e i t e r f ü h r e n d e n V o r s c h l ä g e n von D u h m u n d Volz - z a h l r e i c h e A n h ä n g e r . 5 1 A u f g e n o m m e n w u r d e sie - allerd i n g s in d e u t l i c h e r A b g r e n z u n g g e g e n ü b e r d e r A r g u m e n t a t i o n S c h w a l l y s s c h o n v o n R . S m e n d (sen.): J e r e m i a h a b e sich selbst als P r o p h e t e n ü b e r die H e i d e n v e r s t a n d e n (1,5.20; vgl. K p . 27); er sei dies n a c h d e r S c h l a c h t von K a r k e m i s c h g e w o r d e n . D e r K e r n von K a p i t e l 25 k ö n n e i h m - g e g e n S c h w a l l y

51 Der Argumentation VOLZENS schließt sich ROST - gegen die ersten Auflagen der „Einleitung" von SELLIN - an (Einleitung 115). STADE vertritt nachdrücklich die Gültigkeit der Argumente SCHWALLYS, die seine eigenen früheren Ergebnisse bestätigen, wenn er in einer kurzen Notiz zu Kp. 25 CORNILL vorwirft, die von j e n e m genannten Gründe zu wenig ernstzunehmen (Bemerkungen 290f.).

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

19

- nicht abgesprochen werden. Die Weissagungen in Kapitel 46-49 dagegen stammten nicht von Jeremia: Kapitel 46, weil Jeremia unmöglich in derart national-jüdischem Sinn über die Niederlage der Ägypter habe triumphieren können, Kapitel 47-49, weil sie „ihrem Geiste nach ... ihm völlig fremd" seien, wenn auch ihr Kern aus dieser Zeit stammen könnte. 52 In neuster Zeit vertritt die „Nullposition" wieder D.R. Jones, der auch die Völkersprüche des Jesaja- und des Ezechielbuches für unecht hält. Im Blick auf das baldige Ende der Prophetie und das Fehlen von Hinweisen auf die persische Herrschaft seien jedoch die Völkersprüche des Jeremiabuches nicht nach dem Fall Babels zu datieren. Vielmehr handle es sich dabei um ein Genre, das - in prophetischer, insbesondere jeremianischer Tradition - zwischen dem Fall Jerusalems und dem Aufstieg des persischen Reiches in denjenigen prophetischen Kreisen gepflegt worden sei, die auch für die Threni verantwortlich sind. Jones hält eine Verwurzelung im Laubhüttenfest für möglich, da dort das Motiv von der Königsherrschaft JHWHs über alle Nationen lebendig war. 53 (2) Eine gründliche kritische Auseinandersetzung mit der Position Schwaig s führte C.H. Cornill in seiner Einleitung von 1891 ( 7 1913). Daß 25,1-14 „bis zur völligen Unkenntlichkeit des ursprünglichen Sinnes überarbeitet" ist, gesteht er bereitwillig ein, ebenso, daß die gegen 25,30-38 vorgebrachten Argumente von Gewicht sind; den Kern der Becherperikope hält er jedoch für echt. Überhaupt sei im Jeremiabuch a priori mit Reden gegen die Heiden zu rechnen, da „kein anderer Prophet so von Anfang an das Gefühl hat, mit seinem Auftrage auch an die Völker außerhalb Israels gesandt zu sein" wie Jeremia (1,5.10; 36,2; 18,9ff.; vgl. auch 27,2ff.); der Umstand, daß die Sammlung in 46-49 die Ausführung des in 25,15-29 an Jeremia ergangenen Befehles, den Völkern den Zornbecher zu reichen, darstellt, spreche grundsätzlich für deren Echtheit. 54 Das Urteil über die Echtheit der Völkersprüche ist allerdings zu differenzieren. Zunächst ist das Elam-Orakel (49,34-39) aufgrund seiner Überschrift, die es in die Zeit Zedekias datiert, gesondert zu behandeln, da es sicher nicht in der Urrolle gestanden haben kann. Die gegen die sieben verbleibenden Orakel vorgebrachten Argumente sind für Cornill nicht stichhaltig; die Orakel sind nur vor der Zerstörung Jerusalems, sogar vor dem Ende der Regierung Jojakims verständlich. Schwallys Hauptargument, der die Heiden vernichtende Rachegott und absolute Herr der Welt entspreche nicht der Gottesvorstellung des übrigen Jeremiabuches, wird ausdrücklich abgelehnt: Von Rache ist nur einmal und inhaltlich begründet die Rede (46,10), und die Gottesvorstellung entspricht durchaus derjenigen von Jer 10,5ff.; 18,4ff. Die Abhängigkeit von anderen prophetischen Texten erklärt sich daraus, daß es sich bei den Orakeln - mit Ausnahme des Ägypten-Orakels, das sich durch „besondere Kraft der Sprache und die 52

S M E N D , R e l i g i o n s g e s c h i c h t e 2 3 8 A n m . 1.

53

JONES 4 8 8 - 4 9 0 .

54 CORNILL, Einleitung 168f. (benutzt wurde die 3./4., völlig neu bearbeitete Auflage von 1896); so auch Jeremia 441.

20

I.

Einleitung

plastische Klarheit der darin geschilderten Situation auszeichnet" und keinerlei Anklänge an andere Texte enthält - um rein literarisch-rhetorische Produkte handelt, die sich nicht auf eine bestimmte historische Situation beziehen; Jeremia hat sich deshalb hier an „altbewährte prophetische Muster" angelehnt. Wenn die Orakel auch möglicherweise stark erweitert sind, so ist doch der Grundstock der Reden authentisch, unter dem Eindruck der Schlacht von Karkemisch niedergeschrieben und bereits in der Urrolle gesammelt worden. Nur das Orakel über Elam (49,34-39) und das zweite Orakel über Ägypten (46,13-26) standen nicht in der Urrolle, sondern stammen aus der letzten, ägyptischen Zeit Jeremias und sind ebenfalls als echt zu beurteilen. 55

Cornills Standpunkt, der mit (unterschiedlich umfangreichen) Überarbeitungen und gelegentlich auch insgesamt unechten Orakeln in den Völkersprüchen rechnet, an der Echtheit des Kerns der meisten Orakel und an der Authentizität der Becherperikope 25,15-38 dagegen festhält, stellt in bezug auf die jeremianische Verfasserschaft die „Mittelposition" dar. Diese wurde in der Dissertation von L.H.K. Bleeker aus dem Jahre 1894 aufgenommen und ausführlich begründet, ohne allerdings in methodischer oder inhaltlicher Hinsicht wesentlich darüber hinauszuführen. 56 Cornill selbst veröffentlichte seine Rekonstruktion der echten Teile der jeremianischen Völkersprüche in der Textausgabe „The Sacred Books of the Old Testament"; 57 im Kommentar aus dem Jahre 1905 schied er - vor allem mit Hilfe des Kriteriums der Metrik - noch rigoroser zwischen echten Teilen und späterer Erweiterung. 58 Die „Mittelposition" wird auch von der Mehrheit der Jeremia-Kommentare und Monographien sowie der Einleitungen in das Alte Testament dieses Jahrhunderts vertreten. Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß die Völkersprüche im Kern auf Jeremia zurückgehen, jedoch mehr oder weniger umfangreich bearbeitet und erweitert wurden und ihre jetzige Form späterer Sammlung und Redaktion verdanken. 59 Als besonders stark überarbeitet gelten vor allem wegen ihrer deutlichen Abhängigkeit von der älteren prophetischen Literatur - wie bereits Cornill festgestellt hatte - die Sprüche über Moab (Kp. 48) und Edom (49,7-22); als insgesamt unecht werden gelegent55

CORNILL, E i n l e i t u n g 170f.

56

BLEEKER, P r o f e t i e e n .

57

CORNILL, The Book of Jeremiah. CORNILL 441. Insbesondere und charakteristischerweise hält CORNILL nur das Moab- (Kp. 48) und das Edom-Orakel (49,7-22) für ausgesprochen stark überarbeitet, und als Ganzes sind nur die Orakel über Damaskus (Kp. 47) und über Kedar (49,28-33) unecht, während die Erweiterungen der übrigen Orakel nicht über das hinausgehen, was sich auch sonst an sekundärem Gut im Jeremiabuch findet (ebd. 443). 59 So - mit zahlreichen Unterschieden in den Einzelheiten - etwa die Jeremia-Kommentare 58

v o n H I T Z I G , GRAF, N Ö T S C H E R , R U D O L P H , W E I S E R , B R I G H T , N I C H O L S O N , S C H R E I N E R , T H O M P SON, HOLLADAY, H U E Y , d i e M o n o g r a p h i e n v o n E R B T , J e r e m i a , HAYES, O r a c l e s , HAY, O r a c l e s ,

DE JONG, De volken bij Jeremia, und SEYBOLD, Jeremia, sowie die AT-Einleitungen von EISSFELDT, BAUDISSIN, STEUERNAGEL. Die neueren deutschen Einleitungen begnügen sich wenn sie überhaupt auf die Frage eingehen - zumeist mit einem knappen Hinweis darauf, daß die Herkunft der Texte in der Forschung umstritten ist (vgl. etwa SMEND, Entstehung 164, KAISER, Einleitung 224), oder übergehen die Frage ganz (RENDTORFF, Einführung).

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

21

lieh der Damaskus- (49,23-27) und der Elam-Sprueh (49,34-39) beurteilt, während die Authentizität des ersten Ägyptenspruchs (46,3-12) fast durchweg unbestritten ist. (3) Zu den Vertretern der „Minimalposition" gehört G. Fohrer. Seinem Urteil nach sind die stilistischen und inhaltlichen Abweichungen der Völkersprüche von den eindeutig echten Jeremia-Worten so bedeutend, daß zumindest der größte Teil davon anderen, zumeist späteren Verfassern zugeschrieben werden müsse. Nur ein sehr kleiner Anteil, der nicht näher bezeichnet wird, könne von Jeremia selbst stammen. 60 Damit ist zwar über die Echtheit einzelner Orakel nichts Spezifisches ausgesagt, immerhin jedoch - im Unterschied zu der „Nullposition" - die Möglichkeit, daß Jeremia sich über fremde Völker geäußert hat, nicht grundsätzlich bestritten. 61 Ähnlich hatte F. Giesebrecht in seinem Kommentar aus dem Jahre 1907 ('1894) außer Jer 47, das am Schluß überarbeitet sei, alle Orakel in ihrer jetzt vorliegenden Gestalt als unecht bezeichnet; lediglich in 49,7-11 konnte er Trümmer eines echten Orakels gegen Edom und in 49,3-12 einen stark überarbeiteten Kern erkennen. 62 Mit einem noch geringeren Kern rechnet R.E. Clements: Von Jeremia könnten die beiden Ägypten-Orakel stammen, bei den übrigen Orakeln sei dies sehr unwahrscheinlich. 63 Nur ein einziges echtes Gedicht (46,3-12), das allerdings in bezug auf die literarische Qualität weit unter Nahums „Ode auf den Fall Ninives" liege, erkennt R.H. Pfeiffer an; 64 die übrigen Orakel wiesen apokalyptischen Hintergrund auf und stellten eine Vision der Königreiche dar, die JHWH am Ende der Zeit vernichten wird, bevor er sein Königreich auf der Erde aufrichtet. Diese eschatologische, nichthistorische Deutung der Fremdvölkerorakel biete auch deren erster Interpret, der in 25,15-38 eine Einführung

60 FOHRER, Vollmacht 47. FOHRER grenzt sich hier gegenüber seiner früheren Einschätzung (Einleitung 345) ab, indem er nun mit der Möglichkeit rechnet, daß auch 46,3-12 und 25,15-38 unecht sind. Mit der Unechtheit der ganzen Kapitel mit Ausnahme weniger, nicht näher genannter Stücke, rechnet auch HÖLSCHER, Profeten 394. 61 Ähnlich KÜHL, der die Völkerspruchsammlung für eine spätere Zufügung zum Jeremiabuch hält, jedoch annimmt, daß ein Grundstock auf Jeremia zurückgeht (Entstehung 202). Kritischer dagegen äußert sich KÜHL in seiner Darstellung der Propheten Israels: „Jeremias Verkündigung konzentrierte sich auf das Verhältnis zwischen Jahwe und seinem Volk; an den anderen Völkern hat der Prophet nur ein sehr peripheres Interesse." Während das Wort gegen Ägypten in 43,8-10 echt sein könnte, sind die Drohsprüche gegen Babel und die anderen Völker in 25,15-38 und die Völkerorakelsammlung in Kp. 46-51 dem Buch erst später zugewachsen (Israels Propheten 98). 62

GIESEBRECHT 2 2 6 .

63

CLEMENTS 2 4 7 ; s o a u c h HERRMANN, J e r e m i a 1 6 4 f .

64

PFEIFFER, Introduction 506. Ähnlich HYATT 790, der das erste Ägypten-Gedicht für echt hielt, in den anderen Texten dagegen wenig bis gar nichts. Aufgrund der Veröffentlichung der Babylonischen Chronik im selben Jahr, als der Kommentar erschien (1956), revidierte allerdings HYATT sein Urteil gründlich und rechnete, da für viele Texte nun ein historischer Ort gefunden werden konnte, mit weitaus mehr echten Stücken (New Light on Nebuchadrezzar 282f.). Diese Linie verfolgt die Dissertation von HAY, Oracles, weiter.

22

I.

Einleitung

zu dieser Sammlung verfaßt habe; ob er dabei in 25,15-29 eine echte Vision Jeremias bearbeitete, sei zweifelhaft. 65 (4) Eine „Maximalposition" vertreten schließlich die Jeremia-Kommentare von C.F. Keil, C. von Orelli und A. Condamin sowie eine ausführliche Studie zum Thema von U. Cassuto. Während von Orelli sich mit den vorgebrachten Argumenten auseinandersetzt und sie zu widerlegen sucht, begnügt sich Condamin damit, die seiner Ansicht nach schwierigste Frage, die der literarischen Abhängigkeit von anderen Propheten, zu klären. Er weist darauf hin, daß Jeremia durchaus Texte aus Jes 15f. und anderen Quellen entlehnt und in eigene Gedichte eingebaut haben könne, so daß aus der bloßen Tatsache der Übereinstimmung mit anderen Büchern nicht auf die Unechtheit der Orakel geschlossen werden dürfe. 66 Außerdem könne Jeremia im Verlaufe seiner Tätigkeit durchaus qualitiativ unterschiedliche Gedichte verfaßt haben, so daß auch stilistische Unterschiede zur Feststellung der Unechtheit nicht genügten. 67 Die Völkersprüche des Jeremiabuches stammten deshalb - von ganz wenigen und unbedeutenden Zufügungen, die ohne weiteres erkennbar seien, abgesehen alle von Jeremia. Dies war im wesentlichen schon die Auffassung von Orellis, der sein Urteil allerdings ausführlich und differenziert begründete. Am sichersten schien ihm die Echtheit in Kapitel 46 und 47 sowie in 49,28-33, am unsichersten, jedoch auch hier festgehalten, in Kapitel 50f. 6 8 Die Entlehnungen vor allem im Moab- und im Edom-Orakel interpretiert von Orelli als Spuren älterer Sprüche, die zu „nationalem Gemeingut" geworden und bei verschiedenen Anlässen jeweils aufgefrischt worden seien; in dieser Weise habe auch Jeremia alte Lieder über Moab und Edomwiederholt. 69 Auch die Studie von Cassuto setzt sich ausführlich mit den von Budde und Schwally sowie ihren zahlreichen Nachfolgern zugunsten der Unechtheit von Jer 25 und 46-51 vorgebrachten Argumenten auseinander; 70 sie entwickelt jedoch einen alternativen Ansatz, in welchem stilkritische und redaktionsgeschichtliche Argumente zugunsten der Echtheit eingesetzt werden, nur für Kapitel 25, während die am Ende angekündigte Fortsetzung für Kapitel 46-51 nicht erschienen ist. 71 Waren die wesentlichen Gesichtspunkte, die in der Frage der Verfasserschaft der Völkersprüche zu berücksichtigen sind, bereits im Jahre 1888 bei Schwally zur Sprache gekommen und in der Folge vielfach und kontrovers behandelt worden, so zeigte sich in der Behandlung dieses Themas im Laufe des 20. Jahrhunderts eine gewisse Ermüdung; kaum neue Aspekte wurden 65

PFEIFFER, Introduction 509f.

66

CONDAMIN 3 1 7 .

67

Ebd. 328.

68

VON O R E L L I 1 8 2 .

69 Ebd. 192.196. A m ehesten sei im Edom-Orakel der Schluß (V. 45-47) anfechtbar, und zwar nicht aus inhaltlichen oder stilistischen, sondern aus textkritischen Gründen, d.h. wegen ihres Fehlens in der LXX (ebd. 196). 70

CASSUTO, P r o p h e c i e s .

71

Hinweis des Übersetzers, ebd. Anm. 68.

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

23

genannt und für die Sache fruchtbar gemacht. Die meisten Kommentare und Monographien behandeln denn auch die Frage der Verfasserschaft mehr am Rande und lediglich reproduzierend. Es ist von daher verständlich, daß sich das Schwergewicht der Forschung im Zuge der Ausweitung gattungs-, religions- und traditionsgeschichtlicher Fragestellungen in der alttestamentlichen Wissenschaft auch bei den Völkersprüchen verlagerte und die ältere Frage nach der Echtheit zunächst hilfreich ergänzte, später mehrheitlich ersetzte. Die fortschreitende Methodendiskussion des 20. Jahrhunderts verschaffte sich - allerdings seltener als etwa beim Amosbuch 72 - nun auch in der Erforschung der Völkersprüche des Jeremiabuches Gehör. b) Gattungsgeschichte,

Religionsgeschichte,

Traditionsgeschichte

Es bedeutete einen einschneidenden Paradigmenwechsel, als H. Gressmann im Jahre 1905 die Eschatologie vom Ende an den Anfang der Geschichte der Prophetie versetzte. Seit J. Wellhausen und B. Duhm hatte sich Erkenntnis mehr oder weniger durchgesetzt, daß die Propheten Israels als reine Unheilspropheten zu sehen sind. Da die Unheilsankündigungen für fremde Völker indirekt Heil für Israel ankündigten, mußten sie den klassischen Propheten abgesprochen und entsprechend auch das „eschatologische Schema", nach welchem die Bücher Jesaja, Jeremia (LXX) und Ezechiel in die drei Teile Unheil für Israel - Unheil für die Völker - Heil für Israel gegliedert sind, als spät beurteilt werden. Gressmann ging nun umgekehrt davon aus, daß dieses Schema in der Prophetie sich von einem alten, im Orient verbreiteten kosmologischen Schema herleitete, das die Vorstellung eines weltweiten Gerichtstages und einer universellen Katastrophe beinhaltete. 73 Die Heilseschatologie ist nach Gressmann nicht nach-, sondern vorprophetisch (242f.). Entsprechendes gilt von den Heidenorakeln, die „zum ständigen Repertoir [sie] der Prophetie" gehören: Wenn neben Israel eine Reihe von Völkern aufgezählt werden, die von der Katastrophe betroffen sind, so handelt es sich dabei um ein Stilmittel, durch das deren weltumspannende Dimension zum Ausdruck gebracht wird (147). Es ist diese Idee einer universalen Katastrophe, welche die Gattung der Heidenorakel hervorbringt, wenn auch die einzelnen Weissagungen ihre Ausgestaltung durch die spezifischen geschichtlichen Umstände erhalten (148f.). Auf der volkstümlichen 72

In bezug auf die Völkersprüche nimmt das Amosbuch - möglicherweise aufgrund seiner Priorität als Schriftprophetie (so HAYES, Oracles 14) - in der Forschung nach der literarkritischen Phase eine vorherrschende Stelle ein. Die literarkritische Frage nach der Verfasserschaft und Datierung der Texte ist zwar an den Völkersprüchen des Jeremiabuches aufgebrochen; die gattungs-, religions- und kultgeschichtlichen Gesichtspunkte wurden dagegen auf Am lf. häufig früher und grundsätzlicher angewandt als bei den anderen Propheten. Für die redaktionsgeschichtliche Methode ist dagegen das Jeremiabuch wieder besonders geeignet, da hier der Unterschied zwischen dem MT und der LXX eine in dieser Weise einmalige Forschungsgrundlage bietet. 73 GRESSMANN, Ursprung 18.151 f. Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf dieses Werk.

24

I.

Einleitung

(vorprophetischen) Stufe ändert sich allerdings die ursprüngliche Funktion der Heidenorakel, indem diese heilseschatologisch umgebogen werden, so daß Israel von der Katastrophe ausgenommen ist (150f.). Für eine vorschriftprophetische Praxis der Heidenorakel spricht im übrigen auch, daß bei ihnen - im Gegensatz zur klassischen Prophetie - ethische Begründungen fast ganz fehlen (153).

Die Heidenorakel gehören für dieses Verständnis also nicht zu den jüngsten, sondern im Gegenteil zu den ältesten Teilen der Prophetie; entsprechend gelten Gressmann die Völkersprüche der Schriftpropheten dort, wo er sich ausführlich mit ihnen auseinandersetzt, mit ganz wenigen Ausnahmen als echt. 74 Indem die Heidenorakel indirekt Israel Heil ankündigen, stehen sie mit den direkt formulierten Verheißungen auf einer Stufe; 75 daß die Propheten auch Heil für Israel verkündigten, ist von daher gewiß. 76 Etwas anders, aber mit im wesentlichen demselben Ergebnis argumentierte H. Gunkel, der den ältesten prophetischen Stil dort erhalten sieht, wo ausschließlich - d.h. im Unterschied zur späteren Prophetie ohne Begründung - Zukunft angesagt wird, 77 und dies sei vor allem bei den Völkerorakeln der Fall. 78 Der Charakterisierung des den Völkerorakeln eigentümlichen Stils - u.a. Nominalstil, Häufung von Wortwiederholungen, abrupte Wechsel durch Imperative und Fragen, Wortpaarkombinationen, Sammelbegriffe, konkrete Sprache, Bilderreichtum - war auf der von Gunkel und Gressmann gelegten Grundlage die Studie von C. Schmerl gewidmet. 79 Die in den Völkersprüchen verwendeten Gattungen Leichenlied, Wächterlied und Spottlied untersuchten P. Lohmann und H. Jahnow. 80 In der posthum erschienenen Untersuchung „Der Messias" (1929) hatte Gressmann einen ausführlichen Abschnitt der „ägyptischen Messiashoffnung" gewidmet und dazu eine Reihe ägyptischer Orakel, deren Gattungen und schließlich die Geschichte und Eigenart der prophetischen Literatur in Ägypten behandelt. 81 Bereits früher hatte G. Hölscher die Gestalt Bileams im Zusammenhang mit der Feindverfluchung in den Kriegen altarabischer Völker gedeutet. 82 Im Blick auf die Völkersprüche wurden religionsgeschichtliche Vergleiche jedoch erst in den 30er und 40er Jahren in größerem Umfang 74

GRESSMANN, Messias 94-148; eine Liste mit (nicht weiter begründeten) Angaben zur Echtheit der einzelnen Sprüche findet sich ebd. 95-97. Im Jeremiabuch sind lediglich 46,1-12 und Kp. 47 fraglich (ebd. 96). 75 GRESSMANN, Messias 69.94 und ebd. Anm. 32. Zur Funktion der Völkersprüche als (indirekte) Heilsverkündigung für Israel vgl. auch WESTERMANN, Grundformen 147f. (vgl. oben S. 4 Anm. 19). 76 Ebd. 95. 77 GUNKEL, Einleitung XXXIIf. 78 Ebd. XLVI. 79 SCHMERL, Völkerorakel. Von dieser Dissertation erschienen nur die ersten beiden Teile im Druck; über die Fortsetzung informiert das Inhaltsverzeichnis. 80 JAHNOW, Leichenlied; LOHMANN, Die anonymen Prophetien. 81

GRESSMANN, M e s s i a s 4 1 7 - 4 4 5 .

82

HÖLSCHER, P r o f e t e n 9 1 .

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

25

fruchtbar gemacht. 83 So untersuchte A. Guillaume die Bedeutung von Orakeln gegen andere Völker in der Kriegführung verschiedener semitischer Völker und zeigte, daß Propheten eine große Rolle spielten, indem sie die Feinde durch Sprüche und Flüche demütigten und kampfunfähig machten. Guillaume folgerte, daß eine große Zahl von Völkersprüchen des Alten Testaments diesem Genre angehören. 84 Ähnliche Untersuchungen führte A. Haldar durch; er wies nach, daß im gesamten mesopotamischen und westsemitischen Raum Priester und Propheten vor einem Kampf konsultiert wurden, das Heer begleiteten und mit Orakeln und Flüchen in die Kampfhandlungen eingriffen. 85 Findet sich ein ausführliches Beispiel eines Fluchrituals über ein fremdes Volk nur noch in der Bileam-Geschichte (Num 22-24), so seien in den Völkerspruchsammlungen der Prophetenbücher deutliche Beispiele für Verwünschungen von Feinden enthalten. 86 Als Hinweise auf eine derartige Funktion von Sehern bzw. Propheten sei neben der Bileam-Perikope auf ISam 15,2f.; 17,43; IReg 20,26-30; IIReg 2,23-25; Jes 7,3-9 hinzuweisen. 87 Neben Ägypten und Arabien konnte dieses Phänomen auch in Mari sowie im sumerischen und hethitischen Bereich nachgewiesen werden. 88 Eine andere Art von Parallelen zu außerbiblischem Material wurde in den Fluchformeln der altorientalischen Verträge, speziell der Vasallenverträge, gesehen. Hier sind vor allem die grundlegenden Studien von G.E. Mendenhall sowie die zahlreichen Einzeluntersuchungen von D.J. McCarthy, D.R. Hillers und F.C. Fensham zu nennen. 89 Wurde zunächst das Bundesverhältnis zwischen JHWH und Israel in den Kategorien des Vertragswesens ausgedrückt, der Bundesbruch entsprechend mit Bundesflüchen belegt (Lev 26; Dtn 28) und diese von der Prophetie gegen Israel gewendet, so konnten die Flüche auch auf die Völker übertragen werden, wenn diese sich gegen Israel stellten und auf diese Weise in das Bundesverhältnis zwischen Israel und JHWH eingriffen. 90 Im noch engeren Sinn verstand Hillers die prophetischen Völkersprüche als Anwendung der im Vertrag festgehaltenen Flüche auf ein fremdes Volk als Folge eines konkreten Vertragsbruches. 91 Beispiele für Hinweise auf

83

Zur umfangreichen Literatur vgl. HÖFFKEN, Begründungselemente 410 Anm. 169. GUILLAUME, Prophecy and Divination 171. Ähnlich schon HÖLSCHER, Profeten 91. Dieser Gedanke wurde in der Folge häufig vertreten; vgl. die bei HÖFFKEN, Begründungseiemete 410 Anm. 169, gesammelte Literatur. 85 HALDAR, Associations 200f. 86 Ebd. 153; HALDAR nennt insbesondere Jer 48,10.26f. 84

87

88

V g l . HAYES, U s a g e 8 1 - 8 3 .

Für Beispiele und umfangreiche Literaturangaben sei verwiesen auf HAYES, Oracles 82-92; ders., Usage 84-86. 89 MENDENHALL, Recht und Bund; MCCARTHY, Treaty and Covenant; HILLERS, Treaty-Curses; FENSHAM, Malediction and Benediction; ders., Clauses of Protection; ders., Common Trends. 90 S o z.B. FENSHAM, Common Trends 173. 91 HILLERS, Treaty-Curses 78.88f.

26

I.

Einleitung

internationale Verträge im Alten Testament seien IlSam 8,2.6.14; 10,15-19; IReg 5,26; 15,19; Ez 17,12-13. 92 Schon G. Hölscher hatte das älteste Prophetentum mit dem Kult verbunden, indem er die Nebiim als Kultpersonal der Heiligtümer deutete. 93 Nachdem Gunkel aufgewiesen hatte, daß die Gattung des Orakels ihren Sitz im Kult hat, war es nur konsequent, daß auch die Völkersprüche mit der - von Mowinckel klassisch formulierten - Hypothese der „Kultprophetie" 94 in Verbindung gebracht wurden. Gunkel selbst sah zwei mögliche Anlässe für die Formulierung von Völkerorakeln, die beide mit den Kriegen Israels zusammenhängen: Bittgottesdienste vor dem Auszug in eine Schlacht und Klagefeiern nach einer militärischen Niederlage. 95 IIReg 19,14-28; Ps 60; 79; 83 und Thr l,21f.; 4,21 f. seien Beispiele solcher Klagen, Gebete, Völkersprüche und Heilsorakel. 96 Als Sprecher der Völkerorakel fungierten nach Gunkel Priester oder Sänger, 97 während die prophetischen Völkersprüche im Zusammenhang mit der Zukunftsankündigung lediglich Nachahmungen des kultischen Modells darstellten. 98 In der Folge wurden jedoch die Völkersprüche auch direkt mit einer kultischen Tätigkeit von Propheten in Verbindung gebracht, im Rahmen von „kultischen Liturgien" z.B. gerne das Buch Nahum. 9 9 Wenngleich die Einzelheiten unterschiedlich beurteilt werden, wird im großen und ganzen die Existenz von prophetischen Völkerorakeln bei kultischen Feiern im Zusammenhang mit Krieg nicht bestritten; die Einbeziehung der Völker in die prophetische Verkündigung ist geradezu ein von Anfang an zur Prophetie Israels gehörendes strukturelles Element. 100 Neben den Bitt- und Klagefeiern werden jedoch noch andere kultische Kontexte vorgeschlagen. So bringt Mowinckel die Völkerorakel mit der jährlichen Feier der Thronbesteigung JHWHs in Verbindung, in der die Herrschaft JHWHs über die ganze Welt kultisch begangen werde, wobei Israel gerecht gesprochen und die Völker gerichtet würden. 101 Zu diesem Gerichtsmythos gehörten Reihungen von Völkerorakeln und das Darreichen eines Bechers. 102 In die klassische Prophetie sei dieser Kultmythos sekundär aufgenommen worden; der Einbezug 92

V g l . HAYES, U s a g e 9 1 f .

93

HÖLSCHER, P r o f e t e n 1 4 3 .

94

MOWINCKEL, P s a l m e n s t u d i e n III.

95

Z u e r s t e r e m s. G U N K E L - B E G R I C H , E i n l e i t u n g § 5 . 3 , z u l e t z t e r e m § 4 . 2 s o w i e § 4 . 1 4 . G U N K E L

nennt hier die Völkersprüche nicht namentlich; sinngemäß lassen sich seine Ausführungen jedoch auch auf sie beziehen (vgl. HÖFFKEN, Begründungselemente 397 Anm. 64). 96

V g l . HAYES, U s a g e 8 7 f .

97

GUNKEL-BEGRICH, Einleitung §9,43f. GUNKEL, Einleitung LIXf. " E i n e n Literaturüberblick mit den wichtigsten Thesen zu diesem Thema bietet HÖFFKEN, Begründungselemente 397f. Anm. 69. l00 V g l . FOHRER, Vollmacht 51. Eine ausführliche Darstellung des Themenkomplexes mit reichen Literaturangaben findet sich bei HAYES, Oracles 122-153. 98

101

MOWINCKEL, P s a l m e n s t u d i e n II, 7 1 - 7 3 .

102

Ebd. 67; Psalmenstudien III, 41-44.

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

27

Israels in das Gericht sei das eigentliche Werk der Schriftpropheten seit Arnos. 103 Ähnlich, aber im Zusammenhang mit dem „Bundesfest" Israels, deutet A. Weiser die Völkersprüche, 104 während A.R. Johnson und J.C. Hayes sie mit der kultischen Rolle des Königs und einem königlichen Thronbesteigungsfest in Verbindung bringen, wo nach Ps 2 und 110 dem König die Macht über alle Völker verliehen wird. 105 Die These von der kultischen Funktion der Völkersprüche wurde häufig in bezug auf Amos vertreten. So stellte A. Bentzen die Völkersprüche in Kapitel lf. neben ägyptische Ächtungstexte und wies sie dem Neujahrsfest zu, hielt jedoch (etwa gegen H. Graf Reventlow) die Völkerspruch-Reihe bei Amos für eine Imitation des Rituals. 106 E. Würthwein sieht in Amos vor seiner Wendung zum Unheilspropheten einen kultischen Heiisnabi, dessen Unheilsverkündigung über die fremden Völker Heil für Israel bewirken soll. 107 Besonders herausgearbeitet hat diese Funktion israelitischer Kultpropheten F. Hesse, der deren Aufgabe darin sieht, den Völkern Gericht zu verkündigen, damit sich auf diesem Hintergrund das Heil Israels umso stärker abheben sollte. 108 Eine ähnliche These wie diejenige Würthweins in bezug auf Amos, die mit einer ersten heilsprophetischen Phase und einer späteren Wendung zum Unheilspropheten rechnete, hatte eineinhalb Jahrzehnte früher bereits H. Bardtke für Jeremia vorgetragen. 109 Bardtke geht von der Beobachtung aus, daß Jeremia in den echten Teilen des Buches häufig zu Fremdvölkern Stellung bezieht, diese also sehr wohl in seinem Gesichtskreis liegen, und zwar im Blick auf eine religiöse und eine geschichtliche Wertung. Erstere gründet im Absolutheitsanspruch der JHWH-Religion, so daß sie den Göttern der anderen Völker ihre Gotthaftigkeit abspricht. Die geschichtliche Beurteilung sieht in den Völkern Geschichtsmächte, die J H W H s Willen dienen. Er befehligt sie, auch gegen Jerusalem; im Namen J H W H s fordert Jeremia auch von den benachbarten Völkern Unterwerfung unter das Weltreich und verurteilt die judäische Bündnis- und Außenpolitik (Kp. 27). (209f.) Mehrfach treten Fremdvölker bei Jeremia als vom Gericht Betroffene auf (27; 43,8-13; 44,30). (210) Diese Fremdvölkersprüche haben jedoch keine selbständige Bedeutung für die entsprechenden Völker, sondern beziehen Juda in das Gericht mit ein; sie stammen deshalb aus der „judäozentrischen Einstellung" Jeremias und stellen insofern „Nebenprodukte seines Botschaftsauftrags an Juda" dar (211).

103 104

Psalmenstudien II, 248f.270f.337f. u.ö. WEISER, P s a l m e n 33 u . ö .

105

JOHNSON, Sacral Kingship; HAYES, Usage 90. Kultische Orakel an die Adresse des Königs erkennt HAYES etwa in Ps 20 und 21 (Usage 88f.). 106

B E N T Z E N , R i t u a l B a c k g r o u n d 9 3 . 9 7 ; v g l . REVENTLOW, A m t .

107

WÜRTHWEIN, Arnos-Studien. Mit einer kultischen Liturgie im Buch Nahum rechnet z.B. HUMBERT, Vision 19, und ähnlich auch bei Habakuk und Joel (ders., Essai 280). 108

109

HESSE, G e r i c h t s r e d e 4 6 - 5 2 .

BARDTKE, Fremdvölkerprophet. Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Aufsatz.

28

I.

Einleitung

Allen Völkersprüchen des Jeremiabuches außerhalb von Kapitel 25; 46-51, ob sie in der Sammlung der Jeremia-Worte oder im biographischen Teil des Buches stehen, ist somit gemeinsam, daß Jeremia nie in einer von seinem Volk absehenden Weise zu den Fremdvölkern Stellung bezieht. Dies steht aber im Widerspruch zur Berufungsperikope, die in 1,5.10 Jeremia als „Propheten wider die Völker" bezeichnet, was nur dann gerechtfertigt ist, wenn die Fremdvölker auch unabhängig von der Gerichtsverkündigung an das eigene Volk in seinem Blickfeld sind (211). 1,5 bezieht sich folglich nicht auf Kapitel 1-25, die Juda Unheil ankündigen, sondern auf eine frühere Unheilsverkündigung Jeremias an die Völker, die durch die politische Konstellation, das „Erwachen der altorientalischen Welt beim Lockern der Bande Assurs", angeregt wurde (215f.). Jeremia war demnach in seiner prophetischen Anfangszeit, wie sie im Berufungsbericht dargestellt ist, ein Fremdvölkerprophet. Und da die Kehrseite der Unheilsverkündigung an die fremden Völker Heil für das eigene Volk bedeutet, war der frühe Jeremia in seiner Anfangszeit ein Heilsprophet. Die Texte in 25,15ff. und 46-51 sind die „Erzeugnisse seiner fremdvölkerprophetischen Anfangszeit", also seine „Jugendgedichte" (217f.). Diese fanden sich ursprünglich in einem Gedichtbuch, das in seiner Anlage auf Jeremia selbst zurückgeht (261f.).

Mit dieser Einordnung der Völkersprüche des Jeremiabuches brachte Bardtke innerhalb der etwas erstarrten Fronten der Jeremia-Froschung einen neuen Aspekt in das Gespräch. Nicht nur war dadurch eine Möglichkeit aufgezeigt worden, wie im Blick auf die Chronologie der Wirksamkeit Jeremias ein großer Teil der Texte im Korpus 25,15ff.; 46-51 dem Propheten zugeschrieben werden kann. Auch die Frage nach der Funktion der Völkersprüche, die Schwally, Duhm und Volz wegen ihrer Blickrichtung dem Propheten meinten absprechen zu müssen, wurde einer positiven Lösung zugeführt, indem die Unheilsverkündigung für die fremden Völker - als Heilsweissagung für das eigene Volk verstanden - in den Kontext der jeremianischen Prophetie eingeordnet werden konnte. Von H. Graf Reventlow wurde dieser Ansatz schließlich bei Beibehaltung der Grundtendenz dahingehend modifiziert, daß die beiden Aspekte Gerichts- und Heilsverkündigung in der prophetischen Wirksamkeit nicht voneinander getrennt und verschiedenen Phasen zugeordnet, sondern als zusammengehörende Teile eines Fluchrituals im Rahmen des Bundesfestes beurteilt werden. 110 Eine andere Linie, die zu den Völkersprüchen in den Prophetenbüchern führt und in welcher Kriegsorakel und kultische Formen der Prophetie in einer gewissen Weise zusammenkommen, wird oft in der Rolle der Propheten im Heiligen Krieg gesehen; dort bestand ihre Aufgabe darin, zum Krieg aufzurufen, den Sieg zu verheißen und ekstatische Siegesmagie zu praktizieren. Von G. von Rad stammt die klassische Darstellung des Wesens des Heiligen Krieges in Israel, die, um nur zwei Namen zu nennen, von M. S®b0 und H.-M. Lutz aufgenommen wurde. 111 Im Jeremiabuch wurde dieser Ansatz besonders 110 111

REVENTLOW, Amt des Propheten 56-75; Wächter über Israel 134-157. VON RAD, Der Heilige Krieg; S « B 0 , Sacharja 9-14, v.a. 161-170; LUTZ,

und die Völker.

Jahwe, Jerusalem

3. Forschungsgeschichtlicher

Überblick

29

von R. Bach weitergeführt, der die „Aufforderungen zum Kampf und zur Flucht" untersuchte und zeigte, wie diese Elemente über die Funktion von Propheten im Heiligen Krieg der frühen Königszeit in die klassische Prophetie übergegangen waren. 112 Oft wird mit dem Übergang der Völkerorakel von der kultischen zur klassischen Prophetie eine neue Akzentuierung der Gattung verbunden, die etwa als Loslösung von national-religiösen Interessen und damit als Ethisierung und Universalisierung zu charakterisieren ist; so heben die Propheten in ihrer Verkündigung die Majestät und Souveränität Gottes hervor, der nicht nur von Israel, sondern von allen Völkern Rechenschaft forden. 1 1 3 Die letzten größeren Untersuchungen zum Phänomen der Völkersprüche in der prophetischen Literatur des Alten Testaments kombinieren meist verschiedene der genannten Ansätze. Die Studie von J.C. Hayes (1964) interpretiert die Völkersprüche im Zusammenhang mit Kriegsorakeln, speziell im Heiligen Krieg Israels, und auf dem Hintergrund der jerusalemischen Königsideologie, nationaler Klagegottesdienste und internationaler Verträge; die Völkersprüche der verschiedenen Prophetenbücher werden dabei nicht als Ausprägungen einer einheitlichen Gattung mit einer einzigen Funktion betrachtet, sondern unterschiedlichen Kategorien zugewiesen. 114 Mit einzelnen Elementen der Völkersprüche beschäftigt sich die Untersuchung von B.B. Margulis (1966), der das Motiv des Tages JHWHs, Kriegsmotive (Feuer, Gefangenschaft, Exil, Klage u.a.), die Bezeichnung XÖO sowie die Unheilsbegründungen behandelt. Diese Motive führt er nicht auf den Heiligen Krieg, sondern auf eine säkulare Kriegstradition zurück, die im „moslim-Lied" Num 21,27ff. klassisch zum Ausdruck komme. 115 Die Studie von D.L. Christensen (1971) geht wieder von der Funktion von Kriegsorakeln in der Kriegführung Israels aus und zeigt, wie diese in der alttestamentlichen Prophetie aufgenommen werden und sich über verschiedene Stufen entwickeln. 116 Auch Y. Hoffmann (1973) verfolgt im " 2 BACH, Aufforderungen 92-112; s. dazu unten . 113

114

S o FOHRER, V o l l m a c h t 5 1 .

HAYES, Oracles 173-291; eine Zusammenfassung der Thesen findet sich ebd. 292-302 sowie in ders., Usage. 115 MARGULIS, Studies 67. Die eigentlichen Völkersprüche zerfallen in zwei Kategorien: reines Völkersprüche-Material und „hybrides" Material, bestehend aus Tag-JHWHs-Orakeln und apokalyptischen Orakeln (ebd. 3). Die Orakel gegen fremde Herrscher (Jes 14; Ez 28; 29,3-5.911; 32,1-10) bilden daneben eine dritte typologische Klasse (ebd. 3.276ff.). 116 Die Untersuchung erstreckt sich auf den Zeitraum bis ca. 580 v.Chr., schließt also die Völkersprüche Ezechiels, Deuterojesajas und anderer exilischer und nachexilischer Verfasser aus (CHRISTENSEN, Transformations 15). Die erste Umformung erlebe das Kriegsorakel beim Eintritt in die klassische Prophetie (Am lf.), wo es als Gerichtsrede gegen die Völker des idealisierten davidischen Reiches gestaltet werde, eine zweite in Jer 46-51, wo sich der Schwerpunkt vom Gericht über die Feinde JHWHs auf die Bewahrung des Volkes JHWHs im Exil und seine Wiederherstellung verschiebe (ebd.). Die Völkersprüche des Jeremiabuches werden in drei Kategorien aufgeteilt: jeremianische Sprüche (Kedar, Philister, beide Ägypten-Orakel, Elam) und archaische Fremdvölkerorakel (Ammon, Edom, Moab, Aram); die Babelorakel werden als Repräsentanten des Übergangs zur frühen Apokalyptik interpretiert (ebd. 208-280).

30

I.

Einleitung

wesentlichen diese Linie, indem er die Elemente der Völkersprüche mit der Ideologie des JHWH-Kriegs verbindet. 117 Ausschließlich den Begründungselementen in den Völkersprüchen ist die Untersuchung von P. Höffken (1977) gewidmet. 118 c) Der redaktionsgeschichtliche

Ansatz

Die besonderen Umstände des Jeremiabuches, namentlich die Doppelüberlieferung im MT und in der LXX, die im Text selbst enthaltenen Hinweise auf die Sammlung der jeremianischen Worte und ihre Zusammenstellung in Rollen (30,2; 36,2-4.28-32; 51,60) sowie die Disparatheit des Textmaterials poetische Texte neben und innerhalb von Prosareden und Erzählungen - lassen dieses als geradezu ideales Feld für redaktionsgeschichtliche Untersuchungen erscheinen. Es erstaunt deshalb nicht, daß redaktionsgeschichtliche Fragestellungen durch S. Mowinckel - allerdings in einer noch stark literarkritisch geprägten Form 1 1 9 - schon sehr früh an das Jeremiabuch herangetragen wurden. Von besonderem Interesse war und ist dabei bis in die Gegenwart hinein gerade das Korpus des Völkersprüche. Durch die unterschiedliche Stellung der ganzen Sammlung und die unterschiedliche Reihenfolge der einzelnen Sprüche im MT und in der LXX drängt sich die Frage nach der ursprünglichen Anordnung von selbst auf, und die Verbindung von Völkersprüchen mit der Urrolle in 36,2 verschränkt die Problemkreise zusätzlich miteinander. Mowinckel schloß in seiner forschungsgeschichtlich bedeutenden Studie aus dem Jahre 1914 die Völkersprüche aus dem Quellenmodell aus, da das eigentliche Buch nach seiner Analyse nur Kapitel 1-45 umfaßte; den ganzen Rest, Kapitel 46-52, sah er als anonyme Sammlung, die dem Buch als Anhang wie etwa Jes 40-66 dem Jesajabuch angefügt wurde. 120 W. Rudolph, der dem Ansatz Mowinckels über 30 Jahre später zu einem breiten Durchbruch verhalf, rechnete demgegenüber die Völkersprüche zur Quelle A, dem authentischen Gut des Jeremiabuches. 121 In der Dissertation von C. Rietzschel aus dem Jahre 1966 wurden die Völkersprüche auf eine neue Weise in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, indem sie zusammen mit Kapitel 25 als geschlossener Überlieferungsblock betrachtet wurden; der Redaktionsge117 HOFFMANN, Prophecies; diese Arbeit war mir nicht zugänglich (vgl. die knappe Zusammenfassung bei FECHTER, Bewätligung der Katastrophe 12f., sowie die Thesen in HOFFMANN, From Oracle to Prophecy). 118

HÖFFKEN, B e g r ü n d u n g s e l e m e n t e .

1,9

Zu MOWINCKEL, Komposition, vgl. das Urteil KOCHS, Formgeschichte 82. Stärker redaktionsgeschichtlich orientiert ist MOWINCKELS späteres Werk „Prophecy and Tradition" aus dem Jahre 1946, das allerdings die 1914 vorgetragenen, mittlerweile weitherum aufgenommenen Thesen zum Jeremiabuch dahingehend revidiert, daß Mowinckel nun nicht mehr von Quellen, sondern von Traditionskreisen ausgeht, also von der Ebene der Schriftlichkeit zu derjenigen der Mündlichkeit wechselt. 120 MOWINCKEL, Komposition 14f.65f. 121

RUDOLPH X V .

4. Fragestellungen

und methodische

Aspekte

31

schichte von Kapitel 25 und 46-51 ist der größte Teil der Untersuchung gewidmet. 122 Aus der klassischen Darstellung der deuteronomistischen (dtr) Redaktion von W. Thiel (1973/81) ist, hinter Rudolph auf Mowinckel zurückgehend, der Komplex der Völkersprüche Jer 46-51 ausgeschlossen; Thiel geht davon aus, daß deren Einfügung auf eine postdeuteronomistische (postdtr) Redaktion zurückgeht, die sich einer ausreichenden Kennzeichnung allerdings noch weithin entziehe. 123 Die Charakterisierung dieser zweiten Redaktion, gegen die Absicht Thiels jedoch in Verbindung mit dem Gegensatz zwischen der LXX und dem MT, ist vor allem durch die Arbeiten von E. Tov und R-M. Bogaert begonnen und in der Folge von zahlreichen Forschern weitergeführt worden. 124 Diese Entwicklung, die durch Funde in Höhle 4 von Qumran eingeleitet wurde, repräsentiert den jüngsten Stand der Diskussion, in welcher auch die Völkersprüche eine wichtige Rolle spielen.

4. Fragestellungen und methodische A s p e k t e Der forschungsgeschichtliche Überblick weist trotz der notwendigen Beschränkung auf die Hauptlinien und der damit verbundenen Verkürzung eine Fülle von unterschiedlichen Ansätzen auf, die Völkersprüche der alttestamentlichen Prophetenbücher zu interpretieren, in das Ganze der israelitischen Prophetie einzuordnen und mit verwandten Phänomenen außerhalb Israels in Beziehung zu setzen. Die Tendenz dieser Thesen und Theorien ist dabei jedoch merkwürdig widersprüchlich. Einerseits wurde dem Phänomen der Völkersprüche, der Frage nach der Gattung, ihrer Herkunft und Entwicklung sowie den damit verbundenen Sitzen im Leben, breite Aufmerksamkeit zuteil. Für das Verständnis der in den Völkersprüchen verwendeten sprachlichen und konzeptionellen Mittel sind diese Ergebnisse erhellend, vermögen sie doch nicht nur eine offensichtlich in Israel wie in den anderen Kulturen des Alten Orients verbreitete Tradition, sondern auch einen beachtlichen Fundus an geprägten Wendungen und Motiven aufzuweisen. Andererseits aber ist mit diesem textübergreifenden gattungsgeschichtlichen Interesse ein auffälliges Desinteresse an den Einzeltexten verbunden. Dieses kommt etwa in der klassischen Untersuchung von J.C. Hayes dadurch zum Ausdruck, daß die Völkersprüche enthaltenden Texte selbst, die einen nicht unbeträchtlichen Teil der prophetischen Literatur des Alten Testaments ausmachen, auf nur gerade

122 123

RIETZSCHEL, Urrolle 25-90. THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 43 Anm. 45; ausführlich begründet in der Ana-

lyse von 25,1-13, ebd. 262-275. 124

Für Einzelheiten s. Kapitel II.

32

I.

Einleitung

etwas mehr als 100 von 3 0 0 Seiten abgehandelt werden. 1 2 5 Dabei ist jedoch nicht in erster Linie das quantitative Verhältnis problematisch, sondern der Umstand, daß die dort gebotenen knappen Überblicke über die zur Diskussion stehenden Texte - von Analyse kann in diesem Rahmen keine Rede sein kaum je über die gattungsgeschichtlichen Aspekte hinaus die Einzeltexte in den Blick nehmen und nach ihrer konkreten Funktion innerhalb der prophetischen Verkündigung sowie ihrem Verhätlnis zu anderen Texten innerhalb desselben Buches fragen. Daß ein Sprachmuster oder ein geprägtes Motiv etwa aus der Tradition des Heiligen Krieges oder aus dem Umfeld der internationalen Verträge stammt oder auffällige Übereinstimmungen mit schriftlich überlieferten Fluchritualen aufweist, kann jedoch nicht schon ausreichend sein, um die Texte, die in den Büchern etwa eines Jesaja, eines Jeremia, Ezechiel oder Arnos gesammelt wurden, und ihre Funktion und Intention zu erklären. 1 2 6 Als instruktives Beispiel sei auch die gattungsgeschichtliche Untersuchung Bachs zu den „Aufforderungen zur Flucht und zum K a m p f genannt. Diese erbringt den Nachweis, daß die Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf ursprünglich im Heiligen Krieg verankert waren und von dort her in die klassische Prophetie übergingen. 127 Dabei werden jedoch wichtige Fragen wie z.B. diejenige, welche Funktion diesem Rekurs auf alte Traditionen zukommt und welche Bedeutung die Terminologie des Heiligen Krieges für die prophetische Verkündigung und Theologie hat, nicht gestellt. Das dritte Kapitel der Untersuchung, dessen Überschrift „Heiliger Krieg und Prophetie" derartige Klärungen erwarten läßt, beschränkt sich auf die Darstellung des Weges, auf welchem die Tradition des Heiligen Krieges von der Frühzeit Israels in die klassische Prophetie Eingang fand. Doch ist die Verwendung der Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf im Jeremiabuch durch die institutionelle Funktion von Propheten des 9. Jahrhunderts, die im Kontext realer Kriegführung ebenfalls auf die Traditionen des Heiligen Krieges zurückgreifen, 128 auch nicht annähernd geklärt. Die Geschichte der Gattung vermag für sich betrachtet über die konkrete Verwendung der Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf in den Völkersprüchen des Jeremiabuches nichts auszusagen. In diesem Ansatz liegt insofern ein methodischer Mangel, als der Titel der Studie weniger die Rekonstruktion des Werdegangs der alttestamentlichen Prophetie als eine Deutung des Phänomens dieser Aufforderungen erwarten läßt. Ansätze dazu lassen sich in der Untersuchung Bachs durchaus finden, etwa wenn auf den „wirklichkeitsfremden Charakter" der Aufforderungen hingewiesen wird oder wenn diese als „literarische Nachahmungen der Gattung" bezeichnet werden, die „das Gepräge schrift-

125 HAYES, Oracles 173-291. Etwas tiefer greifen die Textanalysen bei CHRISTENSEN, Transformations, und HÖFFKEN, Begründungselemente, die bei letzterem jedoch von der Anlage der Untersuchung her ebenfalls beschränkt sind auf Einzelstellen. 126 Vgl. dazu die berechtigte Kritik HÖFFKENS am Schluß von der Form auf den Sitz im Leben (Begründungselemente 157). Auf das Defizit des gattungsgeschichtlichen Ansatzes, wenn es darum geht, konkrete Funktionen von Einzeltexten aufzuweisen, macht auch SMOTHERS, Lawsuit 545, aufmerksam. 127 Vgl. dazu ausführlich Kp. IV, unten S. 287. 128 BACH, Aufforderungen 102f.; vgl. VON RAD, Der Heilige Krieg 50-68.

4. Fragestellungen und methodische Aspekte

33

stellerischen Gestaltungswillens" tragen. 129 Allerdings werden diese Linien nicht ausgezogen und für die Interpretation der prophetischen Texte und ihren Sitz im Leben nicht ausgewertet. Auch J.C. Hayes beantwortet in seinem ausdrücklich den Verwendungsweisen der Völkersprüche gewidmeten Aufsatz die Frage nach der aktuellen Funktion der Völkersprüche in der prophetischen Verkündigung - entgegen seiner Absichtserklärung 130 gerade nicht, sondern zeigt lediglich deren gattungsgeschichtliche Herkunft auf. Dieser Mangel wiegt umso schwerer, als durch die gattungsgeschichtliche Einordnung in das Königsritual, die Hayes favorisiert, 131 sehr wohl eine konkrete Funktion suggerierij jedoch nicht wirklich dargestellt und begründet wird. Daß eine Gattung z.B. auf neue Sitze im Leben übergehen bzw. verfremdet eingesetzt werden kann und der Aufweis der Geschichte der Gattung deshalb für die konkrete Situation nur bedingt hilfreich ist, wird vom rein gattungsgeschichtlichen Ansatz nicht genügend berücksichtigt. Dies ist umso erstaunlicher, als Hayes zum Schluß kommt, daß die Völkersprüche der prophetischen Literatur nicht behandelt werden dürften, als gehörten sie alle zu ein und derselben Gattung, sondern daß mit einer Vielzahl von Formen und Verwendungsweisen zu rechnen sei. 1 3 2

Die gattungsgeschichtliche Fragestellung vermag nur dann für die Interpretation der prophetischen Völkersprüche relevante Informationen zu liefern, wenn über die Herleitung der verwendeten Formen hinaus die Texte selbst konkret, d. h. historisch, institutionell und theologisch, situiert werden. Gerade in dieser Hinsicht gehen aber die älteren Untersuchungen auffällig undifferenziert und methodisch fragwürdig vor. Häufig werden den Einzeluntersuchungen prophetischer Völkersprüche Ergebnisse der gattungsgeschichtlichen Untersuchungen, die ihrerseits ohne enge Verbindung mit den Texten erarbeitet wurden, vorgegeben, so daß die Wahrnehmung der Besonderheiten, der Formen, der historischen und theologischen Bezüge zwangsläufig und von vornherein eingeschränkt ist. Daß einige Völkersprüche etwa als Kultprophetie zu bezeichnen seien, in welcher Israel durch die Bedrohung bzw. Verwünschung der Feinde Heil angesagt werde, ergibt sich mit wenigen Ausnahmen nicht aus einer tiefgreifenden Analyse von Einzeltexten, sondern nur durch den Verweis auf die Gattung. 133 Es liegt auf der Hand, daß unter diesen Voraussetzungen auch die Frage nach der Verfasserschaft der Texte im wesentlichen aufgrund der angenommenen Gattung, nicht aufgrund von literarkritischen, sprachlichen, theologischen und historischen Kriterien sowie innertextlichen Bezügen beurteilt wird. 129

Ebd. 26f. bzw. 74. HAYES, Usage 81: „An investigation into the usage of these oracles within the institutional life of Israel should contribute to Our understanding of the function of the oracles within the prophetical literature." 131 Ebd. 90. 132 HAYES, Oracles 175f., Usage 92. l33 Vgl. z.B. die Ausführungen oben S. 23 zu GRESSMANN und GUNKEL sowie S. 4 Anm. 19 zur Position WESTERMANNS. Ausnahmen sind etwa die oben genannten Studien von BARDTKE zu Jeremia und WÜRTHWEIN ZU Arnos, die von Einzeltexten ausgehen oder diese im Lichte gattungsgeschichtlicher Fragestellungen untersuchen. 130

34

/.

Einleitung

Mit den jüngsten der genannten großangelegten Untersuchungen zu den Völkersprüchen von J.C. Hayes, B.B. Margulis, D.L. Christensen, Y. Hoffmann und P. Höffken dürfte umfassend formuliert sein, was zum Phänomen der Völkersprüche im allgemeinen zu sagen ist. Eine Weiterverfolgung dieser umfassenden und textübergreifenden Perspektive ist m.E. nicht sinnvoll, da sie sich für die Interpretation der Einzeltexte als wenig fruchtbar erwiesen hat, sondern im Gegenteil durch ihr erdrückendes Gewicht den Zugang zu ihnen eher versperrt. Stattdessen soll im folgenden mit dem Völkerspruchkomplex Jer 46-49 ein begrenztes Korpus von Völkersprüchen untersucht werden, das sowohl von der Überlieferung her als auch durch inhaltliche Bezüge, Form und Sprache zunächst als zusammengehörig betrachtet werden kann. 1 3 4 Die von der Gattungsgeschichte aufgewiesenen Bezüge treten dabei zunächst in den Hintergrund und werden erst nach den Textanalysen aufgegriffen und mit deren Ergebnissen verglichen. Das Hauptaugenmerk gilt den Einzeltexten; die zur Hauptsache interessierende Frage ist die, ob Jeremia selbst solche Sprüche verfaßt und vorgetragen hat, und wenn ja, in welchem Zusammenhang, mit welcher Absicht und vor welchem Publikum dies geschah. Diese Fragestellung ist an sich weder neu noch originell. Vor allem in den JeremiaKommentaren, die zwangsläufig an den Einzeltexten arbeiten, sowie in den älteren und jüngeren Studien zu den Völkersprüchen des Jeremiabuches wird meist, sofern man sich nicht durch den Verweis auf die Gattungsgeschichte im obigen Sinn der Frage entledigt, der Versuch unternommen, die Texte historisch zu situieren, indem sie mit den bekannten Ereignissen der judäischen Geschichte des späten 7. und des frühen 6. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden. Zumeist ist dies die einzige historische Frage, die gestellt und vielleicht auch beantwortet wird. Doch offenbart sich hier bisweilen eine grundsätzliche methodische Schwäche, die besonders hervorgehoben werden muß, weil sie zu einer unreflektierten Einschätzung der Funktion der Völkersprüche führen kann. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem historischen Anlaß, der zu der Formulierung von Jer 46,10 geführt hat, stellt J.G. Snaith - um nur ein Beispiel herauszugreifen - fest: „If it is right to see in verse 10 a heavy emphasis upon vengeance, then a search for situations in which Hebrews may have longed for Yahweh's vengeance upon Egypt is justified, and narrows the field; Josiah's death at Megiddo is an obvious candidate." 1 3 5 Dabei ist unterstellt, daß der Prophet in seiner Verkündigung auf eine konkrete Situation oder ein konkretes zurückliegendes Ereignis reagiert; wenn diese lokalisiert werden können, so ist auch der terminus a quo des Textes gefunden. Diese Optik ist allerdings zu eng und kann zu folgenschweren Ver134 Monographien, die sich ausschließlich mit den Völkersprüchen des Jeremiabuches beschäftigen, gibt es bisher nur wenige (BLEEKER, Profetieen [1894], HAY, Oracles [1960], DE JONG, De volken bij Jeremia [1978]), bezeichnenderweise alles Dissertationen. Die jüngste Arbeit von BANG, Fremdvölkersprüche (1981), konnte nicht eingesehen werden; sie ist nach Auskunft des Vorsitzenden des Instituts für Altes Testament der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. H.-C. SCHMITT, „wissenschaftlich ohne Bedeutung" (briefliche Mitteilung vom 3.

November

1994).

Für Untersuchungen zu einem anderen begrenzten Korpus von Völkersprüchen (Ez 25-29) vgl. jüngst FECHTER, Bewältigung der Katastrophe. 135 SNAITH, Literary Criticism 28.

4. Fragestellungen und methodische Aspekte

35

Zerrungen der prophetischen Wirksamkeit führen. Nicht nur wird dadurch fast zwangsläufig das Prophetenwort zum vaticinium ex eventu gestempelt, sondern auch die Bedeutung prophetischer Intuition bzw. Inspiration - wie immer sie zu denken sind - zu gering veranschlagt, wenn der Prophet für die Formulierung seiner Orakel von Tagesereignissen abhängig sein muß. Damit soll nicht die Tatsache bestritten werden, daß der Prophet sich auf konkrete historische Situationen bezieht, wohl aber die Voraussetzung als unhaltbar bezeichnet werden, daß seiner Stellungnahme in jedem Fall ein sie hervorrufendes Ereignis vorangegangen sein müsse. Diese methodische Engführung hat z.B. zur Folge, daß die Ammon- und Moab-Texte mit dem Bericht von IIReg 24,2 verbunden werden, weil dort ammonitische und moabitische Streifscharen genannt sind, die in Juda einfielen;' 36 dabei ist weniger die damit zusammenhängende Datierung der Sprüche problematisch als die in den Texten durch nichts zu begründende Unterstellung, Jeremia (oder ein anderer Prophet) nehme jenes Ereignis zum Anlaß, Ammon und Moab Unheil anzukündigen. Auf diese Weise kann den Völkersprüchen eine Funktion zugeschrieben werden, die nicht auf der Textanalyse, sondern auf (möglicherweise unbewußten) Vorentscheidungen in bezug auf die Motivierung prophetischer Stellungnahmen beruht. Die Frage nach dem historischen Ort hat aus diesem Grund sorgfältig zu differenzieren zwischen Bezügen, die der Text selbst herstellt, und solchen, die sich aufgrund anderer Überlegungen ergeben können. Es kann nicht erstaunen, daß, wenn die Texte in dieser Weise wahrgenommen werden, der Ertrag häufig viel geringer ausfällt, als es wünschenswert ist, und die Zuweisung nur sehr unpräzise und hypothetisch erfolgen kann. Das Interesse an konkreten Situationen, in welchen das Auftreten des Propheten gedacht werden kann, ist in diesem Ausmaß in der Erforschung der Völkersprüche nicht üblich. Meist begnügt man sich damit, festzustellen, daß der Sitz im Leben eines Spruches am Königshof oder im Kult oder im Heiligen Krieg zu suchen sei; 1 3 7 am ehesten werden die näheren Begleitumstände im letzteren Zusammenhang herausgearbeitet, weil die biblischen Quellen in diesem Zusammenhang am reichsten fließen. Diese Lücke ist verständlich, geben doch die prophetischen Texte nur vergleichsweise selten Einblick in ihre Entstehungssituation, und wenn sie dies tun, dann häufig ohne Hinweise darauf, w i e und unter welchen Umständen sie einem Publikum vorgetragen oder in einer anderen Form veröffentlicht wurden. Gerade dieser konkreten Vorstellung aber bedarf die exegetische Untersuchung. Der in seiner Letztgestalt vorliegende, schriftlich überlieferte, seines ursprünglichen Kontextes und seiner ursprünglichen Kommunikationssituation beraubte Text hat wohl seine eigene Bedeutung, seine eigene Funktion und daher ein Recht darauf, als solcher wahrgenommen und interpretiert zu werden; dieses Recht darf jedoch den gegenüber der Sammlung im Normalfall primären Einzeltexten ebenso-

136

Zur Sache s. unten S. 178. Noch weniger versteht L.C. HAY unter dem Begriff „Sitz im Leben", wenn er diesen im Aufweis der historischen Situation der Texte erfaßt zu haben meint (Oracles lf.). Dies ist allerdings eine im Blick auf die ursprüngliche Verwendung des Terminus unzulässige Einengung. 137

Z u r D e f i n i t i o n v g l . KOCH, F o r m g e s c h i c h t e 3 4 - 3 6 .

36

I.

Einleitung

wenig abgesprochen werden. Wenn es sich darum handelt, das Profil der prophetischen Verkündigung Jeremias herauszuarbeiten, muß vielmehr der Einzeltext auch unabhängig von seiner literarischen Einbindung in ein Korpus, dafür umso mehr auf dem Hintergrund konkreter historischer Umstände in den Blick kommen. 1 3 8 Für die Frage nach der Funktion und der Intention der Völkersprüche ist diese Blickrichtung unabdingbar. Die Vorstellungen, daß der Prophet einen Völkerspruch z.B. im Rahmen einer kultischen Handlung vorträgt oder aber während einer Audienz beim König, daß er ihn im Rahmen eines Rituals auf ein Gefäß schreibt und dieses anschließend zerbricht oder aber bei politischen Propagandaveranstaltungen in Form von Völkersprüchen Parolen ausgibt, führen offensichtlich zu jeweils ganz unterschiedlichen Interpretationen der Funktion der Sprüche und der Intention des Propheten. Die Frage nach der Verfasserschaft der Texte, die ihrerseits mit deren Funktion unauflösbar zusammenhängt, bleibt ein Problem, das nicht durch .Generalschlüssel' literarkritischer, sprachwissenschaftlicher, gattungsgeschichtlicher oder sonstiger Art zu lösen ist. Daß die Texte, die auf Jeremia zurückgehen, im Verlaufe ihrer Tradierung angewachsen sind, kann nicht zweifelhaft sein; die doppelte Gestalt des Jeremiabuches im MT und in der LXX, die sich (auch) in quantitativer Hinsicht deutlich unterscheiden, belegt dies - selbst wenn erst spätere Schreiber oder Übersetzer dafür verantwortlich zu machen sein sollten 139 - nachdrücklich. In dieser Frage ist ein methodischer Zirkelschluß nicht ganz vermeidbar: Ob ein Wort von Jeremia stammt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es in seine Zeit und zu seiner Theologie, wie sie in anderen Texten zum Ausdruck kommt, paßt; Theologie und konkrete Daten aus dem Leben des Propheten, die über allgemeine zeitgeschichtliche, auch andernorts erhältliche Informationen hinausgehen, lassen sich aber nur aus den Texten erheben, weil dafür keine anderen Quellen zur Verfügung stehen. Die vorliegende Arbeit verfolgt aus diesem Grund einen induktiven Ansatz, indem von einer verhältnismäßig leicht zu sichernden Basis ausgegangen wird: den Ausgangspunkt bilden Beobachtungen inhaltlicher und formaler Art am ersten Ägypten-Gedicht Jer 46,3-12. Dieses genießt in der Forschung - soweit mit authentischen jeremianischen Völkersprüchen überhaupt gerechnet wird - mit Abstand am meisten Vertrauen und eignet sich deshalb zur Behandlung grundlegender Fragen sehr gut. Hinzu kommt, daß kaum ein anderer Text von sich aus - auch unter Absehung von der redaktionellen Überschrift - derart deutliche historische Bezüge herstellt wie dieser. Läßt sich zeigen, daß das erste Ägypten-Gedicht bzw. ein Kern dieses Textes mit größter Wahrscheinlichkeit von Jeremia stammt, so ergeben sich daraus gewisse inhaltliche und formale Vergleichsdaten, auf welche die Analysen der folgenden Texte aufbauen können; neue Daten können mit diesen in Beziehung 138 Zum methodischen Problem der Erhellung der Kommunikationssituation s. SCHWEIZER, Biblische Texte verstehen 115. 139 Zur Frage vgl. das folgende Kapitel.

4. Fragestellungen

und methodische

Aspekte

37

gesetzt und dagegen abgewogen werden, so daß sich zunehmend ein Bild des Inhalts und des Stils der jeremianischen Texte entwickeln läßt. Außerdem sind inhaltliche und formale Vergleiche mit jeremianischen Texten außerhalb des Komplexes der Völkersprüche überraschend gut möglich, die das auf diese Weise erarbeitete Kriterium zu unterstützen vermögen. 1 4 0 Ein Pauschalurteil in bezug auf die (Un-) Echtheit der Texte ist unter allen Umständen zu vermeiden; dadurch wird der Blick für die Texte von vornherein verstellt und eine differenzierte Wahrnehmung verunmöglicht. 1 4 1 Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die sekundäre Sammlung, Bearbeitung und Anreicherung möglicherweise ursprünglich auf Jeremia zurückgehender Texte keinesfalls als Argument dafür dienen kann, die Texte insgesamt für unecht zu erklären. 1 4 2 U m von einer methodisch gesicherten Grundlage auszugehen, bildet die Analyse der Texte deshalb den Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Eine literaturwissenschaftlich orientierte Analyse und Darstellung im Sinne der von W. Richter grundlegend entwickelten und in zahlreichen Studien verfeinerten Methodik, wie sie etwa in den Bänden der Reihe „Arbeiten zu Text und Sprache im Alten

140 Daß durch dieses Vorgehen kein „objektiver" Erweis für die Echtheit oder Unechtheit der Texte zu erbringen ist, ist nicht zu bestreiten. Immerhin kommt dieser induktive Vorgang so wenig von feststehenden Prämissen her als möglich. Über subjektive Urteile ist leider grundsätzlich nicht hinauszukommen (vgl. HERRMANN, Jeremia - der Prophet und die Verfasser 197f.). 141 Ein solches schwerwiegendes Pauschalurteil kommt schon in der Studie SCHWALLYS zum Ausdruck, wenn er an Einzeltexten gewonnene Kriterien für Unechtheit auf die Völkersprüche insgesamt überträgt. So untersucht SCHWALLY Z.B. ausführlich die literarischen Dubletten in Kp. 48 und 49 (Reden 207-213), ohne allerdings ein Abhängigkeitsverhältnis in die eine oder andere Richtung schlüssig nachweisen zu können. Dessenungeachtet ist ihm die Tatsache der Dubletten als solche Beweis genug für die Unechtheit der Texte: „Durch vorstehende Untersuchungen glauben wir gezeigt zu haben, daß auf die Frage nach der Abhängigkeit eines Autors von dem anderen nur selten eine befriedigende Antwort gegeben werden kann. So werthvoll ein fixes Resultat für eine litteraturhistorische Untersuchung ist, so genügt für unser Problem schon allein die Thatsache, daß in unserem Corpus überhaupt weitläufige Entlehnungen vorliegen. Diese können einem Schriftsteller wie Jeremia nicht zur Last gelegt werden." (ebd. 213) Diese Argumentation enthält zwei Fehlschlüsse, die deshalb hervorgehoben zu werden verdienen, weil sie im Zusammenhang mit der Begründung der Unechtheit der Völkersprüche in der Folge vielfach wiederkehren. Einerseits gibt es keinen Grund, literarische Dubletten an sich als Kriterium für Unechtheit zu werten, solange nicht erwiesen ist, welches das Original und welches die Kopie ist. Sollten sich die Jeremiatexte gegenüber den Parallelen in Jes 15f. bzw. Ob als ursprünglich, letztere dagegen als sekundär erweisen, so spricht dies sicher nicht gegen ihre jeremianische Herkunft - sowenig es für sich genommen dafür spricht. Andererseits ist es auch für den Fall, daß gezeigt werden könnte, daß die Texte des Jeremiabuches gegenüber den anderen sekundär sind, methodisch unzulässig, daraus die Unechtheit des ganzen Korpus abzuleiten. Die Tatsache, daß die Texte gewachsen sind, zwingt keineswegs dazu, alles Material dem Propheten abzusprechen. Würde ein derartiges Kriterium konsequent angewandt, bliebe wohl in den Prophetenbüchern so gut wie gar nichts übrig! 142

S o a u c h EISSFELDT, E i n l e i t u n g 4 8 9 , u n d HOLLADAY I I , 3 1 3 .

38

1.

Einleitung

Testament" angewandt wird, 1 4 3 wurde (entgegen der ursprünglichen Absicht) aus mehreren Gründen nicht vorgenommen. Literaturwissenschaftliche, vor allem strukturalistische und textlinguistische Analysen suchen Texte primär auf ihrer synchronen Ebene zu beschreiben und die Beziehungen der einzelnen Elemente des Textes zueinander zu erfassen; darin liegt die unbestrittene Stärke dieser Methodik. Zugleich liegt jedoch in dieser einseitigen Ausrichtung auch ihr beschränkter Nutzen. Zwar ist es nicht zu bestreiten, daß der Text in seiner Letztfassung, wie sie im M T vorliegt, d.h. unabhängig von allfälligen Vorstufen, ernstzunehmen und in seinem eigenen „kommunikativen Handlungsspiel" 1 4 4 wahrzunehmen ist. Für die Frage nach der ursprünglichen Funktion und Intention der Texte ist dieser Aspekt im Grunde jedoch sekundär, ja er kann diese geradezu überdecken oder - im Extremfall - in ihr Gegenteil verkehren. 145 Für die historische Rückfrage kann die jüngste Textfassung, die als solche das Werk verschiedener Hände darstellt, deshalb nur den Ausgangspunkt darstellen. Die Mittel strukturalistischer Textbeschreibung allein reichen bei einem geschichteten Text nicht aus, wenn es darum geht, mehr als den Text, wie er aus der letzten Hand kommt, zu erfassen und zu beschreiben; für diesen Zweck ist der Einbezug diachroner Aspekte und Methoden unumgänglich. 1 4 6 Das Jeremiabuch selbst zeigt dies stringent: Sowohl die Fassung der LXX als auch diejenige des MT bieten Texte mit je eigener Textualität und mit je eigenen Strukturen, die für sich analysiert und dargestellt werden könnten. Dadurch wäre jedoch über die den beiden Fassungen zugrunde liegenden, aber in unterschiedlicher Weise aufgenommenen jeremianischen Texte nichts ausgesagt, solange das diachrone Verhältnis der beiden Texttypen zueinander nicht bestimmt ist. Die Beschreibung der Textstruktur der jeremianischen Gedichte in ihrer alexandrinischen und masoretischen Fassung bringt von daher für die vorliegende Fragestellung wenig ein. Die exegetischen Methoden, die den Textanalysen zugrunde liegen, sind aus den genannten Gründen die herkömmlichen, wobei angesichts der poetischen Gestaltung der Texte der Erfassung poetischer Strukturen und Stilmittel besonderes Augenmerk

143 RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft; SCHWEIZER, Metaphorische Grammatik; ders., Biblische Texte verstehen; exemplarisch seien die Arbeiten genannt, die für die vorliegende Untersuchung einbezogen wurden: SEIDL, Texte und Einheiten; WEHRLE, Prophetie und Textanalyse. 144 Zum Begriff und zur exegetischen Relevanz des „kommunikativen Handlungsspiels" s. SCHWEIZER, Metaphorische Grammatik 221.266ff.; Biblische Texte verstehen 98f. 145 Ein Beispiel für letzteres ist etwa in der sekundären Zufügung der Heilsverheißung für Jakob-Israel 46,27f. an die vorangehenden Ägypten-Gedichten zu sehen. Wenn die unten im einzelnen zu entwickelnde und zu begründende Argumentation zutrifft, war die inhaltliche Opposition ,Unheil für Ägypten - Heil für Israel' ursprünglich gerade nicht gemeint und unterschiebt dem Text eine neue Bedeutung, wie sie sich aus späterer Sicht und unter veränderten Bedingungen ergab, auch wenn sie die Intention der Texte dadurch in ihr Gegenteil verkehrte. Daß dieses Verfahren der Neuinterpretation und Aktualisierung theologisch illegitim sei, ist damit nicht gesagt. 146 SCHWEIZER trägt diesem Faktum dadurch Rechnung, daß die Textbasis für die Untersuchung der bereits (text- und) literarkritisch untersuchte und gegebenenfalls in Schichten zerlegte Text darstellt (Metaphorische Grammatik 19, Biblische Texte verstehen 37). Zur Problematik dieses Ansatzes vgl. unten S. 95 Anm. 96 im Zusammenhang mit einem konkreten Fall, in welchem gerade die literaturwissenschaftlich orientierte Betrachtungsweise ihren Dienst verweigert.

4. Fragestellungen

und methodische

Aspekte

39

geschenkt wird. 1 4 7 D i e einzelnen Arbeitsschritte als solche werden - ebenfalls im Unterschied zu einer Tendenz literaturwissenschaftlich orientierter Untersuchungen nicht in extenso vorgeführt; vielmehr werden nur die im Blick auf die Fragestellung relevanten Daten zusammengetragen. Eine A u s n a h m e bildet in dieser Hinsicht lediglich die Behandlung des M T und der L X X , die - nicht nur, aber besonders - im Jeremiabuch speziellen B e d i n g u n g e n unterliegt, die im folgenden Kapitel näher zu erläutern sind.

Neben der Frage nach der ursprünglichen Funktion und dem historischen Ort der jeremianischen Völkersprüche, mit welcher die Echtheitsfrage verquickt ist, gilt der Entstehung des Jeremiabuches und vor allem der Rolle, welche den Völkersprüchen dabei zukommt, ein besonderes Augenmerk. Auch dieser Horizont ist von der Doppelüberlieferung des Buches in LXX und MT her vorgegeben. Damit ist allerdings ein Bereich zu betreten, der überaus komplex ist und zahlreiche Überlegungen bedingt, die den Rahmen dieser Untersuchung bei weitem sprengen. Es kann sich deshalb lediglich darum handeln, einige Hauptlinien aufzuweisen. Einer besonderen Begründung bedarf schließlich die Begrenzung der Untersuchung auf Kapitel 46-49. Die Beschränkung auf die sich (mit wenigen Ausnahmen) auf unmittelbare Nachbarvölker Judas beziehenden Sprüche unter Ausschluß derjenigen, die sich mit dem Untergang Babels und dem damit zusammenhängenden Ende des Exils beschäftigen, liegt einerseits von der oben dargestellten forschungsgeschichtlichen Situation her, 148 andererseits aber und vor allem aus formalen und inhaltlichen Gründen nahe. Die Babelsprüche Jer 50f. sind von auffallend anderem literarischen Charakter als die übrigen Sprüche des Völkerspruchkomplexes. Wenn auch das Moab-Kapitel 48 und der Edom-Text 49,7-22 Ansätze zu ähnlichen Tendenzen zeigen, so fallen die Babel-Kapitel doch dadurch auf, daß sie zu umfangreichen Kompendien von unterschiedlichsten auf Babylon bezogenen Texten angewachsen sind. Nicht nur heben sich die beiden Kapitel durch ihre außerordentliche Länge gegenüber allen anderen auf Einzelvölker bezogenen Texten ab, 149 auch die häufigen Wiederholungen und die an Monotonie grenzende Redundanz fallen auf. Außerdem sind zahlreiche Einzelsprüche Dubletten zu Texten aus anderen Zusammenhängen, die offenbar sekundär auf Babylon übertragen wurden. Ganz anders als in Kapitel 46-49, wo Begründungen der Unheilsansage fast vollständig fehlen, wird das Unheil Babylons mehrfach mit dessen Handeln an Juda begründet (50,14.17f.29; 51,6f.24f.34-36). Am meisten muß jedoch ins Gewicht fallen, daß mit Babylon dasjenige Volk angesprochen ist, 147 Maßgebend sind etwa die „Klassiker" unter den Einführungen in die Methodik wissenschaftlicher Exegese von FOHRER u.a., Exegese, STECK, Exegese, und KOCH, Formgeschichte, ergänzt durch spezifisch poetologisch orientierte Ansätze, etwa WATSON, Classical Hebrew Poetry; Einzeldarstellungen aus letzterem Bereich werden jeweils an Ort und Stelle genannt. 148 Vgl. oben S. l l f f . 149 Die beiden Babel-Kapitel 50f. umfassen zusammen 110 von insgesamt 231 Versen im ganzen Korpus, also fast die Hälfte.

40

I.

Einleitung

von dem Juda-Jerusalem und die Nachbarvölker in der Zeit Jeremias bedroht waren und das der Prophet als den Vollstrecker des Willens JHWHs bezeichnet hatte. Während der Feind, den Jeremia Juda-Jerusalem und den Völkern ankündigt, ohne Schwierigkeiten mit Babylon identifiziert werden kann unabhängig davon, ob diese Interpretation im Horizont des Propheten tatsächlich gelegen hat oder von welchem Zeitpunkt an dies der Fall war - , ist dies bei Babylon selbst natürlich nicht möglich; hier muß der Feind ein anderer sein, so daß diese Texte sich gegenüber den anderen Völkersprüchen selbst abgrenzen. Während die Völkersprüche in Kapitel 46-49 die potentiellen Opfer der babylonischen Feldzüge in den Blick nehmen, handeln die BabelKapitel 50f. von den Eroberern selbst. Ohne damit ein Urteil über die Texte zu präjudizieren, ist es nicht zu bestreiten, daß sich in diesem Wechsel des Bezugs ein schwerwiegender Perspektivenwechsel zeigt, 150 der es rechtfertigt, diese Texte aus der primären Untersuchung auszuschließen. 151 Damit ist der Gang der folgenden Untersuchungen vorgezeichnet. In ausführlichen, wenn auch im Blick auf die genannten Fragestellungen beschränkten Analysen (Kp. III) sollen zunächst die Texte selbst in den Blick genommen und induktiv Kriterien der Unterscheidung von jeremianischen und nichtjeremianischen Texten erarbeitet werden. Gleichzeitig gilt ein besonderes Augenmerk offensichtlichen und impliziten Hinweisen auf mögliche konkrete Situationen und Verwendungsweisen der Völkersprüche. In einem weiteren Hauptteil (Kp. IV) sind die in den Analysen gesammelten Hinweise unter systematischen Gesichtspunkten zusammenzustellen und im Hinblick auf die Fragen nach der Funktion der Texte, nach der Art ihrer Veröffentlichung und den Adressaten auszuwerten. Dabei sollen möglichst konkrete, realistische Modelle entwickelt werden, wie und zu welchem Zweck der Prophet mit seiner Botschaft auftrat. Anschließend soll die weitere Geschichte der jeremianischen Völkersprüche über verschiedene Stufen der Rezeption und Bearbeitung, die ihre Spuren in den Texten hinterlassen haben, verfolgt werden (Kp. V). Dieser Arbeitsgang versteht sich ausdrücklich nicht als Anhang zur 150 Auch wenn die Bezeichnungen und Beschreibungen des Feindes auffällig eng an diejenigen in Kp. 46-49 anschließen („Feind aus dem Norden", 50,3-9.41.48), so geben doch die Texte selbst zu erkennen, daß ein anderer Feind im Blick ist als dort (vgl. die Aufzählung der Feinde Babylons 51,27f.). 151 Die Tatsache, daß Kp. 50f. zum Korpus der Völkersprüche des Jeremiabuches hinzugehören, ist damit nicht in Abrede gestellt. Die Babel-Texte stehen mit Kp. 46-49 zusammen unter der Überschrift in 46,1; erst in Kp. 52 setzt mit dem Anhang eine neue Einheit ein. Für die LXX, die die Babel-Texte nicht an letzter, sondern an dritter Stelle bietet, gilt zusätzlich, daß Babylon als ein Volk unter anderen behandelt wird; zudem hat das ganze Korpus der Völkersprüche offenbar eine gemeinsame Geschichte, wenn es geschlossen (wenn auch im Innern unterschiedlich geordnet) in der L X X an anderer Stelle im Gesamtaufriß des Buches eingereiht ist als im MT. Dies schließt umgekehrt nicht aus, daß die Babel-Texte eine eigene literarische Geschichte haben (vgl. 51,59-64). Wenn es darum geht, die Geschichte des Völkerspruchkomplexes und dessen Rolle innerhalb der Redaktionsgeschichte des Buches zu verfolgen (Kp. V), kann daher auf die Einbeziehung der Babel-Kapitel nicht verzichtet werden.

4. Fragestellungen

und methodische

Aspekte

41

eigentlichen Interpretation, sondern als integraler Bestandteil derselben, da es sich dabei um die Interpretation des ,kanonischen' Textes in seiner Letztgestalt handelt. 152 In einem abschließenden und zusammenfassenden Teil soll die Isolierung der Völkersprüche des Jeremiabuches von denjenigen anderer Prophetenbücher insofern wieder aufgehoben werden, als die Ergebnisse der Untersuchungen in Impulse und Fragestellungen für die Arbeit an jenen Texten umgesetzt werden. Die spezielle Situation des Jeremiabuches in bezug auf die Textüberlieferung, die bisher zwar gelegentlich angeklungen ist, jedoch insgesamt noch ausgeklammert blieb, erfordert vor den Textanalysen einige grundlegende Klärungen; diese sollen im folgenden Kapitel dem analytischen Teil vorangestellt werden. Dadurch ergeben sich eine Reihe von zusätzlichen methodischen Aspekten, die für die Analyse von Texten des Jeremiabuches relevant sind.

152 Damit führt die vorliegende Untersuchung über frühere Vorgänger hinaus, die sich i.a. damit zufrieden geben, die jeremianische Grundschicht herauszuarbeiten und zu interpretieren (so z.B. BLEEKER, Profetieen [mit einem knappen Anhang zur Redaktionsgeschichte des Jeremiabuches, 202-215], HAY, Oracles 2). Zu diesem Ansatz vgl. WILLI-PLEIN, Vorformen der Schriftexegese 1-4.

II. Die Textgrundlage: Zum Problem der verschiedenen Fassungen des Jeremiabuches 1. D e r A u s g a n g s p u n k t Der griechische Text des Jeremiabuches, wie ihn die LXX bietet, unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten vom hebräischen Text in seiner masoretischen Gestalt. 1 Zum einen ist der griechische Text beträchtlich kürzer als der hebräische: Frühere Berechnungen ergaben einen Unterschied von 2700 Wörtern, was einem Achtel des Textbestandes entspricht, neuere Untersuchungen sprechen von einem Siebtel oder 3097 Wörtern. 2 Dabei fehlen 3 nicht nur einzelne Wörter, sondern auch ganze Sätze und längere Abschnitte, so beispielsweise 8,10-12; 10,6-8.10; 11,7f.; 17,1-4; 29,16-20; 30,10f.; 33,14-26; 39,4-

1

Die masoretischen Handschriften des Jeremiatextes weichen untereinander nur in kleineren Einzelheiten ab, so daß sie als einheitliche Familie behandelt werden können; die Verhältnisse stellen sich hier nicht grundlegend anders dar als in den übrigen Büchern des Alten Testaments. Ebenfalls sind die Unterschiede zwischen dem M T einerseits und Targum, Peschitta und Vulgata sowie den LXX-Revisionen andererseits signifikant weniger zahlreich als diejenigen zwischen dem M T und der LXX und betreffen im großen und ganzen lediglich Details, so daß diese Übersetzungen im wesentlichen den M T spiegeln oder - im Falle der Peschitta - einen Mischtext bieten (vgl. Tov, Aspects 145-147, insbes. die Tabelle 147 Anm. 13; HOLLADAY II, 810). Von daher kann zusammenfassend, wenn auch etwas vereinfachend, von zwei Textformen gesprochen werden (vgl. Tov, Aspects 149). Zur Terminologie (Septuaginta [LXX], alexandrinische Textform [A1T], masoretische Textform [MT]) vgl. oben S. 5, insbes. Anm. 22f. 2 Der erste Wert stammt von GRAF (XLIII; vgl. GIESEBRECHT XXVff.), der zweite von MIN (Minuses and Pluses 159, zit. bei SODERLUND, Greek Text 11 bzw. 253 Anm. 26). Von einem Sechstel spricht neuerdings - ohne nähere Angaben, jedoch wohl irrtümlich - Tov, Textual Criticism 320. 3 Zur Terminologie sei vermerkt, daß von „Fehlen" hier in einem neutralen Sinn gesprochen wird, d.h. lediglich um anzuzeigen, daß eine Texttradition Material enthält, das in einer anderen nicht vorhanden ist. Insbesondere ist keinerlei Implikation damit verbunden, worin der Grund für den Unterschied zwischen den Texttraditionen liegt oder welche als „ursprünglich" oder „besser" vorzuziehen ist. JANZEN spricht in diesem Zusammenhang von „zero variant" („Nullstelle", „Leerstelle") (vgl. Studies 187 Anm. 4). Der m.W. von STIPP (Sondergut 5) eingeführte Ausdruck „masoretisches Sondergut" bzw. „masoretische Sonderlesarten" dürfte im Deutschen die passendste, da neutralste Bezeichnung sein; ihr entspricht auf Seiten der L X X das „alexandrinische Sondergut".

1. Der

Ausgangspunkt

43

13; 48,45f.; 51,44d-49a; 52,2f.27c-30. 4 Zum zweiten findet sich in der LXX neben kleineren Unterschieden in der Anordnung des Textes 5 - der Komplex der Völkersprüche, der im MT als Kapitel 46-51 vor dem Anhang Kapitel 52 das Jeremiabuch beschließt, in der Mitte des Buches nach 25,13, wobei die Becherperikope 25,15ff., im MT von den Völkersprüchen getrennt, den Abschluß bildet. Dazu kommt, daß die Reihenfolge der einzelnen Völkersprüche innerhalb der Sammlung im MT und in der LXX nicht dieselbe ist. 6 Es empfiehlt sich, vor der Analyse der Einzeltexte diesem auffälligen und zumindest im Hinblick auf die Quantität der Unterschiede - einzigartigen Phänomen und seinen Implikationen gesondert nachzugehen. Die Diskussion um das Verhältnis zwischen dem MT und der LXX, die seit über zwei Jahrhunderten geführt wird, und die Textfunde in der judäischen Wüste, welche die Diskussion neu angefacht und in der alttestamentlichen Textforschung teilweise neue Gesichtspunkte zum Tragen gebracht haben, vermochten zu zeigen, daß der Prozeß der Textüberlieferung zu komplex und zu vielgestaltig ist, als daß im Rahmen der exegetischen Untersuchung textkritische Entscheidungen lediglich jeweils im Einzelfall getroffen werden könnten. Es bedarf eines übergreifenden Modells, welches das Verhältnis zwischen der LXX und dem MT des Jeremiabuches zuverlässig beschreibt und dabei die Unterschiede zwischen beiden grundsätzlich erklärt, so daß in den Textanalysen von einer gesicherten Grundlage ausgegangen werden kann. Die Jeremiaforschung der letzten 20 Jahre hat, ältere Ansätze der Forschung des 19. Jahrhunderts aufnehmend, entscheidend jedoch geprägt durch die bedeutenden Textfunde in Höhle 4 von Qumran, ein solches Modell entwikkelt und in zahlreichen Einzelstudien verfeinert. Dieses ist für die Analyse von Texten des Jeremiabuches von großer Bedeutung und trägt darüber hinaus zu wesentlichen neuen Gesichtspunkten im Bereich der alttestamentlichen Text- und Literarkritik sowie der Redaktionsgeschichte bei. 7

4 Nach STIPP, Sondergut 1. Listen der Unterschiede zwischen LXX und M T bieten etwa WORKMAN, Greek Text of Jeremiah 283-398, GIESEBRECHT XIX-XXXIV, CONDAMIN XXXf.; ausführlich und klassifiziert, allerdings nur für die Kp. 1-25, sind die Listen bei MCKANE xvixli, die außerdem die übrigen alten Versionen berücksichtigen. 5 So z.B. 23,7f., welche in L X X nach 23,40 stehen, sowie mehrere Umstellungen in 10,5-12. 6 V g l . die Tabellen oben S. 7. 7 Zur zunehmenden Einsicht in die Interdependenz exegetischer Gesichtspunkte wie Text-, Literar- und Redaktionskritik bzw. -geschichte vgl. die forschungsgeschichtliche Orientierung bei STIPP, Das Verhältnis von Textkritik und Literarkritik. Daß durch die Funde von Qumran nicht nur das Bild der Textgeschichte beeinflußt wird, betonte schon 1972 E. Tov (Incidence 189; vgl. Aspects 145.167). Vgl. ferner STIPP, Textkritik - Literarkritik - Textentwicklung.

44

II. Die

Textgrundlage

2. Die Septuaginta-Frage im 19. Jahrhundert und der pragmatische Status quo Daß der griechische und der hebräische Text des Jeremiabuches große Unterschiede aufweisen, ist keine neue Entdeckung; schon Origenes und Hieronymus und andere Lehrer der Alten Kirche gaben ihrem Befremden darüber Ausdruck. 8 Die Forschung beschäftigte sich, nachdem sie sich früher zumeist damit zufrieden gegeben hatte, die Abweichungen in kritischen Ausgaben zu notieren, mit diesem Problem vor allem im 19. Jahrhundert eingehend und kontrovers, ohne zu einem Konsens zu finden. Im wesentlichen standen sich dabei zwei Erklärungsmodelle gegenüber. Die eine Seite ging davon aus, daß die Abweichungen der LXX vom MT auf deren Übersetzer zurückgehen; dieser muß seine Vorlage, die im wesentlichen mit dem MT übereinstimmte, stark gekürzt und einzelne Texte umgestellt haben. Die andere Seite dagegen vertrat die Auffassung, daß der ausgesprochen weitschweifige Text des MT unmöglich original sein könne; der von der LXX bezeugte kürzere Text muß deshalb auf einen älteren hebräischen Text zurückgehen, so daß die Abweichungen nicht auf die Tätigkeit des LXX-Übersetzers, sondern auf unterschiedliche innerhebräische Texttraditionen zurückzuführen sind. 9 Die erste der LXX-Frage des Jeremiabuches gewidmete Monographie von M.G.L. Spohn aus dem Jahre 1824 entwickelte die These, daß der Text der LXX gegenüber dem MT gekürzt sei, aufgrund der Beobachtung, daß einige im MT doppelt vorkommende Texte in der LXX nur einmal wiedergegeben sind. Der Übersetzer, so interpretierte Spohn diesen Befund, habe solche Passagen nur einmal übersetzt, wobei er vielleicht ursprünglich in seinem Manuskript die Stelle, an welcher er eine Dublette ausließ, gekennzeichnet habe. In ähnlicher Weise habe er beim Übersetzen auch andere, nur einmal vorhandene Texte, gekürzt. Da er als Privatmann gearbeitet und die Texte nicht in offiziellem Auftrag, sondern für seinen eigenen Gebrauch übersetzt habe, seien solche Kürzungen - besonders im Blick auf den Umfang des Jeremiabuches durchaus verständlich und legitim. 10 Die geschlossenste Argumentation für das Modell, das die Kürzung dem Übersetzer der LXX anlastet, bot K. H. Graf in der Einleitung seines JeremiaKommentars. 11 Da hier alle relevanten Aspekte genannt sind, die auch in der folgenden Diskussion und bis in die Gegenwart hinein bestimmend sind, kann diese Position als exemplarisch gelten. 8 Vgl. die Hinweise bei FISCHER, Jer 25 und die Fremdvölkersprüche 474 Anm. 1, und SODERLUND, Greek Text 4f. 9 Zur Geschichte der LXX-Forschung in bezug auf das Jeremiabuch vgl. JANZEN, Studies 2-

9; SODERLUND, G r e e k Text 11-13; STULMAN, Prose S e r m o n s 4 9 - 5 2 ; BOGAERT, L e Livre d e

Jeremie en perspective 365-372. 10 SPOHN, Ieremias Vates, zusammengefaßt bei JANZEN, Studies 2f. 11 GRAF XL-LVII. Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Kommentar.

2. Die Septuaginta-Frage im 19. Jahrhundert und der pragmatische Status quo

45

Bei vielen der fehlenden Wörter handelt es sich um häufig auftretende Formeln, Namen und Titel. Es ist deshalb wahrscheinlicher, daß diese beim Übersetzen weggelassen als daß sie dem hebräischen Text später hinzugefügt wurden: Die L X X strebt „nach Weglassung des als überflüssig Erscheinenden". Der Übersetzer kürzte die breite, weitschweifige jeremianische Ausdrucksweise, die sich durch Synonyme und Pleonasmen auszeichnet, vor allem dort, wo es sich um Angaben und Bestimmungen handelt, „die einem Spätem unerheblich und darum überflüssig scheinen mochten"; der umgekehrte Vorgang dagegen, daß ein späterer Überarbeiter den ohnehin breiten Stil durch Zusätze und Glossen zusätzlich verbreitert, ist nicht denkbar (XLIVf.). Die Häufigkeit der Abweichungen, die sich offensichtlich der „Willkür oder Unwissenheit oder Gedankenlosigkeit des Übersetzers" verdanken, läßt es als fraglich erscheinen, daß der Übersetzer seine hebräische Vorlage „gewissenhaft und wortgetreu" wiedergegeben hat. Liegt aber die Verantwortung für den stark abweichenden griechischen Text ganz auf seiner Seite, so ist die Existenz zweier unterschiedlicher Textformen abzulehnen; die „angebliche alexandrinische oder ägyptische Recension [ist] niemals hebräisch vorhanden gewesen, sondern nur griechisch in d. L X X zu finden und ein Werk des Übersetzers selbst" (LIf.). Der griechische Text ist gar so willkürlich verändert und derart stark verstümmelt, daß ihm jegliche kritische Autorität abgesprochen werden muß: „Bei den unzähligen Beweisen der Eigenmächtigkeit und Willkürlichkeit des alexandrinischen Übersetzers ist es ganz unmöglich seiner Bearbeitung - denn Übersetzung kann man es kaum nennen - irgend eine kritische Auctorität zuzuerkennen und daraus auf eine von der uns überlieferten Gestalt seines hebräischen Textes zu schließen." (LVI) G r a f s s c h r o f f e A b l e h n u n g d e r L X X als H i l f e b e i d e r R e k o n s t r u k t i o n e i n e s ä l t e r e n h e b r ä i s c h e n T e x t e s r i c h t e t s i c h g e g e n d i e a n d e r e H a u p t t h e s e , d i e , als G e g e n p o s i t i o n z u M . G . L . S p o h n e n t w i c k e l t , seit d e r S t u d i e v o n F . C . M o v e r s a u s d e m J a h r e 1 8 3 7 z a h l r e i c h e A n h ä n g e r f a n d u n d zu e i n e r h e f t i g e n D e b a t t e führte. Movers hatte die parallelen Texte Jer 52 und IIReg 25 verglichen und festgestellt, daß die griechische Fassung von Jer 52 mit IIReg 25 gegen die masoretische Gestalt von Jer 52 übereinstimmt. D a d u r c h w a r f ü r ihn deutlich, d a ß d i e L X X d e n ä l t e r e n T e x t d a r s t e l l t als d e r M T . W o d i e s e r ü b e r d i e L X X h i n a u s g e h t , h a n d l e e s sich - w e n n e i n I r r t u m in d e r i n n e r g r i e c h i s c h e n T r a d i t i o n ( z . B . d u r c h H o m o i o t e l e u t o n ) a u s g e s c h l o s s e n ist - u m G l o s s e n , d i e s i c h der T e n d e n z der Schreiber, a u s z u s c h m ü c k e n u n d zu verdeutlichen, verdanken. Im ganzen gelte daher, daß aufgrund der großen Zahl von Z u f ü g u n g e n im M T g r u n d s ä t z l i c h d i e e i n f a c h e r e , k ü r z e r e L e s a r t als d i e ä l t e r e d e r l ä n g e r e n , e r w e i t e r t e n v o r z u z i e h e n sei. D i e L X X s p i e g l e d e s h a l b e i n e b e s s e r e F o r m d e s J e r e m i a t e x t e s w i d e r als d i e m a s o r e t i s c h e T r a d i t i o n . 1 2 Direkt auf M o v e r s Studie baute diejenige von A. Scholz auf, der seinerseits G r a f s Position zu widerlegen suchte. Scholz untersuchte den Charakter der L X X - Ü b e r s e t z u n g u n d s t e l l t e f e s t , d a ß sie d u r c h g ä n g i g s o r g f ä l t i g u n d w ö r t l i c h ist. O f t m a l s f o l g t sie g a r d e r h e b r ä i s c h e n V o r l a g e in b e z u g a u f W o r t f o l g e und Satzkonstruktion auch gegen das griechische Sprachempfinden; unbe12

MOVERS,

Studies 3.

De utriusque recensionis Vaticinorum Ieremiae, zusammengefaßt bei

JANZEN,

46

II. Die

Textgrundlage

kannte Wörter werden transferiert, und auch schwierige Sätze versucht der Übersetzer wiederzugeben, selbst wenn sie im Griechischen keinen Sinn ergeben. Offenbar, so folgerte Scholz aus diesen Beobachtungen, blieb der LXXÜbersetzer seiner Vorlage treu und ließ keine Wörter und Passagen aus, selbst wenn er sie nicht verstand. Wo der MT über die LXX hinausgeht, müsse es sich deshalb um spätere Erweiterungen handeln, die der MT erfuhr, als die LXX bereits übersetzt war. Die LXX erlaubt mithin einen Rückschluß auf die Gestalt ihrer Vorlage. 13 Die Wertschätzung der LXX konnte bisweilen sehr weit gehen. So wurde mehrfach der Versuch unternommen, die Septuaginta ins Hebräische zurückzuübersetzen und so die Vorlage, welche der Übersetzer benutzte und die als dem MT weit überlegen angesehen wurde, zu rekonstruieren. Die methodisch zweifelhafte Arbeit von G.C. Workman aus dem Jahre 1889 14 blieb allerdings ohne Einfluß auf die folgende Diskussion. Auch die Untersuchung von E. Coste (1895), die der kritischen Rekonstruktion der LXX-Vorlage in Jer 25 und 46-51 gewidmet ist und deren Priorität gegenüber dem MT zu begründen sucht, 15 wurde von der folgenden Forschung kaum beachtet. Die vorläufig letzte Veröffentlichung zum Problem der zwei Texttypen, diejenige von A.W. Streane aus dem Jahre 1896, untermauert die von Movers und Scholz vertretene Position durch eine systematische Darstellung der Varianten in der Reihenfolge des Jeremiabuches. 16 Demgegenüber behandeln die textkritischen Studien zum Jeremiabuch von P. Volz zwar systematisch einige individuelle Textprobleme, greifen jedoch die grundsätzliche Frage der zwei Texttypen nicht auf, 17 und die Studie von W. Rudolph ist lediglich innergriechischen Schreibfehlern sowie dem Phänomen der Übersetzung hebräischer Wörter nach den entsprechenden aramäischen Stämmen gewidmet. 18 Auch die Dissertation von A.P. Hastoupis, welche Jer 1-25 analysiert, führt die Diskussion nicht über die bisher genannten Gesichtspunkte hinaus. 19 In den Kommentaren zum Jeremiabuch werden beide Positionen vertreten. Eine Minderheit der Exegeten zieht die LXX, genauer den als ihre Vorlage rekonstruierten hebräischen Text, grundsätzlich dem jetzt vorliegenden, als sekundär erweitert eingestuften MT vor und macht ihn zum Ausgangspunkt 13 14 15

16

SCHOLZ, Der masorethische Text, zusammengefaßt nach JANZEN, Studies 5f. WORKMAN, The Text of Jeremiah; vgl. dazu JANZEN, Studies 6. COSTE, W e i s s a g u n g e n .

STREANE, The Double Text of Jeremiah; vgl. dazu JANZEN, Studies 6. VOLZ, Text; es handelt sich dabei um eine Ergänzung zum Jeremia-Kommentar, der durch die separate Veröffentlichung einiger Untersuchungen zu textlichen Problemen entlastet werden konnte (ebd. III). 18 RUDOLPH, Text. Im zweiten Teil der Studie stellt RUDOLPH außerdem die von ihm für die 3. Auflage der Kittel-Bibel vorgeschlagenen Textverbesserungen zusammen. "HASTOUPIS, Septuagint Text (mir nicht zugänglich; vgl. dazu JANZEN, Studies 189 Anm. 21). Weitere Veröffentlichungen zum LXX-Problem im Jeremiabuch sind genannt bei BROCKFRITSCH- JELLICOE, Classified Bibliography 139f., ältere Arbeiten zudem bei GIESEBRECHT XLI. 17

2. Die Septuaginta-Frage

im 19. Jahrhundert

und der pragmatische

Status quo

47

der Interpretation und der Rekonstruktion der jeremianischen Verkündigung; hier sind etwa die Kommentare von F. Hitzig 2 0 und B. Duhm 2 1 zu nennen, die allerdings eklektisch und unsystematisch verfahren, 22 sowie in neuster Zeit aufgrund der neuen Quellenlage (s. Abschnitt 3) wieder - allerdings in unterschiedlichem Maß an Konsequenz - die Kommentare von J.A. Thompson, R.P. Carroll, W. McKane, W.L. Holladay und D.R. Jones. 23 Die große Mehrzahl der älteren Exegeten dagegen folgt im wesentlichen dem MT als der besseren Textform, zieht allerdings die LXX gelegentlich zur Erhellung von textlichen Schwierigkeiten bei. 2 4 Diesen textkritischen Ansatz verfolgen - mit Ausnahmen in Einzelfällen - neben dem bereits genannten K.H. Graf etwa die Jeremia-Kommentare von C. von Orelli, F. Giesebrecht, A. Condamin, R Volz, F. Nötscher, W. Rudolph und A. Weiser. 25 Als klassisch kann hier wieder die Begründung im Kommentar von Graf bezeichnet werden: „Wenn wir sonach der alexandrinischen Übersetzung jeden kritischen Werth absprechen, so soll damit nicht gesagt sein, daß sich nicht darin hie und da die Spuren einer bessern Lesart als der masorethischen erhalten haben können... Es wird daher wohl verstattet sein, bei offenbar verdorbenen Stellen die alexandrin.

20

Vgl. HITZIG XV-XVII; die LXX biete einen „noch nicht glossematisch erweiterten Text" (ebd. XVI). 21 Vgl. DUHM XXII: Einige Dubletten des M T hätten die LXX-Übersetzer weggelassen; insgesamt jedoch beruhe der M T „auf prunkvolleren Handschriften, deren Schreiber besonders in der zweiten Hälfte des Buches sich nach Kräften bemühen, die Zeilenzahl durch unnötige Ausfüllungen und Wiederholungen zu vermehren, oft auf Kosten der Deutlichkeit." Diese Handschriften seien zudem redaktionell bearbeitet, was vor allem an der Stellung der Völkersprüche deutlich werde. Über Schreibfehler, die in beiden Texttypen vorkommen, müsse von Fall zu Fall entschieden werden; allgemeine Regeln für die Bevorzugung des hebräischen oder des griechischen Textes könnten aus den Differenzen nicht abgeleitet werden, da diese lediglich „den Unterschied zwischen schlichteren und prächtigeren Handschriften und zwischen einer älteren und einer jüngeren Phase in der Redaktion eines unfertig gebliebenen Buches", jedoch nicht zwei „nach bestimmten Principien redigierte Recensionen" spiegelten. 22 V g l . dazu das Urteil von BOGAERT, De Baruch à Jérémie 168: „S'ils [sc. les grands commentaires] reconnaissent la valeur de la Septante, c'est occasionnellement et non en tant qu'elle est une forme cohérente du livre de Jérémie." 23

24

V g l . T H O M P S O N 1 1 7 - 1 2 0 ; CARROLL 5 0 - 5 5 ; M C K A N E x v - x x i ; H O L L A D A Y I I , 2 - 8 ; J O N E S 4 9 f .

Z u r Kritik an diesem Ansatz vgl. schon COSTE, Weissagungen 3: „Gar häufig fällt dem Griechen keine andere Rolle zu, als die des Strohhalmes, an den der versinkende Exeget sich dann anklammert, wenn ihn der Hebräer völlig im Stiche läßt." 25 Vgl. VON ORELLI 14-16 („Statt zweier Textgestalten haben wir nur eine hebräische Rezension und eine unzuverlässige Übersetzung, welche meistens nur einen unsichern Schluß auf ihre hebräische Vorlage gestattet." Gelegentlich weist der M T aber auch Lücken auf oder ist [seltener] „glossatorisch erweitert" [ebd. 15]); GIESEBRECHT XXV-XL; CONDAMIN XXV-XXXIII (obwohl CONDAMIN davon ausgeht, daß jede Stelle für sich zu prüfen sei [ebd. XXXIf.], erweist sich im Einzelfall meist der M T als älter, der Text der LXX dagegen als Kürzung [ebd. XXXIIf.]); VOLZ Lf.; ders., Text; NÖTSCHER 20f.; RUDOLPH XXIIf. („Daß ® nach Kürzung strebt, ist unverkennbar und bei der Breite der Quellen B und C wohl begreiflich..."; daneben finden sich jedoch nicht selten auch unabsichtliche Auslassungen, v.a. durch Homoioteleuton. Andererseits fehlen in der LXX einzelne Verse und auch längere Passagen, die „aus inneren Gründen" als Zusätze im M T beurteilt werden müssen); WEISER XLIII.

48

II. Die

Textgrundlage

Übersetzung ebenso zu Hülfe zu nehmen wie dies bei andern Büchern des A.T. geschieht, nur wird ihr Gebrauch immer ein untergeordneter und durch andere Gründe bedingter sein." 26 Dieser Ansatz, der sich im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger zum Konsens entwickelte, stellt einen vermittelnden Standpunkt zwischen den beiden Extrempositionen dar, indem zwar im ganzen vom MT ausgegangen wird, dieser jedoch gelegentlich und in begründeten Fällen mithilfe der LXX auch kürzend korrigiert werden kann. Gelegentlich kann schließlich auch die Überlegenheit eines Textes über den anderen in beiden Richtungen überhaupt abgelehnt werden; in diesem Fall wird jede Variante für sich geprüft und - mindestens theoretisch - ohne Beeinflussung durch ein übergreifendes Schema beurteilt. So verfahren etwa die Jeremia-Kommentare von Hyatt, Bright und Huey. 27 Die Argumentationsweisen der einander gegenüberstehenden Positionen offenbaren das Grundproblem dieser Art von Auseinandersetzung und machen deutlich, weshalb die Debatte ohne äußere Anstöße nicht sinnvoll weiterzuführen war. Der textliche Befund selbst ist nämlich durchaus ambivalent und läßt, wird nur auf ihn abgestellt, jeweils zwei für sich genommen oftmals durchaus gleichwertige Deutungen zu: Masoretisches Sondergut kann entweder als Erweiterung eines älteren kürzeren Textes gedeutet werden oder aber, da häufig dadurch der Text redundant bzw. schwerfällig erscheint und gelegentlich auch in syntaktischer Hinsicht problematisch ist, als Hinweis darauf, daß der LXX-Übersetzer einen ihm schwierig erscheinenden Text glättete. Die Vertreter der gegenteiligen Positionen wenden dabei nach Bedarf die sonst bewährten Grundsätze der Textkritik (Vorzug der lectio brevior oder der lectio difficilior) an, ohne daß deren Aussagekraft im Blick auf dieses komplexe Phänomen je infrage gestellt, geschweige denn geprüft worden wäre. Auf diesem Weg ist offensichtlich über ein subjektives Urteil nicht hinauszukommen.

3. N e u e Perspektiven durch die F u n d e in Q u m r a n Neu angefacht und entscheidend beeinflußt wurde die Diskussion durch Funde in der vierten Höhle von Qumran. Es zeigte sich nämlich, daß einige der neu entdeckten hebräischen Fragmente in signifikanter Weise nicht dem bekannten hebräischen Text, den die masoretische Tradition bietet, entsprechen, sondern dem griechischen Text der LXX. Von den bisher in Qumran aufgefundenen Texten des Jeremiabuches bieten deren drei (2QJer, 4QJer a und 4QJer°) eine der masoretischen Gestalt nahe

26 27

GRAF LVII. Vgl. HYATT 791; BRICHT CXXII-CXXIV; HUEY 31.

3. Neue Perspektiven durch die Funde in Qumran

49

Textform. 28 Zwei Fragmente jedoch (4QJerb und 4QJer d ) 29 entsprechen im wesentlichen in bezug auf die beiden Hauptcharakteristika des griechischen Textes, Länge und Reihenfolge, der LXX. Das Fragment 4QJerb enthält den Text Jer 9,21-10,21. Wie in der LXX fehlen V. 68.10, und die übrigen Verse folgen in bezug auf ihre Reihenfolge ebenfalls der LXX (l-4.5a.9.5b.llf.). Die über den Text des Qumran-Fragments und der LXX hinaus28 Ältere Beschreibungen der Beschaffenheit, des Textcharakters und der Orthographie der Qumran-Texte, die im folgenden nicht einzeln aufgeführt werden, finden sich in mehreren Aufsätzen des Sammelbandes von CROSS-TALMON, Qumran, bei CROSS, Ancient Library, und dems., Development 133-202. Die Veröffentlichung der Texte aus Höhle 4 in der offiziellen Ausgabe steht noch aus; sie war als DJD XII für 1992/93 angekündigt (ULRICH, Biblical Scrolls 216). Der Text von 2QJer, der Teile aus Jer 42-44; 46-49 enthält, ist in DJD III, 62-69, ediert. Der Herausgeber, M. BAILLET, datiert ihn auf anfangs des 1. Jahrhunderts v.Chr. Die meisten Abweichungen vom MT betreffen die Orthographie, die derjenigen etwa von lQJes a und 4QSam° nahe ist, so daß die Annahme naheliegt, daß diese Rolle in Qumran selbst geschrieben wurde. Trotz einiger auch von der LXX bezeugten Lesarten steht der Text insgesamt dem MT sehr nahe. Neuere Beschreibungen der Fragmente von 2QJer finden sich bei Tov, Aspects 146; Jeremiah Scrolls 198. 4QJer a enthält Teile aus der ersten Hälfte des Jeremiabuches (7,lf.15-19.28-9,2.7-15; 10,914.23; 11,3-20; 12,3-13,7.27-14,8; 15,lf.; 17,8-26; 18,15-19,1; 20,15-18; 21,1[?]; 22,3-16; 26,10). Eine vorläufige und unvollständige Transkription der Fragmente findet sich bei JANZEN, Studies 174-181. Die Rolle wurde von P.M. CROSS um 200 v.Chr. oder etwas später datiert (Oldest Manuscripts 164; Evolution 308.316 Anm. 8). Die Textform entspricht dem MT mit gelegentlichen orthographischen Abweichungen. Neuere Beschreibungen: Tov, Aspects 146; Jeremiah Scrolls 197ff.; 4QJer a ; YARDENI, Paleography. Zu den außerordentlich zahlreichen Korrekturen in 4QJer a , die fast ausschließlich Veränderungen zum MT hin darstellen, s. Tov, Jeremiah Scrolls 205f.; 4QJer" 38-41. Größere Selbständigkeit gegenüber der prämasoretischen und der LXX-Textform vertritt jüngst HACOHEN, 4QJer a . 4QJer c wird um die Zeitwende datiert (CROSS, Evolution 308) und enthält Teile aus Jer 8; 1922; 25-27; 30; 33. Der Text steht der prämasoretischen Textform (z.B. 4QJer") und den mittelalterlichen masoretischen Texten sehr nahe; es finden sich nur wenige und unbedeutende Abweichungen. Neuere Beschreibungen: Tov, Jeremiah Scrolls 197ff.; 4QJer c (editio princeps). 29 Die ursprünglich als 4QJer b bezeichneten drei Fragmente, die (1) 9,21-10,21; (2) 43,2-10; (3) 50,4-6 beinhalten, wurden von E. Tov 1989/90 aufgrund des unterschiedlichen Handschriftenstils und der unterschiedlichen Schreibgewohnheiten zu verschiedenen Rollen gerechnet und werden seither als (1) 4QJer b , (2) 4QJer d und (3) 4QJer c bezeichnet (Jeremiah Scrolls 191ff.). Dabei ist es denkbar, daß 4QJer b und 4QJer d zwar von verschiedenen Schreibern stammen, aber dennoch zu einer einzigen Rolle gehören (ebd. 195); 4QJer e dagegen stammt sicher von einer anderen Rolle, da das Fragment anders als 4QJer b und 4QJer d nicht den LXX-Text repräsentiert (ebd. 195-197). Vgl. Tov, Jeremiah-Scrolls 187-204; Three Fragments 531f. Beschreibungen der drei Fragmente (noch unter der Bezeichnung 4QJer b ) finden sich in JANZEN, Studies 181184; Tov, Aspects 146f.; Literary History 212f. Zu (1) vgl. außerdem MCKANE, History of the Text; MARGALIOT, Jeremiah X 1-16. 4QJer b (unter Einschluß von 4QJer d und 4QJer e ) wurde von F.M. CROSS in die hasmonäische Zeit datiert (Evolution 308). Neuere Beschreibungen: Tov, Jeremiah Scrolls 198; Three Fragments 531-537; Textual Criticism 325f. 4QJer d wird von A. YARDENI in die 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr., von E. PUECH in die hasmonäische Zeit datiert (s. Tov, Jeremiah Scrolls 197). Neuere Beschreibungen: Tov, Jeremiah Scrolls 198; Three Fragments 538-540; Textual Criticism 326f. Der Textcharakter von 4QJer e ist nicht genau zu bestimmen (vgl. Tov, Jeremiah Scrolls 202). Neuere Beschreibungen: Tov, Jeremiah Scrolls 198; Three Fragments 540f.

50

II. Die

Textgrundlage

gehenden Verse des MT weisen sich auch durch ihren Inhalt als sekundäre Erweiterung aus: innerhalb eines längeren Abschnittes, der die Götter der Heiden verspottet, preisen sie JHWH als den wahrhaftigen, lebendigen Gott, den König der Völker, dem niemand gleich ist und den alle Welt zu fürchten hat. In einem Detail ist 4QJer b dem MT scheinbar näher als der LXX ("¡~n - ööovq 10,2). An einer anderen Stelle bietet das Fragment gegen den MT und die LXX eine einzigartige Lesart (D'mpS 10,15). Dadurch wird allerdings nur die längst erkannte Tatsache belegt, daß die griechische Übersetzung bei der Wiedergabe der Numeri gelegentlich frei verfährt und daß der Text in Einzelheiten noch durchaus im Fluß war.30 Das Fragment 4QJerd, das Jer 43,2-10 bietet, stimmt mit der LXX in charakteristischer Weise gegen den MT überein, indem die Filiationen und andere Erweiterungen fehlen (43,4f.: ]3nr [MT + m p - p ] ; 43,6: p m r m [MT + •"nntD'm], HT^-D • p ' n x - p [MT + p t z r p ] . Wie 4QJer b stimmt es jedoch gelegentlich mit dem MT gegen die LXX überein (43,7.9) und bietet einige einzigartige Lesarten (43,5.9). Dadurch, daß die Existenz der kürzeren, bisher ausschließlich durch die LXX bezeugten Textform nun auch hebräisch nachgewiesen war, diese also kein Spezifikum der LXX und ihrer Übersetzer darstellt, war die These Spohns und Grafs, wonach in beinahe jedem Fall, wo die LXX kürzer ist, der Übersetzer seine hebräische Vorlage gekürzt habe und dort, wo LXX und M T unterschiedliche Lesarten bieten, von seiner Vorlage abgewichen sei, grundsätzlich widerlegt. Die LXX muß demnach als griechische Fassung einer Textform beurteilt werden, die auch hebräisch neben derjenigen, welche die masoretische Tradition repräsentiert, bestand. Werden die schon früher geäußerten Beobachtungen zur Qualität der griechischen Übersetzung an denjenigen Stellen, wo LXX und M T zusammengehen, mit einbezogen, 3 1 so kann nunmehr davon ausgegangen werden, daß die LXX einen recht zuverlässigen Rückschluß auf die hinter ihr liegende hebräische Gestalt dieser Textform erlaubt. Die methodischen Konsequenzen, die sich aus diesen Texten für die alttestamentliche Textforschung ergeben, sind weitreichend. Bestand bis dahin die Möglichkeit, die Unterschiede zwischen der (erschlossenen) LXX-Vorlage und dem M T entweder als gering zu bezeichnen oder sie dem Übersetzer anzulasten oder beides zugleich, wie es die Jeremia-Kommentatoren dieses Jahrhunderts häufig zu tun pflegten, so konnte und mußte jede Stelle, die von LXX und MT unterschiedlich geboten wurde, für sich beurteilt werden. Die alttestamentliche Textkritik ging deshalb davon aus, daß der M T in j e d e m Fall als Textgrundlage zu verwenden und jede Abweichung von ihm zu begründen sei. Ist jedoch erwiesen, daß die Lesarten der LXX nicht auf den Übersetzer,

30 Zu der diese Unterschiede zu stark gewichtenden Interpretation FISCHERS (Trostbüchlein 35) s. STIPP, Sondergut 12f. Zur Interpretation des Befundes vgl. BOGAERT, Mécanismes rédactionnels; MCKANE, History of the Text; STIPP, Sondergut 92f. Eine andere Einschätzung findet sich bei MARGALIOT, Jeremiah X 1-16. 31 Zur Frage nach der Qualität der Übersetzung vgl. oben S. 45 (zur Untersuchung von

SCHOLZ).

3. Neue Perspektiven

durch die Funde in Qumran

51

sondern auf eine unterschiedliche hebräische Vorlage zurückzuführen sind, so muß die Frage nach der Qualität der L X X (bzw. deren hebräischer Vorlage) und des M T sowie nach ihrem gegenseitigen Verhältnis neu aufgerollt werden. Zwar ist durch den archäologischen Nachweis, daß der Kurztext auch hebräisch existierte, noch nicht über die Priorität der einen oder anderen Textform entschieden; in j e d e m Fall kann jedoch nicht mehr unbesehen vom M T ausgegangen und dieser im Zweifelsfall aus grundsätzlichen Erwägungen der L X X vorgezogen werden. D i e Frage nach dem Verhältnis zwischen der L X X und dem M T des Jeremiabuches wurde auf dieser veränderten Basis im Anschluß an die grundlegenden Arbeiten von F.M. Cross zunächst von dessen Schüler J.G. Janzen neu aufgeworfen. 3 2 Seine Untersuchung beschränkt sich im wesentlichen auf die quantitativen Unterschiede zwischen den beiden Textformen, indem sie die „zero variants", d. h. diejenigen Stellen, an denen die L X X einen kürzeren Text bietet als der MT, einer gründlichen Analyse unterzieht, um die Frage zu klären, ob die erstere Textform aus der anderen durch Kürzung oder umgekehrt letztere aus jener durch Erweiterung entstanden ist. Die in der LXX fehlenden Stücke - das „masoretische Sondergut" (Stipp) 33 - lassen sich nach Janzen verschiedenen Kategorien zuweisen: (1) Eine erste Gruppe bilden „double readings" bzw. „conflations", d.h. Lesarten, die Varianten aus zwei oder mehr Manuskripten kombinieren (Kapitel II). 34 Die Vermischung von Lesarten führt Janzen auf mehr oder weniger systematische Sammlung unterschiedlicher Texttraditionen, ad-hoc-Vergleiche vorliegender Manuskripte sowie Varianten, die dem Schreiber im Gedächtnis waren, zurück. Die Absicht der Schreiber, welche unterschiedliche Lesarten kombinierten, bestand darin, sicherzustellen, daß die richtige (ursprüngliche) Lesart der Texttradition nicht verloren geht (10). Solche Mehrfachlesarten finden sich zwar auch in der LXX, meist unter dem Einfluß späterer, dem MT nahestender LXX-Rezensionen, im MT jedoch signifikant häufiger, so daß der Eindruck entsteht, daß in dieser Texttradition ein bereits stark entwickelter Text weiter ausgebaut und mit anderen, davon abweichenden Texten in Übereinstimmung gebracht wurde (32f.). (2) Eine zweite Kategorie stellen Erweiterungen aus parallelen und verwandten Kontexten dar (Kapitel III). Dieses Phänomen kann bewußt oder unbewußt auftreten: Ein Schreiber kann versehentlich Formulierungen von anderen Stellen des Buches, das er bearbeitet, einfließen lassen oder aber - im Sinne gelehrter Glossen - absichtlich einen Text von anderen Stellen her kommentieren. 35 Auch dieses Phänomen findet sich sowohl auf Seiten der LXX als des MT, im MT jedoch sechsmal häufiger und deutlich umfangreicher. Außerdem stammen im Gegensatz zu den Erweiterungen der

32

JANZEN, Studies. Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Studie. " V g l . oben S. 42 Anm. 3. 34 Dieser Teil der Untersuchung wurde im Jahre 1967 vorab veröffentlicht (JANZEN, Double Readings). 35 Beispiele für solche Veränderungen sind auch außerhalb des Jeremiabuches belegt, etwa im samaritanischen Num-Text, der durch Passagen aus dem Dtn erweitert ist (so auch 4QNum b ), an den Rändern der Syrohexapla und in einigen griechischen Kursiven (JANZEN, Studies 34).

52

II. Die

Textgrundlage

LXX, die meist dem unmittelbaren Kontext entnommen sind, viele Zusätze im MT aus weiter entfernten Abschnitten des Jeremiabuches (67f.). (3) Die dritte Gruppe von Stellen mit unterschiedlicher Textlänge betrifft Eigennamen sowohl von Menschen als auch den Gottesnamen und die Epitheta (Kapitel IV sowie Anhang B und C). In diesem Bereich sind die Unterschiede zwischen LXX und MT derart zahlreich, daß von Versehen schlechterdings nicht die Rede sein kann. Der Umstand, daß viele Namen im MT in ihrer vollen Form (mit Filiationen und Titel) geboten werden, auch wenn der Text dadurch schwerfällig wird, weist darauf hin, daß es sich um systematische nachträgliche Erweiterung handelt, wie sie auch in anderen Texten nachgewiesen werden kann (69). Ebenfalls werden dem Gottesnamen im MT häufig zusätzliche Epitheta (HiSD^, "Jii?, ^-¡t?'' T^X) zugefügt (75ff.) und Botenund Gottesspruchformeln eingetragen (82ff.). Außerdem prüft Janzen (4) diejenigen Fälle, in denen es den Anschein macht, daß der LXX-Übersetzer seinen Text im Vergleich zur Vorlage kürzt, sei es infolge einer bestimmten Übersetzungstechnik, um Doppelungen zu vermeiden oder - aus welchem Grund auch immer - ad hoc (Kapitel V), (5) die möglichen Fälle von Haplographie innerhalb des LXX-Textes (Kapitel VI) und (6) eine Reihe von Varianten, die keiner der genannten Kategorien zugewiesen werden können, sondern wohl auf Abschreibefehler zurückzuführen oder als Glossen zu deuten sind (Kapitel VII). D i e Untersuchungen Janzens bestätigen vollumfänglich die bereits von Movers und Scholz vertretene Position. Obgleich sich in der Jeremia-LXX relativ viele Fälle finden, in welchen der griechische Text durch Haplographie kürzer ist als der hebräische - Abschreibefehler, die möglicherweise schon in der hebräischen Vorlage der L X X aufgetreten sind - , sind die Fälle, in welchen der M T erweitert ist, bei weitem zahlreicher und verbieten es, alle „zero variants" dem griechischen Text - sei es als Kürzung, als Fehler oder als Unsorgfältigkeit - anzulasten. Insgesamt erweist sich der M T als stark sekundär erweitert: Namen werden oft zu ihrer vollen Form aufgefüllt, Titel und Epitheta hinzugefügt, pronominale Objekte und Subjekte durch Nomina ersetzt, der Text wird häufig aus parallelen, verwandten oder nahen Stellen ergänzt. Viele dieser Interpolationen sind geringfügig, andere dagegen spiegeln aufgrund ihres Umfangs und ihres Charakters die sorgfältige Arbeit der Schreiber. Besonders auffällig sind die umfangreichen Dubletten und die Interpolationen von Stellen außerhalb des Jeremiabuches. D i e Häufigkeit von Mischlesarten einerseits und die wenigen Fälle von Haplographie andererseits weisen darauf hin, daß es sich beim M T um einen revidierten Text handelt. 3 6 Im Gegensatz zum M T weist die L X X nur eine geringe Zahl von 36 Dieses Urteil präzisiert JANZEN dahingehend, daß im Blick auf das Fehlen von Hinweisen auf eine systematische Überarbeitung in der Art, wie sie der griechische Text erfahren hat (Proto-Lukian, kaige, Aquila) nicht von einem „recensional text" gesprochen werden kann: „The revisions were rather ad hoc and cumulative and mark the growth of this local text type, rather than its systematic recension." (ebd. 232 Anm. 1). Dieser Unterscheidung von „revision" und „recension" entspricht die aktuelle Diskussion darüber, ob der masoretische Texttyp durch kontinuierliches, aber unsystematisches Textwachstum entstanden oder Ergebnis einer planmäßigen Redaktion bzw. Edition sei (vgl. die im folgenden dargestellten Positionen von E. Tov

u n d H . - J . STIPP).

3. Neue Perspektiven

durch die Funde in Qumran

53

sekundären Erweiterungen auf; ihr Text erweist sich dort, wo er kürzer ist als der MT, in der überwiegenden Zahl der Fälle als diesem überlegen. Da die Theorie, daß der LXX-Übersetzer seine Vorlage kürzte, sich nicht bestätigt, kann der griechische Text als im wesentlichen zuverlässiger Zeuge der hebräischen Vorlage gelten, die in Alexandria zuhause war. Diese ist, so lassen die wenigen Mischlesarten, die ihr mit einiger Sicherheit zugeschrieben werden können, sowie die relativ häufigen Fälle von Haplographie, folgern, das Produkt einer kurzen Überlieferungsgeschichte, während der wenig umfangreiche und systematische Rezensionstätigkeit vorkam. 37 War es die Absicht der Studie Janzens, den Nachweis zu erbringen, daß der Text der LXX bzw. ihrer Vorlage an denjenigen Stellen, wo ein Irrtum des Schreibers ausgeschlossen ist, dem MT überlegen ist, dieser dagegen einen späten, entwickelten Text darstellt, so ist damit die Frage, wie es zu den unterschiedlichen Texttraditionen kam, noch nicht beantwortet. Bereits J.G. Eichhorn, der die moderne LXX-Debatte angestoßen hatte, bot dafür eine interessante Erklärung: Er nahm an, daß die beiden Textformen ihren Ursprung in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben des Buches durch Jeremia selbst haben. Die Urrolle aus dem vierten Jahre Jojakims (Jer 36) 38 sei vom Propheten in Ägypten mit weiteren Orakeln ergänzt und in dieser Form für den Gebrauch der Exilierten nach Babylonien gesandt worden. In Ägypten habe Jeremia eine Kopie dieser ersten Ausgabe - nicht ein zusammenhängendes Dokument, sondern eine Reihe kleinerer Rollen - überarbeitet und erweitert. Diese zweite Ausgabe sei später nach Palästina gesandt worden, dort in den hebräischen Kanon gekommen und zum Prototypen des MT geworden. In der Zwischenzeit sei jedoch die Kopie der ersten Ausgabe, die in Ägypten verblieben war, in ihrer nichtrevidierten Form - allerdings, da die einzelnen Rollen durcheinander geraten waren, in anderer Ordnung - weiterüberliefert und ins Griechische übersetzt worden. 39 Wurde die These Eichhorns in der Folge auch nicht aufgenommen, 4 0 so zeigt sie doch das Grundproblem der Textgeschichte des Jeremiabuches sowie die Richtung, in der eine Lösung gesucht werden muß, auf. Irgendwann im 37

JANZEN, Studies 127f. Zum Vorrang der alexandrinischen Textform vgl. auch die ausführliche Argumentation bei STIPP, Sondergut 66-91. 38 Korrekterweise wäre von der zweiten Rolle zu sprechen, die in 36,28.32 genannt ist; diese ist, da die erste Rolle zerstört wurde (36,23.27.29.32), natürlich gemeint, wenn in der Literatur von der „Urrolle" die Rede ist. 39

40

E I C H H O R N , E i n l e i t u n g IV, 1 7 0 - 2 2 2 ; v g l . d a z u J A N Z E N , S t u d i e s 2 .

Vgl. aber die durchaus daran anklingende These etwa von OVERHOLT, der davon ausgeht, daß Jeremia selbst die Texte nach der ersten Eroberung Jerusalems im Jahre 597 überarbeitet und dabei systematisch Babylon und Nebukadnezar eingesetzt habe, wo vorher der Feind nicht namentlich genannt war (King Nebuchadnezzar 44). Ähnlich rechnet ARCHER mit einer ersten kürzeren Fassung, die von Jeremia selbst in Ägypten herausgegeben worden sei und später als Vorlage für die Übersetzung gedient habe, und einer vollständigeren Ausgabe im Sinne von „gesammelten Werken" durch Baruch gegen Ende von Jeremias Leben oder kurz nach dessen Tod (Relationship 141).

54

II. Die Textgrundlage

Verlaufe der Tradierung muß der Text des Jeremiabuches über das übliche Maß an übermittlungstechnisch bedingten Varianten und Abweichungen hinaus einschneidende Veränderungen erfahren haben, die sich nur daraus erklären lassen, daß die Tradition sich verzweigte und der Text von da an in zwei voneinander unabhängigen Strängen weiterüberliefert wurde. In beiden Textformen kam es zu den üblichen Veränderungen durch Fehler und bewußte Eingriffe, aber in ganz unterschiedlichem Maß: Während die alexandrinische Textform insgesamt nur wenig bearbeitet ist, weist die masoretische große Mengen an Sondergut auf. Wie genau und wann sich dieser Vorgang im einzelnen abgespielt hat, welche Kreise daran beteiligt und welches die auslösenden Momente und die richtungsweisenden Überlegungen waren, wird unterschiedlich erklärt. Ein Teil der Forschung rechnet - den Aspekt der lokalen Textentwicklung der These Eichhorns aufnehmend - (1) mit getrennten Texttraditionen an verschiedenen geographischen Zentren, ein anderer - den Aspekt der unterschiedlichen Ausgaben des Jeremiabuches aufnehmend - (2) mit unterschiedlichen Editionen bzw. redaktionellen Bearbeitungsstufen. (1) J.G. Janzen selbst korrelierte seine Forschungsergebnisse mit der von W.F. Albright und F.M. Cross 41 entwickelten Theorie von Lokaltexten. Cross rechnet von der persischen Zeit an mit unterschiedlichen und zunächst relativ unabhängigen Texttraditionen in Palästina und Babylonien. Die palästinische Textform wurde in Ägypten eingeführt und entwickelte sich dort selbständig weiter zu einer ägyptischen Texttradition, wobei die ägyptische und die palästinische Textform einander näher verwandt sind als beide der babylonischen. Der ägyptische Lokaltext stellte die Grundlage für die altgriechische Übersetzung dar; diese wurde im späten 2. oder frühen 1. Jahrhundert v.Chr. anhand des palästinischen Textes revidiert (protolukianisches Stratum). In der makkabäischen Zeit oder im 1. Jahrhundert v.Chr. wurde in Palästina der babylonische Text eingeführt und um die Zeitwende zur Grundlage für eine zweite Revision des griechischen Textes gemacht (prototheodotische Revision, kaige). Die dritte, abschließende Stufe des griechischen Textes ist mit der Revision durch Aquila um 130 n.Chr. erreicht; zu diesem Zeitpunkt hatte auch der hebräische Text seine feste Form, wie sie als M T bekannt ist, gefunden. 4 2

Der hinter der Jeremia-LXX stehende hebräische Text repräsentiert im Rahmen dieses Modells die ägyptische Textfamilie, 43 der MT aufgrund der zahlreichen Erweiterungen die palästinische. Wann die Archetypen des MT und der LXX auseinandergingen, ist schwierig zu bestimmen und kann nur

41 CROSS, Ancient Library 188-194; History of the Biblical Text 281-299; Contribution; Evolution; ALBRIGHT, New Light on Early Recensions 27-33. Zur Lokaltexttheorie vgl. Tov, Text-

C r i t i c a l U s e 2 5 4 - 2 6 0 , u n d j ü n g s t OLOFSSON, L X X V e r s i o n 5 3 - 5 5 . 42

Nach CROSS, History of the Biblical Text. Hinweise auf eine Herkunft aus Ägypten findet JANZEN in der Wiedergabe von 43,13 und 46,15 im griechischen Text: An der ersten Stelle wird "1EX DQtö P"3 als 'HM.OV 7ioteco Kupiou), sondern als Haplographie

7,

a u f Seiten d e s M T ( 1 3 1 0 , s o D U H M 3 3 9 ; ERBT, J e r e m i a u n d s e i n e Z e i t 2 2 0 ; EHRLICH, R a n d g l o s sen 3 5 3 ; RUDOLPH 2 6 8 ) . 74

V g l . JENNI, D f

715.

75

Vgl. SNAITH, Literary Criticism 22. Vgl. JENNI, CV 723-726; SNAITH, Literary Criticism 23. Der Ausdruck m r r Di" selbst, der im AT insgesamt nur 16 mal und zweimal indeterminiert als NIIR1? OT vorkommt (vgl. JENNI, Di" 723), findet sich bei Jer gar nicht. 77 Zu dieser nicht-eschatologischen Linie in der Vorstellung des Tages JHWHs vgl. besonders 76

EVERSON, D a y s o f Y a h w e h 3 3 5 - 3 3 7 ; SCHUNCK, S t r u k t u r l i n i e n 3 2 4 - 3 2 8 . 78 Vgl. NÖTSCHER 305; SCHUNCK, Strukturlinien 327f. Dies gilt auch für den Ausdruck der - an sich eine relativ unpräzise Richtungsangabe, oftmals eine mythische Größe und im Jeremiabuch sonst zur Bezeichnung der Herkunft des Feindes verwendet - hier auf einen konkreten Ort bezogen wird (vgl. SNAITH, Literary Criticism 24f.). Ein Widerspruch zur sonstigen jeremianischen Verwendung des Begriffs ist (gegen DUHM 338; JONES 491) darin nicht a priori zu konstatieren. 79 So WATSON, Classical Hebrew Poetry 382; PEELS, Vengeance of God 179. Dies spricht gegen die platte Änderung zu D'ISD, die VAN DER WESTHUIZEN in Erwägung zieht (StylisticExegetical Analysis 92).

A. Ägypten

I, Jer

46,2-12

91

dem Gerichtshandeln JHWHs oft „seine Feinde" genannt werden (VTS bzw. etwa Jes 1,24; 26,11; 59,18; 64,1; Nah 1,2; Ps 78,66; 97,3; Hi 19,11), muß unsicher bleiben, ob diese Nähe beabsichtigt oder nicht vielmehr von der Sache her gegeben und die lautliche Ähnlichkeit rein zufällig ist. 80 V. 10 hat im Kontext eine doppelte Funktion. Wie V. 5 im Verhältnis zu den Imperativen von V. 3f. sind die Stichworte „Vergeltung, Schwert, Blut, Schlachtopfer" den Kampfrufen in V. 9 gegenübergestellt; dadurch ist wie dort - nach den kaum verklungenen Kampfrufen wiederum völlig unvermittelt - eine militärische Niederlage charakterisiert. Gleichzeitig übernimmt V. 10 jedoch auch die Funktion von V. 6; indem die Niederlage am Euphrat ausdrücklich mit JHWH verbunden und kausal auf ihn zurückgeführt wird, erfährt jenes Geschehen eine theologische Deutung. Der Tag der Niederlage ist ein JHWH-Tag, d.h. ein Gerichtstag, an dem JHWH aktiv in die Geschichte eingreift und das Urteil über „seine Feinde" vollstreckt. Wer diese sind, gibt der Text noch immer nicht ausdrücklich zu erkennen. 81 Auch eine explizite Begründung wird dafür nicht gegeben; daß die Unterlegenen als Feinde JHWHs bezeichnet werden, ihre Niederlage als seine Rache, sagt über deren Veranlassung nichts Konkretes. Das ganze Ägypten-Gedicht bleibt dadurch merkwürdig in der Schwebe. e) Strophe 3 (V. 11 f.) Mit V. 11, der sich wiederum durch den Imperativ vom Vorhergehenden absetzt, wird endlich die Frage nach der Identität zumindest der unterlegenen Partei beantwortet. Erstmals wird Ägypten direkt angesprochen, personifiziert als „jungfräuliche Tochter", und aufgefordert, angesichts der eigenen Hilflosigkeit in Gilead medizinische Hilfe zu holen. 82 Diese Anrede enthält 80 Für die Annahme eines Wortspiels mag immerhin sprechen, daß statt V I S auch hätte verwendet werden können; dieses Wort tritt - ohne erkennbaren Unterschied - im selben Zusammenhang auf (vgl. etwa Ex 15,6; Num 10,35; 32,21; Dtn 32,42; Jdc 5,31; Jes 42,13; 59,18; 66,6.14; Ps 8,3; 66,3; 68,2.22.24; 83,3; 89,11), gelegentlich als Parallelbegriff zu ersterem (Jes 1,24; 59,18; Nah 1,2.8; vgl. Ps 13,5; 27,2; 54,9; 138,7; 143,12; Thr 1,5; 4,12). Auch hier kann es sich aber in j e d e m Fall nicht um mehr als eine Andeutung handeln, die wie die Anspielung in V. 7f. des erklärenden Kontextes (V. 11 f.) bedarf. Eindeutige Bezüge sind erst vom Ende her möglich. 81 Daß der prophetische Kommentar V. 10 dem königlichen Anspruch (V. 7-9) das göttliche Urteil entgegenhalte (HÖFFKEN, Begründungselemente 266; ähnlich wieder PEELS, Vengeance of God 180), wird wiederum vom Gesamtverständnis des Textes her in V. 10 eingetragen. Wozu das adversative 1 am Versanfang in Opposition steht, wird erst durch V. 1 l f . deutlich und könnte sich, solange diese Information noch fehlt, z.B. ebensogut darauf beziehen, daß in der prophetischen Perspektive der Aufmarsch des Heeres nicht eine Angelegenheit des Pharaos allein, sondern J H W H s ist, der sich dieses Heeres als Werkzeug bedient, um „seine Feinde" zu besiegen. Daß die Ägypter selbst die Feinde sind, die von J H W H bekämpft werden, ist erst vom Ende her deutlich. 82 Die LXX liest „Gilead" als Vokativ und „jungfräuliche Tochter Ägypten" als Dativ, was nur ein Mißverständnis des Übersetzers sein kann, da die Fortsetzung in V. I I b auch in der

92

III.

Textanalysen

nach den Kampfrufen V. 3f.9, die sich im Kontext als ägyptische erweisen, und den siegesgewissen Worten des Pharaos V. 8 eine besondere Pointe: Der stolze und mächtige Mann ist in Wirklichkeit ein hilfloses Mädchen, eine geschändete Jungfrau! 83 "Hl?, das Harz des Mastixbaumes, ist ein wichtiger Exportartikel Gileads (vgl. 8,18; 51,8; Gen 37,25; 43,11; Ez 27,17), der insbesondere zur Heilung von Wunden Verwendung fand (vgl. das Sprichwort in 8,22). Erneut wird dadurch das Ausmaß der Niederlage am Euphrat illustriert: Es bleibt Ägypten nur noch, im Ausland fremde Hilfe zu holen - doch auch das ist vergeblich. Nicht einmal die Medizin aus Gilead kann jetzt noch etwas ausrichten. Im Verweis auf die medizinische Hilfe aus dem nordöstlichen Palästina schwingen bissige Nebentöne mit, die J. G. Snaith auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund herausgearbeitet hat. 84 Einerseits war Ägypten in der Alten Welt für seine eigene Medizin berühmt; Herodot (II, 84; III, 129) und Homer (Odyssee IV, 227-232) sprechen anerkennend von ihr. Die Aussage wird durch diese Anspielung noch einmal zugespitzt: Die eigene vielgerühmte Kunst reicht angesichts dieser Krankheit nicht aus, man versuche es bei der Konkurrenz - doch auch deren Medizin taugt nicht. Andererseits hatte Ägypten aus strategischen wie aus wirtschaftlichen Gründen immer danach gestrebt, die Gebiete der syrisch-palästinischen Landbrücke und Transjordaniens zu kontrollieren und dies nach dem Fall Assyriens zwischen den Schlachten von Megiddo (609) und Karkemisch (605) auch ein letztes Mal erreicht, dann aber der neu erstarkenden babylonischen Macht weichen müssen. Angesichts dieser tiefgreifenden

LXX deutlich zeigt, daß Ägypten angesprochen ist. Gilead ist für seinen Balsam bekannt (vgl. 8,22); die Aufforderung an die „Tochter Ägypten", sich in Gilead Balsam zu verschaffen, ist im vorliegenden Zusammenhang sinnvoll (gegen DUHM 339 und JONES 492, die die Anspielung nicht verstehen). Die Verbindung Gileads mit dem Königspalast, die DE JONG herstellt und so aus V. 11 die Aufforderung an die Ägypter herausliest, Jojakim zur Beteiligung an der Kampagne gegen Nebukadnezar zu verführen (Deux Oracles 378), beruht auf einer unzulässigen Pressung der Metapher in 22,6: diese identifiziert nicht Gilead und das Königshaus, sondern vergleicht letzteres mit ersterem (und mit dem Libanon!). Deshalb darf von jener Stelle her keinesfalls wie in einer Gleichung für „Gilead" „Palast Jojakims" eingesetzt werden. 83 Vgl. KEIL 440. HITZIG 343 versteht die Jungfräulichkeit als Hinweis darauf, daß Ägypten bis dahin noch nie besiegt worden sei. Da es sich jedoch bei (H3) n*?ina um eine geläufige Anrede handelt, die ohne erkennbare Akzentuierung zur Personifizierung verschiedener Orte, Städte und Länder verwendet werden kann ( b i n e ) ' r f r i r n : Jer 18,13; 31,4.21; Am 5,2; r f r i n a ¡"¡'STD IIReg 19,21; Jes 37,22; Thr 2,13; j i T i r n a n S i n a Jes 23,12; "733"n3 Jes 47,1; n - p r r n a r f a r q Thr 1,15; w n a rfpna Jer 14,17), ist dieser Aspekt nicht mit dem Begriff

als solchem konnotiert. Die Verbindungen •'"1SQTQ rfana (v. i i ) und ^rcrna rfrira (Jes 47,1), wobei offensichtlich das Land, nicht eine bestimmte Stadt gemeint ist, legen zudem nahe, daß der konkrete Bezug sich aus dem Kontext, nicht aus der Wendung als solcher ergibt (gegen SCHMITT, Virgin of Israel, der den Nachweis zu erbringen sucht, daß sich ^NNO'! RFPIRIA usw. aus grammatikalischen und semantischen Gründen von vornherein auf die Hauptstadt Samaria bzw. Jerusalem beziehe). Zur grammatikalischen Ausnahme *?K"lt!r 11*71113 in der Bedeutung „eine Jungfrau Israels" (Dtn 22,19), die aus inhaltlichen Gründen nicht zu diesen Belegen zählt, s. GK §127e und SCHMITT, Virgin of Israel 366 Anm. 5. 84

SNAITH, Literary Criticism 17.

A. Ägypten I, Jer

46,2-12

93

Umwälzungen in den Machtverhältnissen des Orients, welche die ägyptische Expansion beendeten und den alten Traum von einem ägyptischen Großreich endgültig zunichte machten, grenzt der Aufruf, in Gilead Hilfe zu holen, geradezu an Sarkasmus.

Daß zum dritten Mal eine Imperativform von PI1?!} verwendet wird (vgl. V. 4.9; mit den Radikalen von spielt möglicherweise auch l i ? ^ 8 5 ) , diesmal allerdings nicht im militärischen Sinn als Aufruf zu Rüstung und Kampf, sondern als hilfreich klingender, in Wirklichkeit jedoch untauglicher Rat eines Beobachters, der die verwundeten und geschlagenen Soldaten vor Augen hat (V. 6.12), kann nur als bewußte Ironie gedeutet werden. Mit derselben Wurzel spielt die auch Wendung n'pSJR „Heilung (wörtl. Überzug) gibt es nicht für dich", ein traditioneller Topos aus dem Kontext der Verfluchung. 8 6 Ein weiteres Wortspiel stellt schließlich '"IIS dar, das an anklingt. 87 Nicht nur gibt es keine Genesung (V. I I b ) ; die Nachricht von der ägyptischen Niederlage verbreitet sich in aller Welt (V. 12a). 88 Damit ist auf den Eindruck angespielt, den die Nachricht von der ägyptischen Niederlage am Euphrat auf die ganze Welt macht, und zugleich auf die weltgeschichtliche Bedeutung dieses Ereignisses: Die Nachricht muß weltweit Verwunderung bewirken, vielleicht auch Spott, jedenfalls aber Erschrecken - denn die Niederlage der Ägypter am Euphrat kommt einem Dammbruch gleich, dessen Auswirkungen der gesamte Vordere Orient zu spüren bekommen sollte. V. 12b nimmt die Formulierung von V. 6bß auf und erweitert sie auf zwei Kola; dies ist ein typisches Element des poetischen Stils. 89 Diese refrainartige Aufnahme und der Ausblick auf die Ausbreitung der Nachricht in aller Welt runden die Einheit als eine Art Fazit und schließen sie ab. f ) Einheit und Herkunft des Gedichts

V. 3-12

Der Text weist mehrere abrupte Wechsel zwischen Imperativen (V. 3f.9.11a), Fragen (V. 5.7), einem JHWH-Wort mit der JHWH-Spruchformel (V. 5b), direkter Rede (V. 8b) sowie Aussagesätzen und kommentierenden Bemerkun85

WATSON, Classical Hebrew Poetry 382.

86

V g l . HILLERS, T r e a t y - C u r s e s 6 4 - 6 6 .

87

WATSON, Classical Hebrew Poetry 382f. Statt " ^ i ^ p „deine Schande, Schmach" liest die LXX 0OVT)V a o u „deine Stimme", d.h. " ^ i p . Dies ist, wenn nicht ein Abschreibefehler, wohl eine Vereinfachung des ungewöhnlichen Ausdrucks, die zugleich einen geläufigeren Parallelismus ergibt. Da jedoch das zugrundeliegende Bild das der vergewaltigten Jungfrau ist (vgl. 2,32.37; 13,26; IlSam 13,19), stellen „Schande" und „Schreie" gute Parallelen dar, die als weniger platte lectio difficilior vorzuziehen sind (mit BARTHELEMY, Critique textuelle II, 762; VOLZ 397; ders., Studien 296; HOLLA88

DAY I I , 3 2 2 ; a n d e r s i m A n s c h l u ß

an D . N .

FREEDMAN B R I G H T 3 0 2 u n d W A T S O N ,

Classical

Hebrew Poetry 382 Anm. 62, die p ^ p für eine dem Ugaritischen ähnliche, im Hebräischen sonst nicht bezeugte Form von *71p mit gleicher Bedeutung halten). 89 WATSON, Classical Hebrew Poetry 328-332 („breakup of a composite phrase"); BÜHLMANN-SCHERER, Stilfiguren 39 („breakup of stereotyped phrases").

94

III.

Textanalysen

gen (V. 6.10.1 lb. 12) auf; verschiedene Sprecher kommen zu Wort, die sich an unterschiedliche Adressaten richten. Dieser formalen Uneinheitlichkeit entspricht diejenige der offenbar vorausgesetzten Situation: V. 3f.7-9 sprechen von den Vorbereitungen für einen Kampf, sind also vor diesem anzusetzen; V. 5f. 10-12 dagegen gehen von einer Niederlage aus, implizieren also, daß Kampfhandlungen vorangegangen sind. Diese auffälligen Spannungen haben zu verschiedenen Versuchen geführt, den vermeintlich in Unordnung geratenen Text zu rekonstruieren. Obwohl der vorliegende Text nicht ganz unmöglich sei, was die Folge der Gedanken angehe, versuchte A. Condamin ihn so umzustellen, daß dadurch eine bessere logische Abfolge mit Symmetrie in Sinn, Verszahl und Wortwiederholungen entstehe. Nach seiner Analyse bestand der ursprüngliche Text aus zwei Strophen mit je einer Antistrophe sowie einer Mittelstrophe im Zentrum: I Die Vorbereitungen, V. 3f. - II Der Aufbruch, V. 9 (Wiederholungen: pO, D1D, n*7I>) III Der Triumphmarsch - Der Tag JHWHs, V. 7 f . l 0 (mit längeren Zeilen und majestätischem Rhythmus) I Die vollständige Niederlage, V. 5f - II Die unheilbare und schmähliche Niederlage, V. 1 lf. (Wiederholungen: Dieser ursprüngliche, weitaus sinnvollere Text sei in einer der ersten hebräischen Ausgaben, sicher vor der Abzweigung der griechischen Tradition, dadurch durcheinandergeraten, daß ein Schreiber kolonnenweise von oben nach unten abgeschrieben habe (mit einem zusätzlichen Fehler bei der Mittelstrophe). 90 Von Condamin unabhängig gelangte J. K. Zenner aufgrund ähnlicher Überlegungen („kolumnenweise Verschreibung") zu einer nur unwesentlich abweichenden Interpretation: 1. Strophe V. 3f.; 1. Gegenstrophe V. 9; Wechselstrophe V. 5act.l0aa.5aß.6a. lOaß.b; 2. Strophe V. 6b.7-9; 2. Gegenstrophe V. 1 lf. 9 1 W. Erbt hingegen verbindet V. 3-6 mit 10 (mit Umstellung von V. 4b vor 3) und V. 7-9 mit 12 zu zwei voneinander unabhängigen Einheiten, 92 während H. Bardtke V. 3.4.9.5.6.10 zu einem „Heeresgedicht" verbindet und die übrigen Verse als sekundäre Zusätze ausscheidet. 93

Allerdings wird durch diese Eingriffe der lebhafte, bewegte Text nicht nur geglättet und in eine logischer erscheinende Folge gebracht, sondern eingeebnet, seiner spezifischen, offenbar durch den Inhalt bedingten Form entkleidet und so zu ziemlicher Farblosigkeit verurteilt. Die „Unordnung" des Textes ist sicherlich beabsichtigt, spiegelt sie doch die Unordnung der dargestellten Situation, das über das ägyptische Heer hereinbrechende Chaos. 94 Die einzelnen Szenen sind so gestaltet und einander zugeordnet, daß sie in drei Bewegungen um dasselbe Thema kreisen, wobei jede Szene neue und konkretere Anhaltspunkte enthält und deutlichere und gewichtigere Aussagen macht als 90

CONDAMIN 2 9 6 - 3 0 1 ; v g l . d e r s . , T r a n s p o s i t i o n s .

91

ZENNER, V e r s c h r e i b u n g

92

ERBT, Jerusalem und seine Zeit 220. BARDTKE, Fremdvölkerprophet 230f.

93 94

V g l . SEYBOLD, J e r e m i a

125f.

124.

A. Ägypten

I, Jer

46,2-12

95

die vorhergehenden. Die einzelnen Elemente der Strophen sind inhaltlich und formal miteinander verknüpft und aufeinander bezogen: Die Frage nach der Identität der zum Kampf Aufgerufenen (V. 7) bezieht sich auf V. 3f., entspricht jedoch formal der Frage von V. 5; die Imperative der dritten Strophe (V. 11) entsprechen umgekehrt nur formal denjenigen in V. 3f.9, beziehen sich dagegen inhaltlich, da sie die Niederlage der dort zum Kampf Ausrückenden voraussetzen, auf V. 5f.l0, so daß auch durch diese formale Übereinstimmung bei gegenteiligem Inhalt eine ironische Wirkung erzielt wird. Die jeweils die Strophen beschließenden Kommentare V. 6.10.12 interpretieren die geschilderten Ereignisse und fügen den sonst lediglich impliziten Identifikationshinweisen explizite Angaben hinzu; V. 12 rundet formal mit der Bezugnahme auf den Strophenschluß in V. 6 und inhaltlich mit der weltweiten Perspektive das Gedicht als Ganzes und schließt es ab. Dem entspricht, daß verschiedene Leitwörter die Strophen zusammenhalten: PI1?!? in V. 4.7.8b.9.1 la.l lb, "li33 in V. 5.6.9.12, f i x inV. 8.10.12. 95 Durch dieses komplexe, filigranartige System von Bezügen und Wiederaufnahmen, Implizierung und Explizierung, Leitwörtern und Wortspielen, Übereinstimmungen und Gegensätzen entsteht ein dichtes Geflecht, dessen einzelne Teile unabhängig voneinander zwar nicht völlig unverständlich sind, erst im Verbund jedoch und in der vorliegenden Abfolge eine vollständige, stilistisch hervorragend gestaltete Aussage ergeben. Die unerwarteten Wechsel von Perspektive und Sprechmodus sind also nicht auf schlechten Textzustand oder sekundäres Wachstum zurückzuführen, sondern stellen ein bewußt eingesetztes, höchst wirkungsvolles poetisches Stilmittel dar und tragen umgekehrt zur Kohärenz des Textes bei; 96 dadurch entsteht eine sinnvolle, dem Inhalt korrespondierende Struktur. Es ist denn auch nicht zuletzt diese raffinierte 95

Vgl. WATSON, Classical Hebrew Poetry 383; CARROLL 763; teilweise schon VOLZ 398.

96

V g l . N Ö T S C H E R 3 0 3 ; R U D O L P H 2 6 9 ; S N A I T H , L i t e r a r y C r i t i c i s m 2 2 f . ; HOLLADAY I I , 3 1 6 .

Was die Einheitlichkeit oder Uneinheitlichkeit eines Textes und damit die literarkritische Abgrenzung von Einheiten betrifft, so wird in der alttestamentlichen Exegese zumeist e negativo argumentiert, d.h. Textkohärenz hauptsächlich als Abwesenheit von Kohärenzstörungen (Dubletten, Widersprüche, stilistische Unterschiede usw.) definiert: „Eine Texteinheit ist dann als .einheitlich' zu bezeichnen, wenn sich in ihr keine unvereinbaren Spannungen und / oder Widerholungen feststellen lassen. Finden sich solche, so ist die Texteinheit .uneinheitlich'." (F. HUBER i n : FOHRER u . a . , E x e g e s e 4 9 ) A u c h d a s v o n H . SCHWEIZER e n t w i c k e l t e M o d e l l

der

Textinterpretation („Syntax - Semantik - Pragmatik"), das die Formkritik von W. RICHTER und die darauf aufbauende Darstellung in FOHRER u.a., Exegese, zu ersetzen und weiterzuführen beansprucht (vgl. SCHWEIZER, Biblische Texte verstehen 40), geht von einem bereits literarkritisch analysierten und abgegrenzten Text aus, wobei dafür auf die von RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft 49ff., erarbeiteten Kriterien verwiesen wird (ebd. 37). In diesem Sinn formuliert SCHWEIZER in seiner grundlegenden Darstellung der sprachwissenschaftlich orientierten Exegese: „Entsprechend seinem [sc. RICHTERS] Vorschlag haben Text- und Literarkritik vor der hier skizzierten Methodik ihre Platz." (Metaphorische Grammatik 19; vgl. dazu ebd. Anm. 4, wo die literarkritische Trennung von Jes 42,1-4 und 5-9 nicht eigens begründet, sondern von K. ELLIGER übernommen wird.) Die obige Analyse versucht demgegenüber positiv Kriterien der Kohärenz des Textes, die als Hinweise auf Einheitlichkeit und damit Ursprünglichkeit der

96

III.

Textanalysen

Gestaltung, die dem Ägypten-Gedicht Jer 46,3-12 den Ruf einer der hervorragendsten Kompositionen des Jeremiabuches (und darüber hinaus) einträgt. 97 Wie in kaum einer anderen Einheit treten hier zudem poetische Stilmittel gehäuft auf, etwa Assonanz und Alliteration, Metaphern, Personifizierung, Leitmotive, Wortspiele, Ironie und Lautmalerei. 98 Die Annahme, daß in V. 3-12 ein einheitliches, von Anfang an in dieser Form konzipiertes Gedicht vorliegt, kann sich somit auf gute Gründe berufen. 99 Daß dieses im wesentlichen auf Jeremia zurückgeht, unterliegt im allgemeinen, sofern die Möglichkeit jeremianischer Völkergedichte nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird, keinem Zweifel. 100 Die poetische Gestaltung trägt offenkundig jeremianisches Gepräge; 101 außerdem steht sie den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" (Kp. 4-6) nahe. 102 Nicht zuletzt deshalb wird die jeremianische Verfasserschaft dieses Textes von den Exegeten bereitwilliger anerkannt als bei allen übrigen Völkersprüchen des Jeremiabuches. 103

Einheit gewertet werden können, aufzuweisen. Auch die Literarkritik sollte m . E . von solchen textlinguistischen Gesichtspunkten nicht absehen, sondern diese für die Exegese fruchtbar machen. Zur Konstituierung von Textkohärenz bzw. -kohäsion vgl. ausführlich z.B. DE BEAUGRANDE-DRESSLER, E i n f ü h r u n g i n d i e T e x t l i n g u i s t i k 5 0 - 1 1 7 . 97 „A brilliant p o e m . . . It is one of the finest poems in the book of J e r e m i a h . . . " (CARROLL 763); „..., for vividness and poetic quality, unexcelled by anything in the book" (BRIGHT 308); „formell ist es zweifellos ein Meisterwerk" (CORNILL 450); „The poetry is among the most vivid in all the OT and is certainly unsurpassed in the book of Jeremiah." (THOMPSON 688) 98 Vgl. CARROLL 763; detaillierte poetisch-stilistische Analysen finden sich bei SNAITH, Literary Criticism 22-26, WATSON, Classical Hebrew Poetry 379-383, sowie VAN DER WESTHUIZEN, Stylistic-Exegetical Analysis. Zur Ironie vgl. besonders JACKSON, Oracles on Egypt. " V g l . HOLLADAY II, 316: „The poetry of vv 3-12 gives every evidence of unity." VON ORELLI 183 hält es für möglich, daß V. 7ff. einen ursprünglich selbständigen Spruch darstellen (vgl. wieder DE JONG, Deux Oracles 369). Obwohl dies nicht ganz auszuschließen ist, sprechen die innertextlichen Bezüge für eine geschlossene, als solche konzipierte Komposition. 100 Für nichtjeremianisch halten das Gedicht - von den Vertretern der grundsätzlichen Unechtheit der Völkersprüche des Jeremiabuches abgesehen - BARDTKE, Fremdvölkerprophet 231 f. (es handle sich um ein Spottgedicht aus nationalistischen Kreisen, das kurz nach der Schlacht von Megiddo im Jahre 609 verfaßt und dem abziehenden ägyptischen Heer nachgesandt worden sei; sekundär sei es auf ganz Ägypten bezogen worden) und FOHRER, Vollmacht 47. Mit einem nur sehr geringen echten Kern, von dem möglicherweise Reste in V. 7f.5f. vorlie-

g e n , r e c h n e t GIESEBRECHT 2 2 7 . 101 EISSFELDT etwa beurteilt das Gedicht als „von hohem poetischen Schwung getragen und auch insofern seiner würdig" (Einleitung 489). Von den sieben charakteristischen Stilmitteln der jeremianischen Poesie, die HOLLADAY (ohne Berücksichtigung des Korpus der Völkersprüche!) als besonders häufig bezeichnet (Style, Irony and Authenticity 44-47), finden sich alle in 46,3-12: Chiasmus (V. 12a), Doppeldeutigkeit (¡"I1?!) V. 4.9 gegenüber V. 11), Assonanz (V. 3.4.9.10), mehrfaches Vorkommen von Wurzeln (H^B / 113: / p x ) , erweiterte Wortbedeutungen (Silin Gi'n und jiSiS V. 10), abrupter Wechsel von Sprecher und Stimmung (passim), Ironie (V. 5.9.11). l02 V g l . SEYBOLD, Jeremia 123; HOLLADAY II, 318. Zum „Feind aus dem Norden" s. unten S.

278. 103 Vgl. HYATT 1105: „This oracle has greater claim to authenticity than any other in the collection."

A. Ägypten I, Jer

97

46,2-12

Fraglich ist lediglich der ursprüngliche Bestand des Textes. Die von Duhm konstatierten Entlehnungen aus anderen jeremianischen und außerjeremianischen Texten, die belegen sollen, daß das Gedicht ein Kunstprodukt aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts darstelle, entspringen einem tiefen Vorurteil gegen die Völkersprüche als solche und vermögen nur auf dieser Basis gegen die jeremianische Herkunft zu sprechen. 1 0 4 Kaum zu bezweifeln ist, daß die Antwort in V. 8a eine sekundäre Erweiterung darstellt. 105 Schwieriger ist hingegen ein Urteil über die kommentierenden Teile V. 6.10.12. Vor allem V. 10 gilt häufig als sekundär: Ähnlich Duhm sieht Volz darin (bis THSQ) eine die Beschreibung unterbrechende Reflexion, die insbesondere durch die Vorstellung, die Ägypter seien JHWHs Feinde, an denen er sich rächen müßte, vom Geist des übrigen Gedichts abweiche und dessen Bau störe; es handle sich um eine Glosse nach Jes 34,8, welche die „religiöse Farbe" stärker auftrage. 106 Für Hay sind Sprache und Bildwelt von V. 10 apokalyptisch und deshalb spät. 107 Neben Erweiterungen in V. 5 und 11 hält Seybold auch V. 6.10.12b für sekundär, Erbt den die beiden Gedichte V. 79.12 und V. 3-6.10 verknüpfenden V. II. 1 0 8 Ob zwischen V. 10 und dem Unheils wort für Edom Jes 34,4-8 überhaupt ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis besteht, ist zweifelhaft. Wahrscheinlich sind an beiden Stellen ältere Motive, die einerseits mit der Vorstellung vom Tag JHWHs, andererseits mit der Opferterminologie verbunden sind, selbständig aufgenommen und unterschiedlich verarbeitet. Sollte jedoch der eine Text dem anderen als Vorlage gedient haben, so ist es wahrscheinlicher, daß das Edom-Wort des Jesajabuches dem Jeremia-Text nachgebildet ist. 109 Die Bilder von V. 10 (Schwert, Schlachtopfer) sind im Edom-Orakel stark ausgeweitet und farbig ausgemalt, so daß sie viel kraftvoller wirken. 110 Die Gestaltung von Jes 34 und besonders das „geschichtsfremd-dogmatisch" festgelegte Bild von Edom legen eine nachexilische Datierung dieses Textes nahe." 1

104 DUHM 337-339 (ähnlich wieder JONES 491) sieht den Ausdruck 3 , 3 D 0 TÜO (V. 5) aus 6,25 entlehnt, V. 6a aus A m 2,14, die Frage n p p (V. 7) aus Cant 3,6; 8,5, V. 7a aus'Am 8,8b (= 9,5b), und V. 11 sei „eine wunderliche Mischung aus jeremianischen Reminiscencen" (8,22; 30,13; 2,30; 4,30; 6,14; 14,17); V. 10 schließlich stamme aus Jes 34,6-8. Schon CORNILL hat gezeigt, daß diese Argumentation im wesentlichen eine petitio principii darstellt, während die wirklichen Berührungen mit echten jeremianischen Texten umgekehrt gerade den Eindruck zu verstärken vermögen, daß hier derselbe Verfasser am Werk ist (446; vgl. ähnlich HOLLADAY II, 318). HÖFFKEN vermerkt zutreffend: „Diese Aufstellung zeigt nur, daß dem Problem auf diesem Wege nicht beizukommen ist." (Begründungselemente 390 Anm. 14) 105 Vgl. oben S. 76. 106

VOLZ 3 9 8

(Studien

296);

vgl. DUHM

337; ähnlich

auch

HYATT

1107;

HOLLADAY

II,

3 1 6 . 3 2 1 ; JONES 4 9 1 . 107

HAY, Oracles 116. SEYBOLD, Jeremia 123f.; ERBT, Jeremia und seine Zeit 220. 109 So auch RUDOLPH 271; SNAITH, Literary Criticism 23f. (mit ausführlichem Vergleich der beiden Stellen); WILDBERGER, Jesaja III, 1343. Zu Jes 34f. unter besonderer Berücksichtigung von DP3 in 34,8 und 35,4 vgl. jüngst PEELS, Vengeance of God 148-160. 1,0 Vgl. SNAITH, Literary Criticism 24. '"WILDBERGER, Jesaja III, 1341. WILDBERGER hält mit einer Mehrzahl von Exegeten einen Zeitpunkt gegen Ende des 6. Jahrhunderts für wahrscheinlich (ebd.). 108

98

III.

Textanalysen

Deutlich ist, daß die drei Verse 6.10.12 aufeinander bezogen sind und miteinander das Rückgrat des Textes bilden, indem sie das Geschilderte explizieren und konkretisieren; fehlen sie, geht der ausdrückliche historische Bezug (V. 6b. 10b) verloren. Es ist zwar nicht undenkbar, daß das jeremianische Wort einmal ohne die expliziten Bezüge ausgekommen sein könnte, wenn diese durch den realen Kontext, die Situation des Vortrags bzw. der Veröffentlichung, gegeben waren; im Zusammenhang mit einer ägyptischen Kampagne mochten die mehrfachen Anspielungen auf Ägypten als Hinweise durchaus genügen. Doch weisen die kommentierenden Verse nicht mit Eindeutigkeit in die nachjeremianische Zeit. Daß Jeremia selbst die Niederlage Ägyptens gegen die Babylonier als Handeln JHWHs interpretierte, steht außer Zweifel. Spätestens seit den Visionen und den sie aufnehmenden Gedichten vom „Feind aus dem Norden", den er Syrien-Palästina überrennen sah, 112 war für Jeremia deutlich, daß Widerstand vergeblich, die neue politische Ordnung von JHWH selbst verfügt sei. Wer sich der von JHWH gesandten und legitimierten Macht in den Weg stellte, mußte unweigerlich an ihr zerbrechen (vgl. 27,6ff.). Wer sich mit dem „Feind aus dem Norden" anlegte, kämpfte gegen JHWHs Pläne und wurde so zum Feind JHWHs selbst. In diesem Sinne kann Ägypten als Feind, die Niederlage als Rache JHWHs bezeichnet werden. 113 Nicht weil Ägypten nach der Weltherrschaft trachtete 114 - dies tat auch Babylon wie im übrigen wohl jedes Großreich der Antike - , sondern weil es sich damit gegen die Pläne JHWHs stellte, der die Reiche der Welt in die Hand Nebukadnezars gegeben hat, mußte es den Babyloniern unterliegen. Die Ablehnung dieses Gedankens als Nationalismus" 5 oder der Verkündigung Jeremias widersprechende Rache JHWHs an den Völkern 116 entbehrt von daher jeglicher Grundlage. D. R. Jones weist zu Recht darauf hin, daß diese Form von Kritik unsachgemäß sei: „It is incorrect to apply post-Christian Standards of sensitivity to the prophet." 1 1 7 Schwerer wiegt jedoch, daß in dieser Interpretation der Rache als emotionales, unkontrolliertes, aggressives und destruktives Handeln, das unter der Würde des Gottes Jeremias sei, auch inneralttestamentlich der Ausdruck Dp] bzw. HQp] mißverstanden ist. Die Rache Gottes dient nicht der „Stillung eines emotionalen Rachebedürfnisses", sondern der „Wiederherstellung eines allein heilssichernden Gleichgewichts". 118 Der Begriff stammt wahrscheinlich ursprünglich aus der Rechtssprache: „Ein begangenes Unrecht wird durch Bestrafung ausgeglichen und dadurch aufgeho112 Dabei ist vorausgesetzt, daß Jeremia seine Gedichte über den „Feind aus dem Norden" in den Jahren vor 605 verfaßte und vortrug; vgl. dazu unten S. 300 Anm. 81. 113

S o a u c h NÖTSCHER 3 0 5 ; WEISER 3 8 3 ; SCHREINER T i l i .

114

Darin sehen SNAITH, Literary Criticism 18, HÖFFKEN, Begründungselemente 265-271, und PEELS, Vengeance of God 180, das zentrale Motiv der Rache Gottes in 46,10. " 5 BARDTKE, Fremdvölkerprophet 231 f. BARDTKE erkennt hier eine Verschiebung des Gerichts- in den Rachegedanken: „Auch als Fremdvölkerprophet hätte Jeremia Jahve richten, nicht rächen lassen." (ebd. 231) 116

D U H M 3 3 8 ; HYATT 1 1 0 7 .

117

JONES 4 9 2 .

118

WILDBERGER, J e s a j a I I I , 1 3 4 4 .

99

A. Ägypten 1, Jer 46,2-12

ben". 1 1 9 Auch wenn gelegentlich das Motiv der Rache mit Haß oder Schadenfreude angefüllt ist, so steht doch mehrheitlich in dessen Zentrum der Gedanke der Durchsetzung des Willens J H W H s in Recht und Heil; in den meisten Fällen - H . G . L . Peels rechnet mit 8 5 % aller alttestamentlichen Rache-Stellen 1 2 0 - ist deshalb direkt oder indirekt J H W H das Subjekt der Rache. Zur Aufrechterhaltung oder Aufrichtung des Rechtes kann sich die Rache Gottes folgerichtig nicht nur an fremden Völkern, sondern auch an Israel selbst vollziehen (Lev 26,25; Jes 1,24; 59,17; Jer 5,9.29; 9,8 [MT]; Ez 24,8). Ob Jeremia die Tötung Josias und das damit verbundene Ende der Reformbewegung als Eingriff in den Heilsplan J H W H s mit seinem Volk beurteilt und darin den Grund für J H W H s Rache gesehen hat, wie oftmals selbstverständlich angenommen wird, 1 2 1 ist hingegen mehr als fraglich. Einmal ist es zweifelhaft, ob das Verhältnis Jeremias zur josianischen Reform in dieser Weise zutreffend bestimmt ist. 1 2 2 Aber auch dann, wenn Jeremia die Reform (evtl. auch nur anfänglich) unterstützt hat, muß spätestens seit den Visionen vom „Feind aus dem N o r d e n " und der damit verbundenen Gewißheit, daß Juda-Jerusalem in die Hände der Babylonier fallen müsse, dieses Motiv von der Sichtweise Jeremias weit entfernt sein.

Sollte V. lOaot einen späteren verdeutlichenden Zusatz darstellen, so ist dieser jedenfalls sachlich zutreffend und stimmt mit der jeremianischen Interpretation der politischen und theologischen Entwicklung überein. Auch die Bilder vom Schwert und vom Schlachtfest JHWHs, die V. 10 als schwerfällig und überlang erscheinen lassen, ihm jedoch dadurch auch formal das dem Inhalt entsprechende besondere Gewicht verleihen, fügen sich in diese Sichtweise ein und können von daher nicht als sekundär bezeichnet werden. Zwar könnte man die Vermutung äußern, die Qualifizierung der Ägypter (und im weiteren Sinne: der Nichtisraeliten allgemein) als Feinde JHWHs spiegle die charakteristische Sichtweise des Exils, wo Israel - selbst unter dem Eindruck der Katastrophe stehend und an den Folgen des Gerichtshandelns JHWHs leidend - vermehrt Interesse am Schicksal der Nachbarn gehabt habe und sein eigenes Los auf deren Kosten zu mildern suchte (vgl. V. 27f.; 48,26f.; 49,12; 25,29), so daß darin eine Akzentverschiebung vom Gericht über Israel auf das Gericht über die Völker festzustellen sei. Doch ist es fraglich, ob V. 10 für eine solche Interpretation genügend Anhaltspunkte liefert; die Einschätzung Jeremias kommt darin zu deutlich und zu bestimmend zum Ausdruck, als daß eine darüber hinausgehende, neue Akzente setzende Aussage mit deutlichen Konturen dagegen abgehoben werden könnte. 119

SAUER, n p :

120

PEELS, V e n g e a n c e o f G o d 7 5 .

121

So GRAF 513; KEIL 440 (Ägypten ist gar der Feind „von Alters her"); VON ORELLI 186;

107.

CORNILL 4 4 5 ; CONDAMIN

298;

RUDOLPH

2 7 0 f . ; WEISER 3 8 3 ; T H O M P S O N

689;

HUEY

379;

SCHUNCK, Strukturlinien 327; SNAITH, Literary Criticism 28, eingeschränkt NÖTSCHER 305 („gewiß erst in zweiter Linie") und SCHREINER 238. Diese Deutung findet sich schon bei David Q I M C H I ( v g l . F R E E D M A N 2 9 4 ; ROSENBERG 3 4 8 ) . 122

Zum Problem des Verhältnisses Jeremias zur Reform und zum Deuteronomium vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei HERRMANN, Jeremia (EdF) 66ff., sowie SCHARBERT, Jeremia und die Reform.

100

III.

Textanalysen

Damit kann der Text Jer 46,3-12 (ohne V. 8a) nicht nur als ursprüngliche Einheit, sondern als jeremianische Originalkomposition gelten. Der mehrfache unvermittelte Wechsel von hektischen Kampfrufen, erstaunten oder neugierigen Fragen, Erklärungen und dazwischengeschalteten, sprachlich davon abgehobenen Kommentaren ist beabsichtigt und hängt mit der historischen Situation, die das Gedicht veranlaßte, und der Intention des Propheten zusammen. Die Lebhaftigkeit und plastische Anschaulichkeit des Gedichts, Klang und Rhythmus, Bilder und Anspielungen, die darin erkennbar sind, lassen an mündlichen Vortrag denken. Wie immer der Auftritt Jeremias und das Forum, vor welchem er sein Gedicht vortrug, zu denken sind, nimmt jedenfalls der Prophet damit zugleich eine politische und eine theologische Funktion wahr. Die Niederlage der Ägypter in Karkemisch ist in seiner Sicht nicht ein Ereignis der Profangeschichte allein, sondern der Geschichte JHWHs mit der Völkerwelt. g) Der historische

Kontext des ersten

Ägypten-Gedichts

Während die erste Strophe von einer unerwarteten und verheerenden Niederlage im Norden, am Euphratufer, spricht, enthält die zweite Strophe einen impliziten Hinweis auf Ägypten als die eine der beteiligten Kampfparteien; die dritte Strophe schließlich nennt Ägypten explizit als Unterlegenen. Die redaktionelle Einleitung in V. 2 liefert dazu ergänzende Informationen, so das Datum und den Namen des Ortes, an welchem die Schlacht stattfand; beide konnten erst durch die Fragmente der Babylonischen Chronik in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts in einem unabhängigen außerbiblischen Text bestätigt werden. 123 Diese Angaben genügen, um das Gedicht mit dem zentralen Ereignis der vorderasiatischen Geschichte des ausgehenden 7. Jahrhunderts v.Chr., der Schlacht von Karkemisch im Jahre 605, in Verbindung zu bringen. 124

123 Die Schlacht von Karkemisch war vor der Veröffentlichung der Babylonischen Chronik durch D.J. WISEMAN (Chronicles) nur in Jer 46 und Josephus, Antiquitates X,6,84-86, belegt. Diese Konstellation gab zu verschiedenen Spekulationen Anlaß (vgl. z.B. DUHM 337; BARDTKE, Fremdvölkerprophet 231f.; RUDOLPH 268f. und 269 Anm. 1), die jedoch durch die außerbiblischen Belege obsolet wurden. Der Verfasser der Überschrift war offensichtlich noch gut informiert. Auch die Datierung der Schlacht von Karkemisch in das Jahr 609 durch J. LEWY (Forschungen zur alten Geschichte Vorderasiens 28-37), die gelegentlich in ältere Kommentare Eingang fand, wurde durch die Babylonische Chronik widerlegt; Karkemisch war bis 605 fest in ägyptischer Hand (vgl. WISEMAN, Chronicles 21ff.; VOGT, Neubabylonische Chronik 71). 124 Zu den folgenden, auf das Wesentliche reduzierten Angaben zur historischen Situation vgl. neben den einschlägigen Darstellungen der Geschichte Israels v.a. WISEMAN, Chronicles 13-28; VOGT, Neubabylonische Chronik; HERRMANN, Jeremia (EdF) 7-27. Die umfangreiche Literatur zu den historisch-chronologischen Fragen ist notiert bei GREEN, Chronology 57 Anm.

2.

A. Ägypten I, Jer

46,2-12

101

Nachdem im Jahre 614 die Meder unter Kyaxares Assur erobert hatten und im Jahre 612 eine Koalition aus Medern, Babyloniern und Umman-manda 1 2 5 Ninive eingenommen und zerstört hatte, war das assyrische Großreich, das sich seit Jahrzehnten in einem unaufhaltsamen Niedergang befunden hatte, endgültig auseinandergebrochen. Ägypten hatte sich bereits um 650 unter Psammetich I. (664-610), dem ersten König der 26. Dynastie, von der assyrischen Vorherrschaft befreit, jedoch erst nach dem Tode Assurbanipals (631) seinen Einfluß auf Syrien-Palästina wieder geltend gemacht. Als Prinz Assuruballit den Versuch unternahm, von Harran im nordwestlichen Mesopotamien aus die Souveränität Assyriens wiederherzustellen, wurde er von den Ägyptern unterstützt, da diese zu verhindern suchten, daß das assyrische Erbe an die Babylonier fiel. Psammetichs Nachfolger, Necho II. (610-595), zog zu diesem Zweck durch Syrien-Palästina, wobei er bei Megiddo den ihm in den Weg tretenden König Josia von Juda tötete (609, IIReg 23,29). Der Aufmarsch der wiederum durch Umman-manda verstärkten babylonischen Truppen gegen Harran veranlaßte die Assyrer, die Stadt kampflos aufzugeben und sich nach Karkemisch 1 2 6 , dem nördlichen Stützpunkt der Ägypter, zurückzuziehen; ein Versuch, Harran zurückzuerobern, scheiterte. Fortan umfaßte der Konflikt, bei dem es um die Vorherrschaft über Syrien-Palästina ging, nur noch Ägypten und Babylon; die Assyrer werden nach dem Jahr 609 in der Babylonischen Chronik nicht mehr genannt. 127 In den folgenden Jahren, in denen der babylonische König Nabopolassar Züge in nördlicher Richtung unternahm, um die Grenzen gegen Urartu zu sichern, gelang es den Ägyptern, ihre Stellungen am oberen Euphrat auszubauen und von den Babyloniern eingenommene Orte zurückzuerobern. Das Blatt wendete sich jedoch, als Nabopolassar, der zu Beginn des Jahres 605 nach Babylon zurückgekehrt war, wegen einer schweren Erkrankung das Oberkommando über alle Truppen seinem Sohn Nebukadnezar übertrug. Dieser zog direkt nach Karkemisch, wohin sich die Ägypter zurückgezogen hatten, und griff die Stadt im Sommer (Mai/Juni) frontal an. Trotz erbitterten Widerstandes, dessen Spuren die Ausgrabungen in Karkemisch zutage gebracht haben, 1 2 8 konnten die Ägypter die Stadt nicht halten und wurden vernichtend geschlagen; nur einem Teil des ägyptischen Heeres gelang die Flucht in südlicher Richtung. Damit war den Babyloniern der Weg durch Syrien-Palästina eröffnet. Nebukadnezar verfolgte zunächst den fliehenden Teil des ägyptischen Heeres bis nach Hamat und schlug auch ihn, drang aber erst in den folgenden Jahren, mittlerweile selbst König des babylonischen Reiches, 129 von Ribla am Orontes (IIReg 25,6; Jer 39,5f.) aus in regelmäßigen Feldzügen weiter nach Süden vor; Damaskus, Tyrus, Sidon und auch Juda (vgl. IIReg 24,1) ergaben sich in den Jahren 605 und 604. Damit war nach assyrischer und erneuter kurzer ägyptischer Vor125 Die Umman-manda werden meist mit den den Skythen identifiziert (vgl. MALAMAT, Historical Setting 155 Anm. 20). Die Babylonische Chronik ist an dieser Stelle wegen einer Beschädigung der Tafel nicht eindeutig zu interpretieren; vgl. dazu WISEMAN, Chronicles 15f. 18. 126 Karkemisch (Gargamisch, später Europos, heute tel gerablüs) liegt an der großen Handelsstraße über den Euphrat westlich von Harran und nordöstlich von Aleppo (vgl. RUDOLPH 269; HOLLADAY II, 319); die frühere Identifizierung mit Circesium (vgl. etwa GRAF 509; HITZIG 341) ist obsolet. 127

128

V g l . WISEMAN, C h r o n i c l e s 2 5 .

Vgl. den Ausgrabungsbericht von WOOLLEY, Carchemish II, insbes. zu Haus D (ebd. 123129); VOGT, Neubabylonische Chronik 75f. 129 Zu den mit der Datierung des Regierungsantritts verbundenen Problemen s. WISEMAN, Chronicles 26-28; VOGT, Neubabylonische Chronik 80-83.

102

III.

Textanalysen

herrschaft die b a b y l o n i s c h e Zeit Syrien-Palästinas u n d J u d a s a n g e b r o c h e n (vgl. IIReg 24,7).

Zwar wird die eindeutige Identifizierung des in Jer 46,3-12 Geschilderten mit der Schlacht von Karkemisch nur durch die Einleitung in V. 2 vorgenommen; das Gedicht selbst spricht lediglich von einer großen ägyptischen Niederlage am Euphrat. An der Richtigkeit dieser Zuordnung kann jedoch kein Zweifel bestehen. Einmal stellt die Schlacht von Karkemisch die wesentliche Weichenstellung für die Geschichte Syrien-Palästinas und Judas am Ende des 7. Jahrhunderts dar; ein Echo auf dieses Ereignis, das einerseits als Bestätigung und Konkretion der Verkündigung Jeremias vom „Feind aus dem Norden" erscheint, andererseits direkte Auswirkungen auf die judäische Politik zwischen den Großmächten Babylon und Ägypten haben mußte, 1 3 0 ist im Jeremiabuch geradezu zu erwarten. 131 Da keine andere derart bedeutende Niederlage Ägyptens am Euphrat bekannt ist, weder aus dem 7. noch aus einem späteren Jahrhundert, 132 ist die Annahme, daß das Gedicht sich auf die Schlacht von Karkemisch bezieht, nicht nur die natürlichste, sondern auch die einzig sinnvolle Interpretation. Kann die Zeit der Entstehung des Gedichts näher eingegrenzt werden? Die Hinweise, die der Text selbst gibt, sind merkwürdigerweise mehrdeutig; die Frage, ob der Prophet vor oder nach der Schlacht spricht, ob also eine Voraussage oder eine nachträgliche Beschreibung und Interpretation vorliegt, kann nicht sicher beantwortet werden. Einige Exegeten sehen eindeutige Indizien für eine Weissagung bzw. für eine prophetische Schau vor der Schlacht, etwa die Gottesspruchformel in V. 5 und die Perfecta prophetica in V. 10 133 oder in V. 6b. 11.12 134 sowie die Formulierung von V. 10a 135 . Andere rechnen - teil130 Zur Auseinandersetzung mit CARROLL 764, der die Auswirkungen der Schlacht von Karkemisch auf die judäische Politik unterschätzt, s. unten S. 316 Anm. 110. 131

V g l . C O R N I L L 4 4 4 f . ; C L E M E N T S 2 4 8 ; VOGT, N e u b a b y l o n i s c h e C h r o n i k 8 4 .

132

Daß eine der partiellen Niederlagen, welche die Ägypter bei ihrer Unterstützung der Versuche Assuruballits, in Harran ein assyrisches Königreich zu begründen und zu halten, vor der Schlacht von Karkemisch erlitten hatten, im Blick sein könnte, ist ausgeschlossen; keine davon ist weitreichend genug, als daß in Juda mit einer Reaktion darauf zu rechnen wäre. Auch daß die Eroberung Ägyptens durch Assurbanipal einige Jahrzehnte früher (671) gemeint sein könnte, die sprichwörtlich geworden sei und auf die auch Nah 3,8-10 anspiele (DE JONG, Deux Oracles 376f.), ist ganz unwahrscheinlich, da kein Grund vorliegt, weshalb Jeremia auf ein längst vergangenes Ereignis rekurrieren sollte, das im Ringen der Großmächte u m die Vorherrschaft über Syrien-Palästina ohnehin nur eine Episode bedeutete. Die Schlacht von Karkemisch war demgegenüber nicht nur aktuell; ihr kam darüber hinaus grundlegende Bedeutung sowohl für Ägypten wie für Syrien-Palästina zu. 133

V O N ORELLI 183.

134

RUDOLPH 2 6 9 .

135

Für RUDOLPH 269 müßten, wenn es sich nicht um Weissagung handelte, in V. 10aa Perfektformen stehen (so auch SCHUNCK, Strukturlinien 327; ähnlich WEISER 382: eine Entscheidung darüber, ob das Orakel als Weissagung vor der Schlacht oder als Darstellung und Deutung nach der Schlacht verfaßt wurde, sei nicht sicher möglich, ersteres sei jedoch wegen der Tempora in V. 10a wahrscheinlicher, ebd. Anm. 5). Mit einer Weissagung rechnen auch CONDAMIN

A. Ägypten

I, Jer

46,2-12

103

weise mit denselben Argumenten unter umgekehrtem Vorzeichen 136 - damit, daß das Gedicht eine Reaktion auf das Ereignis darstellt und unmittelbar nach dem Eintreffen der Nachricht abgefaßt wurde. 137 Weil die Frage vom Text her nicht zu beantworten ist, wird sie gelegentlich auch einfach offen gelassen. 138 Es ist allerdings fraglich, ob die angewendeten Kriterien überhaupt aussagekräftig sind. Ein Blick auf die Tempora und ihre unterschiedliche Wiedergabe in den Übersetzungen und Kommentaren zeigt, daß sie offenbar beliebig interpretiert werden können: So kann das Perfekt "TViC], mit dem die Schilderung der Niederlage in V. 5f. eingeleitet wird, auf eine prophetische visionäre Schau hindeuten oder aber im Rückblick ein der Verlebendigung dienendes Stilelement darstellen. 139 Ähnliches gilt für die Zeitformen in V. 6 („sie sind gefallen", „sie fallen" oder „sie werden fallen"), V.10 und V. l l f . , die ebenfalls entweder ein Ereignis der Vergangenheit darstellen oder die „Gewißheit der Erfüllung" ausdrücken und der Verlebendigung dienen. 140 Offenbar ist auf dieser Ebene ein Entscheid nicht möglich. Auffälligerweise läßt sich auch die historisch-chronologische Einleitung in V. 2 für diese Frage nicht auswerten; sie bringt das Gedicht lediglich mit der Schlacht von Karkemisch in Verbindung, ohne damit eine Angabe über die Entstehungszeit des Textes zu machen. Es bleibt unklar, ob der Redaktor, aus dessen Hand die Überschrift stammt, selbst über keine genaueren Informationen verfügte oder ob er absichtlich die Umstände der Entstehung des Textes im Dunkeln ließ. Jedenfalls darf daraus geschlossen werden, daß für die Redaktoren zum Verständnis der Aussage des Textes dessen genaue Entstehungssituation nicht oder nicht mehr notwendig war; sie ergab sich offenbar - in Verbindung mit der Hintergrundinformation in V. 2 - in ausreichender Deutlichkeit. Die darüber hinausgehende Frage, ob der Prophet vor oder nach der Schlacht spricht, ist -

299 (obwohl der Text selbst die Frage offenlasse, jedoch in Analogie zu den anderen Völkersprüchen) und KEIL 438 (die Weissagung sei in „lyrischer Lebendigkeit" gestaltet, jedoch erst nach der Schlacht aufgezeichnet und in die Sammlung a u f g e n o m m e n worden). 136 So etwa GRAF 508, der V. 6.10 als deutliche Hinweise auf eine Abfassung nach dem Ereignis versteht, sicher jedoch die Überschrift. 137 So HITZIG 341; HAY, Oracles 115; HOLLADAY II, 318 (Jeremia habe das Gedicht kurz nach der Schlacht, im Sommer 605, verfaßt; aus der gleichen Zeit stammten die Gedichte in 4,5-8.13-18.29-31; 6,1-8); IONES 492 (die Präzision des Gedichts sei in der voraussagenden Prophetie unüblich); mit anderer Akzentsetzung VOLZ 397f. (die Schlacht von Karkemisch sei der geschichtliche Ausgangspunkt der Dichtung, jedoch seien Orakel und Vision zu bloßen Stilformen geworden; „es spricht ein Dichter, nicht ein Visionär, ein Künstler, nicht ein Weissager."). NICHOLSON II, 165 ist unsicher, ebenso BRIGHT 308: „just before - or, more probably, just after". 138

THOMPSON 6 8 8 ; NÖTSCHER 3 0 4 ; CARROLL 7 6 3 f . ; HYATT 1 1 0 6 ( „ e i t h e r a s p r e d i c t i o n o r in

celebration of the victory"). Für GIESEBRECHT 226f. ist die „Unbestimmtheit der Schilderung" ein Hinweis auf die Unechtheit des Gedichts. 139 RUDOLPH 269 (mit Hinweis auf eine ähnlich mehrdeutige Situation in 4,23ff.); WEISER 382; VON ORELLI 183 (entscheidet sich im Zusammenhang f ü r ersteres). 140

RUDOLPH 2 6 9 .

104

III.

Textanalysen

ob sie sich für sie gar nicht stellte, weil sie die Antwort für selbstverständlich hielten, ob sie daran nicht interessiert waren, ja sie bewußt ausklammerten, vielleicht um dem Text einen weiteren Horizont zu verschaffen - nicht im Blickfeld der Tradenten. Kann die Frage nach der Entstehungssituation des Textes weder auf der semantisch-syntaktischen Ebene noch aufgrund von dessen redaktioneller Einbettung eindeutig beantwortet werden, so bedarf es weiterer Indizien, die in der Struktur des Textes zu suchen sind; es ist genau darauf zu achten, wie der Text gebaut ist, wie die einzelnen Gedanken und Strophen einander folgen und wie sie sich aufeinander beziehen. Hier sind nun die Beobachtungen virulent, die zunächst im Zusammenhang mit dem Verhältnis von V. 5 zu V. 3f. und dann allgemein mit dem inhaltlichen Fortschritt der drei Strophen festgehalten wurden. 141 Die Richtigkeit der Annahme, daß Jeremia sein Gedicht über die Niederlage Ägyptens in Karkemisch tatsächlich vor einer Zuhörerschaft vortrug oder allenfalls verlesen ließ, einmal vorausgesetzt, ergibt sich nämlich die merkwürdige Konstellation, daß bis kurz vor dem Ende des Gedichts (bis und mit V. 10) mit Ägypten erst gerade die eine der beiden Kampfparteien identifiziert ist (V. 7-9). Während schon gleich zu Beginn die in ihrer Plötzlichkeit und in ihrem Ausmaß überraschende Niederlage der einen Partei anschaulich beschrieben wird, bleibt die Identität der Unterlegenen - von den möglichen, aber unsicheren, jedenfalls auch von aktuellen Hörern nicht zwingend in eine bestimmte Richtung zu interpretierenden Wortspielen und Andeutungen abgesehen - im Dunkeln. Erst in der abschließenden Strophe wird durch die Aufforderung an Ägypten, sich in Gilead Medizin zu verschaffen (V. 11), der Schleier gelüftet und der konkrete, vom Dichter intendierte Bezug endgültig festgelegt. Während das vollständige Fehlen der zweiten Kampfpartei im aktuellen Kontext durchaus erklärbar ist - im Zusammenhang mit der historischen Situation legt die Nennung der Ägypter den Bezug auf die Babylonier von selbst nahe - und der Sinn des Gedichts auch ohne diese Information verständlich wird, hat diese „Dosierung" der übrigen Informationen eine ausgesprochen hörer- (und sekundär auch leser-) lenkende Funktion. Nicht nur wird auf diese Weise eine Spannung aufgebaut, die durch die Differenz zwischen der Konkretheit und Anschaulichkeit der dargestellten Szenen und der mangelnden Identifikation der dramatis personae entsteht; vielmehr wirkt das Gedicht bis hin zu seinem Höhepunkt orakelhaft und vieldeutig. Im Blick auf die Gestaltung des ganzen Gedichts darf davon ausgegangen werden, daß es sich dabei nicht um einen Zufall, sondern um ein rhetorisches Mittel handelt, das zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wurde. Weshalb aber werden die zum Verständnis des Gedichts notwendigen Infor-

141

Auf den dreiteiligen Aufbau mit der bis zur Schlußstrophe durchgehaltenen Spannungslinie weist schon HÖFFKEN, Begründungselemente 267, hin, ohne allerdings aus dieser Beobachtung irgendwelche Folgerungen zu ziehen.

A. Ägypten

/, Jer

46,2-12

105

mationen nur schrittweise - und die zentrale Information erst fast am Ende gegeben? Wenn Jeremia sein Gedicht im Zusammenhang mit der Schlacht von Karkemisch vortrug oder vortragen ließ und sich darin seine Einschätzung des historischen Ereignisses als Wirken JHWHs spiegelt, so ist dieses prophetischpolitische Votum auf dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation zu sehen. Zwar ist nicht mit Sicherheit festzustellen, wann in Jerusalem die Auseinandersetzungen zwischen der proägyptischen und der probabylonischen Partei begannen; möglicherweise bildete sich eine eigentliche probabylonische Partei, der wohl aufgrund seiner Verkündigung auch Jeremia selbst zugerechnet wurde, erst, nachdem die Babylonier nach dem Sieg in Karkemisch weit in den syrisch-palästinischen Raum eingedrungen waren. Das Spannungsfeld als solches war jedoch sicher älter, gegeben schon dadurch, daß nach dem Tod Josias bei Megiddo im Jahre 609 dessen Nachfolger Joahas von Necho II. durch Eljakim/Jojakim ausgewechselt wurde (IIReg 23,34). Das Gedicht spricht also in eine Situation hinein, die, wenn nicht durch die Machtkämpfe einer probabylonische und einer proägyptischen Partei, so doch jedenfalls durch die ägyptenfreundliche Politik des - darin allerdings nach dem Zeugnis des Jeremiabuches durchaus schwankenden (vgl. etwa 37,3.17; 38,14) - Königs Jojakim geprägt war. In diesem Zusammenhang kommt der „Verschleierungstaktik" Jeremias eine ganz besondere Funktion zu, die möglicherweise als Hinweis auf die Entstehungssituation des Textes gewertet werden kann. Die Spannung des Gedichts entsteht nämlich gerade dadurch, daß bis fast am Ende nicht deutlich ist, wer in jenem Kampf „im Norden, am Euphratstrom" Sieger und wer Verlierer ist. Nach geschlagener Schlacht, wenn die Nachricht von der Niederlage Ägyptens über die diplomatischen Kanäle nach Jerusalem gelangt ist, kann diese Spannung gar nicht erst entstehen; wenn von den Fakten her deutlich ist, wie im Gedicht die Rollen verteilt sind, dann ist der Text schon in der ersten Strophe, wenn die Niederlage geschildert wird (V. 5), auf ein eindeutiges Verständnis festgelegt. Trägt jedoch Jeremia sein Gedicht vor der Schlacht vor, dann eignet dem Text jene merkwürdige Orakelhaftigkeit, die es zunächst beiden Parteien ermöglicht, ihn in ihrem Sinn zu verstehen - bis die Schlußstrophe die von Jeremia vertretene Interpretation eindeutig und unmißverständlich offenlegt. In diesem Fall kommt den ersten beiden Strophen gewissermaßen die Funktion einer captatio benevolentiae zu: Durch die anschaulichen, stilistisch sorgfältig gestalteten Szenen wird nicht nur die Aufmerksamkeit der Hörer geweckt, sondern auch eine je nach politischer Position unterschiedliche Deutung des Dargestellten ermöglicht. Die abschließende Zuspitzung auf die eine von Jeremia beabsichtigte Interpretation erhält dann - in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Länge und zum Gewicht der vorhergehenden Strophen - umso mehr Kraft und Farbe.

106

III.

Textanalysen

Zweifellos hängt die Bedeutung des Ägypten-Gedichts 46,3-12 nicht an dieser speziellen Interpretation; auch als nachträgliche Deutung der Schlacht von Karkemisch, welche mit sprachlichen Mitteln ein Bild von den vergangenen und in Jerusalem bekannten Ereignissen malt, kann der Text verstanden werden. Stellt jedoch in der Tat die „Dosierung" der Information ein bewußt eingesetztes Mittel der Hörerlenkung dar, wofür einiges spricht, so kann das Gedicht nur vor der Schlacht vorgetragen worden sein. Es ist dann anzunehmen, daß das ägyptische Heer bereits nach Norden aufgebrochen war oder der Aufbruch kurz bevorstand und daß die Jerusalemer classe politique um die ägyptischen Pläne wußte und dem Ausgang - nicht zuletzt im Blick auf das eigene Schicksal - gespannt entgegensah. Die jeremianische Interpretation der Schlacht von Karkemisch als Dammbruch und damit als Zeichen für die bevorstehende Erfüllung der Voraussagen über den „Feind aus dem Norden" fügt sich, ob vor der Schlacht oder nach Eintreffen der Meldungen über ihren Ausgang veröffentlicht, in jedem Fall exakt in die Auseinandersetzung Jeremias mit der Politik jener Zeit. Nur wenige Jahre danach jedoch hätte er in dieser Form nicht mehr überzeugend vom Geschehen in Karkemisch sprechen können. Denn im Winter 601/600 schien sich das Blatt bereits wieder zu wenden, indem Nebukadnezar bei seinem Zug gegen Ägypten eine empfindliche Niederlage erlitt, die Kampagne abbrach und nach Babel zurückkehrte, um seine Kräfte zu sammeln; 142 König Jojakim von Juda deutete diese Entwicklung irrtümlich als Zeichen für das Ende der babylonischen Bedrohung und kündigte Nebukadnezar die Treue (IIReg 24,1). Nach der babylonischen Eroberung Jerusalems am 16. März 597 und vollends nach dem Ende des Staates Juda und der Zerstörung des Tempels im Jahre 587/6 143 mußte ein zurückliegendes Ereignis wie die Schlacht von Karkemisch, das durch die folgenden Entwicklungen und Katastrophen um ein Vielfaches überboten wurde, demgegenüber stark in den Hintergrund treten. Ein Anlaß, ein Ägypten-Gedicht zu formulieren, das sich auf Karkemisch bezieht, bestand jedenfalls später kaum mehr. 144 Die Zeit unmittelbar vor bis kurz nach der Schlacht von Karkemisch, grob der Sommer des Jahres 605, bleibt auch von daher die wahrscheinlichste und sinnvollste Ansetzung der Abfassung und Veröffentlichung des ersten Ägypten-Gedichts.

142 Vgl. dazu LiPirtsici, Egypto-Babylonian War; WISEMAN, Chronicles 29f.; VOGT, Neubabylonische Chronik 91 f. 143 Zum Problem der Datierung der Zerstörung Jerusalems s. den Überblick bei HERRMANN 27-33. 144 Dies spricht auch grundsätzlich gegen die Auffassung, daß der (nachjeremianische) Verfasser der Völkersprüche das Gedicht, in welchem er das historische Schlüsselereignis in Karkemisch thematisiert, als geschichtlichen Ausgangspunkt voranstellte (VOLZ 397). Als Motiv für die redaktionelle Umstellung der einzelnen Orakel in späterer Zeit mag dagegen das Wissen um die historische Bedeutung jenes Ereignisses eine Rolle spielen (s. dazu unten Kp. V).

B. Ägypten II, Jer

46,13-26

107

B. Das zweite Ägypten-Gedicht, 46,13-26/26,13-25 a) Der Text Der Text der zweiten Hälfte der Ägypten-Sammlung bereitet im Gegensatz zur ersten zahlreiche Schwierigkeiten. Neben den üblichen Erweiterungen und Auffüllungen im MT (V. 13.14.18.25.26a) und harmlosen Schreibfehlern (V. 14.20) enthält er schwerwiegende Probleme (V. 15.16.19.22), die für das Verständnis des Gedichts von Bedeutung sind und deshalb an Ort und Stelle ausführlich zu besprechen sind. Die meisten der über die LXX hinausgehenden Erweiterungen bewegen sich im Rahmen dessen, was für den prämasoretischen Texttyp charakteristisch ist und auch in anderen Texten begegnet; diese Unterschiede zwischen MT und LXX sind von daher leicht zu identifizieren. In V. 13 erweitert der MT den Namen Jeremias um den TitelfcODSHund fügt vor dem „König von Babel" dessen Namen ein. 145 In V. 14 findet sich eine Erweiterung aus verwandten Kontexten (omsnnn-l ... w o t ö m ..., vgl. 2,16; 4,5; 44,l). 1 4 6 In V. 18 ist die Gottesbezeichnung (ibtö niiOK m/P "^¡an) erweitert; die LXX lautet demgegenüber Kupioq ö Geöq, was möglicherweise auf HiiO^ rniT zurückgeht. 147 In V. 25 fügt der MT bei der Aufzählung derjenigen Gruppen, die von JHWH heimgesucht werden sollen, zusätzlich eine Reihe von Betroffenen ein; daß es sich um eine Einfügung handelt, ist auch daran erkennbar, daß das Stichwort, das vor der Einfügung stand bzw. diese veranlaßte (ni} - ®"'?^!), an deren Ende wiederholt wird. 148 Dieses Unheilswort ist im MT außerdem mit einer eigenen Einleitung versehen und in V. 26a um ein weiteres Unheilswort mit einer eindeutigen Identifikation des Feindes ergänzt worden. Von anderem Charakter ist das masoretische Sondergut in V. 26b. Als Heilswort für Ägypten relativiert es die vorhergehenden Worte, die ausschließlich Unheil ankündigen, indem es dieses zeitlich begrenzt und Ägypten eine neue Blüte verheißt. Ähnliche Heilsworte finden sich im Anschluß an die Unheilsankündigungen für Moab (48,47), Ammon (49,6) und Elam (49,39), von denen nur letzteres auch in der alexandrinischen Textform bezeugt wird. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht um bloße Traditionssicherung oder 145

Zur unterschiedlichen Form der Einleitungsformel in M T und LXX s. unten Kp. V.2d. Vgl. JANZEN, Studies 59; Tov, Incidence 194. 147 In der LXX findet sich häufig 8e6.r|0R|aexai OTJOti ist durch innergriechische Verschreibung aus K a u Ö f i c e r a i entstanden (RUDOLPH, Text 277), so daß keine echte Variante vorliegt. Die Lesart KauOiiaexai, die von keiner einzigen Handschrift geboten wird, ist als Konjektur auch in den Haupttext von L X X Z a u f g e n o m m e n worden. 197

118

III.

Textanalysen

gewiß, und d a ß er Ä g y p t e n eine verheerende Niederlage zufügt, läßt der Text deutlich werden. d) Strophe

2 (V.

20-24)

A u c h d i e z w e i t e S t r o p h e d e s T e x t e s ist l e b e n d i g g e s t a l t e t ; h i e r s i n d e s d i e zahlreichen, rasch wechselnden Bilder, die ihm Farbe und

Anschaulichkeit

v e r l e i h e n . D a s e r s t e B i l d (V. 2 0 ) z e i c h n e t Ä g y p t e n a l s s c h ö n e 1 9 9 j u n g e

Kuh.

D i e s ist e i n B i l d v o r a l l e m f ü r d e n W o h l s t a n d d e s L a n d e s . 2 0 0 D o c h d i e I d y l l e trügt: Von N o r d e n her fliegt ein s c h ä d l i c h e s Insekt201 auf sie zu, w o h l , so legt der Z u s a m m e n h a n g

n a h e , in d e r (nicht explizit f o r m u l i e r t e n ) A b s i c h t ,

sie

a u s z u s a u g e n , z u s c h w ä c h e n o d e r g a r z u v e r n i c h t e n . D a s z w e i t e B i l d (V. 2 1 ) s c h l i e ß t u n m i t t e l b a r d a r a n an: W i e Ä g y p t e n e i n e s t a t t l i c h e K u h ist, s o s i n d i h r e S ö l d n e r ( v g l . V. 1 6 ) w i e M a s t k ä l b e r . A b e r a u c h d i e s e r Z u s t a n d v o n W o h l ergehen und Luxus

findet

einbrechenden Unheils

ein plötzliches Ende: Angesichts des plötzlich her-

fliehen

d i e S ö l d n e r w i e i n V. 15 s c h o n d e r

„Starke";

d i e P a r a l l e l e z u V. 15 i s t d u r c h d i e S t i c h w o r t e DI] u n d "IQi? 0 0 o f f e n s i c h t l i c h . Bisher blieb der angekündigte Feind ganz im Hintergrund; es w u r d e

erst

d e u t l i c h , d a ß e r v o n N o r d e n k o m m t (V. 2 0 ) . D i e f o l g e n d e n A u s s a g e n k o n z e n trieren sich g a n z auf d i e s e n F e i n d u n d z e i c h n e n sein K o m m e n in b e d r ä n g e n den Bildern. D a s erste Bild in V. 2 2 ist nicht g a n z d e u t l i c h u n d wird e n t s p r e c h e n d v o n d e n E x e g e t e n u n t e r s c h i e d l i c h interpretiert. D e r M T lautet: „Ihre (f. sg., i m Z u s a m m e n h a n g Ä g y p t e n s ) S t i m m e (ihr L ä r m ? i h r e K u n d e ? ) w i r d g e h e n ( I m p f . ) w i e d i e S c h l a n g e , d e n n m i t M a c h t w e r d e n sie g e h e n ( I m p f . ) . " D i e L X X ü b e r s e t z t V. 2 2 a . b a g a n z a n d e r s : (|)C0vri dx; ot>Ä.0Ui;. Da die Überschrift 46,1, die sich auf die ganze Sammlung der Fremdvölkersprüche bezieht, dem prämasoretischen Texttyp zugehört 286 und die Angaben in 47,1 - wie gleich zu zeigen sein wird - in einer gewissen Spannung zum Gedicht stehen, kann davon ausgegangen werden, daß die LXX die ältere Form der Überschrift bewahrt hat. Allerdings ist nicht sicher, ob der Übersetzer in seiner Vorlage die Präposition b vorgefunden hat; diese gibt er gewöhnlich mit bloßem Dativ wieder (46/26,2; 48/31,1; 49,1/30,17; 49,7/30,1; 49,23/30,29; 49,28/30,23), während die LXX hier die Präposition ¿Tri verwendet. Der hebräische Text mag deshalb bereits vor der Erweiterung zu der durch den MT bezeugten Form LTiü^ET^K gelautet haben. 287 Der Temporalsatz „bevor der Pharao Gaza schlug" in V. lb gibt eine Information, die über den kürzeren Text und über das Gedicht selbst hinausgeht 284

V g l . CLEMENTS 2 5 1 .

285

Vgl. die ähnlichen Angaben in 46,2.13; 49,28, die sich jedoch in beiden Textformen finden und im MT höchstens erweitert sind. 286 Die Überschrift in 47,1 stammt deshalb mit Sicherheit nicht vom selben Redaktor wie diejenigen in 46,2.13; 49,28, die bereits vor der Aufspaltung der Texttradition vorhanden waren ( g e g e n GRAF 5 2 3 ; VOLZ 4 0 2 A n m . 1). 287 So auch HITZIG 349; BRICHT 309; ursprüngliches b nimmt dagegen COSTE, Weissagungen 29, an.

2. Philister, Jer 47

143

und mit ihm in merkwürdiger Spannung steht. Es stellen sich drei Fragen: (1) Auf welches historische Ereignis bezieht sich die Angabe? (2) In welchem Verhältnis steht sie zum Gedicht? (3) Wann und warum wurde die Überschrift erweitert? (1) Der Temporalsatz in V. lb setzt voraus, daß ein - nicht namentlich genannter - ägyptischer Pharao die philistäische Stadt Gaza eroberte. Die relevanten literarischen Quellen nennen mehrere Ereignisse, die damit identifiziert werden können. a. Nach Herodot (II, 157) eroberte Psammetich I. (663-609) im Zuge des Verfalls der assyrischen Macht nach dem Tode Assurbanipals (631) und der damit parallel gehenden ägyptischen Machtausdehnung über Syrien-Palästina nach langer Belagerung die philistäische Stadt Aschdod. Es ist anzunehmen, wenn auch von Herodot nicht ausdrücklich erwähnt, daß er dabei auch die weiter südlich gelegenen Städte Aschkalon und Gaza einnahm. 288 Die Philisterstädte müssen jedenfalls im Jahre 604, als sie von den Babyloniern erobert wurden, schon längere Zeit unter ägyptischer Oberherrschaft gestanden haben; im Brief des Königs Adon, der den ägyptischen Pharao um Hilfe gegen die babylonische Gefahr bittet, spricht offenbar ein langjähriger Vasall. 289 b. Herodot berichtet ebenfalls, daß Pharao Necho nach seinem Sieg über die Syrer bei MaySo^oq die syrische Stadt K a S w n ; eroberte (II, 159). Magdolos wird gewöhnlich mit Megiddo identifiziert und Kadytis mit Gaza. 290 Diese Angaben lassen grundsätzlich zwei Interpretationen zu: Entweder eroberte Necho Gaza bei der Rückkehr von seinem Zug gegen die Babylonier zur Unterstützung der Assyrer in Harran im Frühsommer 609 (vgl. IIReg 23,33), so wie er auch in die Verhältnisse in Juda eingriff, indem er Joahas, den Sohn und Nachfolger Josias, absetzte und an seiner Stelle Jojakim auf den Thron brachte, 291 oder er sicherte sich, nachdem das ägyptische Heer auf dem Seeweg nach Akko und von dort aus nach Megiddo gelangt war, durch die Einnahme Gazas den Landweg bereits vor dem Zug nach Harran, gleich nach dem Gefecht mit Josia (IIReg 23,29f.). 292 Die zweite Möglichkeit muß ausscheiden, weil Herodot einen ägyptischen Sieg über die Syrer voraussetzt; Juda wird damit nicht gemeint sein, und das Gefecht mit Josia ist für die Entwicklung der Machtverhältnisse in Syrien-Palästina zu unbedeutend, als daß Herodot es erwähnt hätte. Hingegen kann Herodot unter den Syrern sehr wohl die Babylonier verstehen, da er einerseits Syrer und Assyrer gleichsetzt (VII, 288

S o VOGT, N e u b a b y l o n i s c h e C h r o n i k 7 7 ; HOLLADAY I I , 3 3 7 .

289

So VOGT, Neubabylonische Chronik 77. Zur Interpretation des Saqqära-Papyrus s. ausführlich ebd. 85-89 (mit Literaturangaben); weitere Literatur nennt RUDOLPH 275 Anm. 1. 290 S. die Diskussion bei MALAMAT, Historical Setting 154 Anm. 16. 291

HITZIG 3 4 9 f . ; R U D O L P H 2 7 5 f . ; WEISER 3 8 9 ; MALAMAT, H i s t o r i c a l S e t t i n g 1 5 8 . ; KUTSCH,

Erwägungen 257. VOGT beurteilt die Zuschreibung der Eroberung Gazas an Necho und die Ansetzung nach der Schlacht von Magdolos (Megiddo) durch Herodot als falsch (Neubabylonische Chronik 77 Anm. 4). 292

VON O R E L L I 1 8 7 ; K U T S C H , E r w ä g u n g e n 2 5 7 .

144

III.

Textanalysen

63), andererseits das babylonische Reich noch in der Zeit Nabonids zum assyrischen Reich zählt (I, 188; vgl. I, 178.192). 293 c. Nach der Niederlage der Ägypter gegen die Babylonier in Karkemisch (605) könnte Necho beim Rückzug einen Angriff gegen Philisterstädte unternommen und dabei Gaza erobert haben. 294 Allerdings sind aus den Quellen keine Informationen bekannt, die in diese Richtung wiesen, und es ist sehr unwahrscheinlich, wenn nicht geradezu ausgeschlossen, daß die Ägypter nach der vernichtenden Niederlage, in der sie von den Babyloniern bis weit in den syrischen Raum hinein verfolgt wurden, zu einer solchen Aktion überhaupt noch imstande waren. 295 d. Der genannte Bericht Herodots (II, 159) kann auch anders eingeordnet werden. Wenn sich die Bezeichnung Mo.yScoAoq nicht auf Megiddo, sondern auf Migdol in Ägypten bezieht - und dafür spricht, daß die LXX Migdol als MaySco^oq wiedergibt (Jer 46/26,14) 296 - , so bezieht sich die Einnahme Gazas auf ein Ereignis Ende des Jahres 601 und anfangs 600: Die babylonische Armee wurde zu diesem Zeitpunkt in Migdol geschlagen, zur Rückkehr gezwungen und von Necho bis in das Gebiet von Philistäa verfolgt; dort eroberte er die von den Babyloniern im Jahre 604 eingenommene Stadt Gaza zurück. 297 Dieses plötzliche Ende des babylonischen Vormarsches blieb nach Auskunft von Josephus (Ant. X, 88) nicht ohne Auswirkungen auf die judäische Politik: Es veranlaßte Jojakim, die Tributzahlungen an Babylon nach drei Jahren einzustellen (vgl. IIReg 24,1) und sich dadurch von der babylonischen Oberherrschaft loszusagen. 298 e. Herodot spricht davon, daß Pharao Apries (Hophra, 589/8-570) mit einem Heer gegen Sidon zog und einen Seekampf gegen Tyrus führte (II, 161). Es ist möglich, daß er im Zusammenhang mit dieser Aktion von Phönizien herkommend das mit diesem verbündete (vgl. V. 4a) Gaza eroberte. 299 f. Auch aus späterer Zeit sind mehrere Eroberungen Gazas bekannt. Im Konflikt zwischen Ptolemäus I. und Antigonus stand Gaza im Zentrum; Ptole293 Vgl. KATZENSTEIN, Before Pharaoh Conquered Gaza 249, der auch darauf hinweist, daß in Esr 6,22 der König von Assyrien in ähnlicher Weise mit dem König von Persien gleichgesetzt wird (ebd. 250 Anm. 5). 294

GRAF 5 2 3 ; HITZIG 350.

295

Gegen diese Möglichkeit: VON ORELLI 187; CORNILL 459; WEISER 389 unter Hinweis auf IIReg 24,7; WISEMAN, Chronicles 68; KUTSCH, Erwägungen 257; MALAMAT, Historical Setting 1 5 5 Anm. 1 7 . 296 Vgl. KATZENSTEIN, Before Pharao Conquered Gaza 250 Anm. 3 (mit ausführlichen Literaturangaben). 297 Vgl. LIPIPÎSKI, Egypto-Babylonian War 240; KATZENSTEIN, Before Pharao Conquered G a z a 2 4 9 f . ; BRIGHT 3 1 2 ; THOMPSON 6 9 6 ; BOGAERT, R e l e c t u r e e t d é p l a c e m e n t

145.

298

Nach KATZENSTEIN bezahlte Jojakim den Tribut jeweils im Nisan (März / April), erstmals im Jahre 603, letztmals 601. Die Niederlage Nebukadnezars ereignete sich zu Beginn des Jahres 600, so daß Jojakim in diesem Jahr keinen Tribut mehr bezahlte (Before Pharao Conquered Gaza 250). 299

A l s M ö g l i c h k e i t e r w o g e n v o n RUDOLPH 2 7 6 ; WEISER 3 8 9 ; KUTSCH, E r w ä g u n g e n 2 6 2 .

2. Philister, Jer 47

145

maus eroberte die Stadt im Jahre 312. Nachdem sie in der Folge unter ägyptischem Einfluß gestanden hatte, wurde sie kurz vor der Schlacht von Panion (200/198) durch den Seleukiden Antiochus III. erobert. 3 0 0 g. Die Angabe in V. 1 kann sich schließlich auch auf ein anderes, aus den Quellen nicht mehr erschließbares historisches Ereignis beziehen. 3 0 1 Eine eindeutige Identifizierung der Einnahme Gazas durch einen ägyptischen Pharao ist trotz der hervorragenden Quellenlage, insbesondere durch den ausführlichen Bericht der babylonischen Chronik und die Darstellung Herodots, nicht möglich. Die Angabe in V. 1 ist dadurch, daß keine näheren Umstände genannt sind und insbesondere der Name des ägyptischen Pharaos fehlt, zu knapp, als daß sich eines der in Frage kommenden, aus den Quellen bekannten Ereignisse zweifelsfrei damit verbinden ließe. Offenbar war eine deutlichere Kennzeichnung zur Zeit der Abfassung der Überschrift nicht nötig oder zumindest nicht beabsichtigt. Der zweite Problemkreis, das Verhältnis der Überschrift zum Gedicht, hängt unmittelbar mit dieser merkwürdigen Unscharfe zusammen. (2) Die Aussage von V. 1, wonach das in V. 2-7 folgende Gedicht als Wort JHWHs an Jeremia erging, bevor der Pharao Gaza schlug, ist offenkundig mehr als eine bloße historisch-chronologische Angabe. Denn einmal schränkt sie die Perspektive gegenüber dem Gedicht ein: Während dieses von den Philistern insgesamt spricht und neben Gaza auch Aschkalon (V. 5.7), die übrigen Anakiter (LXX V. 5) und die Küstenbewohner (V. 7) nennt, spricht die Überschrift nur gerade noch von Gaza. Ferner hat das jeremianische Gedicht die Babylonier als „Feind aus dem Norden" im Blick und sagt den Philisterstädten die Eroberung durch eben diesen Feind an oder - im Falle einer Deutung ex eventu - interpretiert die erfolgte Eroberung als Plan und Gerichtshandeln JHWHs. Als sachgemäße Überschrift zu diesem Text wäre deshalb ein Hinweis auf die Eroberung Gazas durch die Babylonier zu erwarten. Stattdessen weist V. 1 auf die Eroberung Gazas durch den ägyptischen Pharao hin und bringt dadurch wohl zum Ausdruck, daß dieser und nicht der Babylonier das Gedicht erfüllt hat. 3 0 2 Die Überschrift steht somit im Widerspruch zum Gedicht selbst, das in V. 2 ausdrücklich von einem „Feind aus dem Norden" spricht. Zwar ist es denkbar, daß die Ägypter bei ihrem Zug gegen Gaza von Norden her nach Philistäa kamen, weil sie zuvor in Syrien oder Phönizien gekämpft hatten. 3 0 3 Jedoch handelt es sich bei dem Ausdruck jiS^ "Norden" im Jeremiabuch zwar auch, aber sicher nicht nur um eine Richtungsangabe, die zum Ausdruck bringt, aus welcher Himmelsrichtung die feindliche Inva-

300

BOGAERT, Relecture et déplacement 146.

301 302

RUDOLPH 2 7 6 ; WEISER 3 8 9 ; CLEMENTS 2 5 1 ; KUTSCH, E r w ä g u n g e n 2 6 2 . CONDAMIN 3 0 7 f . ; VOLZ 4 0 2 A n m .

1; R U D O L P H 2 7 5 ( s i e h t d i e Ü b e r s c h r i f t d e s h a l b

als

sachlich falsch); BOGAERT, Relecture et déplacement 145; JONES 496 („an editor's vain attempt to find a historical fulfilment for the prophecy"). 303

S o BARDTKE, F r e m d v ö l k e r p r o p h e t 2 3 8 ; C A Z E L L E S , L a V i e d e J é r é m i e 3 4 .

146

III.

Textanalysen

sion erfolgen soll. Der „Feind aus dem Norden" kommt nicht nur von Norden her über Syrien-Palästina, er stammt auch aus dem Norden, er ist der NordFeind (vgl. z.B. die Formulierungen „das Volk von Norden" 6,22; 46,24; 50,41 und „das Land des Nordens" 10,22), und dies kann von Ägypten schlechterdings nicht gesagt werden, zumal Ägypten selbst von diesem „Feind aus dem Norden" bedroht ist (46,20.24). Ebenso ist es zwar denkbar, daß die Jeremiatradenten in ]iS2£ lediglich die Richtungsangabe heraushörten und deshalb keine Schwierigkeit darin sahen, die Erfüllung der Ankündigungen des Philister-Gedichts den Ägyptern zuzuschreiben. 304 Allerdings würde auch dies eine erhebliche Verschiebung gegenüber dem jeremianischen Verständnis des Feindes aus dem Norden bedeuten. Jeremia selbst hatte sicherlich denselben Feind im Blick wie in 4,5ff.; 6,1 ff.; 10,22; 13,20; 46,3ff.l4ff„ und auch wenn er zu einem früheren Zeitpunkt Zweifel bezüglich der Identität dieses Feindes gehabt haben sollte, so war doch spätestens seit 605, wahrscheinlich jedoch schon einige Jahre früher, deutlich geworden, daß nur Babylon als neue Weltmacht in Frage kam. Wenn also die Überschrift auf die Erfüllung des Gedichts durch Ägypten hinweist, so kommt darin eine deutlich andere Perspektive zum Zug als die jeremianische; es stellt sich gar die Frage, ob die Überschrift den Inhalt des Gedichts absichtlich in eine diesem ursprünglich fremde Richtung lenken und es so korrigieren will. Offenbar blieb nämlich die babylonische Eroberung Gazas im Jahre 604, die das Gedicht 47,2ff. - ob als Voraussage oder als Deutung ex eventu - anspricht, eine bloße Episode in der bewegten Entwicklung der politischen Konstellation in Syrien-Palästina und Ägypten. 305 Die babylonische Vorherrschaft war damit noch nicht gesichert, und die Niederlage Nebukadnezars in Ägypten im Jahre 601/600 zeigte, wie schnell das Blatt sich wenden konnte. Vollends nach dem Zerfall des babylonischen Reiches, während der persischen, griechischen und ptolemäischseleukidischen Zeit, mochte sich die Frage nach der Erfüllung der Ankündigungen des Philister-Gedichts neu stellen und in einem anderen Licht präsentieren. Der Hinweis auf die Einnahme Gazas durch einen ägyptischen Pharao kann jedoch auch anders vestanden werden. Vielleicht wollte die Angabe gar nicht auf die Erfüllung des jeremianischen Gedichts durch einen ägyptischen Pha304

D e m widerspricht allerdings die in M T V. 4 a n g e d e u t e t e S ü d - N o r d - R i c h t u n g , vgl. unten S.

149. 305 N a c h der Darstellung der Babylonischen C h r o n i k eroberte N e b u k a d n e z a r i m Kislev ( D e z e m b e r ) 6 0 4 A s c h k a l o n u n d zerstörte es (WISEMAN, Chronicles 68f.; VOGT, N e u b a b y l o n i sche C h r o n i k 85). G a z a ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g nicht erwähnt. D e n n o c h ist a n z u n e h m e n , d a ß N e b u k a d n e z a r seinen erfolgreichen Feldzug in A s c h k a l o n nicht beendete, sondern in Richtung Ä g y p t e n fortsetzte und auch die südlichste Philisterstadt G a z a erreichte. Allerdings ist die Frage, ob G a z a tatsächlich erobert wurde, f ü r die Interpretation des Orakels zweitrangig, da dieses in j e d e m Fall die „ Ü b e r f l u t u n g " Philistäas durch den „Feind aus d e m N o r d e n " und dessen M a c h t a u s d e h n u n g in Syrien-Palästina bezeugt - eine Beurteilung, die (zumindest vor 6 0 1 / 6 0 0 und dann w i e d e r nach 597) zutreffend ist.

2. Philister, Jer 47

147

rao hinweisen, sondern nur gerade hervorheben, daß Jeremia konsequent von einem Feind aus dem Norden gesprochen habe, auch damals, als die Gefahr von Süden ausging und gar Gaza von Ägypten eingenommen wurde. 306 In diesem Fall wäre die Überschrift nötig geworden, weil das Gedicht im Laufe der Zeit sozusagen von der Geschichte überholt worden war, weil keine Bedrohung von Norden, sondern lediglich eine solche von Süden her akut war. Der Hinweis, daß das jeremianische Gedicht verfaßt wurde, bevor der Pharao Gaza erobert hatte, wäre so eine Information für spätere Leser, für welche die ehemals philistäische Stadt Gaza unter ägyptischer Oberherrschaft stand. Vielleicht nimmt die Angabe dadurch gleichzeitig das Gedicht gegenüber der geschichtlichen Entwicklung in Schutz: es hat sich wohl erfüllt, damals, bevor dann die Ägypter Gaza eroberten und nach den Babyloniern wieder eine neue Situation schufen. (3) Treffen diese Beobachtungen zu, so deutet die Überschrift des PhilisterGedichts je nach Interpretation auf eine Korrektur, eine Neuakzentuierung oder eine Neuinterpretation des ursprünglichen Textes hin. Diese umfaßt mindestens zwei Aspekte. Einmal wird dem Gedicht dieselbe Form der Wortereignisformel vorangestellt wie der ganzen Sammlung der Völkersprüche (46,1). Hatte die Überschrift ursprünglich - wie von der LXX bezeugt - mit dem lamed inscriptionis bzw. der Präposition ^K nur die Philister als Adressaten bezeichnet, so wird das Gedicht nun ausdrücklich als JHWH-Wort bezeichnet und als an Jeremia, „den Propheten", ergangen dargestellt. Daß diese Formel verwendet wird, kann kein Zufall sein; statt ihrer hätte der Hinweis auf die historische Situation auch einfach an die kurze Überschrift angehängt werden können, wie dies in 46,2; 49,28 bereits vor der Aufspaltung der Texttradition geschehen ist. Ist aber die Wahl der Formel nicht zufällig erfolgt, so ist es nicht undenkbar, daß sich darin dieselbe Tendenz spiegelt, die Autorität Jeremias und die Zuverläßigkeit der von ihm ausgehenden Tradition zu betonen, die für den prämasoretischen Text des Jeremiabuches auch andernorts charakteristisch ist. 307 Komplexer ist der zweite Aspekt, die mit der historisch-chronologischen Angabe beabsichtigte Information, Korrektur oder Neuinterpretation und im Zusammenhang damit die Frage nach dem Zeitpunkt, in welchem die Überschrift dem Gedicht vorangestellt wurde. Offenbar verlangte das kurze, an sich verständliche und in den Rahmen der jeremianischen Verkündigung vom „Feind aus dem Norden" gut einzuordnende Wort über die Bedrohung Philistäas von Norden her in einer bestimmten Phase der Tradierung eine Präzisierung und Situierung im historischen Kontext. Sei es, daß das Wissen um die ursprüngliche, durch die babylonische Bedrohung geschaffene Situation ver306 In dieser Richtung VON ORELLI 187; VOGT, Neubabylonische Chronik 77 Anm. 3; ähnlich erkennt KATZENSTEIN in der Überschrift die Perspektive der Ereignisse von 601 (Before Pharao Conquered Gaza 250). 307 Vgl. dazu Kp. V.

148

III.

Textanalysen

loren gegangen war und das Gedicht deshalb in einer neuen politischen Konstellation nicht mehr verstanden wurde, sei es, daß für die Tradenten bzw. Redaktoren die ursprüngliche Bedeutung des Gedichts gegenüber einer aktuellen Interpretation sekundär war, jedenfalls versuchte der Ergänzer, einen aus seiner Sicht bestehenden Mangel durch die neue Überschrift zu beheben. Deren genaue Intention läßt sich allerdings aus V. 1 allein nicht eindeutig bestimmen. Hier muß deshalb der zweite größere Eingriff in den Text, der sich in V. 4 findet, beigezogen werden. In der LXX (und auffälligerweise auch in 2QJer: T r c m ) 3 0 8 V. 4a kündet JHWH in Ich-Form die Vernichtung von Tyrus und Sidon (Kai a^avict) if|v Tüpov K a i rf|v H 8 o v a ) und der übrigen Verbündeten ( K a i TOTJI; K a i a A 0 i 7 i 0 D c ; Tfjq ßot|0£ia Jes 16,7; fehlende Kopula V. 30 / Jes 16,6; V. 31 / Jes 16,7; V. 37 / Jes 15,2; zusätzliche Kopula V. 30 / Jes 16,6. 436 V. 32 3 / Jes 16,9 ]Q; in V. 33 / Jes 16,10 umgekehrt; V. 34 ]Q / Jes 15,5 "UJ; V. 34 niBBO1?

/ Jes 15,6 niDOP; V. 37 B S n - ^ / Jes 15,2 r o s ^ D a . 437 V. 37 DKi'-ta / Jes 15,2 VBST^a; V.38 3KiQ H i s r ^ bs / Jes 15,3 iTnia? bv.

3. Moab, Jer 48

181

die Determination nicht identisch 4 3 8 , und auch dort, wo derselbe Sinn vorliegt, können kleinere orthographische oder formale Unterschiede auftreten 4 3 9 , Synonyme oder Begriffe desselben Bedeutungsfeldes verwendet 4 4 0 und Wortgruppen in unterschiedlicher Reihenfolge wiedergegeben werden 4 4 1 . Solche kleineren Unterschiede werden, soweit sie für die Klärung des gegenseitigen Verhältnisses von Jer 48 und Jes 15f. nicht von Bedeutung sind, im folgenden nicht einzeln aufgeführt und diskutiert. Immerhin sei darauf hingewiesen, daß sie wie andere Parallelüberlieferungen des Alten Testaments für das Verständnis der Textüberlieferung wichtige Informationen liefern. Wenn zwischen den beiden Texten ein Verhältnis literarischer Abhängigkeit vorliegt, so ist offenbar sowohl mit zahlreichen kleineren Fehlern beim Abschreiben als auch mit relativ großer Freiheit der einzelnen Schreiber in bezug auf stilistische und syntaktische Änderungen zu rechnen. Andererseits ist es denkbar, daß nicht der eine Text vom andern abhängt und als Bearbeitung desselben zu betrachten ist, sondern daß beide mehr oder weniger stark bearbeitete Wiedergaben einer gemeinsamen nicht erhaltenen, möglicherweise zuvor lediglich mündlich tradierten Quelle darstellen. Die Analyse wird diese Möglichkeiten im Auge zu behalten und zu erwägen haben. V. 29f. stimmt fast wörtlich mit Jes 16,6 überein. V. 29a entspricht V. 6a; V. 29b enthält aus V. 6b die ersten beiden Wörter in umgekehrter Reihenfolge und zusätzlich eine sinngemäße Wendung CD1? •"!]), der MT darüber hinaus eine weitere Ergänzung (irqj). 442 Der Rest von V. 6b findet sich in V. 30 mit einer Einleitung am Anfang C3S [MT + rnrr-nx]] '"IH") und einer wörtlich an das Vorhergehende anschließenden Formulierung am Ende (TOI) p-}?'1?), die neben dem Reden (VT?) auch das Tun der Moabiter als unrecht bezeichnet. Eine eindeutige Priorität der einen oder anderen Fassung ist nicht auszumachen. Immerhin fällt auf, daß zunächst die 1. Pers. PI. in V. 29 unvermittelt auftritt, während sie im Kontext von Jes 16, der Bitte Moabs um Asyl für seine Flüchtlinge, sinnvoll ist. 443 Der folgende ebenso unvermittelte Übergang zur 1. Pers. Sg. in V. 30 wurde offenbar auch im MT als Mangel empfunden, so daß durch die Einfügung der JHWH-Spruchformel wenigstens das „Ich" näher bezeichnet wurde. Auch das doppelte p'X 1 ? am Ende wirkt stilistisch etwas schwerfällig. Dies 438

V. 32 HD3D |3?n / Jes 16,9 17030 ]S3; V. 33 *7I?-QP / Jes 16,10 *7i?13n-]Q. V. 29 n i ? / Jes 16,6 K3; V. 33 nSOKTl/ Jes 16,10 ^OX]]. 440 V. 32 / Jes 16,9 I T ^ p ; V.' 34 D^ip OT / Jes"15,4 tfpip VBM; V. 36 "S1? / Jes 16,11 '¡>1? (vgl. aber 15,5!); V. 36 E"V?n'/Jes 16,11 "liiD; ebd. ' a * ? / " ? ! ? . 439

441

v. 29 irnxji i]ix:n / jes 16,6 irx:! inm, v. 31 Dsia-^B p-^ii / Jes 16,7 "r1?" -gb HKin; v. 32 nbhs -irir -ran / jes 16,9 - p : "333 n?3X; v/33 P T N 1 ? "ratm a^p-a /

Jes l().10T3r- (...)-; 442

NT n p "

Der MT bietet drei sinnverwandte Ausdrücke (ini^JI tita iH33), die LXX nur zwei (üßpiv ceuTOÜ Kai ii)7tepri0aviav a r n o i ) . Entweder fügt der MT absichtlich einen zusätzlichen Ausdruck hinzu und erweitert dadurch in derselben Richtung, in welcher schon der Jeremiagegenüber dem Jesajatext erweitert ist, oder einem Schreiber lagen in verschiedenen Texten unterschiedliche Kombinationen dieser drei Ausdrücke vor, so daß er sie kumulierte. Es ist jedenfalls auffällig und beruht wohl kaum auf einem Zufall, daß der Jesajatext der LXX-Fassung des Jeremiatextes nähersteht als dem MT. 443

V g l . GRAF 5 4 4 .

182

III.

Textanalysen

könnten Indizien sein, daß der Text im Jeremiabuch von zweiter Hand ergänzt bzw. in einen eigenen Rahmen OHJJT '3N) gestellt wurde. Auffällig ist auch, daß V. 29f., anders als Jes 16,6, als Unheilsbegründung fungiert. 4 4 4 V. 31 entspricht im wesentlichen Jes 16,7. Dabei ist die Reihenfolge von Verb und Objekt gegenüber Jes umgestellt, und das in Jes 16,7 überflüssig scheinende 4 4 5 DNiQ1?, das wohl als Dittographie zu erklären ist, fehlt; der Satz erhält dadurch eine andere syntaktische Struktur. Für das ungewöhnliche und seltene Wort CZTBS steht in Jer (vgl. V. 36); dies ist, ob ETtÖX „ M a n n " bedeutet oder „Traubenkuchen", 4 4 6 auf jeden Fall als Erleichterung zu beurteilen. 4 4 7 Schließlich sind in Jer die ersten beiden Verbformen solche der 1. Pers. Sg., die letzte der 3. Pers. Sg., 4 4 8 während die Verben in Jes 16,7 solche der 3. Pers. Sg. sind; 4 4 9 die Formen der 1. Pers. Sg. verdanken sich wohl denjenigen von V. 30a und sind daher wahrscheinlich wie diese Einleitung als sekundär zu beurteilen. Schließlich ist es für die Einschätzung des Abhängigkeitsverhältnisses von großer Bedeutung, daß V. 31 mit p ' -bs an das Vorhergehende anschließt. Im Jeremiatext greift dieser Anschluß, der eine Unheilsankündigung oder zumindest die Beschreibung eines unheilvollen Zustandes voraussetzt, offensichtlich ins Leere. Nicht so im Kontext von Jes 16; hier bezieht sich die Klage über M o a b auf die nicht erhörte Bitte um Asyl und die daraufhin über die Bewohner Moabs hereinbrechende Katastrophe. Auch dies ist ein Hinweis darauf, daß in Jes 16 der ursprüngliche Kontext erhalten ist, während in Jer 48 ein eklektisches Zitat vorliegt. 4 5 0 V. 32 ist eine Kombination aus Jes 16,8 und 9. V. 3 2 a a entspricht V. 9 a a , jedoch wiederum mit einer Umstellung (n33K ITir 4 5 1 , D3p) und einer Z u f ü g u n g C^1?). Es scheint, daß letztere den syntaktisch zweideutigen Satz - H03E |S3 „Weinstock (von) Sibma" kann Objekt des Beweinens oder Apposition sein - verdeutlicht, indem Sibma nun sowohl beweint als auch angesprochen wird. Ist diese Deutung richtig, so liegt auch darin ein Hinweis darauf, daß der Jeremiatext gegenüber dem Jesajatext bzw. einer allfälligen gemeinsamen Vorlage sekundär bearbeitet ist. V. 32aß kombiniert zwei Teile aus Jes 16,8, die dort nicht beieinander stehen, in umgekehrter Reihenfolge. Dabei ist auffällig, daß I I D ^ "^nETtM „deine Ranken reichten bis zum M e e r " die zwei Sätze aus V. 8 ItÖCM iTPirPtÖ „ihre Ranken wucherten, zogen sich hin bis zum M e e r " derart zu einem einzigen zusammenfassen, daß das Hapaxlegomenon nin"PD „Ranken" durch ein Synonym der Wurzel tÖCDi wiedergegeben wird, das entsprechende Verb dafür entfällt. Hier scheint wieder eine

444

Vgl. HÖFFKEN, Begründungselemente 165f. Vgl. WILDBERGER, Jesaja II, 594. 446 Erstere Bedeutung in HALAT 9 1 (vgl. 9 2 sub voce nETBK), letztere bei W I L D B E R G E R , 445

J e s a j a II, 5 8 9 , RUDOLPH 2 8 3 . 447

S o a u c h WILDBERGER, J e s a j a II, 5 9 4 , HOLLADAY II, 3 4 3 .

448

Die letzte Verbform ist möglicherweise von einer ursprünglichen 1. Pers. Sg. verschrieben

(vgl. RUDOLPH 2 8 0 ) . 449 Das letzte Verb in Jes 16,7 ist als einziges im ganzen Moab-Abschnitt des Jesajabuches eine 2. Pers. PI. Es handelt sich dabei wohl um einen Schreibfehler. WILDBERGER nimmt Dittographie an (ursprünglich 13H mit dem Schluß-n des vorhergehenden Wortes, Jesaja II, 594); ein hebräisches Manuskript und das Targum bieten dagegen nJiT. 450 Vgl. schon GRAF 545. 451 LANDES, Fountain, schlägt vor, „Quelle" zu vokalisieren; ihm folgen BRIGHT 321, THOMPSON 711, HOLLADAY II, 343. Eine doppelte Anrede ist allerdings unwahrscheinlich (vgl.

RUDOLPH 2 8 2 ) .

183

3. Moab, Jer 48

überarbeitende Hand einen etwas schwierigen Text mit dem ungewöhnlichen Ausdruck zu vereinfachen und zu glätten. Der die erste Vershälfte abschließende Satz 4 5 2 steht in Jes 16,8 in einer Reihe von Aussagen über die vergangene Herrlichkeit Moabs vor den beiden eben genannten Sätzen, die dort die Reihe abschließen, und leitet über zu der Gerichtsankündigung V. 32b, die wiederum vom Jesajatext in charakteristischer Weise abweicht. Daß die durch Alliteration klingende Wendung ^ T ^ p " ^ ! " ^ p " ^ aus Jes 16,9 in V. 32 ^fK^p-^iJ lautet, mag auf einen Schreibfehler zurückzuführen sein. Hingegen kann es schlechterdings kein Zufall sein, daß statt des im Jeremiabuch seltenen I T H das häufige, in V. 15ff. das Leitwort darstellende TltÜ erscheint. 4 5 3 Dies ist ein Indiz dafür, daß ein vorliegender Text durch die Ersetzung des seltenen durch den nicht nur quantitativ häufigeren, sondern auch sachlich gewichtigeren Ausdruck in seinen Kontext eingepaßt wurde. V. 33 entspricht bis auf zwei nicht unbedeutende Unterschiede Jes 16,10. Der erste Teil von V. 32a ist mit 16,10a identisch. Statt der ungewöhnlichen Pu'al- und PolelFormen U i n 1 X1? ^ T ' K 1 ? „in den Weinbergen erklingt nicht Jauchzen und ertönt nicht Jubel" fährt der Jeremiatext dann jedoch fort DKiO f "ISQI Hinzu kommt, daß in der L X X das Wort *7Q"]3D und die Kopula aus d e m Jesajatext fehlen; es ist wahrscheinlich, daß der Jeremiatext ursprünglich lediglich j*~lXQ "nn nnQÖ HSOXr DXin gelautet hatte und von einem Schreiber innerhalb der prämasoretischen Linie, möglicherweise aus dem Gedächtnis, an den Wortlaut aus dem Jesajabuch angeglichen wurde. 4 5 4 Dies dürfte wiederum ein Hinweis darauf sein, daß der Jeremiatext eine verkürzte, stark vereinfachte Fassung des Jesajatextes ist. Vielleicht genügte es dem Herausgeber nicht, daß Moab nur in zweideutigen Bildern genannt war, die sich ebensogut auf Juda beziehen können, so daß er diese ganz strich und statt ihrer - prosaisch und weit weniger klingend als der Jesajatext mit seinen zahlreichen Alliterationen - M o a b einsetzte. Der umgekehrte Vorgang ist jedenfalls kaum vorstellbar. In der zweiten Hälfte stellt V. 33 gegenüber Jes 16,10 das Verb , n 3 Ö n 4 5 5 um und verändert damit die Struktur des Satzes: Während der Jesajatext zwei Aussagen bietet („Wein keltert der Kelterer nicht in den Keltern, dem Jubel habe ich ein Ende bereitet"), sind es bei Jeremia deren drei („dem Wein von den Keltern habe ich ein Ende

452 Das zweite, inhaltlich völlig unpassende IT dürfte Dittographie sein (vgl. GRAF 546, RUDOLPH 282); ein „Meer von Jaeser" gibt es nicht. Die LXX liest dafür, wohl um dem Wort Sinn zu verleihen, jedoch auch sekundär, 7tö^ei tbs] > tps" als Hinweis auf die spätere Entstehung des Jeremia-Textes interpretiert (An den Wassern von Babylon 182). 6l4 V g l . D i c o u , Edom 64. 615 S. dazu unten S. 229.

222

III.

Textanalysen

tativer Hinsicht von ganz anderer Art. Wie schon beim Verhältnis von Jer 48,29-38a zu Jes 15f. lassen sich jedoch eine Reihe von Unterschieden nur durch einen Vorgang im Bereich der mündlichen Weitergabe und Weiterverwendung des Textes erklären. 616 Damit kann ausgeschlossen werden, daß die Verfasser bzw. Bearbeiter des Jeremiabuches oder des Büchleins Obadja einen schriftlich vorliegenden Text aufgenommen und bearbeitet haben. Beide Versionen scheinen vielmehr auf ein älteres mündlich verkündigtes Prophetenwort zurückzugehen, das bedingt durch die mündliche Weitergabe - in leicht unterschiedlichen Fassungen existierte. 617 Ob Jeremia und Obadja selbst diesen Text aufgenommen haben oder erst die Herausgeber ihrer Worte, ist ungewiß. Immerhin können die rhetorischen Fragen in Ob 5 (vgl. V. 8) und vielleicht auch das als Interjektion fungierende Fragewort (V. 5aß.6aa) als Hinweis gedeutet werden, daß hier lebendige Rede vorliegt und Obadja „das Einverständnis seiner Hörer mit einem schon bekannten Wort gegen Edom einholen" will. 618 Auch die Eröffnung mit der Audition fügt sich am Anfang der Obadja-Sammlung literarisch gut. Trifft diese Interpretation zu, so darf angenommen werden, daß Obadja von einem mündlich tradierten Text ausgeht (vgl. V. 1 ^yotö HillCCL1), der Edom Gericht ankündigt, und diesen vor allem in V. 11-14 mit einem völlig neuen Schuldaufweis, der sich auf das Verhalten Edoms nach der Eroberung Jerusalems bezieht, und einer Reihe von eigenen Sprüchen aktualisiert. 619 Dazu mögen Klagefeiern aus Anlaß der Katastrophe Jerusalems den Rahmen geboten haben. 620 Wie verhält es sich aber mit Jeremia? Zunächst ist wohl nicht zu bestreiten, daß der fragliche Abschnitt Jer 49,9.10a.l4-16 im Vergleich mit den bisher untersuchten Texten nichts enthält, was aus inhaltlichen Gründen dagegen spräche, daß der Text von Jeremia 616 Z u m Ganzen vgl. WOLFF, O b a d j a / J o n a 21 f. D i e meisten der von HARTBERGER (An den Wassern von Babylon 181-184) a u f g e f ü h r t e n Belege f ü r die V e r w e n d u n g des schriftlich vorliegenden Obadja-Textes durch den Verfasser von Jer 49,14-16 sprechen u m g e k e h r t f ü r ein nichtliterarisches Verhältnis, w e n n nicht a n g e n o m m e n w e r d e n soll, daß der zweite Text weit über das übliche M a ß hinaus durch Unsorgfältigkeit des Schreibers verunstaltet w o r d e n sei. A u c h der „free and creative use of the original text for c o m p o s i n g a new text", den D i c o u (gegen HARTBERGER) ZU Recht erkennt ( E d o m 67), setzt, da keine G r ü n d e f ü r die U m g e s t a l t u n g des Textes genannt w e r d e n können, einen willkürlich, fast irrational arbeitenden Schriftsteller voraus. 617 So WOLFF, O b a d j a / J o n a 2 l f . D a ß einzelne von O b a u f g e n o m m e n e Worte m ü n d l i c h kursiert haben, m a c h t auch die textlinguistische A n a l y s e von WEHRLE, Prophetie u n d Textanalyse 366, wahrscheinlich. Z u r Rezeption der E d o m s p r ü c h e O b a d j a s in anderen P r o p h e t e n b ü c h e r n s. ebd. 365-371. 618 WOLFF, O b a d j a / J o n a 22. 619 So im wesentlichen auch WOLFF, ebd. 23, D r c o u , E d o m 63. Zu d i e s e m Bild paßt, daß O b a d j a nach der A n a l y s e von D i c o u ebenfalls stark von Ez 35f. sowie Arnos und Joel abhängig ist, wobei bei letzterem mit e i n e m komplizierten Prozeß gegenseitiger Beeiflussung zu rechnen ist (ebd. 70-87). 620 WOLFF, O b a d j a / J o n a 25, vgl. WEHRLE, Prophetie und Textanalyse 371.

5. Edom, Jer

49,7-22

223

selbst aufgenommen worden sein könnte. Bei V. 16 spricht sogar umgekehrt einiges dafür: Das Motiv des Übermutes und der Selbstsicherheit, die sich als trügerisch erweisen, weil JHWH das Unheil ihnen zum Trotz herbeiführt, findet sich bei Jeremia in ähnlicher Weise auch mit Bezug auf Moab und Ammon (48,7.42; 49,4) und ist im Falle Edoms ebenfalls mit der vergleichsweise geschützten Lage bzw. der geographischen Beschaffenheit des Landes in Verbindung zu bringen. Daß Jeremia auch bei Edom darauf Bezug nimmt, ist von daher naheliegend. Ist dies erst einmal erkannt, kann jedoch ein Schritt weiter gegangen werden. H. W. Wolff hat darauf hingewiesen, daß die Verkündigung Obadjas wegen ihrer Hinweise auf konkretes Erleben von Augenzeugen nicht lange nach der Eroberung Jerusalems anzusetzen ist. 621 Zitiert jedoch Obadja einen älteren Text, der zudem mündlich weitergegeben wurde, muß dieser zwangsläufig vorexilisch datiert werden. Dies ist an sich kein Problem; daß im weiteren Umfeld der israelitisch-judäischen Prophetie auch Drohworte gegen Edom formuliert wurden, braucht bei dem äußerst gespannten Verhältnis, das zeitweise zwischen Israel bzw. Juda und Edom bestand, nicht bezweifelt zu werden, und wenn zumindest ein Kern von Jer 49,7-22 von Jeremia stammt, sind vorexilische Sprüche über Edom tatsächlich auch literarisch bezeugt. Die Anklage der edomitischen Selbstsicherheit kann jedoch historisch noch näher eingegrenzt werden. Sie paßt nach Wolff gut in die Zeit zwischen den Jahren 594, wo nach Jer 27,3 in Jerusalem Koalitionsverhandlungen stattfanden, an denen sich auch Edom beteiligte, und 587, wo offensichtlich Juda von Edom beim Anmarsch der babylonischen Truppen im Stich gelassen wurde bzw. sich im Stich gelassen fühlte; es sei anzunehmen, daß in dieser Zeit Kultpropheten zum Rückzug Edoms in die Felslandschaften südlich des Toten Meeres durch solche Drohworte Stellung genommen haben. 622 Was aber qualifiziert den älteren Edom-Spruch, der hinter dem in den Sammlungen der Worte Jeremias und Obadjas tradierten Text vermutet wird, als spezifisch kultprophetischenl Die formkritische Analyse als solche ergibt keinerlei Hinweis auf einen kultischen Sitz im Leben des Spruches; die Näherbezeichnung /iw/fprophet erscheint denn bei Wolff in diesem Zusammenhang - anders als im Falle der Person Obadjas 623 - auch völlig unvermittelt und ohne jegliche Begründung. Was spricht aber dann gegen die Annahme, Jeremia selbst habe im fraglichen Zeitabschnitt - oder auch früher - Edom dasselbe Unheil angekündigt, das er über die Ägypter und die Philister, die Ammoniter und die Moabiter hereinbrechen sah? Immerhin suggeriert die genannte Stelle 27,3 (vgl. 9,25) genau dies. Inhaltlich und formal steht der Spruch 49,14-16 anderen Worten Jeremias sehr nahe. Die Aufforderung zum Kampf wird von Jeremia, worauf 621

Ebd. 24. Ebd. 24f. 623 Vgl. den Hinweis bereits im Vorwort, ebd. VII, sowie die ausführliche Begründung ebd. 23-25. 622

224

III.

Textanalysen

schon mehrfach hinzuweisen war, sowohl in seinen Texten über den „Feind aus dem Norden" wie in den Völkersprüchen häufig verwendet, und zwar mit den charakteristischen Wendungen IQp und non^D1?, die sich in Aufforderungen zum Kampf nur bei ihm finden.624 V. 15 hat zwar keine direkte Parallele im Jeremiabuch, doch macht dies die Aussage nicht a priori verdächtig; als Einkleidung einer Unheilsansage ist der aus zwei parallelen Gliedern bestehende und im Qina-Metrum gehaltene Spruch über Edom des Propheten sicher nicht unwürdig. Daß das Unheil Edoms von JHWH herkommt, betont jeder der drei Verse ausdrücklich wie alle Völkersprüche Jeremias. Und daß schließlich die Anklage Edoms wegen seiner Überheblichkeit und Selbstsicherheit in V. 16 sehr wohl von Jeremia stammen könnte, wurde bereits erwähnt. 625 Ein Anlaß, V. 14-16 - und dann auch V. 7.9.10a 626 - Jeremia abzusprechen, besteht damit, sieht man vom Faktum der Doppelüberlieferung als 624

Vgl. D i c o u , Edom. 60f. RUDOLPH 291 sieht im Ausdruck RNBÖ • , Í 3 3 T S ] insofern einen Gegensatz zu den jeremianischen Völkersprüchen, als hier nicht ein einzelner konkreter Feind, sondern allgemein die Völkerwelt zum Kampf gegen Edom aufgerufen werde. Davon kann allerdings im Blick auf die Variationen, die sich in den echten Texten für die Bezeichnung des „Feindes aus dem Norden" finden (vgl. 5,15; 6,22), keine Rede sein. Selbst wenn 1,15 eine dtr Formulierung darstellen sollte (vgl. HERRMANN 51; THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 73-76), belegt sie doch, L daß noch ex eventu der „Feind aus dem Norden" metaphorisch ITD^DO [MT + ninStÖQ]" ?D genannt werden konnte. Auch die von HOLLADAY II, 373f. gegen die jeremianische Herkunft von V. (9.)14-16 vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu überzeugen. HOLLADAY geht davon aus, daß V. 8 mit 10 und V. 10b. 11 mit 18 so deutlich verbunden sei, daß es sich bei den Texten dazwischen nur um eine Einfügung handeln könne; außerdem sei darin eine starke Wut gegenüber Edom zu spüren, die auf die Zeit nach 587 verweise, wo Jeremia wohl schon tot war. In V. 14-16 ist jedoch von besonders starken Haßgefühlen, wie sie in anderen Texten zum Ausdruck kommen, gerade nichts zu spüren; die Unheilsankündigungen gehen nicht über das hinaus, was sich auch sonst in den jeremianischen Völkersprüchen (wie in den von HOLLADAY als echt beurteilten Versen 7aß.8.10f. 18-22) findet. 626 Zweigliedrige Konditionalsätze mit DX finden sich bei Jeremia außerordentlich häufig (4,1; 5,1; 7,5; 15,19; 27,18; 38,16; mit Negation 15,11; 49,20; vgl. 50,45), einmal darüber hinaus in exakt der in V. 9.10a vorliegenden Form mit einem angehängten "O-Satz (14,18). Das Partizip von findet sich sonst nur in Jer 6,9. Der Ausdruck „Verwüster" ("ntö) im Sg. und PI. ist charakteristisch für Jeremia (6,16; 12,12; 15,8; 48,8.18.32; vgl. 51,48.53.56), meist in Verbindung mit N13. Zum Ganzen vgl. D i c o u , Edom 61f.65f. Die von D i c o u gegen die jeremianische Herkunft von V. 7 vorgebrachten Argumente (ebd. 92) vermögen nicht zu überzeugen. (1) V. 7 ist nicht 49,1 nachgebildet, sondern allenfalls umgekehrt (s. die Analyse oben). (2) Die Tatsache, daß V. 7 in Ob 7f. sehr frei interpretiert wird, berechtigt nicht dazu, ihn als sekundär zu bezeichnen, nur weil auch der sekundäre V. 12 in Ob 16 sehr frei zitiert werde; diese Argumentation ist nicht nur unlogisch, sondern sie beruht auch, wenn die obige Analyse zutrifft, auf einer falschen Einschätzung des Verhältnisses von 49,12 und Ob 16. (3) Das Argument, daß V. 7 mit V. 8 und 9f. inhaltlich nicht verbunden sei, überschätzt die literarkritische Bedeutung des Kohäsionskriteriums, zumal es genauso gut umgekehrt werden kann: Weshalb sollte ein Spruch, der isoliert nicht nur völlig mehrdeutig, sondern auch mehr oder weniger nichtssagend ist, in einen Kontext gestellt werden, zu dem er keinerlei Bezug aufweist, j a durch den er überhaupt erst einen Sinn bekommt? Als Eröffnung der poetischen Einheit sind die rhetorischen Fragen m . E . so wirkungsvoll, daß sie ursprünglich 625

5. Edom, Jer 49,7-22

225

solchem einmal ab, nicht. Nichts spricht außerdem dagegen, V. 8.10b. 11 in dieses Urteil einzubeziehen, da diese bisher nur deshalb ausgeschlossen wurden, weil sie vom Phänomen der Doppelüberlieferung nicht betroffen sind, von ihrem Inhalt und ihrer Terminologie her jedoch Jeremia schlecht abgesprochen werden können. 627 Wenn es möglich ist, daß das Edom-Wort V. 7-11.14-16 tatsächlich von Jeremia stammt, fällt auch auf die Doppelüberlieferung neues Licht. Die bisherigen Analysen gingen stets davon aus, daß, wenn ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis des einen Textes vom anderen ausgeschlossen werden kann, beide von einer gemeinsamen mündlich tradierten Quelle abhängig sein müssen. Zu Unrecht wurde jedoch die Möglichkeit nicht erwogen, daß ein echtes Jeremia-Wort sowohl auf direktem Weg, d.h. über Aufzeichnungen Jeremias oder Baruchs o.ä., in das Jeremiabuch Eingang gefunden haben als auch daneben mündlich weiterüberliefert und auf diese Weise in anderen Kontexten aufgenommen worden sein kann. 628 Warum sollte jedoch ein solcher Vorgang nur bei Sprüchen anderer, anonymer (Kult-) Propheten denkbar sein? Ob durch die Weiterverwendung und Neuinterpretation bzw. Aktualisierung in jedem Fall die ursprüngliche Intention der jeremianischen Sprüche aufgenommen ist oder ob die Texte nicht auch in einem anderen Sinn und zu einem anderen Zweck, im Extremfall sogar in ihr Gegenteil verkehrt, eingesetzt worden sind, ist eine andere Frage, die sich jedoch nicht nur im Falle des Weiterlebens in der mündlichen Tradition, sondern auch und erst recht im Falle der Weiterverwendung der Worte Jeremias in ihrer schriftlichen Form stellt. Wie ist unter der Annahme, daß der Edom-Spruch Jer 49,9.10.14-16 ursprünglich von Jeremia stammt, das Verhältnis zu Ob lff. zu sehen? Ein Rekonstruktionsversuch muß angesichts dessen, daß über die Phase zwischen der mündlichen Verkündigung, der schriftlichen Niederlegung und der Buchwerdung der Texte so gut wie nichts - und schon gar nichts Gesichertes - feststeht, hypothetisch bleiben. Dennoch kann er nicht weniger Wahrscheinlichkeit beanspruchen als die These, daß ein älterer Prophetenspruch, der mündlich überliefert wurde, unabhängig im Jeremiabuch und im Büchlein Obadja weiterverwendet wurde. Der Vorgang ist denn auch prinzipiell derselbe: Die von Jeremia verkündigte Unheilsansage für Edom muß - ob er seinen Spruch nur einmal oder eher mehrfach bei verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen hat - wohl in Prophetenkreisen oder unter seinen Anhängern mündlich weiterüberliefert worden sein. Nach der Zerstörung Jerusalems und der Ermordung sein müssen. Dies ist allerdings in erster Linie ein ästhetisches, weniger ein literarkritisches Urteil. 627 Gegen Dicou, ebd. 93f. 628 Ansätze zu dieser Auffassung finden sich bei BEKEL, Ein vorexilisches Orakel 338-343, der allerdings aus dem Obadja- und dem Jeremiatext das ältere, möglicherweise auf Jeremia zurückgehende Original rekonstruieren will und zu diesem Zweck die beiden Texte relativ willkürlich zu einem neuen Ganzen zusammenstückelt (ebd. 318-338). Diese Hypothese vermochte sich aus guten Gründen nicht durchzusetzen und wird in der Literatur kaum diskutiert.

226

III.

Textanalysen

Gedaljas wurden Jeremia und Baruch von ihren Landsleuten gegen ihren Willen nach Ägypten mitgeschleppt (Jer 43,6). Daß Jeremia seine Aufzeichnungen, darunter wohl auch seine Völkersprüche, dahin mitnahm, ist wahrscheinlich. Unterdessen wirkte sein Wort in Jerusalem weiter. Das Gericht JHWHs über Edom war nämlich, anders als das von Jeremia über Jerusalem sowie über Moab und Ammon vorausgesagte, nicht eingetroffen. Durch die Rolle, die einzelne Edomiter oder edomitische Gruppen während der Einnahme Jerusalems und den folgenden Tagen und Monaten spielten, 629 und den Neid auf den südlichen Nachbarn, der nicht nur ungeschoren davonkam, sondern in den letzten Jahren sogar tief in das südjudäische Gebiet eingedrungen war, wurde die anti-edomitische Stimmung zusätzlich angeheizt. In den bald einsetzenden regelmäßigen Klage- und Bittgottesdiensten, die auf den Ruinen des Tempels abgehalten wurden, spielten deshalb auch Gerichtsworte über Edom eine bedeutende Rolle. Dabei konnte auch ein Wort Jeremias von Propheten aufgenommen und aktualisiert worden sein. Die kleineren Unterschiede zum später im Jeremiabuch aufgenommenen Original erklären sich durch einige Jahre mündlicher Überlieferung und die Einpassung in einen neuen Kontext - und möglicherweise kleinere Retouchen auch auf der Seite des Jeremia-Textes im Laufe der Tradierung des schriftlichen Textes - befriedigend. Obadja dürfte also in der Tat einen mündlich tradierten Spruch Jeremias über Edom aufgenommen und für seine Zwecke weiterverarbeitet haben, wobei jetzt die Vergehen Edoms bei der Einnahme Jerusalems im Jahre 587 - anders als im jeremianischen Text, der keine Spuren davon zeigt - wie für alle exilisch-nachexilischen Texte zentral wird und die Wurzel des judäischen Edomhasses darstellt. 630 Für das Verständnis der Wirksamkeit und des Weiterlebens des durch die Propheten gesprochenen JHWH-Wortes bis hin zur Buchwerdung und zur Kanonbildung bedeutet diese Einsicht, daß sich die „Nachgeschichte" prophetischer Texte nicht nur literarisch in Form von Erläuterungen und Zusätzen zu den ipsissimis verbis der Propheten in der Endgestalt der auf sie zurückgehenden Bücher, 631 sondern schon als vorliterarischer Prozeß der mündlichen Aufnahme und Aktualisierung des Prophetenwortes durch spätere Propheten unter

629 Die Möglichkeiten, welche die alttestaraentlichen Texte erahnen lassen (insbes. O b 10-14; Ez 25,12ff.; 3 5 , 5 f . l 5 ; Joel 4,19; A m 1,11; Thr 4,21; Ps 137,7ff.), reichen von S c h a d e n f r e u d e und Schaulust über Verweigerung von Hilfe bis zur Kollaboration mit d e m Feind, Plünderung und Mord. Zu diesbezüglichen Erwägungen s. WOLFF, O b a d j a / J o n a 2.7.35f. und WEHRLE, Prophetie und Textanalyse 2 7 2 - 2 7 4 (mit Literaturangaben). 630 Vgl. WEHRLE, Prophetie und Textanalyse 371. D a ß im jeremianischen Text ein Bezug auf die Ereignisse von 587, die in Ob zentral sind, fehlt, ist allerdings gerade nicht als Hinweis darauf zu werten, daß dieser in einem gewissen zeitlichen Abstand dazu stehe (gegen WEHRLE, ebd. 367), sondern umgekehrt dafür, daß er vor jenen Ereignissen und mit ganz anderer Intention und Perspektive, die noch frei ist von jeglichem H a ß gegen E d o m , verfaßt wurde. 631 Vgl. dazu klassisch HERTZBERG, Nachgeschichte alttestamentlicher Texte, a u ß e r d e m exemplarisch zu Arnos, Hosea und M i c h a WILLI-PLEIN, Vorformen der Schriftexegese.

5. Edom, Jer

49,7-22

227

- im Idealfall - bestimmbaren historischen und theologiegeschichtlichen Umständen nachweisen läßt. Neben die Arbeit am geschriebenen Wort der Propheten tritt damit - nicht als Gegensatz und ohne daß die beiden Formen sich gegenseitig ausschlössen, sondern ergänzend und in einer anderen Phase des Gesamtprozesses - eine andere Art der Bearbeitung, die sich nicht als „Schriftexegese" im Prophetenbuch selbst, sondern als „Prophetenexegese" in einem anderen Prophetenbuch mit eigener Literargeschichte niederschlägt. g) V.

17f.

V. 17f. sind zwar nicht wie V. 12f. eindeutig prosaisch formuliert, fallen jedoch stilistisch wie diese gegenüber den vorhergehenden Versen deutlich ab. Auch terminologisch stehen sich V. 17 und V. 13 (und die dazu genannten Parallelstellen) nahe. Eine fast wörtliche Dublette zu V. 17 findet sich in 19,8, der dtr gestalteten „Tofet-Predigt". 632 Die Einfügung solcher prosaischer Erweiterungen, die von anderen Stellen abgeschrieben oder in Anlehnung an sie ad hoc formuliert sind, dient offenbar dazu, die Katastrophe noch deutlicher als der Originaltext als möglichst vollständig und verheerend darzustellen. 633 Dies gilt auch für V. 18, der den Untergang Edoms mit dem Ende Sodoms und Gomorras vergleicht. Die erste Hälfte des Verses, die ein in der prophetischen Literatur häufiges Motiv aufnimmt (vgl. 23,14; Jes l,7[cj.] 634 .9f.; 13,19; Ez 16,46ff.; Am 4,11; Zeph 2,9 und auch Dtn 29,22; 32,32), ist prosaisch formuliert (vgl. dagegen die poetische Fassung desselben Gedankens in Jes 1,9; Zeph 2,9); die zweite Hälfte stammt wörtlich aus V. 33b, wo die aus zwei streng parallelen Aussagen gebildete, durch die i-Alliteration klingende jeremianische Wendung ursprünglich sein dürfte. Daß V. 18 nicht in dieser Form von Jeremia stammen kann, geht nicht nur daraus hervor, daß ein prosaischer und ein poetischer Halbvers zusammengestellt sind, sondern vor allem auch daraus, daß die beiden Sätze - anders als das Original in V. 33b im Zusammenhang mit 33a 635 - syntaktisch gar nicht verbunden, sondern einfach anein-

632 Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 219ff. 19,8 weist neben HBE!1? einen zusätzlichen Ausdruck auf (Hj?"©1?"!) und ist mit einem anderen Verb konstruiert ("HOB] statt iUTill). Letzteres ist insofern auffällig, als in 19,8 J H W H in der 1. Person spricht, was im Kontext von 49,7-22 ausgesprochen gut passen würde. V. 17 ist im M T gegenüber der LXX erweitert um •B* und wodurch der ursprünglich zweigliedrige Satz dreigliedrig wird; es handelt sich dabei um eine Anpassung an 19,8 und ähnliche Formulierungen (vgl. JANZEN, Studies 59f.). 633

S o a u c h CORNILL 4 8 3 .

Der M T liest in Jes 1,7 D ,- It r p s n 0 3 „wie die Zerstörung von Fremden". D ,_ !Ì P a ßt inhaltlich nicht und ist, da es unmittelbar vorher steht, wohl als Lese- oder Schreibfehler zu beurteilen. Hinzu kommt, daß rpSHD sonst ausschließlich in der fest geprägten Formel im Zusammenhang mit dem Untergang Sodoms und Gomorras vorkommt (vgl. WILDBERGER, Jesaja I, 19). 635 Zur Dublette in 50,40, die hier ebenfalls einen guten Satz entsprechend dem Cliché in Jes 13,19; Am 4,11 bietet, vgl. den folgenden Abschnitt. 634

228

III.

Textanalysen

ander gereiht sind. Dies erweckt den Eindruck, daß ein Ergänzer den Sodomund-Gomorra-Topos ohne Rücksicht auf poetische Strukturen mit einer jeremianischen Wendung aus dem näheren Kontext ergänzte, die sich im Zusammenhang anbot. 636 V. 18 findet sich praktisch wörtlich in 50,40, im selben Kontext, wo auch die Fortsetzung, V. 19-21, als V. 44-46 zum zweiten Mal überliefert ist. Trotz dieses Zusammenhangs ist zwischen V. 18 und 19 eine Zäsur anzunehmen, weil ab V. 19 wieder ein thematisch zusammenhängender poetischer Abschnitt folgt, der mit Hin eingeleitet und von Bildern geprägt ist, die das Kommen des Feindes beschreiben. h) V. 19-22 Der letzte Abschnitt des Edom-Textes wird durch zwei Bildworte gerahmt, die den kommenden Feind und seine gegen Edom gerichteten Aktionen beschreiben (V. 19.22a) und die Reaktion der Edomiter angesichts dieser Bedrohung plastisch darstellen (V. 22b). V. 20 formuliert den Entschluß JHWHs gegen Edom in einer Sprache, die das Bild des vorhergehenden Verses aufnimmt, und V. 21 schildert, wie sich die Nachricht vom Untergang Edoms in der ganzen Welt ausbreitet. Da die drei Verse 19-21 fast wörtlich dem Babelspruch 50,44-46 entsprechen, ist die Echtheitsfrage anschließend im Zusammenhang mit der Beurteilung dieser Doppelüberlieferung zu stellen. Auch V. 22 ist, worauf bereits hinzuweisen war, doppelt überliefert, da der Vers im Moab-Kapitel (48,40a.41b) erscheint. Die LXX bietet den Text nur hier, und in der Tat spricht einiges dafür, daß er den ursprünglichen Abschluß des jeremianischen Edom-Spruches bildet. Inhaltlich schließt das Bild vom Adler, der seine Flügel über Bozra 637 ausbreitet, an V. 16 an und verstärkt dadurch die dortige Ankündigung, daß JHWH die Edomiter aus ihren Felsklüften herabstürzen werde, auch wenn sie Nester wie Adler in der Höhe bauten. Durch das Bild des in der Höhe über der Herde majestätisch und drohend kreisenden, dann plötzlich und unvermittelt auf diese herabstürzenden Raubvogels (vgl. Dtn 28,49; Ez 17,3ff.; Hos 8,1; Hab 1,8, dagegen als positives Bild Dtn 32,11; Ps 103,5) und die Reaktion der angesichts dieser Not hilflos und vor Panik schreienden edomitischen Helden (vgl. 47,2f.) wird das angekündigte Unheil eindrücklich unterstrichen und die Einheit rhetorisch wirkungsvoll abgeschlossen. Nichts spricht dagegen, daß die beiden poetischen und anschaulichen Bilder von Jeremia stammen. 638

636 Möglicherweise handelt es sich auch in Jes 1,7 um eine Glosse nach V. 9 (vgl. WILDBERGER, Jesaja I, 19). Dieser vergleichbare Vorgang könnte die Einschätzung, daß der Topos in V. 18a sekundär nachgetragen ist, nur unterstützen. 637 Zur Lesart der L X X (öxup n als Verb, allerdings mit anderem Inhalt, interpretiert (¿¡jeoTecav, eöupcüBTiaav); daß die Vorlage nach den zwei dreihebigen Kola anstelle der drei Wörter des M T lediglich zwei unkoordinierte Verben enthielt, ist nicht wahrscheinlich, so daß wohl eine freie Wiedergabe in der L X X vorliegt. Eine entsprechende Emendation zu 13JCT D"3 „(sie zerfließen) wie das Meer, sind bekümmert" (NÖTSCHER 327) ist von daher ebenfalls nicht empfehlenswert. 652 HOLLADAY erwägt die Möglichkeit, den Plural zu lesen und den Satz auf Hamat und Arpad zu beziehen: „sie finden keine Ruhe" (II, 379); der Text gibt dazu keinen Anlaß, und die Parallele zu Jes 57,20 läßt diese Interpretation als unwahrscheinlich erscheinen. 653 In diesem Fall könnte erwogen werden, ob das auffällige aramäische (vgl. RUDOLPH 292) hapax legomenon tDB~l „Schrecken" (V. 24) möglicherweise vom Klang bzw. vom Schriftbild her an den Ausdruck ETBI tÖS"l („Schlamm und Unrat", Jes 57,20) erinnert und auf diese Weise die Assoziation zu der Meer-Metapher von Jes 57,20 unterstützt hat. Das aramäische Wort selbst dürfte, wenn es nicht einfach unter dem Einfluß späteren Sprachgebrauchs von n r p (vgl. Hos 13,1) verschrieben ist, nicht zufällig gewählt sein (vgl. VON ORELLI 197, HITZIG 371). Ein Argument gegen jeremianische Verfasserschaft sollte in j e d e m Fall daraus nicht abgeleitet wer-

d e n ( g e g e n WEISER 4 1 l f . ) . 654 Die masoretische Punktation (ohne Mappiq im letzten n des Verbs) läßt Damaskus Subjekt sein („sie hat Schrecken ergriffen"); die parallele Formulierung in 6,24b; 8,21 legt jedoch nahe, daß ein Mappiq zu setzen ist („Schrecken hat sie [Objekt] erfaßt"; vgl. HOLLADAY II, 379; zum gelegentlichen Fehlen des Mappiq s. GK §23k; 58g; 91e; BL §48t"). 655 Das Q e re rfpnn soll nach GK §80g das Pronominalsuffix der 1. Pers. Sg. andeuten; dieses wird von praktisch allen Exegeten wie auch bei 'ÖIÖO gestrichen. Es ist jedoch nicht undenkbar, daß die beiden Possessivsuffixe zum Grundbestand des Textes gehören und die mit Eingeleitete Klage den Bewohnern von Damaskus in den Mund gelegt und dadurch persönlich und

236

III.

Textanalysen

zahlreiche Deutungs- und Emendationsvorschläge angeregt hat. (1) Nach der Interpretation Rudolphs ist die Negation eine „entrüstete Randbemerkung eines Lesers, der die folgenden Ehrentitel Damaskus absprach, weil er sie nur Jerusalem zuerkannte". 656 Andere Erklärungsversuche deuten die Negation (2) als spätere Korrektur der Aussage, nachdem es sich zeigte, daß Damaskus überlebte und wieder aufblühte, 657 (3) als verschriebenes emphatisches ^, 6 5 8 (4) TÖ "iX659 oder (5) rati! 1 ? ^['N „wie ist zu verlassen" 660 . Volz hingegen hält (6) den Schluß von V. 24 für zu kurz und sieht deshalb in den Konsonanten ein Verb, das mit verbunden werden könnte; in Frage kämen H^n „wie eine Gebärende windet sie sich", H^DH „schwindet sie dahin" oder eine Form von iisb „kraftlos sein". 661 Im Blick auf den Kontext scheint, wenn der Text zu emendieren ist, der Vorschlag Cornills am sinnvollsten, der (7) die bei Jeremia häufige Wendung O "IX „wehe mir, daß..." annimmt (vgl. 4,13.31; 6,4; 15,10; 45,3). 662 Es gibt jedoch auch Interpretationen, die ohne Konjektur auskommen. Die ältere Tradition verstand den Satz als Frage: (8) „Warum ist sie nicht gelassen, d.h. frei, unberührt gelassen, verschont worden", 663 oder, im Blick auf V. 26, als Vorwurf: (9) „pourquoi n'a-t-elle pas été évacuée", wozu Grotius erklärt: „Pourquoi ont-ils voulu la défendre? C'est à cause de cela qu'ils ont été exterminés, comme la suite le montre". 664 Letzteres scheitert allerdings daran, daß sich dadurch ein inhaltlicher Widerspruch zu V. 24 ergibt, wo gerade von der Flucht der Menschen aus der Stadt die Rede ist. Am plausibelsten ist in diesem Fall der Vorschlag Grafs, der (10) eine Redewendung „Ach! daß doch nicht verlassen wäre " (ähnlich 5,12) sieht. 665 Die letztgenannte Interpretation sowie diejenige von Cornill haben den Vorteil, daß das Pronominalsuffix bei tDO nicht gestrichen zu werden braucht. Ganz abwegig ist hingegen der Vorschlag von Ehrlich, der (11) statt rnîU i"nti) liest, H^nn "l'U dazu als Objekt auffaßt und Jersualem darunter versteht (anklagend: „wie hast du der Ruhmesstadt nicht geholfen!"). 666 D i e beiden Bezeichnungen „Ruhmesstadt" und „Freudenstadt" sind wohl zeitgenössische Ehrentitel, die Damaskus aufgrund seiner günstigen Lage in einer fruchtbaren Oase am Rande der syrischen Wüste zuerkannt wurden. 6 6 7 Im Zusammenhang der Klage dienen sie dazu, den Gegensatz zwischen der blühenden Vergangenheit und der notvollen Gegenwart zu veranschaulichen.

eindringlich gestaltet ist (vgl. HOLLADAY II, 379). In der LXX findet sich jedenfalls (gegen die übrigen Versionen) beim zweiten Namen die 1. Person (KCÛ|1T|V T^V f)yàirr|AA), während das erste, 71ÖÄ.IV è|xr|v, offensichtlich ein innergriechischer Schreibfehler für 7tö^.iv a'ivT)Ç ist (vgl. RUDOLPH, Text 278), so daß MT und LXX sich vollständig entsprechen. 656

R U D O L P H 2 9 2 ; v g l . T e x t 2 8 5 , HOLLADAY I I , 3 7 9 .

657

JONES 5 1 8 .

658

D . N . FREEDMAN, zit. b e i B R I G H T 3 3 3 .

659

D U H M 3 5 8 , C O N D A M I N 3 2 5 , NÖTSCHER 3 2 8 .

660

HITZIG 3 7 1 .

661

VOLZ, S t u d i e n 3 2 2 .

662

CORNILL 4 8 5 .

663

V g l . G R A F 5 7 2 ; in d i e s e m S i n n a u c h K E I L 4 8 9 .

664

Zitiert bei BARTHÉLÉMY, Critique textuelle II, 812.

665

GRAF 5 7 3 .

666

EHRLICH, R a n d g l o s s e n 3 6 2 .

667

Zu entsprechenden modernen Ehrentiteln vgl. RUDOLPH 293.

6. Damaskus,

Jer

49,23-27

237

V. 26 stimmt wörtlich mit 50,30 überein. Der mit p"p „darum" an V. 25 angeschlossene Satz stellt jedoch keine logische Fortsetzung des im Vorhergehenden Geschilderten dar und steht auch inhaltlich damit in einer gewissen Spannung: Daß die Soldaten auf den Gassen der Stadt fallen, kann nicht eine Folge dessen sein, daß die Stadt verlassen ist. 668 Innerhalb des Unheilswortes gegen Babel 50,29-32 dagegen steht der Satz als Ankündigung nach der Unheilsbegründung V. 29b in organischem Zusammenhang. 6 6 9 Gewöhnlich wird deshalb davon ausgegangen, daß letzteres die ursprüngliche Stelle der Unheilsankündigung ist und der Vers ohne Rücksicht auf den inhaltlich und syntaktisch ungünstigen Zusammenhang in den Damaskus-Spruch sekundär eingefügt wurde. 670 Gegen diese Annahme sprechen jedoch eine Reihe von Beobachtungen: (1) V. 25 ist ein überaus merkwürdiger Abschluß für den aus gerade sieben Kola (V. 23a.ba.24a.25) bestehenden Damaskus-Spruch. Gehört hingegen V. 26 mit zum jeremianischen Kern des Textes, so endet dieser mit dem Blick auf die tot in den Gassen der Stadt liegenden Soldaten und der JHWHSpruchformel. Inhaltlich ist ein solcher Abschluß zweifellos um ein Vielfaches besser, und der Spruch ist immerhin um zwei zusätzliche, parallel gebaute Kola länger. Auch der Sache nach gewinnt der Spruch durch V. 26, da V. 23-25 außer dem vieldeutigen Wort „Flucht" nicht die geringste Andeutung enthält, welche Art von Unheil da bevorstehe; es könnte sich so gut um eine Hungersnot wie um eine Heuschreckenplage oder ein Erdbeben handeln. Erst V. 26 bringt duch die Beschreibung der fallenden Soldaten die Kriegsszenerie ein, welche auch in den anderen jeremianischen Völkersprüchen vorherrscht. (2) Neben der inhaltlichen Verbindung von V. 26 mit anderen jeremianischen Völkersprüchen ist auch die Diktion, so gut sich das bei zwei kurzen Kola feststellen läßt, als durchaus jeremianisch zu bezeichnen: Die alliterierende Verbindung iTrQfTB ¡T"VirQ hat eine nahe Parallele im zweifellos jeremianischen Wort 9,20 (ninn~!Q D , "nn3), ist jedoch keine simple Imitation, sondern eine kreative Variante, wie sie Jeremia selbst gut geprägt haben kann. 671 Daneben kommt auch die Wurzel DQ1, die im zweiten Kolon verwendet wird, in den Völkersprüchen gelegentlich vor (47,6; 48,2, vgl. 8,14, dazu die lautähnliche Wurzel n m 47,5).

668 Daß hingegen die fallenden Soldaten schlecht zu der vorangehenden Räumung der Stadt passen (so WEISER 412f.), trifft nicht zu; ersteres kann die Flucht der Zivilbevölkerung bezeichnen. 669 Gegen HOLLADAY II, 394, der durch 50,30 den Zusammenhang gestört sieht (V. 29 H"]T; V. 31 f. ] i l t ) . Das Wortspiel in 50,29-32 funktioniert jedoch auch über den (inhaltlich und syntaktisch sinnvoll angeschlossenen) p ' p - S a t z hinweg. 670

S o e t w a VOLZ 4 1 9 , NÖTSCHER 3 2 8 , RUDOLPH 2 9 3 , WEISER 4 1 2 f . A n d e r s CONDAMIN 3 2 5 ,

der V. 26 aus diesem Grund vor V. 25 umstellt, damit jedoch nur das syntaktische, nicht aber das logisch-inhaltliche Problem löst, daß zuerst von der Flucht der Bevölkerung, dann vom Tod der Soldaten in der (entvölkerten) Stadt die Rede ist. 671 Gegen HOLLADAY II, 380, der eine Imitation für möglich hält.

238

III.

Textanalysen

(3) Grundsätzlich kann der Damaskus-Spruch so gut sekundär erweitert sein wie die umfangreichen Babel-Kapitel 50f. Gerade wegen deren Länge und zahlreichen Entlehnungen ist es jedoch wahrscheinlicher, daß der beiden gemeinsame Text aus dem Damaskus-Spruch dorthin übernommen wurde, als umgekehrt. Die Babel-Texte neigen zu Kumulation und Attraktion anderer Texte; von daher ist es nicht weiter auffällig, daß ein Vers, der aus einem kleinen Spruch innerhalb desselben Komplexes stammt, auf Babel übertragen wird. Daß umgekehrt ein Vers, der sich ursprünglich auf Babylon bezog, in den kurzen und relativ unbedeutenden Damaskus-Spruch eingebaut wird, ist schwieriger vorstellbar. Es wäre in diesem Fall auch zu fragen, welche inhaltlichen oder formalen Qualitäten dazu geführt hätten, daß aus der umfangreichen Babylon-Sammlung ausgerechnet dieser eine Vers, der scheinbar durch nichts dafür qualifiziert ist - jedenfalls nicht augenfällig - , dazu verwendet worden sein soll. (4) Damit bleibt nur noch das syntaktische Problem des Anschlusses mit p b ; in der Tat scheint dieser eine innere Logik, wie die Dublette 50,30 sie erkennen läßt, vermissen zu lassen. Man hat deshalb erwogen, daß der Vers ursprünglich mit einem bekräftigenden p X „fürwahr" (vgl. 3,23; 4,10; 8,8) begonnen haben könnte, das um des Zusammenhangs willen in 50,30 zu verändert wurde, was dann wiederum sekundär auf die ursprüngliche Stelle einwirkte. 6 7 2 Diese Lösung des Problems erscheint allerdings etwas konstruiert. 673 Sprachlich und sachlich näherliegend ist demgegenüber eine Beobachtung, auf die bereits Graf hinweist, 6 7 4 daß sich nämlich die ursprünglich im Botenspruch zusammen mit der Botenformel die Gerichtsankündigung einleitende Konjunktion p ^ gar nicht zwingend in dem Sinne auf einen vorangehenden Satz beziehen muß, daß dieser den unmittelbaren Grund für das folgende nennt; häufig wird vielmehr - vor allem in der späteren Prophetie - mit p b relativ frei angeschlossen bzw. eine Ankündigung auch ohne vorangehende Anklage eingeleitet, so daß sinngemäß etwa übersetzt werden kann: „So werden denn seine Jünglinge fallen"615. Die Konjunktion ist in diesem

672

V g l . D U H M 3 5 8 , CORNILL 4 8 5 .

673

Immerhin lesen zahlreiche Manuskripte in 5,2b, wo L p*p bietet, p X , was ein Hinweis darauf ist, daß solche Verwechslungen tatsächlich vorkommen konnten. 674

675

GRAF 5 7 3 .

Ebd. Allerdings sind nicht alle der von GRAF aufgeführten Belegstellen (11,21; 15,19; 16,14; 23,2; 30,16; 48,12) gleich überzeugend: 16,14f. ist eine Dublette zu 23,7f„ wo der Anschluß mit p 1 ? eng ist, und 23,2 formuliert ein Drohwort, das sich auf die mit ' i n eingeleitete Anklage in V. 1 bezieht. Hingegen wurde auch in der obigen Analyse des „Küfer-Spruchs" 48,1 lf. deutlich, daß der Anschluß von V. 12 an 11 zumindest nicht der eines klassischen Botenspruchs ist. Weitere Beispiele, die einen mehr oder weniger lockeren, nicht zwingend kausalen Anschluß des p ' p - S a t z e s an das Vorhergehende aufweisen oder lediglich einen Neueinsatz oder den Beginn eines JHWH-Wortes markieren, ohne daß eine explizite Anklage vorausgehen müßte, sind Jes 28,14; 37,33; Jer 32,28; 49,20 = 50,45; 51,47; Ez 13,13; 15,6; 20,27; 23,35; 24,6.9; 31,10; 39,25; Am 5,16; Mi 1,14; 2,5; 5,2; Sach 1,16. Bei Ezechiel fällt in dieser Hinsicht außerdem die Häufung von p*p in aufeinander folgenden Sätzen auf, wobei die zweite

6. Damaskus,

Jer

49,23-27

239

Fall nicht als literarkritischer Indikator für eine Bruchstelle zu werten, sondern markiert bei inhaltlich relativ losem Anschluß eine Ankündigung in Form eines JHWH-Wortes, möglicherweise auch eine Art Fazit. 676 Von daher hat V. 26 im Kontext eine andere Funktion als 50,30, ist jedoch nicht weniger passend. Gehört V. 26 zum ursprünglichen Text, so läßt sich nicht nur eine inhaltliche Erklärung, sondern auch ein formaler Hinweis darauf finden, wie sich der die Einheit abschließende V. 27, der die Zerstörung von Damaskus in zwei parallel gestaltete Sätze faßt, zum jeremianischen Damaskus-Spruch verhält. Dieser Vers ist nämlich eine eigentümliche Mischung aus Am 1,4b und 14aa: Jer 49,27: Am 1,14a: Am 1,4:

" n r n ? 677 ni]p-ix ¡"toxi ... i r r a r i x r f o x i "HUI? n^oan

pöQT n a i r a m TiHrn n ä i n o i n ? m -rasm •psm r r a a m -nn'pcöi

Die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis dieser Texte ist zweifellos dahingehend zu entscheiden, daß die Amos-Fassung, die vom Propheten des 8. Jahrhunderts stammen wird, 678 die ursprüngliche ist und von dort in das Jeremiabuch übernommen wurde; daß im ganzen Völkerspruchkomplex Am lf. die kehrversartigen Unheilsankündigungen nach einer jeremianischen Vorlage gestaltet wurden (vgl. 1,4.7.10.12; 2,2.5), ist ausgeschlossen. Trifft dies zu, so könnte man zunächst annehmen, daß der schon früh als (zu) kurz und mangelhaft empfundene jeremianische Damaskus-Spruch entsprechend dem Amos-Spruch um die explizite Unheilsankündigung, die JHWH als Initianten des Unheils („Ich will Feuer legen...") deutlicher betont als der jeremianische Spruch, sekundär erweitert wurde. 679 Inhaltlich paßt denn Am 1,4, der im originalen Zusammenhang das Drohwort innerhalb des gegen Damaskus gerichteten Botenspruches 1,3-5 bildet, ebenfalls gut zum jeremianischen Damaskus-Spruch. Offenbar ist jedoch V. 27 eine freie Kombination aus l,14aa und

und allenfalls weitere Konjunktionen ihre verbindende Funktion verlieren und fast nur noch als Einleitung fungieren, so 5,7f.l0f.; 1 l,16f.; 36,3-7. 676 Diese gegenüber der ursprünglichen Funktion als Übergang von der Anklage zur Ankündigung verblaßte Bedeutung kann p 1 ? deshalb haben, weil im Laufe der Entwicklung des Botenspruches die Botenformel selbst allmählich an Bedeutung einbüßte und durch bloßes p*7 abgekürzt werden konnte (vgl. WESTERMANN, Grundformen 129). Deutlich wird diese formale Verschiebung etwa dort, wo die klassische Reihenfolge von Anklage und Ankündigung umgekehrt ist, so daß die Botenformel nicht mehr als Verbindungsglied fungiert, sondern nur noch das Ganze einleitet, während die Ankündigung mit ' 3 kausal verbunden wird, oder auch dort, wo die Anklage ganz entfällt. 677 Die LXX liest äno5a, 30/37,1 vaöi; „Tempel". 678

V g l . WOLFF, J o e l / A r n o s

679

So WEISER 412, der vom „torsoartigen Charakter" des Textes spricht; vgl. auch HOLLADAY

II, 3 7 9 , RUDOLPH 2 9 3 .

186-191.

240

III.

Textanalysen

l,4bß, wobei in ersterem nur gerade PI31 durch das vom Kontext geforderte ersetzt wurde. Eine solche Kombination kann kaum bei einer schriftlichen Vorlage erfolgen, da kein Grund erkennbar ist, weshalb ein Teil aus dem Damaskus-, der anderen aus dem Ammon-Spruch des Amos-Buches hätte entlehnt werden müssen; hätte der Schreiber den Text Am 1 in schriftlicher Form vor sich gehabt, dann hätte er bestimmt den ganzen V. 4 ohne jegliche Änderungen übernommen. Hingegen ist ein solcher Vorgang sehr wohl bei Niederschrift aus dem Gedächtnis verständlich. Zu der Vermischung von V. 4 und 14 wird es dadurch gekommen sein, daß der Schreiber sich wohl an den Zusammenhang und die Aussage, aber nicht ganz präzis an den Wortlaut erinnerte und deshalb unabsichtlich zwei unterschiedliche Teile aus Amos 1 zusammenfügte, die nur fast wörtlich übereinstimmen. Ist jedoch der Weg zum älteren Amos-Wort über die Erinnerung und auf dem Weg der Assoziation verlaufen, so kann der eigentliche Auslöser der Operation ein anderer gewesen sein als bloß das Stichwort Damaskus und der Wunsch, JHWH noch deutlicher als Urheber des Unheils zu bezeichnen. Es ist nämlich überaus merkwürdig, daß V. 27, der das Unheil ausdrücklich auf JHWH zurückführt, aus Amos 1 entlehnt wurde, während das Jeremiabuch selbst an zwei Stellen ähnliche Formulierungen enthält, die sich für eine Entlehnung mit minimalen Änderungen geradezu angeboten hätten: 17,27b: 2i,i4b:

...q'?törr ni]p-]x r t o K ] T r t o x i

C H ^ *n~¡V'_3 ö s 'ri^ni

Warum aber wählt ein Ergänzer einen Spruch aus dem Amosbuch, wenn der nächste Kontext ähnlich klingende Formulierungen und inhaltlich identische Aussagen mit dem Ich JHWHs in der 1. Pers. Sg. bietet, die dem Amos-Text in nichts nachstehen und die immerhin suggerieren, Jeremia selbst habe so gesprochen? Die Erklärung für diesen Tatbestand wird darin liegen, daß nicht absichtlich eine Stelle aus Amos ausgesucht wurde, sondern diese unwillkürlich in die Feder floß. In diesem Fall kann aber angenommen werden, daß ein bestimmtes Element des Textes, ein Gedanke oder eine Wendung, die Assoziation ausgelöst haben muß. Zunächst könnte man an die Wendung ¡TTirQ iTrQn~)3 in V. 26 denken: Im selben Vers 9,20, wo das ähnliche Wortspiel rran-IQ C^TJH? vorkommt, endet das zweite Kolon mit der Wendung N3 irrráülX?; wenn der Ergänzer über das Wortspiel an das Gedicht Jeremias vom „Tod in der Stadt" (9,16-21) erinnert wurde, mag auch die Assoziation an Am 1 (rráp-IS bzw. irrigo"]}*) sich unwillkürlich eingestellt haben. Diese Herleitung ist allerdings etwas umständlich, zumal 46,26 und 9,20 vom Wortspiel abgesehen inhaltlich völlig verschieden sind, so daß die Assoziation über mehrere Umwege nicht sehr plausibel ist. Dennoch weist sie den richtigen Weg: Eines der entscheidenden Wörter ist nämlich auch in 9,20 vorhanden, führt jedoch aus dem jeremianischen Damaskus-Spruch viel direkter zu demjenigen des Amos-Buches.

6. Damaskus,

Jer

241

49,23-27

Die Formulierungen in Jer 17,27b und Am 1,4.14a (Schema A) weisen eine absolut identische Grundstruktur auf, von der das zweite Glied von 21,14b (Schema B) leicht abweicht: A (17,27 / 1,4.14a): B (21,14b):

ni]p-]X rtofcCl T^rX".

tÖS 'Hü1?©] / ^ n ] . . . 1 ¿X T ™

Es ist anzunehmen, daß die Wendung in der dtr Prosapredigt über die Sabbatheiligung (17,19-27) dem Kehrvers von Am lf. nachgebildet ist; 680 da auch das Amosbuch dtr bearbeitet ist, hat die Redaktion des Jeremiabuches sie zweifellos gekannt. 681 21,14b dagegen, der im Rahmen der Königssprüche steht, macht nicht den Eindruck eines dtr Zusatzes: Die Unheilsankündigung V. 13f. ist durchgehend poetisch gestaltet, weist spezifisch jeremianische Diktion auf ( ¡ T 3 , ? Q ~ 1 7 3 ) und fügt sich gut in den Kontext, ohne daß ein Bruch zu erkennen wäre; außerdem spricht die Abweichung von der Grundstruktur für eine kreative Neubildung. Die Phrase wird deshalb von Jeremia selbst stammen, wobei offen bleiben muß, ob die Strukturähnlichkeit zufällig ist oder darauf beruht, daß Jeremia das Amosbuch oder Teile daraus kannte. Nun findet sich eben diese Phrase B praktisch wörtlich in 50,32b als Abschluß der Einheit 50,29-32, in welche nach der obigen Analyse auch V. 26 sekundär Eingang gefunden hat. 682 Diese Koinzidenz kann schlechterdings kein Zufall sein, auch dann nicht, wenn sich in Kapitel 50f. noch zahlreiche andere Dubletten finden. Da 49,26 aus einer schriftlichen Vorlage in das Babel-Orakel übernommen wurde, muß vielmehr angenommen werden, daß sich in dieser ein 50,32b entsprechener Vers fand; die beiden Verse wurden dann durch zusätzliches Material angereichert und deshalb voneinander getrennt. V. 27 kann aber diese Vorlage nicht sein, da 50,32b gerade nicht nach Schema A gestaltet ist, sondern nach Schema B. V. 27 muß demnach ursprünglich anders gelautet haben, nämlich so, wie 21,14 und 50,32b bezeugen, also Schema B entsprechend. Ob die Übereinstimmung mit 21,14b ganz wörtlich war, ist nicht sicher zu sagen, nach dem Vergleich mit 50,32b jedoch 680

T H I E L , D e u t e r o n o m i s t i s c h e R e d a k t i o n I , 2 0 6 ; v g l . VON O R E L L I 8 2 , D U H M 1 5 3 , C O R N I L L

2 2 0 , VOLZ, 1 9 1 . 681 Vgl. SCHMIDT, D e u t e r o n o m i s t i s c h e R e d a k t i o n des A m o s b u c h e s ; WOLFF, J o e l / A m o s 137f.184f.198f. Im übrigen ist es nicht undenkbar, d a ß der R e d a k t o r bei der Ü b e r n a h m e des Textes aus A m 1 - absichtlich oder unabsichtlich - ursprüngliches 'rin'pB] in T K r n änderte, da res- qal / hif. bzw. das im nif. gelegentlich ähnliche oder gleiche F o r m e n b i l d e n d e HS] in Jeremia sehr häufig ist (2,15; 9,9.11; 17,27; 21,14; 32,29; 4 3 , 1 2 ; 46,16; 49,2). D a das Verb W ] in A m 1,14 einzigartig ist, w ä h r e n d sonst stereotyp , nn'pO'l steht (1,4.7.10.12; 2,2.5), k ö n n t e in einer späteren Phase u m g e k e h r t T l ^ n i aus Jer 49,27 nach A m 1,14 zurückübertragen w o r d e n sein, weil e i n e m Schreiber des Amos-Textes diese W e n d u n g aus d e m j e r e m i a n i s c h e n Kontext

i m O h r w a r (vgl. WOLFF, J o e l / A m o s 682

196).

Anstelle von PI-U?'.? („in ihrem W a l d " ) liest 5 0 , 3 2 b V m („in seinen Städten"), und hat ein anderes Pronominalsuffix ("TrÓ^O). Letzteres ist eine A n p a s s u n g an den Kontext, ersteres wohl ein Schreibfehler in der Ü b e r l i e f e r u n g des MT, da die L X X wie an der Originalstelle é v xw 8pDHö> crúrnc; liest.

242

III.

Textanalysen

durchaus anzunehmen. Im jetzt vorliegenden Text ist V. 27 also eine sekundäre Fassung eines ursprünglich an dieser Stelle stehenden, formal ähnlichen und inhaltlich im wesentlichen gleichen Satzes; die sekundäre Fassung entstand wohl unabsichtlich unter dem Einfluß von 17,27 und Am 1,4.14. Daß hinter dieser Operation eine redaktionelle Absicht steht, ist nicht anzunehmen, da sie nicht inhaltlich begründet ist und auf diese Stelle beschränkt bleibt. Hingegen ist der Umstand durchaus interessant, daß die originale jeremianische Wendung durch eine ursprünglich von Arnos herkommende Formulierung ersetzt wurde, die zuerst durch die dtr Redaktion in das Jeremiabuch eingebracht wurde. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der jeremianische Damaskus-Spruch schon mit einer von JHWH in der 1. Pers. Sg. gesprochenen Unheilsankündigung abgeschlossen wurde, die ungefähr der Formulierung von 21,14b entspricht, bevor V. 26f. in das Babel-Orakel übernommen wurde. Da die Diktion dieses Verses oben als jeremianisch bezeichnet wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, daß er in der Tat zum jeremianischen Grundbestand des Spruches gehört, obwohl es umgekehrt auch nicht ganz auszuschließen, wenn auch wenig wahrscheinlich ist, daß der Vers aus 21,14b ergänzt wurde. Der Damaskus-Spruch erhielte dadurch zwei zusätzliche Kola, wodurch sich seine Länge auf insgesamt 12 Kola erhöhte, was dem Ammon-Spruch nahekommt. Außerdem gewönne der Damaskus-Spruch an Konturen und Profil; zum Hinweis auf den Norden, woher die Gefahr droht (V. 23), träte nun auch die Aussage, daß JHWH selbst sie herbeiführt. Das pointierte „Ich" JHWHs, das sich häufig feststellen ließ, ist zwar in der jetzt vorliegenden Form ein sekundärer Zusatz, der jedoch, wenn diese These richtig ist, einen älteren Text und möglicherweise gar ein älteres jeremianisches Original nur überdeckt. Dank der literarischen Doppelüberlieferung sind unter der jüngeren Übermalung die Umrisse des älteren Bildes zu entdecken. c) Herkunft und Horizont des

Damaskus-Spruches

Der Kern des ohnehin knappen Spruches, der Jeremia zugeschrieben werden kann, besteht, wenn die geringfügigen sekundären Erweiterungen und Zitate von anderen Stellen ausgeschieden werden, aus V. 23(ohne bß).24a.25.26.27. Gegen diese kleine Einheit werden allerdings auch von Exegeten, welche die Existenz jeremianischer Völkersprüche nicht grundsätzlich ausschließen, Bedenken geltend gemacht. Rudolph führt eine Reihe von Argumenten an, die seiner Meinung nach gegen eine jeremianische Verfasserschaft sprechen: (1) Die schlimme Nachricht, die Hamat und Arpad in Schrecken versetzt, sei die Unglücksbotschaft von der Räumung von Damaskus; erreiche diese jedoch aus südlicher Richtung die Region Nordsyriens, so könne der Feind nicht von Norden her eindringen, was in deutlichem Gegensatz zu der sonst bei Jeremia wahrzunehmenden

6. Damaskus, Jer 49,23-27

243

Verkündigung stehe. 683 Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Zusammenordnung von V. 24 und V. 23 richtig ist. Im hebräischen Text deutet nichts darauf hin, daß V. 24 den Inhalt der in V. 23 angesprochenen schlechten Nachricht darstellt; die Setzung des Doppelpunktes zwischen den beiden Versen ist willkürlich. Im Gegenteil stellt die Nennung von Hamat und Arpad in einem Spruch, in dessen Blickfeld - wie denn auch die Überschrift in V. 23 richtig erkennt - eigentlich Damaskus steht, wiederum ein Mittel dar, die Bedrohung und das überaus rasch herannahende Unheil von Norden her zum Ausdruck zu bringen: Erst sind es nur die schlechten Nachrichten, die man hoch oben in Syrien, Hunderte von Kilometern entfernt, vernimmt - aber im Handumdrehen ist auch Damaskus auf der Flucht. Daß nicht die militärischen Katastrophen in Hamat und Arpad selbst geschildert werden, liegt einerseits daran, daß das Orakel ja nicht diese Städte im Blick hat, und stellt andererseits ein poetisches Stilmittel dar, das wiederholt zu beobachten war (vgl. insbesondere 49,3.8). 6 8 4 Die Nachricht, auf die Hamat und Arpad so erschreckt reagieren, ist selbstverständlich diejenige vom Anrücken eines Feindes aus nördlicher Richtung. 685 (2) In der Völkerliste in Kapitel 25 fehlt Damaskus; dies sei ein Hinweis darauf, daß das Damaskus-Orakel nicht zum ursprünglichen Bestand der jeremianischen Völkersprüche gehöre. 6 8 6 Dieses Argument kann umgedreht werden: Gerade weil Damaskus in der Völkerliste 25,14ff. fehlt, ist es schwer vorstellbar, daß ein späterer Ergänzer dem Komplex der Völkersprüche einen Damaskus-Spruch hinzufügt, wenn nicht bereits ein jeremianischer Kern davon vorhanden war. Es wäre wohl zu erwarten, daß er in diesem Fall Damaskus auch in 25,14ff. eingefügt hätte, was technisch ein bedeutend kleineres Problem darstellt als die Einfügung eines ganzen Spruches. Weshalb jedoch ein Anlaß bestanden haben sollte, nachträglich ein ganzes Orakel einzufügen, bleibt, auch wenn es natürlich nicht grundsätzlich auszuschließen ist, unerklärt. (3) Das Orakel über ein nördliches Nachbarvolk störe die geographische Anordnung der Orakelsammlung. 6 8 7 Dieses Argument verliert seine Kraft, wenn, was in Kapitel V zu zeigen ist, die Anordnung des MT gegenüber derjenigen der LXX sekundär ist. Aber auch für sich genommen vermag es nicht zu überzeugen. Einerseits wird die geographische Anordnung von Rudolph nur dadurch gewonnen, daß er den Ammonvor den Moab-Text stellt; 688 andererseits kann von einer solchen nur gerade für die drei ostjordanischen Staaten die Rede sein, so daß es mehr als fraglich erscheint, ob damit die Intention der Anordnung wirklich getroffen ist. Darüber hinaus scheint die Reihenfolge dem Interpolator selbst keine Mühe bereitet zu haben, und es wäre noch zu fragen, ob die Stelle für Damaskus nicht mit Bedacht, wenn auch anders, als Rudolph meint, gewählt ist. Wäre die geographische Anordnung derart evident, hätte auch ein Interpolator sie gewiß eingehalten. (4) Dem Orakel fehle jeglicher „religiöse Zug". 6 8 9 Dies ist in der Tat auffällig; nach dem, was die bisherige Analyse ergeben hat, ist jedoch darin nicht grundsätzlich ein 683

R U D O L P H 2 9 3 ; v g l . BARDTKE, F r e m d v ö l k e r p r o p h e t 2 5 4 , C A R R O L L 8 0 8 .

684

So auch WEISER 412, der von einer „Folie" spricht, auf welcher „die Größe des Unglücks heraustritt"; ähnlich VOLZ 419: „die nordsyrischen Städte sind beigefügt, u m die Richtung, aus der das Unglück kommt, anzudeuten und die Erschütterung der benachbarten Städte zu beschreiben." 685 686

V g l . KEIL 4 8 8 . R U D O L P H 2 9 3 ; vgl. CORNILL 4 8 4 .

687

RUDOLPH 2 9 3 .

688

Ebd. 277.

689

RUDOLPH 2 9 3 ; ä h n l i c h WEISER 4 1 2 .

244

III.

Textanalysen

Hinweis auf Unechtheit zu sehen. Vielmehr haben sich gerade die „religiös" gefärbten polemischen Worte gegen den heidnischen Gottesdienst (z.B. 48,13.35) und die theologische Argumentation in 49,2 oder der Zusatz in 48,10 als unjeremianisch erwiesen, während nur gerade der gelegentliche Hinweis, daß JHWH selbst es ist, der das Unheil herbeiführt, zum Kern der jeremianischen Sprüche gehört (46,10; 47,4.6f.; 48,12; 49,5.32). Wenn daher im Damaskus-Spruch jeglicher Hinweis auf theologische Zusammenhänge fehlt, dürfte darin umgekehrt eher ein Argument für die Echtheit des Spruches zu sehen sein. (5) Gegenüber dem Schicksal der anderen Völker sei dasjenige von Damaskus auffällig mild; es sei keine Rede von Vernichtung und Zerstörung, sondern lediglich von einer Räumung der Stadt (V. 24a.25); um diesem Mangel abzuhelfen, sei V. 26f. angefügt worden. 6 9 0 Einmal ist es fraglich, ob die Flucht vor dem Feind, die doch impliziert, daß die Stadt kampflos eingenommen wird, ein wesentlich milderes Schicksal bedeutet als eine Belagerung und teilweise Zerstörung der Stadt. Wichtiger jedoch ist, daß dieses Argument die poetische Diktion des Orakels zu wenig ernstnimmt und von einer allzu stereotypen Form der Unheilsankündigung ausgeht. Darin, wie das kommende Unheil angekündigt wird, besteht eine große Vielfalt, 691 und es besteht keine Notwendigkeit, bestimmte Elemente in allen Sprüchen zwingend vorauszusetzen. Sei es, daß Jeremia seine Ankündigungen j e nach bedrohtem Nachbarvolk absichtlich differenziert vortrug, sei es, daß das angedrohte Unheil durch verschiedene Elemente nur unscharf umrissen und eine Situation plastisch zum Ausdruck gebracht werden sollte, weil der Prophet nicht genauere Informationen geben konnte oder wollte, so kann in jedem Fall aus dem Fehlen des einen oder anderen Elementes nicht auf die Unechtheit des Orakels geschlossen werden. Das Argument erübrigt sich schließlich dann vollständig, wenn gemäß der oben dargestellen These eine V. 27 bzw. 21,14b; 50,32b ähnliche Unheilsankündigung, in welcher JHWH die Zerstörung von Damaskus ankündigt, zum jeremianischen Grundbestand des Textes gehört.

Die gegen die Echtheit des Damaskus-Spruches vorgebrachten Argumente lassen sich allesamt nicht halten oder sprechen im Gegenteil dafür, daß der Text von Jeremia selbst stammen könnte. Dazu paßt, daß auch Inhalt und Vokabular der kleinen Einheit nicht gegen ihre jeremianische Herkunft auszusagen vermögen. 692 Damit bleibt nichts übrig als das Unbehagen gegenüber 690

E b d . 2 9 3 ; v g l . WEISER 4 1 2 , HOLLADAY II, 3 7 9 .

691

S. die Zusammenstellung unten Kp. IV. 1. Vgl. HOLLADAY II, 380. Am auffälligsten ist die Konstruktion Y X (PD'X) + passives Verb + Subjekt, die sich sonst nur noch in 48,17 findet; HOLLADAY sieht in dieser Parallele einen möglichen Hinweis auf jeremianische Verfasserschaft (ebd.). Daß die Wendungen von V. 24 ein Beweis dafür seien, daß „hier nicht Jeremia, sondern ein Mann von wesentlich schwächerer dichterischer Begabung das Wort hat" (WEISER 412; ähnlich VOLZ 419, der den Text für „blaß und wenig originell" hält, sowie GIESEBRECHT 241 und JONES 517), ist ein subjektives Urteil, das angesichts des geringen Umfangs des Textes so schlecht zu widerlegen wie zu begründen ist. Immerhin ist in V. 25 die Klage im Qina-Metrum, die wohl im Munde eines Damaszeners zu denken ist (gegen VOLZ 419, der bemerkt, daß Damaskus und Elam als einzige nicht direkt angesprochen würden und nicht in direkter Rede aufträten), stilistisch alles andere als übel, und wenn die aramäische Gestalt von CDQ~|, das WEISER 412 als sekundär ausscheiden will, tatsächlich mit Bedacht gewählt ist (vgl. oben S. 235 Anm. 653), so könnte gar erwogen werden, ob nicht eine Assonanz mit p!2Q1 intendiert ist (vgl. die auffällige Häufung von S'göl in ilp'Tnn 692

Q07!)-

6. Damaskus, Jer

49,23-27

245

der auffällig kleinen, sekundär erweiterten Einheit. 693 Sie Jeremia abzusprechen besteht jedoch aufgrund der Analyse kein Anlaß. Wie andere jeremianische Völkersprüche enthält der Text keinerlei Hinweis auf seine historische Situation oder seine Veranlassung. Die „schlechte Nachricht" von V. 23 wird nicht näher beschrieben, und der Grund für die Flucht und die Angst in V. 24 wird nicht erläutert. Durch die in V. 23 implizierte Nordrichtung paßt jedoch der Text zu den bisher behandelten Völkersprüchen und wird deshalb auch in dasselbe zeitliche Umfeld zu datieren sein. Eine Verbindung mit IIReg 24,4, 694 wo neben Ammonitern und Moabitern auch Aramäer unter den an der Strafexpedition gegen Juda beteiligten Streifscharen genannt werden, hat auch in diesem Text keinerlei Anhalt; zudem wird V. 4 meist korrigiert, da es sich wahrscheinlich um Edomiter, nicht um Aramäer gehandelt hat. 695 Stammt der Text tatsächlich von Jeremia, 696 so ist im Kontext der Völkersprüche ein Spruch über den nördlichen Teil Syrien-Palästinas, den Damaskus repräsentiert, nicht weiter erstaunlich; er kann aus derselben Zeit stammen, in welcher Jeremia im Zusammenhang mit der Schlacht von Karkemisch im Jahre 605 Ägypten und den Philistern die vom „Feind aus dem Norden" ausgehende Gefahr anzeigte: 697 Droht aus dem Norden Unheil, so muß es ja zuerst den syrischen Raum treffen. Es sind jedoch auch andere konkrete Anlässe in den folgenden Jahren denkbar, die zur Formulierung eines Spruches über Damaskus geführt haben können. Allerdings fehlen für diesen Zeitraum historische Informationen, die es erlauben würden, die Lage des unter babylonischer Herrschaft stehenden Damaskus einzuschätzen. Zumindest theoretisch ist es nicht undenkbar, ja sogar wahrscheinlich, daß sich die alten syrischen Stadtstaaten bzw. assyrischen Provinzen nicht ohne Widerstand den Babyloniern unterwarfen und auch nach Karkemisch, solange jene 693 Diese beiden Merkmale teilt der Damaskus-Spruch allerdings nach der obigen Analyse mit dem Ammon-Orakel 49,3-5. 694

S o w i e d e r u m HOLLADAY II, 3 8 0 .

695

S o z . B . MALAMAT, L a s t K i n g s of J u d a h

143, WÜRTHWEIN, K ö n i g e II, 4 6 8 ,

HÜBNER,

Ammoniter 198; anders BARTLETT, Edom and the Edomites 148f. 696 Daß der Text den Eindruck eines älteren anonymen Orakels des 8. Jahrhunderts mache, das sekundär auf Damaskus übertragen wurde (CARROLL 808, JONES 517; erwogen bei BRIGHT 337), ist so wenig mit Sicherheit auszuschließen wie plausibel zu begründen. Mit Sicherheit trifft hingegen nicht zu, daß der „Feind aus dem Norden" ganz fehle (JONES 517), was JONES selbst indirekt zugibt, indem er an die Zeit des Aufstiegs des Kyros denkt, gerade weil die Gefahr für Damaskus von Norden drohe (ebd.; vgl. WEISER 411). 697 Vgl. GRAF 571. Auch RUDOLPH 293, der das Orakel als unecht beurteilt, hält immerhin grundsätzlich ein solches im Jahre 605 nicht für befremdlich, da die Unterwerfung Syriens unter Nebukadnezar sich nicht widerstandslos ereignet haben wird. Den Einwand DUHMS, zur Zeit Jeremias hätte Damaskus bereits zum babylonischen Reich gehört und von Nebukadnezar nichts mehr zu befürchten gehabt (357), weist CORNILL 483 zu Recht zurück: Unmittelbar nach der Schlacht von Karkemisch war Damaskus erst noch zu erobern, da Syrien-Palästina nach dem Zusammenbruch Assyriens nominell von Ägypten beansprucht wurde. Die Eroberungszüge unternahm Nebukadnezar in den Jahren nach Karkemisch von Ribla in Hamat aus (vgl. IIReg 23,33; 24,7).

246

III.

Textanalysen

Palästina und das Ostjordanland noch nicht ganz in ihrer Hand hatten und die Ägypter ihr Stammland noch erfolgreich verteidigen konnten, den einen oder anderen Versuch unternahmen, das babylonische Joch abzuschütteln oder zumindest gegen die Besatzungsmacht zu konspirieren. Daß die biblischen Texte - anders als etwa im Fall von Edom, Moab, Ammon, Tyrus und Sidon (vgl. Jer 27,2) - darüber nichts berichten, spricht jedenfalls angesichts der Spärlichkeit und des eklektischen Charakters der Quellen nicht prinzipiell dagegen. In diesem Fall wäre die Entstehung des Damaskus-Spruches auch in den Jahren nach 605 denkbar.

7. Kedar und Hazor, Jer 49,28-33/30,6-11 Die beiden kurzen, aus nur gerade zwei bzw. vier Versen (5 bzw. 12 Kola) bestehenden Sprüche über Kedar und Hazor sind durch eine gemeinsame Überschrift zu einer Einheit zusammengebunden. Neben dem lamed inscriptionis ist diese Überschrift wie diejenigen über die beiden Ägypten-Gedichte (46,2.13; vgl. in anderer Form 49,34 sowie 47,1 [nur MT]) mit einer zusätzlichen historischen Angabe versehen, welche den Text mit einem siegreichen Zug Nebukadnezars gegen die arabischen Stämme in Verbindung bringt. Die Überschrift bietet allerdings keine Informationen, die nicht im Text selbst schon enthalten wären, die Identität des Feindes eingeschlossen (V. 30), so daß nicht anzunehmen ist, daß ihr Verfasser über Kenntnisse verfügte, die über das hinausgehen, was die Sprüche selbst aussagen, oder jedenfalls keine solchen zu vermitteln beabsichtigte. Die beiden Sprüche sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal stark miteinander verbunden und nicht durch zusätzliche Zwischenüberschriften voneinander abgegrenzt; sie wurden nicht nur von den Buchredaktoren als Einheit betrachtet, sondern lagen ihnen vermutlich schon als solche vor. Sachlich trifft dies insofern zu, als Kedar und Hazor nicht verschiedene Völker, sondern verschiedene arabische Stämme der syrisch-arabischen und der arabischen Wüste, d.h. die Wüstenbewohner östlich und südöstlich Palästinas bezeichnen. a) Der Text Der Text der Sprucheinheit über arabische Stämme ist in gutem Zustand und bietet wenige nennenswerte Schwierigkeiten. 698 Der MT ist gegenüber der LXX und deren Vorlage nur unwesentlich und nach dem gewohnten Schema 698

In V. 28 dürfte es sich bei TtWi^axe bzw. 7cW)0crc£ „schlagt" für HltÖl „verwüstet" (zur Form des Imperativs vgl. GK §67cc; B L §58p') um einen innergriechischen Fehler handeln; das Verb ist wohl verdorben aus a7toXeoaxe, mit dem "IIB z . B . in 4 7 , 4 wiedergegeben ist (vgl. RUDOLPH, BHS z.St.). - In V. 30 korrigiert das Q e re das Pronomen DIT1?!? von der 3. zur 2. Pers. PI. wie in V. 30ba, was zweifellos im Sinne der Aussage ist (vgl. LXX); allerdings ist der präpositionale Ausdruck wahrscheinlich sekundär nachgetragen und fehlt in L X X A B mit gutem

7. Kedar und Hazor, Jer

49,28-33

247

erweitert: Zweimal ist im Langtext zusätzlich die JHWH-Spruchformel eingefügt (V. 30.31) und einmal der Name des Eroberers Nebukadnezar, der in der Vorlage nur „König von Babel" genannt wurde (V. 30) 6 9 9 , ergänzt. Ob das im MT zusätzliche Verb 113 in V. 30 eine Erweiterung darstellt - die Alliteration und Assonzanz gleichzeitig bewirkende Verbindung H3 IOJ „flieht, seid heimatlos" ist im AT einzigartig - oder ob es durch Haplographie in der LXX ausgefallen ist, muß ungewiß bleiben; letzteres mag etwas wahrscheinlicher sein. 700 In V. 31 scheint auch die LXX eine Doppellesart zu bieten. 701 Am auffälligsten und folgenschwersten ist die merkwürdige Wiedergabe des Namens Tten in der LXX. In der Überschrift V. 28 übersetzt sie die Wendung "liKn rro^CC1? „über die Reiche von Hazor" mit (xfi) ßaoiAiocrfl rnq „über die Königin des Hofes" ("KPIp] wobei diese Wendung durch das Fehlen der Kopula syntaktisch eine Apposition zum vorhergehenden ~np darstellt; in V. 30.33 steht für Tten dementsprechend atiÄf] „Hof". Die LXX kennt mithin in V. 28-33 nur ein Orakel, das sich gegen Kedar richtet, dessen Bewohner es mit Ka0f|(i.evoi ev Tri aiJÄr| „Bewohner des Hofes" (V. 30) anspricht und deren Siedlungen sie als f] cmWi „der Hof" bezeichnet (V. 31). Im MT steht jedoch "li^il 702 offenbar als Sammelbezeichnung für verschiedene in der arabischen Wüste ansässige bzw. halbansässige Beduinenstämme (arabisch hadar) neben , einem Nomadenstamm der (nördlicheren, von Palästina aus gesehen östlich gelegenen, vgl. D"Ip~,33 V. 28) syrisch-arabi-

G r u n d ( v g l . J A N Z E N , S t u d i e s 6 0 ; R U D O L P H 2 9 2 ) . HOLLADAY I I , 3 8 2 b e h ä l t d i e 3 . P e r s . P I . a l s

lectio difficilior bei, deutet jedoch den Zusammenhang anders (s. dazu unten S. 254). Auch daß die 3. Pers. PI. absichtlich gewählt sei, weil sie mit V. 29 einen Chiasmus darstelle (BARTHELEMY, Critique textuelle II, 815f.), ist nicht wahrscheinlich; diese Annahme scheitert daran, daß mit V. 30 ein neuer Abschnitt beginnt, in welchem neue Adressaten angesprochen sind. Nicht undenkbar ist hingegen die Interpretation, daß am Ende des Verses absichtlich von der direkten Anrede „in größere Ruhe" übergegangen werde (KEIL 491 nach EWALD). Der Vers könnte in diesem Fall mit einer Art Reflexion enden, in welcher Hazor nicht mehr direkt angesprochen ist. - In V"OI? V. 32 ist wohl das unpassende Suffix der 3. Pers. Sg. zu streichen (RUDOLPH 292; anders HOLLADAY II, 382) oder durch das der 3. Pers. PI. zu ersetzen (VOLZ, Studien 323, so die LXX). 699 Nicht ^ D I T ^ O stört das Metrum (RUDOLPH 292), sondern der sekundär zugefügte Eigenname. 700 ZIEGLER, Beiträge 87, rechnet mit einem Doppellesart, JANZEN, Studies 25, ebenfalls, ist aber unsicher. Für HOLLADAY gehört das Verb aus metrischen Erwägungen (Länge des Kolons) dazu; außerdem scheint es eine Doppeldeutigkeit zu enthalten (II, 382; s. dazu unten S. 254). 701 Für M T r r - n liest die LXX zwei Wörter (ßa^-dvot, nox^-ot), von denen das eine wörtlich, das andere freier ist (vgl. JANZEN, Studies 26). 702

V g l . Z W I C K E L , H a z o r 6 2 ; ELLIGER, H a z o r 6 6 3 ; M Ü L L E R , A r a b i e n u n d I s r a e l 5 7 3 ; SIMONS,

Texts §1396; RUDOLPH 294; HALAT 329. Dabei sind unter den NI3*PI?N, wörtl. „Königreichen", von Hazor mit RUDOLPH 294 „die einzelnen unter ihren Häuptlingen stehenden Stämme" zu verstehen; der Königstitel kann auch für Häuptlinge, Stammesfürsten bzw. S c h e i c h s v e r w e n d e t w e r d e n ( H I T Z I G 3 7 2 , G R A F 5 7 4 , CARROLL 8 1 0 ; v g l . SOGGIN,

912f.

[von E. JENNI]). In diesem Sinne kann in V. 31 auch von einem „Volk" die Rede sein, ohne daß an ein politisch einheitliches Staatswesen gedacht wäre (gegen DUHM 358, der „das Reich [rra 1 ??] von Hazor" als Apposition zu Kedar auffaßt).

248

III.

Textanalysen

sehen Wüste; 703 der MT bietet deshalb unter der Überschrift in V. 28 zwei verschiedene Orakel, zunächst dasjenige über Kedar (V. 28b.29), dann ein diesem inhaltlich und formal stark verwandtes über Hazor (V. 30-33). Dieser Unterschied ist wohl so zu erklären, daß dem LXX-Übersetzer Hazor nicht mehr als Bezeichnung für arabische Stämme geläufig war und er stattdessen das Nomen "l2Sn „Siedlung, Gehöft, Hof' 7 0 4 annahm, von welchem der Name abgeleitet ist. 705 Es ist davon auszugehen, daß der MT hier die ältere Tradition bewahrt hat, zumal diese auch hinter der etymologisierenden Wiedergabe der LXX noch deutlich erkennbar ist. 706 Eine redaktionelle Absicht im Sinne einer inhaltlichen Neuakzentuierung ist jedenfalls weder in der LXX noch im MT zu erkennen. b) Der Kedar- und der

Hazor-Spruch

Die Einführung als Botenwort (V. 28aß) bezieht sich, da sie zur Überschrift gehört, auf beide Orakel, die nicht durch redaktionelle Formeln, sondern lediglich durch die neue Anrede in V. 30 voneinander abgesetzt sind. Die beiden Sprüche sind ungleich lang, aber ähnlich aufgebaut. Der Kedar-Spruch besteht aus zwei Teilen: (1) einem Aufruf an die (nicht explizit genannten) Feinde, gegen Kedar und die Bewohner des Ostens aufzumarschieren (V. 28b IQlp, Impv.) 707 , und (2) einer Schilderung der Auswirkungen dieser Invasion, wo Zelte und Herden, Zeltdecken, Gefäße und Kamele - der ganze Besitz von Beduinen! - geraubt werden (V. 29, 3. Pers. PI. Impf.). Wie in 46,5 ist der Ausdruck D'SOD TÜD „Schrecken ringsum" - diesmal im Mund der Feinde (Perf. cons.) - die treffende Zusammenfassung dieser anschaulichen Szene. Beide Teile finden im Hazor-Spruch relativ genaue Entsprechungen: (1) Der wörtlich gleich beginnende Aufruf an die Feinde IQ^lp „auf, zieht gegen..." in V. 31, (2) die Auswirkungen - mit ähnlichen Konkreta: Kamele, Vieh - in V. 32. In mehrfacher Hinsicht geht jedoch der Hazor- über den Kedar-Spruch hinaus: (3) Anders als der Kedar-Spruch setzt derjenige über Hazor nicht mit dem Aufruf an den Feind zur Invasion ein, sondern mit einer an die Bewohner 703 KNAUF, Kedar und Kedrener 457f.; RÜGER, Kedar 937; HALAT 1002; MÜLLER, Arabien und Israel 573; NOTH, Kedar 1234. 704 In "Kn III kommen zwei verschiedene semitische Wurzeln zusammen, die im Arabischen getrennt geblieben sind: (1) hadara „anwesend sein" (hadar „Wohnort" im Gegensatz zum ortsveränderlichen Beduinenlager) und (2) hasara „pressen, einengen" (hisär „Gehege"), so daß damit einerseits die ständige Siedlung und das Gehöft im weiteren Sinn, auch ohne Mauern, und andererseits der Hof, der eingehegte Raum im engeren Sinn bezeichnet wird (ORLINSKY, Häser; vgl. HALAT 331, HOLLADAY II, 383, DUMBRELL, Proud Desert Power 102f.). 705

706

V g l . RUDOLPH 2 9 4 ; MÜLLER, A r a b i e n u n d Israel 5 7 3 .

Anders DUMBRELL, Proud Desert Power 101.105f., der der LXX folgt und mmlkwt nach dem Phönizischen als „Prinz" oder „Herrscher" deutet (Belege ebd. 106 Anm. 9). 707 Die klingende Wendung l^JJ IDlp mit ihrem „kriegerischen Gleichklang... wie mit Trompetenstößen" klingt wie ein Signal (VOLZ 421), vgl. dazu 6,4f.; 31,6.

7. Kedar und Hazor, Jer

49,28-33

249

Hazors gerichteten Aufforderung zur Flucht (V. 30) 708 . Daß die Flucht allerdings vergeblich ist und der Fluchtruf daher ironisch wirkt, zeigt die Fortsetzung V. 30b, wo der Feind, der gegen sie seine Beschlüsse gefaßt hat, als König von Babel identifiziert wird, und vor allem V. 32b, wo JHWH selbst als eigentlicher Auftraggeber erscheint. Die ausdrückliche Nennung des Königs von Babylon - im Langtext ergänzt um den Namen " B K I I D ^ - 7 0 9 - ist in den Völkersprüchen des Jeremiabuches in dieser expliziten und unverhüllten Form außerhalb von redaktionellen Überschriften einmalig und erscheint von daher verdächtig; oft wird sie denn auch als sekundäre Glosse bezeichnet. 710 Diese Einschätzung muß sich allerdings den Vorwurf der petitio principii gefallen lassen, da einsichtige Gründe, weshalb Jeremia den Feind nicht namentlich bezeichnet haben sollte, von den Exegeten nicht genannt werden. Wenn ursprünglich JHWH als Urheber des drohenden Unheils bezeichnet worden wäre (vgl. V. 32), so ist nicht deutlich zu machen, weshalb dies nur an dieser Stelle durch eine spätere Glosse überdeckt worden sein sollte. Vielmehr entspricht es einer theologischen Konzeption, die in den Völkersprüchen mehrfach wahrzunehmen war, wenn hier Nebukadnezar als Vollstrecker des Willens JHWHs, wie er in den Aufrufen zum Kampf in V. 28.31 zum Ausdruck kommt, dargestellt wird. 711 Ein Indiz für Unechtheit kann nur darin sehen, wer davon ausgeht, daß in den Völkersprüchen der Feind nicht namentlich genannt sein dürfe oder könne; für beide Annahmen gibt es allerdings keinen Grund. (4) V. 31 charakterisiert mit mehreren Wendungen die Stämme Hazors als sorgloses 712 , in der Abgeschiedenheit lebendes Volk. Eine entsprechende Näherbestimmung Kedars fehlt; der damit alliterierende Parallelausdruck (V. 28b) bezeichnet lediglich die geographische Lage. Eine ähnliche Charakterisierung findet sich in 48,11, und wie dort kommt darin das Unerwartete und Unvermittelte des feindlichen Angriffs zum Ausdruck: Die arabischen Stämme hatten bisher ein friedliches, jedenfalls von größeren militärischen Konflikten verschontes und deshalb sorgloses Leben geführt, so daß sie 708 Zur Wendung nDtp'p Ip'PVH vgl. oben zu 49,8; daß sie von dort sekundär übernommen worden sei (RUDOLPH 292), ist nicht einzusehen. HOLLADAY II, 382 streicht 'AB" als das Kolon überladende Glosse nach 49,8, die eingefügt wurde, nachdem Hazor als Name einer Stadt verstanden wurde (s. unten zu V. 33). 709

D a s K e t i b - N I Ü A - D ' A : i s t w o h l e i n S c h r e i b f e h l e r i m A n s c h l u ß a n TLÜN ( s o G R A F 5 7 4 ,

K E I L 4 9 0 , VON O R E L L I 1 9 8 , R U D O L P H 2 9 2 ) . 710

VOLZ 4 2 0 , DUMBRELL, P r o u d D e s e r t P o w e r 1 0 3 , RIETZSCHEL, U r r o l l e 5 5 f . , CHRISTENSEN,

Transformations 209, HOLLADAY II, 382.384. RIETZSCHELS Frage, woher Jeremia von Nebukadnezars Plan gewußt habe (Urrolle 56), ist müßig; sie rechnet offenbar weder mit der realen Möglichkeit prophetischer Intuition bzw. Inspiration noch damit, daß die Formulierung die stilistische Einkleidung einer durch jene vermittelten Erkenntnis ist. 711

712

S o a u c h WEISER 4 1 5 .

M T V^O „sorglos, ungestört" ist die aramäische Schreibweise von (HALAT 1394, RUDOLPH 292; kein Eintrag bei WAGNER, Lexikalische und grammatikalische Aramaismen, sowie bei VOGT, Lexicon).

250

III.

Textanalysen

keine Türen und Riegel brauchten, was möglicherweise eine sprichwörtliche Redensart ist (vgl. Ez 38,11) 713 . Doch mit dieser ruhigen Sicherheit ist es vorbei: Sie werden überfallen, beraubt, vertrieben; plötzlich und von allen Seiten bricht das Unheil über sie herein. In dieser Einschätzung der politischen Verhältnisse und der Lebensumstände der Wüstenstämme spiegelt sich gewiß die judäische Perspektive gegen Ende des 7. bzw. zu Beginn des 6. Jahrhunderts v.Chr.: Während Palästina im Spannungsfeld zwischen den um die Weltherrschaft ringenden Großmächten hin- und hergerissen wurde und bisweilen aufgerieben zu werden drohte, schienen die östlichen und südöstlichen Wüstenbewohner von derlei Sorgen verschont. Historisch wird auch hier (vgl. 49,4) daran zutreffend sein, daß die Wüstengebiete am Rande des fruchtbaren Halbmondes für die Eroberer von Norden und Süden nicht von vordringlichem Interesse waren. Dennoch haben etwa auch die assyrischen Herrscher Feldzüge in dieses Gebiet unternommen; belegt ist beispielsweise, daß Sargon II. im Jahre 715 einige Araberstämme schlug und deren Überlebende in der neuen assyrischen Provinz Samaria ansiedelte, 714 und die assyrischen Königsinschriften erwähnen unter Sanherib, Asarhaddon und Assurbanipal kriegerische Auseinandersetzungen mit den Königen von Arabien und Kedar. 715 Der Hazor-Spruch jedenfalls widerspricht dieser idealisierenden - aber wahrscheinlich populären - Auffassung vom friedlichen und sorglosen Leben der die Wüste bewohnenden Nachbarn mit Nachdruck, indem er den Araberstämmen über sie hereinbrechendes Unheil ankündigt. (5) In V. 32 spricht im Anschluß an die Schilderung der Folgen der feindlichen Invasion JHWH selbst (1. Pers. Sg., vgl. die JHWH-Spruchfomel am Ende des Verses) und kündigt die Zerstreuung der „an den Schläfen Gestutzten" 716 (vgl. 9,25; 25,23) in alle Himmelsrichtungen an; darüber hinaus wird pointiert gesagt, daß JHWH es ist, der das Unheil Hazors herbeiführt (•TX-fli? X'DN ^ V - n i r ^ s p i ) . Es ist von daher anzunehmen, daß auch die Imperative in V. 31, welche die Feinde zum Anmarsch gegen Hazor rufen, ebenso wie die Fluchtrufe in V. 30 JHWH-Wort darstellen, wie dies die Einfügung der JHWH-Spruchformel voraussetzt, und nicht etwa Zitat der Befehle Nebukadnezars, von dessen Plänen in V. 31 die Rede ist. 718 Hinter dem Plan 713

Gelegentlich wird angenommen, daß V. 3 l f . von Ez 38,11.12a abhängig sei (z.B. COR-

NILL 4 8 6 , J O N E S 5 1 8 ; d a g e g e n R U D O L P H 2 9 5 [ e h e r u m g e k e h r t ] , B R I G H T 3 3 6 , H Y A T T

1122);

dafür ist allerdings die Gemeinsamkeit zu gering und der Kontext zu unterschiedlich. 714 MÜLLER, Arabien und Israel 572. 7,5 RÜGER, Kedar 937. 716 Zu dieser geläufigen Bezeichnung arabischer Stämme, die auch Herodot (III, 8) kennt, vgl. WELLHAUSEN, Reste arabischen Heidentums 198; HALAT 858. 717 Bei dieser Wendung handelt es sich offenbar um einen Parallelausdruck zu S'SOÖ "TOQ (V. 29; 46,5) bzw. T 1 3 (49,5). Die Korrektur dieses Ausdrucks zu n n i r ? ' ? 1 ? " ' 7 ? ' ? „to all the kings of the Arabs" (vgl. 25,24), die dem Orakel eine andere Bedeutung verleiht (HOLLADAY II, 382), drängt sich nicht auf und mißversteht den Text (s. unten S. 254). 718 Letztere Auffassung vertritt RUDOLPH 292, weshalb er die JHWH-Spruchformel als sachlich falsch beurteilt. Im übrigen versteht auch die Singular-Form der LXX die Imperative als

7. Kedar und Hazor, Jer

49,28-33

251

Nebukadnezars steht als eigentlicher Auftraggeber JHWH, dessen Befehle das feindliche Heer - das wieder selbst nicht in den Blick kommt, sondern ganz hinter seinem Auftrag und dessen Folgen zurücktritt - ausführt. (6) Neben der Schilderung der Auswirkungen (V. 32f.), die derjenigen im Kedar-Spruch im wesentlichen enstpricht (V.29), enthält V. 33 zusätzlich eine Vollständigkeitsaussage (•"piiniJ), wie sie sich im Komplex der Völkersprüche sonst nur noch in den sekundären Teilen des Edomspruches (49,13) und in den Babel-Orakeln (51,26.39.57.62) findet.719 Gegen die Ursprünglichkeit von V. 33 werden jedoch Bedenken geltend gemacht. Die Unheilsansage V. 33a gilt in 9,10 fast wörtlich Jerusalem, und analog wird hier scheinbar von Hazor gesprochen, als ob es sich um eine Stadt handelte. 720 Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß ein späterer Ergänzer - in ähnlicher Unwissenheit um Hazor wie der LXX-Übersetzer, jedoch noch vor diesem - dem Hazor-Spruch das ursprünglich auf Jerusalem bezogene Gerichtswort angefügt und es auf die vermeintliche Stadt Hazor bezogen hat. Doch ist dies aus mehreren Gründen nicht sehr wahrscheinlich: (a) Der Gegensatz zwischen den „Höfen, Gehöften", die (etymologisch wie vorstellungsmäßig) hinter dem Appelativum ~li2Sn stehen, als Wohnform der Beduinen und der „Wohnstätte von Schakalen" (•"an Tiua, vgl. neben 9,10 auch 10,22), ist durchaus originell, (b) Daß das Wohngebiet Hazors, die Wüste, zur ewigen Öde und zum menschenleeren Gebiet (•'?iir ¡IQQtÖ) werden soll, ist ein sprechendes Bild, das gerade im Zusammenhang mit den Wüstenbewohnern eine besondere Pointe enthält. Weshalb nur von Städten gesagt werden könne, daß sie zur „ewigen Wüste" werden sollten, ist im übrigen nicht einzusehen, (c) Ebenso können sich die beiden abschließenden, parallelen Wendungen H3 -nr,"«^] 2TX DtÖ 2 ^ ' i Ö V. 33b genausogut auf eine Gegend wie auf eine Stadt beziehen. Da die Wendungen in V. 18 und 50,40 sekundär übernommen sind, ist es wahrscheinlich, daß hier das jeremianische Original in seinem ursprünglichen Zusammenhang vorliegt. 721 (d) Die postulierte Abhängigkeit von 9,10 geht vom Inhalt abgesehen, den V. 33 jedoch mit zahlreichen anderen Texten im Völkerspruchkomplex teilt - über die Begriffe CSFl und ilOQC? nicht hinAuftrag von noch höherer Instanz an, nicht von Nebukadnezar. Ebenso wollen offenbar die Imperative in V. 28b direkt nach der Botenformel verstanden werden. 719 Vergleichbare Wendungen bezüglich der Vernichtung von Städten, jedoch ohne die Vollständigkeitsformel, finden sich in 46,19 (3®V l'ND nnääl ¡Tnn nQttib ^ ¡ T ? ) und 48,9 o t - i j ?

]ro 3ov j-si? n r n n rrao1?). 1720

V g l . D U H M 3 5 9 , VOLZ 4 2 0 , RUDOLPH 2 9 5 , NÖTSCHER 3 2 8 , BRICHT 3 3 6 , CARROLL 8 1 0 ,

HOLLADAY II, 3 8 2 ; f r a g e n d WEISER 4 1 5 . 721 Selbst wenn V. 33b aus V. 18b sekundär entlehnt worden wäre (so etwa GIESEBRECHT 241f„ VOLZ 420 [vgl. Studien 323: sekundäre Glossierung des Begriffs HOOtÖ nach V. 18], RUDOLPH 295, JONES 519) und nicht umgekehrt, so bezieht sich auch dort H3 offensichtlich ohne weiteres auf ein ganzes Land (Edom), nicht auf eine Stadt. Die LXX hat denn auch die beiden im Kontext synonymen Ausdrücke H3 und CB unterschiedslos mit c.Kfü wiedergegeben, wie das auch an anderen Stellen der Fall ist (8,19; 4l',8; 49,18/29,19; 50/27,40; vgl. STIPP, Sondergut 151).

252

III.

Textanalysen

aus. Ersteres ist wohl eine typisch jeremianische Wendung, die allerdings ein im Zusammenhang übliches Bild (Schakale als Bewohner menschenleerer, verödeter Gebiete oder Städte) verwendet (vgl. Jes 13,22; 34,13; 35,7; 43,20; Jer 14,6; 51,37; Ps 44,20); das zweite ist ein im Zusammenhang mit Unheilsankündigungen und Schilderungen von unheilvollen Zuständen im allgemeinen bei Jeremia und auch sonst überaus häufiger Ausdruck, so daß daraus bezüglich Echtheit oder Unechtheit nichts abgeleitet werden kann. Im übrigen sind die entsprechenden Sätze in 9,10; 10,22 und 49,33 alle unterschiedlich konstruiert (n-an ]ij>p n,i?ai? q ^ - r r i N Tirol / ]iuo rrootö m/irr n i m s mtö'p cran / cran jiuq'? TiKn Hirn-]), was überhaupt nicht für sekundäre Übernahme, sondern vielmehr für kreative Mehrfachverwendung durch Jeremia selbst spricht. c) Herkunft und Horizont des Kedar- und des

Hazor-Spruches

Die Überschrift bringt die beiden Sprüche über Kedar und Hazor mit dem Zug Nebukadnezars gegen die Wüstenstämme im Jahre 599/8, der bei Josephus und in der Babylonischen Chronik belegt ist, 722 in Verbindung. Ob sie vor oder nach diesem Ereignis verfaßt wurden, geht weder aus deren Formulierung noch aus dem Text selbst hervor; die Imperative können ebensogut ein Stilmittel darstellen, um das Geschehen ex eventu zu kommentieren, wie um es im voraus anzukündigen. Gegen jeremianische Verfasserschaft sind - neben grundsätzlichen Mißtrauensvoten - keine überzeugenden Argumente beigebracht worden. Die zahlreichen Ausdrücke und Wendungen, die sich auch sonst in den Völkersprüchen und anderen jeremianischen Texten finden, jedoch durchaus kreativ und nicht einfach imitierend verwendet sind, sprechen gegen ein aus verschiedenen Quellen sekundär zusammengestückeltes Orakel. 723 Auch die Gestaltung der beiden Sprüche, namentlich die durch den Wechsel von Anrede der Feinde im Aufruf zum Kampf, Anrede der Betroffenen durch Aufforderung zur Flucht sowie durch die dazwischen geschobenen Beschreibungen des Ausmaßes des feindlichen Feldzuges erreichte Lebendigkeit, verbindet die beiden Sprüche mit den übrigen Völkersprüchen. Schließ722 Josephus, Contra Apionem 1,19; WISEMAN, Chronicles 70f.; VOGT, Neubabylonische Chronik 92. 723 Vgl. WEISER 415. GIESEBRECHT 241f. konstatiert eine auffällige „Gedankenarmut" und führt die Lebendigkeit der Sprüche auf eine geschickte Zusammenstellung älterer Texte zurück. Seine Annahme, Jeremia habe keine Veranlassung gehabt, sich besonders gegen die abgelegenen Araberstämme zu wenden (ebd.), ist allerdings eine pure Behauptung und unterstellt Jeremia einen bestimmten Horizont, über den hinaus er nicht habe blicken können oder wollen. Auch JONES 518f. hält den ganzen Text vor allem wegen seines eklektischen Charakters und der starken Abhängigkeit von anderen Stellen für unjeremianisch. Die Annahme BRIGHTS, daß ein älteres Gedicht durch nachträgliche Einfügungen auf die Kampagne Nebukadnezars umgedeutet worden sei (336), ist nicht zu widerlegen, hat aber nicht viel für sich. Oft werden nur einzelne Verse ausgeschieden: V. 28b.29.33 (RUDOLPH 294f.), V. 28a.33 (CARROLL 811), V. 33b

(VOLZ 4 2 0 ) .

7. Kedar und Hazor, Jer

49,28-33

253

lieh fehlt auch in dieser Einheit eine Begründung für das Unheil, dessen letzter Urheber nicht der militärische Feind, sondern JHWH selbst ist. Schwierigkeiten bereitet der Vergleich des Kedar-Spruches mit der Becherperikope 25,14ff. Dort ist nämlich in V. 23 vom Gericht über arabische Stämme die Rede; namentlich genannt sind ]"H (Dedan, Oase el-'öla), KO'H (Tema, Oase taima), TQ (Bus, zwischen ed-dschöf und taima)724 sowie alle „an den Schläfen Gestutzten" (HKS ^ I K p " ^ , vgl. hier V. 32), alles Stämme aus dem Gebiet der arabischen Wüste südöstlich von Palästina, die daher ohne Schwierigkeiten mit der im Hazor-Orakel verwendeten Sammelbezeichnung Tten in Verbindung gebracht werden können. 725 Von Kedar hingegen ist nicht die Rede. Hinzu kommt, daß Kedar und Hazor nicht etwa in dem Sinne eine Opposition darstellten, daß die einen ausschließlich seßhaft und die anderen nur Nomaden waren; bei beiden Gruppen ist mit beiderlei Lebensform und auch Mischformen zu rechnen (vgl. etwa Jes 42,II). 7 2 6 So scheint denn - vor allem im Hinblick auf die formale und inhaltliche Ähnlichkeit des Kedar- und des Hazor-Spruches - die Annahme nahezuliegen, daß jener diesem sekundär nachgebildet ist. 727 Veranlaßt mag die Einfügung nach der Vermutung Rudolphs dadurch sein, daß Nebukadnezar von allen Araberstämmen die Kedarener, die Babylonien am nächsten wohnten, wohl zuerst und am stärksten geschlagen haben wird, so daß der Glossator sich veranlaßt sah, diese Gruppe besonders hervorzuheben und mit einem eigenen analogen Prophetenwort zu versehen; als Vorlage für den sekundären Spruch diente V. 31 f., abgerundet entsprechend V. 32b durch das jeremianische TDOO TUO (6,25; 20,3.10; 46,5). 728 Zwingend ist diese Annahme allerdings nicht; es ist nicht undenkbar, daß Jeremia für zwei einander in einer bestimmten Hinsicht eng verwandte Volksgruppen zwei derart ähnliche - und doch von nahem besehen auch deutliche Unterschiede aufweisende - Sprüche verfaßt hat. 729 Gehören der Kedar- und der Hazor-Spruch zusammen, so ist im Gegenteil zum Aus724

Zu den Lokalisierungen vgl. RUDOLPH 294.

725

V g l . RUDOLPH 2 9 4 .

726 Vgl. RUDOLPH 294; andei> HOLLADAY II, 383, der Hazor und Kedar als strenge Opposition von an Wasserquellen niedergelassenen Arabern und Nomaden bzw. Beduinen betrachtet. 727 So ERBT, Jeremia und seine Zeit 226f.; RUDOLPH 294f. 728

729

RUDOLPH 2 9 5 .

Möglicherweise ist Kedar als arabisches Wüstenvolk, das ebenfalls den entsprechenden Brauch pflegt, unter denjenigen, die „das Haar an den Schläfen abschneiden" (25,23), subsumiert (so auch WEISER 413). Kedar scheint - wie Hazor - in diesem Sinne eine Sammelbezeichnung zu sein für „die fernen, als fremdartig empfundenen Wüstenbewohner", so daß keine wesentliche Differenz gegenüber 25,23 und damit auch kein Grund für Unechtheit vorliegt (WEISER 414; ähnlich NÖTSCHER 328). Daß in 25,23 Kedar nicht namentlich aufgeführt sei, weil „der geschichtliche Rahmen hinter der mehr theologischen Konzeption des allgemeinen Völkergerichts zurücktritt" (WEISER 414 Anm. 2), trifft hingegen nicht zu, da die Aufzählung sonst sehr präzis und detailliert ist und - zumindest in ihrer ursprünglichen Form - gerade nicht ein allgemeines Völkergericht, sondern ein Gericht über die konkreten Nachbarn Israels, die von derselben konkreten militärischen Macht bedroht sind, zum Ausdruck bringt (vgl. dazu die Ausführungen zu der Becherperikope, unten S. 350).

254

III. Textanalysen

druck gebracht, daß Nebukadnezar, der von JHWH gesandte Vollstrecker des göttlichen Gerichts, nicht nur die Staaten Syrien-Palästinas mit ihren Städten und festen Siedlungen, sondern auch die gesamte Wüste - von Norden nach Süden! - , Ansässige und Halbansässige und umherziehende Beduinenstämme gleichermaßen, vollständig überrollt. Zu einer neuen Deutung der beiden Sprüche, die hier ausführlich zu diskutieren ist, weil sie auch die Beziehung der beiden Sprüche zueinander in ein bestimmtes Licht stellt, kommt Holladay aufgrund einer anderen Interpretation vor allem von V. 29 und 30. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, daß die Imperfektformen der 3. Pers. PI. in V. 29 sich sowohl auf Kedar als auch auf die in V. 28 direkt angesprochenen Feinde beziehen können: Entweder sind es die Feinde, die den Kedarenern ihre Zelte und Schafe rauben, oder es sind die Kedarener selbst, die ihr Hab und Gut zusammenraffen, um vor dem Feind zu fliehen. Diese Zweideutigkeit, so Holladay, ist intendiert, genauso wie die Zweideutigkeit des Ausdrucks TDDQ ~"C. 7 3 H Von noch weiterreichender Bedeutung ist die Interpretation von V. 30; hier ist es der Ausdruck rQÖ'p ip'OiM, der Holladays Interesse weckt. Wie schon in V. 8 meint Holladay darin einen ironischen Ton zu erkennen, der mit dem Wechsel der Person in den beiden Präpositionen WD'b'J und Crrbi 1 zusammenhängt. Er versteht den Ausdruck nicht als Aufforderung an die seßhaften arabischen Stämme „Hazors", Verstecke aufzusuchen (so die übliche Deutung), sondern als Aufforderung an die Nomaden Kedars, von ihren Kamelen abzusteigen und sich zu den Siedlungen der Seßhaften zu begeben; „Bewohner Hazors" ist deshalb nicht als Vokativ, sondern als Richtungsangabe zu verstehen. Wenn V. 30 sich auf Kedar bezieht, so zerfällt der Text V. 28-31 in zwei gleich große, j e mit d e m Kampfruf beginnende Einheiten V. 28-30 (Kedar = Beduinen) und V. 31 f. (Hazor = Seßhafte). In V. 30 bezieht sich das erste b v (mit d e m Suffix der 2. Pers. PI.) auf die Kedarener, die direkt angesprochen sind, das zweite (mit dem Suffix der 3. Pers. PI.) auf Hazor, so daß die Zusammenstellung der beiden Sprüche eine besondere Pointe beinhaltet: Werden zunächst die Kedarener aufgerufen, vor der feindlichen Invasion zu den seßhaften Stämmen in den weiter südlich gelegenen Wüstengebieten zu fliehen (V. 30), so wird ab V. 31 das Unheil auch diesen angesagt. Das Verb 11] erhält dann - wie viele andere Ausdrücke dieses Abschnitts - doppelten Sinn, da es sowohl als Parallelausdruck zu DI] „fliehen" „wandern" als auch wie in 48,17 „(sein Schicksal) beklagen" bedeuten kann. 7 3 1 Die interessante, den beiden Sprüchen neue Farben verleihende Deutung Holladays steht und fällt mit der Interpretation des Ausdrucks rotzig Ip'piJH in V. 30. Seine Deutung „get down to the dwelling of [...] settled folk" 73 ~ bzw. „get down (from your camels) to the dwelling of sedentary Arabs" 7 3 3 setzt voraus, daß (1) pQÜ hif. hier ein Vollverb im Sinne von „hinabsteigen" bzw. „absteigen (vom Kamel)" darstellt, (2) - T i n [...] "DB1? eine Constructus-Verbindung in der Bedeutung „das Wohnen, d.h. der Wohnort Hazors" 7 3 4 ist, und (3) das b hier nicht die Näherbestimmung des regierenden Verbs mit adverbialer Bedeutung 7 3 5 kennzeichnet, sondern als Richtungs730

731

HOLLADAY II, 3 8 3 .

HOLLADAY II, 383f. 732 Ebd. 382. 733 Ebd. 384. 734 Dabei wäre allerdings anders zu vokalisieren (rQO1?). 735 Vgl. H A L A T 4 8 5 (26.).

7. Kedar und Hazor, Jer

49,28-33

255

angabe fungiert. Alle drei Voraussetzungen sind jedoch grammatikalisch ausgeschlossen: (1) Das Verb pQU hif. kann in verschiedenen Konstruktionen auftreten: Als Vollverb mit einem direkten Objekt bedeutet es „etwas tief machen" (Jes 7,1 1 736 ; 31,6; Hos 5,2 737 ); als Hilfsverb dient es der „örtlichen Charakterisierung einer Handlung" 7 3 8 , wobei ihm zur Bezeichnung der Haupthandlung entweder ein weiteres Verb mit b und inf. es. (Jes 29,15) oder asyndetisch ein finites Verb (Jes 30,33; Hos 9,9) beigefügt wird. 739 In Jer 49,8 liegt eindeutig die Konstruktion mit b und inf. es. vor, 740 was als Indiz dafür zu werten ist, daß der wörtlich gleiche Ausdruck auch hier so zu verstehen und !"QD deshalb als inf. es. von 323'' zu interpretieren ist. Daraus wiederum folgt, daß pQD hif. als Hilfsverb der Haupthandlung „sich setzen, sitzen, wohnen" im Sinne einer adverbialen Näherbestimmung zugefügt ist: wörtlich „macht tief das Sitzen" bzw. „setzt euch in die Tiefe" 7 4 1 ; der folgende Ausdruck T K n 'DET kann damit nur als Vokativ verstanden werden. Außerdem kann pDU hif. nicht die intransitive Bedeutung „hinabsteigen" oder „(vom Reittier) absteigen" annehmen; das hif. drückt sowohl beim Voll- wie beim Hilfsverb den kausativen Aspekt („veranlassen, daß etwas tief wird") aus. Für „(hin-) absteigen" bzw. „-gehen" kennt das Hebräische andere Ausdrücke ( T T 13,18; 48,18). (2) Wenn pOU Hilfsverb ist, kann der folgende inf. es. von DilT nicht die Bedeutung „Wohnort" haben. Zwar ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß das Verbalnomen PCB dieser Bedeutungsnuance nahekommt (möglich etwa in IlSam 7,5; Jes 45,18; Ob 3; IChr 17,4), doch wird dies gewöhnlich dadurch zum Ausdruck gebracht, daß der inf. es. mit einem entsprechenden nomen regens verbunden wird (^FOti EipO IReg 8,30; IlChr 6,21 u.ö.; ^ t C 1 ? Ex 15,17 u.ö.). An einer Stelle, wo inhaltlich die Bedeutung „Wohnort" sinnvoll wäre (Dtn 13,13, vgl. IIReg 17,25), wird sie durch die Konstruktion gerade ausgeschlossen: das auf den inf. es. folgende DE) legt diesen eindeutig auf eine verbale Funktion „(eine Stadt, die JHWH, dein Gott, dir gibt, dort) zu wohnen" (nicht: „... als Wohnort") fest. Schließlich ist die Streichung des folgenden nomen regens 'Dtp'' willkürlich und im Blick auf die Parallele in V. 8 nicht angezeigt. Bleibt es aber stehen, ist die Konstruktion „der Wohnort der Bewohner Hazors" als einzigartige und stilistisch schlechte Tautologie vollends unmöglich, so daß die Constructus-Verbindung nur als Vokativ zu verstehen ist. (3) Unabhängig von den beiden bisher erwogenen Argumenten trifft auch die dritte Annahme Holladays nicht zu: Selbst wenn pOU als Vollverb die Bedeutung „hinabgehen" haben könnte, so wäre die Präposition b im klassischen Hebräisch nicht geeignet, um eine Richtung anzugeben; in freien, d.h. nicht-idiomatischen Verbindungen 736 n*7XS? pOITI ist nach der LXX und weiteren Versionen zu korrigieren in rfpSiÖ p O i H „tief in der Unterwelt", in Opposition zur Fortsetzung 113311 „oder hoch in der Höhe" (WILDBERGER, Jesaja I, 264.267; JM §123r: Der inf. abs. einer anderen Wurzel wird als Fortsetzung eines Verbs in adverbialer Bedeutung verwendet: „making it as deep as Sheol..."). (Der Verweis auf Jes 7,14 in HALAT 801 ist ein Druckfehler und bezieht sich auf diese Stelle.) 737 In diesem Falle steht Ip'QJpil asyndetisch als Relativsatz zum vorhergehenden iltpnö (QFIE)

cj.), vgl. WOLFF, H o s e a 119. 738

HALAT 801. Zu p o ^ hif. mit b und inf. es. s. GK §114n, 120g, mit finitem Verb GK §120d.g, JM §123r, G B 601, ZORELL, Lexicon 610 („ad profundum locum confugite"). 740 So auch HOLLADAY II, 370 mit verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, s. ebd. 375. 741 So HOLLADAY auch noch in Concise Hebrew and Aramaic Lexicon 276f.: „dwell in the depths". 739

III. Textanalysen

256

tritt sie im direktionalen Sinn erst in chronistischer Sprache auf, wo sie einen Aramaismus darstellt. 742 Es kommt weiter hinzu, daß der von Holladay angenommene Doppelsinn von V. 29, vor allem im zweiten Kolon, gezwungen wirkt: Der Satz Dil1? "XÜ" c r r ^ c ; kann schwerlich anders verstanden werden als „ihre Kamele nehmen sie sich" (im Sinne von „wegnehmen, rauben", so LXX XrpyovTai eauxoiq) bzw. „ihre Kamele nehmen sie ihnen" (mit privativem *?743). Ebenso wenig überzeugt die These, der Ruf "TOD D'DOQ stamme aus dem Mund der Kedarener und richte sich an ihre Kamele; 744 vielmehr sind es die Feinde, die über den Kedarenern das Kriegsgeschrei erheben, das mit jenem Ausdruck formelhaft bezeichnet wird. 745 Während V. 29a vielleicht als zweideutig aufgefaßt werden kann - wenngleich das „Nehmen" (T\pb) von Gütern im Anschluß an den Aufruf zu einem militärischen Überfall im Grunde wenig Interpretationsspielraum läßt - , so liegt doch in V. 29b eindeutig eine Verengung in Richtung Eindeutigkeit vor, so daß es methodisch sorgfältiger ist, die zweideutigen Aussagen von den eindeutigen her zu verstehen, als umgekehrt letztere durch semantisch und syntaktisch schwierige Operationen ersteren anzupassen. So befriedigend es wäre, zwei gleich lange und genau gleich beginnende Sprüche zu rekonstruieren, die durch bewußte Zweideutigkeit farbig gestaltet sind und deren Abfolge bissige Ironie zum Ausdruck bringt, so wenig vermag die zu dieser Deutung führende Analyse zu überzeugen. Der Prophet hat offenbar zwei ähnliche und doch unterschiedliche Sprüche verfaßt, und es besteht kein Anlaß, die Unterschiede zu verwischen bzw. die Ähnlichkeiten auf Kosten jener zu stark zu betonen.

8. E l a m , Jer 4 9 , 3 4 - 3 9 / 2 5 , 1 4 - 1 9 Der Spruch über Elam schließt in der masoretischen Textform als letzte Einheit das aus mehreren relativ kurzen Sprüchen bestehende Kapitel 4 9 ab, bevor in Kapitel 50f. die umfangreiche Babel-Sammlung folgt; in der alexandrinischen Textform dagegen eröffnet sie die ganze Sammlung. D i e kurze Einheit, die sich auf das östlich von Babylonien, nördlich des Persischen Golfes angesiedelte Volk bezieht, fällt aus mehreren Gründen ganz aus dem Rahmen der bisher behandelten Sprüche und Gedichte. (1) Der Elam-Spruch enthält in V. 34 eine eigene Überschrift, die formal derjenigen entspricht, die in 46,1 über das ganze Kopurs der Völkersprüche gesetzt ist und auch den Philisterspruch in 47,1 einleitet. Letzterer steht sie auch dadurch nahe, daß ebenfalls auf die eigentliche Einleitungsformel („Was als Wort JHWHs an Jeremia erging über...") 7 4 6 eine zeitliche Näherbestimmung folgt, wobei 4 9 , 3 4 durch den Bezug auf Zedekia eine Verknüpfung mit 742

Vgl. JENNI, Jer 3,17 „nach Jerusalem". Einige grammatikalische Hinweise verdanke ich

Herrn Prof. E. JENNI. 743 744

Vgl. HALAT 483 (5.) „von ... weg". HOLLADAY II, 3 8 3 .

Es ist zu erwägen, ob rrnoD -mo Drri?r 1X~1[5 auch mit „sie rufen gegen sie Schrecken von allen Seiten herbei" übersetzt werden könnte (zu „herbeirufen" vgl. HALAT 1053). 746 Zur Formel s. unten Kp. V.2.

8. Elam, Jer

49,34-39

257

der Chronologie Judas vornimmt. Durch die eigene Überschrift ist die Einheit gegenüber dem Vorhergehenden deutlicher abgesetzt, als dies durch die einfache Form mit dem lamed inscriptionis bei den anderen Sprüchen der Fall ist, und durch die Datierungsangabe ist sie außerdem in einen chronologischen Rahmen gestellt, der den anderen Völkersprüchen mit Ausnahme der beiden Ägypten-Gedichte (46,2.13) in dieser expliziten Form vollständig abgeht. Auf diese Weise kommt dem Elam-Spruch im MT scheinbar ein Gewicht zu, das demjenigen Ägyptens entspricht, und ebenso in der LXX durch die herausragende Frontstellung in nächster Nähe mit den beiden Großmächten Ägypten und Babylonien. (2) Dieses Gewicht steht allerdings in keinem Verhältnis zur Bedeutung Elams für Israel und insbesondere Juda in der Zeit der babylonischen Bedrohung und Oberherrschaft. Anders als alle bisher behandelten Völker muß Elam nicht nur damals, sondern zu allen Zeiten ganz am Rand des Horizontes Israels gelegen haben. 747 Mit Elam hatte Juda nach Ausweis der Quellen zu keiner Zeit irgendwelche politischen oder sonstigen Beziehungen, auch nicht in der Krisensituation vor dem Ende der Staatlichkeit. Daß ein Völkerspruch sich auf ein derart entferntes, nicht nur geographisch abgelegenes Volk namentlich bezieht, ist neben den anderen Sprüchen, die sich an die mehr oder weniger direkten Nachbarn richten, mit denen Israel während Jahrhunderten und im Blick auf die babylonische Bedrohung im besonderen Maß - seine Geschichte und sein Schicksal in der einen oder anderen Form teilte, zumindest auffällig. (3) Eine merkwürdige Koinzidenz zu dieser besonderen Thematik des Elam-Spruches, die nicht auf bloßem Zufall beruhen wird, liegt in der einzigartigen Form und im besonderen Stil der Einheit. Gegenüber der Vielzahl und der Vielfältigkeit der verwendeten Formen und der Lebhaftigkeit der anderen Völkersprüche fällt ihre völlig andere Gestaltung sofort auf. Im ganzen Spruch findet sich nur eine einzige Ausdrucksform, nämlich die Unheilsankündigung, die von JHWH selbst in der 1. Pers. ausgesprochen wird. In jedem einzelnen Vers ist das „Ich" JHWHs explizit ausgedrückt, während von Elam immer in der 3. Pers. die Rede ist, in jedem Vers einmal, 748 und zwar stereotyp als Ü ^ S , ohne daß dafür zur Abwechslung einmal eine elamische Stadt, eine Gegend oder sonst ein Name metonymisch verwendet würde. Nicht ein einziges Mal kommen Elamiter selbst zu Wort oder werden Menschen zur Flucht aufgerufen, nirgends spiegelt sich z.B., wie das in anderen Texten als eindrückliches gestalterisches Element eingesetzt ist, der Schrekken in den Gesichtern der von der Katastrophe Heimgesuchten. Weiter fällt auf, daß der Text auch in formaler Hinsicht ganz anders gebaut ist. Konnten in 747 Zur Geschichte Elams s. GÖRG, Elam 508-510, HERRMANN, Elam und Israel 491-493, HINZ, Elam. 748 In V. 36 fordert das Q e re, das letzte Wort statt C'jiU ebenfalls G'TSJ ZU lesen, so daß der Name in diesem Vers noch ein zweites Mal vorkommt.

258

III.

Textanalysen

den bisher untersuchten Texten ungezwungen durch Parallelismen verbundene Kola mit Metrum und Rhythmus erkannt werden, die sich zu poetisch gestalteten Versen zusammenfügen, so will dies beim Elam-Spruch nicht gelingen. Ein einziger Vers ist als Parallelismus mit 4+2 Akzenten gestaltet (V. 35, eingeleitet mit + Partizip), 749 während in der Folge sieben Verbalsätze mit Perfecta consecutiva und, mit einer eigenen futurischen Formel versehen, ein Verbalsatz mit einer Imperfektform (V. 39) aneinander gereiht sind, die nicht metrisch zu lesen sind. Zwar ist der Text durch zahlreiche Bilder für das über Elam ergehende Unheil sorgfältig gestaltet, doch hebt er sich von der jeremianischen Poesie in ihrer knappen Prägnanz, mit ihren Wort- und Klangspielen, dem häufigen unvermittelten Wechsel von Perspektive und Ausdrucksform, der raffinierten Mischung von Implizierung und Explizierung deutlich ab. Wenn die anderen Texte des Komplexes der Völkersprüche als Maßstab dafür dienen können, wie hebräische bzw. jeremianische Poesie aussieht, so muß der Elam-Spruch demgegenüber wohl als gehobene Prosa bezeichnet werden. 750 (4) Schließlich endet der Elam-Spruch - wie andere Sprüche auch (46,26b; 48,47; 49,6) - mit einer offenbar sekundären Heilsverheißung, welche die vorhergehende harte und ausschließliche Unheilsansage relativiert bzw. deren Geltung zeitlich begrenzt. Das Besondere liegt hier jedoch darin, daß dies die einzige Heilsverheißung im Völkerspruchkomplex des Jeremiabuches ist, welche nicht nur die masoretische, sondern auch die alexandrinische Textform bietet. a) Der Text Die alexandrinische und die masoretische Textform weichen im ElamSpruch, wie nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Stellung im Ganzen des Völkerspruchkomplexes zu erwarten ist, an einzelnen Stellen signifikant voneinander ab. In beiden Textformen ist zwar die Einheit mit einer Überschrift versehen; diese lautet allerdings unterschiedlich. Am auffälligsten ist

749 Gegen CORNILL 488 und VOLZ 4 2 2 ist es ausgeschlossen, hier eine Qina mit 3 + 2 Akzenten zu sehen: Wenn auf die Constructus-Verbindung im zweiten Kolon zwei Akzente fallen, sind es konsequenterweise im ersten Kolon deren vier; zieht man dagegen die Constructus-Verbindung im ersten Kolon zu einem Akzent zusammen, so daß es deren drei hat, so bleibt für das zweite Kolon nur ein einziger Akzent. Damit ergibt sich ein Metrum 4 + 2 oder 3+1, aber keine Qina. 750 Im Sinne der These H. WEIPPERTS, die allerdings in einem anderen Zusammenhang, dem Verhältnis der nichtbiographischen Prosaüberlieferung (MOWINCKELS Quelle C) zu den poetischen Teilen des Buches, steht, könnte hier allenfalls von einer Form von „Kunstprosa" gesprochen werden; deren Kennzeichen sind poetische Wendungen in entmetrisierter Form (Prosareden 78; vgl. schon HOLLADAY, Prototype and Copies 233: „formal prose").

8. Elam, Jer

49,34-39

259

jedoch, daß der Synchronismus V. 34b in der LXX von der Überschrift getrennt am Ende des Textes nachgetragen ist (LXX Z 26,1 / LXX R 25,20). 751 Die übrigen Unterschiede sind relativ gering und bewegen sich im gewohnten Rahmen. Neben der einzigen JHWH-Spruchformel, die beiden Textformen gemeinsam ist, finden sich im MT deren zwei zusätzlich in V. 37 und 38, im ersten Fall in der Versmitte, im zweiten als Schlußformel. Auch das Epithet ist in der Botenformel, die den Spruch eröffnet (V. 35), im MT wie gewohnt hinzugefügt. Das über die LXX hinausgehende ^S1?] in V. 37aa dürfte ebenfalls im MT in Analogie zum vorhergehenden ergänzt sein. 752 Bei dem umgekehrt in der LXX über den MT hinausgehenden Possessivpronomen |j.ou nach |j.djcoapa D"in im selben Vers muß unsicher bleiben, ob es (wie in 46,10) im MT ausgefallen oder in der LXX sinngemäß ergänzt worden ist; ebenso ist nicht sicher festzustellen, ob der Übersetzer im selben Vers das c'TIJ seiner Vorlage zu einem Pronomen aufgelöst hat - vielleicht weil er die Monotonie der stereotypen Nennung Elams empfand - oder ob umgekehrt der MT eine ältere Fassung (•^Finni) durch die ausdrückliche Nennung Elams verdeutlicht hat. Die merkwürdige Wiedergabe von MT DtSQ , n"nxn') (V. 38b) durch Kai eqanoaxeXm ¿Ketöev schließlich dürfte sich innergriechischer Textverderbnis verdanken; hier ist die Verbform wohl durch Buchstabenvertauschung aus e^anokeaco entstanden, wodurch dann um der Aussage willen ebenfalls ¿ K E I in E K E I G E V geändert werden mußte. 753 b) Struktur und Inhalt des

Elam-Spruches

Der Elam-Spruch ist nach der Überschrift mit der Botenformel versehen. Eröffnet wird er in V. 35 durch ein kurzes poetisches Wort mit zwei parallelen Gliedern, dem eine lange Sequenz von sieben Verbalsätzen mit jeweils einer Verbalform mit VPerfekt folgt. Unterbrochen wird diese Sequenz lediglich einmal, weil die Negation statt des 1-Perfekts das Imperfekt fordert (V. 36). Die Heilsverheißung in V. 39 setzt sich von dieser Perfekt-Kette ab, indem sie durch die futurische Formel •1Q'iil rTHDiO ITH] neu eingeleitet und entsprechend mit Imperfekt fortgesetzt wird. Die Elam-Einheit ist straff durchkomponiert und - mit Ausnahme von V. 39, dies jedoch weniger aus formalen als aus inhaltlichen Gründen - offenbar aus einem Guß. Die einleitende Formel "D® ist charakteristisch für den

751 Zu den beiden Überschriften sowie der Unterschrift der alexandrinischen Textform s. ausführlich unten Kp. V. 752

753

V g l . JANZEN, Studies 4 2 .

Vgl. RUDOLPH, BHS z.St. Allerdings ist die Interpretation der LXX nicht unsinnig, sondern im Kontext durchaus passend: „Ich werde meinen Thron in Elam aufrichten und dorthin Könige und Vornehme senden", d.h. fremde, nicht-elamische Herrscher übernehmen in JHWHs Auftrag in Elam die Macht. Eine absichtliche oder unabsichtliche Veränderung der hebräischen Vorlage, die in diesem Fall ilQtÖ TllYptpi gelautet haben müßte, ist jedoch kaum wahrscheinlich.

260

III.

Textanalysen

Ankündigungsstil und im Jeremiabuch ausgesprochen häufig, 754 Die darauf folgenden sieben Sätze mit I-Perfekt-Formen, in denen JHWH in der 1. Person spricht, kündigen das über Elam kommende Unheil an. V. 35 verwendet das Bild des Bogens, in welchem Elams Stärke liegt; wenn JHWH den Bogen zerbricht, nimmt er Elam seine Hauptstärke (¡TÖNI seine stärkste Waffe. Der „Bogen" Elams ist offenbar ein Topos (vgl. Jes 22,6; ähnlich 46,10 von Söldnern in der ägyptischen Armee, u.ö.) und im ganzen Elam-Spruch die einzige Information, die minimale Kenntnis Elams zu verraten scheint. Allerdings ist es fraglich, ob das Bild deshalb gewählt wurde, weil es zu den als gute Bogenschützen bekannten Elamitern besonders gut paßte, 755 da es offenbar mit ganz verschiedenen Bezügen und auch ganz unspezifisch eingesetzt wird (z.B. auch bezogen auf Israel: Hos 1,5; allgemein: ISam 2,4; Hos 2,20; Sach 9,10; Ps 46,10; 76,4). 756 Im Vergleich mit der intimen Kenntnis Ägyptens, die in 46,3ff.l4ff. sowohl in bezug auf Geographie wie Ideologie zum Ausdruck kommt, oder auch Moabs, Ammons und Edoms fällt die Allgemeinheit und Blässe des Elam-Spruches besonders auf. V. 36 entfaltet das Unheil Elams in kosmischen Dimensionen: Von den vier Enden der Erde kommen vier Winde gegen Elam, so daß die Elamiter in alle Windrichtungen zerstreut werden. An diesem Bild ist in stilistischer Hinsicht die Umkehrung interessant: Von vier Richtungen her blasen die Winde, gegen vier Richtungen hin werden die Elamiter zerstreut. Diese kosmische, beinahe mythische 757 Dimension selbst ist allerdings unjeremianisch; der Prophet rechnet mit einem konkreten „Feind aus dem Norden" und spricht bestenfalls - jedoch im übertragenen Sinn, nicht ausdrücklich auf die Himmelsrichtungen bezogen - von einem „Schrecken von allen Seiten" (TDOO TU? 6,25; 46,5; 49,29; ^ n u p - ^ Q i n s 49,5; vgl. auch die jeremianische Fassung von V. 36ay in 49,32aß). 758 Die vier Windrichtungen sind dagegen typisch im Zusammenhang mit dem Exil als Kennzeichnung einerseits der weiten Zerstreuung (Sach 2,10), andererseits der Wiederbelebung Israels (Ez 37,9) sowie in der Apokalyptik als Bezeichnung für die Universalität der eschatologischen Ereignisse (Sach 6,5; Dan 8,8; 11,4). 759 V. 36b unterstreicht die Vollständig754

Vgl. oben S. 121 Anm. 212. Allerdings ist die Formel möglicherweise erst im prämasoretischen Text eingefügt worden; die LXX liest stattdessen eine finite Verbform (ouvTplßf|T(D). 755 Diese Verbindung findet sich bei den meisten Exegeten stereotyp; vgl. etwa HITZIG 374, VON O R E L L I 1 9 9 , C O N D A M I N 3 2 6 , R U D O L P H 2 9 6 ( m i t H i n w e i s a u f L i v i u s 3 7 , 2 7 ) , W E I S E R 4 1 7

Anm. 2 . 756 So auch GRAF 576. Z u m Motiv vgl. BACH, Der Bogen zerbricht 13-18; zur überlieferungsgeschichtlichen Herkunft des Bildes aus der Tradition der Jahwekriege, die durch die Prophetie vermittelt wurde, ebd. 18-22. 757

758

S o WEISER 4 1 7 .

Vgl. unten S. 290. 759 Auch in „technischen" Kontexten tritt der Ausdruck nim~l ¡J3~li< erst exilisch und nachexilisch auf (Ez 42,20; IChr 9,24). Interessant, wenn auch nicht deutbar ist die Beobachtung, daß sich die Vision Daniels vom Widder und vom Ziegenbock (Dan 8), in welcher jener Ausdruck vorkommt (V. 8), ausgerechnet in Elam abspielt (V. 2).

8. Elam, Jer

49,34-39

261

keit und die weltweite Dimension zusätzlich durch den Hinweis darauf, daß es kein Volk geben werde, in welches nicht aus Elam 760 Vertriebene gelangen werden.761 V. 37 entfaltet das Unheil weiter in geläufigen Wendungen, während die Vorstellung, daß JHWH in Elam seinen Thron aufrichtet (V. 38a), singulär ist. Wenn ein feindlicher Eroberer seinen Thron in einem Gebiet aufstellt, ist dies ein Zeichen dafür, daß er dieses unterworfen hat und die Herrschaft übernimmt (vgl. 1,15 vom „Feind aus dem Norden", der seinen Thron vor den Toren Jerusalems aufrichtet, und 43,10 von Nebukadnezar in Ägypten). Daß JHWHs Thron der Himmel ist (Ps 11,4; 103,19; Jes 66,1) und daß er umgekehrt den Thron anderer zu Boden stürzt (Ps 89,45), ist Ausdruck seiner Herrschaft und Gewalt über alles. So ist auch V. 38 zu verstehen, dessen zweite Hälfte die Verfügungsgewalt JHWHs über Elam dadurch unterstreicht, daß JHWH den König und die Notablen ausrottet.762 Diese besondere Hervorhebung, daß JHWH selbst seinen eigenen Thron in Elam aufrichtet, ist auffällig, nachdem im vorhergehenden Vers von den „Feinden" Elams (Di-PTN) und denen, „die ihnen nach dem Leben trachten" (DÖS] 'töpDO), die Rede war und ein Anschluß im Sinne von 1,15 durchaus nahegelegen hätte; sie geht über Jeremias Formulierungsweise, obwohl auch er hinter dem Feind als eigentlichen Urheber und Verursacher des Unheils JHWH erkennt, weit hinaus. Die straffe und einheitliche Stilisierung der Unheilsankündigung als JHWH-Rede mit ausschließlich 1-Perfekt-Formen der 1. Pers. Sg. hat hier zu einem neuen Akzent gegenüber der ursprünglichen jeremianischen Motivik und Thematik geführt.763

760 D a s Q e r e verlangt, anstelle des K e tibs C'PII? auch hier Eb'S ZU lesen, w a s auch die L X X bietet. E s wird sich u m einen Schreibfehler (Verwechslung von 1 und m ö g l i c h e r w e i s e beeinflußt durch W e n d u n g e n wie V. 13 u.ä.) handeln oder aber u m eine b e w u ß t e Ä n d e r u n g , w e l c h e das Gericht ü b e r E l a m unter A n s p i e l u n g auf die lautliche N ä h e zu 0*711? - ähnlich w i e die Spiele mit den N a m e n israelitischer Orte in Mi 1,1 Off. - noch verschärft („auf ewig Vertriebene"). 761 L und L X X lesen hier ü b e r e i n s t i m m e n d die S i n g u l a r f o r m KID', w ä h r e n d S y m m a c h u s , Targ u m , Vulgata, Peschitta und m e h r e r e masoretische H a n d s c h r i f t e n den Plural bieten, w a s eigentlich zu erwarten wäre. Es wird sich u m eine f r ü h e Textverderbnis in der g e m e i n s a m e n Vorlage von M T und LXX handeln (Buchstabenvertauschung 1SD' > X1D'), die von den H a n d s c h r i f t e n und Versionen korrigiert wird (vgl. VOLZ, Studien 323). 'ian wird von der L X X und v o m Targ u m o h n e Artikel gelesen; es m a g sich im M T u m Dittographie handeln (EHRLICH, R a n d g l o s sen 362, VOLZ, Studien 323, RUDOLPH 294), w o b e i in der S a c h e kein Unterschied besteht („kein Volk wird s e i n . . . " / „das Volk wird nicht sein = wird es nicht g e b e n . . . " ) . 762 D e r M T und die L X X lesen ü b e r e i n s t i m m e n d den „ K ö n i g " im Singular, die „ N o t a b l e n " i m Plural. Von den Versionen lesen einige in beiden Fällen Plural (Vulgata, Peschitta) oder in beiden Fällen Singular (Targum). HOLLADAY II, 387 n i m m t an, d a ß hier ursprünglich w i e in 25,25 „ K ö n i g von E l a m " gestanden habe, w a s nach 4,9 u . a . erweitert worden sei. Allerdings gibt der Text w e d e r inhaltlich noch von seiner Ü b e r l i e f e r u n g her Anlaß, an der Ursprünglichkeit der W e n d u n g zu zweifeln. D i e Verbindung C"1iö1 " ^ B ist wohl eine geläufige (vgl. H o s 13,10), die in verschiedenen Varianten gebräuchlich war. 763 EHRLICH versucht den auffälligen Unterschied g e g e n ü b e r der j e r e m i a n i s c h e n A u s d r u c k s w e i s e vergeblich auf textkritischem Weg zu beseitigen, i n d e m er - o h n e j e g l i c h e n A n h a l t im

262 c) Herkunft und Horizont des

III. Textanalysen

Elam-Spruches

Der Elam-Spruch bezieht sich auf ein Volk, das am Rande des israelitischjudäischen Horizontes liegt; es ist deshalb kein Zufall, daß die biblische Tradition von diesem so gut wie nichts auszusagen weiß. Neben der Erwähnung in der Völkertafel, wo Elam als erster Sohn Sems neben Assur, Arpachschad, Lud und A r a m steht (Gen 10,22; IChr 1,17), kennt die Vätergeschichte einen Kedor-Laomer, König von Elam, dessen Herrschaft sich einst bis Sodom, Gomorra, Adma, Zebojim und Zoar erstreckt haben soll (Gen 14,lff.). In einem Aufruf zum Kampf tritt Elam in einem gegen Babel gerichteten Völkerspruch auf (Jes 21,2), daneben auch in einer auf Jerusalem bezogenen Unheilsankündigung (Jes 22,6). Während die letztere Stelle wahrscheinlich aus der Zeit der assyrischen Bedrohung Jerusalems stammt und elamische Soldaten als Hilfskontigente des assyrischen Heeres sieht, 7 6 4 rechnet ersterer, wenn von Elam in demselben Sinn die Rede ist, offenbar mit einem Angriff der Perser auf Babel, so daß der Spruch in die Zeit Deuterojesajas zu datieren ist. 7 6 5 A m Ende der Becherperikope wird Elam in der Gruppe aufgeführt, die durch die pauschalisierende Wendung „alle Könige von . . . " gekennzeichnet ist (Jer 25,25). Ein weiterer Spruch ist Elam in Ez 32,24f. gewidmet; dieser sieht Elam als tote Macht in der Unterwelt. Der Spruch ist ebenso allgemein gehalten und gibt genauso wenig Kenntnis des elamischen Volkes zu erkennen wie der Elam-Spruch des Jeremiabuches; der von Elam ausgehende „Schrecken" (ITrin) ist wohl ein ähnlicher Topos wie der „ B o g e n " in V. 35, der allenfalls das Wissen u m elamische Hilfskontigente in anderen Armeen erkennen läßt, wahrscheinlich jedoch längst zu einer Redensart erstarrt ist. Jes 11,11 kennt Elam als eines der Länder, wo Exilierte sich aufhalten, 7 6 6 Esr 4,9 nennt umgekehrt von den Assyrern deportierte Elamiter in Samaria. 7 6 7 Für das Buch Daniel schließlich ist Elam Teil Persiens mit der Hauptstadt Susa (Dan 8,2), wo auch die Geschichte des Buches Esther spielt (Est 1,2 u.ö.) und die Tätigkeit Nehemias ihren Anfang nimmt (Neh 1,1). Von direkten militärischen oder sonstigen Kontakten und Auseinandersetzungen Israels und Judas weiß das Alte Testament - von den erwähnten elamischen HilfsMT, in der LXX oder den Versionen — emendiert zu •"TD KD? 'nbitfrn „und ich will den Thron Elams unbesetzt lassen" (Randglossen 363). 764 Vgl. WILDBERGER, Jesaja II, 812.818f.773, HERRMANN, Elam und Israel 492, DONNER, Israel unter den Völkern 126-132. 765 Vgl. WILDBERGER, Jesaja II, 773f., HERRMANN, Elam und Israel 492. Dies paßt zur Information der Babylonischen Chronik, daß im Jahr 540 elamische Truppen gegen Uruk vorgestoßen sind (vgl. WISEMAN, Babylonian Chronicles 36). 766 D e r Abschnitt Jes 11,11-16, der in V. l l f . die Heimkehr der Gola thematisiert, wird gewöhnlich für jünger als Jeremia, Ezechiel und Deuterojesaja gehalten, aber älter als Deuterosacharja, mit dem er einige Gemeinsamkeiten aufweist; die Rückkehr hat offensichtlich bereits eingesetzt (vgl. V. 11 I T ITKÖ 'ili? ^"OV) (WILDBERGER, Jesaja I, 466f.). Die Liste der Völker, aus denen JHWH den „Rest seines Volkes" loskauft, ist mit ihren teilweise archaischen Namen wahrscheinlich sekundär (vgl. ebd. 468f.). Dennoch ist es nicht zweifelhaft, daß in Elam seit alter Zeit Diasporajuden lebten; das in Esr 2,7.31; 8,7; 10,2.26; Neh 7,12.34; 12,42 unter den Heimkehrern genannte Geschlecht Elam trägt seinen Namen zweifellos nach seinem ehemaligen Wohnsitz (vgl. ebd. 469; RUDOLPH, Esra/Nehemia/3. Esra 20). 767 Elam wurde von den Assyrern in zwei Feldzügen in den Jahren 647 und 646 erobert; die Hauptstadt Susa (]tÖ1tO) fiel im Jahre 646. Dabei wurde das Land stark verwüstet, und Assurbanipal nahm Zwangsumsiedlungen vor (vgl. HINZ, Elam 130f.).

8. Elam, Jer 49,34-39

263

truppen in der assyrischen Armee abgesehen - nichts zu berichten. Die Texte geben, wenn nicht der von Elam ausgehende „Schrecken" von Ez 32,35 eine Reminiszenz darstellt, nicht zu erkennen, daß man in Israel und Juda um die einstige Bedeutung der Großmacht wußte, die während längerer Zeit im 3. und 2. Jahrtausend v.Chr. die Oberhoheit über Mesopotamien innehatte und die benachbarten Großmächte Babylonien und Assyrien im Westen sowie Meder und Perser im Osten in Atem zu halten und immer wieder zu neuem Kräftemessen herauszufordern wußte.

Daß der Elam-Spruch von Jeremia stammt, ist äußerst unwahrscheinlich. Zwar zwingt die auffällige Gestaltung des Spruches, die im Komplex der Völkersprüche des Jeremiabuches ohne Parallele ist, für sich genommen nicht zu diesem Urteil; aus den übrigen Völkersprüchen einen jeremianischen Stil herauszuarbeiten, den Jeremia ohne Ausnahme und unter allen Umständen gepflegt haben müßte, bedeutete eine unzulässige Verkürzung und Einengung der prophetischen wie der dichterischen Freiheit. 768 Auch die Tatsache, daß Elam dadurch aus der Reihe springt, daß es sich dabei nicht um ein Nachbarvolk handelt, sondern um ein Volk am Rand der bewohnten und bekannten Welt, im äußersten Osten, noch jenseits Babylons, spricht nicht an sich gegen Jeremia, solange nicht geklärt ist, welches die Funktion der Völkersprüche im allgemeinen und des Elam-Spruches im besonderen ist. Hingegen sind die festgestellten inhaltlichen und theologischen Akzentverschiebungen, die gegenüber den jeremianischen Völkersprüchen einerseits eine starke Vergröberung, andererseits eine markante Weiterentwicklung darstellen, schlecht beim Propheten selbst anzusetzen. Dies gilt selbst dann, wenn der ElamSpruch zu einem anderen Zeitpunkt entstanden sein sollte als die übrigen Völkersprüche, wie es die Überschrift in V. 34 zu suggerieren scheint. Allerdings ist nicht deutlich, wogegen diese sich genau absetzt, da von den übrigen Texten nur die Überschriften der beiden Ägypten-Gedichte und des PhilisterSpruches sowie der Sprüche über Kedar und Hazor Datierungsangaben enthalten; diese nennen (außer 47,1, wo ein terminus ad quem formuliert ist) zudem nicht den Zeitpunkt der Abfassung, sondern den historischen Bezug der Texte. 769 Da mit guten Gründen davon auszugehen ist, daß die jeremianischen

768

Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 41f. Die Konstruktion RUDOLPHS (265), wonach die Völkersprüche aufgrund der verschiedenen Zeitangaben in drei Teile (46,1-49,33 aus dem 4. Jahr Jojakims, 49,34-39 aus dem Antrittsjahr Zedekias, 50,1-51,64 aus dem 4. Jahr Zedekias) zerfallen, ist nur dadurch zu begründen, daß die auf das erste Ägypten-Gedicht bezogene Datierungsangabe 46,2 in V. 1 wiederholt wird (ebd. 268). Allerdings ist die Annahme, daß die Zeitangabe dort gestrichen worden sei, weil zwei identische Datierungen so kurz hintereinander unnötig erschienen (ebd.), nicht gerade naheliegend. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Tradenten nur gerade für die oben genannten Gedichte und Sprüche den zeitgeschichtlichen Hintergrund zu benennen wußten oder - aus welchem Grund auch immer - benennen wollten oder zu benennen für nötig befanden, wobei ungewiß bleiben muß, ob sie diesen Hintergrund jeweils aus dem Inhalt der Texte erschlossen oder ob sie über davon unabhängige Informationen verfügten. Daß die jeremianischen Völkersprüche in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit der Schlacht von Karkemisch stehen bzw. thematisch in das durch die Babylonier geprägte zeitgeschicht769

264

III.

Textanalysen

V ö l k e r s p r ü c h e z u m Teil vor (46,2-12; 47,1-6), z u m Teil aber a u c h n o c h n a c h dem Regierungsantritt Zedekias verfaßt wurden (46,14-24), kann jedenfalls d i e Ü b e r s c h r i f t in 4 9 , 3 4 m i t ihrer b e s o n d e r e n D a t i e r u n g n i c h t als

Erklärung

d a f ü r dienen, w e s h a l b der E l a m - S p r u c h sich in inhaltlicher u n d f o r m a l e r H i n sicht derart stark von den übrigen Völkersprüchen Jeremias unterscheidet. G e l e g e n t l i c h w i r d v e r s u c h t , d i e f o r m a l e n u n d i n h a l t l i c h e n S c h w i e r i g k e i t e n a u f literarkritischem Weg zu lösen. So bezeichnet etwa R u d o l p h neben der Heilsverheißung f ü r E l a m a u c h f o l g e n d e V e r s e b z w . V e r s t e i l e als s e k u n d ä r e Z u s ä t z e : V. 3 7 b sei als Vers c h ä r f u n g d e r D r o h u n g a u s 9 , 1 5 e i n g e f ü g t , V. 3 6 a y ( „ i c h z e r s t r e u e sie in alle d i e s e W i n d e " ) , d e r m e t r i s c h n i c h t u n t e r z u b r i n g e n u n d s a c h l i c h g e g e n ü b e r V. 3 7 f . v e r f r ü h t sei, s t a m m e a u s V. 3 2 , u n d d a s G a n z e sei d u r c h d e n ü b e r t r e i b e n d e n S a t z V. 3 6 b z u s ä t z l i c h v e r s t ä r k t . 7 7 0 D i e s e A r g u m e n t a t i o n b e s t ä t i g t nur, w i e s t a r k d e r E l a m - S p r u c h sich von den anderen Texten unterscheidet; die H e r a u s l ö s u n g einzelner E l e m e n t e , u m d a d u r c h e i n e m e t r i s c h e S t r u k t u r zu g e w i n n e n , ist j e d o c h w e d e r a u s i n h a l t l i c h e n n o c h a u s f o r m a l e n G r ü n d e n g e r e c h t f e r t i g t . 7 7 1 A u ß e r d e m ist s e l b s t n a c h e i n e r K ü r z u n g d e s Textes nicht zu bestreiten, daß dieser sich f o r m a l noch i m m e r von allen anderen Völk e r s p r ü c h e n J e r e m i a s w e s e n t l i c h a b h e b t , s o d a ß w e n i g g e w o n n e n ist. Der Text läßt -

darin gleicht er z u m i n d e s t e i n e m Teil der j e r e m i a n i s c h e n

Völkersprüche - keinerlei Bezug auf eine konkrete Situation und keinen äußeren Anlaß für die Formulierung eines Spruches über E l a m erkennen.

Dieses

Defizit v e r m a g auch die Überschrift nicht zu beheben, die zwar eine relativ

liehe Umfeld gehören, legt ihr Inhalt auch nach den obigen Analysen nahe; allerdings läßt sich für diese These das System der Überschriften beider Textformen nicht als Zeuge in Anspruch nehmen. Wenn die Überschrift in 49,34 formal identisch ist mit derjenigen von 46,1, sagt dies über deren hierarchische Stufe nichts aus; die Annahme RUDOLPHS, diese Formel fungiere jeweils als Hauptüberschrift, ist denn auch durch die willkürliche und inkonsequente Streichung der gleichlautenden Überschrift in 47,1 erkauft (275). Auch von daher ist es nicht angezeigt, die Texte in 46,1-49,33 zu einer gegenüber dem Elam-Spruch ganz abgesetzten Einheit zu verbinden. Das System der Überschriften des M T ist nicht von Hierarchiestufen, sondern von der Redaktionsgeschichte der Völkersprüche her zu erklären (s. unten Kp. V). Auch der Schluß CORNILLS von der besonderen Überschrift auf die Echtheit des Elam-Spruches, weil man einen unechten Text kaum ausdrücklich aus dem Zusammenhang mit den anderen Völkersprüchen herausgenommen hätte (488), ist von daher nicht haltbar. 770

RUDOLPH 2 9 6 ; ä h n l i c h

CORNILL 4 8 9 f . , WEISER 4 1 7 f . ( e r w ä g e n d ) ,

HOLLADAY II,

387.

Umgekehrt ergänzt VOLZ 421f. den Text, um zwei gleich gebaute Strophen mit j e vier Qina-Zeilen zu erhalten. Gegen solche willkürlichen „Streichungen am Text im Interesse eines glatten Vers- und Strophenbildes" spricht sich NÖTSCHER 330 aus. 771 Lediglich bei V. 37b liegt die Annahme nahe, daß es sich u m eine sekundäre Ergänzung nach 9,15 handelt. Bei beiden Texten ist im Zusammenhang von Zerstreuung in alle Welt die Rede (9,15: • ' i 3 3 D ' n i S S m , 49,36: H^Xn n i r n n W ? • • r n n ) . Im ersten Fall bezieht sich die Unheilsankündigung auf Israel, so daß im zweiten eine Motivübertragung vorliegt, die allerdings frei gestaltet und nicht literarisch von der ersten Stelle abhängig ist. U m s o mehr mag es sich für einen späteren Schreiber angeboten haben, der Unheilsansage für Elam dasselbe Gewicht beizulegen wie derjenigen für Israel, so daß er die Vollständigkeitsformel V. 37b in Analogie zu 9,15 einfügte.

8. Elam, Jer

49,34-39

265

genaue Datierung des Spruches in die Zeit Zedekias vornimmt, 772 damit jedoch keine weiteren Informationen verbindet, wie das etwa in 46,2.13; 47,1; 49,28 der Fall ist. Selbst wenn man der Datierung zu folgen gewillt ist und den Spruch für jeremianisch hält, muß man daher über einen möglichen Anlaß spekulieren. Vor allem zwei Bezüge werden in dieser Weise hergestellt: (1) Die Babylonische Chronik spricht möglicherweise von einem Zug Nebukadnezars gegen Elam in dessen 9. Jahr (5 96/5). 773 Der Name des betroffenen Volkes ist allerdings in der Chronik stark verstümmelt, so daß die Ergänzung zu Elam auch für Wiseman, der diese Möglichkeit zunächst erwogen hat, sehr unsicher ist. 774 Sollte diese Aktion gegen den östlichen Nachbarn Babyloniens tatsächlich der Anlaß gewesen sein, einen Spruch über Elam zu formulieren, so bleibt immer noch die Frage, welche Absicht sich damit verband. Die Annahme liegt nahe, daß Jeremia durch den Einbezug des weit entfernten, unbekannten Reiches am Ende der Welt die Machtausdehnung Nebukadnezars als des von JHWH verordneten Herrschers unterstreichen wollte; wenn das Joch Nebukadnezars weltweit sein soll (27,7), so kann dies die Unterwerfung der entferntesten Nation anschaulich zum Ausdruck bringen. 775 (2) Noch weniger historischen Anhalt hat die Erwägung, daß durch Unruhen in Elam möglicherweise die judäischen Exulanten in Babel Hoffnung auf ein baldiges Ende der babylonischen Herrschaft schöpften; diese hätte Jeremia dadurch bekämpft, daß er die endgültige Unterwerfung Elams ankündigte. 776 Leider fehlen für jene Zeit jegliche Hinweise auf entsprechende Erhebungen in Elam; erst in der frühen persischen Zeit ist belegt, daß Darius mehrere Aufstandsversuche zu unterdrücken hatte. 777 Beide Deutungen vermögen also nicht über die Informationslücke hinwegzutäuschen, die den Elam-Spruch in einem historischen Vakuum beläßt; als Versuche, konkrete Bezüge herzustellen und damit das Dunkel etwas zu lichten, sind sie interessant, aber nicht mehr als spekulativ und im ganzen von geringer Wahrscheinlichkeit. 778 772 Die Wendung ND^Q ¡T0X"13, wörtlich „am Anfang der Regierung" (vgl. 26,1; 27,1; 28,1), wird gewöhnlich nach dem akkadischen terminus technicus reS Sarrüti auf das Antrittsjahr, d.h. die Zeit zwischen dem Regierungsantritt und dem Beginn des ersten offiziellen Jahres,

b e z o g e n ( v g l . R U D O L P H 1 6 9 . 2 9 5 , W E I S E R 4 1 6 , HOLLADAY I I , 3 8 9 ) . I m v o r l i e g e n d e n F a l l

muß

dies die Zeit zwischen der Wegführung Jojachins und Neujahr (März/April) 597 sein. 773 WISEMAN, Chronicles 36.72f., VOGT, Neubabylonische Chronik 96; vgl. RUDOLPH 296. 774

WISEMAN, C h r o n i c l e s 8 6 .

775

I n d i e s e m S i n n e e t w a WEISER 4 1 7 , S C H R E I N E R 2 5 6 , H O L L A D A Y I I , 3 8 8 f . , H U E Y 4 0 7 . H O L -

LADAY versucht auch die Assoziation „Elam als Nation am Ende der Welt" herzuleiten, und zwar etymologisch (Cb'V vgl. K e tib/Q e re in V. 36) oder traditionsgeschichtlich (KedarLaomer in der Abrahamsgeschichte) (ebd. 388). 776

S o e t w a RUDOLPH 2 9 5 , THOMPSON 7 2 8 .

777

HINZ, Elam

778

132.

Interessant ist in jedem Fall auch, daß bei beiden Vorschlägen unausgesprochen - und für die meisten Exegeten gilt auch: unabsichtlich und gegen die sonst ausgedrückte Überzeugung davon ausgegangen wird, daß die eigentlichen Adressaten des Spruches nicht etwa die Elamiter sind, da ihnen die Botschaft, daß JHWH, der Gott Israels, die Herrschaft Nebukadnezar übertragen hat, wohl nicht zugemutet sein wird; der Spruch richtet sich offenbar vielmehr an Judäer -

266

III.

Textanalysen

Die Sprache und die Gedankenwelt des Elam-Spruches sowie die Vergröberung gegenüber vergleichbaren jeremianischen Aussagen legen es nahe, den Text exilisch oder nachexelisch anzusetzen. Die Information von Jes 11,11, daß in Elam Exilierte lebten, ist zweifellos historisch zutreffend und könnte erklären, warum dieses in das Unheil eingeschlossen wurde; auch die Übertragung des Motivs der Zerstreuung unter alle Völker auf das Land, wo jene lebten, denen eben dies widerfahren war, würde sich dazu gut fügen. Nicht undenkbar wäre aber auch, daß, nachdem die Ströme der Heimkehrer stagnierten oder versiegten, während viele es vorzogen, im Exil zu bleiben, dem Aufenthaltsort derjenigen, die nicht zurückkehren wollten, Unheil angesagt wurde, vielleicht in der Absicht, sie doch zur Rückkehr zu bewegen, wenn JHWH sich auch gegen ihr Gastland wenden würde. Weshalb der Elam-Spruch der Jeremia-Tradition zugeschlagen wurde, läßt sich - wie immer bei solchen Sammlungen - schwer sagen; immerhin ist gelegentlich eine gewisse Nähe zu jeremianischer Diktion festzustellen, 779 und das pointierte „Ich" JHWHs sowie der Gedanke, daß JHWH selbst für das Unheil Elams veantwortlich ist, das ungenannte Feinde herbeiführen, kennzeichnet auch die jeremianischen Völkersprüche. Die Heilsverheißung für Elam schließlich (V. 39) trägt der historischen Entwicklung Rechnung und bringt diese mit JHWHs Plan in Verbindung. Als Teil des persischen Reiches erlebte Elam eine neue Blüte; die alte Hauptstadt Susa wurde gar zur persischen Kapitale. Daß dieser Zusatz auch aus der Perspektive eines Judäers, der sonst nicht viel von Elam wußte, nötig war, ergibt sich daraus, daß Elam spätestens als Aufenthaltsort Exilierter in den judäischen Horizont rückte; vielleicht ist er aber auch ganz einfach dadurch motiviert, daß das Unheil des nunmehr persischen Elam nicht das letzte Wort JHWHs sein konnte, nachdem den persischen Herrschern immerhin das Ende des babylonischen Exils, die Möglichkeit der Rückkehr und der Wiederaufbau des Tempels zu verdanken war. 780

ob in Jerusalem verbliebene oder exilierte - , denen gegenüber die von J H W H verfügte Machtausdehnung Nebukadnezars nachdrücklich unterstrichen wird. Darauf wird im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion der Völkersprüche zurückzukommen sein (Kp. IV). 779

V g l . d a z u HOLLADAY I I , 3 8 8 .

780

In diesem Sinne wird die Heilsverheißung oft mit der Bedeutung Susas im Perserreich in

V e r b i n d u n g g e b r a c h t ( R U D O L P H 2 9 6 , SCHREINER 2 5 6 , HOLLADAY II, 3 8 7 , H U E Y 4 0 7 ) . WEISER

418 und HOLLADAY II, 389 erkennen darin eine eschatologische universalistische Theologie. Allerdings wird der Ausdruck C'P'H n""lllN3 nicht eschatologisch zu verstehen sein; vgl. dazu und zur Wendung tTQB / ¡ T 3 0 31tö oben zu 48,47. Auch der Austausch elamischer Herrschaft durch diejenige J H W H s (V. 38) kann nicht als eschatologische Herrschaft J H W H s über die Reiche der Welt bezeichnet werden (gegen CHRISTENSEN, Transformations 223, CARROLL 813f.).

IV. Die Völkersprüche Jeremias Die Textanalysen des vorangehenden Kapitels haben ergeben, daß die Völkersprüche des Jeremiabuches wie andere alttestamentliche Texte literarisch gewachsen sind. Dabei ließen sich - entsprechend dem text- und redaktionskritischen Ansatz, welcher der speziellen Konstellation der Textüberlieferung des Jeremiabuches Rechnung trägt 1 - aus inhaltlichen, formalen und textgeschichtlichen Gründen drei Schichten mehr oder weniger deutlich gegeneinander abheben: (1) Authentische Einzelsprüche und zu Gedichten gereihte Sprüche Jeremias, d. h. solche Texte, die von ihrem Inhalt und von ihrer Gestaltung her mit großer Wahrscheinlichkeit auf Jeremia zurückgehen oder gegen deren Authentizität keine überzeugenden Gründe vorgebracht werden konnten (seit der klassischen Studie Sigmund Mowinckels mit dem Siglum „A" bezeichnet) 2 ; (2) Bearbeitungen der jeremianischen Texte durch Erweiterungen und Veränderungen im weitesten Sinne, die vor der Aufspaltung der Textüberlieferung in den alexandrinischen und den prämasoretischen Texttyp erfolgten und die durch den Vergleich des MT und der LXX im wesentlichen rekonstruiert werden können; (3) entsprechende Bearbeitungen, die nach der Aufspaltung je im alexandrinischen und im masoretischen Texttyp erfolgten. Diesen Textschichten bzw. Bearbeitungsstufen soll im vorliegenden und im folgenden Kapitel in der Reihenfolge ihrer Entstehung bzw. ihres Weiterwachsens nachgegangen werden. Hinter der Sammlung der jeremianischen Völkersprüche steht nach den obigen Analysen in jedem Fall mit Ausnahme des Elam-Spruches 49,34-39 3 ein Kern echter jeremianischer Worte, die das zukünftige Geschick der Nachbarvölker Israels thematisieren und ihnen die Bedrohung durch eine feindliche Macht, Krieg, Unterwerfung, Gefangenschaft, Zerstörung, Not und Elend ankündigen. Weshalb jedoch verfaßte Jeremia solche Gedichte und Sprüche? Die Texte selbst geben - mit Ausnahme des ersten Ägypten-Gedichts 46,3-12 1

Vgl. oben Kp. II. Vgl. MOWINCKEL, Komposition 17; präziser ist diese Schicht als „AP" (authentische Jeremia-Worte in poetischer Gestalt im Gegensatz zu Selbstberichten [„AB"]) zu bezeichnen (so THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 43, der allerdings die Völkersprüche - wie MOWINCKEL - davon ausdrücklich ausnimmt, ebd. Anm. 45). ' A u s g e n o m m e n sind ebenfalls die Babelsprüche in Kp. 50f„ die in diesem Zusammenhang nicht zur Diskussion stehen (vgl. dazu oben S. 231). Wenn im folgenden von „jeremianischen Völkersprüchen" die Rede ist, so ist jeweils der in den Textanalysen in Kp. III erarbeitete jeremianische Kern der jeweiligen Einheiten von Jer 46-49 gemeint. 2

268

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

- kaum konkrete Anlässe zu erkennen, auf welche sich die Völkersprüche beziehen. Läßt sich dennoch über ihre Entstehungssituation Näheres sagen? Und schließlich: Wenn Jeremia tatsächlich Gedichte und Sprüche über Nachbarvölker verfaßte, wurden diese publiziert, und wenn ja, in welcher Form und zu welchem Zweck? Das vorliegende Kapitel versucht, auf diese Fragen Antworten zu geben. Dazu werden die Ergebnisse der vorhergehenden Textanalysen unter vier systematischen Gesichtspunkten ausgewertet: Zunächst ist nach dem Stil der jeremianischen Völkersprüche zu fragen (1.), da dadurch am ehesten die Frage nach ursprünglicher Mündlichkeit oder Schriftlichkeit dieser Texte zu beantworten ist. Dann ist (2.) danach zu fragen, wie die Unheilsankündigungen begründet sind und welche Folgen sich daraus ergeben. Anschließend sollen Form und Inhalt der Unheilsankündigung, die in den Völkersprüchen dominiert, untersucht werden (3.). Diese Fragestellung mündet in eine weitere, welche die Aussagen über den Feind in den jeremianischen Völkersprüchen und deren Implikationen prüft (4.). In einem letzten Abschnitt werden schließlich die Ergebnisse dieser Erhebungen zusammengefaßt und im Blick auf mögliche konkrete Verwendungen der Völkersprüche ausgewertet (5.). Die Bearbeitungen der jeremianischen Völkersprüche sind Gegenstand des nächsten Kapitels; in der synthetischen Zusammenschau der in der Analyse erarbeiteten sekundären und tertiären Schichten wird sich zeigen, ob ihnen einheitliche Grundstrukturen zugrunde liegen und ob sie von gemeinsamen theologischen Interessen geprägt sind. In diesem Zusammenhang wird sich erweisen müssen, ob sich der zugrunde gelegte text- bzw. redaktionskritische Ansatz bewährt und Resultate liefern kann, welche die Sammlung und das Wachstum der von Jeremia ausgehenden Texte plausibel zu machen vermögen und von daher einige Wahrscheinlichkeit beanspruchen können.

1. Stil u n d Gestaltung In fast allen innerhalb der Sammlung der Völkersprüche überlieferten Texten, die sich auf acht verschiedene Völker beziehen, erwies sich zumindest ein Kern als jeremianisch. Die auf Jeremia zurückzuführenden Texteinheiten sind allerdings in bezug auf ihren Umfang sehr unterschiedlich. Einige Texte sind als größere Originalkompositionen zu betrachten, die aus mehreren miteinander verknüpften Strophen oder Szenen bestehen und von daher als jeremianische Gedichte bezeichnet werden können. Zu diesen sind sicher die beiden Ägypten-Gedichte (46,3-12 und 46,14-24) sowie das Philister- und ein Teil des Moab-Kapitels (47,2-7 bzw. 48,1-4.6-9) zu rechnen, vielleicht auch, wenn er tatsächlich eine von vornherein zusammengehörige Einheit darstellt, der Text über Kedar und Hazor (49,28-33). Andere Texte sind wesentlich kürzer und bestehen lediglich aus einzelnen Sprüchen; hier sind die Sprüche über

1. Stil und

Gestaltung

269

Ammon (49,3-5) und Damaskus (49,23-27 [ohne V. 23bß.24b]) zu nennen. Zwischen diesen beiden Gruppen stehen schließlich Teile des Moab-Kapitels (48,1 lf. 14-20.25.28.38b.39.40aa.41a.42.44b) sowie der Edom-Einheit (49,711.14-16.22), bei denen sich nicht sicher feststellen läßt, ob sie in der vorliegenden Form von Jeremia komponiert und als Einheit konzipiert wurden oder ob erst eine spätere Redaktion eine Reihe von verwandten Einzelsprüchen aufgrund des gleichen Themas nebeneinander gestellt hat; denkbar ist auch, daß verschiedene ursprünglich voneinander unabhängige und aus möglicherweise unterschiedlichen Zusammenhängen stammende Sprüche der Redaktion bereits als Sammlung im Nachlaß Jeremias vorlagen. Ein differenziertes Urteil ist, da über jene für den Beginn der jeremianischen Tradition entscheidende erste Phase so gut wie nichts bekannt ist, nicht möglich. In den Textanalysen war immer wieder auf den besonderen Stil der jeremianischen Völkersprüche hinzuweisen, der einerseits in der Vielfalt und im bunten Wechsel der verwendeten Formen und andererseits in den unterschiedlichen vom Sprecher eingenommenen Positionen und Perspektiven besteht; diese Gestaltung hat zur Folge, daß die Gedichte und Sprüche von außerordentlicher Lebendigkeit, Anschaulichkeit und Plastizität sind. Das Unheil, das den verschiedenen Nachbarvölkern Judas angesagt wird, kann einerseits durch Ansagen der Zukunft zum Ausdruck gebracht werden (46,6.10.18-24; 47,2; 48,2.7f.9.15f. 18.38.41; 49,3.5.8.10.15f.29.32f.) oder aber dadurch, daß es sich in den Reaktionen der Menschen spiegelt (46,21; 47,2f.5; 48,3f.; 49,22f.); neben Beschreibungen einherstürmender Armeen (46,8; 47,3) finden sich solche fliehender Menschen (46,5.21; 48,19.39; 49,5), fallender Soldaten (46,5.6.12.16; 49,26) sowie menschenleerer Städte (49,25) und verödeter Landstriche (49,33). Zahlreich sind die Bilder für den Feind (46,18.20.22.23; 48,12; 49,9) und die von ihm heimgesuchten Völker (46,15.20f.; 48,11) sowie für das Unheil, das über sie kommt (46,10.14; 47,2.6; 48,12) und das durch keine fremde Hilfe abgewendet werden kann (46,11). Vielfach werden Menschen direkt angesprochen, so die von der feindlichen Invasion Bedrohten, indem sie zur Flucht (46,19; 48,6.18.28; 49,8.30) oder zur Verteidigung (46,14) aufgerufen werden, oder feindliche Heere, die zum Kampf aufgefordert werden (46,3f.9; 49,14.28.31). Auch wird zur Klage (49,3) oder zu Beileidsbezeugungen (48,17) aufgerufen oder die Klage über das Unheil erhoben (48,1.20; 49,25). Fragen (46,5.7.15; 47,5-7; 48,14.19; 49,4.7) und deutende Kommentare (46,6.10.15f.; 48,25) wechseln miteinander ab wie ausdrücklich als solches gekennzeichnetes JHWH-Wort (46,18; 47,2; 48,1.8; 49,26) und direkte Rede nicht eingeführter Sprecher (46,5; 47,6f.; 48,17), der vom Unheil Bedrohten (46,16.16), des Feindes (48,2; 49,29) oder des zum Kampf aufbrechenden Pharao (46,8). Häufig finden sich klangliche Stilmittel wie Alliteration (46,5; 48,2), Assonanz (46,5.9; 48,15; 49,30), lautmalerischer StaccatoRhythmus (46,3f.5.9; 47,2f.) und Wortspiele (46,15.17; 48,2.15.43; 49,9). An

270

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

einzelnen Stellen kommt auch Ironie (46,5.11; 49,11), wenn nicht gar Sarkasmus (46,11), zum Ausdruck. Die durch diese unterschiedlichen Gestaltungselemente gebildeten Gedichte und Sprüche bestehen aus einzelnen Szenen, die durch den oftmals völlig unvermittelten Wechsel äußerst lebendig wirken und bei Hörern und Lesern plastische Bilder hervorrufen: schreiende und klagende Menschen, die sich kahl scheren und wund ritzen, galoppierende Pferde und rasselnde Wagen, einander anfeuernde und Kommandos zurufende Soldaten, ein über der Herde unheildrohend kreisender Adler, der im nächsten Moment niederstürzen und eines der Tiere anfallen wird, eine Kuh, die von einem gefährlichen Insekt gestochen wird und qualvoll verendet, Menschen auf der Flucht, Eltern, die in der Not ihre Kinder im Stich lassen, eine menschenleere Stadt, in deren Gassen und auf deren Plätzen nur noch die Leichen der im Kampf Gefallenen liegen, ausgeschütteter Wein und zerbrochene Krüge, in der Sonne blitzende Lanzen und Schwerter, nach einem heftigen Gewitterregen anschwellende und das trockene Land mit unbändiger Gewalt überflutende Bäche, ein von einem eben geschlachteten Opfertier blutiges Schwert, das drohende Zischen einer aufgeschreckten Schlange, Heuschreckenschwärme, die den Himmel verdunkeln und in kürzester Zeit alles kahlfressen, und manche mehr. Diese packenden Szenen und Bilder mit ihren vielfältigen Stilmitteln und Klangfarben sind offenbar auf akustische Wirkung hin angelegt und von daher als ursprünglich für den mündlichen Vortrag konzipierte Dichtungen zu beurteilen. Gelegentlich möchte man an eine Art Hörspiel denken, 4 das auch von einem Einzelnen unter Einsatz verschiedener Stimmlagen, Sprechrhythmen und -tempi aufgeführt werden kann. Aber auch andere Formen des Vortrags sind denkbar und können die Gestaltung der Texte erklären, etwa Gesang oder Sprechgesang a cappella oder mit Musikbegleitung, beispielsweise mit Schlag- und Rhythmusinstrumenten. 5 Jedenfalls kann ausgeschlossen werden, daß die Texte primär für eine schriftliche Veröffentlichung konzipiert wurden, selbst wenn sie ihre Wirkung zweifellos auch noch in dieser Form zu entfalten vermögen. Die Schriftlichkeit der prophetischen Verkündigung ist, worauf auch das Jeremiabuch selbst hinweist (Kp. 36) und wie immer diese Hinweise historisch und in bezug auf die Entstehung und die Redaktionsgeschichte des jetzt vorliegenden Buches einzuordnen sind, auch hier - von allfälligen Notizen oder Manuskripten für den Vortrag abgesehen, die vielleicht zum Grundstock der Sammlun4

S o SEYBOLD, Jeremía 123. VAN DER WESTHUIZEN spricht von „histrionics", d.h. Schauspielerei (Stylistic-Exegetical Analysis 87). 5 Vgl. dazu LOHFINK, Der junge Jeremia 367f., der sich den Vortrag des Grundstocks von Jer 30f. durch Jeremia in ähnlicher Weise denkt: „Der Text ist so, daß er gut durch einen von Dorf zu Dorf und von Hof zu Hof ziehenden einzelnen Sänger (natürlich Jeremia selbst) zu einem Instrument vorgetragen werden konnte. Er ist aber zugleich so, daß er die Basis für die Aufführung durch eine ganze Truppe von Sängern und Musikanten nach der Art eines Oratoriums hergeben konnte." SEYBOLD denkt eher an „Vorträge und Lesungen, d.i. .Deklamationen' ohne musikalische Begleitung" (Jeremia 186 Anm. 11).

2.

Begründungen

271

gen und des späteren Jeremiabuches wurden 6 - gewiß die sekundäre. Allerdings ist es ihr zu verdanken, daß die mündliche Verkündigung Jeremias nicht verklungen, sondern späteren Generationen erhalten geblieben ist und dabei nicht nur archiviert wurde, sondern - wie nicht zuletzt die sekundären Bearbeitungen zeigen - von jenen als Texte mit theologisch auch in späterer Zeit relevantem Gehalt rezipiert werden konnten.

2. B e g r ü n d u n g e n Die Textanalysen hatten auf den auffälligen Umstand hinzuweisen, daß die weitaus meisten jeremianischen Völkersprüche keine expliziten Begründungen für das den Völkern angekündigte Unheil enthalten. Der Befund stellt sich im einzelnen folgendermaßen dar: (1) Das zweite Ägypten-Gedicht, die Gedichte über die Philister und über Kedar und Hazor sowie der Damaskus-Spruch schildern das Unheil unter Verwendung zahlreicher Formen und Stilmittel, in grellen Farben und bedrohlichen Bildern, geben jedoch keinerlei Gründe an, weshalb den Nachbarvölkern Judas dieses schlimme Schicksal beschieden ist, auch nicht andeutungsweise. Besonders auffällig ist das Fehlen von Begründungen dort, wo das Unheil ausdrücklich kausal mit JHWH in Verbindung gebracht wird, theologische Momente also durchaus im Blick sind (46,15f.; 47,4.6f.; 49,28.32). (2) Nur zwei Begründungen sind durch Konjunktionen mit kausaler Bedeutung eingeleitet: 48,7 (jlT und 48,42 C3); beide Texte beziehen sich auf Moab. (3) Eine Reihe von Aussagen können im Kontext, obwohl nicht ausdrücklich als Begründungen gekennzeichnet, als solche fungieren oder werden gelegentlich in diesem Sinn interpretiert. Hier sind neben Stellen, welche die obigen Analysen als sekundäre Erweiterungen erwiesen haben (48,26f.29f.; 49,1.12), einige wenige Belege zu nennen: aus dem ersten Ägypten-Gedicht 46,8, wiederum aus der Moab-Einheit 48,1 lf. 14, aus dem Ammon-Spruch 49,4 sowie aus dem Edom-Text 49,16. Die geringe Anzahl der Begründungen in den jeremianischen Völkersprüchen erhält auf dem Hintergrund zahlreicher Begründungen mit unterschiedlichen Motiven 7 in den übrigen Völkersprüchen des Alten Testaments besonderes Gewicht; einen deutlichen Kontrast stellt etwa die Spruchreihe in Am lf.

6

7

V g l . SEYBOLD, J e r e m i a 1 2 f .

HÖFFKEN unterscheidet vier Gruppen von Begründungselementen: (1) Israelbezogene Begründungen: (a) militärisch-politische Verbrechen an Israel (Begründungselemente 37-159), (b) das Motiv der Schmähung, Verspottung oder Freude über Israel bzw. über JHWH (ebd. 160205); (2) „Hoffartsmonologe" (ebd. 206-243); (3) Universal ausgerichtete Begründungen (ebd. 244-285); (4) „Fremdvolkspezifische Thematiken" (ebd. 286-333). Zu den Zuordnungen der jeremianischen Texte im einzelnen s. oben die Textanalysen.

272

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

dar, deren Einzelsprüche alle gleich gebaut sind und neben anderen stereotypen Elementen jeweils eine Begründung mit Aufdeckung der Schuld, die nur geringe Variationen aufweist, enthalten. 8 Es ist ebenfalls bezeichnend, daß sich Begründungen gerade in den Zusätzen finden; darin liegt wohl, gut erkennbar in den Erweiterungen der Moab-Texte (48,29f.35.38), der Grund für die Zufügung fremden Materials. 9 Aber auch die inhaltliche Seite der Begründungen ist auffällig. In den jeremianischen Texten wird - anders als im sekundären Zusatz 49,1 - nicht auf militärisch-politische Verbrechen Bezug genommen, und auch Anklagen aufgrund von Spott gegenüber Israel und seinem Gott finden sich erst sekundär (48,26f.). Mehrere Begründungen thematisieren dafür das Vertrauen auf militärische Stärke und Selbstsicherheit (48,7.14; 49,4.16). 10 Nicht einzuordnen ist aufgrund der Zweideutigkeit des Bildes der Küfer-Spruch 48,1 lf.; jedoch selbst dann, wenn das Bild negativ konnotiert ist („weil Moab wie ein Wein ist, der nie von einem Faß in ein anderes umgegossen wurde [sc. und deshalb schlecht schmeckt], darum ..."), nimmt es nicht Bezug auf konkrete Vergehen Moabs; die Aussage geht im Grunde über eine allgemeine Feststellung („die Zeit ist reif für Moab") nicht hinaus. Die Bezüge auf den Fremdgötterkult, die 48,13 im Anschluß an den Küfer-Spruch herstellt, sind sekundär und kommentieren diesen aus dtr-exilischer Sicht für exilierte oder jedenfalls von der Katastrophe betroffene Judäer, die das Unheil, das sie ereilt hat, verstehen sollen. Kein konkretes Vergehen nennt auch 48,42 (Moab hat sich gegen JHWH erhoben) 11 , und inwiefern die Ägypter in 46,10 Feinde JHWHs sind, kann nur aus dem Kontext erschlossen werden: weil sie seine Pläne, die in Karkemisch in Erfüllung gehen, mißachten und meinen, sich der babylonischen Herrschaft, die JHWH verfügt hat, entgegenstellen zu können. Besonderes Gewicht kommt dem Fehlen von Begründungselementen beim Edom-Text zu, der sich - im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten (und auch dem sekundären Nachtrag 49,12f.) - gerade nicht auf das Verhalten Edoms gegen JudaJerusalem anläßlich der Katastrophe bezieht und so jeglichem Vergeltungsoder Rachegedanken fern ist. Auch sprechen die Völkersprüche Jeremias nie von der Allmacht oder Einzigartigkeit JHWHs, nie vom Schöpfer, der in sei-

8 Zur Form vgl. WOLFF, Joel/Amos 164-171; ausführlich und mit besonderer Zuspitzung auf die Begründungen in den Völkersprüchen des Amosbuches HÖFFKEN, Begründungselemente

104-116. 9 So auch FOHRER, Vollmacht 49: „So liefert der Abschnitt ein gutes Beispiel f ü r eine inneralttestamentliche Exegese." 10 Eine ähnliche Anklage gilt in 21,13f. dem judäischen König. 11 Die inhaltliche Füllung dieser Begründung wird gelegentlich von V. 26f. her versucht, indem das „sich gegen J H W H Erheben" als Streitereien zwischen den Nachbarvölkern (so z.B.

GIESEBRECHT 2 3 8 ,

NÖTSCHER 3 1 8 ,

RUDOLPH 2 8 1 ) o d e r als m o a b i t i s c h e

Reaktion

auf

den

Untergang Judas (VOLZ 409) gedeutet wird. Näher liegt m.E., da V. 26f.29f. dem Text sekundär zugefügt sind und daher die Erklärung des jeremianischen Textes nicht bestimmen sollten, ein Bezug auf V. 7.14, so daß auch hier auf die Selbstsicherheit Moabs angespielt ist.

2.

Begründungen

273

ner Souveränität über alle Menschen und Völker herrscht und darum über sie gebietet (vgl. dagegen 18,7-10; 27,5) oder sie zur Rechenschaft zieht. 12 Dieser Befund ist deshalb auffällig, weil sich die jeremianischen Völkersprüche durch das weitgehende Fehlen von Begründungen bzw. das Fehlen echter und konkreter Anlässe für ein Gerichtshandeln JHWHs in charakteristischer Weise von der Gattung der Gerichtsankündigung in ihrer klassischen Form unterscheiden. Zu dieser gehört die Begründung als Wesensbestandteil, denn nur so ist die Gerichtsankündigung für den Adressaten einsehbar und „bejahbar" (H.W. Wolff). 1 3 Dieser Umstand ist wohl dahingehend zu deuten, daß es den Völkersprüchen nicht darauf ankommt, das Unheil zu erklären, sondern es lediglich anzusagen. Daß die angesprochenen Völker verstehen, warum das Unheil über sie kommt, ist offenbar nicht das zentrale Anliegen. Wo eine Begründung gegeben wird, kennzeichnet diese weniger den Anlaß für das Gerichtshandeln JHWHs als vielmehr eine inhaltliche Opposition: JHWH führt das Unheil herbei, obwohl man auf militärische Stärke vertraut, die Selbstsicherheit ist vergeblich und trügerisch, 1 4 oder: Dadurch, daß Ägypten sich dem Willen JHWHs widersetzt, wird es zu seinem Feind, dem er entgegentreten und den er vernichtend schlagen wird. 1 5 Vollends ist Juda aus den Völkersprüchen ganz ausgeblendet; es sind nicht Verbrechen der Nachbarn gegen das kleine Volk, die im Blick sind. Darin unterscheiden sich die Völkersprüche in Kapitel 46-49 deutlich von den Babel-Texten 50f. und Stellen wie 10,25; 12,14; 30,16. In den jeremianischen Texten spricht offensichtlich kein Heilsprophet, der das Heil Israels durch das Unheil der Völker verkündigt. 1 6 Vielmehr - und darin liegt wohl eine eigentliche Pointe - ist Juda dort, wo Begründungen angedeutet sind, im Grunde subsumiert, aber nicht auf der Seite JHWHs, sondern auf der Seite der Völker, über die J H W H Unheil bringt. Wenn nämlich Juda eine Koalition mit den Nachbarn gegen die Babylonier erwägt und sich auf die Hilfe Ägyptens verläßt, dann muß die Anklage des Hochmuts und des vergeblichen Vertrauens auf militärische Stärke an die Adresse jener Völker j a auch Juda treffen. Wenn die Ägypter Feinde JHWHs sind (46,10), dann gilt das auch für Juda, das sich

12 Gegen DUHM, Theologie 249, der die Völkersprüche insgesamt als Ausdruck der Universalität J H W H s verstehen will, dadurch jedoch die Einzeltexte in unzulässiger Weise verallgemeinert und transzendiert. 13 WESTERMANN, Grundformen 69. 14 So pointiert auch 49,31, wo die Aufforderung zum Kampf gegen ein „Volk, das in Ruhe und in Sicherheit wohnt" (nt?? 1 ? • D i ' T^O 'ij), ergeht. 15

16

S o WEISER 3 8 3 , SCHREINER 2 3 7 f „ CLEMENTS 2 4 8 f . u . a .

Gegen SCHREINER, Prophet für die Völker 17: „Bei dieser Verkündigung an die fremden Völker kam es auch ihm wie den anderen Schriftpropheten darauf an zu zeigen, daß sie nicht ungestraft gegen Gottes Willen handeln und als Feinde des Gottesvolkes ihre eigenmächtig gesetzten Ziele verfolgen dürfen. Insofern das Gerichtswort Völker trifft, die Israel, ohne von Jahwe gerufen und ermächtigt zu sein, bedrängen und strafen, wird es zum Heilswort für das Volk des Herrn."

274

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

von den Ägyptern Rettung verspricht. 17 Damit kommt den Begründungen eine sekundäre Funktion zu - wenn dies nicht sogar die primäre ist die mit den eigentlich angesprochenen Völkern zwar in direkter Beziehung steht, diese jedoch transzendiert. Durch die Völker hindurch blickt der Prophet auf Juda, dem die Unheils- bzw. Gerichtsankündigung letztlich genauso gilt, wenn es sich mit den Völkern verbindet.

3. Die U n h e i l s a n k ü n d i g u n g Neben dem im weitesten Sinne gemeinsamen Stil und dem Fehlen konkreter Begründungen ist für die jeremianischen Völkersprüche in inhaltlicher Hinsicht ein weiteres durchgehend auftretendes Element charakteristisch: Alle Gedichte und Sprüche kündigen Nachbarvölkern Juda-Jerusalems Unheil an, das in einer militärischen Niederlage bzw. Eroberung, Zerstörung von Land und Städten, Flucht, Tod, Gefangenschaft und Elend besteht. Die Thematik des den Nachbarvölkern angekündigten Unheils teilen die Völkersprüche, wie in der gattungs- und religionsgeschichtlich orientierten Phase ihrer Erforschung erkannt wurde, einerseits mit biblisch und außerbiblisch recht zahlreich bezeugten Kriegsorakeln und Fluchsprüchen, andererseits mit dem priesterlichen Heilsorakel, wie es sich innerhalb von Klageliedern des Volkes findet. Es lag deshalb nahe, diese Texte nicht nur zum Vergleich, sondern auch für die Interpretation der Völkersprüche heranzuziehen. a) Die Völkersprüche

und Kriegsorakel

bzw.

Fluchsprüche

Im Zusammenhang mit den alttestamentlichen Völkersprüchen wird häufig auf die Funktion von Propheten innerhalb des altorientalischen Kriegswesens hingewiesen. Als Prototyp eines solchen Propheten gilt innerhalb der alttestamentlichen Überlieferung Bileam. 18 Weil die Moabiter sich vor den Israeliten fürchten (Num 22,3), gibt ihr König Balak Bileam den Auftrag, die Israeliten mit einem Fluch zu belegen (~nx), u m sie zu schwächen und den Moabitern dadurch zu ermöglichen, sie zu schlagen (22,6; vgl. V. 1 lf.17; 23,7f.l 1.13.27; 24,10.). S. Mowinckel hat aus dieser Überlieferung geschlossen, daß vor einer Schlacht gegen den Feind jeweils ein Fluch ausgesprochen wurde, um sein Glück zu brechen und ihm so eine Niederlage zu bereiten. 1 9 In dieser Weise

17 So auch CLEMENTS 249: „Egypt's defeat and suffering were closely allied to and broadly contemporary with the sufferings and defeat of Judah. There could therefore be no misplaced satisfaction over Egypt's downfall that did not also relate directly, and even more forcibly, to Judah's helplessness before the power of Nebuchadnezzar. The significance of Egypt's defeat was that it rendered impossible any hope of Egyptian assistance for Judah against Babylon." l8 Vgl. dazu HAYES, Usage 8If. 19 Z.B. MOWINCKEL, Psalmenstudien III, 100.

3. Die Unheilsankündigung

275

wird der Fluch gedeutet, den Goliath gegen David ausspricht (ISam 17,43). 20 Zwar kann das methodische Problem, daß diese beiden Feindverfluchungen ausdrücklich Israels Gegnern zugeschrieben sind, eine echte Verfluchung von Menschen mit entsprechenden Folgen in Israel sich jedoch nur in einem nichtmilitärischen Kontext findet (IIReg 2,23-25), dadurch entschärft werden, daß diese Traditionen als Beleg dafür interpretiert werden, daß Israel mit der Praxis der Verfluchung der Feinde vor der Schlacht vertraut war. 21 Daß dieser Brauch in Israel tatsächlich auch geübt wurde, läßt sich jedoch nicht wirklich daraus ableiten. Im Gegenteil muß gerade das Fehlen entsprechender Belege in den zahlreichen Beschreibungen israelitischer Kriege als sehr schwerwiegend bezeichnet werden. Eine direkte Parallele zu den Völkersprüchen wird jedoch in den prophetischen Orakeln IReg 20,28; ISam 15,2f.; Jes 7,5-7 gesehen. 22 Hier wird jeweils der israelitische Führer angesprochen, während auf den Feind in der dritten Person Bezug genommen wird; im Zentrum des Orakels steht die Verurteilung des Feindes durch JHWH sowie die göttliche Zusage des Sieges oder ein Aufruf zum Kampf. Das Orakel kann auch von einer Zeichenhandlung begleitet sein (IIReg 13,14-19). Aus diesen Belegen wird abgeleitet, daß die Praxis prophetischer Gerichtsreden gegen den Feind Bestandteil der Vorbereitung und der Durchführung von Kriegen in Israel bildete. 23 Dies zeigt etwa auch eine Episode, die Josephus (Ant. 14,2,1) berichtet: Im Streit zwischen Aretas und Hyrkanus auf der einen und Aristobul auf der anderen Seite wird ein „Gerechter" namens Onias auf das Schlachtfeld geführt, um Aristobul und seine Anhänger zu verfluchen. 24 Ebenso werden in der Kriegsrolle von Qumran Belial und seine Anhänger durch den Hohenpriester verflucht (1QM 13,2-6); es ist allerdings umstritten, ob die Verfluchung vor oder nach der Schlacht und der Niederlage stattfindet. 25 Sumerische und hethitische Texte, Dokumente aus Mari, ägyptische und früharabische Fluchsprüche zeigen darüber hinaus, daß Gerichtsreden und Orakel gegen fremde Mächte im Zusammenhang mit der Kriegführung im ganzen Vorderen Orient Verwendung fanden. Auf eine ausführliche Darstellung kann hier verzichtet werden, da dazu zahlreiche Untersuchungen vorliegen und die Quellen ediert sind. 26 In der Tat m ö g e n eine R e i h e dieser Texte direkte Parallelen zu prophetischen Orakeln, wie sie i m Z u s a m m e n h a n g mit Kriegen auch in Israel d e n k b a r sind, darstellen. D a b e i sollte j e d o c h nicht übersehen werden, daß z w i s c h e n solchen Kriegsorakeln u n d den Völkersprüchen des J e r e m i a b u c h e s z u m i n d e s t ein wesentlicher Unterschied besteht. D i e Gerichtsreden und F l u c h s p r ü c h e u m f a s s e n i m m e r zwei Pole: auf der einen Seite ein Volk (bzw. dessen Repräsentanten, z . B . den König), das der Prophet vertritt und zu dessen G u n s t e n er auftritt u n d wirkt, auf der anderen Seite einen Feind, d e m ersteres gegenübersteht u n d dessen N i e d e r l a g e durch das Orakel vorausgesagt wird bzw. herbei-

20

Vgl. dazu SCHARBERT, „Fluchen" und „Segnen" 10.

21

So HAYES, U s a g e 82. Vgl. dazu HAYES, Usage 82f. 23 So HAYES, U s a g e 83. 22

24 25 26

Ebd. Ebd. 84. Z u m gesamten Bereich vgl. HAYES, Usage 84-87; ders., Oracles.

276

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

geführt werden soll. Die Orakel beziehen sich folglich immer auf einen aktuellen Konflikt zwischen zwei Parteien und sind als Beitrag zu dessen Lösung zugunsten der einen dieser Pateien, genauer: derjenigen des Propheten (bzw. des Auftraggebers des Propheten), zu verstehen. Ganz anders verhält es sich dagegen bei den Völkersprüchen: Hier werden Nachbarvölker angesprochen, mit denen Juda-Jerusalem, in dessen Umkreis der Prophet auftritt, sich in keinem Konflikt befindet und dessen Niederlage gegenüber einem Dritten Juda keinen Gewinn bringt. 2 7 Mit diesen Völkern ist Juda im Gegenteil durch die gemeinsame Bedrohung durch die Babylonier zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengebunden; dies äußert sich historisch dadurch, daß die beiden letzten judäischen Könige - wie im übrigen schon etwas mehr als hundert Jahre früher ihre Vorgänger (vgl. Jes 30f.) - das Bündnis mit Ägypten und anderen Nachbarstaaten suchen (Jer 27; vgl. 9,24f.). Die Völkersprüche sagen also nicht einem Nachbarvolk eine Niederlage gegen Juda an und stellen auch keinen Fluch dar, der das Nachbarvolk schwächen soll, damit es den Krieg gegen Juda verliert. Die Gefahr für das angesprochene Volk droht ausschließlich von einer anderen Seite. Diese Feststellung ist durchaus nicht nebensächlich, da durch den Bezug auf eine dritte Partei die Struktur des Kriegsorakels vollständig aufgebrochen und um ein Element erweitert wird, das diesem von seinem Selbstverständnis her ursprünglich völlig fremd sein muß. Daß ein externer Verbündeter einem Bündnispartner im Falle eines Konfliktes mit einem anderen Volk zu Hilfe kommt, ist zwar auch im Alten Orient nichts Besonderes. Gerade darum jedoch kann es sich nicht handeln: Das feindliche Heer unterstützt nicht den judäischen König in einem Konflikt mit dessen Nachbarn. In den letzten Jahrzehnten des 7. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts bestanden neben den üblichen Grenzstreitigkeiten und Rivalitäten etwa gleich starker oder gleich schwacher Nachbarn, die sich derselben Bedrohung ausgesetzt sahen, auch keinerlei derart schwerwiegenden Konflikte. Nicht nur geben die Quellen keinen Hinweis in diese Richtung; auch den jeremianischen Völkersprüchen ist diese Sichtweise völlig fremd. Sie sagen den Nachbarvölkern Unheil an, das von einem „Feind aus dem Norden" herbeigeführt werden soll, das nicht mit konkreten Vergehen dieser Völker (weder gegen Juda noch sonstwie) begründet wird und als dessen Nutznießer nicht Juda bezeichnet werden kann. Wenn der Prophet ein Kriegsorakel ausspricht, dann zugunsten dieser dritten Partei, des „Feindes aus dem Norden". Dies stellt zweifellos gegenüber den literarisch bezeugten Kriegsorakeln ein ernstzunehmendes Novum dar.

27

Z u r (sekundären) Ausnahme 49,2 s. oben S. 195ff.

3. Die

b) Die Völkersprüche

und kultische

Unheilsankündigung

277

Heilsorakel

D i e im vorhergehenden Abschnitt dargestellte Beobachtung zum Verhältnis des Propheten bzw. des von ihm vertretenen Volkes zum Feind trifft grundsätzlich auch auf die kultischen Heilsorakel zu. In einigen Psalmen wird über das Elend geklagt, das durch fremde Völker über Israel gekommen ist (z.B. Ps 44; 74; 79; 83; vgl. Thr 1,1 Of.; 2,15f.). Wie Bitten und Gebete Einzelner durch Priester in Form priesterlicher Heilsorakel beantwortet werden konnten (vgl. ISam 1,17), so ist es denkbar, daß Priester im Kult die Volksklage mit einem Orakel beantworteten, das den Sieg über die Feinde bzw. JHWHs Eingreifen zusagt. Als Beispiele werden in diesem Zusammenhang Ps 20,7-9; 21,9-13; 60,810; Thr 4,21f.; IIReg 19,20-28 genannt.28 Aber nicht nur bei akuter Bedrohung durch Feinde sollen solche Orakel eine Rolle gespielt haben, sondern auch als fester Bestandteil von Ritualen, sei es beim Bundesfest (Reventlow), beim Neujahrsfest (Bentzen), beim Fest der Epiphanie (Mowinckel) oder im Königsritual (Mowinckel, Widengren, Johnson, Kraus, von Rad).29 Auch in diesen Texten ist von Feinden die Rede, die Israel konkret bedrohen. Das Heilsorakel fungiert in diesem Zusammenhang als Zusage, daß JHWH Israel zum Sieg über diese verhilft. Im Hintergrund steht deshalb auch hier die bipolare Struktur zweier einander gegenüberstehender Gegner, deren einem der Sieg, dem anderen (dadurch indirekt oder auch direkt) die Niederlage zugesprochen wird. Der Priester vertritt dabei - w i e im Kriegsorakel der Prophet - natürlich die Position des Siegers. 3 0

28

29

V g l . HAYES, U s a g e 8 7 - 8 9 .

Vgl. HAYES, Usage 90-92 sowie den forschungsgeschichtlichen Überblick, oben S. 23ff. Nur Thr 4,21 f. weicht von diesem Grundmuster scheinbar ab, indem die Erlösung Zions und die Bestrafung Edoms korreliert werden; dieser Fall ist insofern etwas anders, als j a nicht Edom die Juda unterdrückende Macht ist, welche von der Erlösung Zions direkt betroffen würde. Hier zeigt sich in der Tat eine Tendenz zur Ausweitung des Heilsorakels und damit auch zur Auflösung der ursprünglichen Form. Allerdings ist der Unterschied gegenüber dieser nicht sehr groß. Es scheint, daß in der spät- und nachexilischen Zeit die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen dem unter babylonischer Herrschaft stehenden Juda und Edom aufgrund einer besonderen Rivalität von stärkeren Reibungen und Animositäten geprägt waren als diejenigen zwischen anderen Nachbarvölkern (vgl. dazu die Bemerkungen bei der Analyse des EdomSpruches, oben S. 208.226). Daß die Erlösung Zions gegen die Bestrafung Edoms abgehoben wird und auf diesem Hintergrund in umso hellerem Licht erscheint, ist auf diesen Konflikt zurückzuführen. Damit wird aber Edom gerade in die Rolle des Feindes in den Kriegs- und Heilsorakeln gedrängt: Heil für Juda ist nur möglich, wenn Edom von Unheil heimgesucht wird. Der Gegensatz zwischen Juda und Edom wird als Konflikt erfahren, dessen Lösung zugunsten Judas mit einem Heilsorakel zugesagt wird. Diese Perspektive ist sicherlich als exilisch einzustufen; sie findet sich etwa in Ps 137,7; Joel 4,19; Ob 10-16 und auch in Zusätzen zu den jeremianischen Völkersprüchen (vgl. 49,12.21). Am grundsätzlichen Verhältnis zwischen den zwei betroffenen Größen ändert sie nichts. 30

278

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

Der strukturelle Vergleich der jeremianischen Völkersprüche einerseits mit Kriegsorakeln und Fluchsprüchen, 31 andererseits mit priesterlichen Heilsorakeln führt in beiden Fällen im wesentlichen zum selben Ergebnis. Während die beiden letzteren einen Konflikt zweier gegnerischer Parteien voraussetzt, von denen der einen durch ihren Propheten bzw. Priester „Heil" (Sieg, Erfolg, Durchsetzung der Interessen o.ä.), der anderen dagegen „Unheil" (Niederlage, Mißerfolg, Untergang usw.) zugesagt wird, beziehen sich erstere - ob implizit oder, wie in fast allen Fällen, explizit - auf einen Feind, der weder mit JudaJerusalem noch mit dem angesprochenen Volk identisch ist; zwischen dem Volk, das der Prophet vertritt, und demjenigen, das er anspricht, besteht kein direkter Konflikt, auf den sich das Orakel bezieht. Dieser Unterschied ist für die Interpretation der Völkersprüche von zentraler Bedeutung: Selbst wenn diese in gattungsgeschichtlicher Hinsicht im Zusammenhang mit den biblisch und außerbiblisch bezeugten Kriegsorakeln, Fluchsprüchen und priesterlichen Heilsorakeln zu sehen sind, so ist damit über ihre Funktion und über ihren Sitz im Leben nichts ausgesagt. Auch wenn der Prophet eine ältere Gattung aufnimmt bzw. in deren Tradition steht, so können daraus keine Schlüsse in bezug auf deren konkrete Anwendung und Intention gezogen werden. Diese ergeben sich nicht aus der Gattung und deren ursprünglichen Verwendung, sondern aus dem realen Kontext, der seinerseits in den literarischen Kontext eingegangen ist und nur dort erhoben werden kann. Es ist deshalb methodisch angezeigt, dem entscheidenden Unterschied zwischen Kriegsorakeln, Fluchsprüchen und prophetischen Heilsorakeln auf der einen und Völkersprüchen auf der anderen Seite ausführlich nachzugehen. Der Frage nach dem „Feind", der eben weder mit der Partei des Sprechers noch mit der Partei der Angesprochenen identisch ist, kommt von daher eine Schlüsselfunktion zu.

4. Der „ F e i n d " bei Jeremia a) Die Aussagen

über den „Feind"

in den jeremianischen

Völkersprüchen

Die an die verschiedenen Völker gerichteten Gedichte bzw. Sprüche schildern den Feind, dessen Kriegszug durch Syrien-Palästina Jeremia in grellen Farben und unter Einsatz verschiedener Formen ankündigt, sehr unterschiedlich. (1) Im ersten Ägypten-Gedicht sowie im Ammon- und im DamaskusSpruch tritt der konkrete Feind überhaupt nicht ins Blickfeld. Zwar wird zweifelsfrei deutlich, daß es sich um einen militärischen Gegner handelt, der eine kriegerische Auseinandersetzung herbeiführt und den entsprechenden Völkern eine militärische Niederlage zufügt; die Terminologie ist in diesen 31

Ähnliches gilt im übrigen auch für das in Ägypten belegte Ritual der Ächtung feindlicher Fürsten und Völker. Zu Strukturparallelen und entscheidenden Differenzen vgl. ausführlich WOLFF, Joel/Arnos 175-178.

4. Der „Feind" bei Jeremia

279

Abschnitten - wie in allen Völkersprüchen - diejenige des Krieges. Doch gewinnt der Feind selbst keine Konturen: Nicht nur bleibt seine Identität im Dunkeln, sondern er wird überhaupt mit keinem Wort erwähnt. Dies überrascht besonders etwa im ersten Ägypten-Gedicht, wo vom anschaulichen, lebendigen Kampfruf, der an die Adresse der Ägypter gerichtet ist (46,3f.), direkt zur Schilderung der Niederlage eben dieser Ägypter übergegangen wird (V. 5). Die Nichterwähnung des Feindes muß in diesem Kontext umso mehr auffallen, als Ägypten durch mancherlei Anspielungen und Wortspiele zwar indirekt, jedoch zunehmend und am Ende des Gedichts auch explizit identifiziert wird. Die Niederlage, die Ägypten hinnehmen muß, wird jedoch von einem Gegner herbeigeführt, der selbst unsichtbar bleibt. Während die Ägypter bei ihren Kampfvorbereitungen beobachtet werden und ihre Rufe zur Kampfvorbereitung das Gedicht eröffnen (46,3f.8b.9), während sie umgekehrt als Flüchtende und Gefallene in den Blick kommen (46,5f.) und die Reaktion der Völker auf diese Niederlage wiedergegeben wird (46,12), tritt der Feind aus dem Dunkel nicht heraus. Auch der Ammon-Spruch 49,3-5 ruft zur Klage angesichts der Verwüstung auf und sagt die Exilierung des Gottesbildes, der Priesterschaft und der Oberschicht an (V. 3), ohne den Feind zu nennen; die Bewohner des Landes werden von unsichtbarer Hand vertrieben (V. 5). Der Damaskus-Spruch schließlich schildert anschaulich den Schrecken, die Angst und Flucht der Menschen, die eine schlechte Nachricht hören (49,23-25), wobei aus dem Kontext hervorgeht, daß es sich um Krieg handelt (V. 26f.); der eigentlich Handelnde, der den Tod der jungen Männer und der Soldaten verschuldet (V. 26), wird mit keinem Wort genannt. (2) Eine ganze Reihe von Bildern illustriert die Bedrohlichkeit, die Schnelligkeit und die Unwiderstehlichkeit des Feindes. In diesem Sinne findet sich mehrfach die Metapher des Schwerts, das unter den Menschen wütet (46,10.14; 47,6; 48,2). Der Feind ist ein schädliches Insekt, das die schöne Kuh Ägypten (zu Tode) sticht (46,20), und er tritt auf wie ein Heer von Holzhackern, die den Wald roden (46,22.23a), zahlreicher als Heuschrecken (46,23b). Wie Wasser überflutet er das Land der Philister (47,2). Wie Küfer den Wein umschütten, darüber hinaus aber gleich die Krüge zerschlagen, so fällt er über Moab her (48,12). Wie Winzer, die keine Nachlese übriglassen, und wie Diebe in der Nacht verwüstet er Edom (49,9). Über die Identität des Feindes besagen alle diese Bilder nichts; lediglich seine Gefährlichkeit, seine Gewalt und Durchschlagskraft werden plastisch herausgestellt. (3) Ein einziges Mal kommt der Feind selbst zu Wort, wenn im MoabGedicht 48,1-9 sein Beschluß gegen Moab wörtlich wiedergegeben wird (48,2). Allerdings enthält auch dieses Zitat keinerlei Hinweise auf die Identität der Sprecher, deren direkte Rede nicht einmal eingeleitet wird; daß hier der Feind spricht, muß aus dem Kontext erschlossen werden.

280

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

(4) Häufig spiegelt sich der Feind in den Reaktionen der Menschen, in Klängen, Rufen und Geräuschen sowie Beschreibungen der Auswirkungen seiner Feldzüge. In diesem Sinne kann die Schilderung von der Niederlage und Flucht der Ägypter (46,5f.l2.15f.) als indirekte Aussage über den Feind betrachtet werden, ebenso die unheilbare Krankheit, welche die „Tochter Ägypten" befallen hat (46,11), und ihre Charakterisierung als geschändete Jungfrau (46,12). Hinter den Aufrufen zur Verteidigung (46,14), zur Flucht (48,6.19.28; 49,8; 49,30), zu Mitleid (48,17) und Klage (49,3) steht ebenso drohend ein übermächtiger Feind wie hinter dem Geschrei (46,2; 48,3f.), dem Weheruf (48,1.20; 49,25), der Angst und Sorge (47,3; 49,23f.) sowie der Trauer der Menschen (47,5). Derselbe Feind, der die ägyptischen Söldner zum Desertieren veranlaßt (46,16b.21), führt auch die Menschen in die Gefangenschaft (46,19) und zerstört ihre Städte (46,19; 49,31 f.). Die besten Soldaten können gegen ihn nichts ausrichten (48,14f.; 49,26). Die lautmalerischen Geräusche, das Stampfen der Rosse, das Dröhnen der Wagen und das Knarren der Räder (47,3) malen anschauliche Szenen, welche die Gestalt des Feindes zum Leben erwecken. In feierlichen Aussagen wird sein verheerender Zug durch Syrien-Palästina angekündigt (46,16.18; 48,7f.l8; 49,26.29.32) oder dazu aufgerufen (49,28b.31). (5) Der größte Teil der Gedichte und Sprüche enthält hingegen einen Hinweis auf die geographische Herkunft des Feindes. Hier nimmt das Stichwort „Norden" eine zentrale Stellung ein. Einerseits wird ausdrücklich vermerkt, daß der Feind von Norden kommt (]"?HQ 46,20; 47,2), ein „Volk von Norden" ist (jiB2i"DJ) 46,24). Andererseits wird aufgrund der geographischen Angaben mehrfach deutlich, daß die Gefahr sich in nord-südlicher Richtung bewegt (48,2-4 Nebo-Kirjatajim-Heschbon-Dimon-Horonajim-Zoar; 49,3 Rabba-Heschbon; 32 49,8 Edom-Dedan; 49,23f. Hamat-Arpad-Damaskus; evtl. auch 49,28-33 Kedar-Hazor). Das erste Ägypten-Gedicht hingegen, in welchem sich das Stichwort ]iS2J zweimal findet (46,6.10), nimmt eine Sonderstellung ein. Denn hier handelt es sich offensichtlich nicht um die Richtung, aus welcher der Feind über Syrien-Palästina hereinbricht, sondern um eine Bezeichnung der Region („am [Fluß] Euphrat", V. 6.10, vgl. V. 2), in welcher der Kampf mit Ägypten stattfindet. Gerade dadurch aber fügt sich das erste Ägypten-Gedicht exakt in die Linie der übrigen Völkersprüche. Die Schlacht von Karkemisch stellt den entscheidenden Wendepunkt im Ringen um die Vorherrschaft über den Vorderen Orient gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. dar. Der Sieg Nebukadnezars über Ägypten und Restassyrien öffnete diesem den Weg nach Syrien-Palästina und Ägypten. Von daher hängen die Angaben „im Norden" und „von Norden" untrennbar zusammen. Die Daß der über Ammon ergehende (Gottes-) Schrecken von allen Seiten Tnp-'PSQ) über das Land hereinbricht, muß keinen Widerspruch zur Nordrichtung darstellen, da damit auch lediglich die Plötzlichkeit und das Ausmaß der Katastrophe bezeichnet sein können (vgl. 4,17 sowie zu T3DD "liJD unten S. 290).

4. Der „Feind" bei Jeremía

281

Niederlage „im Norden" begründet die Gefahr und das Unheil „von Norden". Von daher ist es sicher nicht als Zufall zu betrachten, daß das erste ÄgyptenGedicht im MT die Sammlung der Völkersprüche eröffnet. Diese Anordnung ist chronologisch und sachlich richtig und entspricht dem Unterschied zwischen p i Q (46,10) bzw. n]ÍDK (46,6) auf der einen und ]iSSD (46,20; 47,2) bzw. (46,24) sowie der durch die Städte- bzw. Völkernamen angedeuteten Nord-Süd-Richtung auf der anderen Seite. Der konkrete historische, militärische Feind kommt in den Völkersprüchen des Jeremiabuches also nur relativ selten und dann lediglich unscharf in den Blick. Entweder bleibt er überhaupt unsichtbar, so daß sich seine unheilvollen Aktivitäten lediglich in den Reaktionen der Menschen spiegeln, oder die Informationen bleiben auf der allgemeinsten Ebene, etwa wenn das Ausmaß der Verwüstung oder die Unwiderstehlichkeit und große Kraft des anrückenden Heeres mit oder ohne Bilder beschrieben werden. Der Hinweis, daß der Feind von Norden kommt, ist zwar die präziseste Angabe, läßt sich jedoch noch immer nicht mit der - abgesehen von den redaktionellen Überschriften 46,2.13; 49,28 - einzigen expliziten Namensnennung in 49,30 vergleichen, zumal von der Topographie Palästinas her eine feindliche Invasion in Israel kaum anders denn aus nördlicher (oder allenfalls südlicher) Richtung erfolgen konnte. Diese Unschärfe ist auffällig und charakteristisch. Wenn die Gedichte und Sprüche im Zusammenhang mit der Schlacht von Karkemisch (605 v.Chr.) und in den folgenden Jahren entstanden sind, was doch wohl die wahrscheinlichste Annahme ist, so stellt sich die Frage, weshalb Jeremia den Feind in seinen Texten nicht identifiziert hat. Daß er ihn nicht hätte identifizieren können, ist auszuschließen; spätestens mit Karkemisch, wahrscheinlich noch einige Jahre früher, war unzweifelhaft deutlich geworden, mit wem es die Völker Syrien-Palästinas und Ägypten zu tun bekommen würden. 33 Bei anderen Gelegenheiten hat Jeremia außerdem bestimmt ausdrücklich und unverschleiert von den Babyloniern gesprochen (vgl. etwa 22,25). Daß umgekehrt Jeremia den Feind nicht deutlicher zu bezeichnen brauchte, weil ohnehin kein Zweifel bestehen konnte, um wen es sich handelt, ist ebenfalls keine überzeugende Erklärung des Phänomens. Zwar ist nicht zu bezweifeln, daß in den Jahren nach 605, als die Feldzüge Nebukadnezars die Völker Syrien-Palästinas in Atem hielten und diesbezügliche Neuigkeiten sich wohl wie Lauffeuer ausbreiteten, jedermann wissen mußte, von welcher bedrohlichen Macht Jeremia sprach. Doch gerade deshalb bestand auch keine Notwendigkeit, diesen Feind nicht beim Namen zu nennen oder doch wenigstens, sollte es sich dabei

33

Die Theorie, der „Feind aus dem Norden" sei das asiatische Reitervolk der Skythen, die nach Herodot I, 103-106 in Syrien-Palästina einfielen, wurde v.a. von DUHM vertreten, der Jer 4-6 als „Skythenlieder" bezeichnete (XIV u.ö,; vgl. noch ROWLEY, Early Prophecies). Daß die Skytenstürme Herodots, die in keiner anderen Quelle erwähnt werden, kaum historisch bzw. in ihrem Ausmaß stark überzeichnet sind, wies bereits 1913 F. WILKE, Skythenproblem, nach; vgl. zuletzt VAGGIONE, Over all Asia.

282

IV. Die Völkersprüche Jeremias

um ein bewußt eingesetztes poetisches Stilmittel der Verschleierung handeln, gelegentlich mit einer Anspielung oder einem Wortspiel, wie dies etwa im ersten Ägypten-Gedicht mehrfach für Ägypten der Fall ist, auf dessen Namen oder Identität hinzuweisen. Wenn Jeremia den Feind nicht identifizierte, dann mit Sicherheit deshalb, weil er ihn nicht identifizieren wollte, weil er damit eine bestimmte Absicht verband. Läßt sich über diese Absicht Näheres sagen? Es war in den Textanalysen mehrfach, genaugenommen bei jedem einzelnen Gedicht bzw. Spruch, darauf hinzuweisen, daß als eigentlicher Feind hinter dem militärischen Feind JHWH steht. Besonderes Gewicht kommt diesem Umstand wiederum dort zu, w o der militärische Feind überhaupt nicht in den Blick kommt, also im ersten Ägypten-Gedicht und in den Sprüchen über A m m o n und Damaskus. Die eigentümliche Spannungslinie des ersten Ägypten-Gedichts entsteht einerseits dadurch, daß die ersten beiden Strophen je in sich geschlossen sind und im Innern je starke Spannungen und Zwischenhöhepunkte aufweisen, andererseits aber auf den markanten Höhepunkt in V. 10 zulaufen. Die kürzere dritte Strophe V. 1 lf. wirkt demgegenüber wie ein Nachhall, eine Coda 34 : Sie verbindet die ersten beiden Strophen und schließt sie durch den Hinweis auf die aussichtlose Lage und die Verbreitung der Nachricht von der Niederlage in der ganzen Welt zusammenfassend ab. Dadurch entsteht ein weiter Bogen, der von den Rufen der Militärs (V. 3f.9) und des siegesgewissen Pharao (V. 7) bis zum Klagegeschrei der geschändeten Jungfrau (V. 12a) reicht; das eindrucksvolle Bild der fallenden Helden, das refrainartig wiederholt wird (V. 6.12), ist ein ausdrucksstarkes Symbol für den Zusammenbruch der ägyptischen Weltmacht. 35 In der ersten Strophe werden mit den klingenden Kampfrufen in V. 3f. und der plastischen Darstellung von Niederlage und Flucht in V. 5 zwei Szenen miteinander verbunden, die derart direkt eigentlich nicht zusammengehören. Aus einer Fülle von Informationen und Beschreibungen, Bildern und akustischen Mitteln, die im Zusammenhang auch einer poetischen Schilderung eines Kampfes möglich wären - taktische Organisation, Anmarsch und Aufstellung, Angriff und Gegenangriff, Kampfverlauf, Verluste u.v. m. - , werden lediglich deren zwei ausgewählt: Kampfvorbereitungen und Flucht; das dargestellte Geschehen wird dadurch auf Anfangs- und Endpunkt und somit auf das Wesentliche oder vielmehr das nackte Gerüst des Vorgangs reduziert. Diese perspektivische Verkürzung blendet die Kampfhandlungen vollständig aus; davon, daß der nachmalige Sieger z.B. besser kämpft, zahlenmäßig überlegen ist oder über durchschlagendere Waffen verfügt, ist keine Rede, weil es auf ihn im Zusammenhang offenbar gar nicht ankommt. Nur darauf liegt das Gewicht, daß hinter der Siegerpartei als der eigentliche Kriegsherr und Sieger JHWH steht, denn sowohl die Negativ-Partikel wie die Wendung T 3 0 D "TOO sind als Hinweise auf JHWH zu deuten. 36 34

So SNAITH, Literary Criticism 26.

35

S o WEISER 3 8 3 .

36

Z u den Implikationen der Negativ-Partikel vgl. oben S. 85 Anm. 50, zu denjenigen der Wendung D'^OP "liJQ unten S. 290. Eine ähnliche Konstellation in einem assyrischen Text von 672 v.Chr., in welchem auf die Kampfvorbereitungen kein Schlachtbericht folgt, schildert WEIPPERT, Heiliger Krieg 466-468. Immerhin wird dort jedoch das Eingreifen Istars beschrie-

4. Der „Feind" bei Jeremía

283

Deutlicher wird dieser Zusammenhang in der zweiten Strophe, die ähnlich gebaut ist, jedoch das in der ersten Strophe lediglich Implizierte explizit z u m Ausdruck bringt. Auf das zugleich dynamische und majestätische Bild der Nilüberflutung und die siegesgewisse Rede des Pharao, die in die A u f r u f e zum Kampf mündet, folgt das schwere, in seinem Ernst nicht minder majestätische Wort vom Tag J H W H s . Wieder sind eigentliche Kampfhandlungen nach den lautmalerischen Aufrufen z u m Kampf nicht beschrieben; dadurch entsteht auch innerhalb dieser Strophe ein starkes Gefälle auf J H W H hin, der in V. 10 denn auch ausdrücklich genannt ist. Was sich in dieser Schlacht „im Land des Nordens am Euphratstrom" abspielt, ist ein Schlachttag J H W H s , ein Tag, an welchem J H W H selbst an seinen Feinden Rache nimmt. Wie in der ersten Strophe ist die Aussage in sich geschlossen und abgerundet, so daß das Fehlen des militärischen Siegers im realen Kampf, an dessen Stelle J H W H tritt, umso mehr auffallen muß.

Der eigentliche Feind Ägyptens ist JHWH; er zeichnet für die Niederlage bei Karkemisch verantwortlich, und hinter ihm verschwindet der eigentliche militärische Gegner vollständig. Dies gilt mutatis mutandis auch für den Ammon-Spruch: JHWH selbst bringt IIIS, „(Gottes-) Schrecken" 37 , über Ammon (49,5). In dem kurzen Spruch liegt alles Gewicht auf dem Drohwort. V. 4 ist zwar formal als Scheltwort gestaltet, stellt jedoch inhaltlich keine echte Anklage bzw. Begründung der Gerichtsankündigung dar; vielmehr kommt dadurch die Unentrinnbarkeit des kommenden Unheilsgeschehens und die Vergeblichkeit der Berufung auf Reichtum und geographisch günstige Lage zum Ausdruck. Auf das Werkzeug, dessen sich JHWH bedient, kommt es in alledem nicht an. Der (Gottes-) Schrecken, der die Ammoniter überfällt (V. 5), impliziert einen Krieg JHWHs gegen Ammon. Der militärische Feind, der das Gerichtsurteil JHWHs vollstreckt, wird nicht genannt. Besonders wird dieser Zusammenhang schließlich auch im DamaskusSpruch hervorgehoben. Der kurze Text schildert die Angst der Damaszener angesichts der Nachrichten aus Norden und ihre Flucht bzw. Evakuation. Darauf wechselt die Szenerie abrupt: In den Gassen und auf den Plätzen der von der Zivilbevölkerung verlassenen Stadt liegen die Leichen der erschlagenen Soldaten. Der Feind kommt nicht in den Blick; von ihm ist nur indirekt die Rede, wenn die Damaszener schlechte Nachrichten hören (49,23), die sich auf die Einnahme Hamats und Arpads bezieht, wenn der Feind von Damaskus also noch Hunderte von Kilometern entfernt ist, und dann wieder nach der Einnahme von Damaskus, wenn nur noch die Leichen in der sonst menschenleeren Stadt stumme Zeugen des vergangenen Kampfes sind, der Feind selbst jedoch längst wieder weitergezogen ist. Angesichts dieser auffälligen Absenz

ben, durch welches die Bogen der Feinde zerbrochen werden und die Schlachtordnung aufgelöst wird (ebd. 467). Darin findet sich wenigstens eine Andeutung der Schlacht, die in Jer 46,5 vollständig ausgeblendet ist. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe: „wesentlich erscheinen dem Bericht die menschlichen Aktionen nicht; die entscheidenden Taten vollbringen die Götter" (ebd. 468). 37 Zu "IIIS im Sinne des Gottesschreckens vgl. unten S. 290.

284

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

des Feindes kommt wiederum dem abschließenden Vers des Damaskus-Spruches mit dem „Ich" JHWHs OFKn-!) besonderes Gewicht zu: JHWH selbst ist es, der das Unheil veranlaßt, es ist sein Werk, der militärische Vollstrecker seines Willens ist demgegenüber nebensächlich und braucht nicht einmal eigens genannt zu werden. Der Damaskus-Spruch ist schwer achterlastig und bringt durch dieses Gefälle zum Ausdruck, worin das eigentliche Gewicht des Ganzen zu sehen ist. Aber auch dort, wo Bilder oder einige wenige Attribute den Feind einen kleinen Schritt aus dem Dunkel heraustreten lassen, liegt der eigentliche Akzent darauf, daß JHWH der Verursacher des Unheils ist. JHWH stößt den „Starken" Ägyptens um (46,15b) und bringt viele zu Fall (46,16 unkorr.). 38 JHWH richtet unter den Philistern Verwüstung an (47,4); sein Schwert ist es, das dort wütet (47,6), und er selbst hat den Befehl dazu gegeben (47,7). JHWH schickt Küfer nach Moab, welche den Wein ausschütten, die Fässer leeren und die Krüge zerschmettern (48,12). JHWH ist es, der Unheil über Edom kommen läßt (49,8) und seine Verstecke aufdeckt (49,10). JHWH erteilt den Auftrag, gegen Kedar und Hazor zu ziehen (49,28.31), und er selbst ist es, der die „an den Schläfen Gestutzten" in alle Windrichtungen zerstreut (49,32). 39 Diese starke, in fast allen Gedichten und Sprüchen nachweisbare, beinahe pedantisch wirkende Betonung, daß JHWH der eigentliche Feind ist, der gegen die Völker Krieg führt, so daß der militärische Feind hinter ihm ganz zurücktritt, 40 ja bei aller Bedrohlichkeit im Grunde nur die Funktion eines Handlangers ausübt, stellt in zweifacher Hinsicht einen Schlüssel für das Verständnis der jeremianischen Völkersprüche dar. Zum einen erklären sich von diesem theologischen Interesse her, JHWH als den eigentlichen Feind zu bezeichnen, eine Reihe sprachlich-stilistischer Elemente und theologischer Motive, die sich im Korpus der Völkersprüche gehäuft finden. Hier ist davon zu sprechen, daß Jeremia den Kampf des „Feindes aus dem Norden" gegen die Nachbarn Judas als „Heiligen Krieg" bzw. als JHWH-Krieg stilisiert. Zum andern verbinden - neben einer Reihe von sprachlich-stilistischen Parallelen dieses zentrale Interesse und die im Hintergrund stehende Tradition des JHWH-Krieges die jeremianischen Völkersprüche mit den jeremianischen Gedichten über den „Feind aus dem Norden", die davon getrennt als Kapitel 4-6 des Jeremiabuches überliefert wurden. Sind jedoch diese beiden Textgruppen sachlich miteinander verbunden, so ergeben sich daraus bedeutsame Hin-

38

Ebenso wird die Wendung jiSX'DiJ T 3 nJTO (46,24) als passivum divinum zu deuten sein. In den sekundären Zusätzen ist der Befund identisch (46,25; 48,33.35; 49,2.13.19.20), besonders auffällig im Elam-Spruch, der überhaupt nur aus Ich-Aussagen JHWHs besteht (49,35.36[zweimal].37[viermal].38[zweimal]). 40 Dies wird gelegentlich auch von den Exegeten hervorgehoben, vgl. etwa NÖTSCHER 323, 39

VOLZ 4 1 9 , WEISER 4 1 0 , CARROLL 7 6 3 .

4. Der „Feind" bei Jeremia

285

weise auf die Absicht und Funktion der Völkersprüche. Diesen beiden Fragenkreisen ist deshalb im folgenden nachzugehen. b) Die Völkersprüche

und der Heilige

Krieg

Die auffallend häufige und deutliche Betonung, daß die eigentliche Macht, welche gegen die Völker Krieg führt und den Sieg erwirkt, JHWH ist, findet in den alttestamentlichen Erzählungen von den Kriegen des vor- und des frühstaatlichen Israel zahlreiche Parallelen. So werden ausdrücklich Israels bzw. Sauls und Davids Kriege als Kriege JHWHs bezeichnet (niiT nionbü ISam 18,17; 25,28; miT1? r o f p p Ex 17,16; nürfpQn mrr'? ISam 17,47; vgl. ~1?D mrr; nbrfpQ Num 21,14), Israels Feinde als JHWHs Feinde (mm "TN ISam 30,26; m r r ^ - T i x - 1 ^ J d c 5>31). Im Krieg ist JHWH allein der Handelnde: Er zieht vor Israel her (Jdc 4,14; Dtn 1,30; 20,4; IlSam 5,24; vgl. Jos 3,11), kämpft für Israel (Ex 14,14; Dtn 1,30; 20,4; Jos 10,14.42; 11,6; 23,10), greift selbst ins Kampfgeschehen ein (Ex 15,6.21) und schenkt Israel den Sieg (Ex 15,21; Dtn 20,4; Jos 2,24; 6,16; 8,1.18; 10,8.12.19; 11,6; Jdc 3,28; 4,7.14; 7,9.15; 18,10; 20,28.35; ISam 14,12.23; 17,46; 23,4; 24,5; 26,8; 20,28; vgl. Am 2,9); JHWH ist der „Kriegsmann" (Ex 15,3; vgl. Jes 43,13). Dem entspricht, daß weder die Qualität der Bewaffnung noch die Zahl der Kämpfer von wirklicher Bedeutung ist (Jdc 7,2ff.; ISam 14,6; 17,45.47; vgl. Sach 4,6), man sich im Gegenteil scheut, das Heer zu zählen (IlSam 24,1 ff.; vgl. Ex 30,12). Die Krieger kommen JHWH lediglich zu Hilfe (mrr; rr.ii;^ i O Jdc 5,23); der menschliche Anteil am Sieg wird möglichst gering dargestellt (Jdc 7,2; ISam 14,6) oder zu „einer Art von Demonstration" degradiert 41 (Jos 7,16ff.; vgl. 2,3-5), jedenfalls gerade nicht auf die Waffengewalt des kriegführenden Israel zurückgeführt (Ex 17,11 f.). Israel hat sich vor allem nicht zu fürchten, sondern auf JHWH zu vertrauen (Ex 14,13f.; Dtn. 20,3; Jos 8,1; 10,8.25; 11,6; Jdc 7,3; ISam 23,16; 30,6; IlSam 10,12; vgl. Jes 7,4; Ps 20,8; 146,3; Sach 4,6). (1) Diese einseitige Betonung der Wirksamkeit JHWHs, welche die menschliche Mitwirkung ganz ausblendet oder zumindest sehr stark schmälert, hat G. von Rad als Element des „Heiligen Krieges" beschrieben. 42 Die klassische Untersuchung von Rads zum Phänomen des Heiligen Krieges in Israel stellt zunächst die unterschiedlichen Elemente der Kriegführung Israels, wie sie sich in den vielfältigen Überlieferungen der alttestamentlichen Erzählungen finden, zu einer „Theorie vom Heiligen Krieg" zusammen (6-14), um dann die Geschichte dieser Institution aufzuzeigen (14-84). Der Untersuchung liegt die Überzeugung zugrunde, daß es sich beim Heiligen Krieg um eine sakrale bzw. kultische, d.h. „durch

41 VON RAD, Der Heilige Krieg 13; von einer „kultischen Prozessionshandlung" spricht DEINES, Reinheit als Waffe 72. 42 VON RAD, Der Heilige Krieg; die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Studie.

286

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

bestimmte traditionelle sakrale Riten und Vorstellungen konventionierte" (14) Institution des alten Israel handelt (5f.; passim). Als Hauptelemente des Heiligen Krieges treten in den Erzählungen des Alten Testaments die folgenden, die sich allerdings nicht in jeder Erzählung gleicherweise finden, auf: 1. das Aufgebot durch Stoßen in die Posaune oder archaische Riten; 2. strenge sakrale Ordnung in Heer und Lagergemeinschaft; 3. Opfer, Gottesbefragung und Verkündung des Gottesbescheids durch den Führer; 4. Aufmarsch gegen den Feind, wobei JHWH vor dem Heer herzieht, 5. Rüstung „vor JHWH"; 6. JHWH bewirkt, daß den Feinden der Mut sinkt; 7. Eröffnung der Schlacht durch Kriegsgeschrei; 8. JHWHs Eingreifen manifestiert sich als Gottesschrecken, der den Feind erfaßt und seine Schlachtordnung durcheinanderbringt; 9. Höhepunkt und Abschluß bildet der Bann, die kultische Übereignung der Beute an JHWH; 10. zuletzt erfolgt die Entlassung des Heerbannes (6-14). War der Heilige Krieg ursprünglich als Defensivkrieg in der Amphiktyonie beheimatet (26), so zeigt die spätere Entwicklung vor allem im Zeitalter des „salomonischnachsalomonischen Humanismus" die „novellistisch-spiritualisierende Ausgestaltung" einzelner Motive der alten Tradition und ihre Heraushebung aus dem Bereich des Sakral-Kultischen; parallel zu dieser Entwicklung erfolgt eine zusätzliche Zuspitzung auf die entscheidende Heilstat JHWHs unter Ausschluß menschlicher Mitbeteiligung (49f.). Diese Umgestaltung wurde nötig und möglich, weil das Königtum durch die Einführung des Berufssoldatentums anstelle des Heerbannes das Ende der sakralen Institution herbeiführte (33f.). In einer weiteren Phase wächst die Ideologie des Heiligen Krieges in die Prophetie hinein. Im 9. Jahrhundert werden die Propheten zu „Sprechern der alten Forderungen des Heiligen Krieges"; die Prophetie versteht sich als „Garant des Schutzes Israels nach außen hin" und tritt dadurch an die Stelle, an welcher früher die Institution des Heiligen Krieges stand (55f.). Beim Jesaja des 8. Jahrhunderts finden Tradition und Terminologie des Heiligen Krieges - Glaube, Ablehnung von Rüstung und Bündnissen, Schauen auf JHWH, Stillehalten - noch einmal einen mächtigen Sprecher, wenngleich bei ihm die Tendenz der „humanisierten und theologisierten Erzählungen", das menschliche Handeln im Heiligen Krieg zugunsten des exklusiven Eingreifens JHWHs gänzlich zurückzudrängen, zusätzlich radikalisiert ist (61 f.). In der späteren Prophetie finden sich häufig noch einzelne Traditionselemente des Heiligen Krieges, die jedoch nicht mehr zu einer Erneuerung des ganzen Vorstellungskomplexes führen; insbesondere ist die Gebundenheit an die kultisch-sakrale Sphäre vollständig weggefallen. Die Wiederaufnahme der alten Traditionen beschränkt sich auf die „stark spiritualisierten zentralen Motive des Glaubens an die Autarkie der Hilfe Jahwes gegenüber aller menschlicher Betriebsamkeit" (67). Im Deuteronomium werden die alten Überlieferungen in „ausgesprochen paränetischer Stilisierung und homiletischer Auflockerung" dargeboten bzw. paränetisch interpretiert (69f.). Gegenüber dem ursprünglich rein defensiven Charakter wird der Heilige Krieg nun zum Religionskrieg, in welchem sich Israel offensiv gegen den kanaanäischen Kultus wendet (70). Nach einer kurzen Neubelebung der Ideologie des Heiligen Krieges in der Josiazeit unter dem Einfluß des Deuteronomiums findet diese schließlich ihr definitives Ende (77f.); in nachexilischer Zeit tritt sie nur noch in geistlich sublimierter und „levitisierter" Form auf (80f.).

Ist das Wirken JHWHs gegen die Völker, das in den jeremianischen Völkersprüchen eine prominente Stellung einnimmt, ein Element der durch von Rad formgeschichtlich beschriebenen und gattungs- und überlieferungsgeschicht-

4. Der „Feind"

bei

Jeremia

287

lieh lokalisierten Tradition d e s H e i l i g e n Krieges, so sind V ö l k e r s p r ü c h e u n d H e i l i g e r Krieg in einer z u n ä c h s t lediglich konstatierten u n d nicht qualifizierten W e i s e m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n . E s k a n n d a h e r g e f r a g t w e r d e n , o b w e i t e r e charakteristische Elemente beiden gemeinsam sind.43 (2) D e r a u f f ä l l i g e B e f u n d , d a ß sich in den V ö l k e r s p r ü c h e n vor a l l e m d e s J e r e m i a b u c h e s eine g a n z e A n z a h l v o n A u f f o r d e r u n g e n z u r F l u c h t finden (48,6.28; 4 9 , 8 . 3 0 ; 50,8; 5 1 , 6 . 4 5 ; vgl. 4,5f.; 6,1; S a c h 2,10f.; Jes 2 1 , 1 3 f f . ; 4 8 , 2 0 ) , hat R . B a c h zu einer t i e f g r e i f e n d e n f o r m g e s c h i c h t l i c h e n U n t e r s u c h u n g d i e s e s P h ä n o m e n s in der v o n G . von R a d e i n g e s c h l a g e n e n R i c h t u n g veranlaßt. 4 4 Die Aufforderungen zur Flucht, die sich im AT vor allem bei Jeremia und dort hauptsächlich im Korpus der Völkersprüche finden, weisen eine Reihe von formalen Übereinstimmungen auf. Sie ergehen immer in Form von zwei oder drei Imperativen m. pl., gelegentlich auch einem Imperativ und einem Prohibitiv, wobei unterschiedliche Verbalwurzeln verwendet werden. Gelegentlich ist die Aufforderung verstärkt durch eine Anspornung zur Eile. Meist ist der Ausgangspunkt der Flucht, häufig auch der Zielpunkt genannt. Der angeredete Personenkreis wird fast regelmäßig durch einen Vokativ bezeichnet. Der Aufforderung zur Flucht folgt in der Regel eine mit "O angefügte Begründung in Form einer Unheilsankündigung. Redendes Subjekt ist, wenn die Aufforderung nicht unpersönlich formuliert ist, JHWH, nur einmal der Prophet selbst. Bei unpersönlicher Formulierung wird von den Bedrohten bzw. deren Gebiet in der 3., sonst in der 2. Person gesprochen.; gelegentlich werden diese auch nicht genannt. Die Ankündigung selbst ergeht als Aussagesatz entweder mit futurischem (Impf., Perf. cons., Nominalsatz) oder präsentischem Sinn (in Form einer Proklamation des Handelns JHWHs). (20-24) Diese weitgehenden Übereinstimmungen in wesentlichen Formmerkmalen lassen sich für Bach nicht als „im Interesse dichterischer Ausschmückung der Rede frei formulierte rhetorische Elemente", sondern nur als Indiz für eine eigenständige Gattung deuten. (26) Allerdings weisen sich die Aufforderungen zur Flucht in den Völkersprüchen durch ihren „merkwürdig wirklichkeitsfremden Charakter" (26f.) deutlich als Nachahmungen der Gattung aus; diese hat sich von ihrem ursprünglichen Sitz im Leben gelöst und ist zu einem „mehr oder minder formelhaften rhetorischen Element geworden" (32). Der ursprüngliche Sitz im Leben der Gattung ist dort zu suchen, wo sich ein israelitisches Heer zur Eroberung feindlichen Territoriums oder einer feindli43 VON RAD hält das Zusammentragen von Anklängen an die Vorstellung des heiligen Krieges in den Prophetenbüchern angesichts dessen, daß sich dort alle Lebensgebiete, profane wie sakrale, widerspiegeln, für wenig sinnvoll; zu fragen sei vielmehr, ob die Botschaft eines Propheten „substantiell auf irgendeine Weise von dem Überlieferungskomplex des heiligen Krieges her bestimmt" sei (Der Heilige Krieg 62). Dazu ist zu sagen, daß sich doch wohl das eine nicht ohne das andere haben läßt. Soll gezeigt werden, daß sich auch außerhalb des Jesajabuches, auf das sich VON RAD m.E. unbegründeterweise fast ausschließlich konzentriert (ebd. 56-62), der Vorstellungskreis des heiligen Krieges in theologisch relevanter Form - d.h. nicht nur als zufällige sprachliche Parallele, sondern im Ganzen der prophetischen Verkündigung bedeutungstragend - findet, kann auf eine Sichtung der in Frage kommenden Ausdrücke - wie stark „spiritualisiert" bzw. „literarisiert" auch immer - nicht verzichtet werden. 44 BACH, Aufforderungen 15-50. Die folgenden Seitenzahlen in Klammern beziehen sich darauf.

288

IV. Die Völkersprüche Jeremias

chen Stadt anschickt und ein Prophet durch ,„geheime Erfahrungen' die Gewißheit gewonnen [hat], daß Jahwe Israel den Sieg verleihen wird." Gewisse Dritte, die geschont werden sollen, werden nun vom Propheten aufgefordert, das feindliche Gebiet zu verlassen; diese Aufforderung wird durch einen Hinweis auf das drohende Schicksal in Form einer prophetischen Unheilsankündigung unterstrichen (42). Eine solche „Ausnahmebehandlung" bestimmter Menschen im Krieg ist dort nötig, wo es um die totale Vernichtung eines Feindes geht; diese wiederum findet sich in den Kriegen Israels regelmäßig in Form der Institution des Bannes. In diesem Zusammenhang wissen die alttestamentlichen Erzählungen denn auch von Verschonungen einzelner kanaanäischer Sippen bei der Landnahme (Jos 2; 6,22-25; Jdc 1,22-26) (44-47). 45 Die einzige Aufforderung zur Flucht, die innerhalb einer alttestamentlichen Erzählung in ihrem originalen Sitz im Leben überliefert wurde, befindet sich in ISam 15,6; ihr entsprechen die prophetischen Nachahmungen der Gattung auf das genauste (48-50). Als traditionsgeschichtlicher Hintergrund der prophetischen Verwendung solcher Aufforderungen zur Flucht ist somit die Bannpraxis im Rahmen der JHWH-Kriege Israels anzunehmen. 4 6 Im Kontext der jeremianischen Völkersprüche ist mit dem Übergang auf einen neuen Sitz im Leben eine Verfremdung verbunden; die Herkunft der Gattung ist jedoch noch erkennbar und als bewußt eingesetztes Gestaltungselement auch von theologischer Bedeutung. (3) Im selben Zusammenhang untersucht Bach die noch häufigeren Aufforderungen zum Kampf. 4 7 Auch die Aufforderung zum Kampf findet sich gehäuft in den Völkersprüchen des Jeremiabuches (46,3f.9; 49,14.28b.31; 50,14-16.21.26f.29; 51,3.1 lf.27f.), aber auch außerhalb (5,10; 6,4-6) und in anderen Prophetenbüchern (Jes 13,2; 21,2bß.5b; Hos 5,8; Joel 4,9-12.13; Mi 4,13; Ob 1); wie die Aufforderung zur Flucht steht auch sie meist in enger Verbindung mit Unheilsankündigungen (51). Die Aufforderung selbst ergeht fast ausnahmslos in Form des Imperativs m. pl., nur ganz ausnahmsweise m. sg. oder f. sg., gelegentlich mit Jussiv, Kohortativ und Prohibitiv. Sehr groß sind die Variationsmöglichkeiten hinsichtlich der verwendeten Verben und Ausdrücke. Hier finden sich dem Inhalt nach drei Gruppen von Aussagen: solche über das Aufgebot und das Anrücken der Truppen, solche über die Vorbereitung der Waffen bzw. der Rüstung, schließlich solche über Kampfhandlungen, häufig bildliche Ausdrücke für die Vernichtung des Gegners. Die Bezeichnung des zum Kampf aufgeforderten Personenkreises findet sich meist in Form von Vokativen, wobei so gut wie nie Völkernamen, sondern fast ausschließlich Truppenteile, Waffengattungen usw. erscheinen. Als letztes Formelement findet sich die Angabe des Feindes, gegen den gerüstet bzw. der angegriffen werden soll; diese ist je nach Kontext nominal oder pronominal gestaltet oder wenigstens durch die Richtung des Aufmarsches gegeben. Die den Auf45 In einem vergleichbaren Zusammenhang ist die Rettung Lots aus Sodom zu sehen; die Aufforderungen in Gen 19,12f. 14.15.17 stehen den prophetischen Aufforderungen zur Flucht auffällig nahe (ebd. 47f.). 46 Zur Kritik an dieser Herleitung s. STOLZ, Jahwes und Israels Kriege 154f. 157f. 192-196, der nachweist, daß der Bann in den israeltitischen Kriegen nicht die Regel war, ja daß es gar fraglich ist, ob diese Praxis, die eindeutig nur in der Mesa-Inschrift belegt ist, in Israel überhaupt je geübt wurde. 47 Ebd. 51-91.

4. Der „Feind" bei Jeremía

289

forderungen zum Kampf gewöhnlich folgenden Unheilsankündigungen bestehen aus einer Reihe unterschiedlich gestalteter, formal und inhaltlich in sich abgeschlossener Sprüche. Wesentlich häufiger als bei der Aufforderung zur Flucht findet sich bei der Aufforderung zum Kampf die präsentische Proklamation des Handelns J H W H s . Die Möglichkeiten der formalen Verknüpfung von Aufforderung zum Kampf und Unheilsankündigung schließlich sind vielfältiger als bei der Aufforderung zur Flucht; sie kann gelegentlich auch ganz fehlen (62-28). Wie bei der Aufforderung zur Flucht handelt es sich bei der Aufforderung zum Kampf um eine eigenständige Gattung. Die verschiedenen Verwendungsweisen und die unterschiedlichen Tendenzen machen jedoch deutlich, daß sich auch diese von ihrem ursprünglichen Sitz im Leben gelöst hat und in den jetzigen literarischen Zusammenhängen nachgeahmt ist (68-73). Ursprünglich hat der Prophet die Aufforderung zum Kampf an Israel gerichtet und eine Heilsankündigung angefügt, wobei letztere erst in den literarisch überlieferten Nachahmungen der Gattung durch die Unheilsansage an die Adresse der Bedrohten mehr oder weniger vollständig verdrängt wurde. Die Heils- bzw. Unheilsankündigung ist als „Seherspruch" gestaltet, durch den der Prophet die künftige Niederlage vorwegnimmt und von den zum Angriff Aufgeforderten lediglich den Nachvollzug des von ihm bereits Geschauten verlangt; ebenso vermittelt die Proklamation des Handelns J H W H s durch die Betonung des göttlichen Wirkens den Angreifern Siegesgewißheit (82-86). Diese Merkmale weisen die Gattung in den Bereich des Heiligen Krieges, in dessen Zusammenhang sie nach den erzählenden Überlieferungen des Alten Testaments eine Rolle spielt (Jos 6 , 2 f f . l 6 ; 8 , l f . 4 f f . l 8 ; 10,8; 11,6; Jdc 3,28; 4 , 6 f . l 4 ; 7,9.15; 18,9f.; 20,23.28; vgl. N u m 14,42; Jos 3,5; Jdc 18,9f.) (87-91); in den Heiligen Kriegen der Richterzeit wurden die Aufforderungen zum Kampf „vom charismatischen Führer des Heerbannes gesprochen, dessen eigene Geistbegabung aller Wahrscheinlichkeit nach auch hinter der in der Begründung sich aussprechenden Siegesgewißheit steht." (101)

Mit den zahlreichen Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf weisen die jeremianischen Völkersprüche zwei weitere Gemeinsamkeiten mit den Erzählungen von den Kriegen Israels, die Kriege JHWHs sind, auf; die formgeschichtliche Untersuchung Bachs sucht zudem deren direkte Herkunft aus dem Traditionskreis des JHWH-Krieges über mögliche Zwischenglieder aufzuzeigen. 48

48 Die Übernahme der Gattungen aus dem Heiligen Krieg in die Prophetie biete sich dadurch an, daß einerseits die Übertragung vom charismatischen Heerführer auf den Propheten sehr leicht erfolgen konnte, möglicherweise über ein Zwischenstadium, in welchem die Aufforderungen zum Kampf und zur Flucht tatsächlich von Propheten gesprochen wurden; ohne diese Annahme müßte die breite Nachwirkung der Gattung in den Prophetenbüchern unverständlich bleiben (ebd. 101 f.). Andererseits sei das ehemalige Amt des Charismatikers in der Königszeit in eine „militärische" und eine „charismatische" Funktion aufgegliedert worden; erstere gehe auf den König über, letztere zunächst auf das Losorakel, dann auf die Propheten (ebd. l l l f . ) . Ähnlich ging schon VON RAD davon aus, dass die Rolle der Propheten in den Prophetenerzählungen der Königsbücher nur von den Traditionen des Heiligen Krieges her verstanden werden könne (Der Heilige Krieg 50ff.). VON RAD rechnete jedoch mit der Übernahme der Gattung im 9. Jahrhundert, indem die Propheten zu Trägern und Sprechern von Überlieferungen wurden, die im Volk schon fast ausgestorben waren (ebd. 54).

290

IV. Die Völkersprüche Jeremias

Auf denselben Zusammenhang verweisen weitere Motive, die nur vereinzelt auftreten, jedoch von der Terminologie her ebenfalls einen Bezug zum JHWH-Krieg nahelegen. (4) Der Schrecken ODS), den JHWH selbst über Ammon kommen läßt (49,5; vgl. 48,43f.; ohne den Terminus, jedoch der Sache nach auch 46,5; 47,3; 49,22.23f.), spielt im JHWH-Krieg eine wesentliche Rolle, i n s bezeichnet, von der Grundbedeutung „zittern, beben" ausgehend, allgemein den Schrecken als menschliche Reaktion in Gefahr, etwa bei feindlicher Bedrohung, bzw. die Gefahr selbst. 49 Im engeren Sinne tritt das Nomen jedoch als von JHWH gewirkter Schrecken im JHWH-Krieg, durch den die Feinde von JHWH selbst besiegt werden, auf (rnrr"mS: ISam 11,7; IlChr 14,13; 17,10; nprfy? i n s : IlChr 20,29; absolut: Ex 15,16; der Sache nach, jedoch mit unterschiedlichen Formulierungen auch Ex 15,14-16; 23,27f.; Dtn 2,25; 7,20.23; 11,25; Jos 2,9.11.24; 5,1; 10,2.10.11; 11,20; 24,7.12; Jdc 4,15; 7,22; ISam 4,7f.; ISam 5,11; 7,10; 14,15.20). Daß der Ausdruck i n s hier im Sinne des Gottesschreckens, wie er im JHWH-Krieg von JHWH über die Feinde kommt, verwendet wird, darf aus dem Kontext geschlossen werden, handelt es sich doch ausdrücklich nicht um eine Schrcckcnsreaktion, sondern um über die Ammoniter hereinbrechenden Schrecken (vgl. die Formulierung JTSQ ins welche im prämasoretischen Text in der folgenden JHWH-Spruchformel sinngemäß zur Erweiterung des JHWH-Namens um niXDK angeregt hat). 50 Wie in den Erzählungen von den Kriegen Israels wird auf diese Weise die Alleinwirksamkeit JHWHs betont, die dadurch zusätzlich unterstrichen ist, daß der militärische Feind, der den vernichtenden Schlag gegen Ammon ausführt, keines Blickes gewürdigt wird. In derselben Richtung dürfte auch der Ausdruck TDOO TUD (46,5; 49,29), wörtlich „Schrecken von allen Seiten", zu verstehen sein. T u n (I, von 113 III „sich fürchten") bedeutet in Jes 31,9; Jer 6,25; 2 0 , 3 f . l 0 ; 46,5; 49,29; Ps 31,14 „Schreck, Grauen", ebenso in Prov 10,24; Jes 66,4; Ps 34,5 die feminine Form m m 5 1 Die Wendung TDD "TOD findet sich nur in Jer 6,25; 20,3.10; 46,5; 49,29 sowie in Ps 31,14. Weiser erkennt darin ebenfalls das Motiv des Gottesschrekkens aus der Tradition des Heiligen Krieges, in 49,29 jedoch „ein im kultischen Klagelied beheimatetes Wort"; 5 2 Thompson und van der Westhuizen halten eine „proverbial curse formula" für möglich. 5 3 Nach wie vor am meisten für sich hat jedoch die Auffassung, daß es sich dabei um eine in der Umgangssprache geläufige Redewendung handelt, die eine schreckliche Situation, etwa eine drohende Gefahr bezeichnet (vgl. 20,10); 5 4 die klingende Allite-

49

V g l . STÄHLI, I N S 4 1 2 .

50

Zum Ganzen vgl. STÄHLI, ebd. 413 (mit ausdrücklichem Hinweis auf Jer 49,5); VON RAD, Der Heilige Krieg 10-12. 51 HALAT 177 bzw. 516f. 52 WEISER 382; letztere Interpretation der Wendung 415 Anm. 1. 53

T H O M P S O N 6 8 8 ; VAN DER W E S T H U I Z E N , S t y l i s t i c - E x e g e t i c a l A n a l y s i s 8 9 A n m .

54

Vgl. KRAUS, Psalmen I, 397; ähnlich CARROLL 811.

18.

4. Der „Feind" bei Jeremia

291

ration, die von Buber-Rosenzweig kongenial mit „Grauen ringsum" wiedergegeben wird, 5 5 spricht jedenfalls dafür (vgl. entsprechende umgangssprachliche Wendungen im Deutschen: „mit Schimpf und Schande", „bei Wind und Wetter" usw.). Die Übertragung auf Paschhur in 20,3 - worauf immer sie anspielt 5 6 - würde gerade dadurch besondere Farbe erhalten. Auch die Vermutung Wächters, 2 " 2 G C T I ' C sei in 20,3 eine sekundär in den Text geratene Glosse, welche das nicht mehr verstandene Wortspiel mit dem Namen ""HSS kommentierte (Wächter denkt an ""IHnS, von "HS „Schrecken" und "IH „Kreis", vgl. Jer 23,9) und schließlich ersetzte, 5 7 geht implizit davon aus, daß dieser Ausdruck nicht nur typisch jeremianisch, sondern allgemein gebräuchlich und verbreitet war. Eine Kriegssituation stellt von daher einen geeigneten Zusammenhang für die Formel dar. Wenn dabei TÜQ im Kontext als Alternative zum terminus technicus des „Gottesschreckens" im JHWH-Krieg ( i n s ) in derselben Funktion auftritt, wird das kein Zufall sein, sondern eine eigenständige und kreative Variante zum Standardausdruck (vgl. 49,5 " ^ " C ' ^ S S i n s ) . Zu dieser Variante wird es außerdem gehören, daß der terminus technicus für den Gottesschrecken nicht nur als beschreibendes Element zur Charakterisierung dessen, was J H W H an den Feinden wirkt, auftritt, sondern auch als angsterfüllter Ruf den Bedrohten (6,25) oder als Kriegsruf den Angreifern in den Mund gelegt wird (49,29). 5 8 Die L X X deutet den Ausdruck TUO von der homonymen Wurzel "113 I her: 6,25 7tapoiK£i, 20,3f. (J.EIOIKOV bzw. ixexoiKiav, 20,10 ouvavöpot^opEvcüv, 46/26,5 7tept£XÖ|ievoi, Ps 31/30,14 jiapotKoi>vucüv, nur in Jer 49,29/30,24 cmcoXeiav. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang besonders 6,25, wo die L X X für 3~in D'^OQ "lijQ ITN1? po|Iaia XMV e/9po)v raxpotKBt K U K A Ö O E V liest, d.h. ...TU (mit anderer Worttrennung); dadurch wird aus 3 ~ n fälschlicherweise ein maskulines Nomen, so daß diese Interpretation mit Sicherheit auf den Übersetzer zurückgeht. 5 9 Offenbar war das Substantiv TÜO in der Bedeutung „Schrecken" den Übersetzern der L X X schlicht nicht bekannt. ( 5 ) D e r A n f a n g d e s A m m o n - S p r u c h e s , 4 9 , l f . , w a r in d e r A n a l y s e als s e k u n d ä r b e z e i c h n e t w o r d e n , d a d a s B e g r ü n d u n g s e l e m e n t u n j e r e m i a n i s c h ist. N i c h t g a n z a u s z u s c h l i e ß e n ist a l l e r d i n g s , d a ß e i n K e r n , d i e U n h e i l s a n k ü n d i g u n g in V. 2 , a u f J e r e m i a z u r ü c k g e h t ; d i e D i k t i o n ist v o n ä h n l i c h e r A n s c h a u l i c h k e i t w i e a n d e r e j e r e m i a n i s c h e U n h e i l s a n k ü n d i g u n g e n . E i n E l e m e n t v o n V. 2 k a n n m i t d e m H e i l i g e n K r i e g in V e r b i n d u n g g e b r a c h t w e r d e n : J H W H l ä ß t ü b e r d e r 55 56

BUBER-ROSENZWEIG, Bücher der Kündung 388. Vgl. die Zusammenstellung der verschiedenen Versuche, das Wortspiel zu erklären, bei

HOLLADAY, C o v e n a n t 3 0 6 ( z u HOLLADAYS e i g e n e m D e u t u n g s v e r s u c h s. C H R I S T E N S E N , T e r r o r

on Every Side). 57

58

WÄCHTER, U m n e n n u n g 61 f.

RUDOLPH hält es für unnötig, einen Bezug zum Heiligen Krieg herzustellen, und sieht in der Wendung im obigen Sinne „Schreckensrufe des geängsteten Volkes" (47 mit Anm. 2). Es besteht allerdings keine Notwendigkeit, die beiden Interpretationen gegeneinander auszuspielen; Jeremia kann sehr wohl einen in der Umgangssprache geläufigen Ausdruck als Parallele zu einem terminus technicus eingesetzt haben. 59 Vgl. Tov, Text-Critical Use 124f. Die Streuung der Belege des Ausdrucks T 3 0 innerhalb der Schriftprophetie ist übrigens auffällig: Das Wort ist literarisch erst ab Jer und Nah bezeugt (insgesamt 152 Belege: Jer 28, davon 6 in den Völkersprüchen [ohne Kp. 50f.] und 10 in Kap. 50-52; Nah 1; Ez 112; DtJes 2, TrJes 3; Joel 2; Sach 5). Die Stelle Am 3,11 dagegen ist wahrscheinlich verschrieben aus 3310' (WOLFF, Joel/Amos 229 nach WELLHAUSEN).

292

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

ammonitischen Hauptstadt Rabba das Kriegsgeschrei (non'PQ niHlFl) ertönen. Das Kriegsgeschrei wird häufig als Bestandteil des Krieges genannt; meist eröffnet es den Kampf (vgl. Num 31,6;Jos 6,5.20; ISam 4,5f.; Jer 4,19; 20,16; Ez 21,27; Am 1,14, 2,2; Zeph 1,16; Hi 39,25; IlChr 13,12; vgl. Jdc 7,20; ISam 17,20). 60 (6) Schließlich stammt nach von Rad auch der Ausdruck „Tag JHWHs", auf welchen die Wendung Sinn (46,5) hinweist, aus der Tradition des Heiligen Krieges, wo die Anwesenheit JHWHs als eine Art Theophanie gedacht ist, in welcher er selbst zugunsten seines Volkes in den Kampf eingreift. 61 Zumindest diese sechs Elemente scheinen die Annahme nahezulegen, daß der Prophet aus dem Traditionskreis des Heiligen Krieges schöpft und sich dessen Sprache und Vorstellungswelt für seine Verkündigungsabsicht zu eigen macht. Vollends Häufigkeit und Streuung dieser Einzelbelege legen nahe, daß die Völkersprüche von dieser Tradition ganz durchdrungen und in ihrem Grundcharakter davon auch dort geprägt sind, wo ausdrückliche Bezüge fehlen. Das über die Völker hereinbrechende Unheil erscheint dadurch als ein Heiliger Krieg JHWHs gegen die Völker, mit dessen Durchführung JHWH einen „Feind aus dem Norden" beauftragt hat. Allerdings sind von verschiedenen Seiten kritische Anfragen gestellt worden, die zu einer Relativierung der These von Rads führten und das Konzept eines Heiligen Krieges als historisches Phänomen überhaupt fraglich erscheinen lassen. Von Rad hatte den Heiligen Krieg als kultische Institution des altisraelitischen amphiktyonischen Stämmebundes interpretiert; wo die alttestamentlichen Zeugnisse Variationen, andere Zusammenhänge und neue Tendenzen erkennen lassen, handelt es sich um Weiterentwicklungen der alten Traditionen. 62 Diese These wurde von der Forschung weithin zustimmend aufgenommen und in zahlreichen Studien bestätigend weitergeführt; ihre beiden Hauptelemente, der kultische Charakter der Institution und deren Verankerung in der Amphiktyonie, wurden jedoch auch bestritten und vermochten den geschlossenen Entwurf von Rads zu unterminieren und teilweise zu demontieren. 63

60

Vgl. VON RAD, Der Heilige Krieg 11, STOLZ, Jahwes und Israel Kriege 46-49. VON RAD, Origin 104; ders., Theologie des Alten Testaments II, 129-133; SCHUNCK, Strukturlinien 320f.330; JENNI, DV 725. Anders etwa STOLZ, der den Ausdruck in der Jerusalemer Kulttradition verwurzelt sieht (Jahwes und Israels Kriege 158-161), sowie MOWINCKEL, Psalmenstudien II, und CERNI?, Day of Jahweh, die ihn mit dem „Thronbesteigungsfest JHWHs" in Verbindung bringen. WEISS, Origin, hält die Wendung für eine Neuprägung von Arnos. 62 Vgl. den traditionsgeschichtlichen Aufriß bei VON RAD, Der Heilige Krieg 14-84. 63 Die wichtigste Literatur zum Thema ist aufgeführt in LOHFINK, Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament 236-238; vgl. ferner WEIPPERT, Heiliger Krieg 463f. Anm. 13-18, SOGGIN, Krieg 23-25, sowie PREUSS, NON^Q 914-926. 61

4. Der „Feind" bei Jeremia

293

So zeigte zunächst R. Smend, 6 4 daß die am JHWH-Krieg beteiligten Gruppen mit dem Stämmebund nicht identisch sind (19), die JHWH-Kriege im wesentlichen unkultisch, wenn auch kultische Elemente nicht vollständig fehlen (27f.). Erst die spätere Überlieferung hat die menschlichen Repräsentanten von JHWH-Krieg und Stämmebund zugleich als „Richter" bezeichnet und damit zwei ursprünglich unabhängige Größen miteinander verbunden (54); die Lade, die in den JHWH-Kriegen zentral ist, spielt denn auch umgekehrt als Zentralheiligtum der Amphiktyonie keine Rolle (70). Erst die Verbindung der in einer älteren Sechseramphiktyonie zusammengeschlossenen Lea-Stämme mit den Rahel-Stämmen fügte den amphiktyonischen Gedanken und den JHWH-Krieg, der ursprünglich bei den Stämmen Joseph und Benjamin - im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten - beheimatet war, zusammen (77f.). F. Stolz 6 5 geht ebenfalls davon aus, daß der JHWH-Krieg keine kultische Institution war; anders als Smend vermag er jedoch darin keinen kontinuierlichen Erfahrungszusammenhang zu sehen, sondern nimmt an, daß das Eingreifen J H W H s in ganz verschiedenen Formen und im ganzen Bereich der Stämme des späteren Israel erlebt wurde (198). Diese gemeinsame und vielgestaltige, aber konkret-geschichtliche Erfahrung der Hilfe J H W H s im Krieg hat der JHWH-Verehrung Auftrieb gegeben und zur Solidarität zwischen Nord- und Südstämmen beigetragen und wirkte im Unterschied zu anderen Theologumena im ganzen Bereich der JHWH-Verehrung traditionsbildend und identitätsstiftend (200). D i e i m v o r l i e g e n d e n Z u s a m m e n h a n g bedeutendsten A r g u m e n t e g e g e n d i e Institution des H e i l i g e n Krieges, auch in unkultischer F o r m als „Jahwekrieg" ( S m e n d ) , w u r d e n v o n M . Weippert vorgebracht. E s läßt sich n ä m l i c h z e i g e n , daß die Vorstellung, der Krieg w e r d e in G e m e i n s c h a f t mit der Gottheit geführt b z w . d i e s e k ä m p f e für ihr Volk, k e i n e s w e g s e i n e e x k l u s i v israelitische ist, s o n dern sich g e n a u s o in z e i t g e n ö s s i s c h e n n e u a s s y r i s c h e n , aber auch älteren (altb a b y l o n i s c h e n , mittelassyrischen und hethitischen) s o w i e j ü n g e r e n (römis c h e n ) Texten n a c h w e i s e n läßt. 6 6 Zu den meisten bei von Rad aufgelisteten Elementen der „Theorie vom Heiligen Krieg" lassen sich eindeutige Belege aus assyrischen Texten beibringen. So finden sich das Aufgebot der Truppen durch eine blutige Symbolhandlung, Gelübde, Opfer, Erkundung des göttlichen Willens vor Feldzug und Schlacht, Antwort der Gottheit durch Ermutigungs- oder Heilsorakel mit Übergabeformel und Beistandszusage. Die verschiedenen mit dem göttlichen Eingreifen gegen die Feinde zusammenhängenden Elemente lassen sich in den assyrischen Texten sogar vollständig belegen: Die Götter ziehen dem Heer voran, die assyrischen Truppen sind diejenigen des Reichsgottes Assur, ihr Krieg ist derjenige der Götter, ihre Feinde sind die Feinde der Götter; schon vor dem Kampf kommen Mutlosigkeit und Gottesschrecken über die Feinde; in der Schlacht kämpfen vor allem die Götter, die Menschen k o m m e n ihnen lediglich zu Hilfe. Weitere Elemente finden sich in römischen Quellen, etwa die rituelle Reinheit des Kriegslagers und das den Kampf eröffnende Kriegsgeschrei. Praxis und Terminus 64 SMEND, Jahwekrieg und Stämmebund; die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich darauf. 65 STOLZ, Jahwes und Israels Kriege; die folgenden Seitenangaben beziehen sich darauf. 66 WEIPPERT, Heiliger Krieg 465f. Die im Text folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Aufsatz. Zum Ganzen vgl. zuletzt und umfassend KANG, Divine War.

294

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

des B a n n s s c h l i e ß l i c h sind in unmittelbarer N a c h b a r s c h a f t Israels n a c h w e i s b a r ( M e s a Stele).67 (483f.; Einzelbelege 4 6 6 - 4 8 3 ) 6 8 A l l e d i e s e E l e m e n t e l a s s e n sich damit nicht mehr als Bestandteile e i n e s „ H e i l i g e n Krieges" als einer s p e z i f i s c h altisraelitischen Institution erklären; v i e l m e h r handelt es sich dabei u m g e m e i n o r i e n t a l i s c h e bzw. g e m e i n a n t i k e Kriegspraxis und - i d e o l o g i e . D e r H e i l i g e Krieg ist nicht nur in G e m e i n s c h a f t mit J H W H m ö g l i c h : „ w e r a l s o v o n J a h w e k r i e g ' spricht, m u ß e b e n s o von , A s s u r k r i e g ' oder ,Istarkrieg' reden". ( 4 8 5 ) Es ist dann auch zu differenzieren z w i s c h e n E l e m e n t e n , die z u m „normalen t e c h n i s c h e n und kultischen Apparat e i n e s j e d e n antiken K r i e g e s zählen, und s o l c h e n , die d e m i d e o l o g i s c h e n Ü b e r b a u angehören." (ebd.) Unter erstere sind A u f g e b o t , rituelle R e i n heit, O p f e r und G e l ü b d e , g ö t t l i c h e s Antwortorakel, Lagerkult, S c h l a c h t , Kriegsg e s c h r e i , B a n n und E n t l a s s u n g der Truppen zu zählen, während die M o t i v e , w e l c h e die Götter mit d e m irdischen K a m p f g e s c h e h e n direkt in Verbindung bringen, z u m „ i d e o l o g i s c h e n Überbau" gehören. ( 4 8 6 f . ) Der Nachweis, daß der Heilige Krieg weder eine spezifisch kultische

noch

eine ausschließlich israelitische Institution darstellt, läßt einerseits die Unterscheidung zwischen „sakralen" und „profanen" Kriegen - zumindest für die vorstaatliche und staatliche Zeit Israels andererseits Kriegführung Jeremia auf d e m

unumgänglich, in d e n

die

erzählenden

in die V ö l k e r s p r ü c h e Hintergrund

im

hinfällig werden69 und macht

Zusammenhang

Überlieferungen

aufgenommenen

der gemeinorientalischen,

mit

der

beschriebenen

Bräuche wenn

und

nicht

es

israelitischen und

von

Vorstellungen gemeinantiken

67 Die wenigen nicht nachweisbaren Elemente sind unbedeutend oder zweifelhaft: Das Aufgebot durch Blasen des Schofar muß nicht kultisch interpretiert werden, da dieses Instrument nicht nur im Kult, sondern auch als profanes Signalhorn verwendet werden konnte (WEIPPERT, Heiliger Krieg 486). Ob ISam 21,6; IlSam 1,21 eine „Weihe der Waffen" (so VON RAD, Der Heilige Krieg 7) bezeichnen, ist sehr fraglich (WEIPPERT, Heiliger Krieg 485 und Anm. 119). Die „Rüstung" der Krieger „vor J H W H " bleibt blaß und ist möglicherweise als Lustration zu verstehen, wie sie sich auch in römischen Quellen findet. Die Entlassung des Heerbanns nach Abschluß des Feldzugs, die nicht ausdrücklich belegt ist, ist dagegen ohnehin selbstverständlich (ebd. 485). 68 Zu den Kriegsriten und zum Zusammenhang von Krieg und Gottheit in anderen Kulturen vgl. auch GERLITZ, Krieg 12-16. 69 Vgl. WEIPPERT, Heiliger Krieg 490; GERLITZ, Krieg 14: „Jeder Krieg in der Antike und in den Stammesgemeinschaften wird ... von den Kriegsteilnehmern als heiliger Krieg g e f ü h r t . . . " . WEIPPERT empfiehlt deshalb, den ohnehin problematischen Terminus „Heiliger Krieg" ganz zu vermeiden, während der Begriff „Jahwekrieg" toleriert werden könne, wenn er nicht exklusiv verstanden werde, sondern auch die Möglichkeit von „Assur-, Istar-, Ninurta- u.a. Kriegen" zulasse (Heiliger Krieg 490). Wenn in religionsgeschichtlicher Hinsicht dennoch der „Heilige Krieg" als , f a c t u m sui generis" verstanden wird (vgl. GERLITZ, Krieg 14), so ist dies dort gerechtfertigt, wo entweder explizit zwischen sakralem und profanem Krieg unterschieden wird oder Kriegshandlungen bewußt als kultische Angelegenheit aufgefaßt und mit entsprechenden Riten begangen werden, so daß kultische Reinheit zu einem derart zentralen Element wird, daß der Rahmen der gemeinorientalischen Kriegsideologie dadurch gesprengt wird. In diesem Sinne sind etwa Elemente der Kriege der Makkabäerzeit und des jüdischen Krieges in den Jahren 6670 n.Chr. zu interpretieren, weil dort bewußt die alten Traditionen aufgenommen und auf die Aufstandsbewegung übertragen wurden (vgl. dazu DEINES, Reinheit als Waffe 74-85).

4. Der „Feind" bei Jeremia

295

Kriegspraxis und -ideologie zu sehen und zu deuten. 70 Dies wirft ein neues Licht auf die oben hergestellte Verbindung der jeremianischen Völkersprüche mit der Tradition des Heiligen Krieges. Die Vorstellung, daß ein „Feind aus dem Norden" gegen die Nachbarvölker Israels im Auftrag JHWHs einen Heiligen Krieg führt, ist zwar eine durchaus einleuchtende Konzeption, deren Implikationen allerdings noch zu näher untersuchen wären. 71 Doch bedeutet die Streichung des Attributs „heilig" im - ohnehin problematischen 72 - terminus technicus mehr als eine bloße Korrektur der Etikette, mit welcher das Phänomen bezeichnet wird; damit ist das Konzept als Ganzes in Frage gestellt. Was folgt daraus für die Völkersprüche, insbesondere für die Formen und Elemente, die mit dem Heiligen Krieg verbunden wurden? Kann weiterhin davon ausgegangen werden, daß sie auf einen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund weisen, oder sind sie als disparate, voneinander unabhängige Phänomene unterschiedlicher Herkunft zu beurteilen? Und schließlich: Was ist unter diesen Umständen über die Funktion der Texte zu sagen? Die Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf werden in den Völkersprüchen stark stilisiert und formalisiert verwendet. Damit ist bezeichnet, daß diese Aufrufe von ihrem (nach der Analyse von Rads und Bachs) ursprünglichen Kontext in konkreten Kriegszügen Israels losgelöst und in einen neuen Kontext transferiert worden sind. Der Prophet ruft nicht zum Kampf und zur Flucht, er imitiert diese Rufe; selbstverständlich erwartet er von seinen Hörern nicht, daß sie wirklich die Flucht ergreifen oder Kampfhandlungen aufnehmen. 73 Dies ist durch die jeweiligen Kontexte sogar ausdrücklich ausgeschlossen: Die Flucht ist vergeblich (46,6), Widerstand mit militärischen Mitteln nutzlos, da die Niederlage gewiß ist und vom Propheten vorwegnehmend 70

Vgl. WEIPPERT, Heiliger Krieg 491. Die Tradition vom Heiligen Krieg ist von daher „eine Geschichtsphilosophie, die von einer theologischen Doktrin bestimmt wurde" (MALAMAT, Eroberung Kanaans 7), das biblische Zeugnis „ein konzeptuelles Modell der Eroberung, das die Israeliten (insbesondere in der .offiziellen' Tradition) selbst entworfen haben, eine Art Theorie, wie die Einnahme Kanaans zustande kam" (ebd. 9). 71 Es ist in diesem Zusammenhang auffällig, daß etwa in der Studie BACHS der Befund, daß Jeremia mit den Aufforderungen zur Flucht und zum Kampf zwei charakteristische Elemente aus dem Traditionskreis des Heiligen Krieges aufgreift, keinerlei Deutung erfährt. Zur Kritik an diesem Mangel der rein gattungsgeschichtlich orientierten Untersuchung vgl. oben S. 32. 72 Zu den Problemen der Abgrenzung des Begriffes s. WEIPPERT, Heiliger Krieg 490 Anm. 140. Die Bezeichnung „Heiliger Krieg" findet sich in älteren Arbeiten (F. SCHWALLY, W. CASPARI, M. WEBER.; vgl. ebd. 461 Anm. 4) und wurde von VON RAD in seiner wegweisenden Studie „Heiliger Krieg im alten Israel" übernommen. ZIMMERLI zieht im Anschluß an den Titel des „Buches der Kriege JHWHs" (Num 21,14) die Bezeichnung „Jahwekrieg" vor (Grundriß 50; vgl. PREUSS, Theologie des Altes Testaments I, 145 et passim). Auch SMEND spricht von „Jahwekrieg", zunächst mit Bezug auf das Deboralied Jdc 5 sowie ISam 18,18; 17,47; 25,28; Num 21,14 (vgl. Jahwekrieg und Stämmebund 20), dann vor allem wegen des unkultischen Charakters dieser Kriege (ebd. 28 und Anm. 49). 73 Dies gilt auch dann, wenn die Frage nach den primären Adressaten, an welche sich die Völkersprüche richten, vorerst noch ausgeklammert bleibt. Vgl. dazu unten S. 306.

296

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

anschaulich geschildert oder gar als bereits eingetroffen gezeichnet wird (46,5f. 10-12.15f. 18.20-24; 47,2-7; 48,1,3f.8f. 12.15-20.25.41; 49,3-5.9f.25f. 29.32f). Die Aufforderungen zum Kampf und zur Flucht sind eingebettet in einen literarischen bzw. - ursprünglich wohl mündlichen 7 4 - poetisch-lyrischen Zusammenhang und fungieren als Stilmittel der Verlebendigung und Vergegenwärtigung. Als solche bilden sie einerseits die Szenerie oder Kulisse der semantischen Felder „Krieg" und „Unheil", kündigen andererseits gleichzeitig, zumeist im Verbund mit anderen Aussagen bzw. Bildern, bevorstehendes unheilvolles Schicksal an. Die Formalisierung und Loslösung von den ursprünglich an Israel gerichteten Aufforderungen zum Kampf geht so weit, daß offenbar unterschiedslos sowohl der nachmalige Sieger (46,3f.9; 49,14.28b.31; 50,14-16.21.26f.29; 51,3.1 lf.27f.) wie auch - völlig neu und deshalb überraschend - der anschließend Unterliegende (46,3f.9) zum Kampf gerufen wird. Auch die Aufforderung zur Flucht entfernt sich weit von ihrer ursprünglichen Funktion, wenn nun ausschließlich die bedrohten Völker insgesamt, nicht mehr nur einzelne Gruppen darin, angesprochen sind (48,6; 49,8; explizit 46,19; 48,28; 49,30; vgl. 4,5f.; 6.1; 50,8; 51,6). 75 Dieselben Beobachtungen treffen mutatis mutandis auch auf die anderen zur Debatte stehenden Elemente zu. Ist in den alttestamentlichen Erzählungen, die von Kriegen Israels berichten, vom (Gottes-) Schrecken die Rede, der die Feinde überfällt, so wird dieser als aktives Eingreifen JHWHs zugunsten Israels verstanden, das den Sieg herbeiführt. Nicht Israel erringt eigentlich den Sieg; zwar muß es diesen sozusagen in die Wirklichkeit überführen, doch hat der von J H W H gesandte Schrecken das Wesentliche bereits erreicht, indem der Feind gelähmt ist oder gar begonnen hat, sich selbst zu vernichten. Im Kontext der prophetischen Unheilsankündigung kommt dem Gottesschrecken jedoch, bedingt durch die Überführung aus der erzählenden in die prophetische Gattung, eine andere Funktion zu: Er schildert nicht mehr anschaulich das Eingreifen JHWHs zugunsten seines Volkes in einem Krieg, dessen einzelne Phasen vom Aufgebot bis zum abschließenden Bann in einigermaßen stereotyper Form den Rahmen bilden, sondern dient als Ankündigung eines bevorstehenden Geschehens. Der Schrecken ist nur noch eine Chiffre, deren Funktion darin besteht, das Unheil zu bezeichnen. Selbstverständlich büßt diese Chiffre gegenüber dem Motiv im Kontext der Erzählung nichts an Anschaulichkeit, Kraft und Farbe ein, sondern enthält diese im Gegenteil in konzentrierter Form: Über den bloßen semantischen Inhalt „Schrecken" hinaus birgt sie in nuce das semantische Feld „Krieg", das natürlich auch durch andere Elemente dieses Feldes zusätzlich bezeichnet sein kann. Doch handelt es sich um eine bedeutungsvolle Reduktion der zahlreichen Phasen der 74

Zur Frage der Mündlichkeit s. oben Abschnitt IV. 1. Ein einziges Mal findet sich der Fluchtruf in dieser ursprünglichen Weise explizit an eine Einzelgruppe innerhalb des bedrohten Volkes gerichtet, wenn in 51,45 JHWH „sein Volk" zur Flucht „vor dem grimmigen Zorn JHWHs" auffordert. 75

4. Der „Feind"

bei

Jeremia

297

Kriegsführung, die gewöhnlich - wenn auch in unterschiedlicher Anzahl und Auswahl - in den Erzählungen geschildert werden. Offenbar ist die mit dem (Gottes-) Schrecken verbundene Konnotation stark genug, um im veränderten Kontext der Unheilsankündigung die gewünschten Assoziationen zu bewirken und bestimmte Bedeutungsinhalte zu transportieren. Alle diese Beobachtungen weisen in eine bestimmte Richtung. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß die Aufforderungen zu Kampf und Flucht, die Hinweise auf Schrecken und Kriegsgeschrei sowie der Terminus Tag JHWHs innerhalb ihrer jeweiligen Zusammenhänge als Stilmittel fungieren, durch welche lebendige Szenen und anschauliche Bilder gestaltet werden. Darin erschöpft sich jedoch ihre Funktion keineswegs. Vielmehr kommt gerade dem diesen Elementen gemeinsamen traditionsgeschichtlichen Hintergrund besondere Bedeutung zu. Wenn nämlich die Verankerung der Motive zwar nicht mehr im Heiligen Krieg als einer exklusiv israelitischen und kultisch begangenen Institution zu sehen ist, so kann doch nicht bezweifelt werden, daß trotzdem ihr lebendiger Erfahrungs- und Deutungshorizont derjenige des Krieges, wenn auch im Rahmen der antiken Kriegspraxis überhaupt, ist. Diese wiederum war im alten Orient, wie gerade die Untersuchung Weipperts gezeigt hat, immer an eine bestimmte Ideologie gebunden. Im besonderen gehörte zu dieser als wesentlicher und bestimmender Faktor, daß die Kriege mit Hilfe der Gottheit geführt wurden. Weippert spricht in diesem Zusammenhang von der „legitimierenden Funktion" des ideologischen „Überbaus", der eine direkte Verbindung zwischen dem irdischen Kampfgeschehen und den Göttern herstellt: „Sie sollen zeigen, daß in den Kriegen des Königs und seiner Truppen der Wille des Reichsgottes Assur und der anderen großen Götter vollstreckt wird, daß der König als vicarius deorum auf die Weisung und mit dem Beistand seiner ,Herren' handelt." 76 Eine solche Legitimation ist mit Sicherheit auch in den Kriegen der Landnahmeerzählungen beabsichtigt; JHWHs Eingreifen ist in diesem Zusammenhang nicht nur als Ausdruck für die Fürsorge des Gottes Israels für sein Volk, sondern auch als Begründung des Anspruches auf das Land zu verstehen. 77 Von daher ist anzunehmen, daß das Bewußtsein, einen JHWH-Krieg zu führen, in Israel in jeder Kampfhandlung lebendig war sowie Grundvoraussetzung und Interpretationshorizont bildete, auch dort, wo dies nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde. 78 Trifft diese Annahme zu, so kommt der Interpretation Jeremias, daß in den Kriegen des „Feindes aus dem Norden" gegen die Völker JHWH selbst am Werk sei, umso größeres Gewicht zu. In diesem Fall handelt es sich nämlich um eine mehrfache Verdrehung der

76

WEIPPERT, Heiliger Krieg 487. Vgl. ebd. 488. 78 Nur nebenbei sei bemerkt, daß dieses Motiv nicht nur in den mittelalterlichen Kreuzzügen und im islamischen gihäd, sondern bis in die Neuzeit hinein vertreten wurde („Für Gott und das Vaterland!"); in seiner säkularisierten Form wirkt es in der Diskussion um den „gerechten Krieg" bis in die Gegenwart hinein nach. 77

298

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

üblichen Kriegsideologie: Kämpft sonst der Gott Israels gegen die Völker für sein Volk Israel, so jetzt auf der Seite eines Dritten. Nicht das Volk Israel führt jetzt den JHWH-Krieg, sondern das „Volk von Norden". Und schließlich: Der Krieg, den das Nordvolk führt, ist nicht etwa der Krieg des „Nordvolk-Gottes", sondern derjenige JHWHs. Sämtliche konstitutiven Relationen der Ideologie des antiken Krieges sind dadurch ausgetauscht. Daß sich in diesem Kriegsgeschehen Wille und Plan JHWHs manifestieren, wird dadurch in einer Schärfe herausgearbeitet, die keinerlei Zweifel oder Interpretationsspielraum zuläßt. Damit ist die Frage nach der Funktion der Elemente, die aus dem Bereich der Kriegführung stammen und in den Völkersprüchen des Jeremiabuches häufig vorkommen, zunächst in zweifacher Weise zu beantworten. Einmal stellen sie - neben zahlreichen anderen rhetorischen Elementen, auf die in den Textanalysen hingewiesen wurde - ein Mittel der Gestaltung und der Verlebendigung dar. Durch die Aufrufe zu Kampf und Flucht, durch die Beschreibung des Gottesschreckens, der den Völkern in die Glieder fährt und sie lähmt, und durch das Kriegsgeschrei entstehen anschauliche und plastische szenische Sprüche und Gedichte, die ohne Schwierigkeiten im mündlichen Vortrag denkbar sind, wo sie ihre Wirkung zweifellos voll entfalten konnten. Gleichzeitig - und wieder im Verbund mit anderen Elementen, die denselben Gedanken zum Ausdruck bringen - wird durch den Rekurs auf die Kriegsideologie unmißverständlich das den Völkern angekündigte bzw. bereits eingetroffene Unheil als Handeln JHWHs gedeutet, dessen Willen keine Macht zu widerstehen vermag. Auf dieser Interpretation liegt offenbar alles Gewicht; darum ist über das Heer, das JHWH als ausführendes Organ braucht, aber im Grunde auch über die vom Unheil betroffenen Völker kaum etwas zu sagen. Die Reaktionen der Menschen, ihr Verhalten und ihre Gefühle, Angst, Schrekken, Fluchtversuche, Elend und Tod, sind nur insofern von Belang, als sie das von Norden drohende Unheil zum Ausdruck zu bringen und auf JHWH hinzuweisen vermögen, der als der eigentlich Verantwortliche dahinter steht. Gleichwie dem angekündigten Feind, der ziemlich unscharf bleibt, kommt auch den Völkern selbst, auf deren Schicksal sich die Sprüche und Gedichte beziehen, keine selbständige Bedeutung zu. Wie einzelne Elemente aus dem Bereich der Kriegführung eingesetzt werden, um durch die verdrehte Ideologie des Krieges eine Botschaft zu vermitteln, so sind im Grunde nicht wirklich die Völker mit ihrem Schicksal im Blick, sondern allein JHWH, der den Krieg gegen sie führt. Von diesen Beobachtungen und Folgerungen ist es nicht mehr weit zur Frage, welche Funktion den Völkersprüchen im Rahmen der prophetischen Verkündigung insgesamt zukommt. Was veranlaßt Jeremia zu einer derart eindringlichen, bei aller poetisch-stilistischen Kunstfertigkeit doch recht einseitigen Darstellung, die immerhin im Ganzen des jeremianischen Textkorpus einen nicht unbeträchtlichen Teil ausmacht?

4. Der „Feind" bei Jeremia

299

F ü r d i e B e a n t w o r t u n g d i e s e r F r a g e ist z u n ä c h s t d i e F e s t s t e l l u n g v o n B e d e u t u n g , d a ß s i c h in d e n j e r e m i a n i s c h e n V ö l k e r s p r ü c h e n k e i n e r l e i H i n w e i s d a r a u f findet, w o d e n n i m R a h m e n d i e s e r „ v e r d r e h t e n K r i e g s i d e o l o g i e " u n d d e m damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Unheilsgeschehen Juda seinen Platz einnimmt.79 W e n n J H W H auf der Seite eines Dritten gegen die N a c h b a r n J u d a s k ä m p f t , w i e w i r k t s i c h d a s a u f J u d a a u s ? B e d e u t e t es H e i l o d e r U n h e i l , o d e r b e r ü h r t es J u d a gar nicht? W e n n nicht das Volk J H W H s den J H W H - K r i e g führt, sondern d a s „ V o l k v o n N o r d e n " , ist d a n n d a m i t z u g l e i c h e t w a s a u s g e s a g t ü b e r d a s Verhältnis J H W H s zu seinem Volk? U n d w e n n das „ N o r d v o l k " nicht den Krieg s e i n e s e i g e n e n G o t t e s f ü h r t , s o n d e r n d e n J H W H s , w a s b e d e u t e t d a n n d i e s in b e z u g auf das Verhältnis J H W H s zu j e n e m Volk? D a ß d i e s e F r a g e n sich in d e r Tat s t e l l t e n , v o n d e n u r s p r ü n g l i c h e n j e r e m i a n i s c h e n T e x t e n j e d o c h n i c h t b e a n t w o r t e t w e r d e n , k o m m t in z w e i r e d a k t i o n e l l e n Erweiterungen deutlich z u m Ausdruck. (1) An die beiden vergleichsweise langen Ägypten-Gedichte wurde das Heilsorakel 46,27f. angefügt. Dieses steht zweifellos in 30,10f. an der richtigen Stelle. 8 0 Offenbar wurde vom Bearbeiter das Ägypten angekündigte Unheil als so stark e m p f u n d e n , daß er sich veranlaßt sah, diesen harten Worten ein positives Gegenstück für Jakob-Israel anzufügen. Von der Sache her bestand dazu eigentlich kein Anlaß; Juda - und erst recht das ehemalige Nordreich - kommt gar nicht in den Blick und ist in das Unheil auch nicht einbezogen, weder explizit noch implizit. Auch der Heilszusatz für Ägypten (V. 26b) kann die Einfügung nicht veranlaßt haben, da er erst im prämasoretischen Text hinzugesetzt wurde; der exilische Redaktor, der das Heilsorakel für Jakob-Israel dem Unheil für Ägypten entgegengehalten hat, ist ohnehin davon ausgegangen, daß Ägyptens Ende unwiderruflich sei (vgl. die Antithese in V. 28, wo die Formulierung „alle Völker [PL], unter die ich dich verstoßen habe" sich in diesem Zusammenhang gewiß auch Ägypten einschließt). Erst durch den in dieser A n f ü g u n g zum Ausdruck kommenden Gegensatz „Unheil für Ägypten - Heil für Juda" kann der Eindruck entstehen, als bedeute das in den Völkersprüchen angekündigte Unheil für die Völker umgekehrt Heil für Israel. Diese in der Forschung für die Völkersprüche im ganzen häufig vertretene Interpretation kann sich, so unrichtig sie m . E . ist, somit immerhin auf die exilischen Bearbeiter und Herausgeber des Jeremiabuches berufen. (2) Dasselbe gilt auch für den Anfang des Ammon-Spruches (49,1 f.). Hier gereicht das A m m o n angekündigte Unheil Israel insofern zum Heil, als der im Drohwort zum Anlaß für das Gericht erhobene Unrechtszustand - die Ammoniter haben das ehemalige Gebiet Gads ihrem Hoheitsgebiet einverleibt (V. 1) - rückgängig gemacht werden 79 Eine ähnliche Umkehrung der Ideologie des (Heiligen) Krieges, die sich in diesem Fall aber eindeutig gegen Juda richtet, findet sich etwa in Jer 6,1-6; 22,7 (vgl. SOGGIN, Der prophetische Gedanke) und in Jer 21,1-7 (vgl. WEIPPERT, Jahwekrieg und Bundesfluch; ähnlich CHRISTENSEN, Transformations 185-187). Diese Unscharfe entspricht auffällig dem ambivalenten Charakter der Vorstellung des Tages JHWHs, der den einen Heil und den anderen Unheil bringt: „Es hängt alles davon ab, auf welche Seite Israel bzw. die Angeredeten zu rechnen sind." (JENNI, EV 726) Das rhetorische Muster hat dementsprechend einen - thematisch unterschiedlichen, aber sachlich vergleichbaren - Vorläufer in der Umdrehung der Vorstellung vom Tag

J H W H s in A m 5 , 1 8 - 2 0 . 80

Vgl. oben z.St.

300

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

soll (V. 2b). Über das Heilsorakel 46,27f. geht dieses Heilswort insofern hinaus, als das Heil d e m Unheil nicht nur antithetisch gegenübergestellt wird; vielmehr ist Israel direkter Nutznießer des Unheils, das über A m m o n kommt. Auch darin spiegelt sich eine deutlich andere Perspektive als die jeremianische. Daß im prämasoretischen Text dessen ungeachtet auch für A m m o n ein Heilsorakel angefügt werden konnte (V. 6), zeigt nur, daß das alte Gotteswort von der Wirklichkeit überholt worden war. Der Gegensatz zwischen dem Unheil für A m m o n und dem Heil für Juda - die Bezeichnung als „Israel" knüpft an V. 1 an und soll den Anspruch auf das Ostjordanland legitimieren - ist jedenfalls auch an dieser Stelle nicht ursprünglich und wurde dem jeremianischen Ammon-Spruch erst sekundär zugefügt.

Die jeremianischen Gedichte und Sprüche haben ausschließlich die Völker im Blick, nie Juda. Der Gegensatz „Unheil für die Völker - Heil für Juda" ist eine den jeremianischen Texten völlig fremde Perspektive. Die Frage, was das Unheil der Völker für Juda bedeutet, übersteigt ihren Horizont; sie schweigen sich darüber hartnäckig aus. Dennoch gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, daß dieser Gegensatz von Jeremia nicht gemeint war. Dieser ergibt sich allerdings nicht aus dem Korpus der Völkersprüche, sondern erst, wenn die enge Verbindung berücksichtigt wird, die zwischen diesem und den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" in Kapitel 4-6 bestehen. c) Die Völkersprüche

und die Gedichte über den „Feind aus dem

Norden"

Daß zwischen den Völkersprüchen des Jeremiabuches in Kapitel 46-49 und den Sprüchen und Gedichten vor allem in Kapitel 4-6, die um den „Feind aus dem Norden" kreisen, 81 eine enge Beziehung besteht, liegt, berücksichtigt man die prominente Stellung, welche allein dem Begriff ]iS!J „Norden" in beiden Textkorpora zukommt, eigentlich auf der Hand. Daß diese Beziehung selten gesehen bzw. ausdrücklich hergestellt wird, 82 ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß die Völkersprüche insgesamt eher am Rande des Forschungsinteresses stehen und häufig wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Nachbarvölker Israels von vornherein als nichtjeremianisch gelten. Durch dieses Vorurteil ist allerdings der Blick für die zahlreichen Gemeinsamkeiten

81 Die Gedichte über den „Feind aus dem Norden" werden heute mehrheitlich in der Zeit zwischen dem Tode Josias im Jahre 609 und der Verlesung der Urrolle im Jahre 605/4 angesetzt, so daß der in den Texten selbst nicht identifizierte Feind unzweifelhaft mit den Babyloniern identisch ist, deren Machtausbreitung in Syrien-Palästina die Ägypter aufzuhalten suchten. Zu dieser Ansetzung von Jer 4-6, die nur noch Kp. 2f. (und 30f.) zur eigentlichen „Frühzeitverkündigung" Jeremias rechnet, vgl. RIETZSCHEL, Urrolle 130f., und v.a. ALBERTZ, Frühzeitverkündigung 22. Zum forschungsgeschichtlichen Überblick vgl. REIMER, The „Foe" and the „North" in Jeremiah, sowie PERDUE, Jeremiah in Modern Research 6-10. 82 Ausdrückliche Hinweise auf den engen Zusammenhang zwischen den Völkersprüchen und Gedichten über den „Feind aus dem Norden" finden sich etwa bei HAYES, Oracles 234f.236, HOLLADAY II, 318 (setzt Teile von Kp. 4 und 6 gleichzeitig mit dem ersten Ägypten-Gedicht an), SEYBOLD, Jeremia 123. Eine inhaltliche und formale Nähe konstatiert auch CARROLL 754.

4. Der „Feind" bei Jeremia

301

zwischen den beiden Sammlungen - und darüber hinaus - verstellt, was umso schwerwiegender ist, als diese nicht nur Einzelheiten, sondern zentrale Motive betreffen. (1) Das Unheil, das Jeremia über Juda und Jerusalem hereinbrechen sieht, kommt „von Norden" (pSHQ 4,6; 6,1; vgl. 46,20; 47,2), in Gestalt eines „Volkes von Norden" (X3 D j / p S ä p X D 6,22; vgl. 46,24). Wie sich in 48,2-4; 49,3.8.23f.28-33 die Gefahr in nord-südlicher Richtung bewegt, so kommen in 4,15 schlechte Nachrichten, die Jerusalem betreffen, aus Norden, nämlich aus Dan und Ephraim; dadurch kommt ebenfalls anschaulich zum Ausdruck, wie schnell sich der „Feind aus dem Norden" in Richtung Juda fortbewegt. Auch außerhalb dieser Kapitel wird die Tatsache, daß der Feind aus dem Norden kommt, häufig genannt (1,13-15; 10,22; 13,20; 25,9; vgl. 50,3.9.41; 51,48); dies ist eines der zentralen und charakteristischen Motive der jeremianischen Verkündigung. 83 (2) Zahlreiche Bilder, die mit den in den Völkersprüchen verwendeten nicht identisch sind, illustrieren auch hier die Bedrohlichkeit des Feindes und die Schnelligkeit seines Anmarsches: Wie ein Löwe macht er sich aus dem Dikkicht auf (4,7; vgl. 5,6); wie ein heißer Wüstenwind bläst er gegen Jerusalem (4,11); wie Wolken kommt er daher, wie ein Sturmwind bewegen sich seine Wagen, schneller als Adler sind seine Rosse (4,13); wie Hirten schlägt er seine Zelte auf und läßt seine Herden das Land abweiden (6,3). Dieser Feind ist ein „Verderber" (rrntöl? 4,7; 6,26). (3) Auch die Gedichte in Kapitel 4-6 sind überaus lebendig gestaltet; was ihren Aufbau, die rasche Abfolge verschiedener Szenen, den Wechsel von Perspektive und Sprecher, die vielfältigen Gattungen usw. betrifft, sind sie mit den Völkersprüchen direkt vergleichbar. (4) Eine Reihe von Wendungen, die sich außerhalb selten oder gar nicht finden, ist auffälligerweise den beiden Textkorpora gemeinsam. Auf die Wendung TSOD "TßO (6,25; 46,5; 49,29) wurde oben schon hingewiesen. Dazu kommen die Verbindung von ^Eb und bB". (6,15; 46,6.12.16; sonst nur noch hif. und liOÖ hif. (4,5; 5,20; 46,14; vgl. 50,2; 50,32; Jes 31,3) sowie von sonst nur bei DtJes: 41,22; 41,26; 45,21; 48,20). Das Wort ptö, ein charakteristisches Element der Klage, findet sich im Jeremiabuch überhaupt nur in diesen beiden Textkorpora (4,8; 6,26; 48,37; 49,3), an den jeremianischen Stellen immer in Verbindung mit 120. Der Ausdruck HOn^O niJTlFl ist, so häufig beide Nomina für sich genommen sind, nur in 4,19; 49,2 belegt; auch dadurch bestätigt sich im übrigen die Vermutung, daß in 49,2 ein echter jeremianischer 83 Daß der Ausdruck jiSS in den jeremianischen Völkersprüchen eine andere Bedeutung habe als im übrigen Jeremiabuch (JONES 491f.), trifft von daher zweifellos gerade nicht zu. Außerhalb des Jeremiabuches findet sich der Norden in Verbindung mit einem Feind nur vereinzelt und in vergleichbaren Kontexten: Jes 14,31 (Spruch über die Philister); Ez 26,7 (Nebukadnezar wird gegen Tyrus aufmarschieren).; 38,15; 39,2 (richten sich an Gog, den JHWH aus dem „äußersten Norden" gegen Israel holen will). Im spätexilischen Kontext ist mit der Macht aus Norden umgekehrt das Heil Israels verbunden (Jes 41,25; vgl. 43,6).

302

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

Kern zugrunde liegt. D i e Constructus-Verbindung von PI) oder

mit einer

Form der Wurzel "IpS findet sich nur im Jeremiabuch (mit PID: 6,15; 8,12; 46,21; 49,8; 50,27.31; 51,18; mit mtÖ: 48,44; 23,12; 10,15). 127 findet sich außer in der Konfession 20,8 bei Jeremia nur in 6,7 und 48,3, die Wendung 'ThJ

-02? (4,6; 6,1; 48,3) nur an wenigen anderen Stellen (14,17; 50,22;

51,54; Zeph 1,10). Das hif. von

schließlich, das in anderen Prophetenbü-

chern mehrfach vorkommt, ist außer an sekundären Stellen (25,34; 51,8) bei Jeremia nur in 4,8; 47,2; 48,20.31.39; 49,3 belegt. ( 5 ) Ebenso findet sich in den Gedichten über den „Feind aus dem N o r d e n " auch die in den Völkersprüchen als zentral erkannte Aussage, daß hinter dem Feind J H W H selbst steht. Das „ I c h " in 4,6b tritt zwar unvermittelt auf, kann aber im Kontext niemand anderer als J H W H sein

"piX H i n , vgl. 5,15);

jedenfalls wird der Aufruf zu Klage und Trauer in V. 8 damit begründet, daß der Zorn J H W H s nicht gewichen sei (vgl. V. 26). V. 11.12a ist textlich schwierig, doch dürfte der Präpositionalausdruck ^

als „von mir her", „in meinem

A u f t r a g " zu deuten sein; 84 der folgende Satz DfliX D'QStöO

bezieht sich

sicherlich auf J H W H . Ebenso ist das „ I c h " in den j e zwei solennen Affirmationen und Negationen ( r m p

^töfTK 1 ?] 'Pipra

TIQT "Fn3"I) von V. 28b

niemand anderer als J H W H . Er ist der Auftraggeber, der die Belagerung und Einnahme Jerusalems anordnet (6,6; 5,10); das Unheil ist Heimsuchung durch J H W H (5,9.29; 6,15.19). Dies entspricht dem Grundtenor der Ankündigungen des kommenden Unheils auch in anderen Zusammenhängen (vgl. etwa 9,10; 10,18; 13,26; 15,6ff.; 16,16f.; 18,15bff.). ( 6 ) Über diese formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten,

die einen

Zusammenhang von Völkersprüchen und Gedichten über den „Feind aus dem N o r d e n " nahelegen, hinaus schlagen schließlich diese zu jenen ausdrücklich eine Brücke. Während die Völkersprüche sich ausschließlich auf die Nachbarvölker Juda-Jerusalems beziehen, jene selbst dagegen vollständig ausblenden, werden in Kapitel 4-6 die Völker in das Unheil, das Juda-Jerusalem betrifft, explizit eingeschlossen. So wird der L ö w e , der sein Dickicht verläßt und auszieht, das Land zu verwüsten und die Stadt zu verbrennen, als „Völkerverderber" (Q'ia trntöQ 4,7) bezeichnet; seine Wirksamkeit beschränkt sich nicht auf jenen Kreis, dem die Unheilsankündigung primär gilt, sondern erfaßt auch die Völker. Im Grunde ist dies ja auch zu erwarten. W i e sollte Jeremia die Bedrohung, die er von jener Macht im Norden ausgehen sieht, auf Juda-Jerusalem beschränken wollen? Wenn das kleine Land von einem Feind bedroht war, dessen Vormarsch nicht aufzuhalten war, dann waren sicher die Nachbarvölker davon ebenso betroffen. Selbst wenn das Schicksal der Nachbarn seinen persönlichen wie prophetischen Horizont überstiegen hätte, wäre kaum anzunehmen, daß Jeremia nicht - wenn auch nur beiläufig - von den Ausmaßen der Katastrophe, die er ahnte, gesprochen haben sollte. Auch wenn Jeremia an

84

V g l . RUDOLPH 34, M C K A N E 96, CARROLL 162, HOLLADAY I, 141.

4. Der „Feind" bei Jeremia

303

den Auswirkungen jener „Überschwemmung von Norden" (47,2) außerhalb des kleinen judäischen Staates nicht interessiert gewesen sein sollte, könnte der Hinweis darauf, daß auch die Nachbarn vom selben Unheil erfaßt werden, seiner Verkündigungsabsicht doch nur dienlich sein. Offenbar liegt ihm viel daran, von der Gefahr zu sprechen, die von diesem Feind ausgeht; daß diese das wohlhabende und gut befestigte Moab genauso betrifft wie das mächtige, militärisch starke Ägypten, den alten Erzfeind und Rivalen Edom genauso wie das geschickt paktierende Ammon, die Philisterstädte genauso wie die alten Stadtstaaten Syriens, kann das Gewicht seiner Aussagen doch nur verstärken. Daß der „Feind aus dem Norden" nicht nur Juda bedroht, sondern ein „Völkerverderber" ist, kann von daher nicht als Perspektive bezeichnet werden, die dem Propheten fremd war; wenn JHWH verfügt hat, daß Babylon als neue Weltmacht Syrien-Palästina beherrschen soll, so sind davon auch die anderen Völker betroffen. Sind die Völkersprüche in dieser Weise mit den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" in Kapitel 4-6 zu verbinden, so ist die Deutung, das Unheil für die Völker impliziere Heil für Israel, die Unheilsverkündigung an die Völker sei direkte oder indirekte Heilsverkündigung an Israel, vollständig auszuschließen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Das Unheil, das Jeremia voraussieht, ist so verheerend, daß es Juda und die Völker erfaßt. Die Behauptung, das Unheil der Völker sei Israels Heil, ist auf dem Hintergrund der realen Bedrohung, die Jeremia meint, genauso unsinnig wie etwa die umgekehrte, das Unheil Israels bedeute Heil für die Völker. Von der Überflutung sind alle gleichermaßen betroffen, daran kann kein Zweifel bestehen, weder im Blick auf die historische Situation noch auf die Verkündigung Jeremias. Wären nicht die Texte in den Kapiteln 4-6 und 46-49 im Jeremiabuch voneinander getrennt überliefert worden, so hätte diese Meinung wohl gar nie aufkommen können. Jeremia weiß von einer Sonderstellung Judas nichts - gerade nicht! Darin liegt ein Proprium seiner Verkündigung. Wenn dtr Kreise später, nach dem Eintreffen des von Jeremia angekündigten Unheils, eine Theologie entwickeln konnten, welche die Katastrophe theologisch zu verarbeiten und Perspektiven für die Zukunft des Gottesvolkes aufzuzeigen vermag, dann kann sie gerade an dieser Einschätzung Jeremias, daß das Unheil eine Folge der Schuld ist, anknüpfen. Eine Bestätigung für die Richtigkeit dieser Zuordnung der beiden Sammlungen Kp. 4-6 und 46-49 ist schließlich am einzigen Punkt zu sehen, wo diese sich markant voneinander unterscheiden, nämlich in der Begründung des kommenden Unheils. Anders als in den Völkersprüchen nennt Jeremia in den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" zahlreiche Anklagepunkte. Mit deutlichen Worten kritisiert er aktuelle Mißstände in der judäischen Gesellschaft, wobei die klassische Form der Anklage gelegentlich erweitert ist, so daß diese in Form von „Reflexionsstücken" den Ankündigungen nach-

304

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

gestellt ist (5,1-6; 6,9-14.27-30). 85 Neben sozialen Anklagen (5,1.7f.26-29; 6,6f. 13.28) sind es vor allem religiöse, die davon natürlich nicht zu trennen sind (4,22; 5,2.4f.l 1.26-28.30f.; 6,13f.), und insbesondere die Ablehnung der Gerichtsbotschaft (5,12f.; 6,10.16f.2B), die das Unheil begründen. In den Völkersprüchen findet sich nichts Vergleichbares; die nur im weitesten Sinn als Begründungen zu bezeichnenden Aussagen (46,8; 48,7.14.42; 49,4.16) beziehen sich nicht auf soziales oder religiöses, sondern ausschließlich auf politisches Fehlverhalten, insbesondere die Unterschätzung der von Norden drohenden Gefahr und der Überschätzung der eigenen Stärke. Um mehr als die Kritik an dieser Fehleinschätzung, die nach seinem Urteil katastrophale Folgen zeitigt, geht es Jeremia im Blick auf die Völker nicht. Auch von daher können die Völkersprüche als Verlängerung der auf Juda bezogenen Gedichte über den „Feind aus dem Norden" bezeichnet werden; der Wegfall der Begründungselemente bzw. deren einseitige Ausrichtung auf politische Zusammenhänge entspricht der Übertragung der Unheilsansage für Juda auf andere Völker, ein Kontext, in welchem die Aufdeckung sozialer und politischer Mißstände im Innern nicht das primäre Anliegen des judäischen Propheten sein kann.

5. Theologie, Funktion und Sitz i m L e b e n der j e r e m i a n i s c h e n Völkersprüche a) Methodische

Vorüberlegungen

Nachdem im Vorhergehenden die jeremianischen Völkersprüche unter systematischen Gesichtspunkten betrachtet und mit den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" verbunden worden sind, soll abschließend den Fragen nach der Funktion, der Intention, dem konkreten Sitz im Leben und der Theologie dieser Sprüche und Gedichte nachgegangen werden. Die folgenden bisher erarbeiteten Erkenntnisse sollen dabei leitend sein: (1) Der Stil der jeremianischen Völkersprüche, insbesondere ihre lebendige Gestaltung sowie die häufig eingesetzten Stilmittel (Assonanz, Alliteration, Wortspiel, Metaphern, Aufrufe zum Kampf und zur Flucht, rasche Abfolge verschiedener kleiner Szenen, Perspektivenwechsel u.a.) legen nahe, daß diese Sprüche und Gedichte von Jeremia für den mündlichen Vortrag konzipiert wurden. Dadurch sind zwar andere Formen der Publikation nicht a priori auszuschließen, da ein gut verfaßtes Gedicht seine Wirkung bestimmt auch entfaltet, wenn es in schriftlicher Form verbreitet wird. Allerdings ist doch im Blick auf die Prophetie wohl mit ursprünglich mündlicher Verkündigung, erst sekundär mit Niederschrift, Sammlung und Verbreitung der Texte zu rechnen. 85 So ALBERTZ, Frühzeitverkündigung 38; zu den Motiven der Anklage in Jer 4-6 s. ausführlich ebd. 38-42.

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

305

(2) Das den Völkern angekündigte Unheil wird in den Völkersprüchen nicht im eigentlichen Sinn begründet. Anders als in den klassischen prophetischen Botenworten, in den auf Juda-Jerusalem bezogenen Gerichtsworten und den (z.T. dtr) Erweiterungen fehlt das Scheltwort, die Anklage, durch die das Unheil als Folge konkreter Vergehen erscheint. Das Vertrauen auf Sicherheit und eigene militärische Stärke, das mehrfach als eine Art Anklage erscheint, erfüllt diese Funktion nur teilweise; vor allem wird dadurch die Unausweichlichkeit des Unheils und die Hilflosigkeit der Völker betont. (3) Die Völkersprüche kündigen den Nachbarvölkern Juda-Jerusalems, und zwar allen unmittelbaren Nachbarn, im Falle von Kedar-Hazor auch darüber hinaus, konkretes Unheil an, das in einer militärischen Katastrophe besteht, die von einem konkreten, nicht etwa einem eschatologischen, Feind herbeigeführt wird. In den jeremianischen Texten wird dabei keinerlei Schadenfreude sichtbar, wenn gelegentlich als Stilmittel auch Ironie oder gar Spott und Sarkasmus eingesetzt werden. (4) Der eigentliche Feind, der für das Unheil der Völker verantwortlich ist, ist JHWH; die Militärmacht ist sein Werkzeug. Durch diese Konstellation wird die gewöhnliche „Kriegsideologie" umgedreht: Nicht das Volk JHWHs ist sein Gerichtswerkzeug, sondern ein anderes, ein „Volk von Norden", und JHWH kämpft nicht für und mit seinem Volk, sondern für ein fremdes Volk und gewährt diesem den Sieg. Dieselbe Auffassung findet sich in den jeremianischen Gedichten über den „Feind aus dem Norden" auch auf Juda-Jerusalem selbst bezogen; diese sind deshalb mit den Völkersprüchen zusammen zu sehen und als die beiden Seiten derselben Münze, als Ausdruck derselben Theologie und Verkündigungsabsicht zu verstehen. Die Deutung, daß das den Völkern verkündigte Unheil für Israel bzw. Juda Heil bedeute, ist von diesem Zusammenhang her auszuschließen, da sie der prophetischen Verkündigung Jeremias vollständig widerspricht. Unter Einbezug dieser Faktoren ist nun zu fragen, ob sich eine konkrete Situation oder auch mehrere konkrete Situationen vorstellen lassen, in welchen der historische Jeremia Gedichte und Sprüche über Nachbarvölker verfaßt und vorgetragen bzw. veröffentlicht haben könnte, und welche Absicht er damit verband. Die Antworten auf diese Fragen werden dadurch erschwert, daß einerseits die Texte selbst mit wenigen Ausnahmen keine ausdrücklichen Angaben machen, wodurch sie veranlaßt und in welchem historischen Umfeld sie entstanden sind; die wenigen diesbezüglichen Hinweise in redaktionellen Über- und Unterschriften sind zwar nicht von vornherein wertlos, jedoch eben sekundär und möglicherweise von einem späteren Verständnis des Wirkens Jeremias geprägt. Andererseits sind die historischen Rückfragen dadurch erschwert, daß die jeremianischen Worte nicht nur gesammelt, sondern auch bearbeitet und interpretiert wurden; daß die Völkersprüche und die Gedichte über den „Feind aus dem Norden" voneinander getrennt überliefert wurden, ist nur ein Aspekt dieser redaktionellen Tätigkeit.

306

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

Obwohl die Untersuchungen dieses Kapitels durch eine Reihe von Beobachtungen zum Stil, zu den fehlenden Begründungen, zur Unheilsverkündigung und zum „jeremianischen Feindbild" mögliche Bezüge aufzeigen, andere dagegen ausschließen konnten, ist eine Frage noch nicht angesprochen worden, die für die Einordnung der jeremianischen Völkersprüche von zentraler Bedeutung ist. Bisher wurde einfach davon ausgegangen, daß Jeremia den Nachbarvölkern Juda-Jerusalems in unterschiedlicher Weise, in Form von zusammenhängenden Gedichten oder kurzen, prägnanten Sprüchen, Unheil ankündigt. Dabei war stillschweigend vorausgesetzt, daß die angesprochenen Völker die sie betreffenden Nachrichten auch tatsächlich erhalten. Gerade diese Annahme ist allerdings kritisch zu hinterfragen, da mit der Feststellung dessen, an wen sich Jeremia mit seiner Verkündigung richtet, die Beurteilung der Intention auf das engste verknüpft ist. Daß die Frage nach den Adressaten keine rhetorische ist, ist bereits angeklungen: Es ist oben festgestellt worden, daß die Völker zwar wohl durch Aufrufe zum Kampf, zur Flucht, zur Klage u. ä. direkt angesprochen werden, diese Rufe jedoch in uneigentlichem Sinne, als Stilmittel, die der Verlebendigung dienen, verwendet werden. Die Völker werden nicht aktuell, im Zeitpunkt der Anrede, zum Kampf, zur Flucht oder zur Trauer gerufen, da das Unheil offenbar noch aussteht. 86 So erstaunt es denn auch nicht, daß in der Forschung die Völker als eigentliche Adressaten überhaupt ausgeblendet und die Völkersprüche von vornherein als Botschaft für Israel bezeichnet werden können. In diesem Sinne formuliert etwa Hayes als methodischen Ausgangspunkt für die gattungsgeschichtliche Untersuchung der Völkersprüche: „It is obvious that these speeches were not primarily spoken or written to be heard or acted upon by the nations mentioned in the texts. Their function and importance were not dependent on the foreign powers' knowledge of or response to them. The importance of the speeches must not be sought, therefore, in what they ,said' to the enemy but rather in the function which they perfomed within the context of Israelite society." 87 86 Dies gilt mutatis mutandis auch für das erste Ägypten-Gedicht (46,3-12). Auch wenn bei der Textanalyse dahingehend argumentiert wurde, daß das Gedicht vor der Schlacht von Karkemisch vorgetragen worden sein muß (s. oben S. 105), sind die Rufe zur Vorbereitung des Kampfes (V. 3f.9) wie diejenigen zur Beschaffung von Medizin (V. 1 la) nicht wörtlich zu verstehen; der Kontext, in welchen sie eingebettet sind, läßt keinen Zweifel, daß die Mobilmachungsrufe angesichts der gleich anschließend geschilderten Niederlage (V. 5f.) ebenso ironisch gemeint ist wie die Aufforderung, Hilfe zu holen, wo doch ein solches Unterfangen im nächsten Moment als völlig aussichtslos bezeichnet wird (V. 1 lb). Es ist nicht daran zu denken, daß die Ägypter in diesem Sinne direkt angesprochen und zu konkretem Handeln aufgerufen wurden; die Aufrufe haben - ob vor oder nach dem Eintreffen des Unheils - ausschließlich rhetorische Funktion (gegen DE JONG, Deux Oracles 378; vgl. dazu oben S. 91 Anm. 82). 87 HAYES, Usage 81, ähnlich KUTSCH, Erwägungen 253, SEYBOLD, Jeremia 122. Die „Offensichtlichkeit" dieser Feststellung wird bei HAYES allerdings nicht begründet, sondern vorausgesetzt. Dem entspricht, daß die Funktion der Völkersprüche im aktuellen Kontext jeremianischer Verkündigung nicht erklärt wird.

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

307

Nun läßt sich die Frage nach den Adressaten durch die Textanalyse nicht eindeutig beantworten. Zwar ist festgestellt worden, daß durch die direkte Anrede die Nachbarvölker nicht eigentlich angesprochen sind, doch ist diese Beobachtung im Grunde zweideutig. Wenn nämlich die Aufrufe an die Adresse der Völker vor allem rhetorische Funktion haben und als Stilmittel eingesetzt sind, um die Texte anschaulich zu gestalten, zu verlebendigen und um die Aufmerksamkeit der Hörer zu erzielen, dann ist eine solche Wirkung bei Angehörigen der angesprochenen Völker so wirksam wie bei Hörern in Jerusalem. Eine Entscheidung ist von daher auf der textimmanenten Ebene nicht möglich; weitere Aspekte müssen hinzutreten. Im folgenden sollen deshalb zwei unterschiedliche, einander allerdings nicht ausschließende Modelle entworfen und auf ihre Implikationen und Folgerungen hin untersucht werden, von denen das eine davon ausgeht, daß Jeremia sich in irgendeiner Form an diejenigen Völker wendet, auf die sich die Völkersprüche beziehen, das andere dagegen damit rechnet, daß Jeremia sich dadurch an seine eigenen Landsleute wendet. Erst die konsequente Entfaltung dieser beiden Möglichkeiten auf dem historischen Hintergrund und im Rahmen der Wirksamkeit Jeremias unter Einbezug der oben dargestellten Voraussetzungen kann zeigen, ob eine, beide oder gar keine Option zu brauchbaren Ergebnissen führt. b) Jeremia als Prophet für die Völker Soll davon ausgegangen werden, daß sich Jeremia mit seinen Gedichten und Sprüchen über die Nachbarvölker Judas tatsächlich an die darin jeweils angesprochenen Völker wandte, so bestehen grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, in welcher Form dies geschehen sein könnte. (1) Zunächst ist die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß Jeremia die Nachbarvölker Judas besuchte und seine Botschaft an Ort und Stelle, etwa an den entsprechenden Königshöfen, vortrug. 88 Die Vorstellung derart ausgedehnter Reisen - sosehr sie in der damaligen Zeit in technischer Hinsicht denkbar sind - bereitet jedoch bei einem judäischen Propheten gegen Ende des 7. und zu Beginn des 6. Jahrhunderts Schwierigkeiten. Obwohl keine auch nur annähernd exakte - geschweige denn vollständige - Chronologie der Tätigkeit Jeremias für diese Zeitspanne erstellt werden kann und die Baruch-Biographie nicht in diesem Sinne als Quelle verwendbar ist, so ist doch fraglich, ob nicht das Jeremiabuch, das gerade durch die Erzählungen über Jeremia und sein Schicksal mehr als jedes andere Prophetenbuch in die Tätigkeit eines Propheten Einblick gibt, in diesem Fall Hinweise in diese Richtung enthielte. Vollends im Blick auf die Bezeichnung Jeremias als „Völkerprophet" (D,i3i? Jer 1,5) wäre mit entsprechenden Berichten in den Jeremia-Erzählungen zu rechnen. 88 Mit einer derartigen Reisetätigkeit, bei welcher Völkersprüche verwendet wurden, rechnet für Ezechiel etwa BROWNLEE, Son of Man.

308

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

(2) Für eine zweite Möglichkeit dagegen findet sich im Jeremiabuch eine Parallele. Kapitel 29 berichtet ausführlich von einem Brief (ISO, V. 1), den Jeremia an die Exulanten in Babel schrieb und durch Gesandte des Königs Zedekia überbringen ließ. In ähnlicher Weise könnte auch an die Überbringung der die Völker betreffenden Botschaften gedacht werden. Eine weniger direkte, aber dennoch illustrative Parallele findet sich darüber hinaus am Ende des Korpus der Völkersprüche. In 51,59-64 wird geschildert, wie Jeremia Seraja ben Nerija (offenbar der Bruder Baruchs), der mit Zedekia nach Babel zog, eine Schriftrolle (ISO, V. 60) mit den Unheilsworten über Babel mitgab; dort sollte die Botschaft verlesen und die Rolle anschließend im Euphrat versenkt werden. 89 Gegen dieses Modell sprechen zwei Überlegungen. Einmal wird in den beiden Parallelen das Prozedere der Übermittlung an die Adressaten ausführlich dargestellt. In 29,1-3 werden die historischen Umstände - nach der ersten Wegführung - präzise dargestellt (V. lf.) und der Überbringer der Botschaft und der Anlaß seiner Reise genannt (V. 2). In 51,59-64 werden ebenfalls Zeitumstände und Anlaß angegeben (V. 59) und zudem ausführliche Anweisungen zur Behandlung der Botschaft erteilt (V. 61-64). Im Korpus der Völkersprüche findet sich kein Hinweis, ja keine Andeutung, die in eine ähnliche Richtung deuten würden, und es ist auch nicht wahrscheinlich, daß die Redaktion alle diesbezüglichen Spuren systematisch getilgt hat. Gegen die Annahme schriftlicher Botschaften an die Völker spricht jedoch auch die Form der Völkersprüche: Es ist kaum anzunehmen, daß der Prophet Sprüche und Gedichte verfaßte, die in stilistischer Hinsicht von solch herausragender Qualität sind, daß einige von ihnen noch von Exegeten des 20. Jahrhunderts als Meisterwerke bezeichnet werden, nur um sie niederzuschreiben, zu verschicken und dann von Fremden vorlesen (und übersetzen) zu lassen. Für eine solche Art von Botschaftsübermittlung eignet sich doch wohl Prosa oder eine etwas einfachere poetische Gestalt besser. Die Vorstellung, daß das Unheilswort an sich wirkmächtig ist und auch unabhängig von irgendwelchen Hörern die ausgesagte Wirklichkeit herbeiführt, vermag hier auch nicht weiterzuhelfen; es ist doch wohl davon auszugehen, daß die stilistische Gestaltung der Völkersprüche durch Wortspiele, Ironie, Aufrufe, Bilder usw. menschliche Hörer im Blick hat und auf deren Reaktionen abzielt. (3) Am meisten Wahrscheinlichkeit kann innerhalb dieses Modells eine dritte Vorstellung beanspruchen, in der sowohl der mündliche Vortrag der Völkersprüche durch den Propheten selbst wie die direkte Anrede an Bewohner der Nachbarvölker in geradezu idealer Weise zusammenkommen.

89

In diesem Sinn hält es NEUMANN für möglich, daß Völkersprüche aufgezeichnet wurden, um sie bei günstiger Gelegenheit an die entsprechenden Völker zu senden; Jer 51,59-64 kann dafür als Beleg dienen (Wortempfangsterminologie 199).

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

309

Im Jahre 594 90 finden sich bei Zedekia am Hof in Jerusalem Gesandte verschiedener Nachbarstaaten Judas, aus Edom, Moab, Ammon und Phönizien, ein (Jer 27,3)- Was das Ziel dieses Gipfeltreffens war, wird nicht ausdrücklich gesagt, ist jedoch aus dem Kontext unschwer erkennbar: Es handelt sich offenbar darum, eine Koalition gegen die Babylonier zu bilden. Während dieses Treffens ergeht von JHWH der Auftrag an Jeremia, mit einem Joch auf dem Nacken vor den versammelten Diplomaten aufzutreten und ihnen eine Botschaft für ihre Regierungen auszurichten (V. 3f.)- In dieser Botschaft, die als JHWH-Rede in V. 5-11 wiedergegeben ist, wird Nebukadnezar als der Knecht bezeichnet, in dessen Hand JHWH alle Länder gegeben und den er zum Herrscher über alle Völker bestimmt hat (V. 6f.). Nur diejenigen Völker, die sich Nebukadnezar unterwerfen, können in ihrem Land bleiben (V. 11), während JHWH die anderen „mit Schwert, Hunger und Pest" heimsucht und umbringt (V. 8) oder aus ihrem Land wegführen läßt (V. 10). An diese Rede schließen sich unmittelbar eine zweite und eine dritte, die Jeremia an Zedekia (V. 12-15) bzw. an die Priester und das ganze Volk (V. 16-22) richtet. Diese stimmen inhaltlich mit der ersten Rede weitgehend überein, indem sie ebenfalls die beiden zentralen Leitmotive aufweisen: Einmal wird zur Unterwerfung unter Nebukadnezar aufgerufen (V. 12.17) und das Gericht JHWHs über alle Völker angekündigt, die sich nicht beugen (V. 13.15); dann wird diese Botschaft derjenigen anderer Propheten polemisch gegenübergestellt (V. 9f.14f.16f.). Jer 27 gehört, wie textliche und stilistische Besonderheiten sowie das gemeinsame Thema der „falschen Prophetie" zeigen, zum Komplex Kp. 27-29, der eine redaktionelle Zusammenstellung unterschiedlichen Materials (Kp. 27 Ich-Bericht, Kp. 28f. ErBerichte) ist und möglicherweise einmal separat als Kampfschrift gegen falsche Propheten verwendet wurde. 91 In der Forschung werden für die Entstehung des redundanten Textes von Kp. 27 zwei verschiedene Modelle vorgeschlagen: 92 Entweder wird der jetzt vorliegende Text als sekundäre Erweiterung eines authentischen Berichtes mit

90

Der erste Vers von Jer 27, der den folgenden Bericht lediglich „am Anfang der Herrschaft Jojakims" datiert (vgl. 49,34), fehlt in der LXX ganz. Im allgemeinen wird angenommen, daß er von 26,1 her übernommen wurde (so zuerst SCHMIDT, Datum, der annimmt, daß der ursprüngliche Text das 7. Jahr Zedekias nannte). Der Selbstbericht wird ursprünglich wie LXX 13,1; 19,1 nur mit der Botenformel eingeleitet gewesen sein (V. 2), während die Nennung Zedekias (V. 3.12) als Hinweis für den historischen Ort genügte (vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 6; gegen HOLLADAY II, 112, der eine Überschrift gemäß 28,1 zum ursprünglichen Bestand des Textes von Kp. 27 zählt). Im prämasoretischen Text wurde - offenbar ohne Rücksicht auf den Textzusammenhang, der Zedekia nennt (V. 3.12) - die Überschrift von 26,1 übernommen und diejenige von Kp. 28, das inhaltlich daran anschließt, um !Onn n]E!3 ergänzt, um die Verbindung beider Kapitel herzustellen (vgl. Tov, Exegetical Notes 81; anders JANZEN, Studies 14f., der das Datum in 28,1 für eine Mischung aus zwei unterschiedlichen Vorlagen hält). Da die Datierung in 28,1 (im MT wie in der LXX) das 4. Jahr Zedekias angibt, kann als Datum für das dargestellte Ereignis das Jahr 594 angenommen werden. 91 So THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 5 Anm. 1. 92 Zum Forschungsüberblick vgl. in Kürze THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 5; ausführlich SEIDL, Texte und Einheiten.

310

IV. Die Völkersprüche Jeremias

einem kurzen abschließenden Spruch beurteilt 9 3 oder aber für weitgehend original gehalten, wobei die Weitschweifigkeit auf nachträgliche Glossierung zurückzuführen ist, die durch Streichung von Versen oder Versteilen, meist nach der L X X , korrigiert werden kann. 9 4 Nach dem textgeschichtlichen Modell, von dem hier ausgegangen wird, wird der M T eine an einigen Stellen erweiterte Fassung eines älteren Textes, wie er durch den Vergleich mit der L X X ungefähr rekonstruiert werden kann, darstellen. 9 5 Doch ist schon die ältere LXX-Fassung selbst stark dtr bearbeitet. Das Kapitel macht den Eindruck einer sekundären, weitschweifigen Komposition: Nicht nur kommt in allen drei Reden in stereotypen Formulierungen die Warnung vor den „falschen Propheten" und ihren Lügen vor, sondern ganze Passagen entsprechen einander so stark, 9 6 daß sie geradezu als Variationen desselben T h e m a s erscheinen. Hinzu kommt, daß die Neueinsätze der zweiten und dritten Rede in V. 12 bzw. 16 schlecht zur Anlage des Kapitels passen, wenn sich Jeremia abrupt und mit einer in dieser Form einzigartigen Wendung c r n a i r r p r r - - ^ o n ' p i ^ s i bzw. ' n i r n rrcn n y r r b s - ' ? « ! • ^ r p r r b s i ) an Personenkreise richtet, die im Auftrag von V. 3f. nicht im Blick waren. 9 7 Die Annahme liegt nahe, daß die zweite und dritte Rede in Anlehnung an die erste gestaltet wurden, um das den Nachbarvölkern für den Fall der Rebellion angedrohte Unheil bzw. die Aufforderung zur Unterwerfung unter die Babylonier - zweifellos im Sinne Jeremias - auch auf den judäischen König und das ganze Volk zu übertragen. Nur die erste Rede, die an die Auftragserteilung anschließt, paßt von der Sache her in den Kontext. Doch auch sie kann in dieser Form nicht auf Jeremia zurückgehen. Thiel hat gezeigt, daß eine Reihe von Wendungen des Kapitels dem dtr Vokabular angehören (V. 5.8.13 sowie die Pseudoprophetenpolemik in V. 9f. 14f.l6f.). 9 8 Nur V. 11 sticht in mehrfacher Hinsicht heraus und kann allenfalls als jeremianisch gelten: Er steht nach der Pseudoprophetenpolemik von V. 9f. isoliert, ist mit d e m Symbol des Jochs, das ja den Ausgangspunkt bildet, inhaltlich eng verbunden sowie prägnant und in eigenständiger Terminologie formuliert; durch das Wortspiel mit " • ! ) und die Wendung „den Nacken unter das Joch beugen" sind zudem Stichworte geliefert, die im

93 DUHM 216ff.; ERBT, Jeremia und seine Zeit 19-21.97 rechnet zum Grundbestand 28,1a (LXX); 27,lb.2-4.12b (LXX); THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 5-10 (der Kern liegt in V. 2-4.11 vor). 94 S o streicht z.B. HITZIG 203 V. 1.7.13.17.21, RUDOLPH 172 V. 1.13.17, Teile von 16 und 19.20b.21.22aß.b. 95 Zu den Einzelheiten, die hier nicht dargestellt zu werden brauchen, da sie für den vorliegenden Zusammenhang unerheblich sind, vgl. ausführlich Tov, Exegetical Notes, STIPP, Sondergut 120f. 96 Vgl. V. 9f. mit 14f„ V. 8 mit 13, V. 12b mit 17a, V. 13a mit 17b (THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 6). 97 Ebd. I I , 6. 98 Als Hinweise auf dtr Bearbeitung sieht THIEL den Bezug auf die Schöpfermacht JHWHs (vgl. 32,17) sowie die Wendungen „mit großer Kraft und ausgestrecktem Arm" (vgl. 32,17, sonst nur noch Dtn 9,29; IIReg 17,36) und „Mensch und Tier" (vgl. 7,20); die Bezeichnung Nebukadnezars als „mein Knecht" lag D evtl. bereits vor (43,10) (ebd. 7f.). Für RUDOLPH 173 dagegen fehlen im Gegenteil charakteristische C-Wendungen, weshalb er den Text der Quelle A zuweist. Die Postulierung einer vierten Quelle, die auch 23,16-32 umfaßt (KRAUS, Prophetie in der Krisis 60), ist mit THIEL als „Übersteigerung der Quellen-Theorie" abzulehnen (Deuteronomistische Redaktion II, 7 Anm. 9).

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Funktion

und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

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ganzen Kapitel mehrfach aufgenommen sind ("DU findet sich im ganzen Kapitel insgesamt 1 Imal, die Wendung „den Nacken beugen" in V. 8 . 1 2 ) . " Diese Beobachtungen sprechen dafür, daß V. 11 den Abschluß des ursprünglichen Selbstberichtes V. 2-4 darstellte. 100 Der kurze Ich-Bericht wurde von der dtr Redaktion folgendermaßen erweitert: Die Botschaft des jeremianischen Spruches V. 11 wurde zu der umfangreichen Erörterung V. 5-8 ausgebaut, die gewissermaßen eine „vorweggenommene Auslegung" darstellt; die folgenden zwei Reden wurden auf dieser Basis teilweise paraphrasierend entwickelt. Das Thema der falschen Propheten und der Tempelgeräte (V. 16ff.) wurde zusätzlich aus Kp. 28, dem Kp. 27 im Blick auf das Thema „Joch" vorangestellt wurde, eingetragen. 101 Die Gestaltung ausführlicher dtr Redeabschnitte aus einem jeremianischen Kern heraus entspricht dem Vorgang, den Thiel bereits bei den Selbstberichten in Kp. 13; 18; 19 aufzuzeigen vermochte. 102 Es spricht viel dafür, daß hier eine spezifisch dtr Bearbeitungstechnik erkannt und charakterisiert ist.

Daß die Zeichenhandlung mit dem Joch, dem Symbol für die von Jeremia im Auftrag JHWHs geforderte Unterwerfung unter die Babylonier, in ihrer ursprünglichen, vordtr Fassung mit einem kurzen erklärenden Wort abgeschlossen wurde, ist sehr wahrscheinlich. Es ist durchaus möglich, wenngleich nicht zwingend, daß dieser Spruch im dtr bearbeiteten Text noch erhalten ist; 103 V. 11 kommt dafür, wie Thiel gezeigt hat, in Frage. Von der Redaktion wurde dieses Wort in dtr Zuspitzung und Akzentuierung, jedoch durchaus im Sinne der von Jeremia vertretenen Sache, erweitert und in einen neuen Kontext gestellt. Daraus ergibt sich eine für die Frage nach einem möglichen Sitz im Leben der Völkersprüche wesentliche Feststellung: Die Symbolhandlung Jeremias mit dem Joch zeigt, daß nicht nur eine Gelegenheit bestanden hat, in der Jeremia mit Vertretern der Nachbarvölker in Kontakt treten konnte, sondern daß der Prophet diese auch nutzte, um ihnen die Botschaft JHWHs auszurichten. Jeremia hat sich in der Tat, mindestens in Form der Symbolhandlung, zum Schicksal der Nachbarvölker, das er von JHWH bestimmt sah, geäußert. Daß die Völker in Jeremias Perspektive keinen Platz gefunden hätten, erscheint nicht nur dadurch unwahrscheinlich, daß Juda mit seinen Nachbarn auf engstem Raum zusammenlebte und von deren Schicksal unmittelbar mitbetroffen war; vollends verunmöglicht wird diese Annahme dadurch, daß Jeremia das Gipfeltreffen des Jahres 594 zum Anlaß für einen prophetischen " E b d . I I , 6f. 100 Andere sehen V. 12 in dieser Funktion, etwa WANKE, Baruchschrift 27ff. ""THIEL, Deuteronomistsche Redaktion II, 7-10. Anders WANKE, Baruchschrift 19-36, mit leichten Abweichungen übernommen von HOSSFELD-MEIER, Prophet gegen Prophet 90-103. l02 V g l . THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 9. 103 Es ließe sich ebensogut denken, daß der den Selbstbericht abschließende Spruch nicht nur erweitert wurde, sondern ganz in den vom dtr Redaktor gestalteten Reden aufging und seine Spuren lediglich im behandelten Thema und in dessen theologischem Ansatz hinterließ. Eine Scheidung von vordtr und dtr Gedankengut ist m.E. in dieser Präzision nicht immer möglich, insbesondere bei einer derart umfangreichen Komposition, die den älteren Kern Uberwuchert und schließlich vom U m f a n g her um ein Vielfaches übertrifft. Diese Einschränkung stellt jedoch die grundsätzliche Richtigkeit der von THIEL vorgenommenen Analyse nicht in Frage.

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IV. Die Völkersprüche

Jeremias

Auftritt nahm, dessen Botschaft nachdrücklich den Nachbarvölkern - und Juda letztlich mit ihnen - galt. Ist auf diese Weise erst einmal der Platz der Nachbarvölker in Jeremias prophetischem Horizont gesichert, ist es möglich, einen Schritt weiterzugehen. Es kann nämlich erwogen werden, ob dieser Anlaß nicht einen geradezu idealen Rahmen auch für den Vortrag zumindest einiger der Sprüche und Gedichte, die in Kapitel 46-49 gesammelt sind, abgibt. 104 In dieser Richtung deuten jedenfalls die Reden, die Jeremia im Zusammenhang mit der Symbolhandlung mit dem Joch in den Mund gelegt werden. Diese führen im Grunde genau das in dtr Terminologie aus, wovon die Völkersprüche im wesentlichen und - trotz vielgestaltiger Ausdrucksweise - redundant und in pedantischer Einseitigkeit handeln: Der Feind, von dem sie sprechen, kommt auf JHWHs Geheiß und überzieht die Länder mit Krieg und Elend; jeglicher Widerstand ist nutzlos. Die dtr Version verankert diese jeremianische Botschaft zusätzlich in der Schöpfermacht JHWHs und seiner souveränen Freiheit, die Herrschaft über die Erde zu geben, wem er will (V. 5). Nun aber hat JHWH alle Länder in die Hände Nebukadnezars gegeben (V. 7, mit einem Hinweis auf das Ende dieser Herrschaft, der die spätexilische Sichtweise widerspiegelt) und verfügt, daß alle Völker sich unter dieses Joch beugen sollen. V. 8 drückt dies in negativer, V. 11 in positiver Form aus, so daß diese beiden Aussagen als unterschiedliche Ausprägungen bzw. Variationen desselben Gedankens erscheinen. 105 Die Völkersprüche enthalten zwar dieses konditionale Element nicht, sondern kündigen das Unheil unbedingt an. Es liegt jedoch nahe, daß diese Formulierungen, die einen doppelten Ausgang offenlassen, ebenfalls auf dtr Gestaltung zurückgehen; dadurch wird besonders hervorgehoben, daß das über (Juda und) die Völker ergangene Unheil nicht von vornherein von JHWH verfügt war, sondern die Folge der falschen Entscheidung und der Uneinsichtigkeit der Regierungen und der Verantwortlichen, ein Schicksal, das durch 104 Diese Möglichkeit ist angedeutet bei SEYBOLD, Jeremia 31.64. SCHREINER verbindet die Bezeichnung „Prophet für die Völker" (Jer 1,4) exemplarisch mit diesem Ereignis, ohne die Völkersprüche ausdrücklich in denselben Rahmen zu stellen: „Es ist nach dem Gesagten nicht zu verkennen, daß Jer 27,1-11 grundsätzliche Bedeutung innerhalb der Botschaft des .Propheten für die Völker' zukommt. Hier werden nicht nur die Grundeinstellung Jeremias zu den anderen Nationen und das Fundament seiner Beweisführung sichtbar, sondern aus ihnen werden auch für das Gespräch mit den Vertretern der Völker wichtige Grundgedanken entwickelt, die dann in der Verkündigung des Jeremiabuches zum Tragen k o m m e n . . . " (Prophet für die Völker 19-22, Zitat 22) Daß die Völker „dem göttlichen Gericht unterliegen und zum Heil berufen sind", so daß sie „dem Volk des Herrn in bestimmter Weise gleichgestellt" sind und „das göttliche Angebot der Gnade und des Lebens" erhalten (ebd.), ist allerdings m . E . eine Überinterpretation, die sich nicht mit guten Gründen auf die Verkündigung Jeremias berufen kann. Eine inhaltliche Verbindung zwischen Kp. 27 und den Völkersprüchen sehen z.B. auch SMOTHERS, Lawsuit 545, RUDOLPH XIV, ausdrücklich 267: „Wer 27,6 für echt hält, kann die Gottesidee von Kap. 46-49 nicht für unjeremianisch halten...", und SCHREINER 237 (bezogen auf das erste Ägypten-Gedicht). 105 Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 8: „In V. 8 nimmt D ... den Inhalt des Spruches V. 11 vorweg."

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Funktion

und Sitz im Leben der jeremianischen

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rechtzeitige Kapitulation und Beugung unter das von JHWH verordnete babylonische Joch hätte abgewendet werden können. Ob Jeremía selbst diese Möglichkeit sah, läßt sich aufgrund dieser dtr formulierten Aussagen allein nicht feststellen. Jedenfalls steht im Zentrum der Jeremia-Reden von V. 5ff.12ff.16ff. gerade jener Gedanke, der für die Völkersprüche wie die Gedichte über den „Feind aus dem Norden" als charakteristisch und zentral herausgearbeitet wurde, daß nämlich JHWH selbst den Feind von Norden nach Syrien-Palästina beordert und die Unterwerfung unter ihn von allen Völkern fordert. Neben V. 5f., wo der Gedankengang theologisch verankert wird, ist das „Ich" JHWHs deshalb im ganzen Zusammenhang vorherrschend, sowohl in der Forderung der Unterwerfung (V. 6) als auch in der Darstellung der Folgen im Falle des Gehorsams (V. 11) oder der Weigerung (V. 8, vgl. V. 13) und in der Warnung vor dem Hören auf die Botschaft der „falschen Propheten" (V. 10.15). Außer den konditionalen Formulierungen in V. 8.11, die zwei Möglichkeiten aufzeigen und damit zwei unterschiedliche Szenarien für die Zukunft skizzieren, und der Pseudoprophetenpolemik - beide Elemente dürfen als spezifisch dtr gelten - wirken deshalb die Reden in Kapitel 27 wie prosaische Zusammenfassungen dessen, was Jeremia in den Völkersprüchen in poetisch-lebhaftem, anspruchsvoll elaboriertem Stil zum Ausdruck bringt. Die inhaltliche Übereinstimmung ist, durch die dtr Redaktion im Interesse ihres theologischen und didaktischen Anliegens nur noch zusätzlich verstärkt, offensichtlich. Die sich auf Edom, Moab, Ammon und Phönizien 106 beziehenden Völkersprüche mit der Joch-Demonstration des Jahres 594 zu verbinden drängt sich von daher direkt auf. Damit ist nicht nur für die Abfassung, sondern auch für den Vortrag einiger Völkersprüche ein konkreter Sitz im Leben gefunden, der sie sowohl mit der Wirksamkeit Jeremias in Verbindung zu bringen als auch den literarischen Befund zu erklären vermag. Eine Schwierigkeit dieser Einordnung besteht allerdings darin, daß in den Sprüchen Jeremias über Edom, Moab, Ammon und die phönizischen Städte Tyrus und Sidon nicht explizit von einem Joch die Rede ist, wie das im Bericht von Kapitel 27 mehrfach der Fall ist (V. 8.11.12). Dies ist jedoch nur scheinbar ein Problem. Da die Jeremia-Reden in Kapitel 27 dtr gestaltet, die Botschaft Jeremias anläßlich der Joch-Demonstration deshalb frei zusammengefaßt und im dtr Sinne zugespitzt wiedergeben ist, wird auch der explizite Bezug auf das Joch in diesem Zusammenhang auf die Bearbeiter zurückzuführen sein. Dieser ist in dem Moment nötig, wo die Symbolhandlung und die ursprünglich in denselben Zusammenhang gehörenden Worte voneinander getrennt überliefert werden. Möglicherweise war dies 106 Die in der Analyse des Philister-Orakels Kp. 47 von den obigen Erwägungen ganz unabhängig durch textkritische Überlegungen gewonnene Einsicht, daß das Wort über Tyrus und Sidon (47,4) auf einen ursprünglich selbständigen Phönizier-Spruch zurückgeht, der im jetzigen Zusammenhang des M T in das Philister-Gedicht eingebettet ist, wird durch die Nennung von Vertretern aus den phönizischen Städten Tyrus und Sidon in 27,3 nachdrücklich unterstrichen.

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IV. Die Völkersprüche

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von Anfang an der Fall: Die Sprüche wurden wohl mit den anderen Völkersprüchen zu einer kleinen thematischen Sammlung verbunden, vermutlich schon von den ersten Tradenten, die den Nachlaß Jeremias verwalteten; die Symbolhandlung dagegen mag in einer anderen Sammlung, in welcher jeremianische Selbstberichte zusammengestellt wurden, 107 überliefert worden sein. Es ist jedenfalls sehr wohl denkbar, daß Jeremia das Joch als für sich selbst sprechendes Symbol trug, ohne seine Sprüche explizit damit zu verknüpfen. In der aktuellen Situation wird die Bedeutung der Symbolhandlung ohnehin deutlich gewesen sein, zumal in Verbindung mit den gleichzeitig vorgetragenen Sprüchen. Umgekehrt wird durch die Verbindung der Völkersprüche mit diesem konkreten Anlaß deutlich, daß eine explizite Bezeichnung des Feindes tatsächlich nicht nötig war. Die Tatsache an sich bleibt auffällig genug, konnte jedoch oben dahingehend gedeutet werden, daß der tatsächliche militärische Feind in Jeremias Verkündigung hinter dem eigentlichen Feind JHWH, als dessen Willensvollstrecker die Babylonier auftreten, zurücktritt. Dies konnte umso leichter geschehen, als im Zusammenhang des Jerusalemer Gipfels, ja mit Sicherheit schon mindestens ein Jahrzehnt früher, ohnehin nicht fraglich sein konnte, woher die Gefahr drohte. Die Situierung der Edom-, Moab-, Ammon- und Philistersprüche bei der Joch-Demonstration im Jahre 594 ist eine Hypothese, die zur Hauptsache auf inhaltlichen Berührungen und redaktionsgeschichtlichen Beobachtungen gründet. Über diese Vermutungen und Analogien hinaus lassen sich keine eindeutigen Beweise dafür beibringen. Daß auch andere vergleichbare Situationen denkbar sind, in welchen Jeremia seine Völkersprüche vorgetragen haben könnte, ist nicht zu bestreiten. So könnte z.B. - bei Wahrung des historischen Anlasses - der Vortrag der Sprüche zeitlich von der Joch-Demonstration etwas abgesetzt werden. Da nicht damit zu rechnen ist, daß die Diplomaten, die teilweise von weither angereist kamen, schon nach einigen Stunden Jerusalem wieder verließen, sondern die Besprechungen sich wohl einige Tage hinzogen, kann der Vortrag der Völkersprüche früher oder später als der Auftritt mit dem Joch erfolgt sein. Da die Baruch-Biographie nicht in diesem Sinne präzise sein will, ist das Fehlen von Hinweisen in dieser Richtung nicht weiter auffällig. Jedenfalls ist es auch von daher völlig ausgeschlossen, die Völkersprüche des Jeremiabuches insgesamt dem Propheten Jeremia abzusprechen. Das Interesse Jeremias am Geschick der Nachbarvölker - das selbstverständlich immer im Zusammenhang mit dem Geschick Juda-Jerusalems zu sehen ist läßt sich allein an der Symbolhandlung mit dem Joch in einer solchen Deut107 Das „Ich" in 27,2 als sekundär zu beurteilen (so ERBT, Jeremia und seine Zeit 19-21.97) liegt, wie THIEL richtig urteilt, kein Grund vor. Weder gibt der Text Hinweise auf ein ursprüngliches „Er", noch ist im Blick auf den Kontext anzunehmen, daß ein Er-Bericht sekundär als Ich-Bericht stilisiert wird; eher wäre das Gegenteil zu erwarten (Deuteronomistische Redaktion II, 5 Anm. 3).

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen

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lichkeit ablesen, daß sich damit im Blick auf den gesamten Komplex der Völkersprüche umgekehrt ein positives Vorurteil schon fast aufdrängt. Der Bericht von der Symbolhandlung nennt nur Vertreter aus Edom, Moab, Ammon, Tyrus und Sidon. Es wäre zu einfach, die übrigen Völker, denen in der jeremianischen Sammlung der Völkersprüche Gedichte und Sprüche gewidmet sind, stillschweigend darunter zu subsumieren. Allerdings kann gefragt werden, ob nicht an jenem Gipfel auch Vertreter der Ägypter, der philistäischen Städte, von Damaskus und aus den arabischen Nomadenstämmen teilgenommen haben könnten (vgl. 9,24f.). Eine solche Konstruktion wirkt jedoch gezwungen und preßt den Text allzu sehr. Die Annahme, daß alle Völkersprüche derselben historischen Situation entstammen sollten, ist ohnehin nicht zwingend und wird zumindest von den beiden Ägypten-Gedichten und vom Philister-Gedicht, die aufgrund ihrer Bezüge früher bzw. später zu datieren sind, deutlich widerlegt. Ersteres ist inhaltlich mit der Schlacht von Karkemisch verbunden; es mußte seine Aktualität spätestens im Jahre 601 verlieren, als die Ägypter den Vormarsch der Truppen Nebukadnezars vorläufig beendeten. 108 Wenn Jeremia mit seiner Interpretation der Schlacht von Karkemisch sachlich auch recht behielt, was erst einige Jahre später deutlich wurde, so konnte er doch, wollte er weiter vom Schicksal sprechen, das Ägypten drohte, nach 601 nicht mehr in dieser Weise auf die Schlacht von Karkemisch rekurrieren. Das zweite Ägypten-Gedicht zeigt denn auch, daß sich Jeremia zu diesem Zweck anderer Formen zu bedienen wußte. Die konkreten Umstände, unter welchen Jeremia das erste Ägypten-Gedicht vortrug, sind schon von daher ganz anders zu sehen als die oben dargestellten. Ein weiterer Ansatzpunkt ergibt sich, wenn gerade anhand des ersten Ägypten-Gedichts die Frage nach den Adressaten noch einmal aufgerollt wird. Wen hat Jeremia im Blick, wenn er die ägyptische Niederlage in Karkemisch aus seiner Perspektive als Prophet JHWHs interpretiert und kommentiert? c) Jeremia als Prophet für

Juda-Jerusalem

Die Analyse des ersten Ägypten-Gedichts 46,3-12 hatte der Interpretation, daß Jeremia vor der Schlacht von Karkemisch diese und ihren Ausgang vorausgesagt hat, den Vorzug gegeben vor der anderen Deutung, daß der Prophet nach der Schlacht einen Kommentar dazu abgegeben hat. Für die Funktion des Gedichts ist es jedoch im Grunde nicht erheblich, ob es vor oder nach der Schlacht gesprochen wurde. In jedem Fall kann es dem Propheten nicht nur darum gehen, die (bald eintreffende oder bereits eingetroffene) Wirklichkeit zu schildern; vielmehr liegt der Hauptakzent auf der damit verbundenen Analyse und den Konsequenzen für die Völker, ja für die ganze Welt (vgl. pointiert 46,12 p s n nx'PQ inrrpri Tp/frf? n-ia wacö). Nicht auf die Darstellung der ägyptischen Niederlage als solcher kommt es Jeremia an, sondern darauf, 108

Vgl. obenS. 106.

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IV. Die Völkersprüche

Jeremias

daß JHWH selbst sie bewirkt - und daß sie für die Völker einschneidende Folgen haben wird. Steht in dieser Weise weniger das plastisch dargestellte Faktum als die Analyse der ägyptischen Niederlage im Zentrum, so liegt der Schluß nahe, daß nicht - oder jedenfalls nicht nur - die Ägypter angesprochen sind. Wenn mit dem Sieg bei Karkemisch das Tor für den „Feind aus dem Norden" aufgestoßen ist, so ist Juda davon unmittelbar betroffen. Im Kontext der politischen Konstellation des Vorderen Orients im ausgehenden 7. Jahrhundert v.Chr. im allgemeinen und der Verhältnisse im kleinen Staat Juda im besonderen hat diese Aussage eine eindeutige Spitze, eine klare Stoßrichtung. Ob sie vor oder nach der Schlacht von Karkemisch formuliert ist, so beschreibt sie in jedem Fall die Niederlage Ägyptens und die sich daraus ergebende hoffnungslose Situation. Nicht genug aber damit; das Gedicht gibt auch eindeutig zu erkennen, daß die ägyptische Niederlage sich nicht einem historischen Zufall verdankt, sondern dem Willen und Plan JHWHs. Insofern fügt sich das Ägypten-Gedicht nahtlos in die Verkündigung Jeremias vom „Feind aus dem Norden": Ist dieser auch nicht genannt, weil der eigentliche Feind Ägyptens am Euphrat JHWH selbst ist, so steht er doch im Hintergrund; das zweifache „Norden" (V. 6.10 109 ) an herausragender Stelle ist kein Zufall. Wenn aber die ägyptische Niederlage von JHWH verfügt ist, so handelt es sich dabei nicht um ein beliebiges Tagesereignis der in jenen Jahren ohnehin turbulenten Zeit, in welcher schlechte Nachrichten an der Tagesordnung waren und die Bewohner Judas und Jerusalems mit dem Schlimmsten auch für sich selbst rechnen mußten. Vielmehr kommt diesem Geschehen exemplarische Bedeutung zu: Nach dem Zusammenbruch des assyrischen Reiches war Ägypten die einzige Großmacht, welche die babylonische Expansion aufzuhalten vermochte und auch dazu gewillt war. Die Niederlage Ägyptens gegen die Babylonier beim nördlichen Eingangstor in den syrisch-palästinischen Raum kommt daher einem Dammbruch gleich, der auch für Juda das kleine Land im Bereich des Puffers zwischen den Großmächten - einschneidende Folgen hat. 110 Wenn Jeremia dieses Ereignis aus seiner prophetischen Sicht kommentiert, dann auf der Linie seiner Äußerungen über den 109 jiEJS | H S a V. 10 ist im Unterschied zu ¡"¡jiS^ V. 6 nicht bloß eine Richtungsangabe bzw. eine unbestimmte Ortsangabe, sondern bezeichnet das Land, d.h. das Herrschaftsgebiet des Nordreiches und spricht diesem damit möglicherweise implizit den Anspruch auf dieses Gebiet zu, Ägypten dagegen ab. 110 Vgl. CLEMENTS 248; Jones 491; SEYBOLD spricht treffend von einer „weltpolitischen, ja theo-politischen Entscheidung" (Jeremia 124). CARROLL 764 hingegen unterschätzt die Bedeutung der Schlacht von Karkemisch in doppelter Hinsicht, wenn er annimmt, daß sie Juda nicht betraf: Einmal muß Jeremia darin eine Bestätigung seiner Verkündigung vom „Feind aus dem Norden" (Kp. 4-6) gesehen haben, wenn diese vor 605 anzusetzen ist; andererseits bedeutete diese Schlacht tatsächlich auch historisch eine Wende, indem sie den einzigen ernstzunehmenden Gegner Ägypten entscheidend schwächte und den Babyloniern den Weg nach Syrien-Palästina eröffnete. Die Schlußfolgerung, wonach das Gedicht kaum als „determinative of Judaean policy" verstanden werden kann (ebd.), verkennt von daher dessen aktuelle Bezüge. Es ist nicht

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Völkersprüche

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„Feind aus dem Norden", dessen Einfall in Juda und Jerusalem ihm als von JHWH verfügt gewiß ist. Sein Gedicht muß sich damit zwangsläufig gegen die proägyptische Politik Jojakims richten, welche die Zeichen der Zeit nicht oder falsch deutet, die Gefahr aus dem Norden zu gering veranschlägt und auf die Hilfe Ägyptens setzt. Diese Interpretation der Schlacht von Karkemisch als Dammbruch und damit als Zeichen für die bevorstehende Erfüllung der Voraussagen über den „Feind aus dem Norden" - paßt genau in die Auseinandersetzung Jeremias mit der Politik jener Zeit. Mit seinem Gedicht warnt Jeremia - wie in den Gedichten über den „Feind aus dem Norden" (Kp. 4-6) - vor einer bevorstehenden Gefahr, die von einer Macht im Norden ausgeht. Allerdings ruft er angesichts der Bedrohung nicht dazu auf, zu rüsten und Koalitionen einzugehen; insbesondere vor einer Koalition mit Ägypten warnt er die proägyptische Partei um König Jojakim deutlich. Es geht ihm nicht nur um den theologischen Gedanken, daß JHWH der Herr der Geschichte ist und den Lauf der Weltgeschichte wie das Schicksal Judas bestimmt, obwohl diese Erkenntnis sicher im Hintergrund steht. 111 Vielmehr wird dieser Glaubenssatz von Jeremia aus seiner Allgemeinheit herausgehoben und auf eine bestimmte politische Situation bezogen und zugespitzt. Daß die Weltmacht Ägypten der Weltmacht aus dem Norden unterliegt, hat weitreichende Konsequenzen und Auswirkungen auf die Politik des kleinen Juda. 112 Weil von diesem Ereignis Juda direkt betroffen ist, läßt das Gedicht auch keinen Raum für Schadenfreude; 113 wenn es reichlich Gebrauch macht von Stilmitteln wie Ironie und Spott, dann nicht, um das unterlegene Ägypten zu demütigen oder gar sich selbst auf dessen Kosten zu erhöhen. Vielmehr macht das Gedicht über die Niederlage Ägyptens am Euphrat - ohne irgendwelche politischen Postulate zu formulieren oder Parolen auszugeben - klar, daß eine Koalition mit Ägypten keine sinnvolle Option ist. JHWH selbst ist

verwunderlich, daß der Text, derart seines aktuellen historischen Kontextes beraubt, nur noch als Ausdruck judäischer Ideologie bezeichnet werden kann: „Thus an event of international significance is drawn into the realm of Judaean ideology and made to conform to the domestic theology of a minor state on the edges of the two empires engaged in the struggle for dominance. ... the poem domesticates international affairs in terms of Judaean religious matters." (ebd.) Da CARROLL grundsätzlich nicht mit jeremianischer Herkunft nicht nur der Völkersprüche, sondern auch der übrigen Texte des Jeremiabuches rechnet, sondern davon ausgeht, daß die spätere Jeremiatradition das Wort des Propheten vollständig überlagert und überdeckt, fragt er nicht nach einem möglichen konkreten Sitz im Leben der Texte. Dieser Doketismus führt dann notwendigerweise dazu, daß die Texte auf fiktive Kontexte festgelegt und ihnen unterschiedslos theoretisch-theologisch-ideologische Zusammenhänge und Deutungen unterstellt werden. 111 Dieser Gedanke wird oft im Zusammenhang mit dem Ägypten-Gedicht 46,3-12, gelegentlich auch den Völkersprüchen insgesamt, als einziger hervorgehoben, vgl. NICHOLSON II, 164;

SCHREINER 2 3 8 ; JONES 4 9 2 ; WEISER 3 8 2 . 112 Vgl. HOLLADAY II, 318: „the mockery of Egypt would not only disgrace Egypt but would also disgrace those officials in Judah who had been countig on Egypt as a counterpoise to Babylonia." 113

V g l . CLEMENTS 2 4 9 .

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IV. Die Völkersprüche Jeremias

es, der d e n „Feind aus d e m N o r d e n " k o m m e n läßt, und auch Ä g y p t e n k a n n ihn nicht aufhalten. J u d a kann auf k e i n e f r e m d e H i l f e m e h r zählen. Durch diese Einordnung des ersten Ägypten-Gedichts verlagert sich der A d r e s s a t e n k r e i s v o n d e n d u r c h d i e fiktive A n r e d e a n g e s p r o c h e n e n Ä g y p t e r n auf Juda, i n s b e s o n d e r e d e n K ö n i g u n d die f ü h r e n d e n Kreise, w e l c h e f ü r die Politik jener Jahre verantwortlich zeichneten. Einen konkreten A n l a ß f ü r den V o r t r a g e i n e r d e r a r t i g e n A n a l y s e , z u m a l in d i e s e r s p e z i e l l e n , p o e t i s c h e n F o r m , z u finden f ä l l t n i c h t l e i c h t ; a l l z u w e n i g ist ü b e r d i e k o n k r e t e n L e b e n s u m s t ä n d e im bedrohten Juda j e n e r Zeit überliefert. A u c h die im Vergleich mit anderen Prophetenbüchern ausführlichen Angaben der Baruch-Biographie vermögen d i e s e s D e f i z i t n i c h t b e f r i e d i g e n d a u s z u f ü l l e n . T h e o r e t i s c h l a s s e n s i c h verschiedene Szenarien vorstellen, wie u n d vor w e l c h e m F o r u m der P r o p h e t auftritt u n d s e i n e B o t s c h a f t v e r k ü n d i g t . In der Gestalt des äolischen Lyrikers Alkaios, der ungefähr z e i t g l e i c h " 4 mit Jeremía in Mytilene lebte, ergibt sich möglicherweise eine interessante Parallele zur Wirksamkeit Jeremias. Trotz der Probleme, die mit einem Vergleich aus einer anderen Kultur verbunden sind, soll hier kurz auf einen vergleichsweise gut bezeugten Sitz im Leben antiker Lyrik und deren Funktion eingegangen w e r d e n . " 5 Alkaios war in die Auseinandersetzungen um die Herrschaft in Mytilene involviert, in welchen die großen Adelsfamilien der Stadt sich gegenseitig bekämpften; diese politischen Ereignisse sind Teil eines gesamtgriechischen Prozesses, der „Ältere" bzw. „Archaische Tyrannis" genannt w i r d . " 6 Als Vertreter der durch einzelne oder Gruppen entmachteten und einflußlosen Adligen trat er für die gemeinschaftlich ausgeübte Adelsherrschaft, d.h. die traditionellen Machtstrukturen, ein. Neben aktiver Beteiligung an Umsturzversuchen, die jedoch nicht zum gewünschten Erfolg führten und ihm mehrere Phasen der Exilierung einbrachten, wirkte Alkaios vor allem durch seine politische Lyrik, die er im Rahmen seiner Hetairie vortrug. Die Hetairie ist im mytilenischen Adel die zentrale Form männlichen Zusammenlebens, der gegenüber andere Formen, etwa die Familie, von untergeordneter Bedeutung s i n d . " 7 Die primäre Funktion solcher Zusammenschlüsse gleichgesinnter á r a í p o i ist eine politische, doch ist die Hetairie nicht auf politische Aktionen beschränkt, sondern nimmt „den Charakter einer echten Lebensgemeinschaft an, deren Angehörige sich auch persönlich in umfassender Weise verbunden fühlen und deren Zusammenhalt durch gemeinsame

114 Die Lebensdaten des Alkaios lassen sich aufgrund der Quellenlage nicht exakt bestimmen und waren schon in der Antike nicht mehr sicher feststellbar; die wenigen biographischen Informationen lassen darauf schließen, daß er zwischen 630 und 625 geboren wurde (vgl. RÖSLER, Dichter und Gruppe 32f.). Es ist eine merkwürdige Koinzidenz, daß in Fragment B 16,1 Of. Alkaios nebenbei die Kampagne Nebukadnezars gegen Palästina im Jahre 604 nennt; es scheint, daß der Bruder des Dichters, Antimenidas, als Söldner in der babylonischen Armee diente (vgl. LIPIDICI, Egypto-Babylonian War 239 mit Anm. 27; PAGE, Sappho and Alcaeus 223f.; MALAMAT, New Record 251 Anm. 16; QUINN, Alcaeus 19f.). 115 Der Hinweis auf diese Parallele findet sich bei SEYBOLD, Jeremia 186 Anm. 11. 116 Einen knappen Überblick über den politisch-historischen Rahmen bietet RÖSLER, Dichter und Gruppe 26-33 (mit Literaturangaben). 117 Ebd. 33.

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen Völkersprüche

319

kultische Handlungen und andere Formen des Beisammenseins, vornehmlich im festlichen Symposion, gepflegt w i r d . " ' 1 8 Nun lassen sich die alkäischen Gedichte aufgrund zahlreicher Hinweise mit den Symposien der Hetairie in Verbindung bringen. Die Dichtung des Alkaios setzt die Hetairie voraus und ist für sie bestimmt: „Ohne Hetairie kein Lyriker Alkaios." 1 1 9 Das gemeinsam begangene Symposium stellt den institutionalen Rahmen für lyrische Darbietungen dar; hier tritt der Dichter auf und trägt seine Gedichte mit musikalischer Begleitung vor. 120 Eine andere Zielgruppe war für Alkaios offensichtlich nicht im Blick, und mit einer über die Hetairie hinausgehenden Gruppe von Interessenten rechnete er nicht; daß ein weiteres Publikum seine Gedichte rezipierte und sein Werk dadurch zur Weltliteratur wurde, ist eine sekundäre Entwicklung. 1 2 1 Der enge Bezug auf ein mit dem Dichter eng verbundenes Publikum ist keine individuelle Eigenheit der alkäischen Dichtung; vielmehr handelt es sich dabei um ein Grundkennzeichen eines Teils der frühen nichtepischen griechischen Dichtung. 1 2 2 Diese Gegebenheit wiederum hängt mit der Funktion der Lyrik in einer Zeit, in welcher Bücher noch nicht die Grundlage der literarischen Kommunikation bildeten, zusammen. Die schriftliche Form der Literatur vermittelte - im Gegensatz zur mündlichen Darbietung - ursprünglich nicht zwischen Autor und Publikum; jedenfalls für die Zeit des Alkaios gilt, daß „literarische Kommunikation noch nicht auf einem wie immer organisierten Vertrieb schriftlicher Texte basierte, sondern sich im Regelfall schriftlos vollzog". 1 2 3 Eine eigentliche Buchkultur, die einen größeren Kreis von Interessenten erfaßt, setzt im griechischen Raum erst im 5. Jahrhundert v.Chr. ein, und vor 700 ist eine literarische Schriftlichkeit nahezu ausgeschlossen bzw. auf die Abfassung beschränkt; „Darbietung und Rezeption hingegen erfolgten mündlich bzw. auf dem Wege des Hörens". 1 2 4 I m j u d ä i s c h e n K l e i n s t a a t i m l e t z t e n J a h r z e h n t d e s 7. u n d d e n e r s t e n b e i d e n J a h r z e h n t e n d e s 6. J a h r h u n d e r t s k ö n n e n ä h n l i c h e V e r b i n d u n g e n n i c h t n a c h g e wiesen w e r d e n , d a die biblischen und die w e n i g e n außerbiblischen Quellen zu wenig von den konkreten Lebensumständen, vor allem v o m sozialen Leben, erkennen lassen. Die Vorstellung, daß Jeremia seine Gedichte und Sprüche über den „Feind aus d e m Norden", der Juda und die Nachbarstaaten SyrienPalästinas bis nach Ä g y p t e n bedrohte, vor einem F o r u m von Zuhörern vorge-

118

Ebd. 34f. Drei verschiedene Elemente, die in unterschiedlichen Kombinationen in den Gedichten auftreten, stellen diesen Bezug her: 1. die ausdrückliche Bezeichnung der sympotischen Situation, 2. die explizite Bezugnahme auf die Gemeinschaft („wir", „ihr"), 3. die Voraussetzung von gemeinsamen Auffassungen vor allem politischer Art; sogar Gedichte, die an Einzelpersonen adressiert sind, können eindeutig mit der Hetairie in Verbindung gebracht werden (ebd. 37-40; das Zitat 40). 120 Ebd. 38f,41. 121 Ebd. 44f. 122 Ebd. 45. 123 Ebd. 45-49; Zitat 49. 124 Ebd. 47-53, Zitat 53. Zum Übergang von mündlicher zu schriftlicher Tradierung, der sich in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v.Chr. abzeichnet, sowie der damit verbundenen Entwicklung der Lyrik vgl. ebd. 77ff. Auf diese interessante Parallele zur dtr Rezeption der auf Jeremia zurückgehenden Texte sei nur am Rande verwiesen. 119

320

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

tragen haben könnte, fällt allerdings - die Bereitschaft zu möglichst konkreter Vorstellung der Umstände und des Lebens in jener Zeit vorausgesetzt - nicht schwer. Einmal wurden Jeremias Auftritte von der Gruppe von Propheten, die durch die spätere Jeremia-Überlieferung pauschal als „falsche Propheten" stilisiert wurden, kritisch verfolgt. Es ist nicht undenkbar, daß Jeremia selbst ursprünglich zu einer dieser Gruppen gehörte 125 und sich mit ihren Vertretern auseinandersetzen mußte. Diese Propheten spielten jedoch nicht nur im Jerusalemer Tempelkult eine Rolle, sondern auch und in jener Zeit wohl hauptsächlich als politische Ratgeber. Die Überlieferung läßt nur wenig davon erkennen, macht aber in diesem Zusammenhang deutlich, daß die politischen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen Jojakims und Zedekias, die letztlich zur Katastrophe führten, von ihnen mitbeeinflußt und mitverschuldet waren. Um politischen Rat zu erhalten wandte sich denn Zedekia auch an Jeremia, als dieser sich als Gefangener im Wachhof aufhielt (37,17; vgl. V. 3), und es müssen wohl eben diese politischen, offenbar von einem größeren Publikum verfolgten Stellungnahmen sein, die Jeremia den Vorwurf des Defaitismus einbrachten (38,4). Die Tradition bezeugt vielfach und eindeutig, daß Jeremia bis hin zur Einnahme Jerusalems durch die Babylonier mit diesem Ausgang rechnete und dies vor den Königen Jojakim und Zedekia wie vor deren politischen Beratern, den Propheten und den Bewohnern Jerusalems, ja gelegentlich auch vor ausländischen Diplomaten, aussprach. Es besteht von daher aller Grund, den Sitz im Leben der Völkersprüche ebenfalls in diesem politisch-theologischen Zusammenhang zu sehen. Damit kann die Frage nach der Funktion der Völkersprüche in einer zweiten Weise folgendermaßen beantwortet werden. Zunächst ist davon auszugehen, daß diese Sprüche und Gedichte - entgegen der Überlieferung, die sie als eigenständige Sammlung behandelte - innerhalb der jeremianischen Verkündigung nicht isoliert stehen, sondern fest in sie eingebunden und an konkrete Anlässe, Zeiten und Orte gebunden sind. Die nächste inhaltliche und formale Verwandtschaft findet sich in den Gedichten Jeremias über den „Feind aus dem Norden" (Kp. 4-6) und in anderen Sprüchen, die Juda-Jerusalem vor diesem Feind warnen (9,10; 10,18; 13,26; 15,6ff.; 16,16f.; 18,15ff.). Jeremia hat Juda aus dem Unheil, das die umliegenden Nachbarvölker seiner Erkenntnis nach erfassen sollte, gerade nicht ausgenommen, sondern im Gegenteil darauf hingewiesen, daß die „Wasser von Norden" (47,2) ausnahmslos alle überschwemmen. Zwar ist wenig bekannt darüber, wie die prophetische Einsicht, Intuition oder Inspiration zustande kommt; 126 immerhin ist deutlich, daß sie sich an konkreten politischen, sozialen und religiösen Gegebenheiten orientiert. Das erste Ägypten-Gedicht ist in dieser Hinsicht eindeutig, während die anderen Gedichte und Sprüche weniger offensichtlich auf konkrete Anlässe 125

126

Vgl. SEYBOLD, J e r e m i a 50f.

Zur Diskussion um Offenbarung, Wortempfang, Ekstase usw. s. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei NEUMANN, Prophetenforschung 39-44.

5. Theologie,

Funktion

und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

321

bezogen sind, ein Bezug aber nicht grundsätzlich zu bestreiten ist. Es ist mithin davon auszugehen, daß die prophetischen Äußerungen Jeremias, zu denen auch die Völkersprüche zu rechnen sind, die politische Entwicklung aus prophetischer Sicht kommentieren. Dies geschieht - in alter prophetischer Tradition - in Form von Sprüchen, die sich jedoch bei Jeremia aufgrund einer besonderen sprachlichen Begabung mehr und mehr zu eigentlicher Lyrik entwickeln. 127 Als Publikum, vor dem Jeremia seine Sprüche und Gedichte vorträgt, sind verschiedene Kreise denkbar. Die Überlieferung gibt nur ganz wenige Hinweise, doch kann auch im Blick auf die historische Situation durchaus mit unterschiedlichen konkreten Sitzen im Leben gerechnet werden. d) Juda und die

Völker

Die beiden in den vorhergehenden zwei Abschnitten entwickelten unterschiedlichen Modelle zeigen zwei konkrete Möglichkeiten auf, wie die Entstehung und der Vortrag von Völkersprüchen gedacht werden kann. Nun wäre es unsinnig, die jeremianischen Völkersprüche daraufhin zu untersuchen, ob sie eher Juda oder die Völker ansprechen, um sie dann verschiedenen Gruppen zuzuweisen; das Fehlen von Hinweisen auf konkrete Anlässe in den Texten würde dazu führen, daß eine solche Zuweisung mehr oder weniger willkürlich vorgenommen werden müßte. 128 Immerhin kann dieses Defizit der jeremianischen Völkersprüche auch positiv interpretiert werden: Durch die konkrete Situation, in welcher der Vortrag eines Völkerspruchs oder -gedichts erfolgte, müssen der sachliche Bezug und der historische Anlaß evident gewesen sein; der literarische Text dagegen ist in seiner jetzt vorliegenden Form gewissermaßen eine aus der historischen Situation herausgelöste, aber detailreiche Momentaufnahme, die den Propheten in actu zeigt. An diesem Bild wurden nur relativ wenige redaktionelle Retouchen vorgenommen; die späteren Bearbeiter und Herausgeber der jeremianischen Völkersprüche empfanden offenbar - von Einzelfällen abgesehen - nicht das Bedürfnis, den Texten konkrete Bezüge zu verschaffen, damit diese auch in späterer Zeit verstanden und richtig eingeordnet werden konnten. Eine strenge Scheidung zwischen Völkersprüchen, die Jeremia tatsächlich vor Vertretern der entsprechenden Völkern vortrug, und solchen, die er nur für Juda formulierte, ist auch aus einem andern Grund nicht angezeigt. Einmal ist nicht auszuschließen, daß Jeremia seine Sprüche und Gedichte mehrfach und

127

Vgl. DUHM XII; VON RAD, Theologie II, 200; VOLZ XXXIX. In den Textanalysen mußte aus diesem Grund bei fast allen jeremianischen Gedichten und Sprüchen darauf hingewiesen werden, daß die Verbindung der Texte mit konkreten Anlässen, etwa die Beteiligung ammonitischer und moabitischer Streifscharen an einer babylonischen Strafaktion gegen l u d a oder eines Zuges Nebukadnezars gegen die arabischen Stämme, auf reiner Mutmaßung beruht und in den Texten selbst keinerlei Anhalt hat. 128

322

IV. Die Völkersprüche

Jeremias

bei verschiedenen Gelegenheiten vortrug; 129 die Vorstellung des im Dienste Josias durch das Land ziehenden und seine Lieder vortragenden Rhapsoden oder Barden 130 mag wohl ungewohnt sein, in der Sache jedoch einen wahren Kern enthalten. Wenn der Prophet durch seine Verkündigung eine pro-babylonische und infolgedessen anti-ägyptische Politik betrieb, die er als Willen JHWHs für Juda und die Völker interpretierte und von der für ihn deshalb das Geschick Judas und der Völker abhing, dann ist es gut denkbar, daß er diese Botschaft nicht nur einmal und nur einem ausgewählten Hörerkreis übermittelte. Dann ist es aber auch wahrscheinlich, daß die das Schicksal der Völker thematisierenden Sprüche und diejenigen, die sich auf Juda beziehen, nicht zwei voneinander getrennte Kategorien darstellen, die für je unterschiedliches Publikum konzipiert sind, sondern, da sie im Innersten zusammengehören und lediglich unterschiedliche Ausprägungen desselben Themas sind, auch miteinander vorgetragen werden konnten. Die zweite und dritte der auf den Bericht von der Symbolhandlung mit dem Joch folgenden Reden sind deshalb im selben Kontext durchaus sinnvoll und sachgemäß an Zedekia bzw. „die Priester und das ganze Volk" gerichtet (27,12ff.l6ff.). 1 3 1 Von der Gefahr aus dem Norden sind alle gleichermaßen betroffen. In dieser Perspektive verwischen sich schließlich die Unterschiede zwischen den Völkersprüchen und den Gedichten über den „Feind aus dem Norden", die ohnehin praktisch nur noch in der unterschiedlichen Anrede bestehen. Denn in einem bestimmten Sinn betreffen die Völkersprüche auch den Lebensnerv Judas: Indem Jeremia jedem einzelnen Nachbarvolk Unheil ansagt, zieht er gewissermaßen einen Kreis um das kleine Juda, schnürt es ein und läßt es von allen Seiten von der babylonischen Gefahr bedroht sein. Man kann sich diesen Gedanken leicht mithilfe einer Palästinakarte veranschaulichen: Der Feind rückt von Norden her an und überrennt Damaskus, Tyrus und 129 In diese Richtung mag die Verurteilung der Annäherung an die anderen Staaten in 4,30 weisen. Wenn die Texte über den „Feind aus dem Norden", die in Kp. 4-6 gesammelt sind, in den Jahren nach 609 entstanden sind, so dürfte diese Anklage eine Aktualisierung des älteren Textes durch Jeremia selbst darstellen. Vor 605 war mit größter Wahrscheinlichkeit das Thema der Bündnispolitik noch nicht aktuell, und erste Hinweise in dieser Richtung finden sich erst 601/600, als Jojakim von Babylon abfiel (vgl. 13,20-22.25-27), und dann wieder im Jahre 594 im Zusammenhang mit der antibabylonischen Konspiration unter Zedekia (27,2-4). Wann eine solche Aktualisierung stattfand, ist nicht zu sagen; ALBERTZ sieht sie im Zusammenhang mit der Verlesung der Urrolle im Jahre 605/4 (Frühzeitverkündigung 39 mit Anm. 62). Ähnlich mag Jeremia seine ursprünglich dem Nordreich geltende Frühzeitverkündigung (Kp. 2f.) selbst auf Juda-Jerusalem bezogen haben, wahrscheinlich als Beispiel dafür, „daß Jahwe durchaus, auch nach einer langen Zeit des Gerichts, seinen Zorn abwenden kann, wenn es zu einer echten Umkehr, zu einer wirklichen Neuorientierung seines Volkes kommt." Angesichts der zu erwartenden babylonischen Invasion bekommt diese Aktualisierung den Charakter einer „ultimativen Aufforderung" (ebd. 46, vgl. 28f.). 130 Vgl. LOHFINK, Der junge Jeremia 367f. 131 Ob allerdings Teile der Gedichte über den „Feind aus dem Norden" von Kp. 4-6 tatsächlich ebenfalls bei der Joch-Demonstration vorgetragen bzw. wiederholt wurden, läßt sich so wenig mit Bestimmtheit bestätigen wie widerlegen.

5. Theologie, Funktion und Sitz im Leben der jeremianischen

Völkersprüche

323

Sidon, im Osten die Nachbarn Ammon und Moab sowie die östlichen und südöstlichen Wüstenbewohner, im Süden Edom, im Südwesten Ägypten und im Westen die Philister, und mit jedem Staat, der auf der Karte als erobert gekennzeichnet werden muß, schließt sich der Kreis um Juda enger, so daß es am Schluß ganz und gar eingekesselt ist. Treffender läßt sich eine akute Bedrohung wohl kaum zum Ausdruck bringen: Wohin man blickt, ist alles in Feindeshand, Juda isoliert und vom Feind umzingelt. Es liegt nahe, auf diese Vision des eingekesselten Juda den Ausdruck TDOQ "riM „Grauen ringsum" (46,5; 49,29) zu übertragen und in dieser Übertragung vom Schrecken der Völker, der sie von allen Seiten umgibt (vgl. die Häufung von T 3 0 , 46,14; 48,17.39; 49,5), auf Juda die eigentliche Pointe der Völkersprüche zu vermuten. Denn darum geht es letztlich für Juda in jedem einzelnen Völkerspruch bzw. -gedieht und erst recht, wenn sie alle verbunden sind und Juda gemeinsam vorgehalten werden: So gewiß der „Feind aus dem Norden" jedes einzelne Nachbarvolk im Norden, Osten, Süden und Westen erobern wird, so gewiß wird sich auch Juda - nach dem Willen JHWHs - unter das babylonische Joch beugen müssen. In dieser Aussage kommen Völkersprüche und Judasprüche zusammen, bezeugen dasselbe Schicksal und verschärfen sich gegenseitig. Auf diese Weise ist im letzten der Völkerprophet wiederum der Prophet JHWHs für sein eigenes Volk. In den Völkersprüchen wird Juda gerade nicht Heil angesagt, sondern - zutiefst bedrohlich, ernst und besorgniserregend - dasselbe Unheil, welches in der Sicht Jeremias die Nachbarvölker ohne Ausnahme trifft. Die jeremianischen Gedichte über den „Feind aus dem Norden" und die Völkersprüche lassen gemeinsam und übereinstimmend einen in der Auseinandersetzung um die Politik Judas des letzten Jahrzehnts des 7. und der ersten beiden Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts engagierten theologischen Denker erkennen. Von einer inneren Überzeugung ausgehend, daß die babylonische Herrschaft von JHWH verordnet sei und Juda nur dann überleben könne, wenn es sich ihr füge, brachte Jeremia in der Form, die ihm zu Gebote stand anspruchsvolle, aber zugleich anschauliche und eingängige Lyrik und gelegentlich aphoristisch wirkende Sentenzen seine Einsicht zu Gehör. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß er dadurch die Politik Judas aktiv zu beeinflussen hoffte, um das drohende Unheil nach Möglichkeit abzuwenden (vgl. 4,3.14; 5,1; 6,8). Die Zukunftsansage ist Zukunftsdeutung im Blick auf die politischen und religiösen Entscheidungen der Gegenwart.

V. Die Bearbeitungen der jeremianischen Völkersprüche Die Textanalysen in Kapitel III haben, dem in Kapitel II als Folge der textgeschichtlichen Konstellation des Jeremiabuches entwickelten methodischen Ansatz entsprechend, jeweils zwischen dem (rekonstruierten) Text des Jeremiabuches vor der Verzweigung in die alexandrinische und die masoretische Textform sowie dem jeweiligen Sondergut der beiden Texttraditionen unterschieden. Der jeremianische Kern der Völkersprüche, auf den alle folgenden Bearbeitungen und Texttypen zurückgehen, ist im vorhergehenden Kapitel dargestellt und soweit als möglich mit konkreten Sitzen im Leben während der Wirksamkeit Jeremias verbunden worden. Es bleibt nun noch, die Bearbeitungen dieser jeremianischen Texte, wie sie in den weiteren Schichten vorliegen, systematisch zu untersuchen und zu charakterisieren. Insbesondere sollen dadurch drei für das Verständnis des Werdegangs des Jeremiabuches wesentliche und kontrovers behandelte Fragen einer Antwort zugeführt werden: Fand sich der Komplex der Völkersprüche bereits in der dtr Ausgabe des Jeremiabuches oder ist er diesem erst später zugewachsen? Welche Textform des Jeremiabuches hat die ältere Stellung des Komplexes der Völkersprüche und die ältere Reihenfolge der einzelnen Sprüche bewahrt? Und schließlich: Verdankt sich die Gestalt des prämasoretischen Texttyps einer einheitlichen Redaktion oder sukzessivem und unsystematischem Textwachstum? Der folgende 1. Abschnitt faßt den Befund für den gemeinsamen Vorgänger der beiden Texttypen, wie er durch die Textanalysen im einzelnen erarbeitet wurde, zusammen. Da es sich dabei zeigen wird, daß die Völkersprüche bereits zum dtr Jeremiabuch gehört haben müssen, ergibt sich von selbst die Frage nach der ursprünglichen Stellung des Komplexes der Völkersprüche und der internen Reihenfolge; diese wird deshalb im 2. Abschnitt dargestellt. Abschließend sollen im 3. und 4. Abschnitt das prämasoretische und das alexandrinische Sondergut, wie sie sich nach der Aufspaltung der Textüberlieferung als jüngste Wachstumsschicht des Jeremiatextes herausbildeten, untersucht und charakterisiert werden.

I. Die deuteronomistische

Bearbeitung

325

1. Die deuteronomistische Bearbeitung a) Der Befund In den Textanalysen wurden zwei unterschiedliche Arten von Erweiterungen der jeremianischen Völkersprüche, die vor der Verzweigung der Texttradition vorgenommen worden sind, herausgearbeitet. 1 (1) Mehrere Zusätze sind von ihrem theologischen Interesse her als dtr bzw. der dtr Theologie nahestehend zu bezeichnen. Deutlich ist in dieser Hinsicht das Anliegen im Prosakommentar 46,25, der im prämasoretisehen Text um einige zusätzliche Elemente erweitert ist, sowie bei dem ursprünglich direkt daran anschließenden Heilsorakel für Jakob-Israel 46,27f., das vor der Aufspaltung der Textüberlieferung nicht durch die prämasoretische Erweiterung V. 26a und die ebenfalls erst im prämasoretischen Zweig angefügte Heilsverheißung für Ägypten V. 26b davon getrennt war. Der erste Teil des Prosakommentars (46,25), der sich deutlich auf den vorangehenden jeremianischen Text bezieht und diesen gezielt ausbaut, betont zwei Elemente, die im ursprünglichen Gedicht Jeremias nur angedeutet sind: Einerseits wird in das von JHWH her über Ägypten ergehende Gericht ausdrücklich Amon, der Gott Thebens und Reichsgott Ägyptens, einbezogen, andererseits sind zusätzlich diejenigen als von JHWH Heimgesuchte besonders hervorgehoben, die „auf den Pharao vertrauen". Beide Aussagen entsprechen dtr-exilischem Interesse, und auch die einleitende Wendung "IpiS ist typisch dtr. Durch den Bezug auf den ägyptischen Gott wird nicht nur auf den schuldhaften judäischen Fremdgötterkult angespielt, der zum Gericht JHWHs geführt hat, sondern gleichzeitig die Macht JHWHs über die Götter der Völker hervorgehoben. Die Katastrophe Juda-Jerusalems und das Exil sind also nicht etwa als Folge eines Versagens JHWHs gegenüber den babylonischen Göttern zu beurteilen, denn das Unheil - sc. auch dasjenige Judas - kommt von JHWH, der der Herrscher auch über die Völker ist. Durch das „Vertrauen auf den Pharao" wird darüber hinaus die politische (und gleichzeitig religiöse) Fehlentscheidung Jojakims und Zedekias ins Spiel gebracht, die darin besteht, daß die beiden Könige und ihre politischen Ratgeber sich dem Willen JHWHs widersetzten, indem sie gegen das babylonische Joch revoltierten und stattdessen auf die Hilfe Ägyptens und auf ein Bündnis mit den Nachbarstaaten setzten. Beide Elemente gehören mit zur Interpretation und damit zur Bewältigung der Geschichte, durch die erst ein Neuanfang aus der Katastrophe heraus möglich ist; darin spiegelt sich, eingekleidet in die Unheilsansage gegen ein Fremdvolk und anknüpfend an den älteren Text Jeremias, ein Stück dtr Geschichts- und Gerichtsinterpretation. 2

' Z u den f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n v g l . i m e i n z e l n e n d i e T e x t a n a l y s e n in Kapitel III, deren E r g e b n i s s e hier, s o w e i t s i e für die v o r l i e g e n d e F r a g e s t e l l u n g relevant sind, l e d i g l i c h in knapper Form zusammengefaßt werden. 2

Zur dtr Gerichtsinterpretation v g l . THIEL, D e u t e r o n o m i s t i s c h e R e d a k t i o n II, 1 0 7 - 1 1 2 .

326

V. Die Bearbeitungen

der jeremianischen

Völkersprüche

Die zweite Erweiterung im selben Zusammenhang, das Heilsorakel für Jakob-Israel (46,27f.), steht im schroffen Gegensatz zum Unheil, welches das jeremianische Gedicht bzw. die beiden jeremianischen Gedichte Ägypten ansagen. Indem das Heil Israels - jetzt verstanden als Gesamtisrael - dem Unheil Ägyptens antithetisch gegenübergestellt wird, wird hervorgehoben, daß das Gericht nicht JHWHs letztes Wort über und an sein Volk ist. Im Gegensatz zum endgültigen Unheil der Völker, unter die JHWH sein Volk verstoßen hat, will er nicht das Ende Israels. Das Gericht, das über Juda-Jerusalem ergangen ist, ist wohl eine Strafe, aber kein Abbruch der Beziehung JHWHs zu seinem Volk; Israel braucht sich deshalb nicht zu fürchten, sondern soll im Gegenteil voller Hoffnung sein, denn JHWH wird das Gericht beenden und die Zerstreuten zurückbringen. Das Heilsorakel nimmt die exilische Frage nach der Fortsetzung der Geschichte JHWHs mit Israel auf und beantwortet sie in typisch dtr Weise: Anders als Jeremia, dessen Ägypten-Gedichte Juda nicht ausdrücklich im Blick haben, dieses jedoch im Gesamtkontext in das Gericht JHWHs über Ägypten und die anderen Nachbarn gerade mit einbeziehen, hebt die dtr Theologie das Heil Israels gegen das Unheil Ägyptens und der Völker ab. Nach dem Eintreffen des Gerichts ist wieder echte Heilsverheißung möglich. 3 Im Zusammenhang mit V. 25 kommen so die beiden zentralen Elemente dtr Theologie, die Erklärung der Gegenwart durch die Deutung der Vergangenheit und konkrete Erwartung für die Zukunft, 4 zum Ausdruck. Von ähnlichem Charakter ist der Nachtrag zum „Küfer-Spruch" 48,1 lf. im Moab-Kapitel. Dieser fügt dem Bildwort vom Wein, der von den Küfern ausgeschüttet wird, und den Gefäßen, die zerschlagen werden, eine an den jeremianischen V. 7 anklingende, darüber jedoch weit hinausgehende Begründung an: Moab wird in diesem Gerichtshandeln JHWHs an Kemosch zuschanden, wie das Haus Israel an Bethel zuschanden geworden ist (V. 13). Das doppelte tö"Q sowie die Wurzel nCD3 (vgl. 46,25) führen das Geschick Moabs auf den Fremdgötterkult zurück, verknüpfen jedoch damit - wie schon der Einschub in V. 1 laö, der über das Bildwort hinaus einen expliziten Bezug auf die Exilierung herstellt - direkt die Katastrophe Juda-Jerusalems. Nur in diesem Zusammenhang hat der Verweis auf Kemosch und den in Bethel geübten synkretistischen Kult Sinn; den Moabitern ihr Vertrauen auf Kemosch vorzuhal-

3 Diesen Zusammenhang von eingetroffenem Gericht und darauf folgender Heilsverheißung weist KILPP schon für die jeremianische Verkündigung nach: „Verheißen wird Heil Bevölkerungsgruppen, die von verkündigtem Unheil getroffen wurden und daher in einer Gerichtssituation leben." (Niederreißen und aufbauen 177) In diesem Sinn konnte Jeremia selbst Juda, soweit es bereits unter dem Gericht stand, Heil ankündigen (24; 29,5-7; 32,6-15), ferner den Bewohnern des ehemaligen Nordreichs (Teile aus Kp. 3 und 31) sowie Einzelpersonen und kleineren Gruppen (35,2-11.19; 39,15f.; 45) (ebd.). Die dtr Heilsverheißung kann demnach auch hier an die jeremianische Verkündigung anknüpfen und sie aktualisierend weiterführen. Zur jeremianischen und dtr Heilsverheißung vgl. HERRMANN, Heilserwartungen 235-241; THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 112; BÖHMER, Heimkehr und neuer Bund 45f.81-88. 4 V g l . THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 107.

/. Die deuteronomistische

Bearbeitung

327

ten, ist bestimmt nicht die Intention Jeremias, der Israel im Gegenteil zum Aufweis seiner Schuld die Treue der Völker gegenüber ihren Göttern als Vorbild hinstellen konnte (2,10-13). Die Kritik am Fremdgötterkult richtet sich an die exilierten Judäer, deren Schicksal dadurch begründet wird: Was Moab geschah, ist dasselbe, was schon das Nordreich traf, und dies wiederum ist identisch mit dem, was nun Juda widerfahren ist. Aus der bildhaften Unheilsankündigung, die Jeremia für Moab formuliert hatte, wird so ex eventu eine Unheilsdeutung und -erklärung, die jedoch nicht mehr die ursprünglichen Subjekte, sondern die von derselben Katastrophe betroffenen Exilierten im Auge hat. Immerhin ist die dtr Interpretation und Applikation auf die unter dem Gericht JHWHs stehenden Judäer insofern gerechtfertigt, als darin erkannt ist, daß durch das Eintreffen des im „Küfer-Spruch" angekündigten Gerichts über Moab und Juda beide Völker zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, was der jeremianischen Intention der Völkersprüche, wie sie oben herausgearbeitet wurde, sachlich entspricht: Durch die exilische Übertragung des Moab-Spruches auf Juda wird radikal ernst gemacht mit der Erkenntnis, daß die Völkersprüche keine //ei/sankündigung für das Volk JHWHs darstellen, sondern dieses im Gegenteil in das Unheil mit einbeziehen und insofern die Kehrseite der Verkündigung Jeremias vom „Feind aus dem Norden", der über Juda hereinbricht, darstellen und mit dieser inhaltlich auf einer Ebene liegen. Auch die lange Parenthese 48,29-38a, die auf Jes 15f. bzw. einen auch dort zugrunde liegenden Text zurückgeht, weist dtr Spezifika auf, die erklären mögen, weshalb der Text an dieser Stelle eingefügt wurde. Das blinde Vertrauen Moabs in seine Sicherheit (V. 29), die darin zum Ausdruck kommende trügerische Selbstsicherheit und Überheblichkeit, die jedoch den Ernst der Unheilsdrohung JHWHs verkennen und seine Warnungen in den Wind schlagen, der Hinweis auf die Verwerflichkeit des Handelns Moabs (V. 30) - ein Thema, das bei Jeremia in bezug auf die Völker vollständig fehlt - sowie die über den jesajanischen Text (und wohl die gemeinsame Vorlage) hinausgehende Bemerkung über den moabitischen Kult (V. 35), der durch den Ausdruck nQ3 disqualifiziert wird, sind Elemente, die wiederum vordergründig das Unheil Moabs begründen, darin jedoch zugleich und in erster Linie die Katastrophe Judas erklären. Durch die Einfügung des fremden, aber thematisch passend erscheinenden Textes, der mindestens zwei der drei genannten Theologumena bereits enthielt, konnten offenbar die dtr Theologen ihr Anliegen noch deutlicher zum Ausdruck bringen, als dies mit den von ihnen überarbeiteten jeremianischen Texten der Fall war. Dies mag eine Bestätigung dafür sein, daß die Vorstellung, wonach die dtr Schule ältere - nicht nur jeremianische - Texte aufgriff und in ihrem Sinn interpretierte, um die Katastrophe Juda-Jerusalems als Folge konkreter Schuld verständlich zu machen und dadurch einen Neuanfang zu ermöglichen, im wesentlichen das Richtige trifft.

328

V. Die Bearbeitungen

der jeremianischen

Völkersprüche

Schließlich spricht auch einiges dafür, daß die an das Unheil Ammons geknüpfte Heilsverheißung für Israel (49,1.2b) eine dtr Schöpfung ist, die möglicherweise um eine jeremianische Unheilsankündigung (V. 2a) gelegt wurde. Auch dadurch wird der ursprüngliche Zusammenhang, in welchem die Völkersprüche Jeremias standen, verlassen; sowohl die Begründung des Unheils Ammons mit dem Besitz gaditischen Landes wie die Verheißung für Israel, das alte Land wieder zu erben, ist ganz unjeremianisch. Im Kontext der dtr Theologie hingegen ist die Heils- und Landverheißung gut denkbar; zwar findet sich sonst kein derart direkter Bezug auf konkretes Gebiet, das die Heimkehrer besitzen sollen, aber doch eine Reihe von Hinweisen auf Landbesitz, ohne welchen das zukünftige Heil ja nicht denkbar ist (23,3.8; 24,6; 29,14; 30,3; 31,27). Dem entspricht auch die Übertragung des Israel-Namens auf das neue Gottesvolk der kommenden Heilszeit, die ein Charakteristikum von D darstellt (23,8; 31,1.33). 5 (2) Andere Erweiterungen weisen im Gegensatz zu den genannten keinen offensichtlich dtr Charakter auf. Die Einfügung in 48,5, die aus Jes 15,5b stammt, kann auf einen Schreiber zurückgehen, der durch den ähnlichen Kontext an jene Stelle erinnert wurde, möglicherweise zusätzlich motiviert durch die Parenthese in V. 29-38a, die ebenfalls aus jenem Kontext (Jes 15f.) stammt; der nachgetragene Text wirkt eher als schriftgelehrter Zusatz denn als theologisch motivierte Ergänzung. Das die Unheilsankündigung verstärkende doppelte Fluchwort 48,10 mag eine Glosse eines Lesers sein, wenngleich die - an sich gut dtr, jeremianisches Anliegen aufnehmende - Interpretation, daß in dem dargestellten Unheilsgeschehen JHWH richtend am Werk ist, den Kern der Sache trifft. Auch der Nachtrag 48,26f., der an die Szene der „Becherverweigerung" 25,27-29 anschließt, weist kein spezifisch dtr Profil auf, wenn er den Moabitern Schadenfreude angesichts des Unheils Israels vorwirft; er gehört wohl in die frühexilische Zeit, möglicherweise vor der Eroberung Moabs durch Nebukadnezar im Jahre 582 v.Chr. oder, seinerseits einen Reflex der Genugtuung über das Schicksal Moabs darstellend, in die Zeit danach. Der Prosaeinschub 49,12f. ist sogar deutlich nichtdtr, da er das Gericht über Juda als unverdient bezeichnet, was, selbst wenn die Aussage rhetorisch-übertreibend gemeint ist - etwa: im Vergleich mit Edom hat es Juda nicht verdient... - , dem dtr (wie dem jeremianischen) Anliegen diametral entgegenläuft, ja sich im Grunde nur kontraproduktiv auswirken kann. Daß ein solcher Text in das Jeremiabuch Eingang gefunden hat, ist erstaunlich; es muß sich um einen postdtr Zusatz handeln, wenn nicht angenommen werden soll, daß

5 Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 22. Das gelegentliche Nebeneinander von „Israel" und „Juda" in dtr Texten erkläre sich demgegenüber aus den der dtr Redaktion vorgegebenen Texten (3,6.8.11; 11,10.17; 13,11; 32,30.32), und die dreistufige Verwendung in Kp. 30f. (Israel als Ephraim, Israel neben Juda, Israel als restituiertes Gottesvolk der Zukunft) entspreche den drei Stadien der Überlieferungsgeschichte (ursprüngliche Heilssprüche für Ephraim, judäische Sammlung, D) (ebd.).

1. Die deuteronomistische

Bearbeitung

329

auch bei dtr Theologen starke Gefühle gegen Edom die eigenen theologischen Schwerpunkte kurzfristig auch einmal überdecken konnten. Die sekundäre Übertragung eines Babelspruches auf Edom (49,19-21) bzw. dessen gleichzeitige Applikation auf beide Völker läßt ebenfalls keine dtr Motivation erkennen. Schriftgelehrte Absicht liegt wahrscheinlich hinter dem Einschub 49,17f., der geläufige Wendungen und den Sodom-Gomorra-Topos aufnimmt. Der Elam-Text 49,34-39 schließlich läßt sich nur sehr unpräzise exilisch oder gar nachexilisch datieren; ob er bereits zur exilischen Fassung des Jeremiabuches gehörte, ist unsicher. Jedenfalls sind auch hier keine dtr Elemente festzustellen. Der dargestellte uneinheitliche Befund läßt zwei verschiedene Deutungen zu. Zunächst weisen die charakteristisch dtr Theologumena darauf hin, daß auch die Völkersprüche - wenngleich in weit geringerem Umfang als etwa die Prosareden, wie dies jedoch ebenfalls bei den anderen poetischen Texten der Schicht „A" der Fall ist 6 - dtr bearbeitet wurden. Daraus folgt beinahe zwingend, daß diese Texte sich bereits im dtr Jeremiabuch fanden und diesem nicht erst in einem zweiten, „postdtr" Redaktionsprozeß zuwuchsen. 7 An sich legt sich diese Annahme auch von einer anderen Seite her nahe: Es ist wohl davon auszugehen, daß die dtr Redaktoren das ihnen vorliegende jeremianische Textmaterial einigermaßen vollständig in ihre Ausgabe aufnahmen. 8 Wenn die Völkersprüche jeweils im Kern, wie die Analysen ergaben, dem authentisch jeremianischen Gut, d.h. der Schicht „A" (bzw. „AP") zuzurechnen sind, dann muß davon ausgegangen werden, daß sie den Redaktoren ebenso vorlagen und daher von ihnen ebenso bearbeitet und in das Buch aufgenommen wurden wie die anderen poetischen Texte Jeremias und die Fremdberichte. Dies gilt erst recht, wenn einige dieser Sprüche sich in der Tat in der „Urrolle" befunden haben sollten, wie dies immerhin das Jeremiabuch selbst 6 Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 4. Dasselbe gilt im übrigen auch für die Bearbeitungen nach der Gabelung der Texttradition: Auch hier sind die poetischen Teile auffällig weniger erweitert und bereichert worden als die Prosastücke (vgl. STIPP, Sondergut 143 u.ö.). Dies mag damit zusammenhängen, daß komplexe poetische Strukturen und Diktion i.a. als kohärenter und geschlossener empfunden werden als prosaische und sich deshalb für aktualisierende Bearbeitung grundsätzlich weniger eignen. 7 So die These von THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 43 Anm. 45; vgl. auch STIPP, Sondergut 86. Eine Ausklammerung des Komplexes der Völkersprüche aus der literar- und redaktionskritischen Analyse, wie sie schon MOWINCKEI. vornahm (Komposition 14), erweist sich von daher als nicht gerechtfertigt. 8 Vgl. THIEL, Deuteronomistische Redaktion II, 104f.: „Überblickt man den Gesamtbestand des dtr. redigierten Jeremiabuches, so darf man urteilen, daß die Redaktion die prophetischen Traditionen trotz ihrer z.T. weitreichenden Bearbeitung und der dadurch bedingten inhaltlichen Veränderungen mit großer Treue und mit möglichster Vollständigkeit aufbewahrt und fixiert hat. Man darf annehmen, daß D so gut wie alles, was ihr als jer. überliefert wurde oder was sie dafür hielt, in ihrem Jeremiabuch unterzubringen suchte." Die einzige Ausnahme betrifft nach THIEL die als jeremianisch überlieferten Völkersprüche, die keine Aufnahme fanden, weil diese Texte wohl der positiven Haltung der Redaktion gegenüber den Völkern allzusehr widersprachen (ebd. 105 Anm. 27).

330

V. Die Bearbeitungen

der jeremianischen

Völkersprüche

und das heißt: die Redaktion - zu verstehen gibt (36,2). Ob die Zusätze der zweiten Gruppe wegen ihres nicht-deuteronomistischen Charakters den dtr Redaktoren grundsätzlich abgesprochen und einer postdtr Redaktion und/oder sukzessivem Textwachstum durch die Tätigkeit auf Vollständigkeit und Traditionssicherung bedachter Schreiber zugeschrieben werden muß, ist jedoch nicht sicher; es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß die dtr Redaktion auch für Erweiterungen verantwortlich sein kann, die nicht unmittelbar mit ihrem eigentlichen theologischen Anliegen in Verbindung stehen, oder daß sie einen Teil davon in den Texten bereits vorfand. 9 Ebenso wenig ist jedoch auszuschließen, daß auch nach der dtr Redaktion bis zur Aufspaltung der Texttradition Ergänzungen und Erweiterungen vorgenommen wurden; 10 diese können jedoch aufgrund ihres disparaten Charakters nicht als eigentliche Redaktion mit spezifischen Interessen bezeichnet werden. Die genannten Argumente lassen sich allerdings auch in eine andere Richtung wenden. Wenn zwischen der ersten Redaktion und der Verzweigung der Texttradition in den alexandrinischen und den prämasoretischen Zweig weitere Zusätze den Weg in das Jeremiabuch gefunden haben können, ist es dann nicht genauso gut denkbar, daß die Erweiterungen der jeremianischen Völkersprüche, diejenigen mit dtr Charakter eingeschlossen, insgesamt postdtr anzusetzen sind? Das dtr Idiom und die dtr Anliegen konnten ja auch nach der ersten Ausgabe des Jeremiabuches vertreten worden sein, so daß eine dtr wirkende Bearbeitung der Völkersprüche an sich noch nicht als Hinweis auf deren tatsächliche Zugehörigkeit zu jenem ersten Jeremiabuch gewertet werden muß." So betrachtet, ist also aus dem Charakter der Ergänzungen allein ein Rückschluß auf ihre Herkunft nicht möglich.

9

D i e letztere Möglichkeit, daß einzelne Ergänzungen prädtr sein könnten, mag z.B. den antiedomitischen Zusatz 49,12f., der sicher nicht dtr ist, erklären. Näheres läßt sich dazu allerdings nicht feststellen, da die dtr Redaktion die erste sekundäre Schicht ist, die deutliche, greifbare und kohärente Spuren im Text des Jeremiabuches hinterlassen hat. Der Traditionsweg der Worte Jeremias bis zu jenem Einschnitt, die einzelnen Stufen, Zwischenglieder und Traditionsträger, sind kaum präziser zu erfassen. 10 So STIPP, Sondergut 165: Der gemeinsame Ahne der beiden Textüberlieferungsstränge enthält Anzeichen dafür, daß die in den beiden Textformen in typologisch ähnlicher Weise vorkommenden Formen des Ausbaus und der Glossierung bereits vor der Aufspaltung geübt wurden. Es handelt sich dabei offenbar um Praktiken, „die in dem Milieu, wo sich die Weitergabe der biblischen Bücher abspielte, lange Zeit verbreitet waren." 11 In diesem Sinne rechnet THIEL mit nachdtr Texten im dtr Stil, z.B. 3,14-18 (Deuteronomistische Redaktion I, 33; ähnlich schon RUDOLPH XX). Ähnlich geht STIPP davon aus, daß ein solcher Stil in der „deuterojeremianischen" Prosa, wie sie auch in den masoretischen Sonderlesarten (sowie Passagen außerhalb des Jeremiabuches, sog. „subjeremianischen Texten": Jon 3,510; Sach 1,4-6; Dan 9; Bar 1,1-3,8) als jungem Arm dieser Tradition bezeugt ist: „Die deuterojeremianischen Texte haben ein zeitgenössisches Epochenidiom mit Einflüssen des historischen Jeremia und dtr Phraseologie zu einem prägnanten Sprachgebrauch verschmolzen, der aufgrund seiner leichten Imitierbarkeit und der dauerhaften Aktualität seiner Hauptthemen - Sünde des Volkes und YHWHs Vergeltung - über Jahrhunderte Nachahmer fand." Es handelt sich dabei

1. Die deuteronomistische

Bearbeitung

331

Eine einigermaßen sichere Entscheidung bedarf damit externer Hinweise, die vom Korpus der Völkersprüche unabhängig sind; die Frage, ob diese sich bereits in der dtr Fassung des Jeremiabuches fanden oder ihm erst durch eine weitere redaktionelle Bearbeitung zugewachsen sind, muß deshalb anders angegangen werden. Hier stellt nun ein in mehrfacher Hinsicht zentraler Text des Jeremiabuches, die Jeremia- bzw. JHWH-Rede 25,1-14/13, eine entscheidende Hilfe dar. Zunächst ist dieses Kapitel sowohl im MT wie in der LXX eine Nahtstelle im Gesamtgefüge des Jeremiabuches. Die Rede schließt offensichtlich den ersten Hauptteil des Buches, der vornehmlich Unheilsworte gegen Juda-Jerusalem enthält, durch eine Zusammenfassung der Wirksamkeit Jeremias in den Jahren 627/6 (V. 3) bis 605/4 (V. 1) ab. Die im MT ab 25,15 und in den Kapiteln 26-45 folgenden Texte haben deutlich anderen Charakter als diejenigen dieses ersten Teiles, indem sie in erzählender Form über das Wirken des Propheten und dessen Schicksal berichten bzw. Selbstberichte Jeremias enthalten. Besondere Bedeutung kommt Kapitel 25 jedoch auch dadurch zu, daß hier die Texttradition des MT und der LXX erstmals nicht nur in Einzelheiten, sondern in größerem Umfang und in bezug auf die Gesamtkomposition des Buches auseinandergehen, indem der ganze Komplex der Völkersprüche, der in der LXX auf die den ersten Teil abschließende Rede folgt, im MT erst am Ende des Buches steht. Die Bedeutung von Jer 25 für die Entstehung des ganzen Jeremiabuches kann von daher nicht zu hoch veranschlagt werden. Für die Frage, ob die jeremianischen Völkersprüche sich bereits im dtr Jeremiabuch fanden oder erst später eingebaut wurden, ist die (dtr gestaltete) Rede 25,1-14 deshalb von unschätzbarem Wert, weil sie nicht nur vom Unheil Juda-Jerusalems, sondern ebenso von demjenigen der Völker spricht (V. 9.11.12-14). Enthielt aber das dtr Jeremiabuch bereits die Völkersprüche, so dürfte diese Nennung der Völker ursprünglich, d.h. dtr sein, und es müßte sich zeigen lassen, daß die Verbindung von Juda-Jerusalem und den Völkern in diesem Text keine nachträgliche Erweiterung darstellt. Enthielt jedoch umgekehrt das dtr Jeremiabuch das Korpus der Völkersprüche noch nicht, so sollte es sich zeigen lassen, daß der Einbezug der Völker in das Gericht eine sekundäre, d.h. postdtr Maßnahme darstellt, die mit der Einfügung des Komplexes der Völkersprüche in Verbindung steht. Schließlich drängt sich - mit dem eben genannten Punkt zusammenhängend - die Überprüfung der These anhand von Kapitel 25 auch durch die forschungsgeschichtliche Situation auf. In keinem anderen Text des Jeremiabuches ist nach der Analyse Thiels das Verhältnis von dtr und postdtr Redaktion derart virulent wie in diesem Abschnitt, 12 und gerade die Analyse von Jer 25,1-13 dient ihm dazu, die These, daß die Völkersprüche erst postdtr in das Jeremiabuch Eingang fanden, zu begründen. Außerdem setzen alle Studien, um „eine frühe Form eines typisch ,biblischen' Stils" (Sondergut 141; vgl. schon Jeremia im Parteienstreit 39-41). 12 THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 262.274f.

332

V. Die Bearbeitungen

der jeremianischen

Völkersprüche

welche die im MT und in der LXX unterschiedliche Stellung des Komplexes der Völkersprüche und die unterschiedliche interne Reihenfolge der Sprüche untersuchen, aus den genannten Gründen bei diesem Kapitel an. 13 Diese Frage ist nicht eigentlicher Gegenstand dieses Abschnitts, kommt aber, da sie sich von derjenigen nach der Gestalt des dtr Jeremiabuches nicht trennen läßt, ansatzweise hier schon zur Sprache. Der 2. Abschnitt geht auf das Thema ausführlicher ein. b) Jer 25,1-14/13

und das deuteronomistische

Jeremiabuch14

Kapitel 25 vereinigt offensichtlich zwei ursprünglich nicht organisch zusammengehörende Teile. Der erste Teil (V. 1-14/13) stellt formal eine Jeremiarede (MT) bzw. eine JHWH-Rede (LXX) dar, der zweite (V. 15-38) einen jeremianischen Selbstbericht mit Auftragserteilung und Schilderung der Ausführung des Auftrags. Die Rede und der Selbstbericht sind je in sich geschlossen; dies wird nicht zuletzt daran deutlich, daß der Selbstbericht in der LXX von der Rede 25,1 ff. getrennt als Abschluß des Komplexes der Völkersprüche steht (LXX 32) und nichts den Eindruck erweckt, daß ihm an jener Stelle ein wesentliches Element fehle oder daß es sich um ein unvollständiges Fragment handle. Weder ist die Rede die Einleitung des Selbstberichts noch ist dieser die Weiterführung der Rede. Dennoch sind die Rede, der Selbstbericht und die Völkersprüche durch das gemeinsame Thema „Gericht über (Juda-Jerusalem und) die Völker" inhaltlich miteinander verbunden. Die Einheit 25,1-14 stellt im MT eine Rede Jeremias dar, in welcher der Prophet seine erfolglose Wirksamkeit während 23 Jahren seit dem 13. Jahr Josias (627 v.Chr.) zusammenfaßt (V. 3). Er erinnert daran, wie JHWH immer wieder Propheten zu seinem Volk sandte, dieses jedoch nicht hören, nicht umkehren und nicht vom Fremdgötterkult lassen wollte und so den Zorn JHWHs auf sich zog (V. 4-7). Als Folge dieses Ungehorsams kündigt Jeremia Juda und den Völkern die Eroberung durch die Babylonier an (V. 8-10), denen sie 70 Jahre unterworfen sein sollen (V. 11), bevor auch Babel von JHWH gerichtet wird (V. 12-14). Diese Rede stellt die Motive und Themen der dtr Theologie in fast einmaliger Konzentration zusammen. Die Propheten, die JHWH seinem Volk in ununterbrochener Folge schickte, sind Umkehrprediger (V. 3.4.5), sie rufen zu Umkehr und Gehorsam, an welche der Landbesitz gebunden ist (V. 5), insbesondere zur Abwendung vom Fremdgötterkult (V. 6, mit der charakteristisch 13

Vgl. zuletzt WATTS, Text and Rédaction; FISCHER, Jer 25 und die Fremdvölkersprüche. Kommentierte Synopsen der LXX und des MT bieten etwa RIETZSCHEL, Urrolle (Anhang), LABERGE, Dieu et Juda 48-61, GOLDMAN, Prophétie et royauté 190f., und STIPP, Sondergut 112119. Weitere Untersuchungen der Unterschiede zwischen LXX und MT finden sich neben den Kommentaren z.St. bei HYATT, Deuteronomic Edition 85F.90; SCHENKER, Nebukadnezzars Metamorphose; FISCHER, Jer 25 und die Fremdvölkersprüche 481-485; WATTS, Text and Rédac14

tion 4 4 3 - 4 4 7 .

Die deuteronomistische

Bearbeitung

333

dtr Wendung • D , T ntl^Q V. 6.7), bleiben dabei jedoch erfolglos (V. 3.4), weil das Volk im Ungehorsam verharrt (V. 4.7); die durch die Babylonier herbeigeführte Katastrophe Juda-Jerusalems ist das diesem Ungehorsam entsprechende Strafgericht JHWHs (V. 8), das jedoch zeitlich begrenzt ist (V. 11) und dessen Vollzieher, die Babylonier, ihrerseits von JHWH bestraft werden (V. 12-14). Mit diesen Sätzen werden die prophetische Wirksamkeit Jeremias und die Ereignisse, die schließlich zur Katastrophe führten, aus exilischer Sicht reflektiert, zusammengefaßt und auf den Nenner gebracht. Deutlich ist das dtr Anliegen erkennbar, die Katastrophe als Folge des Ungehorsams verstehbar zu machen, dadurch aufzuarbeiten und einen Neuanfang zu ermöglichen. Es ist anzunehmen, daß die dtr Redaktion diese Jeremiarede frei gestaltet hat, um den ersten Teil des Jeremiabuches abzuschließen; durch den Bezug auf die Datierung in der Einleitung (1,2; 25,3) entsteht ein Rahmen um den Komplex, in welchem die Worte Jeremias (in dtr Bearbeitung) gesammelt sind. 15 Schon die ältere Exegese hat darauf hingewiesen, daß die Rede keine ursprüngliche Einheit darstellen kann. 16 In V. 3 spricht Jeremia; das zweifache „Ich" O^X, 131K1) bezieht sich auf den Propheten, während von JHWH in der 3. Person gesprochen wird (V. 4f.). V. 5 gibt die Mahnrede der von JHWH gesandten Propheten wieder, in welcher JHWH ebenfalls in der 3. Person genannt ist, während in V. 6, der noch Teil der prophetischen Mahnrede ist, unvermittelt JHWH selbst spricht OniX, ^'IK), was durch die JHWH-Spruchformel erst in V. 7 deutlich gekennzeichnet ist. Ab V. 8, der durch die Botenformel eingeleitet wird, ist schließlich nur noch JHWH das sprechende Subjekt; bis zum Ende der Rede ist das „Ich" nie mehr dasjenige Jeremias, mit welchem die Rede begonnen hatte. Diesem Sachverhalt entspricht die ungewöhnliche doppelte Einleitung des Abschnitts. V. 1 kündigt mit der Wort-

15 Als insgesamt sekundär bzw. dtr wird die Rede beurteilt von THIEL, Deuteronomistische Redaktion I, 262 (vgl. ebd. 269: „Es handelt sich um eine der üblichen Anklagen von D mit den Vorwürfen des Nicht-Hörens und des Götzendienstes, hier freilich von besonders summarischem Charakter, wie das Verfahren der Wiederholungen und der Rückbezüge auf die erste große Rede von D (71-83) zeigen", und 272: „die Phraseologie ... besteht nahezu lückenlos aus

D - T e r m i n i " ) ; SCHWALLY, R e d e n

1 8 4 ; D U H M 2 0 0 ; BIRKELAND, T r a d i t i o n s w e s e n 4 4 - 4 6 ; HYATT

789.998-1001; ders., Deuteronomic Edition, 85f.; MOWINCKEL, Komposition 31; RUDOLPH 1 5 9 ; RIETZSCHEL, U r r o l l e 3 5 , LABERGE, D i e u e t J u d a 6 1 . JONES 3 2 2 l e h n t e s ( m i t WEIPPERT,

Prosareden) ab, diese Form von Prosa als dtr zu bezeichnen und möchte sie stattdessen näher mit der Jeremiatradition, evtl. Baruch, in Verbindung bringen, hält jedoch den Abschnitt ebenfalls für redaktionell. HOLLADAY I, 664-667 sieht als Grundlage des Textes eine „first-scroll recension" und eine „second-scroll recension", die beide auf Jeremia zurückgehen und mit der Veröffentlichung der in 36,4.28 genannten beiden Rollen zusammenhängen. Die Aufteilung des Textes auf diese beiden Schichten vermag allerdings nicht zu überzeugen, da sie - wie dies bei HOLLADAY auch in anderen Zusammenhängen öfters festzustellen ist - zu stark von zeitlich einsprachlichen Mitteln und Ausdrücken ausgeht, die Jeremia exklusiv und deutig festlegbaren zeitlich begrenzt verwendet haben soll. 16

V g l . e t w a H I T Z I G 1 8 6 , SCHWALLY, R e d e n 1 8 3 , G R A F 3 2 0 .

334

V. Die Bearbeitungen

der jeremianischen

Völkersprüche

geschehnisformel 1 7 liTOT'^i) iTiT~l©N "Ol1"1 das folgende an als „das Wort, das an Jeremia erging" und verbindet damit einen zweifachen Synchronismus (4. Jahr Jojakims = 1. Jahr Nebukadnezars, d.h. 605/4). V. 2 knüpft mit einem zweiten Relativsatz an diese Einleitungsformel an: „welches der Prophet Jeremia sprach zu ganz Juda und allen Bewohner Jerusalems", wobei durch "ibx'p das folgende als direkte Rede des Propheten gekennzeichnet wird. Diese doppelte Einleitung verschachtelt auf umständliche und auffällige Weise das an Jeremia ergehende und das von Jeremia gesprochene Wort. Meist wurde versucht, das Problem auf literarkritischem Weg zu lösen, etwa durch die Streichung aller jener Elemente, in welchen J H W H in der 1. Person spricht, so daß eine einheitliche und durchgehende Rede Jeremias entsteht; 1 8 diese wird dann entweder als Einleitung, als Abschluß oder als mündlich gesprochenes Begleitwort der Urrolle oder als Abschluß des ersten Teiles des Jeremiabuches bezeichnet. 1 9 Wie beinahe zu erwarten ist, weicht der Text der LXX in diesem Abschnitt beträchtlich vom MT ab. Im ersten Teil der Rede (V. 3-7) fehlen in der LXX neben anderen just alle jene Elemente und Formeln, die Jeremia als Sprechenden kennzeichnen (V. 2 i^nan irr DT; V. 3 "131^1 rnrp—151 r r n e ^ r | G a ; V. 4 •p-Qir'73~nx nirr n^spi K a i a 7 t £ G T £ M . o v 7tpö