Jeremia als Lehrer der Tora: Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches 9783666538803, 3525538804, 9783525538807

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Jeremia als Lehrer der Tora: Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches
 9783666538803, 3525538804, 9783525538807

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V&R

CHRISTL MAIER

Jeremía als Lehrer der Tora Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch und Matthias Köckert 196. Heft der ganzen Reihe

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Maier, Christi: Jeremía als Lehrer der Tora: soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches/Christl Maier, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments: H. 196) Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Habil.-Schr., 2000/2001 ISBN 3-525-53880-4

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.

© 2002 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elekronischen Systemen. Satz: Selignow Veriagsservice, Beriin Druck und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2000/2001 an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck gekürzt. Seitdem erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Danken möchte ich für vielfaltige Unterstützung: Professor Dr. Peter Welten begleitete meine Forschung mit großem Interesse und weiterführender Kritik und gewährte mir als seiner Assistentin viel Freiraum. Professor Dr. Rüdiger Liwak war ein konstruktiver Gesprächspartner und Gutachter. Die Mitglieder der Sozietät von Peter Welten bedachten meine Thesen mit Diskussionsfreude und wertvollen Hinweisen. Die kollegiale Solidarität und stetige Gesprächsbereitschaft von Dr. Ulrike Bail, Dr. Emst-Michael Dörrfuß und PD Dr. Josef Tropper halfen über kritische Phasen hinweg. Zur Fertigstellung des Manuskripts trugen Gerhard Stiglmair, Sascha Gebauer und Diplom-Bibliothekar Hein Ammerlahn bei, der mich auch bei der Literaturbeschaffung unterstützte. Mein Dank gilt darüber hinaus Professor Dr. Gunther Wanke für ein weiteres Gutachten, Professor Dr. Matthias Köckert und Professor Dr. Dietrich-Alex Koch für die Aufnahme der Studie in die Reihe „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" sowie dem Förderangs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort für einen namhaften Drackkostenzuschuß. Berlin, im Dezember 2001

Christi Maier

Inhalt Vorwort

5 /.

Einleitung

1.

Der Gegenstand der Untersuchung

11

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Forschungsgeschichtliche Orientierung Zum Verhältnis von Jeremiabuch und Deuteronomium Zur These einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches Zwischen „Pandeuteronomismus" und „Nulldeuteronomismus" Der Rückschluß auf Trägerkreise Folgerungen für das weitere Vorgehen

14 14 19 34 37 40

3.

Zur Textaus wähl

41

4.

Zur Methodik der Untersuchung

42

II. Das Prophetenbild

des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

1. Die Tempelrede-Jer 7,1-8,3 1.1 Textstruktur und literarische Eigenart 1.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung 1.1.2 Synchrone Textgliederung 1.1.3 Inhaltliche und formkritische Differenzierung 1.2 Mahnung und Gerichtsdrohung gegen den Tempel - Jer 7,1-15 1.2.1 ZurSchichtung von Jer 7,1-15 1.2.2 Zur Traditionsgeschichte von Jer 7,1-15 1.2.2.1 Die Mahnung zu besserem Lebenswandel 1.2.2.2 Die Landgabe an die Väter 1.2.2.3 Die sozialen Gebote und Verbote in Jer 7,5 f 1.2.2.4 Der Schuldaufweis in Jer 7,9 1.2.2.5 Die Qualifizierung des Heiligtums 1.2.2.6 Der Schuldaufweis in Jer 7,13 1.2.3 Zur Form von Jer 7,1-15 1.2.4 Schlußfolgerungen: Jeremias Verwandlung vom Umkehrprediger zum Gesetzeslehrer 1.3 Die Kritik am Kult der Himmelskönigin und am Opferwesen - Jer 7,16-26 1.3.1 ZurSchichtung von Jer 7,16-26 1.3.2 ZurTraditionsgeschichte von Jer 7,16-26 1.3.2.1 Jeremia als Fürbitter 1.3.2.2 Die Verehrung der Himmelskönigin 1.3.2.3 Kultkritik in Jer 7,21b

48 48 49 56 60 62 63 68 69 72 74 77 82 85 86 89 91 92 95 95 100 105

8

Inhalt

1.3.2.4 Das Gebot an die Väter des Exodus 1.3.2.5 Ungehorsam gegenüber den gottgesandten Prophetinnen . 1.3.3 Schlußfolgerungen 1.4 Opfer und Tod im Ben-Hinnom-Tal-Jer 7,27-8,3 1.4.1 Zur Schichtung von Jer 7,27-8,3 1.4.2 Zur Traditionsgeschichte von Jer 7,27-8,3 1.4.2.1 Der Aufruf zur Klage über ein unverbesserliches Volk . . . . 1.4.2.2 Der Ritus im Ben-Hinnom-Tal 1.4.2.3 Die Motivik des tödlichen Endes 1.4.2.4 Die Schändung der Totengebeine in Jer 8,1-3 1.4.3 Schlußfolgerungen 1.5 Die Tempelrede im Wandel der Überlieferung 1.5.1 Die Stilisierung des Materials als Tempelrede 1.5.2 Der Inhalt der Rede in diachroner Differenzierung 1.5.3 Das sich wandelnde Prophetenbild

107 109 113 114 114 116 116 118 124 126 130 132 132 133 135

2. Die Parallelüberlieferung zur Tempelrede in Jer 26,1-24 136 2.1 Textstruktur und literarische Eigenart 137 2.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung von 26,1-6 137 2.1.2 Synchrone Textgliederung 139 2.2 ZurSchichtung von Jer 26,1-24 142 2.3 ZurTraditionsgeschichte von Jer26,l-24 146 2.3.1 Der exilische Horizont der Grundschicht von Jer 26,1-24 146 2.3.2 Das sog. dtr. Prophetenbild 148 2.3.3 Der Prozeß gegen Jeremia 157 2.3.4 Jeremias Tempelrede nach Jer 7,1-8,3 und Jer 26,1-24 161 2.4 Schlußfolgerungen: Jeremia als Nachfolger des Mose 163 3. Die Bundesrede-Jer 11,1-17 3.1 Textstruktur und literarische Eigenart 3.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung 3.1.2 Synchrone Textgliederung 3.2 ZurSchichtung von Jer 11,1-17 3.3 ZurTraditionsgeschichte von Jer 11,1-17 3.3.1 Elemente älterer Tradition 3.3.2 Die Grundschicht in Jer 11,1-17 als exilische Komposition 3.3.3 Die ,bundestheologische' Bearbeitung 3.3.3.1 Fluch, Veφflichtung und Väterschwur 3.3.3.2 Bundesbruch und neuer Bund 3.3.4 Die Texterweiterung in Jer 11,7-8* 3.4 Zur Form von Jer 11,1-17 3.5 Schlußfolgerungen: Die Verpflichtung des Volkes und Jeremia als Mittler

165 167 167 172 174 178 178 180 186 186 193 197 198 201

4. Die Sabbatrede - Jer 17,19-27 4.1 Textstruktur und literarische Eigenart 4.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung 4.1.2 Synchrone Textgliederung 4.2 Zur Schichtung von Jer 17,19-27

205 205 205 207 210

Inhalt

9

4.3 Zur Traditionsgeschichte von Jer 17,19-27 4.3.1 Die Entstehung des Wochensabbats 4.3.2 Der nachexilische Horizont der Sabbatrede 4.3.3 Zum Verhältnis von Jer 17,19-27 und Neh 2,1-10; 13,15-22 4.4 Zur Form von Jer 17,19-27 4.5 Schlußfolgerungen: Das Sabbatgebot als Zentrum der Tora

211 211 213 218 221 223

5. Die Rede im Königspalast - Jer 22,1-5 5.1 Kontext, Textstruktur und literarische Eigenart 5.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung 5.1.2 Zum Kontext von Jer 22,1-5 5.1.3 Synchrone Textgliederung 5.2 Zur Schichtung von Jer 22,1-5 5.3 ZurTraditionsgeschichte von Jer 22,1-5 5.3.1 Die sozialen Gebote und Verbote in Jer 22,3 5.3.1.1 „Recht und Gerechtigkeit üben" versus „unschuldiges Blut vergießen" nach Jer 22,3 und Jer 22,15-17 5.3.1.2 Die Rettung des Bedrängten nach Jer 22,3 und Jer 21,12 .. 5.3.1.3 Der Schutz von Fremdling, Waise und Witwe 5.3.2 Heil und Unheil in Jer 22,4-5 5.3.3 Die Situierung der Rede im Königspalast und ihre Funktion im Kontext 5.3.4 Die Verbindung von Jer 22,1-5 zur Sabbatrede Jer 17,19-27 5.4 Zur Form von Jer 22,1-5 5.5 Schlußfolgerungen: Jeremía als Toralehrer im Königspalast

225 226 226 227 228 230 231 231

6. Die Rede gegen Sklaverei - Jer 34,8-22 6.1 Textstruktur und literarische Eigenart 6.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung 6.1.2 Synchrone Textgliederung 6.1.3 Zur Septuagintafassung von Jer 34,8-22 (41,8-22) 6.2 Zur Schichtung von Jer 34,8-22 6.3 Zur Traditionsgeschichte von Jer 34,8-22 6.3.1 Die Vereinbarung der Freilassung von Sklavinnen 6.3.2 Erfüllung und Bruch des Väterbundes durch die Zeitgenossen Jeremias in Jer 34,13-17 6.3.3 Die Übertretung des Bundes und ihre Variation in Jer 34,18 6.3.4 Zur Datierung von Jer 34,8-22 6.4 Zu Form und Intention der Rede 6.5 Schlußfolgerungen: Die Sklavenfreilassung unter Zidkija als torageleitete Maßnahme III. Verwendung und Funktion des Begriffs min

im

231 236 240 242 244 245 246 248 249 250 250 254 257 260 265 265 269 273 275 278 279

Jeremiabuch

1. Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18 282 1.1 Der Umgang mit der Tora führt nicht zur Erkenntnis JHWHs - Jer 2,8 ... 282 1.1.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 283 1.1.2 Traditionen in Jer 2,4-13 286

10

Inhalt

1.1.3 Redeformen in Jer 2,4-13 1.1.4 Zur Datierung von Jer 2,4-13 1.2 Toraauslegung versus Prophetenwort - Jer 8,8 1.2.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 1.2.2 Traditionen in Jer 8,8 f. Exkurs: Zur Bedeutung von m i n 1.2.3 Zur Datierung von Jer 8,8 f. 1.3 Konkurrenz der Mittler göttlicher Offenbarung-Jer 18,18 1.3.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 1.3.2 Traditionenin Jer 18,18 1.3.3 ZurDatierung von Jer 18,18 1.4 Zur Bedeutung von m m in Jer 2,8; 8,8; 18,18

295 296 298 298 299 302 305 306 307 307 309 310

2. Der Schuldaufweis - Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23 311 2.1 Die Verwerfung der Tora J H W H s - J e r 6,18f 312 2.1.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung .312 2.1.2 Traditionen in Jer 6,18 f. 313 2.2 Eine exilische Frage und ihre Antwort-Jer 9,12; 16,11 317 2.2.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 318 2.2.2 Traditionen und Redeformen in Jer 9,11-15 und Jer 16,10-13 320 2.3 FehlendeOrientierungan JHWHs Weisungen-Jer 32,23 324 2.3.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 324 2.3.2 Traditionen in Jer 32,17-25 326 2.4 Der Schuldaufweis im Rückblick-Jer 44,10.23 329 2.4.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung 330 2.4.2 Traditionen in Jer 44,10.23 332 2.5 Zur Bedeutung von m m in Schuldaufweis und Geschichtsrückblick . . . . 335 3. 3.1 3.2 3.3

Die Weisung JHWHs auf dem Herzen des Gottesvolkes - Jer 31,31-34 .. 337 Kontext, Textstruktur und Schichtung 338 Traditionen in Jer 31,31-34 341 Die Bedeutung von m i n im neuen Bund 351 IV.

1.

Auswertung

Torabegriff und Torarezeption im Jeremiabuch

353

2. Die Bearbeitungen und ihre Verwendung von Materialien aus der Tora .. 2.1 Jeremía als Gerichtsprophet und Mahner in exilischen Grundkompositionen von Prosareden 2.2 Das Bild des Toralehrers in Erweiterungen und Neuentwürfen von Reden 2.3 Die prämasoretische Bearbeitung der hebräischen Textüberlieferung

355 356 359 366

3.

Die Trägerkreise der Torarezeption

368

4.

Das Prophetenbild des Lehrers der Tora

370

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

373

Anhang: Kommunikationsebenen der behandelten Prosareden (MT)

403

Bibelstellenregister

410

I. Einleitung

1. Der Gegenstand der Untersuchung So vielfältig wie die literarischen Formen im Jeremiabuch sind auch die Charakterisierungen Jeremias, die sich in den Texten spiegeln. Der Prophet erscheint als Verkünder von Unheil für Israel und Juda wie für die Fremdvölker, als vom König befragter Orakelkünder, als politischer Querkopf und einsamer Mahner, als Gesetzesprediger und ein im vertrauten Gespräch mit JHWH stehender Bote, als Klagender über sein eigenes Schicksal und das seines Volkes, als leidender Gerechter, Fürbitter und auch als ein Verkünder neuen Heils. Wirkungsgeschichtlich wurde das Bild des um seiner Verkündigung willen angefeindeten, leidenden Propheten wohl am stärksten rezipiert. Es steht in enger Verbindung zu einer Vorstellung, die O. H. Steck in einer frühen Studie „das gewaltsame Geschick der Propheten" nennt und deren Traditionsgeschichte er im Alten und Neuen Testament verfolgt. ' Steck findet deren älteste alttestamentliche Bezeugung im Geschichtsrückblick des an JHWH gerichteten Bußgebetes Neh 9,26: A b e r sie wurden ungehorsam und lehnten sich g e g e n dich auf, und sie kehrten deiner Tora den Rücken, und deine Propheten töteten sie, die sie ermahnten, u m sie zu dir zurückzubringen, und sie verübten große S c h m ä h u n g e n .

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Vorbereitet wird diese Vorstellung, so Steck, durch das klassische dtr. Geschichtsbild, wie es erstmals, und im DtrG. einmalig, in II Reg 17,7-20 zum Ausdruck kommt. Demnach sendet JHWH die Propheten (hinzuzufügen wäre mit Blick auf Noadja und Hulda: und Prophetinnen)^, um Israel ' Der vollständige Titel der 1967 erschienenen Monographie lautet: „Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum". 2 Um diesem wichtigen, jedoch für die Darstellung komplizierten Sachverhalt Rechnung zu tragen, wird im folgenden die Schreibweise Prophetinnen verwendet, die im Sinne einer Abkürzung zu lesen ist als „Prophetinnen und Propheten". Analog werden Bezeichnungen für das Auditorium der prophetischen Botschaft (Hörerinnen, Adressatinnen, Leserinnen) und zusammenfassende Hinweise auf moderne Autorinnen und Autoren (Exegetinnen) behandelt. Bei zusammengesetzten Substantiven unterbleibt aus Gründen der Lesbarkeit diese Abkürzung (vgl. z.B. Adressatenreaktion, Prophetenbild, Trägerkreis). Da es unwahrscheinlich ist.

12

Einleitung

und Juda zur Umkehr und zum Gehorsam gegenüber seinen Geboten und Rechtsbestimmungen, mithin der ganzen den Vätern gebotenen Tora zu mahnen (II Reg 17,13). Diese Prophetinnen finden aber kein Gehör, so daß JHWH schließlich sein Volk verwirft. Steck zufolge vervollständigen einige der von S. Mowinckel der Quelle С zugewiesenen Texte des Jeremiabuches, insbesondere Jer 7,25-32; 25,3-14; 26,2-6; 29,17-20; 35,13-17 und 44,4-11 dieses Geschichtsbild, das nun der Begründung der Zerstörung Judas und Jerusalems dient. Damit repräsentiert vorzugsweise das Jeremiabuch das dtr. Prophetenbild der „am Volk wirkende [n] Umkehr- und Gesetzesprediger"^. Während Steck zeitlich und theologiegeschichtlich einen weiten Bogen schlägt und „dtr." als eine traditionsgeschichtliche Kategorie versteht, die er selbstverständlich auch auf spätnachexilische Texte anwendet, wird diese Bezeichnung inzwischen nicht nur für eine exilische Redaktionsschicht des Jeremiabuches, sondern auch für Redaktionen in vielen weiteren alttestamentlichen Schriften gebraucht. Die vorliegende Untersuchung nimmt erneut das sog. dtr. Prophetenbild des Mahners, der das Volk im Gesetz unterweisen soll, in den Blick und versucht, das Verhältnis von Prophet und Gesetz im Jeremiabuch vor dem Hintergrund der neueren Forschungsdiskussion zu bestimmen. Daher sind zunächst jene Texte zu analysieren, in denen der Prophet in einer Verbindung mit Geboten und Rechtsbestimmungen begegnet und die längst bekannte literarische Parallelen zwischen dem Jeremiabuch und dem Deuteronomium aufweisen. Sie sollen erneut gesichtet und auf ihren Aussagegehalt sowie ihre Funktion im Kontext hin untersucht werden." Das besondere Interesse gilt ihrer Bedeutung für das Prophetenbild. Dahinter steht die Frage, ob sich aus den Texten der Jeremiaüberlieferung das Verhältnis des historischen Propheten zum Deuteronomium rekonstruieren läßt oder ob, wie T. Römer formuliert, eine nachträgliche „conversion du prophète Jérémie à la théologie deutéronomiste"^ anzunehmen ist. Der umfassende Ausdruck für Gesetz im Alten Testament ist m m „Weisung". Dieser Begriff ist reich an Konnotationen und wird für erzieherische mündliche Unterweisung® ebenso gebraucht wie für mündliche priesterliche Lehre^, das schriftlich niedergelegte Gesetzeskorpus^ und schließlich daß Frauen in den Beamten- und Verfasserkreisen in dem zur Debatte stehenden Zeitraum mitgewirkt haben, werden diese Gruppen in der maskulinen Pluralform genannt. 3 Steck, Israel, 70 (im Original kursiv). " Die Untersuchung wird, wo sich literarische Bezüge feststellen lassen, auch auf weitere Texte aus dem Pentateuch ausgedehnt. ' So im Titel des 1997 veröffentlichten Beitrags von Römer zur Diskussion um die dtr. Redaktion des Jeremiabuches, in: Curtis/Römer, The Book of Jeremiah, 27-50. ^ So in weisheitlicher Tradition, vgl. Prov 1,8; 4,1 f.; 6,20; 7,2; 13,14; 31,24. ' Dies wird aus Stellen wie Dtn 33,10; Jer 18,18; Ez 7,26; Hos 4,6; Mi 3,11; Zeph 3,4; Mal 2,8 erschlossen. Vgl. Schunck, Tora-Begriff, 244-247. Zu Etymologie und Verwendung von m m siehe unten III. 1.2.2, S. 302-304.

Der Gegenstand der Untersuchung

13

auch für ein kultisches Einzelgebot.' T. Willi hat jüngst in Anknüpfung an J. Begrich eine dynamische Interpretation von m m entfaltet: „[W]eder bei m"' hif. noch beim Substantiv πηίπ liegt die Betonung auf dem Lerninhalt oder Lemziel, sondern auf dem Vorgang der autoritativen Unterweisung, auf dem aktuellen Lehrgeschehen, auf der Lehrmethode Gegen Willi ist aber festzuhalten, daß etwa in den dtr. Rahmenkapiteln des Deuteronomiums der Ausdruck ΓΠ1Π auch einzelne Rechtsbestimmungen und Gebote bezeichnet." Aus anderen Texten wird ersichtlich, daß m m eine schriftliche Größe darstellt.'^ So attestiert auch Willi dem Israel der späten persischen und frühen hellenistischen Zeit eine „ T o r a k u l t u r " d i e sich auf Schrift und Schriftkonformität beruft. Welche Bedeutung der Begriff mm im Jeremiabuch hat, soll eine Untersuchung der elf Stellen, die über das gesamte Buch verstreut sind,''* klären. Der bekannteste Torabeleg im Jeremiabuch findet sich in der Verheißung eines neuen Bundes Jer 31,31-34, die eine zukünftige Übereinstimmung des Tuns Israels mit dem Willen JHWHs durch die Gabe der Tora auf das Herz des Volkes ankündigt. Gegenüber den erhebbaren, kontextabhängigen Bedeutungen von mm ist der Begriff im Titel dieser Studie in einem weiteren Sinne gebraucht als zusammenfassender Ausdruck für den in alttestamentlichen Geboten und Rechtsbestimmungen formulierten Gotteswillen. Obwohl die Charakterisierung Jeremias als „Lehrer der Tora" die These dieser Untersuchung scheinbar vorwegnimmt, stand die Bedeutung dieses Titels für die Verfasserin erst am Ende eines langwierigen Prozesses der Auslegung von Texten, die an Komplexität kaum zu überbieten sind und seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert werden, fest. Die Mühe der Auffindung dieser Bedeutung wird auch den geneigten Leserinnen nicht erspart bleiben. Aus der Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte, die hier nur knapp wiedergegeben ist, erwachsen Überlegungen zu Vorgehen und Vorverständnis sowie Textauswahl und Methodik der Untersuchung (I). Es folgen zwei analytische Teile: Zunächst werden die umfänglicheren Texte aus « Vgl. Liedke/Pedersen, THAT II, 1033 f. Zu den Vorkommen von m m in den Rahmenteilen des Dtn vgl. Braulik, Ausdrücke, 36-38. ' Vgl. Ex 12,49; Num 5,29f.; 6,13.21; 15,16.29; Lev 6,2.7.18; 7,1.11.37; 15,32 sowie zu den einzelnen Bedeutungen Garcia López, ThWAT VIII, 599 f. und die ausführliche semantische Studie von Östbom, Törä. Willi, Juda, 97 (Hervorhebungen im Original). " Vgl. Dtn 4,8; 4,44; 33,10. Die Tora wird im Dtn, im Unterschied zu weiteren Begriffen für „Gesetz", stets auf Mose, nicht auf JHWH bezogen. Vgl. Braulik, Ausdrücke, 36f.39, Anm. 124. Zu weiteren Details siehe unten III. 1.2.2, S. 303 f. " Willi, Leviten, 88; vgl. die Überiegungen zum Schriftbezug in Chr, a. a. O., 84-89. ••· V g l Jer 2,8; 6,19; 8,8; 9,12; 16,11; 18,18; 26,4; 31,33; 32,23; 44,10.23 nach der Zählung des M T

14

Einleitung

dem Bereich der Prosareden und ein erzählender Paralleltext (II), dann jene Texte, in denen der Begriff m m verwendet wird (III), untersucht. In einem zusammenfassenden Schlußteil (IV) wird das Erarbeitete im Hinblick auf die im folgenden dargestellten Forschungsprobleme ausgewertet. Literaturzitation und Abkürzungen sind zu Beginn des Abkürzungsbzw. Literaturverzeichnisses erläutert. Hebräische Wendungen erscheinen, wo sie sich nicht auf konkrete Stellen beziehen, meist unter Angabe der Verbwurzel, wobei die Stammesmodifikation nur genannt ist, wenn sie sich von Qal unterscheidet. Hebräische Wörter und Sätze werden nur punktiert, wo es für das Verständnis unbedingt notwendig ist.

2. Forschungsgeschichtliche Orientierung Die Forschung zum Jeremiabuch ist ausführlich und prägnant in Überblikken und Problemanzeigen vor allem von S. Herrmann', W. Thiel^ und anderen^ dargestellt, so daß sich die vorliegende Studie auf wenige Fragekomplexe beschränken kann. Aufgrund der speziellen Fragestellung der Arbeit liegt es nahe, die Verwendung des Begriffs m i n und die Bezüge zwischen Deuteronomium und Jeremiabuch zu untersuchen. Daher ist zunächst das dazu in der Forschung Erarbeitete, insbesondere die These einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches sowie die Kritik an ihr von Interesse. 2.1 Zum Verhältnis von Jeremiabuch und Deuteronomium Bereits im 19. Jahrhundert wurden parallele Begriffe, Wendungen und Motive in Deuteronomium und Jeremiabuch aufgelistet."* Zunächst diente 1 Vgl. Herrmann, Forschung (1977), 482-490; Grenzen (1994), 133-147; Jeremía (1990). 2 Vgl. Thiel, Redaktion I, 1-31; Jeremiaforschung (1986), 32-52. 3 Vgl. Perlitt, Literatur (1977), 118-120; Bogaert, Le livre (1981), 411-417; Ackroyd, Recent Studies (1984), 47-59; Perdue, Jeremiah (1984), 1-32; Brueggemann, Intense Criticism (1988), 268-280; Weippert, Hieremias Quadruplex (1991), 177-188; Carroll, Jeremiah Studies (1996), 115-159. Zum Problem der Prosa im Jeremiabuch vgl. die Forschungsüberblicke in Weippert, Prosareden, 1-21 ; Stulman, Prose Sermons, 1-32; zur Frage der Buchentstehung bes. Schmid, Buchgestalten, 23-35. " Weippert (Prosareden, 4) zufolge ist Gesenius' 1815 erschienene Arbeit „Geschichte der hebräischen Sprache und Schrift" die erste Studie, die auf sprachliche Berührungen zwischen Deuteronomium und Jeremiabuch aufmerksam macht. Zunz (Bibelkritisches, 670-673) zählt Wendungen aus zwei und mehr Substantiven bzw. aus Substantiven und Adjektiven bis hin zu ganzen Sätzen, v. a. Relativsätze auf. Driver (ICC 5, xciii-xciv), fügt der Liste von Zunz wenige weitere zu. Hölscher (Profeten, 382-384) nennt auch Sätze, die in den Prosareden kaum begegnen, differenziert jedoch nicht zwischen Poesie und Prosa. Vgl. auch die Hinweise bei Hyatt, Jeremiah and Deuteronomy, И З f.; Gazelles, Jeremiah and Deuteronomy, 89f. Zum Verlauf der Diskussion im 19. Jh. siehe Weippert, Prosareden, 4 - 6 . Weitere Listen einschlägiger Begriffe und Wendungen finden sich in: May, Biographer, 154f.; Bright, Date, 147ff.; Weinfeld, Deuteronomy, 320ff., bes. 359-361; Stulman, Prose Sermons, 33-48.

Forschungsgeschichtliche Orientierung

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der Nachweis sprachlicher Berührungen zwischen beiden Büchern vor allem der Diskussion um Sprache und Alter des Deuteronomiums. Mit dem Erscheinen des Duhmschen Jeremiakommentars wurde sie zunehmend mit der historischen Frage nach dem Verhältnis des Propheten Jeremia zum Deuteronomium bzw. zur joschijanischen Reform verbunden. Bis in neuere Zeit wird II Reg 22 f. als Beschreibung historischer Tatbestände aufgefaßt und gilt die Reform Joschijas in dessen 18. Regierungsjahr als „Ereignis, das im Bereich des deuteronomischen Phänomens trotz aller Unsicherheiten weiterhin unser sicherster Orientierungspunkt ist"^ Diese Annahme basiert auf der erstmals wohl von W. M. L. de Wette vorgetragenen Identifizierung des aufgefundenen minn "ISO (II Reg 22,8.11) bzw. ПЛЛЛ nao (II Reg 23,2.21) mit einem Grundbestand des Deuteronomiums und der Überlegung, daß dieses Buch erst in joschijanischer Zeit entstanden sei.® Da die Datierungen der Wirkungszeit Jeremias bereits vor Joschijas Reform (Jer 1,2; 25,3) in Spannung zur Nicht-Erwähnung Jeremias im DtrG. und zur Nicht-Erwähnung der Reform im Jeremiabuch stehen, spielt die Frage, ob Jeremia ein Parteigänger oder ein Gegner der Reform war, im Rahmen der Verhältnisbestimmung von Deuteronomium und Jeremiabuch stets eine nicht unerhebliche Rolle. J. Scharbert hat die sich aus dieser Konstellation ergebenden Forschungshypothesen prägnant zusammengefaßt: „1) Jeremia hat überhaupt kein Verhältnis zur Reform, weil er erst nach dem Tod Joschijas berufen wurde. 2) Jeremia hat die Reform unterstützt. 3) Jeremia hat die Reform strikt abgelehnt. 4) Jeremia hat während der Reform geschwiegen, a) weil er mit ihr einverstanden war und darum keinen Anlaß mehr sah, weiterhin unter Joschija aufzutreten, oder b) weil er ihr skeptisch gegenüberstand."^ Die im Zusammenhang dieser 5 Lohfink, Kultreform, 210. Die Literatur zu II Reg 22-23 ist fast unübersehbar. Vgl. die Forschungsüberblicke in Preuß, Deuteronomium, 6-19; ders., Geschichtswerk, 246-250. 341-395; Lohfink, Diskussion, 179-207 (mit weiterer Literatur); Gieselmann, Reform, 223-242; zur Verbindung Jeremias mit der Reform vgl. Scharbert, Reform, 40-57.422-424; Perdue, Jeremiah, 4 - 6 ; Schreiner, Probleme, 11-31; zur neueren Diskussion um die Historizität von II Reg 22-23 Niehr, Reform, 33-55; Uehlinger, Kultreform, 57-89. ^ Vgl. dazu Preuß, Deuteronomium, 6 f. ' Scharbert, Reform, 40. Eine Auswahl von Vertretern der genannten Thesen im einzelnen: Ad 1) Vgl. über die von Scharbert genannten Exegeten J. P. Hyatt (siehe im folgenden), P. E. Broughton, W. L. Holladay (vgl. das Referat in: Lundbom, Career, 57-61) hinaus K. Seybold, Prophet, 46 f. Ad 2) H.H. Rowley und H. Gazelles (siehe im folgenden); W. Johnstone, N. Lohfink, 367; A. Robert, Jérémie, 3-16; Willi-Plein, Opfer, 142 f. Ad 3) Vgl. neben R. Davidson noch C. C. Torrey, Background, 207, der annimmt, Jeremia habe die Reform angesichts des drohenden Unheils für bedeutungslos gehalten. Ad 4a) So R Puukko, A. Weiser, H.-J. Stoebe, G. von Rad. Ad 4b) So L. Monloubou und G. Fohrer. Einen Überblick über die differierenden Thesen bietet auch Lundbom, Career, 20-32. Er kommt zu dem alle verfügbaren Daten ausgleichenden, weithin spekulativen Schluß (a.a.O., 84-92), Jeremia sei 627 v.Chr. im Alter von ca. 13 Jahren berufen worden, habe aber erst auf dem Höhepunkt der Reform (um 622) seine Berufung akzeptiert. Seine Ankündigungen an die Öffentlichkeit seien zwar im

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Einleitung

Diskussion herangezogenen Texte sind Jer 3,1-5®, die Tempelrede Jer 7,1-15; Jer 11,1-14® sowie Belege, die das Stichwort min enthalten. Im folgenden sollen einige Thesen in Erinnerung gerufen werden, die nicht Texte der sog. Urrolle, sondern diejenigen Stellen diskutieren, in denen von m i n die Rede oder ein literarischer Bezug auf das Deuteronomium festzustellen ist. Von besonderem Interesse ist dabei, welche Texte für welche Argumentation herangezogen werden. Es wird deutlich, daß Entwürfe, die das Jeremiabuch noch weitgehend als einheitlich betrachten bzw. literarkritischen und redaktionsgeschichtlichen Fragestellungen keine Priorität einräumen, grundsätzlich von solchen zu unterscheiden sind, die von einer redaktionellen Bearbeitung jeremianischen Materials ausgehen. So erschienen in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts einige Aufsätze, die die erstgenannte Perspektive vertreten und offene Fragen durch psychologisch-biographische Hypothesen über den Propheten Jeremia ausfüllen. In einem 1950 veröffentlichten Aufsatz vertritt H. H. Rowley die auf Jer 1,1 basierende, traditionelle Sicht einer Wirksamkeit Jeremias 40 Jahre vor der Zerstörung Jerusalems und hält auch einen Großteil des im Stil des Selbstberichts verfaßten Materials für authentisch." Die in Jer 44,18 genannte Unterbrechung der Verehrung der Himmelskönigin, deren Wiederaufnahme er aufgrund der Paralleltexte Jer 7,16-20; 26 in die Anfangszeit Jojakims datiert, versteht er als Hinweis auf die Historizität der joschijanischen Reform.'^ Die expliziten Bezüge auf dtn. Stellen in Jer 3,1 ; 11,5; 34,14 zeigten, daß Jeremia Ziel und Inhalt des Deuteronomiums kenne, allerdings nicht den genauen Wortlaut. Jeremia habe zunächst die Reform befürwortet, dann jedoch erkannt, daß sie nicht zu der im Deuteronomium erstrebten geistigen Erneuerung führte, und sie daher kritisiert.'" H. Gazelles untersucht 1951 die Frage, wie der historische Jeremia zum Reformwerk Joschijas gestanden habe, wobei auch er von einer Berufung Jeremias im Jahre 627/6 ausgeht." Der Vergleich paralleler Wendungen führt zu ebensoGeist der Reform erfolgt, einige Jahre später aber sei er von der Unwirksamkeit der Maßnahmen Joschijas enttäuscht gewesen. * Vgl. Lundbom, Career, 23 f. (mit weiterer Literatur). ' Vgl. Robert, Jérémie, 3-16; Lundbom, Career, 25-27. Diese Schwerpunktsetzung nimmt auch Herrmann (Jeremia, 66-101) vor, allerdings mit weiterer, thematischer Untergliederung. 11 Vgl. Rowley, Prophet, 158f. 12 Vgl. a.a.O., 167. 13 Vgl. a.a.O., 171.174. 1"· Vgl. a. a. O., 174. Diese Hypothese hält auch Davidson (Orthodoxy, 411) für die wahrscheinlichste. Er schließt aus dem Vergleich von Dtn 13,1-6 und Jer 28,16; 29,32 sowie Dtn 18,15-22 und Jer 1,7.9; 28,9 auf eine gegenseitige Kritik der auf das Deuteronomium pochenden „Orthodoxie" und des historischen Jeremia. 15 Da die französiche Originalversion (Jérémie et le Deutéronome, RSR 38 [1951], 5-36) mir nicht zugänglich war, wird im folgenden nach der 1984 erschienenen, englischen Übersetzung Jeremiah and Deuteronomy referiert bzw. zitiert.

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vielen Gemeinsamkeiten wie Unterschieden zwischen Jeremiabuch und Deuteronomium, so daß Gazelles auf Gemeinsamkeiten in der Lehre, aber Unterschiede im Temperament der Autoren sowie in verschiedenen Hörerkreisen und Verkündigungssituationen schließt.'' Stellen, die eine Verwerfung des Deuteronomiums durch Jeremia nahelegen, weisen Gazelles zufolge literarisch und inhaltlich eine Nähe zu Hos auf und seien nicht auf das Deuteronomium zu beziehen. " In der Untersuchung der Stellen, die Jeremias Abhängigkeit vom Deuteronomium zeigen könnten,'® argumentiert Gazelles mit redaktionellen Stadien beider Bücher." Demzufolge begegnen die Parallelen etwa zu Jer 11,1-14 in Texten der nachjeremianischen Redaktion des Deuteronomiums. Diese unterstreiche die ursprüngliche Konformität der Ideen Jeremias mit dem Deuteronomium der Joschijazeit durch Übernahme sprachlicher Wendungen aus dem Jeremiabuch.^" Spannungen zwischen verschiedenen Stellen versucht Gazelles durch Hinweise auf die historische Situation zu glätten, so auch die Nichterwähnung Jeremias in II Reg 22 f. mit der Annahme, Jeremia sei als Priestersohn aus Anatot in Jerusalem vor der Reform nicht bekannt gewesen. Grundsätzlich habe Jeremia dem Deuteronomium positiv gegenübergestanden und die Reform Joschijas unterstützt, was seine Freundschaft zu Parteigängern der Reform zeige. Gegenüber dieser eng am historischen Propheten orientierten und noch sehr flächigen Sicht auf die Bücher Deuteronomium und Jeremia hat sich ein Forschungsansatz durchgesetzt, der beide Schriften redaktionsgeschichtlich analysiert und damit offen ist für literarische Abhängigkeiten. Im Rahmen dieses redaktionsgeschichtlichen Zugangs bildete sich die These heraus, daß die Position Jeremias zum (Ur-)Deuteronomium von den Bearbeitern des Jeremiastoffes entworfen worden sei. An den Studien J. F. Hyatts ist dieser Übergang gut ablesbar. Hyatt datiert bereits 1940 Jeremias Auftreten etwa zehn Jahre nach der joschijanischen Reform.^^ In einer 1942 erschienenen Studie zum Verhältnis von Deuteronomium und Jeremiabuch folgert er aus den kritischen Worten gegen Opfer und Tempel in Jer 2,8; 6,20; 7,21-23; 8,8f. 13; 11,15, der Prophet habe die Reform nicht gebilligt." Seine Untersuchung aller Belege des Begriffs m i n im Jeremiabuch kommt im wesentlichen zum selben Ergebnis: Jeremia lehne die Vorstel-

Vgl. Gazelles, Jeremiah and Deuteronomy, 97. " Vgl. a.a.O., 98-101. Er nennt Jer 3,6-13; 7,21 f.; 8,8; 9,12. Vgl. a.a.O., 101-106. Gazelles diskutiert Jer 3,1; 11,1-14; 34,8. '' Vgl. a. a. O., 92 f. Im Jeremiabuch weist er die von Rudolph aufgelisteten Prosareden einer post-jeremianischen Redaktion zu, läßt den weiteren Textumfang jedoch offen. In Dtn rechnet er mit einer vor-jeremianischen und einer post-jeremianischen (Dtn 1-4; 28,47 ff.) Redaktion. Vgl. a. a. O., 98. Die Argumentation hat den Gharakter eines Zirkelschlusses. Vgl. a. a. O., 1 lOf.; zu den historischen Umständen der Übersiedlung Jeremias nach Jerusalem vgl. Gazelles, La vie, 29-31. ^^ Vgl. Hyatt, Peril, 511. In seinem 1966 erschienenen Aufsatz (Beginning, 213) nennt er das Jahr 608. ^^ Vgl. Hyatt, Jeremiah and Deuteronomy, 118.

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Einleitung lung ab, die Tora JHWHs sei in einem Buch fixiert.^" Er habe sich zwar für soziale Gerechtigkeit und die Abkehr von Fremdgottheiten eingesetzt,^' nicht aber für die politisch-nationalistischen Ziele der Reform. Hyatt rechnet einerseits mit einem ,Urdeuteronomium' (Dtn 12-26), das Joschija vorlag und durch die Reform vor allem in kultischen, nicht jedoch in seinen sozialen Belangen zum Tragen gekommen sei.^' Andererseits hält er einen Bestand echter Jeremiaworte für wahrscheinlich, aus denen die Kenntnis dieses Urdeuteronomiums hervorgehe." Erst der „Deuteronomic editor" bzw. „Deuteronomist"^® habe Jeremia als Befürworter der Reform dargestellt und das Jeremiabuch entsprechend erweitert. Er sei auch für die Revision der Daten zur Wirkungszeit Jeremias und für Texte, die das Exil als Strafe für den Ungehorsam des Volkes ansehen,^' verantwortlich. In seiner ausführlicheren Studie zur „Deuteronomic Edition of Jeremiah" von 1951 entwickelt Hyatt die These, das Jeremiabuch sei Produkt einer dtr. Schule (D), die auch Träger des DtrG. sei.'" Wichtigstes Erkennungsmerkmal der Redaktion ist für Hyatt der Sprachgebrauch, die geprägte Diktion, deren häufigste Begriffe und Wendungen er auflistet.^' Die um 550 in Ägypten vorgenommene Redaktion benutze und bearbeite das gesamte vorliegende Material von und über Jeremia, sowohl unter direkter Aufnahme als auch durch Redigieren des ursprünglichen Wortlauts. Hyatt rechnet außerdem mit einer weiteren, relativ breiten nachdtr. Redaktion im Jeremiabuch, die den Einfluß späterer Prophetenbücher zeige und kurze Gedichte von Weisheitslehrem, die Fremdvölkerorakel sowie Jer 30-31 beinhalte.^^ Die ausführliche exegetische Begründung dieser These liefert Hyatt zusammen mit S. R. Hopper im Kommentar der Inteφreter's Bible von 1956, der gegenüber der Studie von 1951 keine Veränderung in der Grundkonzeption beinhaltet und in Einzelheiten nur geringfügig abweicht." Im Gefolge Hyatts geht auch S. Granild trotz traditioneller Frühdatierung des prophetischen Wirkens davon aus, daß das Jeremiabuch in dtr. Bearbeitung vorliege und daher der Rückschluß auf das Verhältnis Jeremias zum „Deuteronomismus seinerzeit"'" nur begrenzt möglich sei. Jer 2,8; 7,4; 8,8 und 26,4 ff. frei-

Vgl. Hyatt, Torah, 382-388. Er zieht dafür Jer 2,8; 8,8 f ; 18,18 heran. Zum möglichen Umfang des Torabuches vgl. a. a. O., 384. Dieses Toraverständnis Jeremias entnimmt Hyatt Jer 26,4 bzw. Jer 7. Die weiteren Stellen Jer 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23 hält er für sekundär. Vgl. Hyatt, Torah, 392. Hyatt, Jeremiah and Deuteronomy, 115. " Vgl. a. a. О., 119 f. Er nennt hier den Rekurs auf Dtn 24,1 in Jer 3,1 sowie Jer 28,9 als Adaptation von Dtn 18,22. A. a. O., 121. Er faßt die Bezeichnung sehr weit und versteht darunter „any editor of the Book of Jeremiah who shows strongly the influence of the style and thought of the Book of Deuteronomy". Hauptzeuge für diese Redaktion ist bei Hyatt der Text Jer 11,1-8. « Hyatt führt (a.a.O., 124) Jer 5,19; 9,11-13; 16,10-13; 2 2 , 8 f auf. Vgl. Hyatt, Edition, 252. Obwohl Hyatt mit zumindest zwei Redaktionsstufen (D, und D2) rechnet, spricht er im Blick auf die Schultradition nur von D. '' Vgl. a. a. O., 252 f. Die Aufzählung deckt sich im wesentlichen mit der Liste von May (Biographer, 154f ), allerdings weist Hyatt nur für ganze Sätze Stellenangaben aus. Vgl. a . a . O . , 266. Dazu rechnet er Jer 1,1-3; 3,15-18; 10,1-16; 10,25; 12,14-17; 14,7-9.19-22; 16,14f 19-21; 17,5-8.11-13; 23,1-8.34-40; 33,14-26 sowie 46-51 und 52. Diese Auslegung stellt nach W. Rudolphs Kommentar von 1947 die ausführlichste Erörterung einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches dar. 3" Granild, Jeremia, 139.

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lieh interpretiert Granild weiterhin biographisch als Auseinandersetzung Jeremias mit den führenden dtr. Kreisen u m die richtige A u s l e g u n g des Gesetzbuches.'^ Er attestiert Jeremia aufgrund seiner Herkunft aus d e m Priestergeschlecht Abjatars e i n e positive Haltung z u m Tempel und zu Jerusalemer Tradit i o n e n . ' ' D a ß das Jeremiabuch trotz der inhaltlichen D i v e r g e n z e n v o n den D e u t e r o n o m i s t e n bewahrt worden sei, ist für Granild in der historischen Verifizierung der Botschaft Jeremias b e g r ü n d e t . "

An Hyatts Studien wird deutlich, wie die Frage nach dem Verhältnis von Deuteronomium und Jeremiabuch aufgesogen wird in der Diskussion um eine dtr. Redaktion des Jeremiabuches. Die Frage bleibt zwar bestehen, wird aber immer seltener an der Biographie des Propheten verhandelt, sondern auf der Ebene der Trägerkreise, die die Jeremiaüberlieferung weiterführen. Der redaktionsgeschichtliche Ansatz Hyatts steht, obwohl er nicht explizit darauf verweist, in der Argumentationslinie der Studien B. Duhms und S. Mowinckels, die maßgeblich zur Entwicklung der These einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches im deutschen Sprachraum beitrugen. Diese Linie soll trotz der zahlreichen bereits vorliegenden Forschungsüberblikke'® im folgenden noch einmal, vor allem im Blick auf die Inhalte der Thesen, kurz skizziert werden, da sie für die Fragestellung der Arbeit eine bedeutende Rolle spielt. 2.2 Zur These einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches In der Jeremiaforschung kristallisierte sich zunächst gewissermaßen additiv eine konsistente Vorstellung heraus: Als „deuteronomistisch" galt die Bearbeitung der aus Sprüchen, Selbst- und Fremdberichten bestehenden Jeremiatradition, die im Exil um 550 ein erstes Jeremiabuch herausgibt und den Untergang Jerusalems mit dem fortgesetzten Ungehorsam gegen JHWH, vor allem der Mißachtung des ersten Gebots und weiterer dtn. Gesetze, begründet. Vergleichbar der Beurteilung des DtrG.^^ wird diese These in neueren Studien modifiziert und immer stärker differenziert."" Vgl. a.a.O., 147-150. Die dtr. Trägerkreise ortet er in den in Jer 36-38 genannten Beamten und Gegnern Jeremias. Das nachdtr. Stück Jer 31,31-34 richte sich gegen die dtr. Bemühungen um Einhaltung der Tora und spiegele wahrscheinlich Jeremias Haltung. Vgl. a.a.O., 140f. Vgl. a.a.O., 154. Vgl. etwa Weippert, Prosareden, 1-21; Thiel, Redaktion!, 1-31; Herrmann, Jeremia, 54-87; Schmid, Buchgestalten, 25-35; Römer, Y a-t-il une rédaction deutéronomiste, 419-426; ders., La conversion, 28-35. Vgl. die jüngeren Forschungsberichte von Weippert, Geschichtswerk, 213-249; Preuß, Geschichtswerk, 246-250.341-395, bes. den „Versuch eines Fazits", 385-395; Römer/De Ригу, L'historiographie, 9-120; außerdem die detaillierte Begründung für die Bestreitung der im Gefolge Smends erarbeiteten Schicht DtrP durch Beck, Elia, 3 8 ^ 9 . Vgl. das resignative Fazit im 1996 erschienenen Forschungsbericht Carrolls (Jeremiah Studies, 125): „Reading through the multiple works (...) on Jeremiah of the past dodecade, I

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Einleitung In seinem Kommentar zum Jeremiabuch von 1901, der zu Recht als epochemachender Einschnitt in der Geschichte der Erforschung des Jeremiabuches angesehen wird,"' unterscheidet B. Duhm drei Arten von Material: 1. Jeremias eigene Worte, die fast ausschließlich poetisch im Qinametrum geformt sind (280 Verse im Masoretischen Text), 2. das „Buch Baruch", die Erzählungen über Jeremias Leben (220 Verse) und 3. Ergänzungen zu den Schriften Jeremias und Baruchs, die den größten Anteil, nämlich 850 Verse, umfassen."^ Zu letzteren rechnet Duhm auch die Texte im Prosastil, die Verheißungen in Jer 30-31, die Fremdvölkerorakel sowie solche Partien, die in Form und Inhalt Gemeinsamkeiten mit dtr. Partien der vorderen Propheten a u f w e i s e n . D i e Bezeichnung „deuteronomistisch" verwendet Duhm nicht. Er wirft jedoch die bis heute diskutierte Frage nach der Verfasserschaft der Prosatexte, die Berührungen zum Deuteronomium und DtrG. haben, erstmals in aller Schärfe auf. Auch S. Mowinckel geht zunächst konsequent literarkritisch vor. Ausgehend von den Parallelüberlieferungen innerhalb des Buches sieht er in Jer 1-45"" vier schriftliche Quellen verarbeitet: Quelle A ist eine lockere Zusammenstellung jeremianischer Orakel, vor allem in poetischer Form, durch einen Sammler, der in Ägypten zwischen 580 und 480 lebte."' Quelle В enthält die Erzählung über Jeremía (Kap. 19-20.26.28.29*.36-44*) und ist das „personalgeschichtliche""' Werk eines Anhängers Jeremias in der ägyptischen Diaspora. Quelle С umfaßt meist Reden Jeremias in Prosa, die jetzt verstreut über А und В erscheinen."^ Sie seien sprachlich monoton, stilistisch „recht nüchtem" mit einem „recht kargen Wortschatz""^ und berührten sich eng mit dem „Deuteronomisten""'. Vorherrschendes Thema sei die andauernde Sündhaftigkeit Judas durch Fremdgottverehrung und deren Bestrafung, so daß Quelle С „von der vielseitigen Wirksamkeit des Propheten eigentlich nur seine Tätigkeit als Moral- und Straf-

have come to the conclusion that Jeremiah studies are even more complex and complicated than I had imagined when I was writing my own commentary in the early 1980s." "I Vgl. etwa Weippert, Prosareden, 7; Thiel, Redaktion I, 1; Miller, Verhältnis, 9 f.; Herrmann, Jeremía, 53. Zu den Kommentaren und Studien der Zeitgenossen Duhms vgl. Miller, a.a.O., lOf.; Herrmann, a.a.O., 56f. Vgl. Duhm, KHC, XX. Eine analoge Dreiteilung vertreten auch Cornili (Jeremía [1905]) und Peake (NCBC [1910], 59f.). Dagegen unterteilt Volz (ΚΑΤ X, [4928], XLIII) die Überlieferungen Baruchs in solche nach dem Diktat Jeremias sowie eigener Erzählungen des Schreibers. Duhm datiert die Tätigkeit der verschiedenen Ergänzer bis ins 1. Jh. v.Chr. Da er, wie auch die Forschung seiner Zeit, vor allem an den inspirierten Propheten selbst interessiert ist, fallt die Beurteilung der Ergänzer sehr negativ, häufig auch sehr polemisch aus. « Vgl. Duhm, KHC, XVII-XIX. " Kap. 4 6 - 5 2 beurteih er als späteren Anhang. Vgl. Mowinckel, Komposition, 14-16. « V g l . a.a.O., 17.55 f. A. a. O., 24. Er weist (ebd., Anm. 1 ) die Bezeichnung „Biographie" mit der Begründung zurück, diese literarische Form sei erst in Griechenland entwickelt worden. « Dazu zähh Mowinckel (a.a.O., 31.40.44) Jer 3,6-13; 7,1-8,3; 11,1-5.9-14; 18,1-12; 21,1-10; 22,1-5; 25,1-1 la; 27; 29,1-23; 32,1-2.6-16.24-44; 34,1-22; 35,1-19; 39,15-18; 44,1-14; 45. « A . a . O . , 33. Α. a. О., 35. Der Deuteronomist ist für Mowinckel ein exilischer Toralehrer, dessen Position sprachlich wie inhaltlich vom Kontext abhebbar sei.

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Prediger"^" herausgreife. Bemerkenswert ist, daß Mowinckel sich hinsichtlich des Ursprungs von С nicht zwischen Babylon und Palästina entscheidet, die Quelle jedoch spät datiert, da er sie für nicht älter als Esra hält." Quelle D schließlich beinhaltet eine ursprünglich anonyme Sammlung von Heilsweissagungen (Jer 30 f.) aus unterschiedlichen Zeiten." Unter dem Einfluß der skandinavischen traditionsgeschichtlichen Schule modifiziert Mowinckel 1946 seine Quellentheorie dahingehend, daß er die Prosareden nicht mehr als eine literarische Quelle, sondern als einen eigenständigen „circle of tradition"" versteht. Die Träger dieser Tradition entwickelten Mowinckel zufolge die Reden aus überlieferten Jeremiaworten, die sie allerdings nicht wortgetreu zitierten, sondern ihrem Stil und ihrer theologischen Vorstellung anpaßten. Die Einarbeitung der Reden in das schriftlich vorliegende ,Buch Baruchs' sei zum Teil unter Aufsprengung von Textzusammenhängen, aber in möglichst großer Nähe zu inhaltlich ähnlichen Stellen erfolgt.^" Seit Mowinckel also wird auf das Jeremiabuch die Kategorie „dtr." angewendet und werden die Prosareden als eine besondere stilistische Umarbeitung jeremianischer Worte angesehen. Der 1947 erstmals erschienene Kommentar von W. Rudolph knüpft an Mowinckels Studie von 1914 an und verhilft dessen ursprünglichen Intentionen zum Durchbruch. Rudolph verwendet Mowinckels Symbole A, B, C " , versteht diese aber nicht durchgängig als Primärquellen. Er schreibt A mehr Material zu als Mowinckel.^' Der Verfasser von B, Baruch, habe sein Werk in Ägypten vollendet, das dann nach 570 nach Palästina gelangt s e i . " Mowinckels Quelle С enthält Rudolph zufolge ursprüngliche Jeremiaworte und Selbstberichte in „deuteronomischer Bearbeitung", die auch „sachliche Verschiebungen [...], die bis zur Entstellung von Jeremias eigener Meinung führen können"^^ beinhalten. Diese Redaktion ist „die Arbeit der exilischen Deuteronomiker", die zeigt, „wie sie die prophetische Predigt der Erhaltung der religiösen Eigenart der Exilsgemeinde dienstbar machten. Das Volk mußte begreifen, daß das Elend des Exils selbstverschuldet w a r " " . Ein Endredaktor fügte A, В und С „noch im Exil""' zusammen, wobei Rudolph nicht ausschließt, „daß der Verfasser der C-Stücke zugleich der Hauptredaktor des Jeremiabuches war."" 5» A.a.O., 39. 51 Vgl. a.a.O., 57. " Vgl. a.a.O., 55. Mowinckel, Prophecy, 62. Er grenzt sich jedoch auch gegen Duhms redaktionsgeschichtliche Annahme der planmäßigen Bearbeitung eines vorliegenden Buches ab. 5t Vgl. a.a.O., 63f. Der Quelle С weist Rudolph (HAT, XVII) nur Jer 7,1-8,3; 11,1-14(17); 16,1-13(18); 17,19-27; 18,1-12; 21,1-10; 22,1-5; 25,1-14; 3 4 , 8 - 2 2 ; 35 zu. 5^ Dazu gehören nach Rudolph auch Jer 30f.; 4 6 , 1 - 4 9 , 3 5 , mithin nicht nur metrische Einzelsprüche, sondern auch Selbstberichte. Vgl. Rudolph, НАГ, XV: „die Prosa ist, wenn inhaltlich nichts dafür spricht, keineswegs ein Zeichen für Unechtheit [...], vollends ist die Behauptung Duhms, daß Jeremía immer nur ein ganz bestimmtes Metrum gebraucht [...], eine unmögliche Übertreibung." 5' Vgl. a.a.O., X V f . 58 A.a.O., XVII. 5« A.a.O., XVIf. ®A.a.O.,XXI. A.a.O., X X .

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Einleitung Die oben bereits genannten Thesen J. P. Hyatts fügen sich in diese ArgumentationsUnie ein. Eine detailUerte Begründung für Hyatts Sicht liefert die 1970 abgeschlossene Dissertation W. Thiels.^^ Thiel bietet einen Durchgang durch den gesamten Text von Jer 1-45 und isoliert die redaktionellen Partien mit Hilfe dreier Kriterien. Wichtigstes Kriterium ist die Sprache, die sich durch stereotype, in dtr. Partien des DtrG. begegnenden Wendungen auszeichnet.'^ Als zweites Kriterium führt Thiel den Stil an, und hier kommt vor allem die Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa zum Tragen, denn es ist „in einem prosaisch formulierten Text eher redaktionelle Arbeit [zu] erwarten [...] als in einem poetischen"^. Drittes Kriterium für Redaktion ist die Form, vor allem diejenige der Prosareden „mit ihrer breiten, phrasenreichen, stereotypen Diktion, ihrer paränetischen Absicht und ihrem rhetorischen Zuschnitt"®^ Thiel beschreibt die Reden als „Altemativ-Predigten", die jeremianische Sprüche als ihren zugrundeliegenden Text reflektierten.'® Damit ersetzt er faktisch Mowinckels Quelle bzw. Traditionszirkel С durch die Redaktion D, da die drei genannten Kriterien vor allem auf die Prosareden zutreffen. Eine untergeordnete Rolle spielen bei Thiel klassische literarkritische Kriterien wie Rahmungen, inteφretierende Einsätze, Glossen, Nähte und Verbindungsstücke.'^ Inhaltliche Kennzeichen für D sind nach Thiel die Gerichtsbegründung sowie die Konstruktion von Alternativen, die die Hörerinnen der Exilszeit in eine Entscheidung dränge. Auch die in Jer 1-25 nur am Rande aufscheinende Erwartung eines neuen Heilshandelns JHWHs nach dem Gericht, die in Jer 26-45 konkreter dargestellt wird, rechnet er noch D zu.'® Die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems werde mit dem permanenten Abfall des Volkes von JHWH erklärt, der sich in der Verehrung fremder Gottheiten, in der Mißachtung des göttlichen Willens und im Übertreten seines Gesetzes manifestiere.Außerdem hat nach Thiel die Redaktion „die Bundestheologie in die prophetische Botschaft eingetragen" und „dem Gesetz, das heißt, dem Deuteronomium, eine Bedeutung eingeräumt, die es im Denken und in der Verkündigung Jeremias bei weitem nicht besessen hatte"™. Auf dem Hintergrund des Prophetengesetzes Dtn 18,9ff. verstehe D die Propheten als „Ausleger des dtn. Gesetzes, als Bußprediger, die zur Umkehr und zur Befolgung des im Deuteronomium offenbarten Willens Jahwes rufen"^'. Thiel situiert die D-Redaktion im Land Juda.^^ Da ihr das DtrG. als fertige Grö-

Der erste, 1973 veröffentlichte Band behandelt die Kap. 1-25. Der zweite Band von 1981 analysiert Kap. 2 6 - 4 5 und bietet zusammenfassend eine Gesamtbeurteilung der dtr. Redaktion. « Vgl. Thiel, Redaktion I, 36; ders., Redaktion II, 93. " Thiel, Redaktion 1,42. Ebd. i« Vgl. a.a.O., 290-295. Er erschließt diese Form aus Jer 7,1-17; 17,19-27; 22,1-5. " V g l . a.a.O., 43. Vgl. Thiel, Redaktion II, 112. Zu D gehöre sowohl die Heilserwartung für die Exilierten (Jer 23,3f.7f.; 24,4-7; 29,5-7.10-14; 32,36-41) als auch für die im Land Gebliebenen (Jer 42,11 f ) sowie an Israel und Juda gerichtete Verheißungen (30,3; 31,27.31-34). ® Vgl. a.a.O., 108. ™ A.a.O., 106. " A.a.O., 109. Vgl. a.a.O., 113.

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ße v o r g e l e g e n habe, sei ihr Jeremiabuch u m 5 5 0 entstanden.^' A u s der Form „Altemativ-Predigt" erschließt Thiel eine „Tätigkeit d e s e x i l i s c h e n Predigers im Tor"^"*. D i e Fremdvölkersprüche und w e n i g e weitere S t ü c k e ' ' rechnet er einer postdtr. Redaktion zu, die nicht einheitlich sei.'^

Aus dieser additiven Entwicklung der These einer buchübergreifenden dtr. Redaktion wird ersichtlich, daß die Prosareden, also Mowinckels Quelle C, als Hauptquelle für dtr. Gut angesehen werden und damit der hermeneutische Schlüssel zur dtr. Redaktion sind. Trotz weitgehender Anerkennung der Thielschen Arbeit'^ blieb die Kritik an dem von ihm angewandten Aufweis dtr. Redaktionstätigkeit jedoch nicht aus. Sie soll hier zusammen mit divergierenden Interpretationsansätzen in fünf Punkten dargelegt werden. 1) Die Kritik entzündete sich zunächst an dem von Thiel sehr rigoros durchgeführten Sprachbeweis. Obwohl Thiel gegenüber Hyatt mehrere Kriterien für die Zuweisung eines Abschnitts zur Redaktion anführt, bleibt sein Hauptargument wie schon bei Mowinckel, Rudolph und Hyatt die geprägte Sprache.^® Kriterium für das Urteil „dtr. Wendung" ist bei Thiel im Regelfall der Hinweis auf deren Vorkommen in dtr. Partien von Deuteronomium oder DtrG.^' Dabei bewertet Thiel das Abhängigkeitsverhältnis dort, wo Jeremiasteilen in der Überzahl gegenüber Stellen im DtrG. sind, folgendermaßen: „Der häufigere Gebrauch geht von dem geringeren aus."®" Freilich benutzt er dieses Kriterium umgekehrt nicht für diejenigen Wendungen, die in dtr. Texten häufiger als im Jeremiabuch begegnen, sondern mahnt an, diese „Regel" dürfe „nicht verabsolutiert werden"®'. Die zahlreichen als dtr. beurteilten Wendungen im Jeremiabuch, die keine Parallelen im DtrG. aufweisen, bewertet Thiel entweder als Sprachelemente aus dem der Redaktion vorgegebenen Textmaterial oder als „sprachschöpferische Leistung der Redaktion"®^. Dieses Verfahren kritisiert N. Lohfink Vgl. a.a.O., 114. Diese Datierung vertritt auch Hyatt (Deuteronomic Edition, 91; vgl. ders./Hopper, IntB, 788); allerdings lokalisiert er die Redaktion in Ägypten. '"A.a-O., 113. " E s handelt sich um Jer 3,14-18; 10,1-16; 16,14f.l9-21; 23,34-40; 25,3a.l5f.; 31, 35-40; 32,1-5; 33; vgl. Thiel, Redaktion I, 280-282. Vgl. Thiel, Redaktion I, 92f. (zum postdtr. Abschnitt 3,14-18); Redaktion II, 37 (zu Jer 33). Ein ganz genereller Hinweis findet sich in Thiel, Jeremía, 43. " Vgl. Perlitt, Literatur, 118; Herrmann, Jeremía, 86, aber auch seine Bedenken gegen den Sprachbeweis in: ders., Grenzen, 142-145. Coggins bezeichnet 1995 die These einer dtr. Redaktion des Jeremiabuches als „now widely accepted" (What Does Deuteronomistic Mean?, 141). Zur Kritik am Sprachbeweis vgl. Brekelmans, Jeremía 18,1-12, 344; McKane, ICC, xli-1; Levin, Verheißung, 64f.; Vieweger, Beziehungen, 117. " Vgl. etwa die zusammenfassende Liste in Thiel, Redaktion II, 93 f. 8» A.a.O., 94. «I Ebd. A.a.O., 97.

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Einleitung

grundsätzlich, i n d e m er auf die g e r i n g e statistische A u s s a g e f ä h i g k e i t der V o r k o m m e n v o n E i n z e l w ö r t e m und W e n d u n g e n hinweist.®^ H.-J. Stipp sieht in T h i e l s A n a l y s e z u R e c h t das Kriterium der geprägten, stereotypen Sprache mit d e n j e n i g e n d e s Stils und der Form faktisch zusammenfallen.^'* S o läßt T h i e l s B e s t i m m u n g einer Prosarede als „Predigt" gar nichts anderes z u als j e r e m i a n i s c h e s Ü b e r l i e f e r u n g s g u t und dtr. A u s l e g u n g . A u f der S u c h e nach j e r e m i a n i s c h e n Sprüchen mit d e n Kriterien Parallelismus, Kürze und Prägnanz streicht T h i e l g e l e g e n t l i c h e i n f a c h alle störenden Halbverse. Ein breiter Strang in der englischsprachigen Forschung - Namen wie T. H. Robinson,®' J. Bright und W. L. Holladay®^ sind hier zu nennen - vertritt im Blick auf die Sprache der Prosarede ein Gegenmodell zur redaktionsgeschichtlichen Forschung. J. Bright etwa zeigt auf, daß nicht alle stereotypen Wendungen im Jeremiabuch signifikante Parallelen in der dtr. Literatur besitzen und daß umgekehrt viele Klischees aus dem DtrG. im Jeremiabuch überhaupt nicht vorkomm e n . G e m e i n s a m k e i t e n und Unterschiede lassen sich nach Bright am besten mit der Annahme erklären, es handle sich sowohl beim dtr. Stil als auch beim Prosastil des Jeremiabuches um „examples of the rhetorical prose"®', einer im späten 7. und frühen 6. Jahrhundert v. Chr. in Juda gebrauchten Sprache. Sie habe sich beeinflußt von der Sprache des Deuteronomiums entwickelt und werde in den Fremdberichten und den Prosareden verwendet.'® H. Weippert greift diesen Forschungszweig auf und versucht durch detaillierte semantische und traditionsgeschichtliche Analysen" zu erweisen, daß die Prosareden eine in der 83 Vgl. Lohfink, Bewegung, 324 f. Ähnlich Stipp, Probleme, 227. Vgl. Stipp, Probleme, 234. 85 Vgl. zur Isolation eines Spruchs in Jer 21,4.9 Thiel, Redaktion 1,233.235 und die Kritik daran durch Stipp, Probleme, 235 f. Ein weiteres Beispiel ist Jer 34,18, vgl. Thiel, Redaktion II, 41. Siehe dazu unten II.6.1.3, S.261 f. 8^ Vgl. Robinson, Baruchs Roll, 209-221. 87 Vgl. Holladay, Prototype, 351-367; ders., A Fresh Look, 213-228. 88 Vgl. Bright, Date, 25 f. sowie 203: „of a total of 56 entries, 23 [...] do not occur in Dtr at all. And of the 33 which do, 13 [...] occur not over twice in all that literature, and so are hardly typical of it. [...] We see, then, that 36 of the 56 entries occur never or rarely in Dtr. On the other hand, a glance at any tabulation of the characteristic style of Dtr will reveal a host of clichés which are common there, but rarely or never occur in the Jeremiah prose." 8' Bright, Date, 204. Brights Position hatte aufgrund seines Jeremiakommentars in der Reihe Anchor Bible (1965) einen großen Einfluß im englischen Sprachraum. 9» Vgl. das häufig zitierte Diktum Brights: „When В opens his mouth, he talks like C!" (Reminiscence, 17). Die genauere Analyse der Fremdberichte durch Williams (Investigation, 193-210) zeigt, daß В hinsichtlich dtr. Wendungen sehr inhomogen ist. Die in В überlieferten Reden enthalten 12,3 % als dtr. indexierte Worte, während ihr Anteil in С (MT) 19,4% beträgt. Wegen des zu geringen Umfangs eines möglichen Kontrollkorpus ist die Aussagekraft solcher Statistik jedoch stark eingeschränkt. Vgl. dazu Lohfink, Bewegung, 324 f.; Stipp, Probleme, 227. Holladay beurteilt diesen kontextbezogenen Ansatz Weipperts in einer ausführlichen Besprechung als „the definite work on the problem of the stereotyped prose in Jeremiah" und glaubt „that this issue is solved" (Fresh Look, 221). Dagegen hält McKane (ICC, xlv) bei aller Würdigung des Ansatzes manche sprachliche Differenzierung für zu eng gefaßt.

Forschungsgeschichtliche Orientierung

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Jeremiatradition selbst geprägte und entwickelte Diktion besitzen.'^ Sie kann einerseits zeigen, daß die Prosareden gegenüber Texten aus dem DtrG. sprachlich eigenständig sind.'' Andererseits weist sie nach, daß sich die für die Reden typische Diktion auch in anderen Partien des Jeremiabuches findet.'" Allerdings rückt Weippert die als „Kunstprosa"'^ bezeichnete Sprache im Schlußteil ihrer Arbeit überraschend eng an den Propheten Jeremia heran.'® Damit geht Weipperts Studie in methodischer Hinsicht analog derjenigen Thiels vor, insofern beide den Sprachbeweis zum Hauptkriterium für die Zuordnung zu bestimmten Verfassern machen.'^ Eine von dtr. Diktion abweichende Sprachgestalt spricht jedoch nicht zwangsläufig für jeremianische Herkunft, sondern kann ebensogut als nachjeremianisch-vordtr. oder auch nachdtr. bewertet werden. Das bedeutet jedoch, daß zur Sprache weitere Kriterien hinzukommen müssen, die eine redaktionsgeschichtliche Einordnung erlauben. Nicht Weipperts Datierung, wohl aber ihre semantische Differenzierung der Sprache ist weiterführend, da sie Spezifika dtr. Wendungen im Jeremiabuch aufweist, die traditionsgeschichtlich als Ausdifferenzierung des dtr. Idioms gedeutet werden können.'® T h i e l beabsichtigt k e i n e D i f f e r e n z i e r u n g innerhalb v o n D , w i e sie für das DtrG. i m G e f o l g e R. S m e n d s erarbeitet w u r d e . " A n g e s i c h t s der Tatsache, daß der dtr. Stil aufgrund seiner geprägten D i k t i o n leicht zu imitieren ist, kann e i n e W e i t e r v e r w e n d u n g dtr. Sprache auch in späterer Zeit als wahrs c h e i n l i c h gelten. D i e stilbildende Wirkung dtr. D i k t i o n läßt s i c h an Texten w i e S a c h 1 , 4 - 6 ; Jon 3 , 5 - 1 0 ; D a n 9 und Bar 1 , 1 - 3 , 8 nachweisen."® T h i e l selbst klassifiziert Jer 3 3 , 1 - 1 3 unter anderem mit d e m A r g u m e n t als postdtr., der Text enthalte e i n e „bunte M i s c h u n g v o n D - P h r a s e n mit jer. Vgl. Weippert, Prosareden, 107-227. " Beispielhaft wird dies an der Entwicklung der Trias 3ΊΠ, Л1Л und deutlich, vgl. H. Weippert, Prosareden, 180-191. '·* So schon Bright, vgl. oben Anm.90. Weippert, Prosareden, 228 u. ö. Sie nimmt damit Brights Begriff der „rhetorical prose" (Date, 204) auf. Vgl. Weippert, Prosareden, 229: Das vorsichtige Urteil „jeremianische Tradition" wird im Verlauf der Ausführungen zur Verfasserschaft Jeremias fokussiert. Zur analogen Kritik an Weipperts Schlußfolgerungen vgl. Neumann, Wort, 288f., Anm.4. Ihm folgt auch Brekelmans, Jer 18,1-12, 346. McKane (ICC, xlvi) beschreibt Weipperts Anliegen als „apologetic concern". ' ' Ähnlich McKane, ICC, xlii. Perlitt (Literatur, 119) sieht in Weipperts Analysen nur „einmal mehr den Schattierungsreichtum der dtr Schulsprache" dokumentiert, da er das Potential dieser Differenzierung für weiterreichende redaktionsgeschichtliche Schlüsse nicht erkennt. " Obwohl Thiel durchaus an „die Arbeit einer Gruppe" denkt (Redaktion II, 114). Selbst Herrmann ist skeptisch gegenüber der von Thiel angenommenen Einheitlichkeit der dtr. Sprache im Jeremiabuch. Vgl. Herrmann, Forschung, 488, und nach Erscheinen der Arbeit Thiels ders., Jeremia, 80. Herrmann betont weiterhin die Notwendigkeit einer über den sprachlichen Nachweis hinausgehenden ideengeschichtlichen Einordnung der Texte. Vgl. ders., Grenzen, 144 f Stipp (Parteienstreit, 39) bezeichnet diese als „subjeremianische Texte". Vgl. auch ders., Probleme, 246.

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Einleitung

E l e m e n t e n " S o l c h e stilistisch als anthologisch zu bestimmenden Texte, die dtr. Sprachgebrauch und nicht-dtr. Traditionselemente vereinen oder aus verschiedenen, in anderen Buchteilen begegnenden Sätzen und Wendungen zusammengestellt sind,'°^ sind Ausweis einer Weiterführung dtr. Tradition und können nicht unbesehen denselben Trägerkreisen zugerechnet werden. Gerade die von Thiel als „Auto-Adaptation" bezeichnete „Aufnahme von ganzen Zusammenhängen eigener Formulierungen durch D an späteren S t e l l e n " k a n n redaktionsgeschichtlich auch als Unterscheidung dtr. Hände gedeutet werden.'®^ Zudem ist die Differenzierung der dtr. Sprache durch Weippert in diese Richtung auswertbar. 2) An vielen Stellen führt der Nachweis einer parallelen Wendung im Kontrollkoφus DtrG. bei Thiel direkt zu dem Urteil, es handele sich im Jeremiabuch um ein redaktionelles Stück, ohne daß zusätzlich Kohärenzstörungen oder andere klassische Kriterien der Literarkritik aufgewiesen werden.'"' Umgekehrt werden Kohärenzstörungen innerhalb von Prosareden, die nicht aus der möglichen Aufnahme alten Überlieferungsgutes herrühren, von Thiel nicht weiter ausgewertet. Bekanntlich existieren sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, wann in einem hebräischen Text die Kohärenz gestört ist. Man vergleiche nur einmal C. Levins enggefaßte Kriteriologie für literarische Brüche mit W. L. Holladays grundlegendem Vertrauen in die Kohärenz eines T e x t e s . Z u d e m ist zu fragen, ob die Bearbeiter nicht ebenso gut Texte verändert und erweitert haben könnten, ohne Spuren zu hinterlassen. Kontrolliert werden kann eine vermutete Textbearbeitung, wenn sie sich als intentionale ausweisen läßt und nach Abzug der Bearbeitung ein sinnvoller Grundtext übrigbleibt, das heißt, wenn die Literarkritik durch form- und traditionsgeschichtliche Überlegungen gestützt und die Redaktion als eine, die gerade um Kohärenz bemüht ist, verständlich gemacht werden kann. 3) Unterschiede zwischen dem Masoretischen und dem SeptuagintaText"°^ finden bei Thiel noch kaum Beachtung.'® Das ist insofern nicht Thiel, Redaktion II, 37. Vgl. etwa zu Jer 33,19-22 und 33,23-26 Weippert, Schöpfer, 42-49. Thiel, Redaktion II, 98 f. McKane (ICC, xlvi) bezeichnet zu Recht solche nur buchintem argumentierenden Zuweisungen zu D als Zirkelschluß. Zur These einer zweifachen dtr. Redaktion siehe im folgenden Römer. So mit Stipp, Probleme, 235-238. Das gilt besonders für Jer 7,1-8,3, aus dem Thiel ein ursprüngliches Tempelwort herausarbeitet (Redaktion I, 105-115). "»Vgl. die literarkritische Diskussion zu Jer 7,1-15 unten II. 1.2.1, S. 63-68. "" Vgl. beispielsweise die Behandlung von Jer 11,1-14 in Levin, Verheißung, 73-77 mit Holladay, Hermeneia 1, 348-356. Die Angaben zum Textumfang differieren: Graf zufolge (Jeremia, XLIII) ist MT um 1/8 kürzer als eine aus der LXX rückübersetzte Fassung. Graf zählt ca. 2700 Wörter, gibt jedoch nicht an, was er unter der Einheit „Wort" versteht. Min (Minuses, 159) errechnet einen Überschuß von 3097 Wörtern im MT, wobei mit maqqef verbundene Wörter einzeln, die 702 Vorkommen der nota accusativi im MT jedoch nicht gezählt werden. Das entspricht 14,7% bzw.

Forschungsgeschichtliche Orientierung

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verwunderlich, als erst die vorläufige Edition dreier Bruchstücke des Jeremiabuches aus Qumran (4QJer'') durch J. G. Janzen"" im Jahre 1973 die Diskussion um die Unterschiede zwischen Masoretischem und Septuaginta-Text neu aufleben ließ.'" Die drei Fragmente (bzw. nach der neuen Bearbeitung durch E. Τον zwei von ihnen ' gehören zu dem von der Septuaginta repräsentierten Texttyp, bestätigen also die Aimahme, daß die Differenzen zwischen hebräischer und griechischer Textüberlieferung nicht von den Übersetzern stammen, sondern in der Vorlage der Septuaginta wurzeln. Durch zahlreiche Studien, die ganze Textabschnitte oder Kapitel in den beiden Textfassungen vergleichen,"^ hat sich in den letzten Jahren die Meinung erhärten lassen, daß die Vorlage des Septuagintatextes in der Regel den älteren Wortlaut bewahrt hat."·* E. Τον hat daraus die These entwickelt, der Masoretische Text stelle gegenüber der von der Septuaginta repräsentierten Fassung eine zweite Edition dar."' Y. Goldman sieht nach Analyse von Abschnitten aus Jer 23; 25; 27; 29 und 33 Tovs These im großen und ganzen bestätigt, unterscheidet jedoch innerhalb der masoretischen Textüberschüsse zwei redaktionelle Bearbeitungen."® Die Mehrheit dieser masoretischen Sonderlesarten schreibt Goldman einer „Rédaction de la Restauration""' zur Zeit Serubbabels zu, während weitere, weniger etwas mehr als 1/7 des Textes. Τον (Textual Criticism, 320; ders., Handbuch, 265) gibt an, daß die LXX sogar 1/6 kürzer sei. Vgl. z.B. die Kritik Stipps (Probleme, 246f.) an Thiels Analyse von Jer 29,16-20 (MT-). ""Vgl. Janzen, Studies, 181-184. Die Fragmente umfassen Jer 9,22-10,18; 43,3-9; 50,4-6. Forschungsüberblicke bieten Janzen, Studies, 2-8; Soderlund, Greek Text, 4-13; Hubmann, Bemerkungen, 263-270; Bogaert, Jérémie en perspective, 365-369. Zur neueren Diskussion vgl. Bogaert, Le livre, 363-406; Stipp, Sondergut, 7-16; Ferry, Illusions, 51-54. Tov(DJD 15, 145-207) hat in der Neubearbeitung die Bezeichnungen 4QJer'' '' = vorgeschlagen (4QJer' ist bereits für eine Handschrift des masoretischen Typs reserviert), da die Fragmente eine unterschiedliche Kolumnenbreite und Handschrift aufweisen, wobei 4QJer'' Vgl. die Liste der Belege in: Stipp, Konkordanz, 160-162.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

der Exhumierung bereits bestatteter Totengebeine, setzt der letzte Abschnitt der Tempelrede inhaltlich den Schlußpunkt hinter den Abschnitt über das Ben-Hinnom-Tal und seine Greuel."^' Das Motiv der Verehrung von Sonne, Mond und Sternen begegnet neben Jer 8,2 nur in einschlägigen dtr. Partien (Dtn 4,19; 17,3; II Reg 23,5). Darüber hinaus werden in dtr. Texten noch die Nordreichsbevölkerung (II Reg 17,6) und Manasse (II Reg 21,3.5) des Dienstes am Himmelsheer bezichtigt, wobei im ersten Fall alle möglichen kultischen Frevel summiert werden. Im Anschluß an das Bilderverbot Dtn 4,16-18 folgt in V. 19 in singularischer Anrede die Warnung, sich nicht von Sonne, Mond und Sternen, mithin dem ganzen Himmelsheer'"'^, verführen zu lassen, die Gestirne anzubeten (mn estaf."''') und ihnen zu dienen mit der Begründung, JHWH habe sie allen Völkern zugeteilt, was seine Macht über diese zum Ausdruck bringt. V. 19 wird weitgehend als sekundär zum unmittelbaren Kontext angesehen und einer späten dtr. Redaktion zugeschrieben."^ In Dtn 17,3 werden der Dienst ГПП estaf.) an Sonne, Mond und Himmelsheer als Fremdgottverehrung sowie die Verletzung des Bundes als Handlungen, die JHWH mißfallen, aufgezählt und den daran Beteiligten die Todesstrafe angedroht. Meist wird die Nennung des Gestimdienstes als sekundäre dtr. Erweiterung gedeutet."'^ Die verwendeten Verben gehören zum Repertoire dtr. Ablehnung auch anderer Fremdgottheiten. Ausdrücklich wird mittels eines Relativsatzes betont, daß JHWH solchen Dienst nicht geboten habe (•'n-'IS кЬ Gemäß dem Reformbericht II Reg 23,5 beseitigt Joschija die dem Baal, der Sonne, dem Mond, weiteren Gestirnen"'^ und dem Himmelsheer auf den Höhen räuchernden (Ίί3ρ) ^^wörfw-Priester. Aramäische Belege für diese Berufsbezeichnung und die in der Glyptik des 7. Jahrhunderts belegte Astralsymbolik fügen sich zu einem kohärenten Bild, so daß deren Abschaffung durch Joschija wahrscheinlich ist. Allerdings enthält der jetzige Wortlaut des Verses spätdtr. Zusätze."^^ Gegenüber diesen Stellen ist in Jer 8,2 die Reihe der Verben erweitert, neben ППУ und mn estaf. begegnen ЗЛК, 'ΊΠΧ "[Ьл und ίΰΊΊ. Die Sterne werden in der Septuaginta entsprechend Dtn 4,19 nachgetragen."'' So mit Willi-Plein, Opfer, 145. 462 •''ПИП X3S hü ist, da ohne Akkusativpartikel, als Apposition zur vorhergehenden Reihung zu verstehen. " " Gegenüber der älteren Deutung des Verbs als Hitpael von ΠΠϊί ist mit HALAT 284a die Ableitung von 'ΊΠ/ΠΙΠ vorzuziehen. Vgl. Nielsen, HAT 1/6, 58f.; Rose (ZBK 5/2, 497) weist Dtn 4,1-40 Schicht IV zu (= jüngere dtr. Schicht, Ausgang des Exils und frühnachexilisch). Vgl. Nielsen, HAT 1/6, 179. Rose (ZBK 5/1, 292) deutet die Wendungen als Erläuterungen der Schicht III (= ältere dtr. Schicht, exilisch). Da die Formulierung in der 1. P. sg. nicht das im Kontext erwartbare „Ich" Moses (sonst in Partizip-Formen), sondern Gottesrede repräsentiert, erweist sie sich als spätes, aus Jer 7,31 ; 19,5; 32,35 schöpfendes Element. Vgl. Rose, ZBK 5/1, 293; Nielsen, HAT 1/6, 184. m b r n ist Hapaxlegomenon. Der ursprüngliche Wortlaut von II Reg 23,10 ist mit Uehlinger, Kultreform, 78: ГТ'ЗИт

п'пшл хза Ьзт mbsnbi птЬт т^Ь onapan опаэл-пк. Vgl. die Textkritik zu Jer 8,2 oben S. 56.

Die Tempelrede - Jer 7,1-8,3

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Hat das Räuchern für Gestirngottheiten seinen historischen Haftpunkt im 7. Jahrhundert v. Chr., so erweist sich die Aufzählung dieser Gottheiten in Dtn 4,19; 17,3 als im Kontext sekundäre Erweiterung. Wahrscheinlich besteht zwischen den Deuteronomiumstellen und Jer 8,2 ein enger literarischer Zusammenhang, wobei wechselnde Verben und Adressatinnen der Verehrung auf eine wechselseitige Auffüllung der Stellen hinweisen. Aufgrund der Erweiterung der Verbenreihe und des auf den Gestimdienst bereits Toter zurückblickenden Inhalts von Jer 8,2 ist diese Stelle als eine der jüngsten zu betrachten. Zudem handelt es sich um einen Topos, der im Anschluß an den Bericht über die Kultreform Joschijas wahrscheinlich erst nachexilisch Eingang in weitere Texte fand. Einen neuen Gedanken bringt Jer 8,3 ein, insofern erneut die Lebenden in den Blick kommen, jetzt aber die in verschiedene Gegenden Exilierten. Die Verwendung des Verbs ΓΠ3 hif. als Ausdruck für Deportation und Exilierung findet sich vor allem im Jeremiabuch und in Dtn 30,1. Neben Jer 8,3 begegnet m : hif. in Unheils- (Jer 23,3; 24,9; 27,10 [MT+].15; 29,18 [MT+]; Dtn 30,1) sowie in Heilsankündigungen (Jer 16,15 par. 23,8; 23,3; 29,14 [MT+]; 32,37; 46,28) sowie Erzählungen (Jer 40,12; 43,5 [beide MT+]). Das Verb entstammt der Viehzüchtersprache und bezeichnet das Antreiben von Tieren, was den Sachhintergrund der Herdenmetapher bildet (vgl. Jer 50,17)."'® Gegen W. Thiel"" kann das im Jeremiabuch breit belegte m : hif. kaum von der einzigen Stelle Dtn 30,1 hergeleitet werden, zumal gerade Dtn 30,1-9 in Sprache und Inhalt Dtn 4, insbesondere V. 29-31 korrespondiert und somit zu den spätesten Stücken im Dtn gehört.'"^

Den im Umkreis Jerusalems begrabenen Toten der vorexilischen Generation (8,2) werden die Exilierten zur Seite gestellt, die dem Gericht zunächst entrinnen konnten (8,3). Die auffällige Formulierung D ^ n a η ΐ Ώ ΊΠ23 enthält eine Anspielung auf Dtn 30,19, derm nur diese beiden Stellen gebrauchen das Verb ΊΠ2 mit den Objekten mn und Dtn 30,15-19 bilden den Abschluß der Mahnrede, mit der Mose das Volk zur Wahl zwischen Leben, Gutem, Segen und Tod, Bösem, Fluch auffordert, mit dem Ziel, das Volk solle das Leben wählen."'" Wenn nach Jer 8,3 die Exilierten den Tod wählen, tun sie genau das Gegenteil von dem, was Mose dem unmittelbar vor dem verheißenen Land stehenden Volk empfiehlt. Dies kann in zweifacher Hinsicht gedeutet werden. Zum einen sind die Exilierten nach Meinung der Verfasser von Jer 8,1-3 nicht willens, den Segen, das Leben zu wählen, was das Halten der Gebote voraussetzt (Dtn 30,16.20). Zum anderen ist das Leben im Exil, das ™ Vgl. Kronholm, ThWAT V, 256 sowie Ez 34,4; Mi 4,6. Vgl. Thiel, Redaktion I, 132. Vgl. Nielsen, HAT 1/6, 271; Rose, ZBK 5/2, 555. «3 Vgl. noch Hi 7,15. Die w=qatalti-Form ist final zu verstehen.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

heißt, außerhalb des von JHWH zugedachten Landes, ein Leben, das unter dem Fluch bzw. Tod steht."" Die passive Formulierung in Jer 8,3 läßt beide Deutungsmöglichkeiten offen. Damit wird die restlose Vernichtung der letzten Generation vor der Zerstörung Jerusalems am Ende der Summierung aller Kultfrevel konstatiert. Bedeutsam ist, daß von Überlebenden im Land Juda ebensowenig gesprochen wird wie von Rückkehrerinnen aus dem Exil. Gerade diese Gruppen haben jedoch ein verständliches Interesse daran, nicht in den Schuldzusammenhang mit den vorexilischen Zeitgenossen Jeremias gestellt zu werden. Dagegen wird das „Volk, das nicht gehört hat auf die Stimme JHWHs" (7,27) als „Geschlecht seines Zorns" (7,29) bezeichnet und als „böse Sippe" (8,3) bestraft. Aus dieser Perspektive ist die durch die aufgenommene Tradition nahegelegte Situierung des Abschnitts 8,1-3 in nachexilische Zeit insofern wahrscheinlich, als die nachexilisch im Land befindliche Bevölkerung nicht hinzugerechnet wird.'*^^ Sie wählt in den Augen der Verfasser von Jer 8,1-3 das Leben als ein an der Tora ausgerichtetes Leben im Land. Jer 7,31-34 und 8,1-3 müssen also diachron differenziert werden. Einerseits setzt die Zeitangabe ΚΤΙΠ ηΰ2 in 8,1 diejenige in 7,32 voraus. Andererseits weitet die Vorstellung des Zerstreuens bereits bestatteter Totengebeine (8,1 f.) diejenige von nicht bestatteten Toten (7,33) aus und verstärkt so das Unheilsszenario. Stehen in Jer 19,13 Tofet und Gestimdienst miteinander in Verbindung, so treten sie in Jer 7,31 f. und 8,1 f. auseinander. So sind beide Abschnitte wahrscheinlich sukzessive entstanden, wobei eine Datierung in nachexilische Zeit nur für 8,1-3 aufgrund der darin zum Ausdruck kommenden Perspektive möglich ist. 1.4.3 Schlußfolgerungen Mit Jer 7,27-34 und 8,1-3 werden zwei weitere Gerichtsankündigungen in die Tempelrede integriert, die nur durch wenige Stichworte mit dem Vorhergehenden verbunden sind. Der Abschnit 7,27-30 nimmt noch einmal älteres, möglicherweise jeremianisches Gut (V. 28b) auf und bezeichnet zusammenfassend das gesamte Volk als ungehorsam und unbelehrbar. Die mangelnde „Wahrhaftigkeit" der Rede (7,28) korrespondiert dem in 7,4 beklagten Vertrauen auf lügnerische Worte. Die bewußt gestaltete Totenklage (7,29), zu der das in weiblicher Gestalt personifizierte Volk aufgefordert Diese Sicht wird in Jer 44,7-9.24-27 mit Blick auf die nach Ägypten Geflohenen und die Fluchtwilligen (44,12 ff.) vertreten. Aus diesen Gruppen wird Jer 44,14.28 zufolge nur ein Rest zurückkehren. Auch die späte Zufügung Jer 7,25 f. bezieht ihre wahrscheinlich nachexilischen Adressatinnen nicht in die Reihe der ungehorsamen Generationen mit ein. Siehe dazu oben II.1.3.2.5.,S.112.

Die Tempelrede - Jer 7,1-8,3

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wird, nimmt das ergehende Gericht rhetorisch vorweg und erklärt es als Verwerfung seitens JHWHs. Hauptgründe für diese Verwerfung sind das Nicht-Hören auf die Stimme JHWHs und das Aufstellen fremder Götterbilder im Tempel (7,30). Letzteres wird als Verunreinigung des Tempels bewertet. Aufgrund dieser Vorwürfe ist 7,27-30 als dtr. gestalteter Schuldaufweis, der älteres Gut aufnimmt, zu inteφretieren. Ein vergleichbares Vorgehen findet sich schon im ersten Teil der Rede Jer 7,1-15. Darüber hinaus erweisen sich Jer 7,31-34 und 8,1-3 als Passagen, die aus anderen Stellen des Jeremiabuches und teilweise aus dtr. Schriften schöpfen. Es handelt sich um Anthologien aus Schuldaufweisen und Gerichtsworten. Die Molech-Tofet-Thematik in 7,31 f. ist aus Jer 19,5-6.11-13 übernommen. Sie vermehrt in polemischer Absicht die im Tempel zu beklagenden Greuel (7,30) um die im Ben-Hinnom-Tal wahrscheinlich durchgeführten Kinderopfer. Das Ben-Hinnom-Tal wird wie in der Vorlage 19,6 in „Mordtal" umbenannt und mit Szenarien massenhaften Sterbens unterlegt. Diese Ankündigung des Todes wird in Jer 7,33 verstärkt durch die Vorstellung, die Leichen würden nicht begraben, sondern den Tieren zum Fraß dienen. Im Blick auf das in 7,21 f. angesprochene fehlende generelle Opfergebot JHWHs kann 7,30b.31 auch als Präzisierung und zugleich Verengung verstanden werden: Nach 7,30b.31 hat JHWH nur Opfer für Fremdgottheiten und Menschenopfer ausgeschlossen."*^^ An diese bereits in die fernere Zukunft verlegte Gerichtsdrohung schließt sich eine zweite an (8,1-3), die selbst die Gebeine der bestatteten Einwohnerinnen Jerusalems nicht der Totenruhe überlassen will. Die erwartete Exhumierung der Totengebeine und Verstreuung unter freiem Himmel dient als Zeichen dafür, daß die Bewohnerinnen Jerusalems ehemals Gestimdienst praktizierten. Den solchermaßen ,geschändeten' Leichen werden die Exilierten der vorexilischen Generation zur Seite gestellt (8,3) als solche, die den Tod selbst wählen oder gar nicht in der Lage sind, das Leben im Sinne von Dtn 30,19 zu ergreifen. Damit wäre die vorexilische Bevölkerung Jerusalems faktisch ausgerottet und zwar so definitiv, daß sich selbst ein Gedenken an die Toten erübrigte. Jer 7,31-34 und 8,1-3 erläutern somit die Aussagen über das ,verworfene Geschlecht' (7,29) durch Hinweise auf dessen illegitime Kultpraxis und setzen gleichzeitig die Totenklage (7,29) in Bilder um. Im Blick auf die gesamte Tempelrede verstärken beide Abschnitte sowohl den Schuldaufweis als auch die Gerichtsdrohung: Nicht nur der Tempel, sondern auch das Tofet im Ben-Hinnom-Tal sind Ausweis der Abkehr von JHWH, nicht nur Tempel und Stadt, sondern das Land (7,34) wird zur Trümmerstätte. Marx (A propos des doublets, 116) spricht von „nuancer, ou peut-être même de corriger, le caractère radical des affirmations de V. 21-22."

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

Auffälligerweise kommen in Juda Überlebende und Rückkehrerinnen aus dem Exil in 8,1-3 gar nicht in den Blick. Am Ende der Tempelrede ist die Zerstörung total und die Zeit vor Jerusalems Untergang erscheint aus göttlicher Perspektive als eine endlose Reihe von Vergehen des Volkes. Da sich die Tempelrede aber als Komposition aus unterschiedlichen Schichten, die zueinander in eine relative Chronologie gebracht werden können, erweist, richtet sie sich mit ihren letzten Zufügungen auch an Leserinnen, die die Katastrophe überlebt haben. Sie werden in 7,29-8,3 nicht erwähnt und damit aus dem Schuldzusammenhang entlassen. Dabei weist der letzte Vers der Rede via negationis auf, daß sie das Leben wählen, wie es in Dtn 30,15.19 vorgesehen ist. 1.5 Die Tempelrede im Wandel der Überlieferung 1.5.1 Die Stilisierung des Materials als Tempelrede Die auf der Ebene des vorliegenden Masoretischen Textes vorgenommene synchrone Analyse der Kommunikationssituation erweist die Tempelrede als einen an Jeremia gerichteten Monolog JHWHs, der als Prophetenrede eingeleitete Passagen mit direkter Adressierung, nur an Jeremia gerichtete Worte und Adressatenzitate enthält und daher in bis zu fünf Kommunikationsebenen zu differenzieren ist. Der Übergang zwischen den Ebenen ist in einigen Fällen nicht markiert und in V. 20/21 gestört, so daß der Text in einem linearen Leseprozeß nicht spannungsfrei rezipiert werden kann. Die Rede ist zunächst entsprechend den Einleitungen in drei Aufrufe an den Propheten (7,1-15; 7,16-26; 7,27-8,3) strukturiert. Die Textüberlieferung der Septuaginta und die traditionsgeschichtliche Analyse des Fürbittverbots (7,16) zeigen aber, daß diese Redestruktur eine späte Komposition darstellt. Die Anrede des Propheten in 7,28 (©: 27) gehört zwar zur dtr. Komposition. Die ausführliche Prophetenbeauftragung mit der erwarteten Adressatenreaktion in 7,27 stellt aber eine sehr späte, in der Septuaginta noch nicht bezeugte Einleitung dar. Das Fürbittverbot ist erst in spätexilischer oder nachexilischer Zeit eingefügt worden. Auch die ausführliche Einleitung in Jer 7,1-2* wie auch die Situierung der Rede im Tempelareal fehlt in der griechischen Überlieferung, so daß die Charakterisierung der Jeremia aufgetragenen Rede als Tempelrede ein Produkt der letzten Textbearbeitung darstellt. Damit fällt auch die aus Jer 26,1 übernommene Datierung der Tempelrede an den Beginn der Regierung Jojakims. Die .Tempelrede' erweist sich als literarische F i k t i o n , d i e freilich im Blick auf das Buchganze entscheidende Topoi der dtr. Jeremiaüberlieferung zum Thema Vgl. Seitz (Mose, 235) der aus dem nicht ausgeführten Redeauftrag an Jeremia (V. 2) denselben Schluß zieht: „Die berühmte Predigt wurde nie gehalten. Sie ist ein an den Leser gerichtetes literarisches Kunstprodukt". Seitz ist allerdings an einer literarkritischen Differenzierung der Tempelrede nicht interessiert.

Die Tempelrede - Jer 7,1-8,3

133

Kult und Fremdkult bündelt und den Tempel zum Kristallisationspunkt einer Auseinandersetzung um die rechte Verehrung JHWHs werden läßt. Dieses Ergebnis widerspricht eindrücklich der Auswertung der Tempelrede für die Haltung des historischen Jeremia, die in der Forschung häufig vorgenommenen wird. Auch ohne die Strukturierung als JHWH-Rede an Jeremia aber bietet Jer 7,1-8,3 eine klimaktische Anordnung von Redeformen, die in nuce schon in 7,1-15 enthalten ist: von der Mahnung (V. 4.5a) zur bedingten Verheißung (V. 3.5b-7), zur Anklage (V. 13) und Ankündigung (V. 14f.). Sind Jer 7,1-15; 7,21-26 direkt zu den intendierten Adressatinnen Jeremias gesprochen, so formulieren 7,18-20; 7,27-30; 7,31-34 und 8,1-3 Gerichtsworte über diese. Am Ende steht eine nicht mehr begründete Drohung, die selbst die Toten der vorexilischen Generation in das Gericht einbezieht. 1.5.2 Der Inhalt der Rede in diachroner Differenzierung Wie die Analyse gezeigt hat, läßt sich aus der Tempelrede Jer 7,1-8,3 kein ,Tempelwort' des historischen Jeremia gesichert herausdestillieren, da die sprachliche Bearbeitung des wahrscheinlich vorhandenen älteren Gutes nicht eindeutig von diesem getrennt werden kann. Traditionsgeschichtlich lassen sich die Gegenüberstellung von Tempelkult und den in den ersten vier Infinitiven in Jer 7,9 genannten Vergehen sowie der Vergleich mit Schilo (V. 14*) als dem Propheten Jeremia nahestehendes Gedankengut inteφretieren. Der Vorwurf gilt in Jer 7,4 zunächst einem falschen Sicherheitsdenken, das die Präsenz JHWHs im Tempel betont und nicht an eine mögliche Bedrohung denkt. In Stil und inhaltlicher Anlehnung an die vorexilische, prophetische Kultkritik wird asoziales Verhalten (stehlen, morden, ehebrechen) gebrandmarkt und die Möglichkeit einer kultischen Sühne abgelehnt. Die Forderung, Schlacht- und Brandopfer unterschiedslos zu behandeln (7,21b), stellt in Anlehnung an Am 4,4f.; 5,21-24 eine polemisch formulierte Aussage gegen den Kult dar. Als weiteres, altes Überlieferungselement erscheint die Aussage über den Verlust von „Wahrhaftigkeit" (7,28b). Können diese Vorstellungen, einmal abgesehen von ihrer literarischen Ausgestaltung, zwar noch dem Propheten Jeremia zugeschrieben werden, so implizieren sie keine grundsätzliche Kritik des Propheten am Tempel. Die These, Jeremia habe sich gegen den Tempel oder gegen die Kultreform Joschijas gewandt, läßt sich aus Jer 7 jedenfalls nicht begründen. Obwohl das entfaltete Szenario eine vorexilische Rede suggeriert, zeigen der Sprachgebrauch sowie die traditionsgeschichtliche Analyse zentraler Wendungen und Motive, daß die Zerstörung des Tempels und Exilierung der Bevölkerung bereits vorausgesetzt sind. Die Tempelrede erweist sich schon in ihrer Grundschicht (7,2*[nur лтл-'-Ьэ n w - n a n ΐΰΏώ].3-4.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

9-1 Oa. 11.12[ohne ΊώΝ]. 13 [ohne nnm ОЭШЛ ]. 14a[nur ΊώΚ ГТ-зЬ TT'toT vbv Όώ-κηρο], 14b. 15.18-24.27-30) als exilische Komposition. Sie formuliert in Schuldaufweisen den Vorwurf der Fremdgottverehrung (7,9.18b). Als wichtigstes Gebot gilt die grundsätzliche Forderung, auf JHWHs Stimme zu hören und auf den von ihm gebotenen Wegen zu wandeln (7,23). An der Nicht-Beachtung der Gehorsamsforderung wird zugleich das Scheitern der vorexilischen Generation dargestellt (7,14.24). Der Rückgriff auf die Vätergeneration des Exodus (7,22) soll die Ursprünglichkeit der Gehorsamsforderung gegenüber jeder kultischen, mit dem Tempel in Verbindung stehenden Regelung betonen. Aufgrund der Nähe dieser Argumentation und ihres negativen Geschichtsbildes zur klassisch den Deuteronomisten zugeschriebenen Thematik erweist sich die Grundschicht von Jer 7,1-8,3 als dtr. Komposition. Ihre Autorinnen versuchen in exilischer Zeit, die Zerstörung von Tempel und Stadt als Gericht Gottes zu begreifen und als unausweichlich darzustellen. Dabei rekurrieren sie nicht nur auf übliche Vorgänge im JHWH-Kult, sondern auch auf das Aufstellen fremder Kultbilder im Jerusalemer Tempel (7,30). Auch das von ihnen im familiären Bereich angesiedelte kultische Backen für eine „Himmelskönigin" genannte Gottheit fällt unter das Verdikt der Fremdgottverehrang. In ihrer Gerichtsansage sind die dtr. Autorinnen sehr konkret. Sie kündigen die Zerstörung des Tempels und die Exilierung der Bevölkerung an (7,14f.) und beurteilen diese als Verwerfung seitens JHWHs (7,29). In der Metapher des über Menschen, Tiere und Äcker ausgegossenen Zornes JHWHs wenden sie sich auch theologisch wertenden Unheilsszenarien zu (7,20). Im Kontrast zur bisherigen Forschung, die weitere Partien der Rede ebenfalls der dtr. Komposition subsumierte (W. Thiel, T. Seidl), lassen sich 7,25 f. und 7,31-34 als spätere Bearbeitungen ausweisen. Im Anschluß an den Väterbezug und den Vorwurf des Ungehorsams der Väter thematisiert 7,25 f. die Sendung der Propheten als Knechte JHWHs und deren fortgesetzte Ablehnung. Die Prophetensendung wird nur an dieser Stelle im Jeremiabuch mit den Vätern der Exodusgeneration verknüpft und erscheint ohne explizite Umkehrforderung. Zugleich wird mittels der Wendung "inb ЛТЛ Dvn ηΰ ... DVn der Bezug zwischen den Vätern und der Generation vor dem Exil hergestellt. Jer 7,31-34 stellt eine Anthologie aus im Jeremiabuch zu findenden Schuldaufweisen und Gerichtsworten dar. Sie übernimmt die Molech-Tofet-Thematik aus Jer 19,5-6.11-13 und weitet den Vorwurf illegitimer Opfer auch auf Vorgänge im Ben-Hinnom-Tal aus. Das Ben-Hinnom-Tal wird wie in der Vorlage 19,6 in „Mordtal" umbenannt und mit Szenarien massenhaften Sterbens anläßlich der Zerstörung Jerusalems verbunden. Die Ankündigung des Todes wird verstärkt durch die Vorstellung, die Leichen würden nicht begraben, eine vermutlich konkrete Erfahrung anläßlich des Untergangs der Stadt. Die Ankündigung des Endes allen Jubels stammt aus

Die Tempelrede-Jer 7,1-8,3

135

Jer 16,9 und wird mit einer gegenüber 7,14 ausgeweiteten Ankündigung der Zerstörung abgeschlossen. Als Zusätze aus nachexilischer Zeit sind Jer 7,5-8*; 7,16f. und 8,1-3 zu verstehen. Die Bearbeitung von 7,1-15 in V. 5-8*.10b.l2a*.13b*.14a* weitet die Mahnung der Grundschicht (V. 3-4) durch konkrete Gebote und Verbote zu einer bedingten Heils Verheißung aus. Die Gebote sind in Anlehnung an die dtn. Sozialgesetzgebung formuliert, das Verbot der Fremdgottverehrung (Jer 7,6b) enthält einen literarisch nachweisbaren Bezug auf Dtn 6,14. Die Adressatinnen dieser bedingten Verheißung sind wieder zu Landbesitz gekommen und sehen sich hierin in Kontinuität mit den Vätern. Während Jer 26,4 die fehlende Ausrichtung auf die Tora beklagt, wird in Jer 7,5-8 erläutert, was konkret der Wandel in der Tora umfaßt. Das Fürbittverbot in Jer 7,16 setzt eine fortgeschrittene Stilisierung Jeremias zum Eingeweihten in Gottes Pläne voraus und attestiert ihm einen Mose oder Samuel vergleichbaren Einfluß auf JHWH. Es legitimiert den Propheten und nimmt ihn gegen den Vorwurf in Schutz, er habe JHWH in seinem Entschluß, Jerusalem zu vernichten, nicht umgestimmt. Jer 8,1-3 schließlich bezieht selbst die bereits bestatteten Toten in das Gericht ein und weist sie als Verehrerinnen von Gestirngottheiten aus. Den ,geschändeten' Totengebeinen werden die Exilierten der vorexilischen Generation zur Seite gestellt (8,3) als solche, die letztlich in den Tod gehen werden. Wie schon in 7,26 werden die während des Exils im Land Zurückgebliebenen oder die nachexilisch im Land Lebenden nicht in diesen Schuldzusammenhang einbezogen. Ihnen gilt nach 7,5-8 denn auch die Verheißung des Wohnenbleibens im Land bei Beachtung der wichtigsten sozialen Normen und des nunmehr ausformulierten Verbots der Fremdgottverehrung. 1.5.3 Das sich wandelnde Prophetenbild Die dtr. Autoren der Grundschicht versuchen in exilischer Zeit, die Zerstörung von Tempel und Stadt als Gericht Gottes zu begreifen und als unausweichlich darzustellen. Ihr Prophetenbild enthält neben der deutlichen Zeichnung eines Gerichtspropheten auch die Züge eines Umkehrpredigers. Die Umkehrforderung ergeht im Jeremiabuch explizit im Rahmen der Vorstellung, daß JHWH seine Knechte, die Propheten sendet (Jer 25,5; 35,15 vgl. 44,5; II Reg 17,13). Die gottgesandten Propheten treten jedoch in diesen Texten des Jeremiabuches, anders als in II Reg 17,13, nicht explizit als Toraprediger oder -lehrer auf. In Jer 7,25 fehlt sogar die Umkehrforderung und wird Jeremia eher implizit in eine Prophetenreihe eingeordnet. Im Anschluß daran wird jedoch sein Reden und Nicht-Gehörtwerden in einer nur im Masoretischen Text belegten Erweiterung (7,27) konstatiert. Die Porträtierung Jeremias als Mahner, der die Einhaltung der Tora fordert, geschieht dagegen in 7,5-8 durch Rekurs auf sozial ausgerichtete Verbote des Deuteronomiums und durch das Zitat des Fremdgötterverbotes aus Dtn 6,4.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

Als ein Aspekt der Knechtsvorstellung kann die Position Jeremias als Fürbitter verstanden werden, die im expliziten Verbot der Fürbitte vorausgesetzt ist. Grundsätzlich widerspricht das Bild des Fürbitters demjenigen des Gerichtspropheten, zumal gerade bei Jeremia die feindliche Haltung der Adressatinnen seiner Botschaft und seiner Person gegenüber herausgestrichen wird. Da jedoch das Jeremiabild sukzessive mit Rollen des Mose angereichert wird, und Jeremia als Vertrauter JHWHs erscheint, liegt die Vorstellung nahe, er könne auch wie Mose das Volk vor dem Zorn JHWHs schützen. Das explizite Fürbittverbot legitimiert einerseits die Position des Propheten als eines Vertrauten JHWHs und macht ihn Mose und Samuel vergleichbar (vgl. Jer 15,1). Andererseits nimmt es Jeremia gegen die Frage in Schutz, er habe das Gericht JHWHs nicht aufgehalten. Im Zusammenhang mit der Stilisierung von Jer 7 als an Jeremia gerichtete Rede erscheint das Fürbittverbot als ein spätexilisches oder nachexilisches Inteφretament.

2. Die Parallelüberlieferung zur Tempelrede in Jer 26,1-24 Die Erzählung über die Reaktionen auf die Tempelrede Jeremias in Kapitel 26 steht schon aufgrund des Themas in einer engen Beziehung zu Jer 7,1-8,3. Sie ist daher bevorzugter Gegenstand einer Analyse des Jeremiabildes wie auch der Suche nach historischen Erinnerungen an das Ergehen des Propheten. ' Die Auslegenden sind schon in der Frage uneins, ob Jer 26 eine Einzelerzählung^ oder Teil der Quelle В sei^ oder mit Jer 36 zusammengehöre". Nur einzelne Forscherinnen halten an der literarischen Einheitlichkeit von Jer 26 fest' oder teilen den Text auf zwei Quellen auf.^ Die neuere Forschung dagegen versteht das Kapitel meist als dtr. überarbeiteten Fremdbericht,^ wobei der dtr. Anteil in neuesten Studien größer aus' Zu Auslegungen bis 1968 vgl. Wanke, Baruchschrift, 82-87, weiter Hossfeld/Meyer, Tribunal, 30 f.; Graupner, Auftrag, 41. 2 Vgl. Rietzschel, Urrolle, 110. 3 Vgl. Rudolph, HAT, 169. Die These einer einheitlichen Verfasserschaft der Fremdberichte bzw. deren Zugehörigkeit zur Biographie des Baruch wurde zuerst von Kremers (Prophet), dann von Wanke (Baruchschrift, bes. 144-147) erschüttert und gilt heute als obsolet (Thiel, Jeremiaforschung, 42). " Vgl. Nicholson, Preaching, 55; Wanke, Baruchschrift, 87-91. ' Vgl. den Überblick bei Wanke, Baruchschrift, 82-87, sowie Lohfink, Kurzgeschichte, 80. Freilich nimmt Lohfink V. 2b-3.4b-5 aus. Vgl. Horst, Anfänge, 144-153, sowie die detaillierte Kritik durch Wanke, Baruchschrift, 82, Anm. 15 und 84-86; außerdem O'Connor, Do not Trim a Word, 622-625. ' Vgl. Hyatt, Edition, 259; Thiel, Redaktion II, 3f.; Hossfeld/Meyer, Tribunal, 4 0 - 4 2 ; Schreiner, Jeremia II, NEB, 153f.; Graupner, Auftrag, 40-52; Hardmeier, Micha und Jesaja, 174-176.

D i e Parallelüberlieferung zur Tempelrede in Jer 2 6 , 1 - 2 4

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fállt.® Auch die These E. W. Nicholsons, Jer 26 sei eine vollständig dtr. Komposition,' wird in neuester Zeit durch die Herausarbeitung postdtr. Erweiterungen modifiziert. Im Blick auf den Vergleich zwischen der Tempelrede in Jer 7,1-15 und dem expliziten Bezug auf diese in Jer 26,4-6 gehen die Meinungen ebenfalls auseinander. Während B. Duhm Jer 7,3-15 für eine midraschartige Ausschmückung von 26,4-6 hielt" und auch S. Mowinckel vermutete, Kap. 26 stünde aufgrund der Zuordnung zur Quelle В den tatsächlichen Ereignissen näher,'^halten J. Bright^^ W. Holladay''', und H. Weippert'^ umgekehrt Jer 26,4-6 für eine Abbreviatur der Tempelrede aus 7,1-15. Im Unterschied dazu deutet E. Holt Jer 7 und 26 als zwei voneinander unabhängige Fassungen der Tempelrede. 2.1

Textstruktur

und literarische

Eigenart

Da Jer 26,4-6 den Inhalt der Tempelrede rekapituliert und dieser Teil des Kapitels eng an die Form der Prosareden anschließt, wird im folgenden nur die Übersetzung von 26,1-6 aufgewiesen. 2.1.1 Nach Kommunikationsebenen gegliederte Übersetzung von 26,1-6 1 2

K1K2K3K4K5 A m A n f a n g der Regierung" Jojakims, d e s S o h n e s Joschijas, [des K ö n i g s von Juda,]* erging d i e s e s Wort'' v o n J H W H [folgendermaßen]'': S o hat J H W H gesprochen: Stelle dich in den H o f d e s H a u s e s J H W H s und rede zu allen Städten Judas/ Judäem", die k o m m e n , u m anzubeten i m H a u s J H W H s , all die Worte, die ich dir g e b o t e n habe, zu ihnen zu reden. L a ß kein Wort w e g .

8 Vgl. etwa Thiel, Redaktion II, 3f. (dtr. Anteil V. 3.4b.5.6b.l3); Meyer, Jeremia, 30-33 (V. 1.2ау.Ь.3.4Ь-5.7*.8а.13.17-24); Hardmeier, Micha und Jesaja, 175 (V. 1.3.4b.5.6b.l0-16). ' Vgl. Nicholson, Preaching, 52-56. Ihm folgt Höh, Temple Sermon, 84. Vgl. Stipp, Parteienstreit, 17-33. Dennoch nimmt Stipp einen Rückgriff auf vorliegende, freilich literarkritisch nicht mehr herauszulösende, Überlieferungen an, da der Freispruch des Propheten sich dem Aussageziel, die Schuld der vorexilischen Generation aufzuzeigen, nur „recht künstlich" beuge (Stipp, Probleme, 253). Vgl. die Diskussion um ,fact or fiction' bei Carroll, OTL, 514-518. " Vgl. Duhm, KHC, 75. Vgl. Mowinckel, Komposition, 6 f. " Vgl. Bright, AncB, LXVIII.58.171. " Vgl. Holladay, A Fresh Look, 222. Vgl. Weippert, Prosareden, 30-34. Vgl. Holt, Temple Sermon, 77.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch K1K2K3K4K5 Vielleicht hören sie und kehren um, ein jeder von seinem bösen Weg, dann werde ich mich des Unheils" gereuen lassen, das ich ihnen anzutun gedachte wegen der Bosheit ihrer Taten. Und sage [zu ihnen]": So hat JHWH gesprochen: Wenn ihr nicht auf mich hört, indem ihr wandelt in meiner Tora/in meinen Ordnungen*, die ich euch vorgelegt habe, indem ihr hört auf die Worte meiner Knechte, der Propheten, die ich unenwegt" zu euch sende - ihr aber hörtet nicht '' - , dann verfahre ich mit diesem Haus wie mit Schilo, und diese/die" Stadt mache ich zum Fluchwort für alle Völker der '' Erde.

Anmerkungen zur Übersetzung: 26,1" ® bietet mit βασιλέως Ιωακιμ eine Lesart, die rückübersetzt grammatisch nicht möglich ist und also wahrscheinlich auf einem Lesefehler beruht. 26, Ρ Ein Äquivalent fehlt in ß , da sie bereits т э Ь а п mit βασιλεύς wiedergegeben hat (siehe 1"). MT ist daher beizubehalten. 26, Ρ In Jer 26,1 fehlt anders als in 27,1 und 42 weiteren vergleichbaren Jeremiastellen die Adressatenangabe (1)ЛПТ'"'7К. Sie wird von Syriaca und Vetus Latina in 26,1 nachgetragen und von vielen Auslegern ergänzt. Allerdings ist die Lesart ohne Adressatenangabe besser bezeugt und lectio difficilior. Vgl. Barthélémy, Critique textuelle 2, 662 f.; Stipp, Parteienstreit, 26. 26,1 '' © bietet kein Äquivalent für ППкЬ (so auch 26,11.17), übersetzt die Redeeinleitung jedoch in 26,8.9.12.18. Das spricht für einen Nachtrag in MT. 26,2" ® (33,2) bietet mit άπασι τοις Ίουδαίοις die ursprüngliche Fassung. ΓΠΙΓΤ' •'ПуЬэ'? in MT ist eine nachträgliche Angleichung an Jer 36,6. Vgl. die Diskussion bei Stipp, Parteienstreit, 26. 26,3" Viele hebräische Handschriften bieten hü anstelle von Ьк, ohne daß ein Bedeutungsunterschied vorliegt, vgl. ОПЗ + hü in Jer 18,8.10, ОПЗ + Ьк in Jer 26,3.13. 19; 42,10. Der wechselseitige Gebrauch beider Präpositionen ist in Jer 26 besonders aufFällig, vgl. V. 2 (гтЛ'' •'ПуЬэ-Ьг m a m , aber аЛ'Ьх ПЗпЬ) und McKane, ICC, 661 f. 26,4" Der den Adressatenbezug verstärkende masoretische Textüberschuß ist sekundär. 26,4* © liest έν τοις νομιμοις μου. An vielen Stellen ist τά νόμιμα Übersetzung von pn (Ex 12,14; 29,28 u.ö.), лрп (Ex 12,14.17; Lev 3,17; Num 19,10 u.ö.) oder mpn (Lev 18,30; Jer 10,3; Ez 5,6.7 u.ö.), in Prov 3,1; Hos 8,12 auch Äquivalent von Л-ПП, in Gen 26,5; Ez 44,24 von л т п . Aufgrund dieses Befundes muß keine andere Vorlage postuliert werden, sondern ist die ©-Variante als interpretierende Übersetzung zu deuten. 26,5" Die sog. Unermüdlichkeitsformel "[Ьют ОЭШЛ (vgl. zur Konstruktion Weippert, Prosareden, 123-127) ist im MT durch Kopula angefügt, die in vielen hebräischen Handschriften und dem Targum fehlt und in den alten Übersetzungen kein Äquivalent hat. Die Konstruktion ohne Kopula ist als ursprünglicher anzusehen und begegnet häufig in Prosapartien (vgl. Jer 7,25; 25,4; 29,19; 35,15 u.ö.).

Die Parallelüberlieferang zur Tempelrede in Jer 26,1-24

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26,S*" 6 gleicht wohl an den Wortlaut des Konditionalsatzes (V. 4ba) an. 26,6" Mit Qere ist ПКТП zu lesen. Die orthographische Abweichung und das Fehlen eines Äquivalents in © erweisen das Demonstrativum als sekundäre Lesart. So mit Janzen, Text, 45; Stipp, Parteienstreit. 27. 26,6'' Die ©-Lesart ist ein Beispiel für die Tendenz, den Gesichtskreis auszuweiten, und daher sekundär. Analoge Beispiele führt Stipp (Parteienstreit, 27, Anm. 32) auf.

2.1.2 Synchrone Textgliedemng Jer 26,1 setzt neu ein mit einer Datumsangabe und einer Wortereignisformel mit Demonstrativpronomen. Das Kapitel wird durch eine fast wortgleiche Einleitung in Jer 27,1 abgegrenzt.'' Jer 27,1 ist wahrscheinlich 26,1 nachgebildet, da die Datierung am Regierungsantritt eines Königs mit Π"'ώΙ ©]) in den Text geratene Randglosse, die den poetischen Charakter des Verses verschleiere. Volz (Studien, 99 f.) übersetzt aus ® zurück und verbindet den Satz mit V. 15bß, den er ebenfalls konjiziert zu: jhv КЭП лла ''p л Ь л з лЬшл bipb ''Tirn лЬкз 1N Das ist eine mögliche, jedoch sehr hypothetische Lösung. 11,16'' Das fem. Sf. bei der Präposition hv steht in Spannung zum auch sonst als mask, ausgewiesenen ПЧ. 6 bietet in V. 16b durchgängig feminine Pronomen. П-^Ьз im MT stellt wahrscheinlich eine sekundäre Effeminierung im Anschluß an die in V. 15 genannte Frauengestalt dar. Hyatt (Text, 58) nimmt bei der Konsonantenfolge den Verlust des ersten 1 und infolgedessen eine falsche Abtrennung an, d. h. er liest das folgende Verb als Hofal-Form (med. geminatae ohne hofal). Auch © und Vulgata bieten eine passive Verbform. Subjekt der Aussage ist der in V. 16a genannte JHWH. 11,16' MT ist verständlich als Form von ΰΰΊ und wird von 6 gestützt, so daß die von BHS vorgeschlagene Korrektur zu Л1?з im Anschluß an die Vulgata unnötig erscheint. Zur Textrekonstruktion Hyatts vgl. die vorherige Anm. 11,17" Mit © (έποίησαν έαυτοϊς) ist ОлЬ als dativas incommodi zu verstehen. Vgl. Joüon/Muraoka § 133d und 488, Anm. 2; McKane, ICC, 253; Holladay, Hermeneia 1, 348. Rudolph (HAT, 80) hält олЬ für eine Dittographie, wogegen seine

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D a s Prophetenbild d e s Lehrers der Tora i m Jeremiabuch

E x i s t e n z in ® spricht. Allerdings erscheint die Dreierreihe mit Ь überfüllt und ОлЬ fehlt in den Parallelstellen Jer 32,32; 4 4 , 3 . Daher hält Weippert (Prosareden, 2 2 4 , A n m . 5 3 5 ) den Dativ für einen sekundären Zusatz.

3.1.2 Synchrone Textgliederung Die Abgrenzung von Jer 11,1-17 nach vom ist durch den Neueinsatz mit der Wortereignisformel im Relativsatz'^ in 11,1 und durch den Wechsel von Poesie zu Prosa eindeutig.'^ Die nächste der für Prosareden typischen Einleitungen findet sich Jer 14,1, in der relativ verschränkten Form jedoch erst in 18,1. Das in 11,18 folgende Klagegedicht ist durch den Wechsel von Sprecher, Sprachstil und Inhalt deutlich abgesetzt und die Verknüpfung zum Vorherigen durch die Kopula sekundär.'® Stilistisch hat Jer 11,1-17 große Ähnlichkeit mit der Tempelrede. Stichwortbeziehungen zum unmittelbaren Kontext sind jedoch kaum vorhanden.^" Außerdem weist der Text enge thematische Bezüge zu Jer 31,31-34 auf.2'

Die Wortereignisformel im Relativsatz (V. 1) weist den folgenden Text als Gottesrede an Jeremia aus. Sie markiert die Ebene des Erzählers, die erst wieder durch die nächste Wortereignisformel in 14,1 erreicht wird. Diese Kommunikationsstruktur wird durch den Imperativ plural in V. 2a aufgebrochen, der hier zu früh kommt, da der Übergang zur Rede Jeremias an seine zeitgenössischen Adressatinnen mit Redebefehl (V. 2b-3aa) und Botenformel (V. 3aß) eigens markiert ist. Innerhalb der durch den Propheten übermittelten Gottesrede ergibt sich in V. 3-5 eine noch differenziertere Einbettung: Die Botenformel (V. 3aß) liegt auf der dritten Ebene, der Inhalt des als JHWH-Wort ausgewiesenen Fluchs (V. 3b-4aa.5a) auf der vierten und schließlich das Zitat der ηκτη n-innn n a n in V. 4aß.b auf der fünften Ebene. Das an die Väter adressierte Zitat endet mit V. 4b, obwohl "[Uab auf den ersten Blick die Rede an die Exodusgeneration weiterführt. Die Zeitdeixis ПТЛ •T'3 am Ende von V. 5a weist aber in die Gegenwart zurück und ist daher als eine das Fluchwort (V. 3b-4aa) abschließende, an die Zeitgenossen Jeremias gerichtete Begründung für das Gebot an die Väter zu verstehen. " Zu dieser Bezeichnung vgl. Seidl, der parallel dazu auch von der „Wortereignisformel in der relativ verschränkten Form" spricht (Wortereignisformel, 24f.). " Der Prosasatz Jer I0,25b stellt eine Erweiterung des poetischen V. 25a dar. " Zur Begründung für die Plazierung der Konfession an dieser Stelle vgl. Hubmann, Konfessionen, 167. Aufgrund dieser Beobachtung zieht Holladay (Architecture, 161-163) die aufgrund der Wortereignisformel in Jer 11,1 oft postulierte Funktion der Rede als Einleitung für die folgenden Kapitel in Zweifel. Er bezeichnet Jer 11,1-5 als „a kind of Jeremianic echo of Deut. 27:15-26 or 28:16ίϊ" (a. a. О., 161). Mit dieser weiten Horizontbestimmung trifft Holladay eine Sinndimension der Rede, die freilich erst auf der Ebene des Endtextes erkennbar wird. Gegen Holladay ist dieser Horizont freilich nicht auf den Propheten zurückzuführen. Siehe dazu die traditionsgeschichtliche Analyse unten II. 3.3.3.2, S. 195 f.

Die Bundesrede - Jer 11,1-17

173

Auf einer zweiten Kommunikationsebene ist das Gespräch zwischen Jeremía und JHWH anzusiedeln, das durch Prosaeinleitungen in V. 5b (пакт pNI) und 11,6.9 СЬк m л·· markiert wird. Die Gottesrede an Jeremia in V. 6aß-8 weist mit einem erneuten Redebefehl eine zu V. 3-5 analoge, jedoch um eine Ebene verminderte Einbettung auf. Da V. 7a als Redeeinleitung fungiert, ist das Gebot an die Väter (V. 7b) als Zitat JHWHs ausgewiesen. Im Unterschied zum Vorhergehenden ergeht in V. 9 kein erneuter Redebefehl, so daß der folgende Schuldaufweis nur an den Propheten gerichtet ist. Da auch die Gerichtsankündigung (V. llaP-12) keine direkte Anrede enthält, sondern über die „Männer Judas und die Einwohnerinnen Jerusalems" spricht, markiert die Botenformel in V. l l a a hier anders als in V. 3aß nicht den Übergang von der Gottesrede zur Prophetenrede. Allerdings spricht V. 13a dann doch das bisher ungenannte Juda direkt an, ohne daß der Adressatenwechsel eigens markiert wäre. Die Einbettung des Folgenden ist wegen fehlender Einleitungen bei häufigem Sprecher- und Adressatenwechsel nicht eindeutig. Da das Fürbittverbot in V. 14 an Jeremia gerichtet ist, unterbricht es die Rede an ein anderes ,Du' in V. 13 und V. 15-17. Allerdings wird dieses ,Du' trotz der Bezeichnung „Juda" in V. 13a ausweislich der Suffixe als Maskulinum, in V. 15-17 aber als Femininum präsentiert. Neben dieser Inkohärenz fällt auch die Nennung JHWHs in der dritten Person in V. 16.17 auf, die wiederum auf die übergeordnete, dritte Kommunikationsebene gehört. Aufgrund des „Ich" in V. 17b sind schließlich auch V. 17a und V. 17b auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln. Die zahlreichen, nicht explizit markierten Ebenenwechsel ab V. 13 weisen schon auf die Zusammengesetzheit dieses Abschnitts hin. Zeit und Ort der Rede bleiben ungenannt. Aufgrund der Erwähnung der Städte Judas (V. 6), der Gassen Jerusalems (V. 6.13^^) und des Tempels (V. 15") liegt jedoch eine implizite Lokalisierung in Jerusalem vor. Die Zeitdeixis innerhalb der Rede ist gekennzeichnet durch einen häufigen, meist explizit markierten Wechsel von der Sprechergegenwart (V. 3b.5b.6a. 9.1 la. 14a. 15) zum Rückblick (V. 4a-5a.7-8), der zum Teil auch ankündigende Passagen (V. 4aß.b) enthält. Mit der Adressierung an die „Männer Judas und Einwohnerinnen Jerusalems" (V. 2b vgl. 6aß), den Schuldaufweisen (V. 9-10.13.17b) und der Gerichtsankündigung (V. 11-12) suggeriert die Rede einen vorexilischen Sprecherstandpunkt, während die Perfektformen in V. 16b. 17a als Hinweis auf eine Erzählzeit nach der Zerstörung gedeutet werden können. Vgl. die mittels der Ortsangaben Juda und Jerusalem ciiarakterisierten Adressatinnen in V.2b.9b. " Die Bezeichnung П''3 findet sich neben dem Begriff ЬэТ1 (7,4) auch in der Tempelrede (7,2), freilich mit dem erläuternden Relativsatz r b » "ПШ ΧΊΡ: ПЙХ (7,10.11.14.30).

174

Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

Der Text ist auifällig strukturiert durch den Ausdruck ПКТЛ ППЗЛ ПЗП (V. 2a.3b.6b.8b vgl. noch Π'-Ία in V. 10b), der dreimal mit dem Verb УОЩ verbunden ist (V. 2a.3b.6b). Den Höraufrufen stehen Aussagen über den Ungehorsam der Adressatinnen (V. 8.1 Oa) sowie über das Nicht-Hören seitens JHWHs (V. IIb. 14a) gegenüber. Neben n n a hat das Substantiv ПУП, das zur Charakterisierung des Volkes (V. 15b. 17b) und des Gerichtshandelns JHWHs (V. 1 la. 12b. 14b. 17a) verwendet wird, Leitwortcharakter. Insgesamt macht die Rede einen wenig stringenten Eindruck. Eine literarkritische Differenzierung ist nicht nur aufgrund der aufgezeigten Brüche in der Kommunikation, sondern auch im Blick auf die Funktion kleinerer Einheiten und deren formale Ausgestaltung notwendig. 3.2 Zur Schichtung

von Jer

11,1-17

Der Versuch, Jer 11,1-17 gemäß der Einleitung in V. 1 als kohärente Rede JHWHs an den Propheten zu verstehen, schlägt an mehreren Stellen fehl. Schon der Imperativ Plural in V. 2a steht in Spannung zu dieser Einleitung und zum Redeauftrag in V. 2b. Da V. 2a außerdem wortgleich mit V. 6ba ist, wird der Satz meist als sekundäre Vorwegnahme des Themas gedeutet.^'' Das in der hebräischen Textüberlieferung zugefügte Suffix bei n m m i in V. 2b versucht den Versteil stärker in den Kontext zu integrieren.^' Ein Vergleich mit der Einleitung der Tempelrede Jer 7,1 f., bei der Wortereignisformel, Redeauftrag und Charakterisierung der Adressatinnen vor dem ursprünglichen Höraufruf nachgetragen sind,^® führt jedoch zu der Überlegung, daß gerade der sperrige Imperativ Plural in Jer 11,2a zusammen mit der Botenformel in V 3aß die ursprüngliche Einleitung gebildet haben könnte, die dann durch Wortereignisformel und Redeauftrag überarbeitet worden ist.^^ Auch die Spannung zwischen der Wortereignisformel mit ihrer kapitelübergreifenden Funktion und den sonst in Selbstberichten begegnenden Einleitungen in V. 6.9 weist auf eine mögliche Überarbeitung der Einleitung hin.^® So Volz, ΚΑΤ, 129f.; Nötscher, Jeremias, 107; Thiel, Redaktion I, 141; Wanke, ZBK, 120; Holladay, Hermeneia 1, 346. Siehe die Textkritik zur Stelle oben S. 168. Diese Elemente fehlen in der griechischen Textüberlieferung, siehe dazu oben II. 1.1.1, S.52. " Rudolph (HAT, 76) streicht den Redeauftrag, da dieser ohne die Einleitung ungewöhnlich isoliert stehe und die Zustimmung Jeremias zum Fluch (V. 5b) sachlich vor die Hinwendung zum Publikum (V. 6) gehöre. Er läßt die Rede mit der Botenformel in V. 3aß beginnen. Levin (Verheißung, 73, Anm.73), beurteilt V. 2-3a (mit der Botenformel) insgesamt als sekundäre Vorwegnahme des Themas. Noch radikaler streicht Kühl (Wiederaufnahme, 4 f.) V 2b-6, weil er V. 6b als Wiederaufnahme von V. 2a betrachtet. Angesichts der Inkohärenz zwschen V. 1 und V. 2a ist dies jedoch keine plausible Lösung. Die These, ein Selbstbericht Jeremias sei überarbeitet worden, vertreten Wildberger, Jahwewort, 25; Rudolph, HAT, 79. Ihnen folgt Levin (Verheißung, 73), der auch die zu 11,1

Die Bundesrede - Jer 11Д-17

175

Abgesehen von dem Imperativ in V. 2a bilden V. 1-4 sowohl hinsichtlich der Kommunikationsstruktur als auch der inhaltlichen Abfolge zunächst einen klar strukturierten Redeteil. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, daß die zweifache Nennung der Väter miteinander korreliert werden muß. Da V. 5a aufgrund der Zeitdeixis ПТП DVS nicht als Fortsetzung des Zitats an die Exodusgeneration verstanden werden kann, liegen beide Väterbezüge auf derselben Kommunikationsebene und bezeichnen dieselbe Gruppe, so daß in V. 5a nicht noch frühere Vätergenerationen in den Blick kommen. Diese Beobachtung stimmt mit dem Ergebnis der Untersuchungen T. Römers überein, wonach die Vätergenerationen vor dem Exodus im Jeremiabuch nirgends genannt werden.^" Römer beurteilt V. 5a als Nachtrag einer zweiten dtr. Hand.^' Auffällig ist, daß die Väternennungen das JHWH-Zitat rahmen. Dieser Rahmen besteht aus einem Fluchwort, dessen Inhalt mittels zweier Relativsätze erläutert und zeitlich in der Vergangenheit situiert wird (V. 3b-4aa), und einem Finalsatz (V. 5a). Eine solche Struktur ist im Blick auf vergleichbare Verwünschungen ebenso singulär wie die den Fluch bestätigende Antwort Jeremias in V. 5 b . D e r Prophet antwortet sonst nur auf eine direkte Anfrage oder Aufforderung Gottes hin (Jer 1,6.11.13; 14,13; 24,3)." Außerdem wird erst am Ende von V. 5 deutlich, daß entgegen dem durch Redebefehl und Botenformel eröffneten Erwartungshorizont gar keine Prophetenrede ergeht, sondern Fluchwort und Bestätigung nur zwischen JHWH und Jeremía ausgetauscht werden. Versteht man jedoch den Imperativ Plural (V. 2a) und die Botenformel als ursprünglichen Einsatz der Rede, so fordert ein solcher prophetischer Höraufraf eine direkte Adressierung und Erläuterung der angekündigten ПКТЛ П П З Л ''Ίαη. Beides leisten die Imperative in V. 4aß.b, die im übrigen wortgleich in Jer 7,23aß begegnen. Die Einbettung dieser Imperative in Fluchwort und Antwort des Propheten sind somit als Nachträge zu deuten. Das in der Septuaginta nicht überlieferte Stück Jer 11,7-8 [bis auf WV кЬт am Ende von V. 8] ist nicht nur aus textkritischen, sondern auch aus inhaltanalogen Einleitungen in 18,1 und 35,1 als sekundäre Überarbeitungen bewertet. Thiel beurteilt Jer 11,1 mit Verweis auf Jer 7,1 als eine „typische D-Überschrift" (Redaktion I, 140). Vor allem die ältere Forschung hat in V. 5a eine Anspielung auf die Patriarchen gesehen. Vgl. Giesebrecht, Jeremia, 69; Nötscher, Jeremias, 107; Volz, ΚΑΤ, 132; Thompson, NIC, 344; aber auch Böhmer, Heimkehr, 99; McKane, ICC, 238. So Römer (Väter, 426.487) nach Durchsicht aller Väterbelege im Jeremiabuch. Auch Diepold (Land, 158) versteht die Väter in Jer 11,5 als Empfanger des Schwurs und des Landes. Vgl. Römer, Väter, 4 2 4 - 4 2 6 . ^^ Ein weiteres „Amen" Jeremias findet sich nur in der Erzählung Jer 28,6 als (polemische) Antwort auf die Heilsweissagung Hananjas. Vgl. noch das prophetische Selbstgespräch in Jer 5,4; 20,9. Das klagende „Ich" in Jer 10,19 ist mit Jerusalem zu identifizieren. Vgl. Maier, Klage, 176-198.

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Das Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

liehen Gründen als Zusatz zu beurteilen.^'' Es schöpft aus Jer 7,24-26^^ knüpft aber auch an Formulierungen aus dem Kontext an, so beispielsweise V. 8b an die Wendung hs ЛУТ χ-ΊΠ in V. 11. V. 7a erwähnt den Exodus als „Heraufführen" (пЬи hif.)^® im Unterschied zu 11,4a (NS'' hif.). Mit n m ΠΝτη ППЗЛ rekurriert V. 8b auf das Fluchwort in 11,3b. Wie das analoge Beispiel 7,23 f. zeigt, kann die Feststellung des Ungehorsams ( Ш xbl) am Ende von V. 8 durchaus auf den Imperativ о т к (V. 6b) folgen, so daß der Text ohne V. 7.8* kohärent i s t . " Jer 11,9-lOaß sind literarisch einheitlich, da der Einsatz mit nom (V. lOaß) nicht als literarischer Bruch, sondern als betonter Bezug auf die in V. 9b genannten Adressatinnen zu bewerten ist.'® Die Alternative, das Bezugswort von ЛГЗт in 0''ЗШКЛЛ Dm3K (V. lOaa) zu sehen, würde den Gebrauch von лалт erübrigen, da die Verbform der dritten Person Plural den Relativsatz bruchlos fortführt. V. 10b ist als sekundär zu betrachten. Zwar setzt das Perfekt ПЭЛ in V. 10b wie in V. 10a asyndetisch ein, es begegnen jedoch neue, bisher nicht genannte Personengruppen, denen ein ,Bundesbruch' vorgeworfen wird. Außerdem nimmt der Relativsatz отзК'ПХ ТПЗ ΊϊίΝ auf die in V. 3 b - 4 a a als sekundär erwiesene Veφflichtung der Väter begrifflich Bezug. Inhaltlich stellt V. 10b eine Inteφгetation der in 11,10a genannten • л ш к пз1а dar. Der Begründung V. 9-1 Oaß folgte ursprünglich die Ankündigung des Gerichts in V. 11-12b, klassisch durch IDS und die Botenformel eingeleitet. Sie enthält keine Kohärenzstörungen, da die in V. 12 aufgeführten Subjekte „Städte Judas und Einwohnerinnen Jerusalems" als Verbindung von V. 6a (лтл·' und V. 9b (Ο^ώη·' verstanden werden können und somit bereits eingeführt sind. Jer 11,13 steht mit der Anrede an Juda und dann an pluralische Adressatinnen in Spannung zum unmittelbaren Kontext. Außerdem verdoppelt der Vers die Begründung der vorangehenden Gerichtsankündigung in V. 9-1 Oa. V. 13a hat eine wortgleiche Parallele in Jer 2,28b,^' in dessen unS o mit Wanke ( Z B K , 121) gegen Stipp, der alexandrinischen Textverlust annimmt (Sondergut, 6 0 - 6 2 ) . Auch Levin (Verheißung, 74) hält V. 7 - 8 * für den jüngsten Zusatz des Abschnitts, plädiert jedoch für absichtliche Streichung seitens der GS-Übersetzer. Vgl. die Zeitreferenz „vom Tag des A u s z u g s bis heute" und die Unermüdlichkeitsformel in 11,7 und 7,25 sowie die fast wörtliche Übereinstimmung von 11,8 mit 7,24a. Thiel (Redaktion I, 150) will auch diese Formel für D reklamieren. Der einzige weitere Beleg im Jeremiabuch, die Heilsverheißung Jer 16,14 = 23,7, ist jedoch keine von D verwendete Variation, sondern nachexilischer Zusatz. " S i e h e oben 1 1 . 1 . 3 . 1 , 5 . 9 4 . S o auch Thiel, Redaktion I, 152. 39 ® überiiefert in Jer 2,28b über den M T hinaus eine verkürzte Form von 11,13b, die jedoch die Pointe, nämlich die Entsprechung zwischen der Zahl der Straßen und der Altäre, nicht bietet. Vgl. dazu Herrmann, B K , 149.

Die Bundesrede - Jer 11,1-17

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mittelbarem Kontext ebenfalls die Adressatinnen wechscln/" Während S. Herrmann Jer 2,21 f . als eine aus 11,13 und 32,33 zitierende Texterweiterung ansieht,"' verstehen G. Wanke und W. Thiel Jer 11,13 umgekehrt als Zitat aus 2 , 2 8 b . D i e wahrscheinlichste Lösung ist, daß Jer 11,13a aus 2,28b entnommen und 11,13b aus dem unmittelbaren Kontext neu gebildet wurde,denn die Gegenüberstellung von Juda und Jerusalem begegnet in 11,6.9.12, die Gassen Jerusalems werden 11,6 und das Räuchern für fremde Gottheiten wird in 11,12 sowie für Baal in 11,17b genannt. Das Verbot der Fürbitte'^ in V. 14 fügt sich zwar in die durch Jer 11,6.9 angezeigte Gesprächssituation zwischen JHWH und Jeremia ein. Im Blick auf die direkte Adressierung in V. 13 und V. 15 freilich unterbricht das Verbot die Redestruktur. Es ist in seinem von Jer 7,16 abweichenden Schlußteil (ОПУП V. 14bß) auf das in V. 1 la angekündigte Unheil (ΠΰΊ) bezogen. Diese Kontextverklammerung kann aufgrund der sprachlichen"*' und der syntaktischen Unterschiede"® jedoch auch nachträglich erfolgt sein. Auch wenn das Fürbittverbot durchaus an den Gedankengang von Jer 11,11 f. anschließt, insofern zur Zeit des Unheils weder JHWH noch die fremden Gottheiten rettend eingreifen und also auch der Prophet nicht fürbitten soll, gehört es nicht ursprünglich zu Jer 11. V. 15-16 sind zwei inhaltlich zunächst voneinander unabhängige Aussagen über eine metaphorische Größe, die mit Ausnahme der Benennung T'T' als Femininum erscheint. Mehrere Formen können unpunktiert auch als zweite Person maskulin Singular gelesen werden,"^ so daß die Textüberlieferung zwischen femininen und maskulinen Formen schwankt. Zwar hat J. P. Hyatt eine in vielen Punkten plausible Rekonstruktion eines Textes im Qina-Metrum vorgelegt."® Durch den Wechsel der Suffixe aber erscheinen V. 15 und 16 so ineinander verwoben, daß nicht geklärt werden •«' Vgl. Jer 2,20-25 2.P. fem.sg.; 2,26-28 „Haus Israel": in V.27 als 3.P. pl., in V.28 als 2.P. mask, sg.; 2,29-30 2. F. mask. pl. "I Vgl. Herrmann, ВК, 97.149. Er hält Jer 2,27aa.b.28 aus inhaltlichen und formalen Erwägungen für redaktionell (vgl. aber die differierende Textanordnung von V. 27b, a. a. O., 97). Seine Einschätzung der Parallele Jer 32,22 ist angesichts des anthologischen Charakters des Gebets Jeremias in 32,16-25 nicht ausreichend begründet. « Vgl. Wanke, ZBK, 122; Thiel, Redaktion I, 154f. « So mit Thiel, Redaktion I, 153. © hat dann in Jer 2,28 eine Kurzform von Jer 11,13b nachgetragen. « Zu den Parallelstellen siehe oben II. 1.3.2.1, S. 95-97. "5 Vgl. V. 14b ΝΊρ mit V. 11 b рГТ; V. 14 ОПГТ Ί ΰ 3 mit V. 12b ΟΠΪΊ ЛИЛ sowie die Textkritik oben S. 169. ^ Vgl. den Nominalsatz V. 14b mit dem Verbalsatz V. 1 Ib. So in V. 15 "-ЭПИТ und T'^jjn, in V. 16 "[ПШ. Das Schwanken zwischen mask, und fem. Konnotierung der Adressatinnen, genauer zwischen einer Frauengestalt und Jakob findet sich auch in Jer 2-3, vgl. z. B. den harten Übergang in Jer 2,2 zu V. 3; 2,15 zu V. 16 und die Textvarianten bzw. Konjekturen zu 3,19. « Vgl. Hyatt, Original Text, 57-60. Siehe die Textkritik oben S. 170f.

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kann, ob die beiden Verse unabhängig voneinander überliefert wurden oder schon vor Aufnahme in den jetzigen Kontext zusammengehörten. Die Einbindung in den jetzigen Kontext leistet vor allem der Prosavers 11,17. Zum Wechsel der Redeperspektive zwischen V. 17a und V. 17b kommt die inhaltliche Differenz hinzu. V. 17a führt mit SJÜ3 zunächst die Baummetapher weiter und spricht metaphorisch über das von JHWH verfügte Unheil. V. 17b liefert noch einmal eine abschließende Begründung, die ganz konkret die Verehrung Baals als Vergehen nennt. Aufgrund der Nennung der ,Häuser' Israel und Juda (vgl. V. 10b) sowie der V. 13b aufnehmenden Wendung baab napb ist V. 17b zu den Erweiterungen zu rechnen. Die einen explikativen Satz einleitende Konjunktion bbin hat in der Verbindung mit ЛИТ ihre engste Parallele in I Reg 14,16,'*' einem Vers, der ebenfalls eine späte Texterweiterung darstellt.'" Diese Analyse zusammenfassend können 1 l,2a.3aß.4aßb.6.8b*[nur кЬт 1ÖJ?].9-10a.ll-12.15-17a einer Grundschicht des Kapitels zugewiesen werden. Die Herkunft der beiden Aussprüche V. 15 und V. 16, die vielleicht ehemals eigenständig überliefert wurden, ist in der traditionsgeschichtlichen Untersuchung weiter zu verfolgen. Demgegenüber sind 1 l,1.2b-3aa. 3b-4aa.5. einer ersten Bearbeitung zuzuweisen, die den Gedanken einer Bundesveφflichtung der Väter der Exodusgeneration einbringt. Zu welcher Bearbeitungsstufe die sekundären Verse 10b. 17b, die von einem Bundesbruch seitens der , Häuser' Israel und Juda sprechen, und die so unterschiedlichen Aussagen in V. 13 und V. 14 gehören, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und daher erst nach der traditionsgeschichtlichen Analyse zu entscheiden. Den chronologisch gesehen letzten Zusatz bildet jedenfalls der masoretische Textüberschuß in V 7 f.* 5.5 Zur Traditionsgeschichte von Jer 11,1—17 3.3.1 Elemente älterer Tradition Jer 11,15-16 wurden oben als inhaltlich zu differenzierende, nun miteinander verwobene Sätze bestimmt. Sie weisen Parallelen zu Textteilen auf, die wahrscheinlich authentisches Gut enthalten. Versteht man in V. 15 als Anspielung auf den Tempel, so liegt die ironische Frage nach dem Nutzen von Opfern bei gleichzeitiger Verfolgung eigener Pläne der in Jer 7,9f.21b geäußerten Kritik nahe. Das Nomen riDTQ (V. 15) wird im Jeremiabuch « Die 10 Belege für ЬЬзз bilden zwei Gruppen: mit Sf. (Gen 12,13; 30,27; Dtn 1,37; Mi 3,12) bzw. Personennamen (Gen 39,5; Jer 15,4) oder mit einer Jer 11,17 vergleichbaren Wendung. Vgl. noch Dtn 18,12 (angeschlossen mit Kopula) und Dtn 15,10 (innerhalb eines Kausalsatzes). ™ Vgl. Hentschel, 1 Könige, NEB, 92, der V. 15 f. als spätdtr. Reflexion über die Schuld des Volkes versteht. Formal fallen V. 15 f. durch die Formulierung in der 3.Pers. aus dem Kontext des JHWH-Rede heraus.

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sonst nur noch als Bezeichnung des Gerichtsplans JHWHs verwendet,^' beschreibt aber in Psalter und Weisheit die Ränke der Frevler. ^^ Da im zweiten Versteil ausdrücklich von der Bosheit der weiblichen Gestalt die Rede ist, trägt ΠΏΤΏ auch in 11,15 eine pejorative Konnotation. Als JHWHs T'T' werden außerhalb von Jer 11,15 nur noch Benjamin (Dtn 33,12) und gelegentlich die Beter der Psalmen (Ps 60,7; 108,7; 127,2) genannt. ^^ Zweimal begegnet die Bezeichnung außerdem im Weinberglied Jes 5,1. Allerdings findet sich der Ausdruck •'Шаз ПП"!'' als Bezeichnung des Volkes in Jer 12,7. In Jer 11,15 steht das maskuline Nomen in Spannung zu den femininen Suffixen. Da die Metapher des Volkes als Frau in Jer 2 - 3 sehr pointiert eingesetzt wird,''' ist es wahrscheinlich, daß die feminine Form in Jer 11,15 ursprünglich ist. Unter Verzicht auf die Konjunktion "'S und auf чЬал TN in V 15 erscheint der verbleibende Text nach der Rekonstruktion J. P. Hyatts im Qina-Metrum.^' Die Klage des göttlichen Ich in V. 15 ist dann vergleichbar der Klage Jerusalems in Jer 4,19-21.31 sowie der Aufforderung zur Totenklage in Jer 6,26; 9,16-21.'® Insofern gewinnt Hyatts Textvorschlag auch formkritisch betrachtet an Plausibilität. Der Ausdruck ]ЗУП πη (11,16a) findet sich nur noch in Ps 52,10 als Selbstbezeichnung des Betenden. Vergleichbar sind die Zeichnung des Pharao als üppigen Baum (Ez 31,1-14), des Königs Zidkija als Weinstock (Ez 17,5-10) und der Königinmutter als Weinrebe, die ausgerissen und vom Feuer verzehrt wird (Ez 19,10-14). „Edelrebe" wird in Jer 2,21 die Frauengestalt genannt, die in Jer 2,2 sekundär mit Jerusalem identifiziert wird.'^ So ist die in 11,16a gebrauchte Metapher des grünenden Ölbaums im Jeremiabuch also singulär, knüpft jedoch an die Metaphorik von Jer 2,21 an. Statt лЬлз лЬюл hiph in V 16b als Glosse aufzufassen,'® kann die Erwähnung des heranbrausenden Lärms auch als bewußte Anspielung auf das Herannahen des feindlichen Heeres in Jer 4,5-8.11-17; 6,22 f. verstanden werden. Aufgrand der thematischen Nähe zur Metaphorik von Jer 2 - 3 " So Jer 23,20 = 30,24; 51,11 vgl. Hi 42,2. 52 Vgl. die Verwendung des Plurals mOTO in Ps 10,2.4; 21,12; 37,7 sowie den Ausdruck niDTD Ο-Ή in Prov 12,2; 14,17. ' ' Das Femininum т т begegnet nur als Frauenname (II Reg 22,1). Siehe dazu unten III. 1.1.1, S. 283 f. " Vgl. Hyatt, Text, 57.59. Unter Beibehaltung eines größeren Textumfangs freilich ist das Metrum nicht mehr so eindeutig. Vgl. Rudolph, HAT, 81. Vgl. dazu Maier, Klage, 176-189; Bauer, Gender, 6 3 - 6 6 . 8 0 - 9 4 ; Hardmeier differenziert hinsichtlich des Gegenstands der Trauer (Person vs. politische Größe) zwischen Leichenlied und Untergangslied (Texttheorie, 2 1 5 - 2 1 9 . 3 3 3 - 3 3 9 ) . Letzterem rechnet er Jer 6,26; 9 , 1 6 - 2 1 zu. " Z u r sekundären Voranstellung der Redeeinleitung in Jer 2,2 siehe unten III. 1.1.1, S.283f. 58 Siehe oben die Textkritik S. 171.

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D a s Prophetenbild des Lehrers der Tora im Jeremiabuch

haben die Septuaginta-Übersetzer eine Anspielung auf die in Jer 4,4 genannte Beschneidung der Herzen vermutet. Da Jer 11,1-14 an eingebetteten Zitaten reich ist, wurde wohl auch V. 16a durch Zufügung des Subjekts JHWH im Nachsatz als Zitat dargestellt. Da der Gottesname auch in V. 17a begegnet, kann die Bearbeitung innerhalb von V. 15 f. als Teil der Einbindung des Spruchguts in die Rede verstanden werden. Aufgrund der Motivparallelen und der Rekonstruktion einer ursprünglich poetischen Diktion ist es wahrscheinlich, daß Jer 11,15 f. jeremianisches Gut enthält, wenngleich eine Textrekonstruktion sehr hypothetisch ist. V. 15-16 dienen im jetzigen Kontext der Konkretion des Schuldaufweises und der Verstärkung der Gerichtsankündigung. V. 15 ironisiert den Versuch, JHWH durch Opfer umstimmen bzw. durch Opfer die eigene Bosheit , sühnen' zu wollen. Analog dazu beurteilt V. 12 Opfer für fremde Gottheiten als wirkungslos. Damit bietet V. 15 eine inhaltliche Parallele zur Kritik an einem Denken, das den Tempel JHWHs und Opfergaben als Garantie für ein sicheres Leben ohne Feindbedrohung versteht (Jer 7,9.21b). Isoliert vom Kontext ist die Deutung der Verbformen im Perfekt in V. 16 offen: Die Metapher des üppigen, aber vom Feuer verzehrten Ölbaums kann als prophetische Ankündigung oder als Konstatierung eines bereits eingetroffenen Unheils verstanden werden. Freilich legt das Qina-Metrum die erstgenannte Möglichkeit nahe. Bemerkenswert ist der in den Bearbeitungen sichtbare Fortgang der Interpretation: Der Prosasatz V. 17a nimmt die Baummetapher aus V. 16 noch einmal auf, indem das Verbrennen des Baumes als von JHWH bewirktes Unheil gedeutet wird. Damit lenkt V. 17a auf die Sachebene zurück und unterstreicht mit dem Wort ЛУП, daß sich die Bosheit des Volkes (V. 15) und die Reaktion JHWHs entsprechen. Die Einbettung von Teilen des Spruchs als Gottesrede verstärkt den Eindruck der bereits vollzogenen Zerstörung. Der Zusatz V. 17b expliziert das in V. 17a genannte Unheil noch einmal als bewußt gegen JHWH gerichtete Fremdgottverehrung und nennt jetzt auch die Verantwortlichen. 3.3.2 Die Grundschicht in Jer 11,1-17 als exilische Komposition W. Thiel hat den gesamten Text Jer 11,1-14(17) aufgrund des Sprachgebrauchs der dtr. Redaktion des Jeremiabuches zugewiesen. Die Gesamtperspektive und einige Wendungen weisen in der Tat auf diesen Sachverhalt hin: So begegnet die Reihung „die Männer Judas und die Einwohnerinnen Jerusalems" (V. 9b) vor allem in überarbeiteten Texten des Buches.®" Die Lokalisierung „in den Städten Judas und in den Gassen Je" Thiel, Redaktion I, 140. » Vgl. noch Jer 17,25; 18,11; 32,32; 35,13, sonst II Reg 23,3 par. II Chr 34,30 und Dan 9,7, dort um Ькчш'' Ьз erweitert. Holladay hält Jes 5,3 für den .Prototyp' dieser Wendung

Die Bundesrede - Jer 11,1-17

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rasalems" (V. 6) findet sich nur in Prosatexten.^' Der Satz О-'Л^Х ППК ΙΠ^Π αηπΝ ist dtr. Standardvorwurf.^^ Die Wendung xm hif. + i h n ЛУТ (V. 11)®^ gehört ebenfalls zum Sprachgebrauch redaktioneller Texte im Jeremiabuch und begegnet im DtrG. in Unheilsworten gegen Ahab und Manasse.®·* Überwiegend in Erzählungen des Jeremiabuches wird dagegen n m pi. + л:?п (vgl. 11,17a) verwendet.®' Die Formulierungen des Gerichtswortes in Jer 11,11-12 basieren, wie Thiel gezeigt hat,®® auf der auch in Jer 2,27b.28 und Jdc 10,13b. 14 entfalteten Vorstellung, daß JHWH Unheil über die Adressatinnen bringt, aus dem gerade die fremden Gottheiten nicht retten können und JHWH nicht retten will.®^ Während Jdc 10,13b.l4 eine ironische Aufforderung JHWHs, die fremden Gottheiten um Rettung zu bitten, formuliert, wird dies in Jer 11,12 in eine Aussage über das zukünftige Handeln der Adressatinnen gefaßt. Da Jer 11,13a und 2,28b wortgleich sind, deutet Thiel 11,13a als Zitat aus Jer 2,28 und den Anredewechsel von V. 12 zu V. 13 als aufgrund der Zitation nicht angeglichene Nahtstelle.®^ Die von ihm vorgeschlagene Entstehung von V. 13 aus einem Zitat und einem eigens gestalteten Nachsatz, der die Gassen Jerusalems aus V. 6aß wiederholt, ist plausibel, so daß V. 13 trotz des Wechsels in die direkte Anrede als zu V. 12 gehörig angesehen werden kann.®' In der Grundschicht Jer ll,2a.3aß.4aßb.6.8b*[nur Ito t-4aa.5. Auffällig ist jedoch, daß in Jer 11 nicht eine Verwünschung oder ein Fluch wort aus Dtn 28, sondern das Fluchformular aus Dtn 27 aufgenommen wurde.®' Trotz der Aufforderung an die Adressatinnen, zu hören und entsprechend zu handeln, wird in der Grundschicht von Jer 11 zugleich ihr Ungehorsam konstatiert. Die qatal-Form NSQ] (V. 9b) kann geradezu „ertappt" bedeuten.®® Ihre uneinsichtige Haltung wird im Schuldaufweis V. 9b-10a als Ίώρ bezeichnet. Der Begriff ntíp begegnet im Jeremiabuch nur an dieser Stelle. Er bezeichnet sonst eine politische Verschwörung gegen den amtierenden König bzw. die gerade herrschende fremde Macht.'" In II Reg 17,4 deutet die Wendung Ίϊίρ KS'' den vom assyrischen König entdeckten Treuebruch seines Vasallen Hosea.'" In Jes 8,12 wird die gegen die assyrische Bedrohung gerichtete Heilsprophetie ПШр genannt.'^

Die Abkehr der vorexilischen Generation von JHWH wird in Jer 11,9b somit als ein politischer Treuebruch dargestellt. Das paßt insofern zur BunRose (ZBK 5/2, 548.552) rechnet Dtn 28,69; 29,8 der dtr. Schicht (= III) zu. So auch Nielsen, HAT 1/6, 256.263. Beide deuten Dtn 28,69 jedoch als Unterschrift zu Kap. 28. Die Grundschicht Dtn 28,69; 29,1-20 wird in die Joschijazeit datiert von Lohfink, Bundesschluß, 59-62; Braulik, Dtn II, NEB, 211. Braulik vermutet im Grundbestand der Bundesschlußzeremonie einen Jerusalemer Ritualtext. Zur möglichen ursprünglichen Funktion von Dtn 28,69 als Unterschrift vgl. Braulik, a. a. O., 210. " Zur deutschen Terminologie für пЬЬр vgl. Steymans, Deuteronomium 28, 207-220. Er spricht sich für die Übersetzung „Verwünschung" aus (a. a. O., 218). Die literarische Abhängigkeit des Textes Dtn 28,20a.21-25a.26-35 von den ade zur Thronfolgeregelung Asarhaddons (VTE § 56) und die Vergleichbarkeit mit weiteren neuassyrischen Vasallenverträgen hat Steymans (Deuteronomium 28, bes. 284-312) jüngst ausführlich begründet. Steymans hält sie für einen Bestandteil des „Urdeuteronomiums" als Verpflichtungsurkunde Joschijas (a.a.O., 380). Steymans zufolge sind die n i K - und rm3-Reihungen Dtn 28,3-6.16-19 entweder bereits der Grundschicht oder der ersten, noch in joschijanischer Zeit stattfindenden Bearbeitung zuzuweisen (Deuteronomium 28, 379.381). Siehe dazu unten II. 3.3.3.1, S. 188. Vgl. Dm 22,20.28; Jer 2,34; 50,24; sowie die Diebmetapher Jer 2,26; 5,26; 48,27 und vergleichbare Belege in Gen 44,16.17; Ex 21,17. S' Vgl. II Sam 15,12; I Reg 16,20; II Reg 11,14 u.ö. Vgl. II Reg 15,30; 17,4; Jes 8,12. " Dagegen wird die Loslösung Jojakims (II Reg 24,1 ) und Zidkijas (II Reg 24,30) vom babylonischen König nicht Ίώρ genannt. Vgl. noch den Ausdruck Л'К'ЗЗ Ίϊίρ in Ez 22,25 (nur MT).

Die Bundesrede - Jer 11,1-17

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desthematik, als der Bundesschluß schon im Deuteronomium in Analogie zu assyrischen Vasallenverträgen dargeboten wird.^^ Allerdings sind die Begriffe Ίώρ und ППЗ nicht einfach zu identifizieren. Durch den Kontext Jer 11,9-lOa wird "lüip als Rückkehr zum Ungehorsam der Vorväter bestimmt. Der Ausdruck CJtìKnn т з х (11,10) ist in dieser Form im Jeremiabuch singular.'" Er findet sich mit anderem Numerus φϋΧΊΠ in Jes 43,27.'' In Dtn 19,14; Jes 61,2; Koh 1,11 dient D-'röNT der generellen Bezeichnung der Vorfahren. Lev 26,45 erwähnt eine Selbstveφflichtung JHWHs gegenüber den als den aus Ägypten Herausgeführten. Von Vergehen der Vorfahren (П21Г spricht neben Jer 11,10a noch Ps 79,8.

Die Bezeichnung D''3ttit' ® versteht die Wendung als Name des Gebirgszugs Karmel, was eine 1п1ефге1а11оп im Blick auf die Nennung Israels in 2,4 darstellt.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

den Garten mit Fruchtbäumen" als Kontrast zu Während dem spätexilischen Vers^^ Jer 4,26 zufolge das Fruchtland zur Steppe geworden ist, verheißt das spätnachexilische^ Heilswort Jes 32,15 f. den umgekehrten Vorgang. Der Vorwurf, Israel verunreinige das Land (V. 7b), ist zwar in der Verbindung von KQtD q. + Ί'ΊΚ selten. Die Vorstellung, daß eine Unreinheit der Menschen und deren Taten auch das Land verunreinige, ist ausweislich der Ehegesetze Lev 18,25.27 in priesterschriftlichen Texten belegt." Im analogen Vorwurf, Israel habe sich selbst durch „Hurerei" verunreinigt (Hos 5,3; 6,10), wird das Verb verwendet, das auch in Jer 3,1.2 mit dem Objekt ^ΊΚ begegnet. Auffallend ist, daß in Jer 2,7 sowohl das Land als auch dessen Synonym лЬп: (V. 7bß) ausdrücklich als Eigentum JHWHs - mit dem Suffix der ersten Person - aufgefaßt werden.^ An acht von 12 Stellen im Jeremiabuch ist der Begriff лЬпз direkt auf ΓηΓΓ* bezogen,'' im Unterschied zur klassisch dtr. Formel, die von der Gabe des Landes als лЬпз an Israel spricht.'® Hinzu kommt, daß лЬп: im Jeremiabuch einerseits das Land als Erbteil JHWHs bezeichnet," andererseits etwa in Jer 12,7-12a™ das Volk umschreiben kann.'' Auch in dem redaktionellen Vers Jer 10,16 = 51,19 wird Israel als „Stamm seiner лЬпо" bezeichnet.'^

« Vgl. die Gerichtsworte gegen die Fruchtgärten Assurs Jes 10,18; 37,24 = II Reg 19,23 sowie Moabs Jes 16,10 par. Jer 48,33. " Jer 4,23-26 rekurriert in seiner 1тефге1а110П der Zerstörung Jerusalems sprachlich auf Gen 1 und ist damit jünger als P. Vgl. den detaillierten Nachweis durch Borges de Sousa, Jer 4,23-26, 419-428; außerdem Trimpe, Auslegung, 135-139. " Kaiser (ATD 18, 264) datiert die „Apokalypse" Jes 32,9-20 aufgrund der Abhängigkeit bzw. Verwandtschaft zu Jes 29,17ff.; 30,19ff. in hellenistische Zeit. Wildberger (BK X/3, 1277) datiert 32,9-14 mit Blick auf Jes 44,3; Ez 39,29 und Joel 3 um 500. Vgl. Num 35,34; Dtn 21,23. In Dtn 24,4 ist das Verb Xtsn hof. gebraucht. ^ So auch Hos 9,3; vgl. noch Ex 19,5; Lev 25,23. Dtn spricht v.a. vom „Eigentumsvolk" лЬпз DB (Dtn 4,20 vgl. 9,26.29). " V g l . Jer 2,7; 10,16 = 51,19; 12,7.8.9; 16,18; 50,11. «'S Die Formel Л^ПЗ "¡Ь ]Γΰ Т л Ь к ΠΙΠ' ЛШХ ί'ΊΚΠ begegnet in Dtn 4,21; 15,4; 19,10; 24,4; 25,19; 26,1. Vgl. noch Jer 3,19; 12,14; 17,4. So Jer 2,7; 3,19; 12,14f; 16,18; 17,4; 50,11. ™ Ähnlich dem Wechsel der 2. P. fem. sg. zur 3. P. mask. sg. in Jer 2,2-4,2 erscheint in dieser Klage JHWHs über den Abfall seines Volkes die лЬпз personifiziert als „Geliebte" (12,7), als Löwin, die ihre Stimme erhebt (12,8), als bunter Raubvogel (12,9) und als Weinberg (12,10), der von vielen Hirten zertreten wird und als Öde zurückbleibt. Vgl. McKane, ICC, 268. MT gebraucht in Jer 12,7 durchweg fem. Suffixe. Die Metaphorik legt es nahe, die Aussagen in 12,7-9 auf das Volk, in 12,10-12a aber auf das Land zu beziehen, das in V. 11 mit dem Begriff ^ΊΚ expliziert ist. Analoge Personifizierungen von улк finden sich auch in Jer 4,20; 6,19; 8,16; 12,4; 22,29. " So mit Diepold, Land, I07f Nach Lipiftski (ThWAT V, 355-357) sind ,Volk' oder .Land' als пЬпз Gottes zwei unterschiedliche Formulierungen desselben mythischen Motivs von der Aufteilung der Völker bzw. der Länder unter den Göttersöhnen, das er in KTU^ 1.3 VI, 15f.; KTU2 1.4 VIII, 11-14; 1.5 II, 15f findet. Jer 10,12-16 stimmt fast wörtlich mit Jer 51,15-19 überein. Meist wird 51,15-19 als Zitat aus 10,12-16 interpretiert, wobei auch 10,12-16 nicht als jeremianisch gilt. Vgl. Duhm, KHC, 97.102.369; Rudolph, HAT 71.309; Wanke, ZBK, 112. Zudem fehlt Jer 10,6-8.10 in©, die gegenüber dem MT außerdem eine andere Reihenfolge der verbleibenden Verse bietet. Weippert (Schöpfer, 28) datiert Jer 10,12-16 kurz vor 538 v.Chr., während Wanke (ZBK, 115) den Ab-

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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Eine Jer 2,7 vergleichbare Aussage findet sich allerdings nur in Jer 16,18. Der in einem redaktionellen Abschnitt''^ begegnende Vers spricht wie 2,13 von der zweifachen Verfehlung Israels. Auch die Aussage in Jer 2,7bß „mein Erbteil habt ihr zum Greuel gemacht" ist singular im Jeremiabuch und hat ihre engste Parallele in Jer 16,18. Von acht Belegen für m a i n im Jeremiabuch'" begegnen sechs als Akkusativobjekt des Verbs ntol?,'' wobei unter „Greuel" einerseits soziale Vergehen vor allem der Priester und Prophetinnen,'^ andererseits - in redaktionellen Texten - der Opferdienst für Fremdgottheiten" zusammengefaßt werden.

M. Schulz-Rauch bezeichnet die Abfolge von Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme in Jer 2,6-7a als „CredomodelΓ"^ das er der authentischen Jeremiaüberlieferung zurechnet und dem „zweiphasige[n] Konfrontationsmodell" in Jer 2,7a.b gegenüberstellt. Da V. 7 aus literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Gründen als redaktionell anzusehen ist, sind beide Modelle erst auf der Ebene des bearbeiteten Textes nachzuweisen. Die vier in Jer 2,8 genannten Stände begegnen mit Ausnahme der "'tösn rninn auch sonst im Jeremiabuch und zwar in charakteristischen Verbindungen. Wie U. Rüterswörden gezeigt hat, ist in einer Reihe älterer Texte von Prophetinnen und Priestern die Rede, wobei der Prophet stets zuerst genannt wird.^' In Jer 5,31; 6,13f.; 8,10f.; 14,18; 23,11 werden Prophetinnen und Priester^" der Vergehen bezichtigt, die dem Volk zum Schaden gereichen.^' In Jer 2 7 f . gehören beide Gruppen neben dem Volk zum Auditorium, vor dem Chananja und Jeremía ihren Streit austragen. Gemäß 5,31 herrschen die Priester nach eigenem Gutdünken,®^ handeln wie die Prophetinnen lügnerisch (πρϊ! ЛШи 6,13®^) und schnitt aufgrand der an Dtjes anknüpfenden theologischen Reflexion zu Recht als nachexiUsch versteht. " J e r 16,16-18 führt nach dem Heilswort Jer 16,14f. V. 13 fort, allerdings mit einem Wechsel von der 2.P. pl. in die 3.P. pl. und des Blickwinkels vom Exilsland (V. 13) nach Juda. Als Schuld wird, anders als in V. 13, nur der Götzendienst genannt. Vgl. Duhm, KHC, 139.141; Schreiner, NEB, 106. Wanke (ZBK, 161) rechnet nur V. 18 der Redaktion zu. Humbert (Le substantif, 226f.) hält keinen einzigen Beleg für authentisch. « Vgl. Jer 6,15 = 8,12; 7,10; 32,35; 44,4.22. ™ So Jer 6,12-15 = 8,10-12; vgl. Jer 7,10. " So Jer 32,35; 44,4.22; vgl. 7,10. ™ Schulz-Rauch, Hosea, 100 mit Anm. 1. Die Bezeichnung wird im Blick auf das durch von Rad herausgestellte und inzwischen modifizierte heilsgeschichtliche Credo gewählt. ™ Vgl. Rüterswörden, Exegeten, 330-332. Die sg.-Formulierungen in Jer 6,13; 8,10; 14,18; 23,11 sind kollektiv zu verstehen. Zu Jer 18,18 siehe unten III. 1.3.2, S.308f. Die Wendung ОПЛ-'-Ь» ПТ- ist singular. Meist wird ПР von ΠΤ' III hergeleitet (vgl. BHS; Rudolph, HAT, 34). Die punktierte Form verweist auf die Wurzel m n . 6 könnte mit έπικροτέω „an etwas schlagen, Beifall spenden" an ΓΠΊ II (Jdc 14,9) gedacht haben (vgl. aber HALAT, II 11). •'Τ'^ΰ bedeutet in I Chr 25,2; II Chr 29,27 „unter Leitung von, auf Anweisung von"; unklar bleibt angesichts des Suflixes der 3.P. mask.pl., ob die Priester im eigenen Namen oder unter Anweisung der Prophetinnen lehren bzw. herrschen.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m m im Jeremiabuch

heucheln (ηοπ 23,11). Die Prophetinnen werden in Jer 5,31 der lügnerischen Weissagung bezichtigt (КЭЗ nif. + пршз®"). Demgegenüber enthält Jer 23,9-40 Worte gegen (falsche) Prophetinnen: Sie weissagen im eigenen Namen Heil (23,16.21.25), und das heißt in der Perspektive des Buches Lüge (23,26.32), sie laufen, ohne von JHWH gesandt zu sein (23,21) und bringen das Volk vom Weg ab (ЛОТ hif. 23,32). In 23,13-15 werden Fehlleistungen auf die Prophetinnen Samarias und Jerusalems verteilt: Die samarischen weissagen bei Baal und führen das Volk in die Irre (ПГП hif. 23,13'^), während die Jerusalemer Prophetinnen Ehebruch treiben, in Lüge wandeln und die Hände der Übeltäter stärken (23,14). Die Wendung N33 nif. + Ьуэз begegnet neben Jer 2,8 nur in Jer 23,13. Sie ist wie КПЗ nif. + пршп wahrscheinlich eine polemische Analogiebildung zu K3J nif. + т л ' ' DBÍ3 und drückt die fehlende Legitimierung dieser Prophetinnen durch JHWH aus.^' In Jer 26 schließlich werden Prophetinnen und Priester in einer Texterweiterung (26,7*.8*. 11.16) zu Gegnern Jeremias stilisiert, die seinen Tod fordern. ^^ Die Reihung der Stände ist im Jeremiabuch folgendermaßen belegt: Könige -Beamte^® -Priester: Jer 1,18 Könige - Beamte - Priester - Prophetinnen: Jer 2,26; 4,9; 8,1 ; 32,32 Könige - Priester - Prophetinnen: Jer 13,13 -Beamte -Priester: Jer 34,19; vgl. 48,7; 49,3. Die dtr. Herkunft dieser Reihung kann nicht nur anhand der Einzelstellen,®' sondern auch der Übereinstimmung mit der Ämterfolge im Verfassungsentwurf des Deuteronomiums begründet w e r d e n . I m Vergleich zu diesen Standesreihen ist Jer 2,8 ein Sonderfall, da auch die Hirten (Ο'ΊΐΊ) aufgenommen sind, die sonst nur allein begegnen. In Jer 23,1-4 wird den Hirten vorgeworfen, die Herde nicht zusammengehalten, ja vernachlässigt zu haben. Gemeint sind hier, wie 10,21 und 12,10, die Regenten des Volkes." Der späte Vers Jer 3,15 verheißt zukünftige, gute Hirten, die Vgl. die von Jer 6,12-15 abhängige Parallele 8,10-12 (V. lOaß-12 ist MT^), dazu Holladay, Hermeneia 1, 274; Wanke, ZBK, 99. Vgl. noch Jer 23,26 ( КПЗ nif. + npsin) und 27,16 (КЗЗ nif. + ηρϊί). Der Gedanke begegnet auch in Mi 3,5 und wird dort nachträglich mittels der Botenformel als Gotteswort ausgewiesen. Vgl. Wolff, BK XIV/4, 63 f. Aufgenommen wird das Motiv auch in der Texterweiterung Jer 23,32. Vgl. Wanke, ZBK, 216f. '' Zu Recht macht Schulz-Rauch (Hosea, 64-71) auf den Unterschied zwischen den im Jeremiabuch des Prophezeiens hS22 bezichtigten Prophetinnen und den in I Reg 18 genannten ekstatischen Baalsprophetinnen aufmerksam. Siehe oben II. 2.2, S.143f. Zu dieser Übersetzung von Ο-'ΊΒ siehe oben II. 2.3.3, S. 158. Vgl. Thiel, Redaktion I, 83; Herrmann, Prophet, 206f.209f. Vgl. Rüterswörden, Exegeten, 332; zum Verfassungsentwurf Lohfink, Sicherung, 311-313; sowie mit anderer Datierung Rüterswörden, Gemeinschaft, 89-93; ders., Verfassungsentwurf, 313-328. " Die Metapher wird in Jer 6,3 auch auf fremde Herrscher angewendet, die das Gericht an der Tochter Zion vollziehen.

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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vor JHWH Gefallen finden.'^ Der Vorwurf an die n^Vi (2,8), sie hätten mit Gott gebrochen (líttÍB), bleibt unspezifisch, zumal er in Jer 2,29 gegenüber der gesamten Adressatenschaft, in 3,13 gegenüber dem weiblich personifizierten Volk geäußert wird. In Jer 33,8 ist 3 ï ï i s synonym zu Ь Νΐ2Π verwendet und faßt die Vergehen Israels und Judas zusammen. Kann man die Bezeichnung „Hirten" als Metapher für die Könige verstehen, so ist die in Jer 2,8 an zweiter Stelle aufgeführte Gruppe der "'ШЭП Л-ППЛ im Alten Testament singular. Das Partizip Qal von üsn bezeichnet sonst Menschen, die berufsmäßig ein bestimmtes Gerät handhaben, etwa Flöte und Leier (Gen 4,21), Schwerter (Ez 38,4), Bogen (Am 2,15; Jer 45,9), Schild (Jer 46,9), Ruder (Ez 27,29), Sichel (Jer 50,16) oder sich in einem bestimmten Bereich wie dem Krieg (Num 31,27) betätigen. U. Rüterswörden hat zu Recht daraufhingewiesen, daß im Königsgesetz des Deuteronomiums die Tora als ein Buch bzw. eine Rolle erscheint, mithin ein Gegenstand, den man in der Hand halten kann.'' Die meisten Auslegerinnen halten m i n n ''toan für eine zweite Bezeichnung der Priester'" oder denken an eine Untergruppe der Priester als Äquivalent zu •"'ΊΒΟ in Jer 8,8'' bzw. in Analogie zu Jer 18,18.'® Dem zuletzt genannten Beleg zufolge ist die Aufgabe der Priester, Weisung (min) zu geben, während der Weise (üsn) Rat (nsiî) und der Prophet das (Gottes)wort (Ί3Ί) weitergibt. In Jer 18,18 steht die mündliche Botschaft oder Weisung im Vordergrund.Das Verb шап in Jer 2,8 legt jedoch nahe, in seinem Objekt, der Tora, einen Gegenstand zu sehen, so daß die Vorstellung einer schriftlichen Tora(rolle) im Hintergrund steht. Hinzu kommt, daß der bestimmte Artikel m i n als eine bekannte Größe ausweist. Allein in dem dtr. Abschnitt Dtn 31,9-13 werden die levitischen Priester, die die Lade tragen, und die Ältesten Israels beauftragt, die von Mose geschriebene Tora aufzubewahren und alle sieben Jahre öffentlich vorzulesen (ΝΊρ), damit alle Israelitinnen sie lernen (nab pi.) können und alle Worte der Tora tun (mtoüb Ίίΐϊί).'® Diese Aufgabe ist jedoch von der individuellen und mündlichen Toraerteilung seitens der Priester zu unterscheiden. Deutet man m i n n "Шап in Jer 2,8 als Parallelausdruck zu 0''ЗЛЭ, so träfe die Priester wie die Prophetinnen ein doppelter Vorwurf, wobei die Prophetinnen nur einmal genannt sind. Es spricht aber nichts dagegen, die ЛТ1ПЛ ''toan als eigenständige Gruppe zu deuten. Die thematisch parallele Stelle Jer 8,8 f. führt in Verbindung mit ЛПШ Jer 3,14-18 ist jüngster Bestandteil von Jer 3. Vgl. Herrmann, Jeremía 3, 219; Wanke, ZBK, 48; Thiel, Redaktion I, 91: „post-dtr. Zuwachs". Zur Hirtenmetaphorik vgl. noch das mehrschichtige Kapitel Ez 34, dessen Grundschicht V. 1-15*. 17-22* Zimmerli (BK XIII/2, 847) nach 587 datiert und noch Ezechiel zuschreibt. Vgl. Rüterswörden, Exegeten, 333. Dasselbe gilt für II Reg 23,1-3. 9·· So Duhm, KHC, 19; Giesebrecht, HK, 7; Rudolph, НАГ, 16; Wanke, ZBK, 36; Herrmann, BK, 122. So Hyatt, Torah, 386. 'i· So Schreiner, NEB, 19f. Zum redaktionellen Charakter von Jer 18,18 siehe unten III. 1.3.1, S. 307. Vgl. auch den Vorverweis Dtn 17,18 sowie Rüterswörden, Exegeten, 333.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m m im Jeremiabuch

Weisheitslehrer (D-OSn) und Schreiber (DnSD) an.'' Daß in Jer 2,Saß gerade diejenigen, die die Tora handhaben, JHWH nicht erkannt haben, ist ein gewichtiger Vorwurf. Er besagt analog zu Jer 8,8 f., daß die Tora, die Willensoffenbarung JHWHs, nicht angemessen verstanden und ausgelegt wird. Wie Jer 8,8 basiert auch Jer 2,8 auf der Vorstellung von Schriftgelehrten, wie sie in nachexilischen Texten belegt ist.

Aus der kurzen Aussage in Jer 2,8 allein ist weder eindeutig zu erheben, wer die л т п л ''toan sind, noch, welche Art des Umgangs mit der Tora gemeint ist. Aufgrund der sonstigen Verwendung des Verbs toan kann m m einen Gegenstand, ein Schriftstück oder eine Schriftrolle bezeichnen. Zieht man Dtn 31,9 als Parallelstelle heran, so können die Genannten zum Kreis der levitischen Priester gehören, die eine Torarolle aufbewahren und regelmäßig öffentlich vorlesen. Als solche sind sie zumindest Vorläufer des in Neh 8,8 f. genannten Schriftgelehrten Esra und der Leviten, die die öffentlich vorgetragenen Toraabschnitte erläutern. "" Jer 2,8bß führt nicht nur die Anklage der Prophetinnen fort,'°^ sondern kann sich wegen des analogen Vorwurfs an die Väter (V. 5ba) und an das Volk (V. 1 Ib) auf alle genannten Gruppen beziehen: Sie laufen denen nach, „die nichts nützen". Dasselbe Urteil ergeht sonst in polemischer Absicht über F r e m d g o t t h e i t e n o d e r deren Bilder (Hab 2,18), im Jeremiabuch über die (falschen) Prophetinnen (Jer 23,32) und deren Worte (Jer 7,8). Jer 2,IIb konstatiert: „Mein Volk aber hat seine Ehre ( т з э ) eingetauscht gegen solche, die nichts nützen." Als Parallelausdruck zu •''пЬк (V. Ila) ist maD eine Umschreibung für JHWH. Diese Bedeutung ist im Jeremiabuch insofem singular, als sonst die JHWH geschuldete Ehrerbietung (13,16) und im Ausdruck NDD eine Umschreibung für Zion/Jerusalem darstelh (14,21; 17,12)."^ Jer 2,11 liegt näher bei der Vorstellung Ezechiels und der Priesterschrift, die ШЛЭ als „Majestät Gottes, in der er den Menschen erscheint"'"' verstehen. Eine enge Parallele zu

" McKane (ICC. 32) verbindet Jer 2,8 und 8,8 f. bewußt im Anschluß an Rabbi Kimchi. In einer ausführlicheren Studie (Prophets, 102-112) interpretiert er die •'"азп und СПас als Staatsmänner und potentielle Staatsbeamte, deren öffentliche Funktionen freilich nicht eindeutig festgelegt seien. Zur Bedeutung von ISO siehe auch unten III. 1.2.2, S.З(Юf. Vgl. etwa Esr 7,6.11; Neh 8,8 f.; II Chr 17,7-12. Garcia López (ThWAT VIII, 628) in1ефге11еП II Chr 17,7-12 als Hinweis auf die Rolle der Toralehrer zur Zeit des Chronisten. Das Targum versteht Jer 2,8 in diesem Sinne. Volz (K AT, 18) hält die л т п п 'toan für die Vorläufer der nachexilischen Schriftgelehrten. Siehe auch unten III. 1.2.2, S. 301. "" Siehe dazu die ausführlichere Diskussion zu Neh 8,1 ff. unten III. 1.2.2, S. 300 f. 102 Vgl. die Endstellung des Verbs ohne erneute Nennung des Subjekts. Vgl. I Sam 12,21; Jes 44,9f.; 57,12; Jer 16,19. Vgl. Ssb0, THAT I, 747 f. Meist wird т а з als Verbesserung der Schreiber verstanden und ein ursprüngliches Л1ЛГ1 gefordert. Vgl. BHS und Herrmann, BK, 125. "" Vgl. in Jer 48,18 die Aufforderung an die als Frau personifizierte moabitische Hauptstadt, von ihrem 1133 herabzusteigen.

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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Jer 2,11b bietet Ps 106,20. Was Jer 2,11 „Nichtsnutz" nennt, ist in Ps 106,20 „ein Rind, das Gras frißt". Der polemische Ton beider Stellen ist offensichtlich. Er wird in Jer 2,11 aß durch die Aussage gestützt, die Gottheiten der Völker seien im Grunde keine (vgl. Jer 16,20).'°^ Das Motiv des Göttertausches wird in V. 13 durch die Metaphorik von Quellen, Wasser und Zisternen abgelöst. Die Vorstellung einer Quelle lebendigen, das heißt, fließenden Wassers begegnet noch in Jer 17,13 im Rahmen eines Gebetes, das die Quelle mit JHWH identifiziert. Der Ausdruck D"n D^D nipD in Jer 2,13 wurde wahrscheinlich aus •"Π Ίίρα und D^nfH) D'O gebildet.

Die in Jer 2,8-13 getroffenen Aussagen sind wie Jer 10,2-10'" und 16,19f."^ zur Götzenpolemik zu rechnen. Analogien in Sprachgebrauch und Vorstellungen finden sich sonst vor allem in deuterojesajanischen Texten."^ Vergleichbar mit Dtjes ist auch die völkerumgreifende Perspektive, die in Jer 2,10 mit den Inseln der Kittäer - dem im äußersten Westen lebenden Volk - und den Kedarenem - den Nomaden im äußersten Osten - zum Ausdruck kommt. 1.1.3 Redeformen in Jer 2,4-13 Aufgrund des doppelten Vorkommens von 3"'"i in Jer 2,9'"* wird Jer 2,4ff. gelegentlich den Redeformen des Rechtslebens zugeordnet. H. J. Boecker versteht Jer 2 , 5 - 9 als „Appellationsrede des Angeschuldigten'"". "" Westermann, THATI, 811. Gegen DeRoche (Israel's Two Evils, 369-371) ist in Jer 2,13 die Metapher der Quelle nicht sexuell konnotiert wie in Prov 5,15-20. Zwar begegnet Ehemetaphorik im weiteren Kontext von 2,13. Allerdings impliziert die Deutung DeRoches einen sonst niigends belegten ,Rollentausch': Israel als untreuer Ehemann, JHWH als verlassene Ehefrau. Ähnliche Kritik äußert Liwak, Prophet, 163. Vgl. Ps 36,10; Prov 10,11; 13,14; 14,27; 16,22. 1'° Vgl. Lev 14,5.50-52; 15,13; Num 19,17 sowie Sach 14,8; in Gen 26,19 und Ct 4,15 findet sich D"n DO ΊΚ3. © bietet für Jer 10,6-8.10 kein Äquivalent. Das Qumranfragment 4QJer'> weist auf eine Abfolge von V. 4.9.5.11 hin. Vgl. Janzen, Studies, 181 f. Zur Wirkungsgeschichte von Jer 10,2-10 in der apokryphen Epistula Jeremiae vgl. Weippert, Schöpfer, 35 f. Das Gebet eines Einzelnen Jer 16,19 f. kann im jetzigen Kontext als Heilsankündigung verstanden werden, die an die Götzenpolemik von V. 18 anschließt. Es ist aufgrund seiner die Völker umgreifenden Perspektive und seiner monotheistischen Gottesvorstellung als nachexilische Ergänzung zu beurteilen. So mit Rudolph, HAT, 113; Thiel, Redaktion I, 200f. (postdtr.); Wanke, ZBK, 162. Vgl. Jes 40,19f.; 41,6f.; 44,9-20; 45,20; 46,6f.; 48,5 und Hab 2,18f. "" Vgl.zum sog. rîb-pattem Gemser (Controversy-Pattern, 120-137,bes. 131)unddie von ihm genannten Stellen Jes 1,18-20; 3,13-17; 5,1-2.3-7; Jer 2,5ff.; 50,33-40; Hos 2,4ff.; 4,1-3.6-12; 12,13-15; Mi 5,1-5. Westermann (Grundformen, 143) bezeichnet diese Form als „Rechtsverhandlung" mit der Funktion der szenischen Einkleidung der Gerichtsankündigung gegen Israel. Boecker, Redeformen, 54. Als weitere Beispiele nennt er Gen 44,7f.; Jdc 11,12-27; I Sam 24,10-16; Jes 43,22-28. Ihm folgt Diepold, Land, 112. McKane (ICC, 33) zufolge entfaltet die Rede eine Anklage gegen Israel.

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Verwendung und Funktion d e s Begriffs m i n im Jeremiabuch

Ihr f o l g e in 2 , 1 0 - 1 2 e i n e G e g e n - A n k l a g e mit Anrufung der Z e u g e n und Richter."® J. Schreiner charakterisiert Jer 2 , 5 - 8 als Z u r ü c k w e i s u n g der A n k l a g e , 2 , 9 - 1 1 als G e g e n k l a g e und 2 , 1 2 f . als Anrufung der Z e u g e n . ' "

Beide Exegeten übersehen jedoch, daß in Jer 2,5-9 die Gruppe der Angeklagten sukzessive ausgeweitet und eine Auseinandersetzung angekündigt wird, die bis zur Generation der Enkel andauert (V. 9). Die Aufforderung an die Himmel (2,12 f.) ist inhaltlich eine Aufforderung zur emotionalen Äußerung und gerade nicht zum neutralen Urteil."^ So übernehmen die Himmel stellvertretend die Reaktion JHWHs, der über das Verhalten seines Volkes entsetzt ist. JHWH hat gleichzeitig die Rolle des Beschuldigten, Anklägers und Richters inne. Die Aufforderung an die Adressatinnen in 2,10f. ist in ihrer Funktion dem Disputationswort v e r g l e i c h b a r . J e r 2,5-13 ist daher gegen Boecker nicht der in die Prophetie übernommenen Gattung des Rechtsstreits zu subsumieren.'^" leitet in V. 9 keine Gerichtsankündigung ein, wird also gattungsuntypisch verwendet. Insgesamt stellt Jer 2,4-13 eine schuldaufweisende Rede mit integriertem Geschichtsrückblick (V. 5-9) dar. Die eigenständige Textform unterstreicht, wie die traditionsgeschichtlichen Ergebnisse, den redaktionellen Charakter des Abschnitts. 1.1.4 Zur Datierung von Jer 2,4-13 Die meist im Rahmen von 2,1-4,2 erarbeiteten Datierungsvorschläge für Jer 2,4-13 reichen von der Frühzeit Jeremias'^' über die Endphase der Regierungszeit Joschijas'^^ bis zur exilischen Zeit.'^^ W. Thiel w e i s t in Jer 2 aufgrund des Sprachgebrauchs nur V. 5 b . 2 0 b . 2 6 b der dtr. Redaktion zu.'^'* D i e s e r e x i l i s c h e n Bearbeitung habe die S p r u c h s a m m l u n g von Jer 2 - 6 s c h o n w e i t g e h e n d in der j e t z i g e n Gestalt vorgelegen. Im Kontrast dazu f o l g t R. R Carroll der T h e s e B. D u h m s , w o n a c h Jer 2 , 4 - 1 3 insgesamt den dtr. R e Vgl. Boecker, Redeformen, 80f. Diese Rollenvermischung hält Boecker gerade in der Ortsgerichtsbarkeit für verbreitet. Vgl. Schreiner, NEB, 18. Mit McKane, ICC, 34; Herrmann, BK, 126. ' " Zur Berührung von Rechtsverhandlung und Disputationswort vgl. Westermann, Grundformen, 144. Zur im Jeremiabuch noch häufiger belegten Verbindung von Aufruf und Frage vgl. Schmidt, Aufrufe, 227-238. Der Aufruf, sich selbst von einer Sache zu überzeugen, begegnet auch in der dtr. Tempelrede Jer 7,12. Er mündet dort jedoch nicht in eine rhetorische Frage, sondern dient der Verstärkung der Gerichtsdrohung. Siehe dazu oben II. 1.2.3, S. 89. Ähnlich Westermann, Grundformen, 143. Holladay (Hermeneia 1, 73) bestimmt Jer 2 , 4 - 9 als „a prophetie oracle using the terminology of a lawsuit". Vgl. Hyatt, Torah, 385; Albertz, Frühzeitverkündigung, 20-27; Rudolph, HAT, 10; Diepold. Land, 110; Holladay, Hermeneia 1, 2; Schreiner, NEB, 6. Vgl. Liwak, Prophet, 185; Herrmann, BK, 107. I" Vgl. Carroll, OTL, 116. McKane (ICC, LXXXIX) hält Jer 2 für undatierbar. '2" Vgl. Thiel, Redaktion I, 80-83.

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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daktoren zuzuschreiben sei.'^^ Carroll begründet dies für Jer 2,5-9 mit dem Bezug auf die Väter, der sich sonst in dtr. Prosareden finde, und mit der zu diesen Reden analogen Form. S. Herrmann hält nur Jer 2,6aß-7 für einen prosaartigen, dtr. geprägten Einschub über Wüstenwanderung und Landnahme. Nun ist die bildreiche Charakterisierung von in V. 6aß zwar im Kontext auffällig, ein literarkritischer Bruch zwischen V. 6aa und V. 6aß ist jedoch nicht zu begründen. Im Gegensatz dazu läßt sich V. 7 als Nachtrag erweisen, da über die Zäsuren zwischen V. 6/7 und V. 7/8 hinaus auch der Sprachgebrauch von V. 7 weitgehend singulär im Jeremiabuch ist. M. E. Biddle rechnet Jer 2,4-13 neben 2,26-32 zur „,Generations' Redaction", die die Anklage und den Adressatenkreis ausweite. Die unterschiedslose Behandlung aller Generationen Israels und die Polemik gegen Fremdgottheiten gehen nach Biddle über den dtr. Schuldaufweis hinaus und bringen Elemente später Texte des Jeremiabuches ein, so daß er beide Textabschnitte als postdtr., nachexilische Erweiterungen beurteilt. In dieselbe Richtung weist die Analyse T. Römers, der Jer 2,5-9 wegen einer Ausweitung des Väterbezugs von der Exodus- auf die Landnahmegeneration einer zweiten dtr. Bearbeitung zurechnet.'^' Allerdings erfolgt diese Ausweitung gerade durch den sekundären Vers 2,7, so daß die Verse Jer 2,5-6.8-9 durchaus zu den sonstigen dtr. Väterbelegen passen. Vor dem Hintergrund dieser Thesen und der traditionsgeschichtlichen Ergebnisse ist Jer 2,4-13 als eine frühestens exilische Komposition zu deuten. Mit Ausnahme von V. 7 bildet Jer 2,4-13 einen kunstvoll strukturierten, literarisch einheitlichen Text mit kohärenter Gesamtperspektive. Der Sprachgebrauch ist in einigen Passagen singulär (2,5a*. 1 la) und steht in anderen Teilen redaktionellen Jeremiatexten (Jer 2,6b vgl. 51,43; 2,13 vgl. 17,13) oder Aussagen aus dem dtr. Schrifttum (V. 5b vgl. 11 Reg 17,15; 2,6aß vgl. Dtn 8,15; II Reg 17,7) nahe. Die Reihung der Stände stimmt weder mit derjenigen in authentischen noch mit derjenigen in dtr. Texten des Buches überein. Jer 2,5-9* präsentiert einen mit den Vätern der Exodusgeneration einsetzenden Geschichtsrückblick, der die Vergehen der gesellschaftlich relevanten Gruppen einzeln aufzählt. Er mündet in eine Streitrede JHWHs, der dem Volk vorwirft, ihn verlassen zu haben und nichtigen Gottheiten gefolgt zu sein (2,9-13). Während der Geschichtsrückblick dtr. Vorstellungen naVgl. Duhm, KHC, 17. Zur Begründung führt er das Fehlen des jeremianischen Metrums und den dtr. Charakter in Sprache und Anschauungen an. 126 Vgl. Carroll, OTL, 123 f. Vgl. Herrmann, BK, 122. '28 Vgl. Biddle, Redaction History, 122-133. Er folgt Herrmann in der Annahme, daß Jer 2,6b-7 ein späteres 1пСефге1атеп1 sei (a.a.O., 123). Eine vergleichbare Polemik bieten Jer 10,1-16; 16,19f., aber auch Dtn 4,28.35; 27,15; II Reg 17,15. 130 Vgl. Biddle, Redaction History, 135-154. Er schließt sich der These Roses an, derzufolge ein monolatrisches Verständnis des Ausschließlichkeitsanspruchs in dtn./dtr. Tradition von einem monotheistischen in jüngerem dtr. Material aus nachexilischer Zeit zu unterscheiden ist. Vgl. dazu Rose, Ausschließlichkeitsanspruch, 146-156. Vgl. Römer, Väter, 403-406.487.

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Verwendung und Funktion d e s Begriffs m i n i m Jeremiabuch

besteht und die Väterthematik Parallelen in dtr. Prosareden hat,'^^ zeigt die Polemik gegen Fremdgottheiten - wie deren nächste Parallelen Jer 10,1-16 und 16,19 f. - und eine die Völker umgreifende Perspektive deuterojesajanisches Kolorit. Insgesamt ist der Text einer auf die dtr. Redaktion folgenden Bearbeitung zuzuweisen, die den dtr. Geschichtsrückblick und den Vorwurf der Fremdgottverehrung zuspitzt. Die fiktionale Situierung der Rede in die vorexilische Zeit und die Vorstellung des Streitens JHWHs bis in die dritte G e n e r a t i o n w e i s e n auf eine Abfassung in der fortgeschrittenen exilischen Zeit hin. In dieselbe Zeit weist der Vorwurf einer falschen Handhabung der ЛПП, der voraussetzt, daß diese in Form einer Schriftrolle vorlag. Die Texterweiterung in V. 7 schließlich, die die Landgabe betont und mit dem Stichwort „verunreinigen" eine priesterlich-kultische Kategorie einbringt, spiegeh die Erfahrung der Rückkehr in das den Vätern verheißene Land und damit eine nachexilische Situation. 1.2 Toraauslegung versus Prophetenwort - Jer 8,8 8a 8b 9a 9b

W i e könnt ihr sagen: „Weise sind wir, und'''' die Tora J H W H s ist bei uns." Ja, siehe, zur L ü g e m a c h t ' " der Lügengriffel Schreiber. B e s c h ä m t stehen W e i s e da, sind bestürzt und g e f a n g e n . S i e h e , das Wort J H W H s haben sie verachtet, und w e l c h e Weisheit haben sie (noch)?''*

1.2.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung In Jer 8,4-9,25 finden sich nach Form und Inhalt differierende Sprüche, deren Zusammenstellung aufgrund von Stichwortanknüpfung erfolgte. Von der ,Tempelrede' Jeremias ist 8,4ff. im Masoretischen Text durch einen erZu Jer 7,22f. und 11,4 siehe oben II. 1.3.2.4, S. 107-109. Vgl. Dtn 5,9 und die Textkritik zu Jer 2,9b, oben S. 286, Anm. 28. Die Kopula kann begründend verwendet werden, vgl. Brockelmann, Syntax, 134, § 135b sowie Ps 60,13. Die Versionen bieten jedoch keinen Hinweis auf eine solche Nuancierung. In BHS wird vorgeschlagen, Πϊ!» zu lesen, so daß ПЧЛ·' m m als Objekt von ЛШ5? erscheint. So auch Duhm, KHC, 88; Weiser, ATD, 70; Rudolph, HAT, 60; McKane, ICC, 186; Klopfenstein, Lüge, 132; Carroll, OTL, 228; Wanke, ZBK, 97. Diese Lesart ist jedoch durch © nicht gedeckt, die die Konstruktion des MT übernimmt und D n s o als Dativobjekt versteht. © und Vulgata übersetzen лва passivisch. Nach MT ist D^DO direktes Objekt, und wie das folgende •"'азп indeterminiert. © faßt die Schreiber als Dativobjekt auf, während die Vulgata ein Possessivverhältnis annimmt. Diese Bedeutung von ЛэЬ nif. wird durch ® und Vulgata gestützt, vgl. noch Jer 6,11; 51,56; Hi 36,8; Thr 4,20; Koh 7,26. ™ © liest wie MT den letzten Satz als Frage, während die Vulgata übersetzt: et sapientia nulla est in eis. In BHS wird vorgeschlagen, ОЛИрП·) anstelle von ЛО'ПОЭт zu lesen, also eine Dittographie im MT angenommen. Weder © noch Vulgata aber bieten ein Äquivalent für das Sf. ™ Vgl. den Überblick bei Rudolph, HAT, 60.

Vertrauen auf die Tora-Jer 2,8; 8,8; 18,18

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neuten Redebefehl und die Botenformel abgesetzt.'"" Auch stilistisch ist 8,4 ff. durch seine poetische Diktion und einen Themen Wechsel von der Verheißung in 8,1-3 zu unterscheiden. Die Botenformel in 8,4 weist das Folgende als Gottesrede aus, während das Ich in V. 6 und "Όΰ in V. 7 eine Prophetenrede v o r a u s s e t z e n . D i e Stilisierung als Gottesrede könnte daher auch sekundär sein. Den nächsten Einschnitt bildet der Beginn eines längeren Zitates der Adressatinnen (8,14f.). Es ist den angstvollen Schreien der Bevölkerung wegen des herannahenden Feindes in Jer 4 und 6 vergleichbar. In 8,16f. folgt eine Feindankündigung JHWHs. In 8,18-23 schließlich klagt der Prophet über den Zusammenbruch der "'ПИ ПЗ. Innerhalb von Jer 8,4-13 begegnet in V.4aß-9 ein Disputationswort, das mit Hilfe rhetorischer Fragen, Vergleichen aus der Tierwelt und einem Adressatenzitat (V. 8a) die Schuld der vorexilischen Generation aufweist. In V. 10 setzt, angezeigt durch p b , eine Gerichtsankündigung (V. 10-13) ein. Innerhalb dieser erweist sich V. lOaß-12 aufgrund des Fehlens in der Septuaginta und der fast wörtlichen Übereinstimmung mit Jer 6,13-15 als später Nachtrag in der hebräischen Textüberlieferung. Die Mehrzahl der Auslegerinnen trennt 8,8 f. von 8,4-7.10, da in 8,8 f. die Weisen adressiert werden, im Kontext aber das Volk als Ganzes. Hinzu kommt, daß die Gerichtsankündigung in V. 10 schlüssig an V.4-7 anknüpft und kaum thematische Berührungen mit dem Kontext aufweist. Angesichts der Disparatheit der Einzelabschnitte in Jer 8,4-9,25 ist Jer 8,8 f. somit als eigenständiger Spruch zu betrachten. 1.2.2 Traditionen in Jer 8,8 f. Zwar bezeichnet B. Duhm das „Gedicht" 8,8-13 als „eins der wichtigsten im Buch Jeremia'""^. Seine Bedeutung ist jedoch äußerst umstritten, da die "" © bietet nur die Botenformel und repräsentiert den ursprünglichen Text. Siehe oben 11.1.1.1,5.56. So mit Rudolph, HAT, 60; Bright, AncB, 65; Wanke, ZBK, 97. So mit Weiser, ATD, 73; Holladay, Hermeneia 1, 275. Durch den sekundären Vers 19b wird das klagende Ich jedoch mit JHWH identifiziert. V. 19b unterbricht den Zusammenhang und ist in Anlehnung an Jer7,18 redaktionell zugefügt. So mit Rudolph, HAT 62; McKane, ICC, 194; Wanke, ZBK, 103. Janzen (Studies, 95 f.) nimmt aufgrund der orthographischen Differenzen eine differenzierte Entstehungsgeschichte für die Dublette an. Die Texterweiterung kommt durch Vergleichbarkeit der Gedanken von 6,12 und 8,10aa zustande. Sie knüpft an 8 , 8 f an, und bietet analog zu 8,9 im Anschluß an das Gegnerzitat eine 3. R pl. Perf.-Form des Verbs hif Vgl. Rudolph, HAT 61; McKane, ICC, 187; Caroli, OTL, 228; Wanke, ZBK, 98. Duhm (KHC, 90) und Hyatt (Torah, 382) verbinden 8,8f. mit 8,13. Volz (ΚΑΤ, 76) rechnet 8 , 8 f zu 6,1 Ib. 12.13-16 und behandelt beide Textstücke zusammen als eine Einheit. I« Die einzige Stichwortparallele zu ΠΙΠ·· m m in V. 8a ist ΠΙΠ·- ВаШП (V. 7b). Das reicht freilich für die Annahme einer ursprünglichen Verbindung beider Verse nicht aus. I« Duhm, KHC, 88.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

Kürze der Diktion und der Mangel an Informationen aus dem Kontext die Deutung der Aussagen erschweren. Die häufig vorgenommene Konjektur in V. 8b (ПШУ legt die Interpretation bereits in eine bestimmte Richtung fest: Demnach würden die Schreiber oder S c h r i f t g e l e h r t e n m i t ihrem Griffel die Tora JHWHs verfälschen.'^" Dabei ist der Masoretische Text durchaus verständlich und wird durch die Septuaginta gestützt. Der Griffel steht metonymisch für die Tätigkeit der DnSD,''' die sich als trügerisch und falsch erweist.''^ Diese Tätigkeit macht zugleich die D"'nao selbst zu Lügnern. Der Titel Ί20 bezeichnet seit der Königszeit ein hohes Staatsamt,'" dessen Aufgaben zwar im Alten Testament nicht deutlich genannt sind, in Analogie zu Verhältnissen in Ugarit und Alalach jedoch Kanzleiverwaltung, Traditionspflege und das Verfassen von Schriften historiographischen Inhalts umfaßt haben können."" Erst für die nachexilische Zeit ist nSD im Sinne eines Bewandertseins in den heiligen Schriften belegt und zwar für Esra, der in in Esr 7,6ff.; Neh 8,1 ff. trotz seines Priesterberufs als ein ΊΕΟ hervorgehoben wird. R. Rendtorff deutet die aramäische Titulatur in Esr 7,12-26 als persischen Beamtentitel,'der in einer Texterweiterung (Esr 7,6.11) mit dem in Neh 8,1.4.9 beschriebenen Esrabild verbunden werde. Erst Esr 7,6.11 bringe die Deutung des Titels als „Schriftgelehrter" mit sich, da nur diese beiden Belege eine Verbindung zu m i n bzw. Tn^SD mn·' herstellten. ' " Demgegenüber betont T. Willi, daß die aramäische Titulatur Esras nicht von der hebräischen getrennt werden könne und daß Ί20 „nicht in erster Linie ein ,Schreiber' oder ,Sekretär' im technischen Sinn des Worts" sei, „sondern ein Schrift- und Bücherkundiger, ein ,Literat', ein literarisch Gebildeter"'^'. Willi zieht für diese Begriffsbestimmung vor allem die Erzählung Neh 8,1 ff. heran, in der Esra die Buchrolle der Tora Moses (ΠϊίΏ ΓΠΙΠ Ί30) herbeibringt, sie auf einer Holzbühne (8,4) verliest, wobei die Leviten ihm zur Seite stehen und das Volk in der Tora „einsichtig machen" (minb ΟΓΓΙΤΙΧ •''ГЗП О'чЬлт 8,7). Am Tag danach wird er als Ίεο von den Volksvertretem, Priestem und LeSiehe die Textkritik oben S. 298. Vgl. die griechische Übersetzung mit γραμματείς. Die unreflektierte Übernahme der in Jer 8,8 f. geäußerten Meinung führt zu den bekannten Antijudaismen in der Beurteilung dieser Schriftgelehrten. Vgl. nur Duhm, KHC, 88f ; Weiser, ATD, 71 f Die meisten älteren Ausleger denken an Neuschöpfungen von Gesetzen durch die Schreiber. Vgl. Giesebrecht, HK, 55; Duhm, KHC, 89; Volz, ΚΑΤ, 77. •51 So mit Klopfenstein, Lüge, 136. So mit Schenker, Tafel, 73 f Vgl. die Beamtenlisten II Sam 8,17; 20,25; I Chr 18,16, die Erwähnung einer „Halle des Schreibers" in Jer 36,12.20.21 sowie die Siegelfunde mit dem Titel nson (vgl. Rüterswörden. Die Beamten, 8). Vgl. Rüterswörden, Die Beamten, 85-89. •55 Obwohl Esra häufig den Priestertitel trägt (Esr 7,12.21; 10,10.16; Neh 8,2; vgl. den Doppeltitel ΊΕΙΟΠ ]ЛЭЛ in Esr 7,11; Neh 12,26), fehlen ihm alle Kennzeichen eines in Jerusalem amtierenden Priesters. Vgl. dazu Willi, Juda, 105. Diese These geht auf H. H. Schaeder zurück, vgl. Willi, Juda, 106 mit Anm. 166. '57 Vgl. Rendtorff, Esra, 181-183. Ihm folgt Niehr, ThWAT V, 927 f. '58 WiUi, Juda, 197.

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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viten aufgesucht, um zum Verständnis der Tora anzuleiten СПЗтЬк ^''ПШлЬ г т п п 8,13). Demnach ist die Aufgabe eines Ί20, ein Schriftstück aufzubewahren, zu konsultieren, öffentlich vorzutragen und seinen Inhalt zu inteφretieren. Ein weiterer Beleg bezeichnet in einer Liste den Beamten Jonatan (I Chr 27,32) als „schriftkundig" (ΊδίΟ par. zu p v und рзп Щ-'К). Schon В. Duhm hat die onsD in Jer 8,8 über die Tätigkeit des (Ab)schreibens heiliger Schriften hinaus als „Schriftsteller, Männer des Buches, [...] die [...] sich mit geschriebener Thora befassen" verstanden. Der Plural o n s o begegnet neben Jer 8,8 nur zur Bezeichnung mehrerer Staatsschreiber (I Reg 4,3) oder des gesamten Berufsstandes (I Chr 2,55; II Chr 34,13). Der Griffel des Schreibers wird über Jer 8,8 hinaus ansonsten noch Ps 45,2 erwähnt, wo der Titel ТЛО Ί20 den schnellen oder geschickten Schreiber meint."' Auffallend ist also in Jer 8,8 die Pluralform, die offensichtlich den gesamten Berufsstand diskreditieren soll, also nicht nur gegen einen amtierenden Inhaber des hohen Staatsamtes gerichtet ist. Der Vorwurf der lügnerischen Ausübung ihrer Tätigkeit ( n t o + wird im Jeremiabuch nicht nur gegen die о л а о , sondern vor allem gegen die Prophetinnen und Priester erhoben (Jer 6,13 = 8,10; 20,6).'" Auch das Volk selbst wird der Lüge (Jer 9,2.4), des falschen Schwures (пршз Ì32W nif. 5,2; 7,9) oder des Vertrauens auf entsprechende Worte und Taten 03,25; 28,15; 29,31) angeklagt. Jer 8,8 bezichtigt somit den Berufsstand der D''nao der falschen Ausübung seiner Tätigkeit, die eigentlich auf das Verstehen der Tora ziele. Die in Jer 8,8 genannten Schreiber werden analog zu den in Jer 2,8 genannten л т п л ^íüsn, die doch JHWH nicht kennen, beurteilt. Obwohl kein expliziter Zusammenhang zwischen 8,8a und 8,8b hergestellt wird und die α·'Ώ3Π und D"'"iSD nicht ausdrücklich miteinander identifiziert werden, ist die Bezeichnung D^SO mit Blick auf die in V. 8a genannte Л1Л'' m i n als „schriftkundig" zu inteφretieren. Eine Verbindung zwischen dem Lehren des Gesetzes (ЛйЬ pi. + D'^asttÌDI D''pn) und „weise sein" wird noch Dtn Vgl. Wüli, Juda, 108. Duhm, KHC, 88. Ihm folgt Hyatt, Torah, 384. Vgl. auch Giesebrecht, HK, 54; Volz, ΚΑΤ, 77. Vgl. zu den unterschiedlichen Ableitungen sowie zur Verbindung des Titels Т'ЛП Ί30 mit Esr 7,6 Willi, Juda, 106, Anm. 163; Niehr, ThWAT V, 928. Der Ausdruck ЛршЬ hat 10 Belege, davon fünf im Jeremiabuch. Er wird von © entweder mit έπ' άδίκψ oder mit έπΙ φεύδεσιν wiedergegeben, nur in Jer 8,8 bietet ® είς μάτην. Aufgrund dessen übersetzt Weinfeld (Deuteronomy, 160) "Ipob in Jer 8,8 mit „in vain", „to no purpose". Der Verweis auf einen analogen Gebrauch von ЛршЬ I Sam 25,21 trägt insofern nicht, als an dieser Stelle © είς άδικον bietet. Vgl. die häufig gebrauchte Wendung xn: nif + Ίρϊίί^/Π) in Jer 5,31; 14,14; 23,14.25.26. 32; 27,10.14.15.16; 29,9.21.23; zum Sprachgebrauch Weippert, Prosareden, 110-118. Klopfenstein (Lüge, 123) versteht diese Wendung als umfassende Bestreitung der prophetischen Legitimation. Ähnlich Holladay, Hermeneia 1, 282. Nach Weinfeld (Deuteronomy, 158) bezeichnen beide Begriffe dieselbe Gruppe, deren Auftreten er in die hiskijanische Zeit einordnet (a.a.O., 162).

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im J e r e m i a b u c h

4,5 f. hergestellt. Demnach macht die Einhaltung der von Mose gelehrten Rechtssätze und -bestimmungen die Israelitinnen zu einem in den Augen der anderen Völker weisen und verständigen Volk. In Koh 12,9 f. schließlich wird die Tätigkeit des Weisen als Lehre (оаЛ'ПК ЛУТПаЬ), Forschung (npm ]TN1) und Schriftstellerei (D'^bttíü ]рл) entfaltet. Jer 8,8 f. zielt auf eine Entgegensetzung zwischen schriftlicher Tora (V. 8a) und mündlichem, durch den Propheten übermitteltem JHWH-Wort (V. 9 b ) : „ [ F ^ a l s c h verstandene törä steht hier recht verstandenem dabar e n t g e g e n . " E s geht folglich nicht um eine Kontrastierung der Tora an sich mit dem Wort JHWHs,'®' sondern um den Widerspruch zwischen einer bestimmten Auslegung der Weisung JHWHs und seinem aktuell ergehenden Wort. E x k u r s : Z u r B e d e u t u n g von m i n D e r B e g r i f f m m hat im Alten Testament eine Fülle von Konnotationen und entwickelte sich z u m Oberbegriff für den Pentateuch.'™ N a c h einer P h a s e kontroverser Diskussion über die Herkunft des Begriffs wird seine Verbindung zu ЛТ" hif. heute wieder stärker gesehen und m i n mit .Erziehung, B i l d u n g ' oder . L e h re, W e i s u n g ' wiedergegeben.

Zumindest drei Verwendungsbereiche sind von-

einander zu unterscheiden, aus denen sich bisher keiner definitiv als Ursprungsort erweisen ließ, so daß eine Entwicklung des Begriffs nicht nachgezeichnet werden kann: so bezeichnet ЛПП die mündliche Unterweisung von Vater und M u t t e r ' " ebenso wie die mündliche priesterliche B e l e h r u n g d a s

schriftlich

Dtn 4 , 5 - 4 0 ist frühestens exilisch zu datieren (vgl. Braulik, Dtn I, N E B , 38 f.) und traditionsgeschichtlich als spätdtr. oder nachdtr. einzuordnen (Nielsen, HAT 1/6, 55). So auch die meisten Auslegerinnen, vgl. Rudolph, HAT, 61 ; Weiser, ATD, 72; McKane, ICC, 186; Carroll, OTL, 229. Klopfenstein, Lüge, 135 (Hervorhebung im Original). So Hyatt, Torah, 384; Rüterswörden, Exegeten, 334. Für Crüsemann (Tora, 7) ist ГП1П „ein biblischer Zentralbegriff, den zu rezipieren die christliche Theologie gerade erst begonnen hat". Vgl. das ausführiiche Referat bei Östbom, Törä, 4 - 2 2 . Östbom selbst betont die B e deutung „instruction" und die Konnotation „showing the way". Willi (Juda, 9 5 ) erklärt m i n als ein mit t-Präfix gebildetes Verbalnomen der Wurzel m·· III und betont aufgrund des ausschließlich im hif. gebrauchten Verbes den kausativen Aspekt auch des Verbalnomens. Zur Deutung von m i n als ,Erziehung, Bildung' oder ,Lehre, Weisung' vgl. Liedke/Pedersen, THAT II, 1032; Garcia López, ThWAT VIII, 5 9 9 f (zur Verteilung der 2 2 0 Belege, 6 0 0 - 6 0 2 ) . S o i n weisheitlicher Tradition, vgl.Prov 1,8; 6,20; 31,26 (Mutter); 4,1 f.; 7,2; 13,14(Vater bzw. Lehrer). Dies wird aus Stellen wie Dtn 33,10; Jer 18,18; Ez 7,26; Hos 4,6; Mi 3,11; Zeph 3,4; Mal 2,8 erschlossen. Schunck (Tora-Begriff, 2 4 4 - 2 4 7 ) hält das Verständnis von m i n als mündliche priesterliche Lehre für das ursprüngliche. Zur Differenzierung der These J . B e grichs über die Priestertora vgl. aber Liedke/Pedersen, THAT II, 1035-1038; Willi, Juda, 93. Willi weist u. a. darauf hin, daß die von Begrich als älteste Beispiele angeführten Stellen (Jes 1 , 2 0 - 3 0 ) aus prophetischen Texten stammen, der Begriff m i n in kultischen Texten gerade nicht signifikant häufig ist und ein ausdrücklicher Bezug auf kultische Dinge erst in nachexilischen Texten (Hag 2 , 1 0 - 1 4 ; Mal 2 , 1 - 9 ) belegt ist.

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niedergelegte Gesetzeskorpus "" und schließlich auch ein kultisches Einzelgebot. T. Willi betont den mündlichen und kommunikativen Charakter von m i n : „ΠΊίη ist ein Formal-, kein Materialbegriff; er meint primär einen Vorgang, nicht das Produkt; das Zustandekommen, nicht das R e s u l t a t . " W i l l i wendet sich mit dieser Deutung gegen ein Verständnis von m m als „Gesetz""'' oder „Recht" m m sei nur deshalb zur Bezeichnung des Pentateuch geworden, weil die Priesterschrift m m in einem einzigen großen Lehrvorgang aus der Schöpfung und aus der Geschichte erhoben habe."' Gegen Willis Betonung des dynamischen Aspekts von m m ist aber festzuhalten, daß etwa in den dtr. Rahmenkapiteln des Deuteronomiums der Ausdruck m i n auch material Rechtsbestimmungen und Gebote bezeichnet: Die in Dtn 4,8 und 4,44 genannte m m enthäh die D-'üSÖai D ^ n , die Dtn 5,1-26,16 umfassen.'^" Die spezifische Bedeutung „Gesetz" hat sich G. Östbom zufolge aus dem Parallelgebrauch von m m und ·]ΊΊ zur Charakterisierung des Gotteswillens im Deuteronomium herausgebildet. Die Rede vom Aufschreiben der ΓηΐΠΓΓ''ΊαΊ, die beobachtet und getan werden sollen, unterstreicht den Gesetzescharakter von m m . Deren schriftliche Fixierung wird durch den Ausdruck m m n ISO akzentuiert. In diesen Fällen, die sich mit Stellen aus anderen Schriften leicht vermehren ließen,'®^ liegt ein Verständnis von m m als schriftlich fixierter Größe vor, die freilich nicht in einzelne Rechtsbestimmungen aufzulösen, sondern als Abstraktion des umfassenden Gotteswillens zu verstehen ist. ™ Vgl. Liedke/Pedersen, THAT II, 1033 f. Zu den Vorkommen von min in den Rahmenteilen des Dtn vgl. Braulik, Ausdrücke, 36-38. Schunck (Tora-Begriff, 250) spricht in diesem Zusammenhang im Anschluß an von Rad und Tannert von „Willensoffenbarung" JHWHs. Vgl. Ex 12,49; Num 5,29f.; 6,13.21; 15,16.29; Lev 6,2.7.18; 7,1.11.37; 15,32 sowie Schunck, Tora-Begriff, 252 f. Schunck spricht aufgrund dieser Variationsbreite von m i n von einem „mehrfachen Bedeutungswandel" des Begriffs (a.a.O., 243). Plausibler ist jedoch die Annahme, daß ГП1П von Beginn an nicht auf einen Gebrauch festgelegt war. So auch Östbom, Törs, 22. ™ A.a.O., 99. So die traditionelle christliche Deutung, die freilich durch die häufig als Antonyme aufgefaßten Begriffe Gesetz und Evangelium den Inhalt des hebräischen Begriffs m m verzerrt. Zu Recht betont Crüsemann (Tora, 8), daß n u n die Einheit von Gesetz und Evangelium, die Einheit von göttlichem Wort und Willen impliziere. П8 Vgl Willi, Juda, 94. Die Bedeutung „Recht" begegnet bei Kaiser, Grundlegung, 300. Abschnitt 4 „die Tora" beginnt mit Ausführungen über die „Theologisierung des Rechts im Alten Testament". I" Vgl. Willi, Juda, 101. So Braulik, Ausdrücke, 36f. Vgl. noch Dtn 33,10. Vgl. Östbom, Törä, 35 f. '82 Vgl. Dtn 27,26; 28,58; 29,28; 31,12; 32,46. So mit Braulik, Ausdrücke, 37. Vgl. Dtn 28,61; 29,20; 30,10; 31,26 und im dtr. Königsgesetz 17,18f. sowie die Hinweise auf das Aufschreiben durch Mose Dtn 31,9.24. '85 Vgl. nur die Rede von т ш л nsD in II Reg 22,8.11; 23,24.25, das in II Reg 23,2 ISO ППЗП genannt wird, und das Voriesen des Πϊίη m m nso (Neh 8,1) bzw. ΠΙΠ"· m m ISO (Neh 9,3). Dies gilt auch, obwohl im Dtn die Tora stets eng auf den Mittler Mose und nicht auf JHWH selbst bezogen ist. Vgl. dazu Braulik, Ausdrücke, 37, Anm. 124.

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Verwendung und Funktion des Begriffs ЛП1П im Jeremiabuch

Die síafMí-cowífracíMs-Verbindung m Л"' m i n hat 19 Belege im Alten Testament, davon acht in den C h r o n i k b ü c h e m . A l l e diese Stellen sind exilisch'*® oder nachexilisch.'^' Häufig ist von einem Buch oder Schriftstück (Ί30) dieser Tora JHWHs die Rede. Vor allem die Chronikbelege sprechen explizit von der schriftlichen Fixierung der Tora JHWHs oder der Tora Moses,"' bieten jedoch auch Hinweise auf ein Verständnis von Tora als mündlicher Unterweisung. Damit sind mündliche und schriftliche Weisung in den Schriften des Alten Testaments als zwei gleichrangige Aspekte eines umfassenden Begriffs m m zu verstehen.

Angesichts dieser Beobachtungen zum Begriff ЛПП legt sich für Jer 8,8 ein Verständnis von ΠΙΓΓ* m m als mündlicher Weisung nicht nahe, da sich der Vers nicht speziell auf die priesterliche Unterweisung bezieht. Vielmehr ist aufgrund der Erwähnung der Schreiber und ihrer Griffel (V 8b) anzunehmen, daß es sich bei der in V. 8a genannten Weisung JHWHs um eine schriftliche Größe handelt. Die Diskusssion darüber, ob mit ΠΙΠ"· m m das Deuteronomium selbst'®" oder eine andere Gesetzessammlung'®^ gemeint sei, muß nicht erneut aufgerollt werden, da angesichts der Offenheit des Textes keine der Alternativen ausreichend begründet werden kann. Garcia López (ThWAT VIII, 601) gibt irrtümlicherweise 10 Chronikbelege für m m mn^an. Vgl. Ex 13,9; II Reg 10,31; Am 2,4; Jes 5,24; 30,9; Jer 8,8; Ps 1,2; 19,8; 119,1; Esr 7,10; Neh 9,3; I Chr 16,40; 22,12; II Chr 12,1; 17,9; 31,3.4; 34,14; 35,26; außerdem Jos 24,26 (•^n'^K m m nao) und Jes 1,10 огпЬк m m ) . Ex 13,9 steht im Rahmen eines dtr. Abschnitts 13,3-16, der die in Ex 12,14-20 enthaltenen Vorschriften für Mazzot einschärft. Vgl. Scharbert, Exodus, NEB, 55f. Zum Hinweis auf die Zeichen an Hand und Stirn vgl. Dtn 6,8; 11,18. Zur redaktionellen Herkunft der Judastrophe Am 2,4 siehe oben II.4.3.3, S. 220, Anm. 94. Jas 5,24b ist eine nachgetragene Begründung der vorhergehenden Weherufe in dtr. Formulierung. Vgl. Wildberger, BK X/1, 181.197. Den Rahmencharakter von Jes 5,24-30 und Jes l,4.24f legt Fischer (Tora, 37-42) dar. Jes 30,9 gehört zu einem nachexilischen Abschnitt 30,8-17, der in musivischem Stil dtr. und weitere, spät belegte Termini verbindet und die Zerstörung Jerusalems voraussetzt. Vgl. Kilian, Jesaja II, NEB, 174f. Nachexilisch sind auch die Stellen in Esr, Neh und Chr zu datieren. Zum Begriff m m in Chr vgl. Dörrfuß, Mose, 258-261. Zum Bezug auf m m in Neh vgl. Reinmuth (Bericht Nehemias, 381-384), der eine tora-orientierte Redaktion des Nehemiabuches herausarbeitet. ™ Vgl. den Ausdruck nm·- m m nso in Neh 8,8; 9,3; II Chr 17,9; 34,14; DTl'^X m m ΊΕΟ Jos 24,26. I" Vgl. Dörrfuß, Mose, 258f, und IChr 16,40; II Chr 17,9; 23,18; 25,4; 31,3; 34,14; 35,26. Vgl. I Chr 22,12; II Chr 19,10; 30,16; 33,8. So auch Willi, Juda, 93. Vgl. Duhm, KHC, 88. Rudolph (HAT, 62 f.) weist die These Wellhausens, Duhms, Cornills u. a. zurück, wonach Jeremía gegen das Dtn und speziell den priesterlichen Einschlag in dessen prophetische Ideen polemisiere. Weiser (ATD, 72) grenzt die in Jer 8,8 erwähnte Tora im Blick auf Jer 7,21 ff. auf die Opfertora ein. Rudolph (HAT, 63) und Lindblom (Wisdom, 195) halten diese schriftliche Tora für umfangreicher als das Dtn.

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Feststellen läßt sich nur, daß die in Jer 8,8a zitierte Gruppe sich im Besitz der autoritativen Weisung JHWHs wähnt. Bereits die Zitateinleitung, deren Fragepartikel ЛЭ"·« einen klagenden Unterton hat, stellt die Worte dieser Gruppe in einen Gegensatz zur Einschätzung JHWHs und seines Propheten Jeremía. Auch V. 7b formuliert einen inhaltlichen Kontrapunkt zu der im Zitat dargestellten Haltung der Adressatinnen mit der Aussage: „Aber mein Volk, sie erkennen nicht das Recht (ESSÜD) JHWHs". Aufgrund der polemischen Intention der Zitatverwendung kann auf die originäre Haltung der genannten Weisen nicht zurückgeschlossen werden. Eine inhaltliche Parallele zu dem in Jer 8,8 f. erhobenen Vorwurf findet sich in Zeph 3,4. Im Rahmen eines Schuldaufweises der Vergehen der Führenden werden die Priester der Profanierung des Heiligtums (üip'lbbn) und des Mißbrauchs ihrer Mittleraufgabe ( m i n lOan) beschuldigt. Die engste sprachliche Parallele zu Zeph 3,4 bietet wiederum Ez 22,26 Cüip ibbn-'l ΤΙΊΙΠ ЮПП). Beide Texte haben im Gegensatz zu Jer 8,8 die priesterliche Aufgabe der mündlichen Toraerteilung im Blick, die in Ez 22,26 als Unterscheidung zwischen heilig und profan erläutert wird.

Wie die thematischen Parallelen zeigen, ist m i n als mündliche oder schriftliche Weisung auf die Vermittlung durch Priester und , Schriftgelehrte' angewiesen und somit auch dem Vermögen oder Wollen dieser Gruppen unterworfen. Im Falle der Nichtbeachtung oder falsifizierenden Weitergabe dieser Weisung treten, wie Jer 8,8 f.; Ez 22,26 und Zeph 3,4 deutlich machen, Prophetinnen auf den Plan, die den aktuellen JHWH-Willen verkünden und den Mißbrauch der Tora JHWHs anprangern. 1.2.3 ZurDatierung von Jer 8,8f. Wer Jer 8,8f. als Bestandteil der Einheit 8,4-13 versteht, sieht keinen Grund, die Verse dem Propheten Jeremia abzusprechen, zumal der poetische Stil gemeinhin als Hinweis auf Authentizität gewertet wird.''^ Nimmt man 8,8 f. jedoch als eigenständigen Spruch, wofür die Analyse der Textstruktur spricht, so ergeben sich wenig Hinweise auf eine Datierung. Aufgrund des Stichworts Ίρώ, das auch in weithin für authentisch gehaltenen Sprucheinheiten begegnet (Jer 5,2.31; 6,13; 13,25; 23,25.26. Die negierte Einleitung und die Funktion des Zitats als Polemik gegen die Adressatinnen erweisen es als fiktiv. Gegen Klopfenstein (Lüge, 133) ist die Beziehung zwischen Jer 8,7 und 8,8 als reine Stichwort Verbindung zu bewerten. So auch Rudolph, HAT, 61. Klopfenstein selbst (Lüge, 399 Anm. 576) muß den Adressatenwechsel zwischen V. 8a und V. 8b als Umschwenken Jeremias in eine Scheltrede an die Urheber der in 8,8a geäußerten Meinung erklären. 198 Vgl. Garcia López, ThWAT VIII, 615. i«« Vgl. Giesebrecht, HK, 53; Weiser, ATD, 72; Bright, AncB, 65; Holladay, Hermeneia 1, 276.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

32), könnte 8,8 f. auch als isolierter jeremianischer Spruch betrachtet werden. Die Vertreterinnen dieser Deutung sehen eine Verbindung der m m mn·' mit dem Deuteronomium. Allerdings fehlt der Begriff m i n im vordtr. Bestand des Deuteronomiums.^"' Außerdem begegnet der Ausdruck m m mn·' nur in exilischen und nachexilischen Texten, so daß man eine Begriffsprägung durch Jeremia annehmen müßte. Schließlich scheint die Ankündigung der Gefangennahme der Weisen (V. 9a) die Ereignisse um 587 vorauszusetzen. Ohne textkritische Konjekturen läßt sich Jer 8,8 f. am plausibelsten als Texterweiterung mit nachexilischer Perspektive verstehen: Die Bezeichnungen 0·'Ώ3Π und D''nso werden als Charakterisierung derselben Gruppe verständlich, deren Tätigkeit die Auslegung einer schriftlich vorliegenden Tora b e i n h a l t e t . A u f g r u n d der Parallelen in Esr 7,6.11 ist die Bezeichnung D"'nsD im Sinne von „schriftkundig, schriftgelehrt" zu deuten. Die Toraauslegung dieser Schriftgelehrten wird als „Trug" oder „Lüge" (Ίρϊί) qualifiziert, da sie das aktuelle, vom Propheten übermittelte Gotteswort ablehnt und sich in Gegensatz zu diesem profiliert. Insgesamt erläutert Jer 8,8 f. damit den in 8,7b gemachten Vorwurf der mangelnden Erkenntnis des ΠΐΓΓ* BSïia im Volk und führt dies auf eine falsche Auslegung des schriftlich niedergelegten Gotteswillens seitens der dafür Verantwortlichen zurück. Wie die m i n n "'iösn zur Zeit der Väter (Jer 2,8), so dringen auch die für die Auslegung der Tora JHWHs zuständigen Lehrer nicht zur Erkenntnis der Pläne Gottes vor. Damit ist Jer 8,8 f. aber weder ein Beleg für die Opposition Jeremias gegen das Deuteronomium^"^ noch „ein Zeugnis für die Existenz einer schriftlich verfaßten Tora im spätvorexilischen Jerusalem"^"^. Der spät zugefügte Passus spiegelt vielmehr eine Auseinandersetzung zwischen Gruppen, die sich allein auf die Inteφretation der Tora berufen und solchen, die die prophetische Verkündigung weiterhin für maßgeblich halten.^"' 13 Konkurrenz der Mittler göttlicher Offenbarung - Jer 18,18 18aa 18aß 18b

Da sprachen sie: „Kommt und laßt uns Pläne schmieden gegen Jeremia, denn nicht mangelt es dem Priester an Weisung, noch dem Weisen an Rat, noch dem Propheten am Wort. Kommt und laßt uns ihn schlagen durch die Zunge^°* und laßt uns nicht^·" aufmerken auf all seine Worte."

™ So etwa Duhm, KHC, 88 f.; Volz, ΚΑΤ, 76 f.; Rudolph, HAT, 63. Vgl. Rüterswörden, Gemeinschaft, 63 f. Dagegen unterscheidet Lindblom (Wisdom, 196) zwischen den Schreibern als Verfassern der Tora und den Weisen als Lehrer der Tora im Alltag. Vgl. Tannert, Begriff, 30. Crüsemann, Tora, 35. So mit Wanke, ZBK, 98.

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1.3.1 Kontext, Textstraktur und Schichtung Jer 18,18 leitet eine Klage des Propheten 18,19-23 ein, die auf die Prosarede über die Tätigkeit des Töpfers (18,1-12)^°' und eine begründete Gerichtsankündigung (18,13-17) folgt.^^^ Der Vers stellt eine redaktionelle Verklammerung der sogenannten Konfession^'" mit dem Vorhergehenden dar und gehört nicht ursprünglich zu 18,19-23,^" da er im Unterschied zum Kontext in Prosa gehalten ist und sich stilistisch an 18,11 f. anlehnt.^'^ Zudem schildert V. 18 die Verfolgung Jeremias, bietet also einen Anlaß für die in V. 19 beginnende Klage des Propheten gegenüber JHWH und die Verwünschung seiner Gegner (V. 21-23).^'^ Stichwortanknüpfung besteht zu ЛЗШПй 2m

in V. 11 und mntcna in V. 12, einem Zitat der Männer Judas

und Einwohnerinnen Jerusalems. Klammerfunktion haben auch die Imperativformen лгшрз (V. 18b) und ла-'шрл (V. 19). Für die Identifizierung der in Jer 18,18 zitierten Personen bestehen zwei Möglichkeiten. Von Jer 18,11 her gelesen kann die Bevölkerung Judas und Jerusalems Subjekt des Zitats sein,^'"· während im folgenden Klagegebet vor allem die Gegner Jeremias (18,19 -л-'Т'^'') in den Blick kommen. 1.3.2 Traditionen in Jer 18,18 Die engste Parallele zu Jer 18,18 findet sich in Ez 7,26b: 26a 26b

Sturz folgt auf Sturz und (böse) Kunde trifft auf (böse) Kunde. Und sie erbitten Schauung (]1ΤΠ) vom Propheten, aber dem Priester mangelt es an Weisung ( m i n ) und den Ältesten an Rat (π:ίΰ).

BHS schlägt in Anlehnung an die Syriaca ein Suffix der 3. P. mask. sg. vor. Rudolph (HAT, 106) nimmt wegen der Fortführung des Satzes mit bxi eine Haplographie von 1 an. 4QJer^ bietet denselben Text wie MT. Vgl. Janzen, Studies, 179; Τον, Preliminary Edition, 25. In ® fehlt die Verneinung, so daß das Hören auf die Worte Jeremias als Mittel, Jeremia zu verleumden, gedeutet werden muß. Wahrscheinlich will © die singulare Wendung ΠΠΰ р и Ь з auf diese Weise näher erläutern. 4QJer» stützt den MT. Vgl. Janzen, Studies, 179; Τον, Preliminary Edition, 25; McKane, ICC, 436. ™ Die meisten Auslegerinnen nehmen eine dtr. oder mehrfache Bearbeitung eines prophetischen Selbstberichts an. Vgl. Mowinckel, Komposition, 31 ; Rudolph, HAT, 121 f.; Thiel, Redaktion I, 216f.; Wanke, ZBK, 172-174. Diese Abgrenzung wird von den Kommentaren einhellig vorgenommen; vgl. Rudolph, HAT, 121 ff.; Weiser, ATD, 152ff,; Holladay, Hermeneia 1, 513ff.; Wanke, ZBK, 171 ff. Zu dieser Benennung vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Hubmann (Jer 18,18-23, 271-274), der die neuere Literatur zu den Konfessionen auflistet (a. a. O., 438f.). So Duhm, KHC, 157; Rudolph, HAT 124 f.; Holladay, Hermeneia 1, 529. 212 Die Einleitung erfolgt in 18,12 durch π η κ ΐ , in 18,18 durch παχ-Ί, in beiden Zitaten des Volkes ist von deren тзШПО die Rede. Vgl. Thiel, Redaktion 1,217; Hubmann, Jer 18,18-23, 291 f.437; ähnlich Weiser, ATD, 157; Wanke, ZBK, 176. So mit McKane, ICC, 437. Jer 18,13 nennt die bx-iic пЬшз, 18,15 das Volk (DS) als Ganzes. ® hat mit τοϋ δικαιώματος μου wohl 'З'Т gelesen.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

Ez 7,26 gehört zu einer JHWH-Rede an den „Ackerboden Israels" (7,2),^'^ die die Vorstellung des Tages JHWHs aufnimmt und mit Schuldaufweisen verbindet.^" V. 26b wird von W. Zimmerli aufgrund seiner gegenüber den strengen Parallelismen dreigliedrigen Form und der Parallele in Jer 18,18 als Zusatz inteφretiert.^^®

Übereinstimmend lokalisieren Ez 7,26 und Jer 18,18 Tora im Sinne mündlicher Weisung beim Priester, während лаг auf zwei unterschiedlich benannte Gruppen - Weise und Älteste - zurückgeführt und die Mitteilung der Propheten in Jer 18,18 Ί3Ί in Ez 7,26b ]1ТП genannt wird. Die Inteφretation von m i n als mündliche priesterliche Lehre wird neben Jer 18,18 und Ez 7,26 aus Stellen wie Dtn 33,10; Hos 4,6; Mi 3,11; Zeph 3,4; Mal 2,8 erschlossen und ist als solche nicht strittig.^" nai? ist die in der Weisheitsliteratur geläufige Bezeichnung für die Lehre der Weisen. Der Begriff wird aber nirgends zur Charakterisierung der Unterweisung in der Tora gebraucht. Allein in Ps 119,24 werden die Satzungen JHWHs metaphorisch als Ratgeber (Tiaï 'ШЗК) bezeichnet. Der Gebrauch des Begriffs Ί2Τ im Kontext prophetischen Redens ist so signifikant, daß тЛ"' ЛЗЛ als „terminus technicus für die prophetische Wortoffenbarung"^^' gilt. Der Ausdruck^^^ ist Bestandteil der Wortereignisformel, die in den jüngeren, vor allem dtr. überarbeiteten Prophetenbüchem meist die prophetische Rede einleitet. Die Vorstellung, daß Gott sich von Propheten befragen lasse, findet sich über Jer 18,18 hinaus in Jer 37,17; 38,14; 42,2ff. und weiteren Stellen.^" Die drei Begriffe л т п , л а а und ППЛ sind in ihrer Verbindung mit bestimmten Berufsständen somit als mündliche Übermittlung eines Gottesbescheides oder als mündliche Unterweisung im Rahmen der Erziehung zu verstehen, so daß sie in ihrer Summe die Totalität von Leitung und erDie Bezeichnung (bunto·" п т к ) findet sich nur im Ezechielbuch (17 Belege). Die unpolitisch-geographische Nennung erinnert bewußt archaisierend an die Gabe des Landes (von Nord- und Südreich) seitens JHWHs. Vgl. Zimmerli, BK XIII/1, 169. Zimmerli (a.a.O., 174) isoliert in Ez 7 , 5 - 6 a a . l 0 - 2 7 * ein ursprüngliches Prophetenwort aus den Jahren vor 587, rechnet aber mit einem beträchtlichen Anteil vor Zusätzen, v. a. der Schuldaufweise. Zu den in © nicht überlieferten Textteilen vgl. die Übersetzung ZimmerIis (a.a.O., 158 f.). Vgl. ZimmerH, a.a.O., 184. Zur Differenzierung der These Begrichs zur Priestertora vgl. Liedke/Pedersen, THAT II, 1035-1038; Willi, Juda, 93 f. Zur Bedeutungsbreite des Begriffs vgl. Garcia López, ThWAT VIII, 599 f. So Lindblom, Wisdom, 195. Grether, Name, 76 (im Original gesperrt gedruckt). Zu den 240 Belegen für ГПЛ'' Ί3Ί vgl. die Statistik bei Grether, Name, 63-76; Gerleman, THAT I, 439 f. 223 Vgl. noch I Sam 9,9; II Sam 16,23; I Reg 14,5; 22,5; II Reg 3,11; Am 8,12. Jer 18,18 wird meist als Hinweis auf die ursprüngliche prophetische Aufgabe gedeutet. Vgl. Schmidt, ThWAT II, 116f. Zur JHWH-Befragung in Jer 37,7.17 siehe oben II.6.1.2., S.256.

Vertrauen auf die Tora - Jer 2,8; 8,8; 18,18

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zieherischer Begleitung des Volkes wie seiner einzelnen Mitglieder signalisieren. In Ez 7,26 ist noch stärker als in Jer 18,18 das hereinbrechende Unheil im Blick, das die Suche des Volkes nach Kontakt mit der Gottheit als verzweifelt und gegen alle Vernunft gerichtet erscheinen läßt. Nimmt man den Zusammenhang von Jer 18,11 f. und 18,18 ernst, so verdeutlichen beide Zitate in V. 12 und V. 18 die grundsätzliche Uneinsichtigkeit und den Starrsinn des Volkes in Bezug auf das von Jeremia angekündigte Gerichtshandeln JHWHs. In V. 18 konkurrieren die mündlich übermittelten Worte des Priesters, des Weisen und des Propheten mit Jeremias Worten, so daß die im Alten Testament singulare Wendung „mit der Zunge schlagen" ЛЭЗ) aus dem Kontext eine adäquate Deutung erfährt: Es geht nicht darum, gegen Jeremia Anklage zu erheben oder ihn zu verl e u m d e n , s o n d e r n um einen mündlichen Schlagabtausch der Gegner. ^^^ Die folgende Weigerung, auf die Worte Jeremias zu hören (18,18bß), stützt diese Interpretation^^® und macht noch einmal die Unbeirrbarkeit der Adressatinnen Jeremias in ihrer gegensätzlichen Einschätzung der Situation deutlich. Während die Opponenten Jeremias in Jer 1-25 nur kurz erwähnt werden,^^"' erzählen Jer 20,1-6; 26-29; 36-38 von direkten Angriffen auf das Leben Jeremias. Jer 18,18 stilisiert die Situation zum Streit um Jeremias Prophetie und die Unterweisung seitens der drei relevanten gesellschaftlichen Institutionen. Die in V. 18aa gebrauchte Wendung 3ώΠ Η- by + Π132?ΠΏ impliziert eine feindliche Gesinnung der G e g n e r , l ä ß t jedoch offen, was sie gegen den Propheten planen. Jeremia wird als einsamer Kämpfer gegen alle Institutionen charakterisiert, die bisher als legitime Weisen der Mediation zwischen JHWH und dem Volk betrachtet wurden. Jer 18,18 rechtfertigt durch die Darstellung der ausweglosen Situation des Propheten die Rachewünsche der Konfession 18,19-23. 1.3.3 Zur Datierung von Jer 18,18 Als Prosaeinleitung zu Jer 18,19-23 ist Jer 18,18 unabhängig von der Datierung der Konfession, die aufgrund der langanhaltenden und kontroversen Forschungsdiskussion nicht in Kürze begründet werden kann.^^° Da So schon die Targumübersetzung und die Mehrzahl der Kommentare, vgl. etwa Volz, ΚΑΤ, 199; Bright, AncB, 123; Thompson, NIC, 439; Weiser, ATD, 157; McKane, ICC, 435f.; Holladay, Hermeneia 1, 530. 225 So mit Hubmann, Jer 18,18-23, 291; Carroll, OTL, 379. Zur Abweichung von © siehe die Textkritik oben S. 307. Vgl. Jer 1,19; 11,21-23; 18,18 sowie Carroll, OTL, 378. 228 Vgl. HALAT 346. 22' Carroll (OTL, 379) bezeichnet diese Perspektive zu Recht als „mythic view of Jeremiah". 23C Vgl. Herrmann, Jeremia, 129-139; Carroll, Jeremiah Studies, 129-132.

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Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch

der Vers dem folgenden Klagegebet und vor allem dessen Rachewünschen einen Anlaß verleiht, wurde er wahrscheinlich im Zuge der Positionierung der Konfession an die jetzige Stelle formuliert. Er orientiert sich stilistisch und inhaltlich an den Versen 11 f., die zur dtr. Bearbeitung des ursprünglichen Selbstberichts g e h ö r e n , u n d kann daher frühestens exilisch sein. Der Vers selbst bietet keinen expliziten Hinweis auf eine Datierung. Implizit könnte das Fehlen des Königs in der Reihe der gesellschaftlich relevanten Personen als Sicht einer königslosen Zeit gedeutet werden. Außerdem setzt die Stilisierung Jeremias zum Opponenten gegen die traditionellen Institutionen der Mittlerschaft zwischen JHWH und Volk ein fortgeschrittenes Stadium der Jeremiaüberlieferung voraus. 1.4 Zur Bedeutung von ГПШ in Jer 2,8; 8,8; 18,18 Entgegen der verbreiteten Meinung, aus Jer 2,8; 8,8 f.; 18,18 könne das Toraverständnis Jeremias^^^ oder gar seine Haltung zum Deuteronomium der Joschijazeit erhoben werden, lassen sich die genannten Texte nicht spätvorexilisch datieren. Vielmehr handelt es sich bei allen drei Stellen um Nachträge aus der fortgeschrittenen exilischen oder nachexilischen Zeit. Die Tora erscheint in Jer 2,8 und 8,8 als eine schriftlich vorliegende Größe, die von einer bestimmten Gruppe betreut wird. Läßt die Bezeichnung rrnnn •'toan in Jer 2,8 offen, wer für den Umgang mit der Tora zuständig ist, so werden in Jer 8,8 die Gruppen der Weisen und die als Schriftgelehrte zu verstehenden α"'Ί30 genannt. Im Schuldaufweis mit Geschichtsrückblick Jer 2,5-9 werden neben der falschen Handhabung der Tora die mangelnde Bereitschaft der Väter und der Priester, nach JHWH überhaupt zu fragen, sowie die falsche Amtsausübung der Hirten und Prophetinnen kritisiert. Demnach gelten alle gesellschaftlich relevanten Gruppen mit Ausnahme des Königs als verantwortlich für das durch JHWH verhängte Gericht. Die Tora ist in Jer 8,8 als тл"' п п п qualifiziert, hat also an göttlicher Autorität teil. Umfang und Inhalt dieser Tora läßt sich aufgrund der schmalen Textbasis und fehlender Hinweise nicht eindeutig bestimmen. Die sich für beide Stellen nahelegende Entstehung im Anschluß an die dtr. Buchredaktion weist jedoch auf eine größere Sammlung von Rechtsbestimmungen und deren paränetische Einbindung, wie sie im exilischen Bestand des Deuteronomiums erkennbar ist. Wenn Jer 2,8 festhält, daß bereits zur Zeit der Väter des Exodus nicht sinngemäß mit der Tora verfahren wurde, so "I Vgl. Thiel, Redaktion!, 216f. sowie Rudolph, HAT, 121 f. McKane (ICC, 426f.437) und Wanke (ZBK, 174) unterscheiden noch einmal zwischen dem dtr. Vers Jer 18,11 und 18,12, den sie, wie 18,18, als rein der Verknüpfung dienenden späten Vers beurteilen. Da Jer 18,18 mit der Wendung ЛЗШПП 3ϊίΠ an 18,11 anknüpft, ist ersteres dennoch der dtr. Bearbeitung in Jer 18* nachzuordnen. So etwa Hyatt, Torah, 382.387; Tannert, Begriff, 29 f.

Der Schuldaufweis-Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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konstruieren seine Autoren eine bis in die Frühzeit reichende Schuldgeschichte der fehlenden JHWH-Erkenntnis. Jer 8,8 f. kritisiert eine Auslegung von Tora, die nicht auf die aktuelle Übermittlung des Gotteswillens im prophetischen Wort reagiert, und stilisiert damit die Interpretation der schriftlich fixierten Willensoffenbarang JHWHs und die aktuelle Übermittlung des Gotteswortes zu Gegensätzen. Die mit der Tora professionell befaßten Schriftgelehrten jedenfalls werden des Nicht-Verstehens ihres Gegenstandes und damit der sinn- und ergebnislosen Toraauslegung bezichtigt. In Jer 18,18 ist dagegen die mündliche Tora als aktueller Gottesbescheid der Priester im Blick. Dabei berufen sich die Gegner Jeremias auf die drei Mittlerinstitutionen Israels, die der Erkenntnis und Weitergabe des göttlichen Willens dienen sollen. Die mündliche Toraerteilung des Priesters, die Lehre des Weisen und die Übermittlung des Gotteswortes durch den Propheten gelten als Garanten dafür, daß das Volk auf dem richtigen Weg ist. Der Vers impliziert einen mündlich geführten Schlagabtausch, bei dem Jeremias Worte aufgrund der Uneinsichtigkeit des Volkes kein Gehör finden und seine Gerichtsbotschaft zur persönlichen Verfolgung des Propheten führt. Der Begriff ЛПП weist an den drei Stellen unterschiedliche Nuancierungen auf, die zeigen, daß seine Bedeutungsbreite auch in der fortgeschrittenen exilischen und nachexilischen Zeit noch nicht eingeschränkt war. Die Darstellung der Adressatinnen oder Gegnerinnen Jeremias ist an allen Stellen ähnlich: Sie wähnen sich im Besitz der Tora als einer Vermittlungsinstanz des göttlichen Willens. Der polemische Ton der Texte karikiert deren Handhabung der Tora als nicht adäquat und stellt ihr das prophetisch übermittelte Gotteswort gegenüber. Aus dieser Perspektive opponiert Jeremia nicht gegen die Tora als fixierte Größe, sondern gegen ein bestimmtes Toraverständnis bzw. eine bestimmte Toraauslegung.

2. Der Schuldaufweis Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23 Im Rahmen von Schuldaufweisen finden sich eine Reihe von Stellen im Jeremiabuch, die den Begriff m m einheitlich gebrauchen. Das Substantiv ist, mit einer Ausnahme (44,23), mit einem auf JHWH bezogenen Suffix der ersten Person Singular verbunden und mit Verben konstruiert, die das Verhalten des Volkes gegenüber JHWHs Tora negativ qualifizieren (ΊΏώ uh -¡Ьл кЬ ΟΝΏ).

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

2.1 Die Verwerfung der Tora JHWHs-Jer

6,18f.

18a Deshalb, hört ihr'/hören die Völker 18b und erkennt wohl (erkenne, Gemeinde, was in ihnen ist/und die Hirten ihre Herden).^ 19a Höre, Erde: Siehe, ich bringe Unheil über dieses Volk, die Frucht ihrer Pläne. ^ 19b Denn auf meine Worte merkten sie nicht und meine Tora, sie verwarfen" sie.

2.1.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung Jer 6 ist durch die Botenformel strukturiert und wird von den meisten Exegetlnnen entsprechend gegliedert in V. 1-8.9-15.16-21.22-26.27-30.' Der Abschnitt 6,16-21 ist literarisch nicht einheitlich.® Das zeigen der Wechsel von der Anrede (V. 16-17.20) zu indirekter Rede (V. 18-19.21) und die Variation von Redeformen und Themen. Eine zweifache Aufforderung an die Adressatinnen (V. 16-17), die diese ablehnen,^ und die Gerichtsankündigung (V. 21) sind mittels der Wegmetapher verbunden. V. 18 f. ist formkritisch betrachtet auffällig, insofern in V. 18 nicht die Ankündigung (vgl. V. 21), sondern einen doppelten Aufruf an die Völker und die Erde^ als einem ,Zweitpublikum'' einleitet und V. 19 eine formal ' © hat wntì als 3.pl. Perfekt-Form gelesen. 2 ® bietet ein weiteres Objekt zum ersten Verb (καΐ oí ποιμαίνοντες τα ποίμνια αυτών), was einer Rückübertragung in о п т а ''ГП gleichkommen würde. Wahrscheinlich hatten die Übersetzer die in V. 17 erwähnten Wächter des Volkes (•''S3) im Blick. BHS konjiziert im Anschluß an die Vulgata und I Reg 11,25 die Fortführung zu D3 ЛИВК ПИК-РК ЛГПΙΒΊΙ Vgl. Rudolph, HAT, 46; Schreiner, NEB, 53. Mit Giesebrecht (HK, 42) 1st die Konjektur zu ЛВ1. WII und ein Verständnis von D3 ЛШК'ПК (so Duhm, KHC, 71) als Glosse die plausibelste Lösung. Die im MT belegte Fassung 03"ПИК"ПК m a •'ΰΊΐ ist im Blick auf die nachexilische Gemeinschaft entstanden, die dann von der Vulgata nach I Reg 11,25 aufgefüllt wurde. Ähnlich Wanke, ZBK, 83. 3 © übersetzt άποστροφης αυτών, was auf Dnnitíp in der Vorlage schließen läßt (ähnlich das Targum). Die arabische Übersetzung folgt ®, während die Vulgata und Syriaca den Ausdruck im MT stützen. Da т з ш п а auch an anderen Stellen (Jer 18,12.18; Hi 21,27) negativ konnotiert ist, ist die ©-Lesart auch als freiere Übersetzung denkbar. So auch McKane, ICC, 150. '' Die auflallige Waw-Imperfekt-Form ist durch die pointierte Voranstellung des Objekts bedingt. Vgl. Rudolph, HAT, 46. 5 So etwa Rudolph, HAT, 43ff.; Bright, AncB, 49f.; McKane, ICC, 138ff. Duhm (KHC, 65f.) und Carroll (OTL, 190-192) unterteilen V. 1-8 zusätzlich in V. 1-5 und V.6-8; Carroll differenziert darüber hinaus V. 9-11 und V 12-15. ^ Duhm (KHC, 73) etwa scheidet V. 18 f. als redaktionell aus. Vgl. außerdem Hardmeier, Redekomposition, 31, Anm.54; Carroll, OTL, 200f.; Wanke, ZBK, 82. ' Die Haltung der Adressatinnen wird als Zitat geboten. Der Wechsel von der 2. P. pl. in die 3.P. pl. in den Zitateinleitungen begegnet noch häufiger in dieser Stilform, vgl. Jer 2,6.8.31; 5,12. * Wolff (BK XIV/1, 123) bestimmt die Form als „Lehreröffnungsformel", die er aus weisheitlicher Tradition herleitet und in die Rechtsbelehrung sowie die prophetische Rede übertragen sieht. Vgl. zu letzterem Jes 1,2.10; 49,1; Mi 1,2; Jer 13,15; Joel 1,2. Ihm folgt Boecker (Redeformen, 83 f.). Beide wenden sich gegen die Bestimmung als Zeugenanrufung.

DerSchuldaufweis-Jer6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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und inhaltlich eigenständige Gerichtsankündigung mit Begründung enthält. Die einzige inhaltliche Übereinstimmung zwischen den schuldaufweisenden Partien V. 16 f. und V. 19 besteht im Vorwurf der mangelnden Aufmerksamkeit, der in V. 17b im Adressatenzitat, in V. 19ba bezogen auf die Worte JHWHs als Aussage über das Volk begegnet." Da 16,18f. die Rede vom rechten Weg unterbricht, erweist sich der Abschnitt als ein Nachtrag. V. 20 kehrt zur direkten Anrede (vgl. V. 16.17) zurück und wechselt erneut das Thema. Die in eine rhetorische Frage gekleidete Ablehnung von Aromata seitens JHWH (V. 20a) sowie die Zurückweisung von Brand- und Schlachtopfem (V. 20b) stehen der Opferkritik in Jes l,10ff.; Am 5,21-23 näher als derjenigen in Jer 7,21f.'^ und 11,15.'^ Inhaltlich weist der Vers keinerlei Bezüge zum Kontext auf. Dennoch kann er als authentischer,''' wenn auch redaktionell an die jetzige Stelle plazierter, Spruch verstanden werden." 2.1.2 Traditionen in Jer 6,18 f. Der Aufruf an Völker (V. 18a) und die Erde (V. 19aa) bringt eine universale Perspektive ein, wie sie auch in den redaktionellen Passagen Jer 2,10.12'® und 4,23-28''' zum Ausdruck kommt. Die Wendung NID hif. + ЛИТ + Ьк/Ьа (V. 19a) gehört zum Sprachgebrauch redaktioneller Texte im Jeremiabuch,'® während ПЗП pi. + ЛУП + hv ' Von der antiken Rhetoriktheorie herkommend erkennt Liwak darin das Stilmittel der „apostrophe" (Prophet, 285, vgl. 197f.), das auch in Jer 2,12 begegnet. Da Liwak Jer 2,4-6. 7b-13 für authentisch hält (vgl. a. a. O., 160-163), wendet er sich gegen Thiels Zuweisung von Jer 6,18 zur Redaktion (vgl. Thiel, Redaktion I, 101). Wie oben gezeigt (III. 1.1.4, S.297f.), gehört jedoch Jer 2,12 einer erst auf die dtr. Redaktion folgenden Erweiterung an. Vgl. Duhm, KHC, 71; Thiel, Redaktion I, 100 f.; Liwak, Prophet, 285. " Schmidt (Aufrufe, 234, Anm. 19) nimmt die Jer 6,18 f. ähnlichen Ankündigungen Jer 4,6.10.14; 5,12.15 zum Anlaß, nur 6,19b für redaktionell zu halten. Die Übereinstimmungen können jedoch auch so gedeutet werden, daß 6,18 f. Vergehen und Ankündigungen der anderen Texte summiert. Vgl. dazu oben II. 1.3.2.3, S. 105-107. " V g l . dazu oben II.3.3.1, S. 180. I·» So viele Kommentare, vgl. Duhm, KHC, 71 f.; Rudolph, HAT 47; McKane, ICC, 150f. So mit Thiel, Redaktion I, 101; Liwak, Prophet, 285. Zur Datierung siehe oben III. 1.1.4, S.298. " Jer 4,23-28 ist aufgrund der Anklänge an Gen 1 frühestens exilisch zu datieren. Vgl. Borges de Scusa, Jer 4,23-26,419-428. Zum Aufweis der Gemeinsamkeiten beider Texte vgl. Trimpe, Auslegung, 135-139. Partizipial formuliert in Jer 11,11; 19,3.15; 35,17; 42,17; 45,5; 51,64; mit finitem Verb Jer 11,23; 23,12; 32,42; 36,31; 44,2; 49,37. In Jer 4,6b fehlt die Präposition und damit der Adressat des Unheils, und ΠΰΤ steht voran. Der Aufruf zum Rückzug in die befestigten Städte mit metaphorischer Ankündigung des Feindes 4,5-8 wird durch V. 6b theologisch gedeutet und aus einer Prophetenrede (vgl. V. 8b) in eine JHWH-Rede transformiert. V. 6b erweist sich daher als sekundär. So mit Duhm, KHC, 48; Wanke, ZBK, 59 f.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m m im Jeremiabuch

überwiegend in Erzählungen des Jeremiabuches gebraucht wird. ^^ Da die erstgenannte Wendung im DtrG. in Unheilsworten gegen Ahab und Manasse begegnet,^" rechnet W. Thiel sie dem dtr. Sprachgebrauch zu.^' Die Vorstellung, daß das Gericht JHWHs den bösen Taten des Volkes entspricht bzw. diese adäquat bestraft (6,19a), erscheint auf den ersten Blick als ein Element des dtr. Geschichtsbildes. Tatsächlich aber findet sich die Formulierung, daß das von JHWH bewirkte Unheil Frucht (""ΊΒ) der bösen Taten sei, außer in Jer 6,19a nur noch im Wort gegen den assyrischen König Jes 10,12. Das positiv gewendete Motiv, daß der Gerechte seine Frucht (im Sinne von Heil) empfange, begegnet in Ps 58,12; Prov 11,30 und Jes 3,10. Der gegenüber der vorexilischen Generation erhobene Schuldaufweis des Nicht-Hörens auf JHWH oder seine Prophetinnen^^ ist ein klassisch dtr. Vorwurf. ^^ Seine Variante unter Verwendung des Verbs 3ttíp hif. (6,19b) hat jedoch keine Belege im DtrG., tritt aber in Jer 6 gehäuft auf^"* Die engste Parallele zu Jer 6,19 bildet die Stelle Neh 9,34, die ebenfalls fehlende Aufmerksamkeit neben der Vemachlässigung der Tora (rmn η(ϋΰ n':') als Vergehen der Könige, Fürsten, Priester und Väter aufführt. Die Abhängigkeit in der Formulierung liegt in diesem Fall sicher bei Neh 9,34.^^ Die Verbindung von ЛПП mit dem Verb ΟΚΏ hat im Alten Testament nur drei Belege, von denen allein in Jer 6,19b ein präpositionales Objekt gebraucht wird. Der Vorwurf der Verachtung der Tora und des Wortes JHWHs schließt in dem sekundären Vers Jes 5,24b die Reihe der Weherufe ab.^® In der ebenfalls redaktionellen, jedoch nicht dtr. Judastrophe Am 2,4f.^' eröffnet die Wendung ΠΙΠ·· m i r r n s ΟΚΏ die Aufzählung der Verge" Vgl. Jer 26,19; 35,17; 36,31; 40,2; II Reg 22,23 sowie Jer 16,10. 2» Vgl. I Reg 21,21.29; II Reg 21,12; 22,16 par. II Chr 34,24. Bright (Date, 211 Nr. 40) führt die Wendung als Kennzeichen des Prosastils der Zeit Jeremias an. Vgl. Thiel, Redaktion I, 100. Das Targum versteht Ί3Ί als prophetisch übermitteltes Wort. Zu dieser Bedeutung des Begriffs siehe oben III. 1.2.2, S. 302. 23 Siehe oben II. 1.2.2.6, S.85f. und II. 1.3.2.5, S. 109-111. 2" Vgl. Jer 6,10.17.19 sowie 18,18. Darüber hinaus findet sich negiertes ЗШр hif. in Neh 9,34; II Chr 33,10; Sach 1,4. 25 Neh 9,6-37 stellt ein durchkomponiertes, am dtr. Geschichtsbild des Richterbuches orientiertes Gebet dar, das sprachlich aus verschiedenen Traditionsströmungen schöpft und den fast abgeschlossenen Pentateuch voraussetzt. Es wird daher von Mathys (Dichter, 20) als „nachchronistisch" eingeschätzt. Vgl. die Analysen in Gunneweg, ΚΑΤ XIX/2,124-129; Mathys, Dichter, 4 - 2 1 . Zum redaktionellen Charakter von Jes 5,24b vgl. Duhm, Jesaja, 61; Procksch, Jesajal, ΚΑΤ, 96f.; Kaiser, Jesaja, ATD 17,105.113f. Zur Kritik an der Zuweisung des Halbverses zu einer dtr. Redaktion vgl. Lohfink, Bewegung, 330, bes. Anm. 67. 27 Am 2,4 f. wird häufig als dtr. bestimmt. Vgl. Wolff, BK XIV/2,137.198 f.; Schmidt, Redaktion, 177; ihnen folgt Thiel, Redaktion I, 101. Dagegen kann Lohfink (Bewegung, 329-333) in detaillierter Diskussion aufzeigen, daß Schmidts Argumente für dtr. Verfasserschaft sprachstatistisch nicht gesichert und unzureichend sind. So schon Willi-Plein, Vorformen, 17 f.

Der Schuldaufweis-Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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hen Judas. Zwar läßt sich das Verb OKD mit dem Objekt m i n nicht eindeutig als dtr. Wendung bestimmen. ОКО begegnet aber mit dem Objekt D''pn in II Reg 17,15,^® dem Schlüsseltext für das dtr. Geschichtsbild.^' Auffallend ist die Suffigierung des Begriffs ГП1П. Von den 17 Belegen mit dem Suffix der ersten Person Singular beziehen sich 14 auf JHWH, wobei der Schwerpunkt im Jeremiabuch liegt und dtn. wie dtr. Belege fehlen.^" Wie N. Lohfink aufgezeigt hat, wird der Begriff m i n im Deuteronomium und DtrG. nur selten auf JHWH bezogen, da in diesen Schriften Moses Tora im Zentrum steht.^' Außerdem sind dort die sonstigen Begriffe für Gesetz (D''pn, πιρπ, πηΰ, mSD) stets durch Genitiv, Suffix oder Kontext auf JHWH hingeordnet. Lohfink deutet diesen Befund vorsichtig dahingehend, daß ΓΠΙΠ die Gesetze nicht als Rechtsbestimmungen bezeichne, sondern ihre konkrete Veröffentlichungsform signalisiere.'^ Aufgrund der Häufung des Ausdrucks г т п л лао im Bericht über Joschijas Reform II Reg 2 2 - 2 3 hält Lohfink den Begriff m i n zur Bezeichnung des dtn. Gesetzes für älter als die Mosestilisierung."

Die Bedeutung von m i n in Jer 6,19b ist für zumindest zwei Inteφretationen offen. Versteht man den parallel gebrauchten Begriff im Sinne von mündlichem Wort, so kann ΓΠΙΠ den schriftlich formulierten Gotteswillen umfassen.'" Die Deutung von Ί3Ί im Sinne des prophetisch übermittelten JHWH-Wortes, wofür die Identifizierung der in Jer 6,17 genannten Wächter mit den Prophetinnen spricht,'^ unterstützt diese Sicht.'® Andererseits Vgl. II Reg 17,15 тПЗ-ПКТ νρπ-πκ таКО'Ч und die Parallelformulierung 17,16 intani тл·' тап-Ьэ-ПК, wobei ein Äquivalent für mSD in der © fehlt. Vgl. noch ОКИ + прп Lev 26,15.43; Ez 5,6; 20,13.16.24, DKD + ΠΙΠ·- Ί 3 1 I Sam 15,23.26; Jer 8,9; DKD + ΠΙΠ·- Num 11,20; I Sam 8,7; 10,19. Zur Inteφretation Stecks siehe oben 1.1., S. 11 f. Vgl. Ex 16,4; Hos 8,1.12; Jes 51,7; Jer 6,19; 9,12; 16,11; 26,4; 31,33; 44,10; Ez 22,26; Ps 78,1 ; 89,31 ; II Chr 6,16 (nicht in der Parallele I Reg 9). Die drei weiteren Belege begegnen in weisheitlichen Lehrreden (Prov 3,1; 4,2; 7,2). 3' Vgl. Lohfink, Jahwegesetz, 388f. Ähnlich Braulik, Ausdrücke, 36-38; ders., Dtn II, NEB, 41; und II Reg 17,13 sowie 11 Reg 10,31; II Reg 17,34.37. Lohfink hält die drei letztgenannten Stellen für nachdtr. Vgl. Lohfink, Jahwegesetz, 389. " Vgl. a.a.O., 389f. So Tannert, Begriff, 20 f. Daß Jer 6,19 das dtr. Verständnis der Prophetinnen als Interpretinnen des Gesetzes spiegeln könnte, äußert Thiel (Redaktion 1,101) zu Recht nur mit Vorbehalt, da die weiteren Stellen für die Parallelisierung von m m und Ί 2 Ί , Jes 1,10 (sowie Jes 2,3 par. Mi 4,2; Sach 7,12), nicht in diese Richtung weisen. 35 Zu Recht wird dafür auf Hos 9,8; Jes 21,6; 52,8; Hab 2,1; Ez 3,17; 33,7 verwiesen. Vgl. etwa Hyatt, Torah, 389f.; Holladay, Hermeneia 1, 221; Wanke, ZBK, 83. In Jer 18,18 ist die Vorstellung des durch den Propheten übermittelten ΊЛТ explizit. Siehe oben III. 1.3.2, S. 308. 3^ Die auf dieser Deutung aufbauende These Hyatts, ' m i n in Jer 6,19b sei auf die „urzeitlichen Pfade" in 6,16a zu beziehen (Torah, 389f.), hat Thiel (Redaktion I, 101, Anm.78) begründet zurückgewiesen. Damit scheitert auch Hyatts Versuch, Jeremias eigenes Verständnis von Tora zu erschließen, und ist seine Datierung von Jer 6,16-21 in die Frühzeit des Propheten (Hyatt, Torah, 389) hinfällig.

316

Verwendung und Funktion des Begriffs ΓΠΊΠ im Jeremiabuch

kann л т п aber auch als Synonym zu ПЗП aufgefaßt werden, so daß deren Schriftlichkeit nicht zwingend wäre. So formuliert etwa Jes 1,10 einen parallelen Höraufruf für mn-'-nm und 1ГлЬк m m . " Da die Vorstellung des Hörens sich jedoch im alttestamentlichen Sprachgebrauch genauso gut und oft explizit auf Schriftliches beziehen kann,^® insofern das Verb für Lesen (Nnp) überwiegend den mündlichen Vortrag in der Öffentlichkeit bezeichn e t , k a n n m i n in Jer 6,19 nicht von Jes 1,10 her auf Mündlichkeit festgelegt werden. Naheliegend ist für Jer 6,19 daher das Nebeneinander von mündlich übermittelter Botschaft und schriftlich vorliegender Weisung JHWHs, deren Schicksal im Blick auf die Rezeption seitens der Adressatinnen dasselbe, nämlich Mißachtung ist. Dabei verweist das Gotteswort auf die Tora als eine bekannte Größe, deren Umfang und Inhalt nicht weiter erläutert werden muß. Der Vorwurf der Mißachtung der Tora ergeht hier an das Volk als Ganzes. W. Thiel argumentiert bei der Zuweisung von Jer 6,18 f. zur dtr. Redaktion vor allem mit dem dtr. Charakter der Wendung Ьу / ПУТ N13 hif. und dem Gebrauch von m i n in den seiner Meinung nach dieser Redaktion angehörenden Stellen Jer 9,12; 16,11 ; 26,4; 31,33 ; 32,23 ; 44,10.23. Um einen Zirkelschluß zu vermeiden, ist letzteres für die genannten Stellen, mit Ausnahme von 26,4,"° erst einmal zu prüfen. Die bisher aufgezeigten traditionsgeschichtlichen Befunde für Jer 6,18 f. weisen allerdings in die Richtung der Thielschen Annahme. Aufgrund des redaktionellen Charakters von Jer 6,18 f. spiegelt die hier entfaltete Vorstellung von Tora jedenfalls nicht das Toraverständnis des Propheten selbst wider.'" Die nur im Masoretischen Text belegte Aufforderung an die ГПУ und die Glossierung durch a ^ ' i m ' m (V. 18b) belegen eine späte Weiterarbeit am Text. Sie macht die nachexilische Gemeinschaft zur Mitadressatin und fordert von ihr wie von den Völkern die Anerkennung des Gerichtshandelns Gottes gegen das vorexilische Gottesvolk.

" Vgl. zur Parallelisierung von m m und im Bezug auf JHWH noch Jes 2,3 par. Mi 4,2; Sach 7,12; mit leichten Variationen Jes 5,24: mxna т л ' ' m i n par. zu ЬкпШ'-ШПр m a x . 38 Vgl. ЗХПр Dtn 17,19; Neh 8,8.18; 9,3; Jer 36,6.8.10.13.14; Hab 2,2. In Ex 24,7; II Reg 23,3; Jer 26,15.21; 29,29; II Chr 34,18.24.30; Neh 8,3; Dtn 31,11 wird durch oder ΊΤΝ3 deutlich gemacht, daß öffentlich laut zu lesen ist. 39 Vgl. Labuschagne, THAT II, 672; Hossfeld/Lamberty-Zielinski, ThWAT VII, 133 f. Diese Bedeutung von ΚΊρ entwickelte sich letzteren zufolge erst seit exilischer Zeit, vor allem im dtr. Schrifttum, Die Bedeutung „für sich selbst lesen" findet sich nur an wenigen Stellen, z. B. Dtn 17,19; Hab 2,2 (3 ХПр) und II Reg 5,7; 19,14; Jes 29,11 f. (Xnp + Akkusativ). Für „halblaut lesen" wird das Verb Л:П verwendet. Jer 26,4 gehört zur exilischen Grundschicht von Jer 26. Siehe oben II. 2.3.1, S. 148. Gegen Hyatt, Torah, 389; Tannert, Begriff, 20 f.

D e r S c h u l d a u f w e i s - J e r 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 4 4 , 1 0 . 2 3 2 . 2 Eine

exilische

Frage

und ihre Antwort

- Jer 9,12;

317

16,11

D a i n Jer 9 , 1 2 u n d 1 6 , 1 1 d i e s e l b e T e x t f o r m b e g e g n e t u n d d i e s e l i t e r a r i s c h v o m K o n t e x t a u s g r e n z b a r ist u n d v e r g l e i c h b a r e n S p r a c h g e b r a u c h bietet, w e r d e n beide Stellen g e m e i n s a m analysiert. Im B l i c k auf die besondere Textgestalt ist in der Ü b e r s e t z u n g j e w e i l s der unmittelbar für d e n E i n z e l vers relevante Kontext mitberücksichtigt. Jer 9 , 1 1 - 1 5 11 a a 11 aß I Iba

Wer ist der Mann, s o w e i s e , daß er dies versteht, und zu d e m der M u n d J H W H s geredet hat, daß er es kundttun könnte?"^ Warum ist das Land zugrunde g e g a n g e n ,

II bß 12aa

verbrannt w i e die Steppe, die n i e m a n d durchzieht? D a sprach JHWH:

12aßY 12ba 12bß 13a 13b 14aa Maß 14b

Weil sie m e i n e Tora verließen, die ich ihnen vorlegte, und nicht auf m e i n e S t i m m e hörten [und nicht in ihr wandelten]''^, s o n d e m der Verhärtung ihres Herzens"^ folgten und den Baalen"', die ihre Väter sie gelehrt hatten. Darum, s o hat J H W H Zebaot, der Gott Israels, gesprochen: S i e h e , ich speise sie [ - dieses Volk da mit Wermut und tränke sie mit Giftwasser.

15a

U n d ich zerstreue sie unter die Völker, die sie nicht gekannt haben,"^ w e d e r sie n o c h ihre Väter, und ich schicke das Schwert hinter ihnen her, bis ich sie ausgetilgt habe.

15b

Zur Verschränkung der Fragen und ihren formkritischen Parallelen vgl. Holladay, Hermeneia 1, 307. Die Aussage fehlt in © und klappt im MT insofern nach, als sie an das Femininum ГП1П und nicht an den unmittelbar vorhergehenden Begriff Ь^p anknüpft. Sie ist als eine Glosse zu beurteilen, die im Blick auf Jer 26,4; 44,10 die Wendung 'Птп-ПХ 3TB erläutert. So mit Janzen, Studies, 38; Stipp, Sondergut, 66. Wenige hebräische Handschriften, © und Syriaca bieten zusätzlich ΰΠΠ bzw. ein Äquivalent für das Adjektiv. Da die Wendung in der Mehrzahl der Fälle mit dem Adjektiv gebraucht wird (vgl. Jer 3,17; 7,24; 11,8; 16,12), ist MT hier als lectio difficilior vorzuziehen. So auch Janzen, Studies, 63; Stipp, Sondergut, 147. © gibt •''ЬИЛЛ mit Tci είδωλα wieder. Von 16 weiteren Stellen f ü r D ' b ü a i n ) ist das nur noch in II Chr 17,3; 28,2 der Fall, so daß sich hieraus weder eine Gesetzmäßigkeit erkennen läßt noch die Existenz einer textkritischen Variante wahrscheinlich ist. Ein Äquivalent für ПТП ΟΓΠΤΙΚ fehlt in ©. Da das Objekt durch das Suffix bereits angezeigt ist, stellt die nochmalige Nennung eine erläuternde Glosse dar. Der Ausdruck ЛТЛ DSn findet sich auch sonst im masoretischen Sondergut, vgl. Jer 13,10; 15,1; 29,32 sowie Stipp, Sondergut, 66 f. Janzen (Studies, 11) denkt an eine Vermischung der Lesarten Dan ПК ^''ЭКП ЛТЛ und оЬ-'ЭКП in MT. Wenige hebräische Handschriften bieten zusätzlich ein Suffix der 3.P. pl., vervollständigen somit den Relativsatz. MT ist lectio difficilior.

318

Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

Jer 16,10-13 10a lOba lObß lOby 1 la

1 Ib 12a 12b 13a 13b

Und es wird geschehen, wenn du diesem Volk alle diese Worte verkündest, und sie zu dir sagen: „Warum hat JHWH uns dieses ganze [große]"* Unheil angedroht? Und was (ist) unsere Schuld, und was unsere Verfehlung, mit der wir uns gegenüber JHWH, unserem Gott, verfehlt haben?", dann sollst du zu ihnen sagen: „Weil eure Väter mich verließen - Spruch JHWHs - und anderen Gottheiten folgten und ihnen dienten und sich vor ihnen niederwarfen, mich aber verließen und meine Tora nicht beachteten. Ihr aber seid noch schlimmer [im Handeln]"' als eure Väter. Und siehe, ihr folgt jeder der Verhärtung seines bösen Herzens, ohne auf mich zu hören, So schleudere ich euch aus diesem Land weg auf'" ein Land, das ihr nicht gekannt habt, ihr samt euren Vätern, und dort werdet ihr anderen Gottheiten dienen, [Tag und Nacht,]'' die euch kein Erbarmen schenken."'^

2.2.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung Die Gliederung von Jer 9 in V. 1-10.11-15.16-21.22-23.24-25 stützt sich auf Neueinsätze durch die Frageform (V. 1.11), den Wechsel von Prosa zu Poesie (V. 16), die Botenformel (V. 16.22") und die Einleitung ПЗП (Y. 24).^" Aus dem überwiegend poetisch gehaltenen Kapitel 9 läßt sich •'S Ein Äquivalent für лЬп:;! fehlt in ©. Mit Janzen (Studies, 40) ist eine Auffüllung in MT aus Jer 32,42 anzunehmen, da der Ausdruck ohne Adjektiv (ПКТЛ ШЛГт'^З) auch in Jer 32,23; 40,2; 44,23 verwendet wird. Der Infinitiv mtosb in MT wird in © nicht übersetzt. Vgl. zur Wiedergabe von a a i hif mit πονηρεύεσθαι Jer 20,13; 38,9(45,9). П ш Ь ist in MT wahrscheinlich in Anlehnung an I Reg 14,9 angefügt worden. Vgl. Stipp, Sondergut, 107. ^ MT bietet die Präpositionen ]П + (vgl. hs in Jer 22,26.28) und bringt damit drastisch das Bild der Fortwerfens zum Ausdruck. 51 Die Wendung пЬ'''?! DOT hat in der © erster Hand kein Äquivalent, findet sich jedoch als hexaplarischer Zusatz und in den griechischen Übersetzungen von Aquila, Symmachus und Theodotion, die an MT angleichen. Vgl. McKane, ICC, 370. Stipp (Sondeigut, 106) hält die Wendung im MT für einen von Dtn 28,66 abhängigen Nachtrag. ©, Targum und Vulgata bieten Verben der 3. P. pl., während Aquila und die syrohexaplarische Übersetzung mit MT übereinstimmen. Die Relativpartikel kann sich im Kontext auch nur auf •"'ΊΠΝ ПТгЬк beziehen und muß in MT als Konjunktion verstanden werden. Das spricht gegen MT als ursprüngliche Lesart. Wahrend Volz (Studien, 141) die ©-Lesart für eine dogmatische Korrektur häh, kann mit Holladay (Hermeneia 1, 174) auch der MT so beurteilt werden, da hier die Machtposition der fremden Gottheiten eliminiert wird. Erst die Einfügung von nb'''?! ОПТ' in der prämasoretischen Überlieferung ermöglichte die Einsetzung JHWHs als Subjekt des Satzes. In 9,21 sind Redebefehl und Botenformel im MT nachgetragen, vgl. BHS zur Stelle. So auch Wanke, ZBK, 103ff.; ähnlich Rudolph, HAT 65ff.; Carroll, OTL, 237ff. (letzterer mit nach MT biereinigter Verszählung). Noch differenzierter gliedert Schreiner, NEB, 68ff.: V. 1-8.9.10.11-13.14.15.16-21.22f.24f.

D e r S c h u l d a u f w e i s - J e r 6 , 1 9 ; 9 , 1 2 ; 16,11; 32,23; 44,10.23

319

V. 11-15 aufgrand des Prosastils herausheben. Zudem unterbricht dieser Abschnitt die Klagen und Aufrufe zur Klage in V. 1-5.9.16-20. Er ist daher als redaktionelle Erweiterung zu beurteilen." Die Jer 9,11-15 und 16,10-13 kennzeichnende Frage-Antwort-Form liegt auch in Jer 5,19 und 22,8f. vor.'^ Im Gegensatz zu den Stellen 5,19; 16,10-13, an denen die Fragenden explizit die vom Gericht Betroffenen sind, bleibt die in 9,11 sprechende Person ungenannt. In die rhetorische Frage'^ nach einem verständigen oder einem von JHWH unterrichteten Mann'® (V. IIa) ist die eigentliche Frage nach der Ursache der Zerstörung des Landes eingebettet (V. IIb). Letztere greift die Schilderung der Not aus der Klage in V. 9 a u f Die Antwort JHWHs besteht aus einer Begründung (V. 12f.) und einem Gerichtswort (V. 14f.), das zunächst metaphorisch (V. 14),®° dann konkret die Zerstreuung unter die Völker und die vollständige Vernichtung®' durch Krieg ankündigt. Welchen pluralischen Adressatinnen das Gericht angesagt wird, bleibt zunächst in der Schwebe. Der Nachtrag „dieses Volk da"®^ ist inhaltlich jedoch wenig präzise. Die in der Eingangsfrage vorausgesetzte Situation der Zerstörung steht in Spannung zu der in die Zukunft gerichteten Ankündigung in V. 14 f. Diese Unausgeglichenheit wird hervorgerufen durch die Fiktion einer an die vorexilische Generation adressierten Gottesrede.®' Letzteres ist bedingt durch den literarischen Kontext, in den Jer 9,11-15 eingearbeitet wurde. Gegenüber dem Selbstbericht Jeremias über das zeichenhafte Verbot, an den Lebensäußerungen der Gemeinschaft teilzunehmen,®^ stellt Jer 16,10 mit ЛТП einen Neueinsatz dar, der zwar formal auf der in V. 1 eingeführten Ebene der Rede JHWH an Jeremia verbleibt, sich aber eigentlich an das 55 So mit Duhm, KHC, 94 f.; Rudolph, HAT, 61 ; Giesebrecht, HK, 57; Nötscher, HSAT, 97; McKane, ICC, 205. Dagegen hält Weiser (ATD, 81 f.) Jer 9,14 f. für eine authentische Gerichtsansage. Thiel (Redaktion I, 136) schreibt die Passage ausdrücklich den dtr. Redaktoren zu, während Wanke (ZBK, 106) auch eine nachexilische Entstehung für möglich hält. 5^ Stipp (Konkordanz, 162) stellt die Texte unter dem Titel „Strafgrunderfahrung" zusammen. 5' Vgl. als Parallelen zu dieser weisheitlichen Stilform Hos 14,10; Ps 107,43. 58 Oft wird vSn mn'-'S Ί3Τ ΊϊίΚΐ als Frage nach einem Propheten aufgefaßt. Vgl. etwa Thiel, Redaktion I, 136; McKane, ICC, 206. 59 Vgl. die parallelen Wendungen ПЗГ (ώ·'χ-)·''72η...ηΓ V.9aß.llbß und das Stichwort Ί3Ί0 V9aa.llbß. Mit der Wendung ϊίΚ-Ι-Ώ прш hif. greift Jer 9,14 auf 8,14 zurück. " Vgl. die späte Korrektur dieser umfassenden Aussage in Jer 4,27; 5,10.18; 46,28. ^^ Siehe oben die Textkritik zu V. 14aß. Vgl. das analoge Phänomen in Jer 7,1-15 oben II. 1.2.4, S. 90 sowie Jer 17,19-27 und 22,1-5 oben II.5.4, S.247. " Die Zeichenhandlung wird als solche nicht erzählt. Wiederholungen, mehrfache Begründungen und Ankündigungen erweisen die Mehrschichtigkeit von Jer 16,1-9. Vgl. Duhm, KHC, 138; Rudolph, HAT, 1 lOf.; Maier/Dörrfuß, marzéah, 54-56. Zur dtr. Herkunft der allerdings nur in V. 3b*.4b. 9aß* erkennbaren Redaktion vgl. Thiel, Redaktion I, 195-198. Ihm folgen Carroll, OTL, 338; Wanke, ZBK, 157.

320

Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch

Volk wendet. Nach hinten ist 16,10-13 durch die formelhafte Einleitung ΓΠΓΤ'ΌΝΐ ••'КЗ а''И''"Г13Г1 in V. 14 abgegrenzt. Das einen neuen Exodus ankündigende Heilswort in 16,14f. hat in 23,8f. eine Dublette.®^ Formal bildet Jer 16,10-13 einen eigenständigen Textabschnitt,dessen Verhältnis zur Redaktion von V. 1-9 nach der traditionsgeschichtlichen Analyse genauer zu bestimmen sein wird. 2.2.2 Traditionen und Redeformen in Jer 9,11-15 und Jer 16,10-13 Der in beiden Abschnitten gebrauchte Frage-Antwort-Stil hat über das Jeremiabuch (5,19; 22,8f.) hinaus zwei Parallelen in dtr. Texten: Dtn 29,23-27®^ und I Reg 9,8 f. par. II Chr W. Thiel kann in einem Vergleich der Texte®' drei konstante Strukturelemente aufweisen: 1. eine auf die Zerstörung von Tempel und Stadt bzw. Verödung des Landes zurückblickende™ Warum-Frage nach der Ursache der Katastrophe; 2. eine Antwort in klassisch dem dtr. Sprachgebrauch zugehörenden Aussagen; 3. ein die Einheit abschließendes Gerichtswort, das die Katastrophe erst für die Zukunft ankündigt und damit eine fiktive vorexilische Situierung vornimmt. Unter den genannten Texten stellt Jer 22,8 f. die engste Parallele zu Dtn 29,23-27; I Reg 9,8 f. par. dar, da in diesen drei Texten Frage und Antwort durch die Völker bzw. vorbeigehende Leute (I Reg 9,8) formuliert werden und sich kein abschließendes Gerichts wort findet." Dagegen sind Jer 5,19 Einen detaillierten Vergleich der beiden Texte bietet McKane, ICC, 374-376. Da 23,8 f. besser in den Kontext integriert ist und das Heilswort in Jer 16 den Zusammenhang der Unheilsankündigungen unterbricht, liegt die Abhängigkeit bei 16,14f. Vgl. Duhm, KHC, 141; Holladay, Hermeneia 1, 476; Wanke, ZBK, 160; Marx, A propos des doublets, 110. Römer (Väter, 452f.) kann Jer 16,14f. als nachdtr. Bearbeitung plausibel machen. So mit Holladay, Hermeneia 1, 467; Carroll, OTL, 342; Wanke, ZBK, 159. « Vgl. Lohfink, Bundesschluß, 64f. Nielsen (HAT 1/6,265.267) beurteilt Dtn 29,21-27 als spätdtr. Rose (ZBK 5/2, 551.554) rechnet Dtn 29,1-30,20 seiner Schicht IV (Ende des Exils/ frühnachexilisch) zu. Beide halten Dtn 29,23-27 für abhängig von Jer 22,8 f. Die als zweite (vgl. I Reg 3,4-15) Erscheinung JHWHs vor Salomo in Gibeon gestaltete Episode I Reg 9,1-9 wird aufgrund der eindringlichen Mahnung zur Einhaltung der göttlichen Gebote und mehrerer Anspielungen auf die Salomotradition meist DtrN zugeschrieben. V 6 - 9 stellt eine Ausweitung der Mahnung auf das Volk dar und ist daher noch jünger. Vgl. Hentschel, 1 Könige, NEB, 65; Würthwein, ATD 11/1, 104. ® Vgl. Thiel, Redaktion I, 297-300, bes. die Tabellen a. a. O., 296f. Thiel begründet diese Perspektive zu Recht mit den verwendeten Perfektformen in Jer 5,19; 22,8; 9,11 sowie I Reg 9,9. " Diese Nähe ist für Long (Schemata, 129-139) Anlaß, die drei Texte von den weiteren Jeremiatexten abzuheben und zwei Typen des Frage-Antwort-Schemas zu unterscheiden. Zu Typ В rechnet er neben Jer 5,19; 9,11-15; 16,10-13 noch Jer 13,12-14; 15,1-4; 23,33; Ez 12,9-12; 24,19-21. Die Texte dieser zweiten Liste sind jedoch so variantenreich, daß die Zusammenordnung mit Jer 5,19; 9,11-15; 16,10-13 zu einer Auflösung der klar strukturierten Grundform führt und sich also nicht empfiehlt.

Der Schuldaufweis-Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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und 16,10-13 in die im Jeremiabuch vorausgesetzte Verkündigungssituation eingebunden, insofern die Betroffenen selbst die Frage stellen und Jeremia die Antwort JHWHs übermittelt. In Jer 9,11 f. ist die Frage in eine weitere rhetorische Frage eingebettet, und die Antwort ergeht als direktes JHWH-Wort.^^ Die Begründungen variieren im einzelnen, bieten jedoch denselben Grundgedanken: Das Volk hat sich von JHWH ab- und fremden Gottheiten zugewandt.''^ Ersteres wird durch das Verb ату ausgedrückt, als dessen Subjekt JHWH selbst (I Reg 9,9 par.; Jer 5,19; 16,1 laa.ba), der mit ihm geschlossene Bund (Dtn 29,24; Jer 22,9) und seine Tora (Jer 9,12; vgl. 16,1 Ibß) begegnen. Die Zuwendung zu Fremdgottheiten wird in der stereotypen Begrifflichkeit mn e§taf., "[Ьл ПЗУ + ОППК (Dtn 29,25; I Reg 9,9 par.; Jer 16,11; 22,9) ausgedrückt.^'' In Jer 5,19 werden die Fremdgottheiten als пэз •'лЬк, in Jer 9,12 als 0"'Ьулл bezeichnet.^^ Der Gedanke der mangelnden Beachtung der Tora JHWHs wird in Jer 16,11 Cnmn ПйЩ хЬ) zusätzlich genannt, und ganz analog in Jer 9,12bß ("¡Ьл кЬ rrmn]3) nachgetragen. Jer 9,12b. 13 bietet außerdem noch die Vorwürfe des Nicht-Hörens auf JHWHs Stimme^® und, wie 16,12, des Wandels ,in der Verhärtung des eigenen Herzens Die Besonderheit von Jer 9,11-15 liegt in der Verbindung von пти mit dem Objekt τ η ΐ π und dem daran anschließenden Promulgationssatz, der auch in Dtn 4,8,™ Jer 26,4™ und 44,10®° begegnet. Die von JHWH den Adressatinnen vorgelegte ЛПП ist analog zur in Dtn 4,8 genannten Sammlung der Satzungen und Rechte zu verstehen als die im Deuteronomium schriftlich fixierte Weisung JHWHs. Ihre Mißachtung wird in Jer 9,12 neben dem Vorwurf des Nicht-Hörens auf die Stimme JHWHs genannt, so daß auch hier, wie schon in Jer 6,19, schriftliche und mündliche Übermittlung des Gotteswillens gleichrangig nebeneinander treten. Long (Schemata, 134-138) nimmt für Typ В einen ursprünglichen ,Sitz im Leben' in der Orakelanfrage beim Propheten an. Er begründet dies mit Jer 13,12-14; 15,1-4; 23,33, muß aber für Jer 5,19; 9,11-15; 16,10-13 dann wieder Besonderheiten konzedieren und die Übernahme der Form seitens der dtr. Redaktion annehmen. Allein in Jer 16,11 werden die Vergehen nur den Vätern der Fragenden angelastet. Die Wendung ОППК D^nb« η π Ν "¡Ьл begegnet an den sicher dtr. Stellen Jdc 2,12.19; I Reg 11,10 sowie Dtn 6,14; 8,19; 28,14; vgl. Weinfeld, Deuteronomy, 320, Nr 1; Hoffmann, Reform, 327; Stulman, Prose Sermons, 33, Nr. 3; mit anderer Herkunftsbestimmung Bright, Date, 207, Nr 4. Zu den weiteren Verben bzw. variierenden Objekten vgl. auch Weinfeld, a. a.O., 320f.; Hoffmann, a.a.O., 328-330. Siehe auch oben II. 1.2.2.4, S.81. Zur Nennung von Ьиз in der Tempelrede (Jer 7,9) siehe oben II. 1.2.2.4, S. 80 f. Zur dtr. Herkunft der Wendung ΓηΠ' bipn / 'bipn »Dïi (кЬ) siehe oben II. 1.3.2.4, S. 107. " Zum Ausdruck зЬ ΠΠΊϊί vgl. Stulman, Prose Sermons, 40, Nr 54; Bright, Date, 207, Nr 6; Weinfeld, Deuteronomy, 340, Nr 8 f sowie oben II. 1.3.2.5, S. 110. '' Vgl. zum Stichwort „Promulgation" Braulik, Dtn I, NEB, 40; zur Formulierang des Relativsatzes mit ^ s b ••'Ш Dtn 4,44. ™ Siehe oben n . 2 . 3 . 2 , S . 1 5 5 f . Das Objekt T i n n ist in 44,10 erst spät nachgetragen. Siehe die Textkritik zur Stelle unten Ш. 2.4, S.329.

322

Verwendung und Funktion des Begriffs m m im Jeremiabuch

Jer 16,10-13 hebt sich insofern von den Parallelen ab, als die Schuld zunächst den Vätern angelastet wird (V. 11) und erst in einem zweiten Schritt die vorexilischen Adressatinnen Jeremias in diesen Schuldzusammenhang eingebunden werden (V. 12), so daß der Schuldaufweis gegenüber der vorexilischen Generation noch verstärkt wird. Die Verbindung zu den Vätern wird in Jer 9,12 nur in einem Nebensatz erwähnt. Eine bestimmte Vätergeneration ist in beiden Fällen nicht im Blick, so daß sich die Angabe auf alle Vorfahren Israels im Land bezieht.®' Die Verwendung von m m als direktem Objekt zu ΊΏώ (Jer 16,1 Ib) ist in einem breiten Spektrum von Texten belegt. Entweder steht m i n neben anderen Begriffen für Gesetz (Gen 26,5; Ex 16,28; II Reg 17,13.37) oder der Begriff ist auf die Weisung anderer Personen bezogen (Prov 7,2; 28,4). In Ps 119,34.44.55; Prov 29,18; I Chr 22,12 ist die Wendung „die Tora JHWHs bewahren" als Aufforderung oder Aussage formuliert, während Jer 16,11; Ps 119,136 die Unterlassung solchen Handelns konstatieren. Da die Texte des Frage-Antwort-Schemas eine retrospektive Geschichtsschau einbringen und die Schuld eindeutig den Judäerinnen der vorexilischen Zeit zuweisen, sind sie nicht nur aufgrund ihrer Form und ihres Sprachgebrauchs, sondern auch aufgrund ihrer theologischen Position der dtr. Tradition zuzuweisen.®^ Insofern sich Jer 9,11-15 und 16,10-13 literarisch aus dem Kontext herausheben, steht einer Zuweisung der Stücke zur exilischen, dtr. Buchredaktion nichts im Wege. Daß die Frage-AntwortForm der Texte im Jeremiabuch allerdings mit W. Thiel auf „eine bestimmte Form der dtr. Verkündigungspraxis der Exilszeit" zurückzuführen sei und dazu diente, „die dtr. Gerichtsbegründung einzuüben"®", ist ein sehr hypothetischer Rückschluß auf den ,Sitz im Leben' dieser Stilform. Zweifelsohne spiegeln die Fragen das Erstaunen und die Erschütterung über die Zerstörung von Stadt und Tempel. Daher kommt ihnen historische Plausibilität zu. Ähnlich der Adressatenzitate im Jeremiabuch dienen Frage und Antwort dem Schuldaufweis und haben eine rhetorische Funktion, so daß der konkrete Inhalt auch im Blick auf den argumentativen Zusammenhang entworfen sein kann. Bei Dtn 29,23 ff. jedenfalls handelt es sich um eine literarische Erweiterung des Bundesformulars.®' Die in neuassyrischen Annalentexten zu findenden Parallelen des Frage-Antwort-Schemas lassen sich als historiographische und damit literarische Konvention verstehen.®^ Da So mit Römer, Väter, 415; Diepold, Land, 158 mit Anm. 1. So schon Hyatt, Torah, 392 f.; Long, Schemata, 139; schließlich Thiel, Redaktion I, 136f. »3 Thiel, Redaktion I, 295. Thiel, Redaktion I, 299. Ähnlich Weiser, ATD, 186. «5 So mit Lohfink, Bundesschluß, 63 f. Vgl. Long, Schemata, 132-134. Die Form der rhetorischen Frage unterstreicht die Schwere der Zerstörung. In den Begründungen wird meist auf einen Bruch von Vertrag bzw. Eid verwiesen.

Der Schuldaufweis - Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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die konkrete Formulierung der Frage in den alttestamentlichen Belegen jeweils an den bereits vorliegenden Kontext angepaßt ist,®' liegt es näher, eine literarische Stilisierung anzunehmen, die an markanten Punkten im Erzählverlauf ansetzt. Das mehrfache Auftreten der Stilform weist also nicht auf die Wiederholung des Vorgangs im Sinne einer Predigtpraxis. Vielmehr legt die rhetorische Funktion der Abschnitte nahe, daß diese theologischen Begründungen zu Fluchformulierungen oder Gerichtsankündigungen literarische Kompositionen darstellen. Die Gerichtsankündigungen von Jer 9,11-15 und 16,10-13 bieten einander analoge Vorstellungen. Die Metaphorik von Wermut®' und Gift wird neben Jer 9,14 noch in der Gerichtsankündigung an die Prophetinnen Jer 23,15 gebraucht. Wahrscheinlich knüpft Jer 9,14 an die Kurzform in dem authentischen Vers Jer 8,14 an.'" Die Begriffe ϊίΚΊ und ЛзаЬ sind in Thr 3,19 Metaphem für das Elend, in Dtn 29,17 konnotieren sie im Zusammenhang der Metapher der fruchtbringenden Wurzel das Verderben. Am 6,12 beklagt die Verwandlung von IDStìQ zu Gift und von npns zu Wermut, womit die Metaphorik auch vorexilisch schon belegt ist." Das Motiv des „Zerstreuens" (fDn 9,15) begegnet in Gerichtsworten häufig in der Ankündigung der Exilierung des Gottes Volkes'^ oder anderer Völker" und ist kein spezifisch dtr. Ausdruck. In Jer 16,13; 22,26.28 wird dagegen die Exilierung als „Fortwerfen" drastisch ins Bild gesetzt.'" Auch die Ankündigung des Dienstes für fremde Völker (Jer 5,19) ist ein Hinweis auf das Exil. Die Ankündigung, daß JHWH den Exilierten noch das Schwert nachschicken werde (Jer 9,15), findet sich unter Verwendung der Trias „Schwert, Hunger, Pest" noch Jer 24,10." Die Kennzeichnung des Exilslandes (Jer 16,13) als „unbekannt" begegnet noch Jer 17,4; 22,28 und Ez 32,9. Derselbe Relativsatz wird im Zusammenhang einer Gerichtsankündigung (Dtn 28,64) und mit Schuldaufweisen'' im Bezug auf die In Dtn 29,23 if. und Jer 9,11 stehen das Land und sein desolater Zustand im Mittelpunkt, in Jer 5,19; 16,10 die Situation der Adressatinnen, in I Reg 9,8 f. Land und Tempel, in Jer 22,8 schließlich Jerusalem. So mit Long, Schemata, 131. 89 Vgl. zu Herkunft und Klassifizierung der Pflanze Peisker, BHH III, 2167; Wolff, BK XIV/2, 288 f. So mit Thiel, Redaktion I, 137. Wolff (BK XIV/2, 330f.) beurteilt Am 6,12 als eigenständigen, authentischen Spruch, den er thematisch Am 5,7.24 zuordnet. Vgl. Dtn 4,27; 28,64; Jes 41,16; Jer 18,17; Ez 12,15; 20,23; 22,15; Nah 2,2; Sach 13,7. 93 So in Jer 30,11; Ez 29,12f.; 30,23.26. 9·» Duhm (Jeremia, 140) vermutet den Ursprung des Motivs in der Drohung gegen den Palastvorsteher Schebna in Jes 22,17f. 95 Gegen Thiel (Redaktion I, 138) ist Jer 24,1-9 später als die dtr. Redaktion anzusetzen. Vgl. Pohlmann, Studien, 20-31.183-191. Zur Debatte um die golaorientierte Redaktion siehe unten Ш.2.4.1, S.331f. 9^ Vgl. neben Jer 7,9 Dtn 11,28; 29,25; Jer 19,4; 44,3 sowie im Rahmen der Warnung vor PseudoprophetInnen Dtn 13,3.7.14. Es finden sich keine Belege im DtЮ. außerhalb des Dtn. Vgl. Stulman, Prose Sermons, 40, Nr. 55.

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Verwendung und Funktion des Begriffs л т п im Jeremiabuch

Fremdgottheiten gebraucht. An weiteren Stellen umschreibt er das Volk, dem Juda ausgeliefert wird (Dtn 28,33.36; Jer 9,15'^). Die Vorstellung, daß Juda im fremden Land anderen, „unbekannten" Gottheiten dienen muß, begegnet neben Jer 16,13b noch in dem Zusatz zu den Fluchformulierungen Dtn 28,36.'® Da die entsprechenden Stellen im Jeremiabuch meist redaktionell sind und ein enger Zusammenhang zum Vorwurf der Fremdgottverehrung besteht, kann das Motiv des unbekannten Gottes/Landes/Volkes der dtr. Tradition zugerechnet werden." Ist Jer 9 , 1 1 - 1 5 als dtr. Erweiterung zu e r w e i s e n , die die authentische G e richtsankündigung aus e x i l i s c h e r Perspektive t h e o l o g i s c h deutet, so kann Jer 1 6 , 1 0 - 1 3 der dtr. Bearbeitung d e s Berichts über Jeremias z e i c h e n h a f t e s Verhalten i m B l i c k auf das g e s e l l s c h a f t l i c h e L e b e n z u g e r e c h n e t werden. D i e dtr. Redaktoren h a b e n in Jer 16 w e n i g in d e n bereits durch das T h e m a ,Trauer' erweiterten Text 16,1-9'°" e i n g e g r i f f e n (V. 4b'°'), sondern ihre D e u t u n g ans E n d e gestellt. 2.3

23aa 23aß 23b

Fehlende

Orientierung Jer

an JHWHs 32,23

Weisungen

-

Und sie zogen hinein und nahmen es'"^ in Besitz, aber sie hörten nicht auf deine Stimme, und in deinen Weisungen'®^ wandelten sie nicht. Nichts von dem, was du ihnen zu tun geboten hattest, taten sie. Da ließest du ihnen all dieses Unheil widerfahren. 2 . 3 . 1 Kontext, Textstruktur und S c h i c h t u n g

D a ß Jer 3 2 , 1 - 4 4 k e i n e literarische Einheit bildet, ist in der Forschung Konsens.'®^ A u f d e n sekundär zur Gottesrede (V. l - 6 a ) ' ® stilisierten SelbstbeVgl. darüber hinaus Sach 7,14. " In welcher Richtung die Abhängigkeit zwischen den Stellen in Dtn 28 und den Jeremiasteilen verläuft, ist nicht generell zu entscheiden. Siehe oben II.5.3.1.2, S.237f. ' ' Vgl. тае1, Redaktion I, 138. Siehe auch oben II. 1.2.2.4, S.81. I™ Vgl. Maier/Dörrfuß, marzéah, 54-56. Vgl. Thiel, Redaktion I, 197. Gemeint ist das in V. 22a genannte Land (vgl. 2)311 зЬп ППТ |·ΊΚ V. 22b). Das Ketib "[ПППЗ wird durch © erster Hand gestützt, während die lukianische Rezension, Aquila, die syrohexaplarische Übersetzung und das Targum den Singular bieten. Vokalisiert ist der Begriff als Singular (Qere). Fischer (Text, 318 f.) hat 50 Ketib-Qere-Fälle untersucht mit dem Ergebnis, daß© nur in 12 Belegen dem Ketib folgt, in 36 jedoch dem Qere. Das spricht für die Ursprünglichkeit des Plurals. Versehentliche Metathesis von П und 1 erscheint angesichts des textkritischen Befundes nicht naheliegend. Da der Singular in Verbindung mit 3 "[bn geläufiger ist, ist das Ketib, der Konsonantentext des MT, als lectio difficilior vorzuziehen. Nur an einer weiteren Stelle, in Dan 9,10, ist die Textüberlieferung ebenso zwischen dem Plural v m i n n (MT, Theodotion) und dem Singular (® und Vulgata) gespalten. Vgl. die Überblicke in Thiel, Redaktion II, 29 f.; McKane, ICC, 845; Schmid, Buchgestalten, 103f. In Jer 32,1-44 ist der Masoretische Text um ca. 10% länger gegenüber der aus der Septuaginta rückübertragenen hebräischen Fassung, wobei die inhaltlichen Unterschiede nicht ins Gewicht fallen. Vgl. Stulman, Prose Sermons, 98.

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rieht von Jeremias Ackerkauf in Anatot, der als ein Rechtsgeschäft im Wachthof des Königspalasts während der Belagerung durch das Heer Nebukadnezars abgewickelt wird (V. ób-lS),'"® folgen ein Gebet Jeremias (V. 16-25) und eine Antwort JHWHs (V. 26-44), die in eine mehrschichtige Heilsverheißung mündet. Das durch V. 16 in die vorgängige Situation eingebettete Gebet des Propheten 32,17-25 preist JHWH zunächst als Schöpfer (V. 17), nennt dann in einem Geschichtsrückblick die Heilstaten JHWHs in Ägypten, bei Exodus und Landgabe (V. 18-22), kritisiert den Ungehorsam der Väter nach der Landnahme (V. 23), beklagt die gegenwärtige Situation der Belagerung durch die Chaldäer (V. 24) als Folge dieses Ungehorsams und lenkt schließlich auf das Thema Ackerkauf zurück (V. 25). Im Blick auf Jeremias Gebet und JHWHs Antwort nimmt die Mehrzahl der älteren Kommentare mit geringen Variationen einen authentischen Grundbestand in den Versen 32,16.17*.24f.26-29a.42 f.(44) an, der mit der Zäsur nach V. 23, der nachklappenden Fortführung des Objekts in V. 29b und auf den Selbstbericht zurücklenkenden V.42f. (44) begründet wird.'"® Obwohl er Fugen und inhaltliche Differenzen sieht, bestimmt W. Thiel 3 2 , 1 6 - 4 4 als „durchgehend von D formuliert" In einer neueren Untersuchung der Vorstellungen vom Bund im Jeremiabuch erwägt Thiel jedoch, Jer 3 2 , 1 6 - 4 4 wegen der Weiterführung der Vorstellung von Jer 31,31-34 einer zweiten dtr. Redaktionsschicht zuzuweisen."" Gegen die literarkritische Ausgrenzung des Geschichtsrückblicks V. 17*-23 wendet sich neuerdings K. Schmid. ' " E r sieht den Grundbestand des Abschnitts in V. 16-18.20*-25.26-29a.31.42-44 und ver105 Thiel (Redaktion II, 30) schreibt V. l-6a einem postdtr. Redaktor zu. Jer 32,6-15 als Grundbestand verstehen Duhm, KHC, 266; Thiel, Redaktion II, 31. Vgl. Herrmann, Heilserwartungen, 187 f. Er betrachtet 32,36-41 als Einschub und 32,43.44 als an V. 15 orientierte Erweiterungen. ">8 Vgl. Rudolph, HAT, 207.213 (Selbstbericht in Prosa aus Quelle A); Volz, ΚΑΤ, 302ff.; Bright, AncB, 288-292; Holladay, Hermeneia 2, 207 ff.; Mathys, Dichter, 77. Als insgesamt redaktionell beurteilen 32,16-44 Duhm, KHC, 266; Schreiner, NEB, 192-194; Carroll, OTL, 625. II» Thiel, Redaktion II, 32. Ähnlich schon Duhm, KHC, 266f.; Hyatt, Edition, 260 und erneut Schreiner, NEB, 192.194. "ö Vgl. Thiel, Rede, 17. Vgl. Schmid, Buchgestalten, 104. Hauptargument ist die exklusive Llbereinstimmung der Gebetseinleitung 32,16 ЛЩ-'-Ьк "^Ьэпкт mit Dtn 9,26, dem Beginn des Mosegebets 9,26-29. Da sich Jer 32,16-23 als ganzes an Dtn 9,26-29 orientiere, liegen 32,16 und 32,17 ff. Schmid zufolge auf einer Ebene. Übereinstimmungen zwischen beiden Gebeten sind aber auffallend gering und bestehen nur in der Beschreibung der Herausführung πρτπ Т З und H'IB: а п т к з (vgl. Jer 32,21b mit Dtn 9,26b29b), wobei für beide Ausdrücke in Dtn 9,26.29 textkritische Varianten voriiegen. Schmids Argumentation ist insofern nicht zwingend, als derselbe Sachverhalt auch so inteφretiert werden kann, daß aufgrund der parallelen Gebetseinleitung in V. 16 Jer 32,17*-23 durch einen Geschichtsrückblick erweitert wurde. Diese ,kompliziertere' Lösung (vgl. Schmid, a.a.O., 104, Anm.244) fügt sich eher in die auch sonst beobachtbare Ausweitung von Jeremiatradition mit Blick auf Dtn-Stellen.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m i n im Jeremiabuch

weist auf eine parallele Strukturierung von Gebet und Gottesantwort aufgrund von Sach- und Wortberührungen. Der erarbeitete Grundbestand ist, so Schmid, sekundär an die Ackerkauferzählung 32,6-14* angeschlossen und deutet „die von der Grunderzählung vorgebrachte Aussage der Legitimität bestehender Bodenrechte auf die Legitimität des Neuerwerbs von Boden hin um [...]"'". Da Schmid hierin die Position der 597 deportierten Gola erkennt, datiert er den Grundbestand von 3 2 , 1 6 - 4 4 * analog zu den golaorientierten Programmtexten Jer 24 und 2 9 , 1 6 - 2 0 ins frühe 5. Jahrhundert."" Dieser kurze Überblick zu einigen neueren redaktionsgeschichtlichen Thesen zu Jer 32,16 ff. zeigt, daß die Zuordnung jeweils von Denkmodellen über eine Gesamtkomposition abhängt, deren Begründung nicht nur auf Jer 32, sondern auf weit umfassenderen Textanalysen basiert. Da die Erarbeitung einer eigenständigen, redaktionsgeschichtlichen These zu Jer 32,1-44 an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, wird der schuldaufweisende Geschichtsrückblick Jer 32,17-23 auf dem Hintergrund des bisher zu dtr. und nachdtr. Sprachgebrauch und Vorstellungen Erarbeitetem einer traditionsgeschichtlichen Analyse unterzogen.

2.3.2 Traditionenin Jer 32,17-25 Das Gebet Jer 32,17-25 hat enge Sprach- und Motivparallelen in Dtn 4,31-40; 5,9f.; 26,5-9 und Neh 9,6-37. Wie unter anderen H. Weippert"® nachgewiesen hat, besteht Jer 32,17*-23 fast vollständig aus Zitaten von Wendungen aus parallelen Texten des Buches, aber auch aus den Rahmenkapiteln des Deuteronomiums. Allerdings ist diese Motivik und Sprachgestalt nicht als authentisch zu beurteilen,"^ sondern basiert auf dtr. Tradition."®

Vgl. Schmid, Buchgestalten, 105 f. Allerdings betreffen die Entsprechungen im Gebet nur die Verse 16.17(nur ΓηΓΓ" ''ЛХ ηηκ).24ί. Auch die Bestätigung der Gerichtsdoxologie in V. 42 nimmt sprachlich nur auf V. 23b Bezug und rekurriert gerade nicht auf den ausführlichen Rückblick in V 17*-23a, so daß dieser auch nachträglich eingeschaltet sein könnte (vgl. die vorherige Anmerkung). Angesichts der späten Datierung des Grundbestandes durch Schmid (dazu im folgenden) fällt freilich die literarkritische Differenzierung nicht in gleichem Maß ins Gewicht, wie dies bei einer exilischen Datierung von 32,16-44* der Fall ist. Die Ausgrenzung von V. 19 aus dem Grundbestand erfolgt aufgrund der sachlichen Inkompatibilität zwischen der individuellen Verantwortung (V. 19b) und der Vorstellung einer Kollektivschuld (V 18). I" Schmid, Buchgestalten, 266. "" Vgl. Schmid, Buchgestalten, 266-269 und die Übersicht, a.a.O., 434. "5 Vgl. die Tabelle in Römer, Väter, 477; auf die Parallelen Dtn 9,26-29; 26,5-9 weist auch Levin (Verheißung, 172, Anm.75) hin. Die Gebetseinleitung Jer 32,16 (тЛ''-Ьк bbsriNl) ist nur noch Dtn 9,26 belegt, vgl. Schmid, Buchgestalten, 104. Vgl. Weippert, Schöpfer, 71 f., den ausführlichen traditionsgeschichtlichen Nachweis durch Holladay, Hermeneia 2, 216-218 und neuerdings Mathys, Dichter, 75-82. So Holladay, Hermeneia 2, 208 f. Weippert zögert, den Ergänzer bzw. dessen „Nachdichtungen" genauer zu datieren (Schöpfer, 72, Anm. 29). Als ein spätes Stadium solcher Tätigkeit versteht sie aber die Paralleltexte Dan 9,4b-19 und Neh 9,6-37.

Der Schuldaufweis - Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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Das Bekenntnis zu JHWH als Schöpfer in V. 17a (f ΊΚΠ-ΠΚΙ 0''ПШП-ПК n'-to ЛПК ГТ^ВЗЛ 11ЛТ31 Ь л з л "(ПЭЛ) nimmt die fast wortgleiche, allerdings in der ersten Person Singular formulierte Aussage Jer 27,5 auf. Die Näherbestimmung "[ПЭЛ Л'^ИЗЛ "[ИЛТЗТ Ь п з п wird außerhalb des Jeremiabuches nirgends auf die Schöpfung angewendet."' V. 17b gestaltet die rhetorische Frage aus 32,27b zu einer Bekenntnisaussage um. V. 18a (•''аЬк'? ПОП ЛЙР) zitiert aus dem Dekalog Ex 20,6 par. Dtn 5,10. Die Wendung ГЭПЭ Ш'-кЬ ППЬ (V. 19b) nimmt Jer 17,10b auf,'^" wobei die Vorstellung einer individuellen Verantwortung gegenüber der in 32,18 erwähnten Kollektivschuld eine zweite Perspektive e i n b r i n g t . D i e Verbindung von D'ite mit „Zeichen und Wundern" (V. 20a) findet sich in den Geschichtsrückblicken Ps 78,43; 105,27. Der Doppelausdruck DTiaaai ΠΙΠΚ findet sich neben 32,20a noch in Dtn 26,8. Zur Beschreibung der Herausführung aus Ägypten ( b n : х т о з т л-^а: ï n w a i лртп т з т DTisiaai т п к з V.21b) existieren parallele Reihungen in Dtn 4,34; 7,19; 26,8f. Mit H.-P. Mathys ist die extrem lange Aufzählung in Jer 32,21b als absichtlich summierendes Zitat der genannten Deuteronomium-Stellen zu i n t e r p r e t i e r e n . D a s Thema Landgabe an die Väter (V. 22a) hat eine fast wortgleiche Parallele in Jer 11,5.'" Die Charakterisierung des Landes als tíam зЬп пат ]«пк (V. 22b) ist unter anderem in Dtn 26,9 belegt.'^" Der Vorwurf des Nicht-Hörens auf die Stimme JHWHs (V. 23a) schließlich begegnet als typische dtr. Wendung häufig im Jeremiabuch. Die Hif'il-Form des Verbs ΚΠρ II ist in Jer 32,23b singulär, während Qal-Formen in Verbindung mit dem Objekt ΠΰΠΠ noch in Jer 44,23 und in den letzten Worten Moses Dtn 31,29'^^ gebraucht werden.

So mit Römer (Väter, 479). Römer weist Jer 32,17-23 aufgrund seines anthologischen Charakters und des Bezugs zum Väterschwur Jer 11,5 einer sekundären dtr. Bearbeitung (Dtr^Jer) zu. Vgl. dazu Mathys, Dichter, 78. Zu den textkritischen Varianten VDm und ЧЭПП in 17,10 vgl. BHS. In 32,19 fehlt ein Äquivalent für V^büD ПВЭТ in so daß der Ausdruck im MT wahrscheinlich von 17,10b her nachgetragen wurde. Zur Verbindung der Wendungen in 17,10; 32,19 mit dem Begriff D'bbsa vgl. Weippert, Prosareden, 144-148. Sie grenzt die Verwendung von "¡Π und hhsm im Jeremiabuch zu Recht vom dtr. Sprachgebrauch ab, da die einzige dtr. Stelle Jdc 2,19 ein anderes Verb und eine andere Reihenfolge der Begriffe verwendet. Gegen Weipperts Zuschreibung der Belege zu Jeremía, die sie als einzige Alternative zur dtr. Herkunft in Betracht zieht, ist jedoch eine nachdtr. Entstehung der Aufforderung zur Besserung des Lebenswandels wahrscheinlich. Siehe oben II. 1.2.2.1, S.69-71. 121 Ähnlich Mathys, Dichter, 79. Dagegen grenzt Schmid (Buchgestalten, 105) V. 19 wegen dieser sachlichen Differenzen aus dem ansonsten als einheitlich beurteilten Gebet aus. 122 Vgl. Mathys, Dichter, 80 f. 123 Zum Vergleich der beiden Stellen siehe oben II. 3.3.3.1, S. 186-193 sowie Römer, Väter, 475-481. 124 Vgl. darüberhinaus Ex 3,8.17; 13,5; 33,3; Lev 20,24; Num 14,8; 16,14; Dtn 6,3; 11,9; 26,15; 27,3; Jos 5,6 sowie oben II. 3.3.3.1, S. 19И. '25 Vgl. Jer 3,13.25; 7,26.28; 22,21; 40,3; 42,13.21; 43,4.7; 44,23. Alle Belege bei Fenz, Jahwes Stimme, 38 f Vgl. noch Bright, Date, 211, Nr. 46. '2'i Dtn 31,24-29 dient u. a. der Einbindung des Moseliedes in den Moabbund. Vgl. Braulik, Deuteronomium II, NEB, 224 f.; Nielsen, HAT 1/6,279. Rose (ZBK 5/2,559-563) rechnet Dtn 31,29 seiner Schicht IV (Ende des Exils/frühnachexilisch) zu.

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Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch

Gegen die Zuschreibung des Gebets Jeremias zur dtr. Redaktion, die sich wesentlich am Sprachgebrauch o r i e n t i e r t , i s t der GeschichtsrückbUck Jer 32,17*-23 aufgrund seines anthologischen Charakters und der Anspielungen auf Dtn 4,31-40; 26,8 f. als ein nachdtr. Abschnitt zu beurteilen, der im Gewand dtr. Diktion weiterführende Vorstellungen einbringt.'^® Daß 32,17*-23 keine Bezüge zum Kontext des Ackerkaufberichts bietet, stützt die Annahme einer späten Texterweiterung, die auch mit dem Aufweis eines Grundbestandes in 32,16.17*.24f. vereinbar ist. Dieser traditionsgeschichtliche Befund läßt sich am ehesten mit der redaktionsgeschichtlichen Vorstellung verbinden, daß ein in exilische Zeit zu datierender Grundbestand von Gebet und Gottesantwort die Symbolhandlung nachträglich als den Anfang neuen Heils deutet (V. 42 f.) und der Einbau des Geschichtsrückblicks in das Jeremiagebet in der nachexilischen Zeit erfolgte. Die mit V. 17*-23 vergleichbaren Gebetstexte 26,5-9 und Neh 9,6 ff. sowie die Anspielungen auf Dtn 4,31 ff.; 5,9 f. stützen eine nachexilische Datierung. Am Ubergang zwischen V. 23 und V. 24 zeigt sich eine Spannung in der zeitlichen Verortung. Während der Narrativ in V. 23b ein Geschehen in der Vergangenheit beschreibt und also noch zum Rückblick gehört, bleibt die Bezeichnung ΠΝτη ΠΰΊΠ auf die im folgenden V. 24 als gegenwärtig geschilderte Belagerung Jerusalems hin offen, so daß die Spannung zwischen der fiktiven Situierung des Gebets und der auf das Gericht zurückblickenden Perspektive seiner Erweiterung geglättet wird. Im Vergleich zu den sonstigen Belegen der Verbindung von 3 "pn und min'^^ fallt Jer 32,23 durch seine ursprünglich wohl pluralische Fassung des Objekts auf. Die einzige weitere Stelle, in der Singular und Plural als textkritische Varianten auftauchen, ist Dan 9,10. Gerade dieser Vers hat mit Jer 32,23 auch die Aussage ηЬ^pn / bipn lyottí кЬ gemeinsam. Das Bußgebet Daniels (9,4b-19) führt die Tradition des dtr. Schuldaufweises fort, stellt diesen jedoch in den Rahmen des Sündenbekenntnisses. Es erweist sich auch in seinen sonstigen Anspielungen als von der jeremianischen Tradition abhängig.'^" Darüber hinaus begegnet der Plural ППЛ in Aufzählungen neben о р п und D^asttia (Ex 18,20; Lev 26,46; Neh 9,13).'^' Der Bedeutungsunterschied zum Singular ist in Verbindung mit der Metaphorik des Lebenswandels (n "|Ьл) nicht sehr groß, insofern auch die n n n als Leitlinie gelingenden Lebens auf den Gotteswillen verweisen. AllerVgl. Thiel, Redaktion II, 33.37; Stulman, Prose Sermons, 98 f. Auch Mathys (Dichter, 82) thematisiert das „Janusgesicht" des Gebets Jeremias, weist es letztlich aber doch der dtr. Buchredaktion zu: „Jeremia spricht in ihm also nicht als der, sondern als ein deuteronomistischer Dogmatiker mit eigenem, unverwechselbarem Profil." Vgl. Ex 16,4; II Reg 10,31; Jer 26,4; 44,10.23; Ps 78,10; 119,1; Neh 10,30; IIChr6,16 und oben 11.2.3.2,8.155 f. Vgl. Porteous, ATD 23, 109 und die Parallelen in Gilbert, La prière, 295 f. Vgl. noch den Schuldaufweis in Jes 24,5 obia ППП ПЭП рп 1а7П m m ППИ-'З. © übersetzt m i n singularisch.

Der Schuldaufweis - Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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dings assoziiert die Pluralform eher eine Fülle von Weisungen JHWHs, als daß sie eine fest umrissene Größe impliziert. Ohne den Beleg pressen zu wollen, paßt die Ausdifferenzierung von m i n in eine Vielzahl von ППП zu der nachexilischen Einordnung des Geschichtsrückblicks. Der Vorwurf mangelnder Orientierung an den Weisungen JHWHs betrifft in Jer 32,23 nicht nur die Landnahmegeneration, die bei den unmittelbar vorausgehenden Verben im Blick ist, sondern ganz Israel als Gottesvolk (V. 21a), das im Besitz des Landes ist. Es wird für das in der Perspektive von V. 23 bereits ergangene, in V. 24 als gleichzeitig zum Gebet bestehende Unheil verantwortlich gemacht. Implizit werden damit alle im Land lebenden Generationen bis zum Exil in die Schuldgeschichte mit hineingenommen. Diese Binnenperspektive prägt auch das Heilswort Jer 32,41 f., das einen Neukauf von Äckern im Land (vgl. die Nahdeixis ΠΝτη f ΊΧ3) verheißt. 2.4 Der Schuldaufweis

im Rückblick - Jer

44,10.23

Jer 44,10 10a Sie wurden nicht zerschlagen'" bis auf den heutigen Tag 1 Ob [und fürchteten sich nicht] u n d w a n d e l t e n n i c h t "" in [meiner Tora und]

meinen Satzungen, die ich euch und euren Vätem/ihren Vätern"^ vorgelegt hatte. Jer 44,23 23a

23b

Weil ihr Räucheropfer brachtet und euch verfehltet gegenüber JHWH und nicht hörtet auf die Stimme JHWHs und in seiner Tora und seinen Satzungen und seinen Ordnungen nicht wandeltet, deshalb widerfuhr euch dieses Unheil [ - wie es heute ist]

© bietet mit έπαύσαντο eine Libersetzung von hebr. лЬэ, während Theodotion mit έταπεινώθησαν näher bei MT liegt und Syriaca aram. voraussetzt. Vulgata denkt an Reinigung. Die Aussage IXT' kSi wird in ® nicht übersetzt. Ob absichtliche Auslassung durch © vorliegt oder Auffüllung durch MT, läßt sich nicht mehr klären. Da MT in diesem Vers zweimal eine doppelte Aussage bietet, ist eine absichtliche Auffüllung wahrscheinlich. © (51,10) bietet mit άντέχεσθαι ein Verb, das sonst als Äquivalent von hebr. ptn (Jes 56,2.4.6 [ΠΙΠ··] ППЗЗ pm; Neh 4,10; Prov 3,18) oder ϊ ί Ί Ί (Jer 8,2; Zeph 1,6) sowie ton (Jer 2,8 Л-ППЛ 'fflsn) gebraucht wird. Da in © das Objekt ' m i n nicht übersetzt wird, könnte "¡Ьл bei der Zufügung von ТПШЗ eines der genannten Verben ersetzt haben. 135 Ein Äquivalent für •'птпл fehlt in ©, so daß MT wohl von 44,23 und Jer 26,4 her auffüllt. So mit Stipp (Sondergut, 105). Ein analoges Beispiel für einen derartigen prämasoretischen Nachtrag bietet Jer 9,12bß. Siehe die Textkritik zur Stelle, oben III. 2.2, S. 317. MT stellt gegenüber © eine Auffüllung dar. Die Textänderung in die direkte Rede setzt sich in V. 11 f. gegenüber der in © überlieferten Kurzfassung fort. Vgl. Janzen, Studies, 58f.; Stulman, Prose Sermons, 112 f. Ein Äquivalent für ЛТЛ DT3 fehlt in ©. Da der Ausdruck noch in Jer 44,6 begegnet (vgl. noch 44,22 ЛТЛ ОТ'ЛЭ) und an beiden Stellen von © übersetzt wird, dürfte er in V. 23 aufgefüllt sein. So mit Janzen, Studies, 58. Stipp (Sondergut, 104) zählt 10 weitere Stellen in Jer 25-50, an denen im MT Zeitangaben mit DV nachgetragen wurden.

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Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch 2.4.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung

In Jer 44 hat die griechische Textfassung einen um 19% geringeren Umfang. J. G. Janzen kann aufzeigen, daß die im Masoretischen Text belegte Langfassung des Kapitels gegenüber der Septuagintafassung Zusätze und Erläuterungen aus Parallelstellen b i e t e t . D e r hebräische Text ist vor allem durch solche Wendungen angereichert worden, die nicht im DtrG., sondern in Prosareden des Jeremiabuches belegt sind. Durch einen Vergleich beider Textfassungen kommt H.-J. Stipp zu dem Ergebnis, daß der Masoretische Text auf einen Sprecherstandort in Palästina vor der Auswanderung hindeutet, während die Septuagintafassung mittels Orts- und Zeitdeixis einen innerägyptischen Blickwinkel zu verankern sucht.''*' Abgesehen von den Differenzen in der griechischen und hebräischen Textüberlieferung ist allgemein anerkannt, daß Jer 44 keine literarische Einheit sein kann. Das Kapitel bietet sich in der masoretischen Textfassung als Dialog zwischen Jeremia (V. 2-14.20-23.24-30) und den nach Ägypten geflohenen Judäerinnen (V. 15-19) dar. Allerdings besteht in dieser Strukturierung die Spannung, daß in V. 16-19 Frauen sprechen (vgl. V. 19b), obwohl in V. 15-18 auch deren Ehemänner als Antwortende eingeführt sind. Geht es in V. 15*-19.24-26 um die Verehrung einer „Himmelskönigin" genannten Göttin, so wird in V. 5.8.15* die Verehrung von Fremdgottheiten allgemein verurteilt. Zudem finden sich mehrere Gerichtsankündigungen (V. 2-6.11-14.20-23.26f.), deren absolute Vernichtungsaussagen (V. 13f. 27) in V. 14b* und V. 28 wieder eingeschränkt werden. Die Einleitung V. 1 setzt die Notiz über die Verschleppung Jeremias nach Ägypten (43,6) voraus und verklammert daher das Kapitel mit Jer 43,1-7. Im Unterschied dazu bestehen zwischen Kapitel 44 und 45 keinerlei Verbindungen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung und der Konzentration auf die Belege für m i n ist eine detaillierte Erörterung der literarischen Zusammenhänge dieses als Abfolge von Reden stilisierten Kapitels nicht möglich. Ausführliche Textanalysen aus jüngerer Zeit bieten W. T h i e l u n d K.-E Pohlmann. Vgl. Stulman, Prose Sermons, 112. Die Vulgata folgt weitgehend dem Masoretischen Text. Vgl. Janzen, Studies, 58 f. "" Vgl. Stulman, Prose Sermons, 112-117. Zur entgegengesetzten These Tovs siehe oben 1.2.2, S . 2 7 f . "" Vgl. Stipp, Sondergut, 162 f. Vgl. den Überblick über die ältere Forschung in Stulman, Prose Sermons, 114-116, sowie Carroll, OTL, 732. Ausnahmen bilden Giesebrecht, HK, 220; Weiser, ATD 21, 370; Holladay, Hermeneia 2, 286 f. So mit Pohlmann, Studien, 166. I« Vgl. Thiel, Redaktion II, 69-81. Vgl. Pohlmann, Studien, 166-182. Pohlmann diskutiert die These Thiels nach der Manuskriptfassung der Dissertation von 1973, deren zweiter Teil zu Jer 2 6 - 5 2 erst 1981 publi-

Der Schuldaufweis-Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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Thiel bleibt im Duktus der bereits von der älteren Forschung vertretenen These, derzufolge ein in Jer 44,15-19*.24-26*.28a"'^ zu findender Grundbestand umgearbeitet worden ist. '''' Dieser Kern kann, da er ohne Einleitung der Situation überliefert ist, als Disput Jeremias mit den die Himmelskönigin verehrenden Frauen gedeutet werden, in dessen Kontext Jeremias letzte Warnung vor der Flucht nach Ägypten ergeht. In diesem Fall ist die Verschleppung Jeremias nach Ägypten (vgl. 43,6) nicht notwendig vorausgesetzt. "" Deutlich ist, daß die erste Überarbeitung den mit Jeremia streitenden Frauen deren Männer und alle in Ägypten wohnenden Judäerinnen zugesellt (V. 1.15*.24*), den Schuldaufweis auf den generellen Vorwurf der Fremdgottverehrung ausweitet (V.5.8.15*) und die Gerichtsankündigung mit der Drohung der völligen Auslöschung verstärkt (V. 27.28b).''' Im Kontext des Buches hat die ausführliche Fassung die Funktion einer exemplarischen Gerichtspredigt im Sinne einer Abschiedsrede Jeremias. Ablehnung gegenüber der Herausarbeitung eines alten Kerns signalisiert Pohlmann, der den Hauptanteil des Kapitels (44,l-3.7-14*.15*.16-19.24*.25*.26f. 29 f.) der von ihm ins 4. Jahrhundert datierten „golaorientierten Redaktion"'''

ziert wurde. Dessen ungeachtet bezieht sich die vorliegende Studie durchgängig auf die zweibändige, 1973 und 1981 veröffentlichte Fassung der Dissertation Thiels. Es handelt sich genauer um den Grundbestand 44,15a*.16-17aa.b.l8a.l9.24a[ohne 1 •sn-'73-'7N].ba.25aß-26[ohne o n s o упКЛ В'ЗШ'Л т1П''-'7Э].28а. Vgl. Thiel, Redaktion II, 74-79. Ihm folgt, unter Hinzunahme von V. 7 und Weglassung von V. 25 Schreiner (NEB, 230 f.). Duhm (KHC, 328) hält V. 15-19.24-26.28 für das älteste Material (Baruchs Buch). Rudolph (HAT, 259) rechnet V. 1.3-6.9-22.24-27 als dem Grundbestand des Kapitels zur Barucherzählung, die s.E. im Sinne der Quelle С überarbeitet wurde. McKane (ICC, 1085-1095) listet weitere literarkritische und redaktionsgeschichtliche Analysen detailliert auf Er selbst bezweifelt aber die Aufßndbarkeit eines ursprünglichen Kerns. Unsinnig erscheint die von Rose vorgenommene vollständige Eliminierung aller an dtr. Sprache erinnernden Wendungen, da das übrigbleibende, ,bereinigte' Spruchfragment 44,15a* 17aaß*.b*. 18a*. 19ba* weder einen in sich geschlossenen Zusammenhang ergibt noch die Opfer und den Namen der verehrten Gottheit nennt. Vgl. die Textdarstellung bei Rose (Ausschließlichkeitsanspruch, 257), der jedoch daraus keine methodischen Schlüsse zieht. Gegen das Verfahren Roses ist zu bemerken, daß nicht jede Erwähnung einer fremden Gottheit und von Trankopfem für diese dtr. sein muß, zumal für die spätvorexilische Zeit die Verehrung des Himmelsheeres historisch äußerst plausibel erscheint. Vgl. dazu Koch, Aschera, 108 f und die Diskussion oben II. 1.3.2.2, S. 100-103. Vor allem unter Hinzunahme von 44,7, vgl. Schreiner, NEB, 230f Die Wendung ••'Ί3Π учХ'Ьзл т п ' ' -ΌΙΚ-'Π ηηκ r m r f Й'К'Ьэ in v. 26Ь und die Drohung, nur wenige würden aus Ägypten zurückkehren in V. 28a, setzen die Situierung des Grundtextes in Ägypten nicht notwendig voraus, sondern können auch prospektiv gelesen werden. Vgl. Schreiner, NEB, 230f '51 Vgl. Thiel, Redaktion II, 79. I" So mit Thiel, Redaktion II, 81; ähnlich Schreiner, NEB, 234. Pohlmann, Studien, 181 f Zur Datierung der golaorientierten Redaktion vgl. a.a.O., 191. Zur Kritik an dieser These vgl. Seitz, Crisis, 94; Carroll, Chaos, 227ff.329f ; Levin, Verheißung, 165-168; Schmid, Buchgestalten, 254ff. und die Replik durch Pohlmann, Heil, 147-149. Pohlmann revidiert die Einordnung zumindest für die analoge Redaktion im Ezechielbuch (ausgehendes 5. Jh.), vgl. Pohlmann in: Kaiser, Grundriß 2, 98.

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Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch

zuweist, während er V. 4 - 6 . 1 4 * . 15*.20-23.24*.28 als noch spätere Zusätze beurteilt. In 44,15.24.27 f. greift Pohlmanns literarkritische Differenzierung dieselben Stellen auf, an denen auch sonst Bearbeitungsspuren entdeckt wurden. Das Hauptargument Pohlmanns, daß V. 16-19 einheitlich sowie Thema und Rolle der Frauen im Blick auf Jer 7,18 gewählt seien,'" ist insofern unzureichend, als gerade in der Tempelrede die gesamte Familie in den Blick kommt und der Vorwurf der Trankopfer sich dort auf alle Fremdgottheiten bezieht. Wie die Analyse gezeigt hat, ist Jer 7,18-20 von Jer 44* abhängig.'^'

Ungeachtet dieser Suche nach einem authentischen Kem in 44,15-19. 24-28 läßt sich V. 20-23 formal und inhaltlich als ein Nachtrag erweisen. Der Abschnitt unterbricht die Diskussion um die Himmelskönigin (V. 15-19.25 ff.) für eine generelle, V. 9.10.13 erneut aufnehmende Reflexion über die Gründe der Zerstörung Judas.''® Er verdoppelt die Antwort Jeremias,''' erweitert den Schuldaufweis (V. 23) und bezieht ganz Juda unter Auflistung mehrerer Stände in den Kreis der Adressatinnen ein (V.21).'«' Die nur in der hebräischen Texttradition überlieferte, letzte Bearbeitung des Kapitels betrifft auch den Begriff m i n , der in V. 10 neben mpn eingetragen wurde. Als Vorbild dafür kann V. 23 gelten, der ebenfalls das Verb 2 ~[':'Л mit der Reihung von m i n , mpn und ПЛУ als Objekten verwendet. 2.4.2 Traditionen in Jer 44,10.23 Aufgrund einer Fülle dtr. Wendungen und Vorstellungen in Jer 44 wird der Hauptanteil des Kapitels zu Recht einer exilischen, dtr. Komposition zugewiesen.'®' Der Abschnitt Jer 44,20-23, der dem Sprachgebrauch zufolge als dtr. gelten muß, stellt im Blick auf den Kontext eine Erweiterung dar. Auch McKane bezweifelt, daß ein ursprünglicher Kern jemals auffindbar sei und hält den Text eher für „a deplorable long and inconsequential pastiche on .idolatry' which has taken as its particular topic the idolatry of Judaeans in Egypt, but which sometimes [...] is overwhelmed by the Deuteronomio stereotypes of idolatry in Judah." (ICC, 1084). Ähnlich Carroll, OTL, 732. '55 Vgl. Pohlmann, Studien, 174 f. Siehe oben II. 1.3.2.2, S. 104. So mit Pohlmann (Studien, 175 f.) gegen Thiel (Redaktion II, 74 f.), der die Passage dem Verfasser von 44,1-14 und damit D zuweist. V. 23 wird aufgrund seines repetitiven Charakters auch von Volz (ΚΑΤ, 366) als sekundär erachtet. Ähnlich Rudolph, HAT, 367. '58 Die Bezeichnung als „euer Land" (V.22b) steht zu der in V. 1.15*.24* angenommenen Adressierung der jetzt in Ägypten Wohnenden in Spannung. '5' Vgl. die gleichlautenden Redeeinleitungen ...bs ΙΠ-ΉΤ ΊηΝ'! in V. 20.24. Mowinckel (Komposition, 10) bezeichnet 44,20-23 als „Einschub eines Pedanten, der nicht hat leiden wollen, daß der Gottesmann eine lange Rede lediglich an die Frauen gehalten hat". 'ö' Grundlegend Thiel, Redaktion II, 69-81. Vgl. den Einzelnachweis a.a.O., 70-73. 76-78, sowie Rose, Ausschließlichkeitsanspruch, 256f., Anm.6. Carroll (OTL, 728-733) hält das gesamte Kap. für ein dtr. Konstrukt aus anderen, parallelen Stellen.

Der Schuldaufweis - Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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Der dtr. Diktion entsprechen die Situierung „in den Städten Judas und den Gassen Jerusalems" (V. 21a vgl. V. 6),'® der Ausdruck DD-'b^ya ΰ ΐ --JSû (V. 22a),'" die Wendungen лЬ'грЬт ПйшЬт Л2ПпЬ П^П (V. 22b vgl. V. 6.8. 12),'®^ mn^ bipa Ш vnpnm i m n i -¡Ьл кЬ (V. 23a vgl. V. 10)'^®. Da die geprägte Diktion des dtr. Repertoires sich leicht reproduzieren läßt, ist die Zusammenstellung von Wendungen als Fortführung der Tradition zu deuten. Die in 44,20-23 aus 44,1-14 übernommenen W e n d u n g e n s t e l len Wiederaufnahmen aus dem Nahkontext dar. Darüber hinaus hat K.-F. Pohlmann auf einige sprachliche Besonderheiten in 44,20-23 hingewiesen.'® So wird die Wendung nhü + + 3*7 (V. 21) in der Bedeutung „gedenken, sich erinnern" ähnlich nur noch in Jer 3,16 gebraucht.'™ Nur in Jer 44,23 begegnet ППУ als Objekt von 3 η^Π. Zudem ist die Verbindung von ΝΊρ II mit ЛУПЛ neben 44,23 nur noch Jer 32,23 und in Dtn 31,29 belegt, während die typisch dtr. Variante mit dem Verb K13 q./hif. gebildet wird."^ Darüber hinaus verbindet die Reihung der Gruppen in V. 21b die Reihe „Könige und ihre Beamten" mit den in dtr. Texten oft begegnenden „Vätern" "" und dem sonst im Jeremiabuch nur 34,19'"; 37,2 und 52,25 belegten Ausdruck упкл αΰ.

Sowohl die Häufung dtr. Wendungen als auch der Gebrauch seltener Begriffe und Vorstellungen erweisen Jer 44,20-23 als eine Erweiterung der Diese Lokalisierung begegnet im Jeremiabuch nur in Prosatexten. Vgl. Jer 7,17.34; 11,6; 33,10; 44,6.17.21. Die Wendung ist nach Thiel (Redaktion 1,120), von D kombiniert aus Jer 5,1 („in den Gassen Jerusalems") und 4,16; 9,10 (, Jerusalem - Städte Judas"). Vgl. Dtn 28,20; Jer 4,4; 21,12 [MT+]; 26,3; 44,22 sowie Thiel, Redaktion II, 75; Stipp, Konkordanz, 122. Vgl. Stipp, Konkordanz, 158f. Siehe oben II. 1.4.2.3, S. 126. Vgl. Bright, Date, 211, Nr. 46; Stipp, Konkordanz, 137 f. Zu weiteren Vorkommen der Wendung vgl. Stipp, Konkordanz, 42. Siehe oben II. 2.3.2, S.155f. Eine analoge anthologische Zusammenstellung bietet Jer 7,33 f., vgl. oben II. 1.4.2.3, S. 124-126. Vgl. Thiel, Redaktion II, 77; und über die bereits in Klammem genannten Referenzverse hinaus ПЛС1ПЛ •'iSD (V. 22), das den Begriff л з а т aus V. 4 aufnimmt. Vgl. Pohlmann, Studien, 176. 170 Vgl. auch Jes 65,17. Sie begegnet sonst im Sinn von „in den Sinn kommen" parallel zu m s (Jer 7,31 ; 19,5; Neh 10,30 u. ö.) und ist für Thiel (Redaktion II, 75) daher Ausweis für D. Zumindest Jer 7,31 gehört zu einer auf die dtr. Redaktion folgenden, weiteren Überarbeitung der Tempelrede, siehe oben II. 1.4.1, S. 115 f. Dagegen ist die Verbindung von 3 "¡Ьл + ПрП sehr gebräuchlich und keineswegs auf dtr. Stellen beschränkt. Vgl. Lev 18,3; 20,23; 26,3; I Reg 3,3; 6,12; II Reg 17,8.19; Jer 44,10.23; Ez5,6; 11,20; 18,17; 20,13.16.19.21; 33,16. Vgl. + ЛЭТ(Л) + bu / Ьх in partizipialer Formulierung Jer 11,11; 19,3.15; 35,17; 42,17; 45,5; 51,64; mit finitem Verb Jer 11,23; 23,12; 32,42; 36,31; 44,2; 49,37. Zu Jer 34,8-11.18-22 siehe oben II. 6.2, S. 264f. "" Vgl. zu DS-innNI DnN V. 3, ZU iriÖI IJ'Sbn 1ГПЗК1 ΐ:Π3Ν V. 17. Jer 34,19.21 bietet in der Summe eine ähnlich breit gefächerte Reihung der Verantwortlichen. Die ursprüngliche Fassung in 34,8b enthielt nur DD. Siehe oben II. 6.1.1, S.252.

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Verwendung und Funktion des Begriffs min im Jeremiabuch

dtr. Komposition, die Topoi aus dem näheren und ferneren Kontext summiert. Die Adressierung des gesamten Volkes unter besonderer Berücksichtigung der im Kontext Genannten (V. 20) ist ein weiterer Hinweis darauf, daß der Blick auf die Geschichte das bereits eingetretene Unheil als Strafurteil JHWHs (V. 21b m Л'' Ί3Τ) 1тефге11ег1. Inhaltlich steht der Vorwurf im Vordergrund, die Judäerinnen hätten JHWH mit ihren Räucheropfem erzürnt (V. 21a). Daß fremde Gottheiten Adressatinnen dieser Zuwendungen sind, wird nicht explizit gesagt, erscheint aber aufgrund des Kontextes, der Auseinandersetzung um die Verehrung der Himmelskönigin, hinreichend deutlich. Ob die Bezeichnungen „böse Taten" 1Л) und „Greuel" (naainn V. 22) darüber hinaus weitere Untaten benennen, bleibt offen. Der Vorwurf des Nicht-Hörens auf JHWHs Stimme konnotiert zumindest mehr Vergehen als nur die Verehrung fremder Gottheiten. Auch die Verwendung des Begriffs r m n bestätigt den summierenden Charakter des Abschnitts, m i n wird in V. 23 als Objekt neben den Pluralformen npn und nnj? genannt bzw. in V. 10 neben прп nachgetragen. Anders als in Jer 2,8; 6,19; 8,8; 9,12; 16,11 ist m m an beiden Stellen nicht als Oberbegriff für Gesetzesbestimmungen,'^® sondern, trotz des Unterschieds im Numerus, wie ein Synonym zu diesen gebraucht. Dabei erläutem sich die Begriffe gegenseitig, so daß die Identifizierung von л т п mit „Satzungen und Ordnungen" naheliegt. Der Bezug aller dieser Größen auf JHWH wird durch Suffixe gewährleistet. In Jer 44,10 weist der Promulgationssatz Tin] ΊώΝ)'™ zusätzlich auf JHWH als Geber dieser Weisung hin. Fokussiert wird hier, wie schon in Jer 32,23, auf die Vielzahl von Bestimmungen JHWHs. Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß auch Jer 44,10.23 den Vorwurf der fehlenden Ausrichtung am Willen JHWHs erhebt. Gegenüber der Ablehnung von Räucheropfem für Fremdgottheiten kommen hier weitere Vergehen in den Blick, die jedoch inhaltlich nicht näher bestimmt werden. Wie in Jer 26,4 und 32,23 wird in Jer 44,10.23 der Begriff m m mit dem Verb ~[Ьп gebraucht und damit die Wegmetapher assoziiert. Hatte Jer 26,4 noch davor gewarnt, den Wandel gemäß der Weisung JHWHs aufzugeben, so konstatieren Jer 32,23 und 44,23, daß die Judäerinnen genau dies getan haben. Damit erweisen Jer 44,10.23 (und 32,23) die in Jer 26,4 ausgesprochene Warnung und die mit dieser verbundenen Hoffnung auf Umkehr als vergeblich. Gegenüber Jer 26,4 ist in 44,10.23 die Fiktion einer vor der Katastrophe gesprochenen Rede Jeremias aufgegeben, was durch ПТП n v ( n p (V. 6.22) bzw. den Nachtrag лтл ОГЭ (V. 23b'™) unterstrichen wird. Der I™ Vgl. etwa Dtn 30,10; I Reg 2,3; II Reg 17,13. I" So noch Gen 26,5; II Reg 17,34; Ez 43,11; 44,24; Neh 9,14; II Chr 19,10. "" Vgl. zu den verschiedenen Formulierungen des Promulgationssatzes Garcia López, ThWAT VI, 948. Vgl. auch den masoretischen Textüberschuß in 44,2 (ПТЛ DVn).

Der Schuldaufweis-Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23

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Schuldaufweis wird nicht mehr an die vorexiUsche Generation gerichtet, sondern steht auch formal ganz im Zeichen des Rückblicks und der Erklärung der Ereignisse. 2.5 Zur Bedeutung von ΐ^Ί^η in Schuldaufweis und Geschichtsrückblick Der Begriff m m ist an allen Stellen des Jeremiabuchs, anders als im Deuteronomium und DtrG.,'^° mit Ausnahme von Jer 18,18 mittels eines Suffixes oder Genitivs auf JHWH bezogen, so daß er durchweg als „Weisung JHWHs" bestimmt werden kann. Im Rahmen von schuldaufweisenden Partien wird in Jer 6,19; 9,12; 16,11; 32,23; 44,10.23 das negative Verhalten des Gottesvolkes gegenüber der Weisung JHWHs dargestellt. Während Jer 2,8; 8,8; 18,18 den jfalschen Toragebrauch im Sinne der mißbräuchlichen Berufung auf ППП oder ihrer mißbräuchlichen Auslegung kritisieren, ergeht in den Schuldaufweisen der Vorwurf, die Adressatinnen hätten sich von dieser Weisung abgewendet oder sich nicht an ihr orientiert. In Jer 6,19; 9,12 und 16,12 sind die vor dem Exil in Juda Lebenden angesprochen, wobei in Jer 16,11 deren Väter ausdrücklich einbezogen werden. Jer 32,23 hat das Gottesvolk als ganzes und durch die Zeiten hindurch im Blick, während 44,10.23 sich explizit rückblickend auf die vorexilische Generation bezieht, aber speziell an die nach Ägypten Geflohenen adressiert ist. Der Schuldaufweis wird in Jer 9,12; 16,11; 32,23 und 44,23 in einem Geschichtsrückblick eingebracht. Während 9,11-15 und 16,10-13 aber durch die Einleitung und eine folgende Gerichtsankündigung fiktional einen vorexilischen Standpunkt einnehmen, ist aus 44,23 eine Situierung nach der Zerstörung Jerusalems ersichtlich. Jer 32,23 nimmt in dieser Hinsicht insofern eine Mittelstellung ein, als der Kontext (32,16.24 f.) in der Zeit der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezars Heer spielt, der Geschichtsrückblick 32,17*-23 aber seinen Nachtragscharakter nicht gänzlich verhehlen kann und daher V. 23b auf die Situation nach Eintreten der Zerstörung Jerusalems verweist. Die Vorstellung, daß JHWH die mangelnde Orientierung an seiner Weisung mit seinem Strafhandeln ahndet, ist sicher in den Kreisen der dtr. Bearbeiter des Jeremiabuches entwickelt worden. Dafür sprechen die häufige Verbindung dieses Vorwurfs mit demjenigen der Fremdgottverehrung und die in ihm zutage tretende Deutung von Judas und Jerusalems Ende. Der Schuldaufweis dient dazu, JHWH von der Verantwortung für die Zerstörung der Stadt zu entlasten und die Schuld im Handeln des Volkes zu verorten. In Jer 26,3f.6 wird die theologische Vorstellung der exilischen Verfasser auch in der Rückprojektion auf die vorexilische Situation deutlich: Hätten sich die Judäerinnen an die Weisung JHWHs gehalten, wäre ein EinVgl. Braulik, Ausdrücke, 37, Anm. 124.

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Verwendung und Funktion d e s B e g r i f f s m i n im Jeremiabuch

lenken JHWHs vielleicht noch möglich gewesen. Die Rekapitulation der gesamten Prophetie Jeremias als einer letzten Warnung (26,1-2) zielt darauf zu zeigen, daß Jeremia und sein Auftraggeber JHWH nichts unversucht ließen, um das Volk zur Umkehr zu bewegen. Der in diesem Rahmen gestellte Verweis auf die m m präsentiert diese, analog dem Ausdruck ОППХ DTlbtí, als eine bekannte Größe, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Dabei impliziert die Stelle Jer 6,19 durch die Parallelisierung von ЛПП mit prophetisch vermitteltem "Ι3Ί, daß es sich um eine schriftliche Weisung handelt. Dieselbe Vorstellung wird durch den Promulgationssatz •'ЗэЬ ^Γΰ ~\Ш in Jer 9,12; 26,4 (und 44,10 MT+) evoziert. Da der Promulgationssatz sich in Dtn 4,8 auf die im Deuteronomium gesammelten Rechtssatzungen und Paränesen bezieht, ist eine Affinität der in Jer 9,12; 26,4 m i n genannten Größe zum Deuteronomium möglich, ohne daß diese material an den Texten nachzuweisen ist. Umfang und Inhalt der im Jeremiabuch genannten m i n werden weder aus den untersuchten Einzelstellen noch aus ihrem Kontext ersichtlich. Mangels Differenzierung bewirkt der wiederholte Hinweis (Jer 6,19; 9,12; 16,11; 26,4) auf die fehlende Ausrichtung an der m m oder die Abkehr von ihr eine gewisse Stereotypie des Ausdrucks, die zu Recht als Kermzeichen dtr. Diktion gilt. Als eine feststehende Größe wird m m in allen Schuldaufweisen zum Maßstab rechten Verhaltens erhoben, was die Verbindung mit dem Verb -¡Ьп in 26,4; 32,23 und 44,10.23 noch unterstreicht. Entgegen bisheriger Analysen'^' sind Jer 32,23 und 44,10.23 nicht der dtr. Redaktion zuzuweisen, sondern gehen auf Bearbeitungen zurück, die dtr. Vorstellungen weiterführen. Diese traditionsgeschichtlich untermauerte literarkritische Differenzierung wird gestützt durch die Beobachtung, daß der Begriff m m in 32,23; 44,10.23 nicht eindeutig auf eine schriftlich fixierte Größe verweist. In Jer 32,23 wurde er ursprünglich im Plural gebraucht. In 44,10 erscheint er neben ПрП, in 44,23 schließlich in einer Reihe mit npn und rrny. Daß die Weisung JHWHs viele konkrete Gebote und Satzungen umfaßt, ist in Jer 32,23; 44,10.23 vorausgesetzt. Für die Frage nach dem Verhältnis des historischen Jeremia zum Deuteronomium können die den Begriff m m gebrauchenden Schuldaufweise im Jeremiabuch nicht herangezogen werden, da sie aus exilischer bzw. nachexilischer Zeit stammen.'®^ Obwohl die m m in Jer 9,12; 26,4 (und 44,10 MT+) ähnlich wie das Deuteronomium als göttlich sanktioniert erscheint, bezieht sich die Präsentation der m m als Maßstab für den gottgefälligen Lebensweg und -wandel nicht auf konkrete Bestimmungen des Deuteronomiums. Die Schuldaufweise sind somit offen für Deutungen und Erläuterungen, die bei der Bearbeitung der Prosareden tatsächlich eingetragen werden. Vgl. Hyatt, Torah, 393f.; Tannert, Begriff, 29; Rüterswörden, Exegeten, 333f. Auch Herrmann (Heilserwartungen, 193 f.) weist die Frage für dtr. Stellen zurück.

Die Weisung JHWHs auf dem Herzen des Gottesvolkes - Jer 31,31-34 3 3 7

3. Die Weisung JHWHs auf dem Herzen des Gottesvolkes - Jer 31,31-34 31 a 31b 32aa 32aß 32a7 32b ЗЗаа 33aß ЗЗау

Siehe, Tage kommen - Spruch JHWHs - , da werde ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda' einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloß am Tag, als ich ihre Hand ergriff, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen, den^ sie brachen, meinen Bund', obwohl ich über sie herrschte"* -Spruch JHWHs-, sondern dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel' schließen werde nach jenen Tagen - Spruch JHWHs: Ich werde meine Weisung/Gesetze' in ihr Inneres geben,' und auf ihr Herz werde ich sie schreiben,

' Eine Streichung von rnirr* ГТ'З!, die mit dem Fehlen des Ausdrucks in V. 33 begründet wird (so BHS, Rudolph, HAT, 201 ), ist durch die Versionen nicht gedeckt und daher kein textkritisches, sondern ein literarkritisches Problem. Als Zusatz wird der Ausdruck v. a. von Exegetlnnen verstanden, die das Wort als ursprünglich an das Nordreich gerichtet sehen und für jeremianisch halten. Vgl. etwa Giesebrecht, HK, 172; Volz, ΚΑΤ, 282.287 f.; Weiser, ATD, 264; Weippert, Wort, 336. 2 Mit Groß (Wortlaut, 41 f.) stellt ПЛа in V. 32aa das Bezugswort beider Relativsätze in V. 32aa.b dar. Da V. 32b über zwei Sätze hinweg darauf zurückgreift, wird es im Relativsatz noch einmal genannt. Vgl. außerdem Gen 13,16; 49,30; 50,13; ISam 25,39 und Joüon/ Muraoka § 158 h. Das Demonstrativpronomen weist demnach auf ГП1Л·' П^ЗТ Ьхпи'' i r a zurück. ^ © gibt den Relativsatz kausal wieder: öxi αύτο'ι ουκ ένέμειναν έν τή διαθήκη μου. In Jer 11,10 und Ps 119,126 übersetzt © ΊΊΕ hif mit δίασκεδάζειν. Die Vulgata steht MT nahe, faßt den Bund aber vertragsrechtlich auf, indem sie von Ungültigmachen (pactum quod irritum fecerunt) spricht (so auch in Jer 11,10). Die Versionen legenjedoch keine textkritischen Varianten zum MT nahe. " BHS und Becking (Book of Consolation, 163) erwägen, im Anschluß an © (ήμέλησα) und Syriaca 'пЬаз zu lesen. Allerdings stützen Aquila und Vulgata den MT. Außerdem begegnet 033 Tlbra 'SJS im thematisch vergleichbaren Geschichtsrückblick Jer 3,14, während Kontext und Formulierung in Jer 14,19 (3 hS3í) andere sind. Die Überlegung Beckings (ebd.), daß 'пЬгз bereits in der Vorlage für © zu 'п'ргз verändert wurde, um eine Verbindung von JHWH mit Baal auszuschließen, spricht für die Ursprünglichkeit der MT-Lesart. Zu den verschiedenen Deutungen des Satzes siehe unten III. 3.2, S. 344 f 5 Wenige hebräische Handschriften bieten 'За. © stützt jedoch den MT. ^ © liest (mit Ausnahme des Sinaiticus erster Hand) pl. νόμους. Aquila, Theodotion und Symmachus lesen sg. Es handelt sich um eine inteφretierende Übersetzung, die einen Bezug zu Jer 38,37 (MT: 31,36 • р п л ) herstellt. Vgl. auch Renaud, L'oracle, 95 f ' Viele hebräische Handschriften lesen •'ПП31. © bietet eine figura etymologica (διδούς δώσω), die auf einen Inf. abs. in der Vorlage deutet. Vgl. noch Jer 3,1; 22,24 und Stipp, Sondergut, 23 f Vulgata bietet Futur Levin (Verheißung, 258, Anm.6) deutet die ©-Variante als Versuch, das prophetische Perfekt zu übersetzen. Fischer (Trostbüchlein, 31 ) versteht die Perfektform performativ. Groß (Wortlaut, 42, Anm. 3) denkt an eine Textverderbnis und liest mit den weiteren hebräischen Handschriften'ППЛ. Das futurische Verständnis wird durch die Einleitung V. ЗЗаа und die Versionen gestützt.

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Verwendung und Funktion des Begriffs m m im Jeremiabuch

33b und ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein.^ 34aa Und nicht [mehг]^ werden sie einer den anderen und einer seinen Bruder belehren mit den Worten: 34aß „Erkennt/erkenne'"JHWH", 34ba sondern sie alle werden mich erkennen, von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten [ - Spruch JHWHs] 34bß Denn ich werde ihre Schuld vergeben, 34Ьу und ihrer Verfehlung werde ich nicht mehr gedenken.

3.1 Kontext, Textstruktur und Schichtung Die meisten neueren Arbeiten zu Jer 30-31 kommen zu dem Ergebnis, daß das sog. „Trostbüchlein" inhaltlich und zeitlich zu differenzierende Heilsverheißungen enthält.'^ Die Kapitelfolge läßt sich anhand der Boten- und Zitationsformeln sowie des Wechsels von der ersten in die dritte Person Singular gliedern, so daß schon aufgrund der äußeren Gestalt der Eindruck der Disparatheit überwiegt.'^ Anzeichen übergreifender Strukturierang vermitteln die Symbolnamen „Jakob", „Ephraim", „Rahel", „Jungfrau Israel" und „Zion".·^ Der Abschnitt Jer 31,31-34 ist durch seine Einleitung D''i