Jüdischer Nietzscheanismus 9783110809770, 3110153610, 9783110153613

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Jüdischer Nietzscheanismus
 9783110809770, 3110153610, 9783110153613

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Einleitung
I. Nietzschesche Perspektiven auf das Judentum
Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft. Volk und Judentum bei Nietzsche
II. Ursprünge und Begriff des Jüdischen Nietzscheanismus
Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 – Ursprünge und Begriff
III. Nietzsche und die jüdische Erneuerungsbewegung
Nietzsches Einfluß auf hebräische Schriftsteller des russischen Zarenreiches
Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History
„Sünder und Schwärmer in einer Person“. Nietzsche in der Philosophie Franz Rosenzweigs
Unzeitgemäße Betrachtungen zu Nietzsche contra jüdische Nietzscheanismen. Ein Kapitel aus der intellektuellen Frühgeschichte Gershom Scholems
Nietzsches Antike und die jüdische Kritik
IV. Frühe Nietzsche-Auseinandersetzungen jüdischer Intellektueller
Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? Brandes, Nietzsche und Kierkegaard
Nietzsches Entartung 1892. Max Nordau als früher Nietzsche-Kritiker
Jüdisches Denken im Frühexpressionismus. Oskar Goldberg und Erich Unger im Zeichen Friedrich Nietzsches
Oscar Levys nietzscheanische Visionen
„Nietzsche ist für uns Europäer ...“ Zu Gustav Landauers früher Nietzsche-Lektüre
Nietzsche und die „Grenzjuden“
Ecce Poeta. Nachdenken über den Künstler in der Moderne. Egon Friedells eigenwillige Nähe zu Friedrich Nietzsche
V. Verdeckte jüdische Nietzscheanismen
Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche
Judentum als „Rasse“ bei Nietzsche und Freud. Zur Rezeption einer anthropologischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts
Levinas’ Humanismus des anderen Menschen – ein Anti-Nietzscheanismus oder ein Nietzscheanismus?
VI. Gegenwärtige jüdische Perspektiven auf Nietzsche
Nietzsches „Zarathustra“ und die Bibel
„Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“. Friedrich Nietzsches Religionskritik und die Auslegung rabbinischer Quellen
Nietzsche aus der Sicht des Thora-Judentums
Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord
Nietzsche in Israel
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
Bibliographie
Namenregister
Sachregister

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Jüdischer Nietzscheanismus

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon

Band 36

1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Jüdischer Nietzscheanismus Herausgegeben von

Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik

1997 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20 - 22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klops tockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar Α der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin Erschienen mit freundlicher Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaujnahme Jüdischer Nietzscheanismus / hrsg. von Werner Stegmaier und Daniel Krochmalnik. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 36) ISBN 3-11-015361-0

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz Sc Bauer, Berlin Titelgraphik: Siegmar Förster

Vorwort Der Titel .Jüdischer Nietzscheanismus" klingt heute wie eine Provokation. Dem Nationalsozialismus ist es in einem solchen Maß gelungen, Nietzsche in seine Ideologie zu vereinnahmen, daß die bloße Tatsache, daß es so etwas wie einen Jüdischen Nietzscheanismus gab, inzwischen kaum mehr glaublich scheint. Doch es waren zum großen Teil jüdische Intellektuelle, die Nietzsche zuerst wahrund ernstnahmen; mit ihnen begann die Nietzsche-Rezeption überhaupt. Auch der Begriff „Jüdischer Nietzscheanismus" stammt von einem Juden, Achad Haam; er bezeichnet mit ihm eine doktrinale Affinität des Judentums zum Denken Nietzsches einerseits und eine Rebellion gegen das herkömmliche Judentum andererseits. Jahrzehnte lang ging von Nietzsches Werk ein tiefer und breiter Impuls sowohl auf traditionalistische wie säkulare, ost- wie westeuropäische, nationalistische wie assimilierte Juden aus. Deren Judentum spielte dabei eine sehr unterschiedliche Rolle, und so waren auch die Auseinandersetzungen jüdischer Intellektueller mit Nietzsches Werk sehr unterschiedlich. Sie konnten nicht weniger vielfältig und vielschichtig sein als dieses Werk auf der einen und das Judentum selbst auf der andern Seite. Nach der Zeit des Nationalsozialismus war es wieder ein Jude, Walter Kaufmann, der, mit großer internationaler Ausstrahlung, Nietzsche von den braunen Krusten zu befreien begann. Inzwischen hat eine umfassende Forschung Nietzsche nicht nur als Gegner aller Ideologien und „guten Europäer" zu lesen gelehrt, sondern auch die tiefliegenden Gründe jener doktrinalen Affinität des Judentums zum Denken Nietzsches offenzulegen begonnen. Sie könnten, mehr als fünfzig Jahre nach der Shoah, Anfange eines anderen Denkens vor allem in der Ethik sein. Daß der Jüdische Nietzscheanismus so sehr in Vergessenheit geraten konnte, zeigt erschreckend, wie wenig im klaren wir uns noch immer einerseits über Nietzsche und das Judentum, andererseits über die Wirkungen des Nationalsozialismus sind. Würde man unter „Jüdischem Nietzscheanismus" die Nietzsche-Rezeption jüdischer Intellektueller überhaupt verstehen, wäre er kaum abgrenzbar. Würde man andererseits den Begriff auf „Nietzscheaner" im engen Sinn beschränken, verfehlte man das Phänomen; es gab unter Juden wenige solcher Nietzscheaner, und sie sind kaum die bedeutendsten. Wir sprechen von Jüdischem Nietzscheanismus dort, wo das Interesse von Juden an Nietzsche sich mit dem Interesse am Judentum verbindet, wo sich Juden mit Nietzsche im Hinblick auf das Judentum befassen, ob sie es nun bejahen oder sich von ihm lösen wollen, ob sie sich zu ihm

VI

Vorwort

bekennen oder es zu verdrängen suchten. Hier ließen sich auch jüdische Künsder einbeziehen, die sich intensiv mit Nietzsche auseinandersetzten, etwa Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Carl Sternheim, Max Brod, Franz Kafka, Gustav Mahler; •wir legen das Schwergewicht auf die philosophische Auseinandersetzung mit Nietzsche. Die Grenzen sind dennoch fließend, wir haben es fast durchweg mit Grenzfällen zu tun. Das wird niemand verwundern. Judentum und Nietzsche verbindet, bei aller Vorsicht, sie einander zu nahe zu bringen, sicher eben dies, daß beide auf Distanz bedacht sind, daß sie sich vom gewohnten Identifizieren distanzieren; sie wollen beide, wie Nietzsche es ausdrückt, nicht „verwechselt" werden, auch nicht miteinander. Was Jüdischer Nietzscheanismus sein und bedeuten kann, läßt sich darum nicht von etwas Gemeinsamem, einem Kern, einer Mitte, sondern nur von seinen Rändern her erfassen. Sie verweisen auf eine Mitte, die aber offen bleibt. Die Beiträge des hier vorgelegten Bandes gehen auf eine Forschungskonferenz zurück, die die Unterzeichneten vom 3. bis 6. September 1995 in Greifswald veranstaltet haben. Voraus gingen Konferenzen in Jerusalem, vom 7. bis 12. April 1983, und in Paris, am 6. und 7. Juli 1990. Die Jerusalemer Konferenz, veranstaltet von der Hebrew University und dem S. H. Bergmann Center for Philosophical Studies als „The Fifth Jerusalem Philosophical Encounter", war „Nietzsche as Critic and Affirmative Thinker" gewidmet und wurde in memoriam Walter Kaufmann ausgerichtet. Sie wurde weitgehend von jüdischen Philosophen bestritten und bestätigte damit Walter Kaufmanns Lebenswerk, Nietzsche für Juden wieder denkbar zu machen. So wurde sie selbst ein weiterer Schritt im Jüdischen Nietzscheanismus. Der Jüdische Nietzscheanismus selbst wurde zunächst jedoch nur am Rande, unter dem Thema „Nietzsche und die jüdische Kultur" behandelt. Die Beiträge erschienen 1986, herausgegeben von Yirmiyahu Yovel, bei Martdnus Nijhoff in Dordrecht/Boston/Lancaster, allerdings ohne die Beiträge zu „Nietzsche und die jüdische Kultur". Das Pariser Kolloquium, organisiert von Dominique Bourel und Jacques Le Rider, versuchte eine erste Bestandsaufnahme einerseits der Beziehung Nietzsches zu den Juden, andererseits von Juden zu Nietzsche. Es machte, in außerordentlich verdienstvoller Weise, das Phänomen des Jüdischen Nietzscheanismus erst wieder in seinen möglichen Dimensionen sichtbar. In vielem konnte die Greifswalder Konferenz das Pariser Kolloquium nur ergänzen. Dessen Beiträge wurden unter dem Titel „De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et le judai'sme — Les intellectuels juifs et Nietzsche" 1991 in den Editions du Cerf, Paris, veröffentlicht. Für den Oktober 1994 war in Weimar ein Symposion geplant, das den „Jüdischen Nietzscheanismus seit 1888" geistesgeschichtlich umfassend aufarbeiten sollte. Es wurde von Friedrich Niewöhner, einem der besten Kenner der Materie, im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik organisiert, die damit ihre Veranstaltungsreihe zum 150. Geburtstag Nietzsches krönen wollte. Es mußte jedoch, wegen allzu umstrittener Thesen, die der miteingeladene Ernst Nolte noch kurz zuvor geäußert hatte und die vielen der andern, vor allem der jüdischen Teilnehmer eine Diskussion mit ihm nicht mehr erträglich scheinen ließen, kurzfristig abgesagt werden.

Vorwort

VII

Die Greifswalder Forschungskonferenz hat wichtige Teile des Weimarer Konzepts wieder aufgenommen. Sie hat jedoch, außer daß sie das Schwergewicht von der Geistesgeschichte auf die Philosophie verlagerte und darum, in neuer Weise, nietzschesche Perspektiven auf das Judentum wiederaufnahm (Josef Simon), auch gegenwärtige jüdische Perspektiven auf Nietzsche, also gleichsam den aktuellen Stand des Jüdischen Nietzscheanismus, einbezogen. Dabei sollten einerseits auch wieder Spezialisten der modernen Geistesgeschichte (Steven Aschheim und Moshe Zimmermann), andererseits aber Spezialisten der jüdischen Quellen (Maurice-Ruben Hayoun, Aharon R. E. Agus und Aharon Shear-Yashuv) zu Wort kommen. Natürlich war es nicht möglich, alle wichtigen Themenbereiche des Jüdischen Nietzscheanismus und alle wichtigen Autorinnen und Autoren, die zu ihnen hätten beitragen können, auf einer solchen Forschungskonferenz zu versammeln, um dann ihre Beiträge in diesem Band zu vereinen. Es bleiben nach wie vor empfindliche Lücken, für die wir um Nachsicht bitten. Sie werden, wie wir hoffen, nach und nach geschlossen werden können. Dennoch ist ein Abschluß der Forschungen zum Jüdischen Nietzscheanismus kaum zu erwarten: sie werden vermutlich immer nur neue Anfänge sein. Die Greifswalder Forschungskonferenz zum Jüdischen Nietzscheanismus und die Vorbereitung dieses Bandes wurden in großzügiger Weise gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, vertreten durch den Vorsitzenden ihres Kuratoriums, Ehrensenator der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und Ehrenbürger der Hansestadt Greifswald, Prof. Dr. h.c. mult. Berthold Beitz. Dafür danken wir herzlich. Alle denkbare Unterstützung erfuhr die Konferenz aber auch vom Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Magnifizenz Prof. Dr. Hans-Jürgen Kohler, dem Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, Magnifizenz Prof. Dr. Julius Carlebach, dem Kulturattache der Französischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland (Außenstelle Berlin), Dr. Michel Cullin, und dem Institut Franpais Rostock. Auch ihnen allen sind wir sehr zu Dank verpflichtet. Dem Verlag Walter de Gruyter danken wir für die vorbehaltlose Übernahme und die umsichtige Betreuung dieses Bandes. Josef R. Lawitschka (Berlin) und Wolfgang Schneider (Greifswald) haben uns bei der Erstellung der Bibliographie tatkräftig unterstützt. Ohne das unermüdliche Engagement der Mitarbeiter des Greifswalder Lehrstuhls für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie, insbesondere ohne das Organisationstalent von Frau Ines Mielke, hätte die Konferenz nicht stattfinden und dieser Band nicht gedruckt werden können. Auch ihnen gebührt besonderer Dank. Greifswald und Heidelberg, im August 1996 Werner Stegmaier

Daniel Krochmalnik

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber Einleitung

V XIII

I. Nietzschesche Perspektiven auf das Judentum Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft. Volk und Judentum bei Nietzsche Von Josef Simon

3

II. Ursprünge und Begriff des Jüdischen Nietzscheanismus Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 - Ursprünge und Begriff Von Friedrich Niewöhner

17

III. Nietzsche und die jüdische Erneuerungsbewegung Nietzsches Einfluß auf hebräische Schriftsteller des russischen Zarenreiches Von Menachem Brinker

35

Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History Von Daniel Krochmalnik

53

„Sünder und Schwärmer in einer Person". Nietzsche in der Philosophie Franz Rosenzweigs Von Cordula Hufnagel

82

Unzeitgemäße Betrachtungen zu Nietzsche contra jüdische Nietzscheanismen. Ein Kapitel aus der intellektuellen Frühgeschichte Gershom Scholems Von Herbert Kopp-Oberstebrink

90

Nietzsches Antike und die jüdische Kritik Von Hubert Cancik

106

χ

Inhaltsverzeichnis

IV. Frühe Nietzsche-Auseinandersetzungen jüdischer Intellektueller Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? Brandes, Nietzsche und Kierkegaard Von Gerd-Günther Grau

127

Nietzsches Entartung 1892. Max Nordau als früher Nietzsche-Kritiker Von Christoph Schulte

151

Jüdisches Denken im Frühexpressionismus. Oskar Goldberg und Erich Unger im Zeichen Friedrich Nietzsches Von Manfred Voigts

168

Oscar Levys nietzscheanische Visionen Von Uschi Nussbaumer-Benz

188

„Nietzsche ist für uns Europäer ..." Zu Gustav Landauers früher Nietzsche-Lektüre Von Hanna Delf

209

Nietzsche und die „Grenzjuden" Von Jacob Golomb

228

Ecce Poeta. Nachdenken über den Künsder in der Moderne. Egon Friedells eigenwillige Nähe zu Friedrich Nietzsche Von Renate Reschke

247

V. Verdeckte jüdische Nietzscheanismen Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche Von Peter Heller

267

Judentum als „Rasse" bei Nietzsche und Freud. Zur Rezeption einer anthropologischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts Von Wolf-Daniel Hartwich 288 Levinas' Humanismus des anderen Menschen — ein Anti-Nietzscheanismus oder ein Nietzscheanismus? Von Werner Stegmaier 303

VI. Gegenwärtige jüdische Perspektiven auf Nietzsche Nietzsches „Zarathustra" und die Bibel Von Maurice-Ruben Hayoun

327

Inhaltsverzeichnis

XI

„Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom". Friedrich Nietzsches Religionskritik und die Auslegung rabbinischer Quellen Von Aharon R. E. Agus 345 Nietzsche aus der Sicht des Thora-Judentums Von Aharon Shear-Yashuv

363

Nietzsche, Antisemitismus und Massenmord Steven E. Aschheim

384

Nietzsche in Israel Von Moshe Zimmermann

405

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

425

Bibliographie

431

Namenregister

456

Sachregister

465

Einleitung Nietzsche hatte das traditionelle europäische Denken wie keiner zuvor in Frage gestellt und es auf den Begriff eines „europäischen Nihilismus" gebracht. Danach waren die „obersten Werte", in denen Europa Jahrtausende lang seine Würde gesehen, an die es geglaubt und die es für unbedingt gehalten hatte, Ergebnis von Umwertungen, die einem frühen Niedergang entsprangen und an denen aus bloßem Machtinteresse festgehalten worden war. Sie waren, so Nietzsche, bloße „Fabeln" und „Fiktionen", Selbstrechtfertigungen und Selbsttäuschungen von „Schlechtweggekommenen", die sich für ihre „Ohnmacht" durch „Moral" schadlos zu halten wußten. Diese Moral konnte nur Bestand haben, wenn sie ihre Ursprünge verdrängte. So aber mußte sie beständig daran arbeiten, sich ihrer Unbedingtheit zu versichern, und auf diese Weise „verfeinerte" und „vergeistigte" sie sich mit der Zeit so sehr, daß sie ihrer Ursprünge schließlich doch gewahr werden mußte. Sie mußte erkennen, daß es damit, daß sie ihre Werte für „oberste" hielt, „nichts" war. Ihre Selbsterkenntnis bedeutete ihre „Entwertung" und „Selbstaufhebung". Nietzsche sah hier, in der Selbstaufhebung der europäischen Moral, die auch ihn selbst tief geprägt hatte, seine „Aufgabe" und sein „Schicksal". Er rechnete, als „Symptom" dieser Selbstaufhebung, mit einem furchtbaren Morden. Er vermutete, „die Schlechtweggekommenen" würden, wenn sie in ihrer Moral „keinen Trost mehr haben", „die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein".1 Bei den „Schlechtweggekommenen" aber dachte er nicht an die Juden, sondern an die, die sich „den" Juden gegenüber schlechtweggekommen glaubten, die sich zunehmend zum Antisemitismus bereitfanden und am Ende erklärte Antisemiten an die Macht kommen lassen und deren „blindes Wüthen" hinnehmen sollten.2 Nietzsche hatte zwar den „Sklavenaufstand in der Moral", der zum Christentum und seiner Herrschaft über Europa geführt habe, vor allem dem Judentum zugeschrieben und darum das Judentum zusammen mit dem Christentum zu einem zentralen Angriffspunkt seiner Moralkritik gemacht. Er zielte dabei jedoch nur auf das Judentum, das sich nach dem Verlust aller politischen Macht 1

2

Nachlaß Sommer 1886 — Herbst 1887: Der europäische Nihilismus. Lenzer Heide, den 10. Juni 1887, Abschn. 12, KGW VIII 5 [71] (KSA 12.211-217). A. O , 217.

XIV

Einleitung

dem Priestertum überantwortet habe. Das „Priestertum" überhaupt, nicht nur das jüdische, deutete er so, daß es aus der „Ohnmacht" der Massen eigene Macht gewinnt, die Macht, dieser Ohnmacht Sinn zu geben. Priester in diesem Sinn war für Nietzsche vor allem der Begründer der christlichen Dogmatik, der griechisch gebildete und mit römischem Bürgerrecht ausgestattete Jude Paulus; durch ihn wurde, so Nietzsche, das Judentum zum Ursprung der europäischen Moral. Ihr Träger aber und angestrengtester Verteidiger über Jahrtausende hinweg war für Nietzsche fortan das Christentum. Im Christentum und seiner Dogmatik — nicht in Christus selbst und seiner „evangelischen Praktik", die Nietzsche hoch schätzte 3 — verstieg und verblendete sich danach die europäische Moral zu ihrer Selbstgerechtigkeit. Dabei Schloß sie gerade das Judentum von sich aus; zum Antisemitismus im 19. Jahrhundert hatte auch der alte Antijudaismus des Christentums beigetragen. Entschiedene Christen konnten zu Nietzsches Zeit entschlossene Antisemiten sein. Der Prediger am Kaiserhof, Adolf Stoecker, war dafür nur ein Beispiel. Nietzsche hatte weitere Beispiele in seiner engsten Umgebung: seine Schwester Elisabeth, eine praktizierende Christin, wurde die Frau eines führenden Antisemiten, Richard Wagner, ein agitatorischer Antisemit, wurde Christ. Nietzsche sah im Antisemitismus seiner Zeit den krassesten und zugleich alltäglichsten Ausdruck einer Moral, die sich ihres Nihilismus gewahr zu werden begann. Der Antisemitismus war am Ende des 19. Jahrhunderts, nach den Forschungen Shulamit Volkovs, zum „kulturellen Code" geworden, durch den sich eine diffuse Vielfalt politisch-moralischer Verwerfungen massenwirksam formulierte und der weniger mit dem Judentum selbst, von dem man wenig wußte, als mit der Abwehr seiner Andersheit zu tun hatte: „Die Juden wurden gehaßt, weil sie anders und arm waren, und weil sie anders und reich waren." 4 Auch Nietzsche war „den Juden" als solchen keineswegs „gewogen", 5 behandelte sie eher „beiläufig" und mit skeptischer Distanz. 6 Aber er wandte sich scharf dagegen, sie, deren „in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht aufgehäuftes Geist- und Willens-Kapital" endlich „in einem neid- und haßerweckenden Maße zum Ubergewicht kommen" mußte, dafür „als Sündenböcke aller

3 4

5 6

Vgl. AC 33. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: S. V., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, 1 3 - 3 6 , zit. 26. J G B 251. ΜΑ I 475. - Vgl. Richard Maximilian Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch, Stockholm 1939, 2., um einen Anhang und ein Nachwort erweiterte Aufl., hrsg. v. H. R. Schlette, Bonn 1985; Jacob Golomb, Nietzsche on Jews and Judaism, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 67 (1985), 1 3 9 - 1 6 1 ; Peter Heller, Nietzsche and the Jews, in: S. Bauschinger, S. L. Cocalis u. S. Lennox (Hrsg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werks nach 1968, Bern/Stuttgart 1988, 1 4 9 - 1 6 0 .

Einleitung

XV

möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen". 7 Er war nicht Philosemit, sondern Anti-Antisemit.8 Eben dadurch blieb er ein nüchterner Beobachter des Judentums, und die Juden seiner Zeit erkannten und anerkannten ihn als solchen. Gleichwohl versuchten die Antisemiten seiner Zeit ihn für sich in Anspruch zu nehmen. Der Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts suchte überall nach außen abgeschlossene, nach innen wertbetonte Gemeinschaften. Er „vertrug sich mit dem extremsten Linksradikalismus ebenso wie mit christlich-germanischem Konservativismus und der aufkommenden ,Germanomanie'." So wurde er „zu so etwas wie einem permanenten Verbündeten von Anti-Liberalismus und Anti-Kapitalismus."9 Hier aber berührte er sich mit dem Denken Nietzsches, der ebenfalls den Liberalismus und Sozialismus seiner Zeit angriff, jedoch aus ganz anderen Gründen. Er betrachtete sie als säkularisierte Formen eines bequem gewordenen Christentums und damit als letzte Ausflüsse der Moral, die er als nihilistisch erkannt hatte. Er drängte nicht auf geschlossene Wertgemeinschaften, sondern im Gegenteil auf ein „Pathos der Distanz" gegenüber jeder Art von „Herde". Seine größte Furcht war, mit Antisemiten „verwechselt" zu werden: „Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!!" 10 Es waren, so Nietzsche, wiederum die Juden, die sich seit alter Zeit auf „das Pathos der Distanz" verstanden: die dauernde „Fremdherrschaft", der sie „den Hochmuth einer geistlichen Aristokratie" entgegensetzten, hatte sie dazu erzogen. 11 Vom Judentum, das sich sein anderes Denken und Leben bewahrt hatte, darum von den europäischen Gesellschaften ausgeschlossen geblieben und über Jahrtausende ihren Verfolgungen ausgesetzt war, erwartete Nietzsche am ehesten den „freien Geist", der aus den Verbiesterungen seiner Zeit herausführen konnte. Halb aus Überzeugung, halb, um die Antisemiten zu treffen, sprach er immer wieder seine Bewunderung für ein Volk aus, das „selbst noch unter den A. O. Vgl. die Briefentwürfe - in den tatsächlich abgesandten Briefen versuchte Nietzsche seine Schwester zu schonen - an Elisabeth Förster vom 5. Juni 1887 (KSB 8.81 f.) und von Ende Dezember 1887 (KSB 8.218 f.). Der Begriff „Anti-Antisemit" als solcher fällt hier nicht. Nietzsche gebraucht ihn in einem tatsächlich abgesandten Brief an seine Schwester (vom 7. Februar 1886, KSB 7.147 ff.) — mit gequälter Freundlichkeit: „Mein liebes altes Lama, soeben kommt Dein hübscher und lustiger Vorschlag, und wenn er irgendwie dazu dient, Deinem Herrn Gemahl eine gute Meinung über den unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten, Deinen ganz unmaßgeblichen Bruder und Eckensteher beizubringen ..." Aber dann sagt er deutlich, seine Schwester sei um des überseeischen „Abenteuers" eines „Agitators in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung" traurigerweise bereit, „ganz die Tradition ihres Bruders" aufzugeben: „wir freuen uns nicht mehr über das Gleiche." 9 Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, a. O., 26. 10 Briefentwurf an Elisabeth Förster von Ende Dezember 1887 (KSB 8.219). " Nachlaß November 1887 - März 1888, KGW VIII 11 [37η (KSA 13.169E). 7 8

XVI

Einleitung

schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen" verstand,12 „dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt".13 Juden seien am ehesten imstande, „Europas Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zu machen" und damit, in Nietzsches Sinn, den Nihilismus zu überwinden.14 Da das Judentum zum bloßen Uberleben „nöthig" gehabt habe, „auf allen Gebieten der europäischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen", stehe ihm eine Zukunft bevor, an der „der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf. Und Nietzsche fügte hinzu: „wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun!" 15 Juden fanden so in Nietzsche nicht nur einen nüchternen Beobachter, sondern auch einen faszinierten und faszinierenden Interpreten des Judentums, der, zumal in Also sprach Zarathustra, Züge eines Propheten annahm. Nietzsche hatte die Juden, ohne sie zu nennen, dort als ein Volk dargestellt, das mit der „Tafel" seiner Güter „mächtig und ewig" geworden sei,16 und den „Einsamen von heute", den „Ausscheidenden", die „gute Botschaft" verkündet, sie sollten „einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: — und aus ihm der Ubermensch."17 Juden am Ende des 19. Jahrhunderts waren „Einsame" geworden. Jeder von ihnen stand vor existenziellen Entscheidungen, Entscheidungen über sein Judentum. Die Säkularisierung des 18. und 19. Jahrhunderts hatte das Judentum bald ebenso betroffen wie das Christentum, jedoch mit weit einschneidenderen Folgen. Die Säkularisierung des Christentums hatte die Assimilation der Juden und diese dann die Säkularisierung des Judentums möglich gemacht. Sie hatte die Juden nach und nach aus den Ghettos entlassen und zwang nun jeden einzelnen, sich zu entscheiden, ob er an seinem Judentum festhalten wollte oder nicht, ob er an den Reformbestrebungen des Judentums teilnehmen wollte oder nicht, ob er in der Diaspora verbleiben oder sich dem Zionismus anschließen wollte. Schloß er sich dem Zionismus an, so hatte er sich wiederum zwischen einem religiösen, einem kulturellen und einem politischen Zionismus zu entscheiden.18 Die Säkularisierung gestaltete sich für Juden so zu einer extremen Erfahrung in der Entwertung von Werten: sie bedeutete eine radikale Veränderung sowohl 12 13 14 15 16 17 18

J G B 251. ΜΑ I 475. A. O. Μ 205. Vgl. Za I, Von tausend und Einem Ziele, u. AC 24. Za I, Von tausend und Einem Ziele. Za I, Von der schenkenden Tugend, 2. — Vgl. den Beitrag von Josef Simon in diesem Band. Vgl. (exemplarisch für das deutsche Judentum) zur Entwicklung der Assimilation wiederum Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780 — 1918, Enzyklopädie deutscher Geschichte, hrsg. v. Lothar Gall, Bd. 16, München 1994. Dem Band ist eine differenzierte Bibliographie beigegeben.

Einleitung

XVII

der alltäglichen Lebensform als auch des Denkens. Eine ihrer Folgen waren schwere Generationskonflikte, die verwirrende Formen annehmen konnten: blieben die Väter orthodox, hatten sie mit der Rebellion ihrer Söhne zu rechnen, assimilierten sie sich, wurden sie durch den Antisemitismus diskreditiert, und die Söhne kehrten zum Judentum zurück. In keinem Fall konnten sie sich von ihrem Judentum, wie Christen von ihrem Christentum, einfach abkehren; der Antisemitismus ließ es nicht zu. Die Assimilation hatte ihn nicht zum Verschwinden gebracht, sondern vielmehr verstärkt. Die Ghettos hatten das Fremde eingeschlossen, jetzt war es überall und erzeugte noch größere Ängste. Aus religiöser und sozialer Ausgrenzung wurde geistige Ausgrenzung, aus den Ghettos der Städte wurden Ghettos des Denkens. In dieser Situation extremer Spannungen und verzweifelter Auseinandersetzungen — einerseits die Gesetzestreue der Väter, andererseits die Freiheiten der modernen Welt, einerseits der breite Aufbruch zur Emanzipation, andererseits die anhaltende Verachtung und wachsende rassistische Verunglimpfung, einerseits immer neue glänzende Erfolge in Literatur, Wissenschaft und Politik, andererseits, vor allem im Osten Europas, weiter quälende Unterdrückung, Verfolgung, Pogrome — machte Nietzsche Mut. Er forderte nicht nur jeden einzelnen zur Entscheidung über die obersten Werte heraus, er gab ihm auch das Recht dazu. Das Recht dazu sollte haben, wer die Kraft dazu hatte. Und Juden schien er diese Kraft zuzusprechen. Das Volk, das in der Geschichte die größte Kraft zur Umwertung von Werten bewiesen, sie immer neu bewährt und sich auch gegen schwerste Widerstände bis zur Gegenwart als dieses Volk erhalten hatte, könnte am ehesten zu einer neuen Umwertung imstande sein und zum moralischen „Gesetzgeber" 19 Europas werden: „Daß die Juden," hatte Nietzsche geschrieben, 20 „wenn sie wollten — oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen —, jetzt schon das Ubergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; daß sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls." Es war vor allem dieser Nietzsche der Umwertung aller Werte, der den Jüdischen Nietzscheanismus anstieß, der moral- und kulturkritische, kämpferische, prophetische, apokalyptische Nietzsche. Doch dies war nur ein Nietzsche. Dahinter stand ein anderer, der sich hypothetisch zurücknehmende, rhetorisch behutsam nuancierende, zur Feinheit der Interpretation mahnende Nietzsche, der Nietzsche, der sich erst in geduldiger Lektüre erschloß und der zuletzt, in Ecce homo, von sich sagte: „ich bin eine nuance". 21 Auch dieser Nietzsche konnte Juden, die ihre Quellen kannten, nicht fremd sein. 19 20 21

J G B 211. J G B 251. EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, Der Fall Wagner, 4.

XVIII

Einleitung

Das Judentum ist, es braucht kaum gesagt zu werden, nicht die Religion der Thora, des Buches, des Buchstabens, des toten und tötenden, sondern seiner Auslegung. Es lebt aus dem Primat der Hermeneutik und der Tradition vor dem Buchstaben, der die immer neue, zeitgemäße Ubersetzung (TARGUM) und Auslegung (MIDRASCH) der Thora rechtfertigt. Die rabbinische Literatur ist nicht hypotaktisch und systematisch, sondern parataktisch und perspektivierend aufgebaut. Die Auslegungen verschiedener Autoritäten stehen im Midrasch ohne erkennbares Ordnungsprinzip nebeneinander. Jede Auslegung wirkt nur dadurch, daß sie neue Autoritäten zu neuen Auslegungen bringt. So präsentieren sich die Sammlungen der Auslegungen, Mischna, Gemara, Talmud, Kabbala, weithin als Zitatologien, als Montagen, die die alten dicta zur Verteidigung sehr unterschiedlicher neuer theologischer und philosophischer Positionen heranziehen und als eigene diskursive Formationen zu analysieren sind. Ganz ähnlich aber verfahrt Nietzsche in seinen Aphorismen-Büchern. Jeder Aphorismus hat seine eigene Autorität, die aus der Kraft seiner eigenen Gedanken und seiner eigenen Sprache hervorgeht. Aber jeder weitere Aphorismus legt auch die vorigen wieder aus, ohne daß es dabei zu irgendeinem Abschluß oder System käme.22 Wie die midraschische Literatur, so verbietet sich Nietzsche ein System, eine definitive Lehre, um der Freiheit des Denkens willen, das nichts mehr fürchten muß als Selbstgerechtigkeit. Er vertraut nicht auf Beweise, sondern auf Gedanken im einzelnen, die sich vielfach mit anderen verflechten und einander dadurch bekräftigen. Ihre Plausibilität entspringt ihrer Lebensbedeutsamkeit, nicht vorgegebenen Verfahrensregeln. Nietzsche kehrt so zu einer Rationalität zurück, die schon seit Jahrtausenden im jüdischen Schrifttum geübt worden war. Er spricht — im 348. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft — von einer „reinlicheren", „feineren" Logik, einer Logik, die noch nicht der „intellektuellen Idiosynkrasie" im Christentum erzogener Gelehrter erlegen sei, die „eine Vorneigung dafür" hätten, „ein Problem beinahe damit für gelöst zu halten, daß sie es schematisiert haben", weil sie „daran gewöhnt" seien, „daß man ihnen glaubt". Und auch hier erkennt er sich, ohne daß er das jüdische Schrifttum näher gekannt hätte, in „den Juden" wieder: „Überall", schließt er den Aphorismus (wieder beiläufig, mit einem „Nebenbei bemerkt"), „wo Juden zu Einfluß gekommen sind, haben sie feiner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, ein Volk ,zur Raison' zu bringen." Der behutsam nuancierende Nietzsche brauchte — in der jüdischen wie nicht-jüdischen Nietzsche-Lektüre — lange Zeit, um hinter dem streitbaren zum Vorschein zu kommen. Er ist, wie der Talmud, für die Philosophie immer noch 22

Vgl. Tilman Borsche, System und Aphorismus, in: M. Djuric u. J. Simon (Hrsg.), Nietzsche und Hegel, Würzburg 1992, 4 8 - 6 4 .

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XIX

zu entdecken. Noch weniger kam der stille, sanfte, irenische Nietzsche ins Bewußtsein der Zeit, der Nietzsche des „Nichts-anders-haben-Wollens": „Es fehlt in meiner Erinnerung," schreibt er in Ecce homo,23 „dass ich mich je bemüht hätte, - es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas ,wollen', nach Etwas ,streben', einen ,Zweck', einen .Wunsch' im Auge haben — das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft — eine weite Zukunft! — wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im Geringsten, dass Etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt." Von diesem „Nichts-anders-haben-Wollen" aus verstand Nietzsche selbst seinen Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen und zuletzt den „Begriff des Dionysos" und den „Typus des Erlösers". 24 Der Nietzsche des Nichts-anders-haben-Wollens ist ein Nietzsche, der sich von allen „Lehren", auch seinen eigenen, distanziert — wenn man will: der AntiNietzsche. Nietzsche hatte sich schon zuvor, wenn er öffentlich im eigenen Namen sprach, stets im Hypothetischen gehalten. Seine kämpferischen Lehren, die Lehren vom Tod Gottes, vom Ubermenschen und vom Willen zur Macht, ließ er seinen Zarathustra und weitgehend nur ihn aussprechen. Er weist in Also sprach Zarathustra eigens darauf hin. Die Tiere Zarathustras nennen ihn dort einen „Lehrer" und dies, ein „Lehrer" zu sein, sein „Schicksal". 25 Man kann diesen Hinweis so verstehen, daß Nietzsche sich im ganzen von der abendländisch-christlichen Tradition des Denkens distanziert, soweit sie auf beweisbare und damit auf eindeutige und einheitliche Lehren drängte. Er nimmt Abstand vom Willen zum Wissen des Guten und stellt ihm im „Begriff des Dionysos" und im „Typus des Erlösers" die „Praktik" des Guten entgegen. Er ist sich jedoch zugleich bewußt, daß im abendländisch-christlichen Denken Erzogene auf ihre „intellektuellen Idiosynkrasien" wiederum nur durch Lehren aufmerksam gemacht werden konnten. So bedient er sich der „Semiotik" des Zarathustra, wie „sich Plato des Sokrates bedient" hatte, „als einer Semiotik für Plato", 26 und läßt ihn Anti-Lehren, Gegenlehren gegen die alten Lehren, vortragen. Auf diese Weise wurde ein doppeltes Verständnis der Lehren Zarathustras möglich, und „feinere Ohren" machte Nietzsche immer wieder darauf aufmerk23

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26

EH, Warum ich so klug bin, 9. Vgl. Nachlaß Frühjahr - Sommer 1888, KGW VIII 16 [44] (KSA 13.501), und den Brief an Georg Brandes vom 23. Mai 1888 (KSB 8.317-319). Vgl. JGB 56 und AC 28 — 35. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von Der Antichrist und Ecce homo, in: NietzscheStudien 21 (1992), 1 6 3 - 1 8 3 , und ders., Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, 3 3 8 - 3 8 0 . Za III, Der Genesende, 2. - Vgl. Josef Simon, Nachwort zu F. N., Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und für Keinen, Stuttgart (Reclam) 1994, 347-368. EH, Warum ich so gute Bücher schreibe: Die Unzeitgemässen, 3.

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sam. Für solche „feineren Ohren" waren seine Anti-Lehren gegen Lehren überhaupt gerichtet, für die aber, die sie als Lehren verstehen wollten oder nur so verstehen konnten, waren sie lediglich neue Lehren, die wie die alten wieder bewiesen und propagiert werden sollten. Nach Nietzsche sollte jeder einzelne entscheiden, wie er seine Anti-Lehren verstehen wollte, jeder einzelne sollte sich daran „kompromittieren", wie er sich hier entschied. 27 Nicht nur an Also sprach Zarathustra, besonders auch an den Aphorismen-Büchern, sollten sich die Interpreten kenntlich machen und, wenn sie wollten und konnten, in ihren Interpretationen für sich selbst erkennbar werden. Man hat immer wieder auf Widersprüche in Nietzsches Werk aufmerksam gemacht und seine Lektüre darum für beliebig erklärt. Widersprüchlich wird es nur für die sein, die in ihm Lehren suchen. Nietzsche wollte nicht einheitlich und eindeutig verstanden werden; er nannte es „beleidigend", von jedem beliebigen auf gleiche Weise verstanden zu werden. 28 Jeder kann nur auf seine Weise verstehen, und eben darin sollte er sich anhand der Texte Nietzsches selbst verstehen. Dies zu sehen, hilft, die Vielfalt des Jüdischen Nietzscheanismus zu begreifen. Juden lasen, wie alle andern, Nietzsche auf ihre Weise, 29 und sie machten sich dadurch wie alle andern selbst kenntlich. Das gilt für jeden einzelnen Juden wie für jeden einzelnen sonst; gemeinsame „jüdische" Züge ihrer Lektüre lassen sich kaum erkennen. Was ihre Nietzsche-Lektüre zu einer besonderen macht und was berechtigt, von einem „Jüdischen Nietzscheanismus" zu sprechen, ist die (oben geschilderte) besondere Lage des europäischen Judentums und das Interesse von Juden an Nietzsche aus Interesse am Judentum?0 Soweit also jüdische Autoren sich mit Nietzsche nicht aus Interesse an ihrem Judentum auseinandergesetzt haben, können sie auch nicht zum Jüdischen Nietzscheanismus gerechnet werden: das gilt unter anderem für so bedeutende philosophische Nietzsche-Interpreten wie Georg Simmel, Karl Löwith, Theodor 27

28 29

30

Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral'. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, Einl., S. 6, u.ö. Nach]aß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, K G W VIII 1 [182] (KSA 12.51). Zu den Nietzscheanismen in Deutschland überhaupt vgl. Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 1890 — 1990, Berkeley/Los Angeles/London 1992, deutsche Ubersetzung von K. Laermann unter dem Titel: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart/Weimar 1996. Aschheim gibt kurze Ubersichten über die Nietzscheanismen der meisten der in diesem Band berücksichtigten Autoren, ohne dabei auf ihr Judentum im besonderen Rücksicht zu nehmen. Den Jüdischen Nietzscheanismus als solchen behandelt Aschheim (neben dem feministischen und dem rechtsradikalen) unter dem (unglücklichen) Oberbegriff „institutionalisierter Nietzscheanismus" („Nietzscheanism Institutionalized"), 94—114. Vgl. das Vorwort zu diesem Band. — Friedrich Niewöhner bestimmt den Begriff des „Jüdischen Nietzscheanismus" als „die Aufnahme und Verbreitung Nietzscheanischer Gedanken durch jüdische Denker" und spezifiziert ihn dann so, daß diese in Bezug auf das eigene Philosophieren oder in Bezug auf eine neue Interpretation des Judentums geschehen kann (vgl. seinen Beitrag in diesem Band).

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W Adorno und Max Horkheimer, aber auch für so bedeutende Philosophen des Jüdischen wie Jacob Taubes, 31 und Emmanuel Levinas, 32 die auf Distanz zu Nietzsche hielten, und schließlich für eine Gestalt wie Walter Benjamin, der sich zwar, in enger Verbindung mit Gershom Scholem, mit dem Judentum auseinandersetzte, zu Nietzsche aber durch Georg Lukäcs in Distanz gehalten wurde. 33 Es gilt, streng genommen, auch für den, der zuerst ein größeres Publikum auf Nietzsche aufmerksam gemacht hat, Georg Brandes. Dazwischen gab es eine ebenso große Vielfalt von Jüdischen Nietzscheanismen, wie es seit Ende des 19. Jahrhunderts Möglichkeiten jüdischer Selbstbestimmung gab. In seiner doktrinalen Affinität zum Judentum, die zuunterst in dem antidoktrinalen Zug bestand, Lehren immer nur als Lehren verstehen zu wollen, die von Individuen zu verantworten sind, ob sie sie nun selbst aufbringen oder nur entgegennehmen, war Nietzsche ein Autor, an dem jüdische Intellektuelle am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu ihrer Selbstbestimmung finden konnten. Sie befaßten sich darum häufig auch nur auf begrenzte Zeit mit Nietzsche: ihr Interesse an ihm ließ oft rasch wieder nach, wenn sie ihre Stellung zum Judentum gefunden hatten. Für die reflektiertesten unter ihnen war es in keiner Weise ungewöhnlich, einen nicht-jüdischen Autor wie Nietzsche in Auseinandersetzungen um die Bestimmung des Judentums einzubeziehen. Dies entspricht im Gegenteil einer häufigen, ja grundlegenden Erscheinung in der Geschichte der jüdischen Philosophie. Philo von Alexandrien hat das Judentum als eine Art platonische Theologie und eine kynisch-stoische Lebensweisheit aufgefaßt, Maimonides mit gewissen Kautelen als neuplatonisch-aristotelisches System, Moses Mendelssohn als aufklärerische Sokratik, Hermann Cohen als eine Vernunftreligion im Sinne Kants usw. Man wird dieser Erscheinung kaum gerecht, wenn man sie als eine Art apologetische Strategie wertet, die den jeweils neuesten und herrschenden philosophischen Diskurs vereinnahmt und instrumentalisiert. Es handelt sich vielmehr um authentische Neuerschließungen der eigenen traditionellen Quellen von fremden Autoren her, die dafür auf ihre Weise Autorität gewonnen haben. Die traditionellen Quellen trotzten allen Uberholungsversuchen und erwiesen sich für ihre Ausleger immer neu ä jour. Sollen in der Vielfalt der Jüdischen Nietzscheanismen wenigstens Typen unterschieden werden, so bieten sich zur Unterscheidung nationale, existenzielle 31 32 33

Vgl. den Beitrag von Hubert Cancik in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Werner Stegmaier in diesem Band. Zu Benjamins Auseinandersetzung mit dem Judentum vgl. Gary Smith, „Das Jüdische versteht sich von selbst." Walter Benjamins frühe Auseinandersetzung mit dem Judentum, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 65 (1991), 3 1 8 - 3 3 4 , zu seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. Terry Eagleton, Benjamin. Towards a Revolutionary Criticism, London 1985. — Die Nietzscheanismen der zumeist jüdischen Mitglieder der Frankfurter Schule als jüdische zu untersuchen wäre einer eingehenden Abhandlung wert.

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und philosophische Kriterien an. Ein Jude am Ende des 19. Jahrhunderts konnte an seinem Volk festhalten, es in seiner bisherigen Gestalt zu erhalten oder in anderer zu erneuern suchen. Aber er konnte sein Judentum auch nur noch als Privatsache betrachten und zu ihm eine nur persönliche Stellung einnehmen. Und er konnte schließlich daran arbeiten, das neue Judentum seiner Zeit neu in Gedanken zu fassen. Zu allem gab Nietzsche bedeutsame Anhaltspunkte und Stichworte. Historisch haben sich der nationale, der existenzielle und der philosophische Typus des Jüdischen Nietzscheanismus vielfach überlagert; dennoch bildeten sie bis zu einem gewissen Grad auch eine historische Abfolge. Sie liegt, wie leicht zu sehen ist, von der Sache her auch nahe. Den Beiträgen dieses Bandes soll nicht vorgegriffen werden. Wir beschränken uns auf eine grobe Ubersicht. (1) Ein manifester Jüdischer Nietzscheanismus entstand zuerst bei osteuropäischen Juden. Er verband sich mit dem aufkommenden jüdischen Nationalismus, ging zunächst aber von einer Rebellion gegen das Gesetz aus, wie die Geschichte des jüdischen Volkes sie zuvor schon im Paulinismus, im Spinozismus u. a. erlebt hatte. Er Schloß an die religionskritischen Tendenzen der jüdischen Aufklärung (HASKALA) an, radikalisierte sie und wandte sich zugleich gegen die assimilatorischen Tendenzen dieser Aufklärung. Die westeuropäische jüdische Aufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte massiv auch nach Osteuropa eingestrahlt und war dort auf den entschiedenen Widerstand der fast gleichzeitig mit ihr entstandenen religiösen Erneuerungsbewegungen des jüdischen Pietismus (CHASSIDISMUS) und der rabbinischen Scholastik (MITNAGGDISMUS) gestoßen, die bald eine gemeinsame Front gegen sie bildeten. Der volksnahe Chassidismus predigte eine pantheistische Frömmigkeit, in der jüdische Nietzscheaner später wiederum einen Durchbruch vitalen Lebens gegen die Herrschaft der Priester feiern konnten; der Mitnaggdismus bekräftigte in Reaktion darauf das elitäre rabbinische Ideal des Lernens und institutionalisierte es in Talmudhochschulen (JESCHIWOT) wie der von Woloszyn, aus denen später wiederum einige der wichtigsten Rebellen gegen die Tradition, unter anderem auch jüdische Nietzscheaner, hervorgingen. Die Haskala machte ihrerseits die religiösen Kräfte für die soziale Rückständigkeit in den jüdischen Siedlungsgebieten verantwortlich und nahm, anders als in Westeuropa, häufig eine antireligiöse Wendung. Dabei genoß sie die Unterstützung der Regierung Alexanders II. Solange dessen Liberalisierung des Zarenreichs andauerte, schritt auch die Assimilation der jüdischen Mittelschicht fort. Doch als nach seiner Ermordung die autokratische und antisemitische Reaktion einsetzte, die Segregation wieder zunahm und Pogrome organisiert wurden, büßte das assimilierte Bürgertum bei der jungen Generation seine Glaubwürdigkeit ein. Dies war für einige junge jüdische Intellektuelle die Stunde der nietzscheanischen Rebellion.

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Sie richtete sich sowohl gegen den religiösen Quietismus als auch gegen die aufklärerische Bodenlosigkeit. Sie war ausgesprochen individualistisch und elitär, fugte sich aber gleichwohl in die nationale jüdische Bewegung ein. Anders als in West- und Mitteleuropa blieb in den geschlossenen und dichten jüdischen Siedlungsgebieten trotz aller ideologischen Gegensätze der nationale Zusammenhalt und der Zusammenhang mit der religiösen Tradition erhalten. 34 So artikulierte sich dort, zumal nach dem Scheitern der Russifizierung, auch die Rebellion gegen die Tradition jiddisch und hebräisch. Nietzsche mußte auf ein Judentum unter solch extremen geistigen und sozialen Spannungen irritierender und elektrisierender wirken als irgendwo sonst. So aber hörte man ihn zunächst auch nur in seinen schrillsten Obertönen. Es ging zuerst um Befreiung, nicht um Philosophie, doch um eine Befreiung mit Mitteln der nietzscheschen Philosophie: man verfaßte Streitschriften, Essays, Dichtungen. Der erste Jüdische Nietzscheanismus führte auf diese Weise zwar nicht zu greifbaren Erträgen, was Nietzsches Philosophie betrifft, um so mehr aber zur Renaissance der hebräischen Sprache und zu einer neuen hebräischen Literatur. Es handelte sich um eine jüdische Erneuerungsbewegung, die sich keineswegs nur aus Nietzsche speiste. Sie griff vielmehr, auch unter Juden, vor allem den Sozialismus auf, gegen den sich das nietzschesche Denken sperrte. Von Nietzsche übernahm sie in erster Linie das Pathos der Umwertung aller Werte und des Ubermenschen, der zu dieser Umwertung imstande sein sollte. Vorbereitet wurde sie insbesondere durch den Arzt, Schriftsteller und Politiker Leon Pinsker (1821 — 1891, ursprünglich Jehuda Leib) aus Tomaschow in Polen, der selbst noch nicht durch Nietzsche beeinflußt war. 35 Er vertrat zunächst den Assimilationsgedanken, änderte jedoch zu Beginn der 1880er Jahre unter dem Eindruck der Judenpogrome in Rußland seine Uberzeugungen. Seine anonym veröffentlichte Schrift „Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden" (1892) wurde zu einem maßgeblichen Anstoß für den politischen Zionismus: Die „Judaeophobie" (Pinskers Begriff für den Antisemitismus) der Völker werde alle Assimilation unmöglich machen, die Juden, jetzt eine würdelose „Herde", müßten aus eigener Kraft wieder eine Nation in einem eigenen Land werden. Zwischen 1880 und 1920 fand sich dann ein Kreis junger jüdischer Dichter und Schriftsteller aus dem russischen Zarenreich zusammen, die hebräisch schreiben und wie Nietzsche denken wollten, unter ihnen, um nur die wichtigsten Namen zu nennen, Micha Josef Berdyczewski, David Frischmann, Saul Tschernichowsky und Salman Schneur. 36 Sie stemmten sich gegen die Enge des 34 35 36

Vgl. den Beitrag von Daniel Krochmalnik in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Friedrich Niewöhner in diesem Band. Vgl. die Beiträge von Menachem Brinker und Daniel Krochmalnik in diesem Band.

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jüdischen Lebens, gegen die Verpflichtung auf die jüdische Geschichte, gegen Tradition und Schrift, und in Nietzsche hatte man den Fürsprecher für Natur und Leben: für eine natürliche Religion an Stelle der „antinatürlichen" Rabbinerreligion, für ein freies Leben an Stelle der Gesetzestreue, für die Erlösung von der Vergangenheit und eine neue, eigene Gegen-Geschichte nicht mehr der Schwäche und des Leidens, sondern der Stärke und des Kampfes. Wie für Nietzsche die vorplatonischen Philosophen ein alt-neues Denken, 37 so sollten für die „Junghebräer" die vorexilischen Texte eine alt-neue, vormosaische, heidnische hebräische Kultur eröffnen. Der bedeutendste und wirksamste unter den nietzscheanischen „Junghebräern" war Micha Josef Berdyczewski aus der Ukraine (1865-1921), der sich später Bin Gorion nannte. Sohn eines Rabbiner, studierte er anfangs an der Talmudhochschule in Woloszyn, später Philosophie an den Universitäten Berlin, Breslau und Bern. Nietzsche, den er begeistert aufnahm, wurde für ihn vor allem zum Vorbild als Dichterphilosoph. Bekannt geblieben ist er bis heute durch sein Spätwerk, seine Sammlungen von jüdischen Sagen, Märchen und Gedichten. Von Nietzsche war er inzwischen weit abgerückt. 38 In der Auseinandersetzung mit den „Junghebräern" entstand der Begriff „Jüdischer Nietzscheanismus". Erschrocken über die Wucht des Veränderungswillens, die von ihnen ausging, versuchte Achad Haam („Einer des Volkes"), der als Ascher Ginzberg (1856 — 1927) geboren wurde und wie Berdyczewski aus der Ukraine stammte, die „jugendlichen, nach aufregenden Neuigkeiten lüsternen Heißsporne" mit Worten Nietzsches selbst zu beschwichtigen. Er war gegen Theodor Herzls politischen Zionismus für einen Kulturzionismus eingetreten, der, wo immer Juden lebten, den jüdischen Geist erneuern sollte. Seinen Aufsätzen, die 1895 in vier Bänden gesammelt erschienen waren, hatte er den programmatischen Titel „Am Scheideweg" gegeben. Mit einem ebenfalls in Hebräisch erschienenen Aufsatz von 1898, den er ursprünglich etwa „Die Tagesfragen betreffend" und in einer späteren deutschen Ubersetzung „Umwertung aller Werte" überschrieb und in dem er den Begriff NITSCHEANISMUS JEHUDI („Jüdischer Nietzscheanismus") prägte,39 entfachte Achad Haam eine Debatte, in die zwanzig weitere Autoren eintraten und die sich fast zwei Jahrzehnte fortsetzte. Er suchte den jungen Nietzscheanern klar zu machen, daß sie noch keine jüdischen Nietzscheaner seien: Sie verstünden den Ubermenschen noch immer arisch, als Ideal körperlicher Kraft und Schönheit, nicht jüdisch, als sittlichen Ubermenschen, der sich dem „Ubervolk" ver-

37 38

39

Vgl. Vgl. und Vgl.

den Beitrag von Hubert Cancik in diesem Band. David Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/London 1979, Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. O., 111 — 114. den Beitrag von Friedrich Niewöhner in diesem Band.

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danke, das zur Gerechtigkeit erwählt und sein „fruchtbarer Boden" sei. 40 Diesen jüdischen Ubermenschen aber könnten sie weniger bei Nietzsche als in den jüdischen Quellen finden, die auch Nietzsche so hoch geschätzt habe. Achad Haam drängte mit seinem Begriff so von Anfang an auf eine Vertiefung des nietzscheschen Denkens durch das jüdische. Er erinnerte an Nietzsches „Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen" 0GB 272), und reklamierte sie für das Judentum; er bejahte Nietzsche, aber in jüdischer Deutung und Kritik, und kam dabei dem „feineren" Nietzsche näher, als er vermutete. Denn er glaubte sich „zu der Annahme berechtigt, daß wenn derselbe Nietzsche einen jüdischen Geschmack gehabt hätte, er zwar auch dann das Kriterium für die moralischen Werturteile geändert und den Ubermenschen als den absoluten Endzweck hingestellt haben könnte. Aber die charakteristischen Züge des Ubermenschen wären dann gänzlich verschieden ausgefallen: Durchsetzung der sittlichen Kraft, Zurückdrängung der tierischen Triebe, Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit in Tat und Gedanken und ununterbrochener Kampf gegen Unwahrheit und Ungerechtigkeit, kurz jenes sittliche Ideal, das uns das Judentum ins Herz gepflanzt hat." Doch eben dieses Ideal hat Nietzsche ausführlich in Jenseits von Gut und Böse, in der Genealogie der Moral und zuletzt wieder, an seinem eigenen Beispiel, in Ecce homo entworfen. (2) Auch im Westen Europas versprach Nietzsche den Juden Befreiung. Das „Wovon" der Befreiung war hier jedoch weit weniger klar und noch weniger das „Wozu". Man hatte sich schon weitgehend aus dem jüdischen Gemeindeleben und von der religiösen Existenz als Jude gelöst. Geblieben war der soziale Bann des Antisemitismus. Doch auch er schien sich allmählich zu lockern; man hoffte, er werde sich mit der Zeit von selbst erledigen. 41 Das Judentum war für Juden hier weniger eine nationale als eine existenzielle Frage. Daraus konnten zwar wieder Ideen zur Erneuerung des jüdischen Volkes erwachsen, die sich jedoch großenteils (und nicht nur in heutiger Sicht) bizarr ausnehmen und weitgehend die Ideen einzelner blieben. Zahlreicher und bedeutsamer sind die Juden, die sich mit Nietzsche nicht in Bezug auf das Judentum überhaupt, sondern auf das eigene Judentum auseinandersetzten. Sie fanden naturgemäß nicht zu einer gemeinsamen Identität. Darüber hinaus, daß sie sich mit dem Judentum und mit Nietzsche auseinandersetzten, verband sie wenig; oft ist der Fluchtpunkt, an dem sich beide Interessen treffen, schwer auszumachen. Die Differenz ist hier 40

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Alle Zitate aus Achad Haam, Umwertung aller Werte, in: Α. H., A m Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, autorisierte Übertragung aus dem Hebräischen von I. Friedländer u. H. Torczyner, 1. Bd., Berlin 1923, 1 1 6 - 1 3 9 . Vgl. Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland, a. O., 6 7 - 6 9 .

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das Bezeichnende und Entscheidende, und das Interessante und Erstaunliche ist, meviel Differenz hier möglich war. Da ist zunächst Georg Brandes (1842—1927), der Nietzsche für die Öffentlichkeit entdeckte.42 Von seinem Judentum scheint er kaum nachhaltig berührt zu sein; als Autor tilgte er die jüdischen Teile seines Namens (Georg Morris Cohen Brandes). Immerhin bewährte er sich, indem er auf Studien- und Vortragsreisen durch ganz Europa als gefeierter Vermittler neuer, radikaler Ideen wirkte und Nietzsches Philosophie (zu dessen großer Genugtuung) als „aristokratischen Radicalismus" propagierte, früh als „freier Geist" und „guter Europäer", wie es Nietzsche am ehesten von Juden erwartete. Max Nordau (1849 — 1923) hat mit Brandes gemein, daß auch er zu den bekanntesten Publizisten seiner Zeit gehörte und daß er sich mit Nietzsche ebenfalls nicht als Jude befaßte.43 Er befaßte sich jedoch mit dem Judentum: 1896 wurde er Mitkämpfer Theodor Herzls in der zionistischen Bewegung. Und er bekämpfte Nietzsche: 1892/93 hatte er ein zweibändiges Werk „Entartung" veröffentlicht, als deren Gipfel ihm Nietzsche galt. Sohn des Rabbiners Gabriel Südfeld, hatte er in seinem Autorennamen zunächst ebenfalls sein Judentum verborgen. „Nordau" vs. „Südfeld" meinte Königsberg, Kant, Aufklärung, Fortschritt durch Wissenschaft. So mußte Nietzsche, als scharfer Kritiker dieser Aufklärung, „entartet", geisteskrank sein. Für Nietzsche und für ein neues nationales Judentum, dies aber auf eine noch mehr ins Extrem getriebene Weise, traten Oskar Goldberg und sein Schüler Erich Unger und, mit anderen Vorstellungen, Oscar Levy und Moritz Goldstein ein. Oskar Goldberg aus Berlin (1885-1953), der 1908 eine Prüfung am Rabbinerseminar abgelegt hatte, dann Medizin studierte und schließlich 1920—1933 als „metaphysischer Magier", wie Gershom Scholem ihn nannte, zum Mittelpunkt einer berühmt-berüchtigten „Philosophischen Gruppe Berlin" wurde, schätzte Nietzsche gerade in seiner Kritik des Rationalismus und der Aufklärung.44 Er propagierte gegen die rationalistische Apologetik des Judentums einen bewußten Archaismus. Das Judentum sollte nicht Religion der Vernunft, sondern des Mythos, die eigentliche und auf neue Weise wiederzugewinnende „Wirklichkeit der Hebräer", wie Goldberg sein 1925 erschienenes Hauptwerk überschrieb, ihr archaisches Wüstenleben sein, in dem ihr Gott sich als ihre wirkliche Lebensmacht erwiesen hatte. Alle Spiritualisierung des Gottesdienstes und Gottesglaubens in den Psalmen und bei den Propheten und noch mehr die 42 43 44

Vgl. den Beitrag von Gerd-Günther Grau in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Christoph Schulte in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Manfred Voigts in diesem Band und seinen Aufsatz: Oskar Goldberg und die „Wirklichkeit der Hebräer". Portrait eines jüdischen Außenseiters, in: Judaica 52 (1966), 131-142.

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rationalistische Religionsphilosophie eines Maimonides war dagegen Niedergang. Stattdessen sollte der biblische Opferkult wiederhergestellt werden. Franz Rosenzweig kommentierte immerhin: „In einer Schale von Wahnsinn viele gute exegetische Kerne."45 Erich Unger (1887 — 1950), früh mit Goldberg bekannt und sein erklärter Schüler, wurde der philosophische Kopf der Gruppe. Er kam aus dem, ebenfalls Nietzsche stark verpflichteten, Dunstkreis des Frühexpressionismus und unterlegte die Exegesen Goldbergs in seinem Werk „Politik und Metaphysik" von 1921 mit einer magischen Metaphysik, die auf die neue Schöpfung eines jüdischen Ubervolkes hinausführte. Manche seiner Zeitgenossen hielten sie für abstrus, andere, wie Walter Benjamin, wußten sie durchaus zu würdigen.46 Oscar Levy (1867—1946) fand in Nietzsche einen großen Geistesverwandten, als er nach England ausgewandert war, und betrieb dort mit Erfolg eine englische Gesamtausgabe seiner Werke.47 Er pflegte einen machistischen, protofaschistischen Vulgärnietzscheanismus und vertrat obsessiv die jüdische Provenienz ebenso des Christentums wie des Imperialismus, des Bolschewismus und des Nationalsozialismus. Moritz Goldstein (1880-1977), der 1912 die „Kunstwart-Debatte" um Assimilation und Antisemitismus auslöste48 und 1913 an dem vom Prager BarKochba-Kreis herausgegebenen Band „Vom Judentum" mit einem Beitrag „Wir und Europa" vertreten war,49 Schloß an Nietzsches Idee Europas an. Juden waren danach die wahren Europäer; sie brauchten als einziges Volk in Europa keinen Nationalismus, um eine Nation zu sein. Aber auch Europa sei, so Goldstein, für Juden geistig zu eng; es sei als ganzes selbstgerecht geworden und halte sich für das Gewissen der Welt. Das jüdische Volk aber bleibe, auch wenn es nun über das Gesetz seiner Väter und das Priestertum hinausgewachsen sei, der Idee der Gerechtigkeit verpflichtet und müsse sich darum zum „hypereuropäischen" Volk erheben. So werde es, was Nietzsche als einzelner nicht konnte, als Volk den europäischen Nihilismus überwinden können. Walther Rathenau, Gustav Landauer, Theodor Lessing und Egon Friedell sind Beispiele von Juden, die sich in kritischen Phasen ihres Lebens intensiv mit dem Denken Nietzsches und ihrem Judentum auseinandersetzten, um dann zu ihrer ganz eigenen, sei es politischen, sei es literarischen, Bestimmung zu finden. Alle verstanden sich ebenso als Deutsche und Europäer wie als Juden, und sie 45

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Franz Rosenzweig, Briefe, ausgewählt und hrsg. von Edith Rosenzweig und Ernst Simon, Berlin 1935, 585. Vgl. den Beitrag von Manfred Voigts in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Uschi Nussbaumer-Benz in diesem Band. Vgl. Manfred Voigts, Moritz Goldstein und die „Kunstwart-Debatte", in: Der Landesverband der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, 10. Jg., Nr. 67 (Sept. 1995), 3 0 - 3 4 . Vgl. Roland Goetschel, Die Beziehung zu Europa im deutsch-jüdischen Denken, in: Judaica 51 (1995), 1 5 4 - 1 7 7 .

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schätzten Nietzsche weniger als Fürsprecher des Judentums denn als freien Geist, der andere ermutigte, auf ihre Weise und über ihn hinaus freie Geister zu werden. Alle erwarben sich eine herausragende Stellung, alle stießen auf wachsende Anfeindung. Rathenau, Landauer und Lessing wurden ermordet, Friedell beging Selbstmord. Walter Rathenau (1867 — 1922), Sohn des Gründers der AEG, homme de lettres und philosophisch ambitioniert, zuletzt Außenminister des Deutschen Reiches, hatte 1897 in „Höre Israel!" die Gegensätze zwischen deutschem und jüdischem Wesen betont und sich dabei entschieden zur Assimilation bekannt. 1917 lehnte er in „Eine Streitschrift zum Glauben" jedoch die Taufe mit der Begründung ab, der mosaische Monotheismus sei kraft seiner Freiheit von Dogma und Kirche das einzige Bekenntnis, das den persönlichen Glauben ohne inneren Widerspruch dulde. 50 Gustav Landauer (1870-1919), zuletzt Mitglied der Münchner Räterepublik, hatte Germanistik und Philosophie studiert und 1893 einen Nietzsche-Roman „Der Todesprediger" veröffentlicht. Sein Judentum verstand er nicht mehr konfessionell, sondern politisch, sah es aufgegangen in seinem glühenden sozialistischen und anarchistischen Engagement, das er — Nietzsche verdanke. 51 Theodor Lessing (1872—1933), zuletzt Professor für Pädagogik und Philosophie, aber auch als politischer Publizist tätig, untersuchte das Judentum schließlich als soziales Phänomen und tat dies von Nietzsche her: Der Geist, zarathustrisch „das Leben, das selber ins Leben schneidet," wird bei assimilierten Juden zum „jüdischen Selbsthaß", Nietzscheanismus wird zur Theorie des zeitgenössischen Judentums. 52 Egon Friedell, 53 ursprünglich Friedmann (1878-1938), war Kabarettist, Feuilletonist, Satiriker, Kritiker, Ubersetzer, Schauspieler, ehe er zu einem der bekanntesten Kulturhistoriker wurde. Er war ein Grenzfall unter den Grenzfällen des existenziellen Jüdischen Nietzscheanismus: ganz losgelöst vom Judentum, aber Nietzsche treu, verirrte er sich zu den Nationalsozialisten. Die Genannten fanden, so entsetzlich ihr Ende war, zu ihrer Bestimmung, ob noch als Juden oder nicht mehr als Juden, ob noch als Nietzscheaner oder 50

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Vgl. Klara Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hider, Königstein/Ts. 1981, 4 3 - 7 3 , und Hans Dieter Hellige, Einleitung zum Briefwechsel Walther Rathenau — Maximilian Harden 1897 — 1920, München/Heidelberg 1983, 1 5 - 3 0 0 . Vgl. Klara Pomeranz Carmely, Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum, a. O., 84—100, Guy Stein, Einblicke in die jüdische Welt Gustav Landauers, in: Leonhard M. Fiedler u. a. (Hrsg.), Gustav Landauer (1870 — 1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes, Frankfurt/New York 1995, 55 — 75, und den Beitrag von Hanna Delf in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Jacob Golomb in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Renate Reschke in diesem Band.

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XXIX

nicht mehr als Nietzscheaner. Bei den „Grenzjuden", wie Jacob Golomb sie im Anschluß an Frederic V. Grunfeld nennt, 54 wurde die existenzielle Krise dagegen unlösbar, sie wurde, auf Grund ihrer sozialen Umstände, zum dauernden Leiden. Golomb geht es um die Grenzjuden, die „doppelt marginalisiert" waren, die, statt zu konvertieren oder sich ideologischen oder politischen Bewegungen anzuschließen, auf „fix und fertige Identitäten" verzichteten. Die Identitätskrise als Jude wird so zum Dauerzustand, und sie wird zum Hauptfaktor für das Interesse an Nietzsche. Nicht nur seine Philosophie, auch sein Leben in Vereinzelung, Leiden und dennoch oder eben deshalb unermüdlichem „Schaffen" wird unwiderstehlich anziehend. Theoretiker dieses Grenzjudentums ist nach Golomb Theodor Lessing, das herausragende Beispiel Stefan Zweig; aber auch Martin Buber gehört ihm zunächst zu. (3) Bei den „philosophischen" Jüdischen Nietzscheanern werden die Konturen wieder klarer. Die alte Tradition der philosophischen Reflexion des Judentums bleibt auch für sie noch verpflichtend. Dennoch ermutigt die neue, nietzschesche Freiheit des Denkens auch da noch, an neue Grenzen zu gehen. Martin Buber (1878 — 1965) spielte hier eine Schlüsselrolle. Er bildete zudem eine Brücke zwischen dem Ost- und Westjudentum; er erschloß dem Westen nicht nur den Chassidismus, er vertrat zeitlebens auch den Achad-Haamismus. Als junger Mann nahm er maßgeblich an dem religiösen Revivialismus teil, der sich um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa unter jungen jüdischen Intellektuellen verbreitete. Dabei wirkte Nietzsches „Also sprach Zarathustra" auf ihn wie eine religiöse Offenbarung; er begann, das Werk ins Polnische zu übersetzen. Später kühlte seine Nietzsche-Begeisterung ab. Aber auch dann noch färbte der prophetische Tonfall Zarathustras Bubers jüdische Programmatik, einschließlich seiner Darstellung des Chassidismus. Hinzu trat die Lebensphilosophie Georg Simmeis, dessen Schriften über Nietzsche für den Jüdischen Nietzscheanismus im ganzen bedeutsam wurden. So wurde auch Bubers Leitmotiv, nun in expressionistisch-existenzialistischer Färbung und in prophetisch-philosophischem Vortrag, die Rebellion gegen das Gesetz — das Judentum sollte „erlebt" werden. 55 Bubers Auffassung des Judentums, wie sie sich in seinen berühmt gewordenen, zwischen 1909 und 1911 in Prag gehaltenen „Drei Reden über das Judentum" kundtat, beeinflußte stark die jüdische Jugendbewegung in Mitteleuropa. 54 55

Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. Vgl. Paul Mendes-Flohr, From Mysticism to Dialogue. Martin Buber's Transformation of German Social Thought, Detroit/Mich. 1989, dtsch: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis zum ,Ich und Du', Königstein 1978, Dominique Bourel, De Lemberg ä Jerusalem: Nietzsche et Buber, in: ders. u. Jacques le Rider (Hrsg.), De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et le judai'sme. Les intellectuels juifs et Nietzsche, Paris 1991, 121 — 130, und Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. O., 1 0 7 - 1 0 9 .

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Auch die Auseinandersetzung des jungen Ernst Bloch mit dem Judentum ist ihr verpflichtet. In seinem Exkurs über die Juden in der 1. Auflage von „Geist der Utopie" greift auch er direkt auf Nietzsche zurück, in „Erbschaft dieser Zeit" verteidigt er Nietzsches Dionysos gegen Lukäcs' Irrationalismus-Vorwurf.56 Franz Rosenzweig (1886—1929), der mit Buber zusammen die Hebräische Bibel übersetzte, schöpfte aus anderen philosophischen Quellen als er. Er erwarb sich große Verdienste in der Erforschung des Deutschen Idealismus und wurde Schüler von Hermann Cohen; Nietzsche interessiert ihn eher als Existenz denn als Philosoph. 57 Zwar argumentiert auch er von einem existenzialistischen Standpunkt aus, versucht nun aber gegen den vitalistischen Antinomismus Bubers das Gesetz als Gebot des Lebens zu retten. Gershom Scholem (1897 — 1982) kam wie Rosenzweig aus einem assimilierten großbürgerlichen Elternhaus und entschied sich wie er bewußt wieder für das Judentum. Auch er hatte kurz vor dem Ersten Weltkrieg sein ZarathustraErlebnis und wünschte sich einen „Judenzarathustra". Er distanzierte sich jedoch bald von Bubers „Erlebnisjudentum" und auch von Nietzsche. 58 Ihr Einfluß wirkte aber insofern fort, als er die Wurzeln des Judentums weiterhin jenseits von Orthodoxie und Rationalismus suchte, in der jüdischen Mystik, die er seit 1925 als Dozent und Professor an der 1918 gegründeten Hebräischen Universität in Jerusalem erforschte. Mit Scholem wurde der religiöse Revivialismus akademisiert. (4) Wollte man den Jüdischen Nietzscheanismus hinreichend umfassen, wären neben der Vielfalt (mehr oder weniger) manifester wiederum eine Vielfalt (mehr oder weniger) verdeckter Jüdischer Nietzscheanismen zu berücksichtigen. Beispiele für letztere sind Sigmund Freud und Emmanuel Levinas, auch sie sehr gegensätzlich (und im Hinblick darauf ausgewählt). Sigmund Freud (1856 —1939)59 war sich seiner starken jüdischen und nietzscheschen Prägung sehr wohl bewußt, drängte aber beide zurück, um zeidebens von ihnen eingeholt zu werden. Er verdankte Nietzsche, wie er gelegentlich selbst zugestand, wesentliche Grundgedanken, sträubte sich aber, ihn weiter zu studieren, um in seinem eigenen Denken nicht gelähmt zu werden. Beharrlich, wenn auch in großen Abständen, versuchte er sich an einer Genealogie der monotheistischen Religion („Der Mann Moses und die monotheistische Reli56

57

58 59

Vgl. Daniel Krochmalnik, Ernst Blochs Exkurs über die Juden, in: Bloch-Almanach 13 (1993), 3 9 - 5 8 , und Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, a. O., 188 ff. u. 3 0 6 - 3 0 9 . Vgl. den Beitrag von Cordula Hufnagel in diesem Band. Zu Rosenzweigs nietzscheanischem Antike-Bild vgl. den Beitrag von Hubert Cancik. Vgl. den Beitrag von Herbert Kopp-Oberstebrink in diesem Band. Vgl. Jacques Le Rider, Les intellectuels juifs viennois et Nietzsche. Autour de Sigmund Freud, in: Dominique Bourel u. Jacques Le Rider (Hrsg.), De Sils-Maria ä Jerusalem a. O., 181—200, und die Beiträge von Peter Heller und Wolf-Daniel Hartwich in diesem Band.

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gion"), die die Ursprünge des Judentums in die Psychoanalyse heimholen sollte und in Thematik und Methodik ein Vorbild nur in Nietzsches „Genealogie der Moral" hatte. 60 Emmanuel Levinas (1906-1995), der, im litauischen Kaunas mit der hebräischen Bibel aufgewachsen, 61 stets zum Judentum hielt und zu einem bedeutenden, vielleicht dem bedeutendsten Philosophen des Judentums im 20. Jahrhundert wurde, war, zumal nach Auschwitz, abgestoßen von allen Nietzscheanismen und bekannte sich, in der emphatischen Erfahrung des Mai 1968, dennoch zu ihm. Was er als Ethik des Judentums entwarf, steht der Ethik Nietzsches, nun freilich nicht mehr des lauten, polemischen, sondern des stillen, irenischen Nietzsche, in allen Kernpunkten äußerst nahe. 62 Mit Emmanuel Levinas und Jacques Derrida, der in der Ethik eng an ihn anschließt, beginnt deutlich zu werden, wie eng sich das, was man mit aller Vorsicht als jüdisches, als durch jüdische Religion und Tradition bedingtes Denken betrachten kann, mit dem Nietzscheschen Denken berühren könnte, wie sehr sie sich in der Kritik dessen treffen, was wir uns (mit Nietzsche) „Metaphysik" oder (mit Heidegger) „Ontotheologie" zu nennen angewöhnt haben, wie sehr sie in der Kritik einer Moral übereinkommen, die auf dem Willen zum Wissen des Guten beruht und dadurch stets in der Gefahr der Selbstgerechtigkeit ist, und wie sehr die Werte ihrer Moral, für Nietzsche einer neuen Moral, einander gleichen. Nietzsches Bruch mit dem Willen des Wissens zum Guten, der für die Philosophen vom Fach so empörend war und noch immer ist, könnte es zuletzt gewesen sein, was ihn jüdischen Intellektuellen sogleich vertraut gemacht hatte. Sein Andersdenken wurde zu einer der bewegendsten Beunruhigungen unseres Jahrhunderts und verband sich darin mit dem jüdischen Denken, das eine solche Beunruhigung schon seit Jahrtausenden war. Wo Nietzsche und das Judentum sich treffen, könnte die Ethik am tiefsten berührt sein.

00

Vgl. Jacob Taubes, Exodus aus der biblischen Religion: Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, in: J. T., Die Politische Theologie des Paulus, hrsg. v. A. u. J. Assmann in Verbindung mit H. Folkers, W.-D. Hartwich u. Chr. Schulte, München 1993, 1 0 6 - 1 3 1 .

61

Vgl· Daniel Krochmalnik, Emmanuel Levinas im jüdischen Kontext, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 4 1 - 6 2 . Vgl. den Beitrag von Werner Stegmaier in diesem Band.

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I. Nietzschesche Perspektiven auf das Judentum

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Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft. Volk und Judentum bei Nietzsche In Lessings „Nathan der Weise" stellt sich die eine Wahrheit in drei Gestalten dar: dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Keine dieser Gestalten kann sich von sich aus als ausschließliche Wahrheit wissen, obwohl jede diesen Anspruch erhebt. Nach Lessings „Ringparabel" ist zwar nur eine die wahre Religion, aber dies kann sich nur in ihrer Wirkung erweisen, durch die „Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen". Bisher habe jedoch keine der drei Gestalten solch eine kraftvolle Wirkung gezeigt. Nach Lessings aufgeklärtem Bild ist Gott als der „Vater" die monotheistische Instanz der Einheit des Menschengeschlechts. Der historischen Wirklichkeit entspricht dieses Bild nicht. Nicht nur die Juden, Christen und Mohammedaner sehen in den jeweils anderen monotheistischen Religionen das Falsche oder den „Unglauben" manifestiert. Auch schon unter den Christen ist eine Anerkennung der unterschiedlichen Symbole und Riten offensichtlich nicht möglich. In Lessings Parabel ist die Wahrheit „an sich" die eine, im gemeinsamen Vater garantierte Wahrheit, wie sie sich auch immer „für uns" darstellen mag. Dem Vater möchte jeder der Söhne aber gerade in seiner besonderen Uberzeugung entsprechen, denn jeder findet in ihr seine Orientierung im Leben. Die philosophisch-hegrijfliche Auflösung der Besonderheiten im Gedanken der einen Wahrheit würde, in einer „Dialektik der Aufklärung", zur Vernichtung der orientierenden Besonderheiten führen. Lessings poetisches Bild vom Vater und drei Söhnen kann die Einheit von Allgemeinem und Besonderheit noch darstellen, aber doch nur als Bild. — Nietzsche, auf dessen dialektischen Wahrheitsbegriff ich hiermit zu sprechen kommen, geht gegenüber Lessings Bild einen großen Schritt weiter, wenn er, da die Wahrheit inzwischen in der positiven „Wissenschaft" gesucht wird, schreibt, „in der Wissenschaft" hätten „die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht". So kann sie in ihrer Positivität und Besonderheit, die sie sich in ihrer methodischen Orientiertheit gibt, auch keine sichere Orientierung für das Leben mehr bieten. Erst wenn die Wissenschaften „sich entschliessen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Werth

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innerhalb des Reichs der Erkenntniss zugestanden werden", aber, so fügt Nietzsche hinzu, „immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Misstrauens", und „erst, wenn die Ueberzeugung aujhört, Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen". Wie die religiös begründete Moral, die nach Nietzsche ihre orientierende Kraft verloren hat, bedeutet für ihn auch die Wissenschaft eine „Zucht". Aber im Gegensatz zur „Zucht" der Moral beginnt die „Zucht des wissenschaftlichen Geistes" damit, „sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten". Gerade dazu ist aber eine Grundüberzeugung notwendig, der „alle andren Ueberzeugungen [...] zum Opfer" zu bringen sind: die Uberzeugung, daß es „die" Wahrheit nicht gibt. Darin besteht die „Grundüberzeugung" der Wissenschaft. Sie ist in diesem Sinn nicht unbedingt mißtrauisch. Dementsprechend gibt es auch keine wertende Rangfolge des „Unbedingt-Misstrauischen" des wissenschaftlichen Geistes und des „Unbedingt-Zutraulichen" zu dem einen „Vater" der monotheistischen Religionen. Mißtrauen und Zutrauen gehören vielmehr zusammen: Alles Mißtrauen hat seine Zuflucht in einem Zutrauen, und das Zutrauen ist die Folge der Notwendigkeit solch einer Zuflucht. Den „Preis" der wissenschaftlichen Wahrheit erkennen wir deshalb erst dann, wenn wir „einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare" der Überzeugung, daß es keine Wahrheit gebe, „dargebracht und abgeschlachtet haben" 1 . Denn auch dies ist eine Uberzeugung oder ein Glaube. Das „Opfer" der positiven Überzeugungen führt nach Nietzsche erst zur Wissenschaft. Sie entspringt also keineswegs einem Willen, sich überhaupt nicht täuschen zu lassen — denn das hat man nicht in der Hand und „es bleibt keine Wahl", als sich täuschen zu lassen —, sondern dem Willen: „ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht"; und damit sind wir auf dem Weg zur Wissenschaft schon „auf dem Boden der Moral", die sich gegen das Leben wendet, weil das Leben Täuschung braucht. Insofern könnte der „,Wille zur Wahrheit' [...] ein versteckter Wille zum Tode sein. — Dergestalt fuhrt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das moralische Problem: wo^u überhaupt Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte .unmoralisch' sind?" Der „Glaube an die Wissenschaft" bejaht also auch, aber er „bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte"; „unsre Welt" muß er verneinen. 2 Die „Opfer", die die Religionen mit dem Opfer ihrer Besonderheiten dem Zeitalter der Wissenschaft darbringen, opfern eigentlich „unsere Welt", in der wir orientiert leben können, auf dem Altar der Wissenschaft, in der nur die eine Uberzeugung gilt, daß es besondere Uberzeugungen und damit das „Leben" nicht geben dürfe. 1 2

Nietzsche, FW 344 (KSA 3.574-576). Nietzsche, FW 344 (KSA 3.576-577).

Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft

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Dieser Gedanke lag eigentlich auch schon dem aufgeklärten Religionsbild Lessings zugrunde: Die Verschiedenheiten der Religionen heben sich in der Vorstellung des einen gemeinsamen Vaters auf. Nietzsche sieht darin die lebensverneinende Moral am Werk, die Mißgunst oder das Ressentiment gegen die Besonderheiten der Lebensgestaltungen, die sich in ihrer Besonderheit gerade nicht als „im Grunde dasselbe" verstehen lassen. Wenn wir über Nietzsche und das Judentum sprechen, sollten wir diese Dimension im Blick haben: Das moderne wissenschaftliche Weltbild läßt besondere, positive Überzeugungen nicht zu, und die Besonderheiten der Religionen lassen sich innerhalb der Vorherrschaft dieses Weltbildes nur dann noch vertreten, wenn sie sich zugleich „wissenschaftlich" vertreten oder aus ihren Mythologien in eine universale Semiotik der wissenschaftlichen Vernunft übersetzen lassen. Nur dann müssen sich die Religionen nicht im Widerspruch zur Wissenschaft sehen, die sich selbst in ihrer essentiellen Unfertigkeit aber gerade nicht mehr zu einem Bilde fügt. In dem Maße, in dem eine Überzeugung denkt, sie selbst lasse sich, zumindest im Prinzip, in die „jenseitige" Welt der sich selbst als überzeugungslos verstehenden Wissenschaft übersetzen, werden andere Überzeugungen ihr nicht nur fremd, sondern erscheinen als „irrational". Doch keine Überzeugung, die in ihrer Besonderheit dem Leben dient, kann sich wirklich in die wissenschaftliche Überzeugungslosigkeit „übersetzen" lassen. Das wirkte tödlich. „Daß eine Menge Glauben da sein muß, daß geurtheilt werden darf, daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werthe fehlt — das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Daß etwas für wahr gehalten werden muß,\ ist nothwendig; nicht, daß etwas wahr ist."7' Auf dem Altar der Wissenschaft wird mit den Besonderheiten im Fürwahrhalten das Leben geopfert. „Glauben" ist immer ein besonderes Fürwahrhalten. „Allgemein" ist nur der Glaube, keinen Glauben nötig zu haben. Die Übereinstimmung in einem besonderen Fürwahrhalten ist auch noch bei Wittgenstein, der inzwischen „Zeit" hatte, es distanzierter als Nietzsche zu formulieren, eine Bedingung der Verständigung: „Zur Verständigung durch die Sprache gehört" hier „nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in Urteilen" 4 . Würde alles in Frage gestellt, so könnte nichts erklärt werden, denn zum Erklären muß etwas als selbst nicht erklärungsbedürftig, als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden. Man muß Überzeugungen mit anderen teilen. Es leuchtet ein, daß sich dies aber nicht auf alle anderen beziehen kann. Es muß sich auch nicht auf alle anderen beziehen, sondern nur auf diejenigen, denen man etwas erklären will, weil einem an der Verständigung gerade mit ihnen etwas „liegt". Zeichen, 3 4

Nietzsche, Nachlaß Herbst 1887, VIII 9 [38] (KSA 12.352). Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Nr. 242.

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die nicht erklärt zu werden brauchen und deshalb zur Erklärung anderer Zeichen verwendet werden können, werden dabei als etwas vorausgesetzt, das von dem, der erklärt, und von denen, für die er erklärt, „im selben Sinn" verstanden werde. Wenn die Erklärung befriedigend gelingt und sich im Handeln, d. h. im Leben bewährt, scheint diese Voraussetzung zutreffend gewesen zu sein. Man läßt sie dann auf sich beruhen, ohne sie in Frage zu stellen. Da aber jedes Individuum notwendig „von sich aus" versteht, ist es, wie Nietzsche sagt, „schwer, verstanden zu werden". Der Verstehende interpretiert, wenn er versteht, von seinen eigenen Verstehensvoraussetzungen her. Daher soll man „schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation [...] von Herzen dankbar sein". Das ist „schwer", weil man an dem, wie man selbst sich und seine Welt versteht, festhalten will. Um des eigenen Orientiertseins im „Leben" willen muß man sich daran „halten" können. Der „Wille zur Wahrheit" ist, als dieser Wille zum Leben, „Wille zur Macht"5. Daher kann man auf ein eigenes, überzeugtes Fürwahrhalten, das sich gegen anderes, fremdes Fürwahrhalten stellt, nicht generell verzichten wollen. Nur an „guten Tagen" ist man bereit, „seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß [zuzugestehen"6, einen „Spielraum" für deren anderes, von einem selbst her nicht mehr zu verstehendes, nicht nachzuvollziehendes Verstehen. Man verlangt an solchen „Tagen" gar nicht mehr „Interpretation"; man versteht, „ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen"7, also „ästhetisch"; an schlechten Tagen bleibt man dagegen vom „Ressentiment" beherrscht. „Alles", auch der Wille zum gemeinsamen Fürwahrhalten, der „Freunden einen reichlichen Spielraum" zugesteht, hat „seine Zeit". Diese „Verteilung" des Willens — des Willens zum Festhalten an der eigenen Sicht gegen die Sicht anderer und des Willens zu einem mit dem Fürwahrhalten anderer übereinstimmenden Fürwahrhalten — auf verschiedene Zeiten ist für Nietzsche wichtig. Sie vermeidet den Widerspruch zwischen beiden „Wahrheitsbegriffen" und damit im Begriff der Wahrheit selbst. Uber die Zeit hinweg trägt aber die Erinnerung, und so entsteht mit der Zeit notwendig das „Ressentiment". Das Fürwahrhalten sieht sich dann im „Widerspruch mit sich selbst".8 Es ist, um es mit einem Begriff Hegels zu sagen, „unglückliches Bewußtsein", denn es verliert sich selbst als die Einheit, als die es sich vorausgesetzt hatte: Zu einer Zeit erfährt es sich als stark im Fürwahrhalten, zu einer anderen Zeit als „nachsichtig" gegen andere, an denen ihm liegt. Aber auch diese „Nachsichtigkeit" soll noch seinem Leben dienen. Die „Moral der Schwachen" hat ihren Grund in dieser Schwäche; 5 6 7 8

Nietzsche, Nachlaß Herbst 1887, VIII 9 [36] (KSA 12.352). Nietzsche, Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, VIII 1 [182] (KSA 12.50-51). Nietzsche, Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 15 [90] (KSA 13.460). Vgl. Christian Koecke, Zeit des Ressentiments, Zeit der Erlösung. Nietzsches Typologie temporaler tation und ihre Außebung in der Zeit, Berlin/New York 1994.

Interpre-

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sie will „grundsätzlich" oder in allgemeinen moralischen „Regeln" mit der Moral der anderen übereinstimmen, nicht um „der" Wahrheit willen, wie die Wissenschaft es vorgibt, sondern um dadurch stärker zu sein. Wenn Nietzsche offenbar für die Moral aus Stärke mehr Sympathie zeigt als für die Moral der Schwachen, wendet er sich gegen die Vorstellung einer universalen Moral, der gerade keine nur besonderen Prinzipien zugrunde liegen sollen und die in der Vorstellung dieses „Sollens" vor sich selbst ihre „Eigenart" verdrängt. Niemand ist so stark, daß er zu keiner Zeit Ubereinstimmung im Moralischen wollen könnte. Er will sie zumindest als Ubereinstimmung mit sich selbst über die Zeit hinweg, und dabei muß er auch schon mit sich selbst „nachsichtig" sein: Er interpretiert seine einzelnen Handlungen so, daß er sich „selbst" als konsistentes Verhalten und als „das Subjekt" von „Handlungen" verstehen kann, die schon dem Begriff nach ihren Grund in einem freien Subjekt haben. Ein „Selbst" ist er nur als Ergebnis solch einer Interpretation seiner selbst. Das zeitübergreifende Gedächtnis „erhält" aber immer auch „die Gewohnheiten der alten Interpretation"9 neben jeder neuen und schafft so die Tiefe der „Seele" gegenüber dem „einfachen" Begriff des „Subjekts". Es ist als Gedächtnis „nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten"10. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh thun, bleibt im Gedächtniss"11, als die Spur dessen, was man jet^t nicht mehr sein will. Das ist das Gewohnte, das auch dann noch, wenn es, um „verstanden" werden zu können, interpretiert oder erklärt wird, durch die akzeptierte Erklärung hindurch in seiner verbleibenden Eigenart „nachwirkt". Nach Nietzsche gibt es im „Geistigen" überhaupt „keine Vernichtung"12. Die „Geistigkeit" liegt gerade darin, daß die zu erklärende Vorstellung gegenüber ihrer Erklärung, d. h. ihrer Verallgemeinerung, aufbewahrt wird und ästhetisch „stehenbleibt". Das zu deutende Zeichen bleibt bei jeder Deutung, in der gesagt werden soll, „was" es bedeute, stehen für andere Deutung. Es ging nach Nietzsche aber „niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen". „In einem gewissen Sinn gehört die ganze Asketik hierher: ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar, ,fix' gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese ,fixen Ideen' — und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie unvergesslich' zu machen. Je schlechter die Menschheit ,bei Gedächtniss' war, um so 9 10 11

12

Nietesche, Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 15 [90] (KSA 13.459). Nietzsche, Nachlaß August - September 1885, VII 40 [15] (KSA 11.635). Nietzsche, G M II 3 (KSA 5.295). Nietzsche nennt einen „Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden". Nietzsche, Nachlaß Ende 1886 - Frühjahr 1887, VIII 7 [53] (KSA 12.312).

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furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Massstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Begierde gegenwärtig zu erhalten."13 Die gemeinsame „Moral der Schwachen" lebt „im Grunde" von dem, was als Besonderes ins Gedächtnis „eingebrannt" ist, so daß jede weitere Interpretation, die dem allgemeinen Verständnis dienen soll, demgegenüber oberflächlich bleibt. Alles Interpretieren behält mit den genannten „fixen Ideen" seine Besonderheit im Bestehen der alten Version selbst im Vordrängen einer neuen, mit der sich nun weiter leben läßt. Gegenüber der Oberfläche des „Bewußtseins", das sich nach Nietzsche als solches „im Verkehr" entwickelt14, bleibt dieses „Unbewußte" bestimmend. So bedarf es einer Rechtfertigung der Besonderheit, die sich der allgemeinen Kommunikation entzieht. Nach Nietzsche findet das Judentum solch eine Rechtfertigung seiner tiefreichenden Besonderheit in der Idee des (auserwählten) Volkes. Der Bund zwischen Gott und Volk ist im Judentum als etwas Besonderes zu verstehen. Er grenzt nämlich auch ab und aus. Wenn Nietzsche die Frage stellt, „was Europa den Juden verdankt", lautet die Antwort: „Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten — und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht — vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden — dankbar."15 „Der große Stil der Moral" verdankt sich der Gewißheit der Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit durch den Bund, der der Besonderheit des tieferen Gedächtnisses göttliche Verbindlichkeit verleiht. „Vermittelt" ist diese Gewißheit der Einheit des Besonderen und des Großen im Stil für den einzelnen durch seine Zugehörigkeit zum „Volk" und damit zu dem besonderen Bund mit Gott und nicht erst in einer allgemeinen Moral, von der man nicht wissen kann, ob sie der „wahre Grund" der Handlungen ist. Allerdings sieht Nietzsche im Judentum auch das „priesterliche Volk des Ressentiment par exellence"16. „Die Priester" sind zwar „Vermittler" zwischen 13 14 15

16

Nietzsche, GM II 3 (KSA 5.295-296). Nietzsche, Nachlaß November 1887 - März 1888, VIII 11 [145] (KSA 13.68). Nietzsche, JGB, Völker und Vaterländer, 250 (KSA 5.192). Vgl. zum folgenden Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral". Werkinterpretation, Darmstadt 1994. Nietzsche, GM I, „Gut und Böse", „Gut und Schlecht", 16 (KSA 5.286).

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dem Volk und Gott, aber doch eigentlich nur als Verwalter der „reinen" Unmittelbarkeit, die durch die „gerechte" Zugehörigkeit zum Volk gegeben ist. Sie bestimmen über „Reinheit" und „Unreinheit" und damit über die Unmittelbarkeit oder rituell doch wieder herzustellende Unmittelbarkeit zu Gott. Nietzsche nennt deshalb auch das gan^e Volk der Juden „priesterlich", und das ist es, insofern „Reinheit" und „Unreinheit" die Kriterien der Zugehörigkeit und also auch der „Gerechtigkeit" sind, und nicht, wie nach Sokrates und in der platonistisch geprägten Philosophie, der „Logos", der die „Idee" der Gerechtigkeit auch denen „logisch" vermitteln soll, die selbst nicht „Philosophen" sind, also eigentlich allen. In der sokratischen „Idee" der Gerechtigkeit liegt wesentlich ihre Entgrenzung über die attische und über jede Besonderheit hinaus. Das „Gedächtnis" ist hier sozusagen vorgeburtlich und insofern nichts Besonderes. Die Philosophen finden — sich erinnernd — in das tiefe Gedächtnis zurück, weil sie dem „Leben" und den lebensdienlichen Affekten weniger als andere verhaftet sind. Eine in dieser Weise universalisierte Moral hat natürlich keinen besonderen „Stil". So bleibt nur die Frage, wie die Philosophen den anderen die „Idee" dialektisch sollen vermitteln können, vorausgesetzt, jeder sei bereit, sich um „der Wahrheit" willen selbst widerlegen zu lassen. 17 „Der große Stil der Moral", der Europa geformt hat, kommt für Nietzsche aus dem Judentum. Europa hat ihn nicht „logisch" entwickelt, sondern dieser Stil hat umgekehrt den „Geist" Europas geformt. Schon die Frage, was ihn eigentlich ausmache, fragt nach ihm als nach etwas Besonderem. Seine Besonderheit liegt nach Nietzsche bekanntlich in der Wertung nach dem Gegensatz „gut und böse" statt nach dem Gegensatz „gut und schlecht" und damit auch darin, daß diese „Art" der Wertung sich selbst gerade als „nichts Besonderes" begreift. Eine Alternative zu dieser Besonderheit wäre die Wertung nach dem „Distanz" 18 setzenden Gegensatz „gut und schlecht" aus der besonderen Perspektive der Menschen, die ohne weitere Überlegung zunächst sich selbst für „gut" halten und von daher alle Wertungen, ausgehend vom „höchsten" Wert, dem Wert der Wahrheit" im Sinne des eigenen „Fürwahr^ö//i«x", als „Gesetzgeber" auszulegen und zu bestimmen beanspruchen. „Gut" kann demnach ganz Verschiedenes bedeuten, je nachdem, ob der entsprechende Unwert „schlecht" oder „böse" heißt. Die „Besonderheit" des „Volkes Gottes" stellt einen sich auf Gott beziehenden und damit universalisierenden moralischen Anspruch dar, der sich aber zugleich selbstbewußt gegen andere Wertvorstellungen abgrenzt und insofern für andere mit ihrem anderen Gedächtnis immer „etwas anderes" und fremd bleibt.

17 18

Vgl. Piaton, Gorgias 458 A. Vgl. Nietzsche, G M I, „Gut und Böse", „Gut und Schlecht", 2 (KSA 5.259).

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Das Gedächtnis, das alle Interpretationen an ältere zurückgebunden sieht, die es in sich behält, konstituiert die Besonderheit im Allgemeinen. „Wahrheit" ist demnach nicht ein Ziel unbedingter Rationalität wie in der „Wissenschaft", für die es nach ihrem an sich oberflächlichen Selbstverständnis nur Hypothesen und folglich nichts Festzuhaltendes, keine Geschichte und keine Genealogie ihrer selbst geben soll. So stellt sich natürlich die Frage nach dem Wahrheits-Grund anderer Gemeinschaften im Fürwahrhalten. Es stellt sich die Frage nach ihrer anders als universell, nämlich im Besonderen begründeten Verbindlichkeit, durch die sie über den Charakter einer bloßen Nachsichtigkeit gegenüber „Freunden" hinausgelangten. Das wären dann Gemeinschaften „im Glauben" als einem nicht unbedingt für alle geltenden Fürwahrhalten; statt auf einem Glauben der „Väter" beruhten sie auf einer „ideellen" Verbundenheit, auf einer moralisch gerechtfertigten und auf eine andere Welt hin orientierten Auserwähltheit, so wie im Christentum. Hier wäre nicht geschichtlich festgelegt oder schmerzhaft „eingebrannt", wem gegenüber man sich im besonderen mit seinem eigenen Verständnis „zurückzunehmen" habe und wem man „Spielräume" des Verstehens gewähren solle, die von dem im eigenen Verständnis begründeten Fürwahrhalten her gesehen dann Spielräume des „Mißverständnisses" sein müßten. Der Begriff des „Volkes" wäre damit in dem der Glaubensgemeinschaft aufgelöst. Dieser Punkt ist für Nietzsche besonders wichtig: Es gibt für ihn nur ein Volk Gottes. An dessen besonderem Volksbegriff, der von einem Bund mit dem Gott dieses Volkes her verstanden ist und darin seine feste Begründung hat, versuchen sich andere „Völker" zu orientieren, ohne aber solch einen tiefen „Grund" auch für ihre Besonderheit in ihrer Geschichte zu finden. Sie wissen nicht, woran sie ihre eigene „Identität" als Volk eigentlich festmachen sollen und greifen zu verzweifelten Vorstellungen, bis hin zu der Vorstellung natürlicher Rassen mitten in Europa. Es kann ihnen nicht gelingen, von einer wirklichen „Identität" her moralische Verbindlichkeiten zu begründen. Vielmehr bestimmt die platonistische „Idee" einer universalen Gerechtigkeit, die alle Völker von „der" Vernunft her umfassen soll, das europäische Denken. Dieser „Gedanke" der Gerechtigkeit kann nicht „von dieser Welt" sein, in der die Besonderheiten gegeneinanderstehen. Insofern bleibt er „nur" Gedanke, der immer noch zu verwirklichen ist. Die Juden sehen dagegen auch schon die Bedingungen ihres „natürlichen" Lebens in einem Leben in der Gerechtigkeit ihres Gottes; dieses Volk lebt buchstäblich „in" ihr, indem es sich von dem ernährt, was Gott ihm zu essen erlaubt. Deshalb sind nach Nietzsche auch die „Artisten" unter den Philosophen den Juden dankbar, nicht die Moralisten. Diese Aussage kennzeichnet seine Einstellung zum Judentum am besten. Die „Artisten" sind diejenigen, die Stil und Besonderheit schätzen. Dennoch findet sich bei Nietzsche gegenüber dem Judentum nicht nur „Dank". Durch die Fähigkeit, „selbst noch unter den schlimm-

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sten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen)" 19 , kommt es zum Ressentiment der „Gerechten" gegenüber denen, die „besser" leben, obwohl sie doch nicht zu Gottes Volk gehören. Um auch damit leben zu können, müssen die Juden „klüger sein" als die Vornehmen, die selbst Gesetzgeber sein wollen, denn ihre Wertungen müssen sich gegen den Anschein, also „geistig" behaupten. Ihre Kraft ist somit gerade das in sich beständige „Ressentiment". Während sich das Ressentiment der Vornehm-Guten „in einer sofortigen Reaktion" erschöpft und erledigt 20 , muß das der Juden seine Energie „erhalten", ohne die Gewißheit der „geistigen" Überlegenheit nach außen hin „mitteilen" zu können. Das Ressentiment ist die ins „Innere" gewendete Selbstgewißheit, das unartikulierbare, ohne allgemeine Anerkennung bleibende und darin „erhabene" Bewußtsein der Überlegenheit unter allen „Umständen", aber dennoch aus einem besonderen Grund. Die Begegnung mit dieser Besonderheit „von außen her" hat kein Verständnis für deren „Geist" und die ihr eigentümliche „Rationalität". Statt als „fremde Vernunft" 21 erscheint sie als „irrational". Der Blick von außen sieht in ihr nur das andere, befremdliche Verhalten, das ein Gegenressentiment hervorruft. Auch Nietzsche versteht sich nicht als frei vom Ressentiment. Das würde seinem Begriff vom „Verstehen" nicht entsprechen. Selbst der „schwerste Gedanke", der der ewigen Wiederkunft als uneingeschränkter Bejahung von allem in seiner Besonderheit über die Zeit hinweg, hat „Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr" sein soll 22 . Nietzsche reflektiert, daß alles Verstehen, also auch das eigene, notwendig perspektivisch bleibt. So nennt er, selbst nicht ohne Ressentiment, die Juden „die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt". Das verdanken sie „einem resoluten Glauben, der sich vor den .modernen Ideen'", wie sie vor allem die Wissenschaft bestimmen, „nicht zu schämen braucht". „Ein Denker, der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat" — Nietzsche meint damit offensichtlich sich selbst —, wird daher „bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte". Das hat Nietzsche vor hundert Jahren, im Zeitalter der europäischen Nationalstaaten, gesagt. Doch er denkt nicht „national". Es geht ihm vielmehr um eine Kritik des bedenklichen Anspruchs der Europäer, so wie die Juden ebenfalls „Völker" zu sein. Denn, so sieht er es, „was heute in Europa ,Nation' genannt wird und eigentlich mehr eine res facta 19 20 21

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Nietzsche, JGB, Völker und Vaterländer, 251 (KSA 5.193). Nietzsche, G M I, „Gut und Böse", „Gut und Schlecht", 10 (KSA 5.273). Zu diesem Kantischen Begriff vgl. u.a. Kant, Akademieausgabe II 349,17, III 532,21, 541,07, VII 200,17, 202,30, VIII 182,12,13, IX 22,09 und 441,19. Nietzsche, Nachlaß Sommer - Herbst 1884, VII 26 [284] (KSA 11.225).

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als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht - ) , ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist". Die europäischen „Nationen", deren Begriff hier nur in Anführungszeichen erscheint, sollten sich deshalb „vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit" — gegeneinander und besonders gegen die Juden — „sorgfältig in Acht nehmen!" Für Nietzsche „steht fest", daß die Juden, wenn sie wollten, „die Herrschaft über Europa haben könnten", aber ebensosehr, „dass sie «/^daraufhin arbeiten". Ihr Lebensstil beruht — weil es eben ein Stil und damit für andere eine „fremde", in den Voraussetzungen eines fremden Gedächtnisses begründete „Vernunft" ist — nicht auf der Wertung nach „gut" und „schlecht", sondern auf der nach „gut" und „böse". Sie wollen also gar nicht um eine Perspektive streiten, die anderen vorleben und vorsagen dürfte, was „gut" heißen soll. Deshalb „wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem .ewigen Juden' ein Ziel zu setzen —; und man sollte diesen Zug und Drang [...] wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen".23 Die Juden gewinnen ihr Selbstbewußtsein nicht aus dem Gegensatz zu anderen Völkern. In diesem Sinn sind sie kein Volk und wollen es auch nicht sein. Als „das" Volk Gottes haben sie ihre Selbstgewißheit in sich selbst und sind „das" wirkliche Volk unter den anderen Völkern, die „Nationen" sein möchten, es aber als „res facta" nicht sind, weil sie sich nihilistisch-tautologisch auf nichts anderes als eben auf ihre „Nationalität" berufen, die sie nach Merkmalen bestimmen, die je nach den Interessen des jeweiligen Machtwillens wechseln. Einmal soll die Sprache, einmal die Religion, ein anderes Mal eine gemeinsame Geschichte, wie immer man sie auch eingrenzt, das Hauptkriterium nationaler „Identität" sein. Die Juden sind dagegen als Volk unergründlich, historisch und zugleich kosmopolitisch, und wenn sie „irgendwo", wo immer es sei, auch geographisch „fest" werden möchten, so in Europa, das zwar auch nicht ihr „Boden", aber über das Christentum in der Art der Wertung von seinen eigenen besonderen Voraussetzungen her doch jüdisch ist. Von diesen Voraussetzungen will sich das Christentum aber gerade abgrenzen. Es will das Heil für alle Völker bringen, d. h. auch: von allen verstanden werden, und dennoch wollen Christen Nationen bilden. Dieser auf keinem besonderen Grund beruhende und darin „nihilistische" Wille zur Nation ist gefahrlich und aggressiv, weil er seine „Identität" nicht im Absoluten hat, sondern sie in 23

Nietzsche, JGB, Völker und Vaterländer, 251 (KSA 5.193-194).

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der gewaltsamen Abgrenzung immer erst suchen muß, ohne sie finden zu können. Solche Abgrenzungen müssen behauptet werden, sie sind genuin „polemisch" und können sich ihrer selbst niemals „absolut" gewiß sein. Damit sind sie von einem Ressentiment bestimmt, das sich sein „Objekt" sucht. Es findet es in den Juden, als den anderen im eigenen Land. Sie sind nicht die anderen schlechthin, sondern die anderen, gegen die sich die eigene Identität als „Nation" überhaupt erst artikulieren kann. An sich könnten die Christen eigentlich nicht „national" sein. Ihr „Reich Gottes" ist „nicht von dieser Welt", in der die Reiche in einem „bellum omnium contra omnes" gegeneinander stehen. Den Widerspruch, dennoch „Nation" sein zu wollen, löst nur die Augustinische Vorstellung von den „zwei Reichen", und auch sie löst ihn nicht wirklich, sondern nur „innerlich" und insofern unvermittelt. Nationale „Identität" findet sich nur „gegen" die Juden als „das" Volk. In diesem Antisemitismus können sich die sich bekriegenden „christlichen" Nationen verbunden wissen. In den Juden findet sich das „Objekt", demgegenüber man selbst als Volk „Subjekt" sein kann: Es findet sich als „Objekt" des Ressentiments. Daß das Ressentiment sich sein „Objekt" sucht, resultiert aus dem „Schema", in dem „wir" denken: aus der „gemeinsamen Philosophie der Grammatik"24, nach der „Subjekte" als solche auf „Objekte" bezogen sind. Weil das Ressentiment diesem besonderen Schema gemäß ein Objekt finden muß, um überhaupt verstehen und auf diese Weise mit sich selbst „leben" zu können, kann es sich auch nur in diesem Schema als „Subjekt" wissen. Es sucht unter der Idee eines universalen Verstehens, als einem Sich-in-der-Sache-Verstehen, zugleich „sich" zu erhalten und, im „Willen zum Tode", in einer Identität als seiner Identität zu überleben. Dabei kommt das „Subjekt", unter der Universalität dieses Selbstbegriffs als „freies" Subjekt „in dieser Welt" der gewissen religiösen Bindung beraubt, zu den befremdlichsten Vorstellungen, ζ. B. zu der Vorstellung vom Gegensatz der Rassen, also von etwas „Natürlichem", an dem sich nunmehr das Nationale als „Idee" festmachen und identifizieren lassen soll. Aber kann man nicht, so fragt Nietzsche, „gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch" sein?25 Aus der ironischen Distanz gegenüber dem eigenen Denkschema könnte man sich, obwohl man ihm folgen muß, wenn man überhaupt „denken" will 26 , gleichzeitig frei von ihm wissen. Man könnte den Grund für das Ressentiment in sich suchen, d. h. jetzt: in der 24

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Nietzsche, JGB, Von den Vorurtheilen der Philosophen, 20 (KSA 5.34). - Vgl. v. Verf.: „Grammatik und Wahrheit. Uber das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition", in: Niet^scbe-Studien 1 (1972), 1 ff. Nietzsche, JGB, Der freie Geist, 34 (KSA 5.54). "... ιvir hören auf denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn." (Nachlaß Sommer 1886 — Herbst 1887, VIII 5 [22] (KSA 12.193). Vgl. v. Verf.: „Grammatik und Wahrheit", a. O.

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Unmöglichkeit, mit gutem Gewissen „Nation" sein und unterhalb des Begriffs der Menschheit über das Rechtspragmatische hinaus noch eine in sich zentrierte, besondere „Einheit" bilden zu wollen. Die gegenseitige „Anerkennung" der Besonderheiten führte zu ihrer Aufhebung als „Grund" des individuellen Selbstbewußtseins; sie bedeutete aber zugleich ihre „Aufbewahrung" im eigenen Recht und führte schon damit zur Anerkennung des Individuellen, der „fremden Vernunft" in jedem anderen und zur Anerkennung dessen, was man „von sich aus" nicht verstehen kann. Die eigene Besonderheit wäre damit auch als die eigene Beschränkung im Verstehenkönnen reflektiert. An der fremden Vernunft findet der Versuch, „etwas Neues [...] in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem" auszudrücken oder es zu „interpretieren", um es von den eigenen Voraussetzungen des Verstehens her „sich aneignen" zu können, seine absolute Grenze. Wenn „Verstehen" ein Sich-Aneignen, ein Einbeziehen in den eigenen Kontext des Verständlichen ist, bedeutet das Verstehen der fremden Vernunft — statt der Ausgrenzung des Unverständlichen als etwas „Unvernünftiges" — „einen Text als Text ablesen" zu können, „ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen" 27 . Es bedeutet, dem im eigenen Horizont als unverständlich Erscheinenden seinen eigenen Kontext und seinen eigenen „Grund" der Rationalität zuzugestehen, an dem man selbst nicht partizipiert. Die „absolute" Wahrheit %eigt sich an der fremden Vernunft, d. h. in den Zeichen, die gegenüber aller aneignenden Interpretation ästhetisch stehenbleiben, als Zeichen der bedingten Wahrheit der eigenen Uberzeugung. Sie zeigt sich im fremden Leser der eigenen Schrift. Nach Nietzsche ist „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? — Comprendre c'est egaler." 28 Im Lesen des fremden Textes verliert sich der Leser in dem fremden Zusammenhang, der diesen „Text als Text" ausmacht.

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Nietzsche, Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 15 [90] (KSA 13.460). Nietzsche, Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1886, VIII 1 [182] (KSA 12.51).

II. Ursprünge und Begriff des Jüdischen Nietzscheanismus

FRIEDRICH NIEWÖHNER

Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888 — Ursprünge und Begriff Jeder Begriff mit der häßlichen Endung -ismus, geprägt nach einem Denker, drückt etwas Epigonenhaftes aus. Das reicht vom Piatonismus über den Averroismus, Lullismus bis zum Kantianismus, vom Marxismus ganz zu schweigen. Mein Thema ist der „Nietzscheanismus". Wobei hervorzuheben ist, daß dieser Begriff, im Gegensatz zu den eben genannten -ismen, in keinem philosophischen Nachschlagewerk zu finden ist. Das ist erstaunlich, doch Nietzsche hätte dagegen sicher nichts einzuwenden gehabt, er, der schon zu seinen Lebzeiten mit unverhohlener Verachtung auf seine sogenannten Schüler herabgeschaut hat. Was ist das aber, was als Nietzscheanismus bezeichnet werden kann, und warum steht dieser Begriff nicht in den philosophischen Nachschlagewerken? Ich lasse diese Fragen erst einmal im Raum und stelle lieber fest, daß die Begriffe Platonismus, Averroismus, Kantianismus und Marxismus lange nach dem Tode jener Denker geprägt worden sind, deren Nachfolge sie ausdrücken. Anders jedoch ist es bei dem Begriff „Nietzscheanismus". Dieser kursierte schon zu Lebzeiten von Nietzsche, und zwar von Beginn seiner unauffälligen Karriere an als ein sehr streitbarer Begriff (ähnlich war es mit dem Begriff „Darwinismus"). Um Nietzsche hat es ja immer Streit gegeben, ich verweise nur auf die Querelen um das Nietzscheschrifttum und seine Verwalter, die Streitereien im und um das Nietzsche-Archiv. Der erste, der den Terminus Nietzscheanismus prägte, und hiermit komme ich zur Sache, war, soweit ich es beurteilen kann, Ola Hansson, der im Oktober 1889 Georg Brandes, den Verfasser des „aristokratischen Radicalismus" 1 , unter dem Titel „Nietzscheanismus in Skandinavien" als einen „Verkündiger des Nietzscheanismus" bezeichnete. 2 Schon sechs Monate später, im April 1890, 1

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Georg Brandes: Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche. In: Deutsche Rundschau, hrsg. von Julius Rodenberg. Bd. LXIII, A p r i l - J u n i 1890, S. 5 2 - 8 9 (Erstveröffentlichung unter dem Titel „Aristolcratisk Radikalisme" 1889 in „Tilskueren"). Ola Hansson: Nietzscheanismus in Skandinavien. In: Neue Freie Presse. Wien, Nr. 9031; 15.X. 1889, S. 3 — Vgl. von O. Hansson auch: Friedrich Nietzsche. Die Umrißlinien seines Systems und seiner Persönlichkeit. Kritischer Entwurf. In: Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart, 2. Jg., Nr. 11, Februar 1889, S. 4 0 0 - 4 1 8 . — ders.: Friedrich Nietzsche und der Natura-

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konnte Joseph Diner feststellen, daß der Nietzscheanismus in Skandinavien „festen Fuß gefaßt" habe und Ola Hansson „als Apostel dieses neuen Heilands" auftrete. 3 Schon hier hört man messianische Obertöne: „Verkündiger", „Apostel", „Heiland". 4 In Deutschland — und das ist der dritte Beleg — wurde der Nietzscheanismus durch einen kleinen jüdischen Hilfskorrektor bei der „Frankfurter Zeitung" bekannt gemacht. Dieser konnte im Herbst 1891 seine Erstpublikation in der Zeitschrift „Die Gesellschaft" in zwei Folgen unterbringen. „Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft. Beiträge zur modernen Psychopathia spiritualis"5 (als Buch 1892 erschienen mit dem Obertitel „Psychopathia spiritualis" 6 ). Autor dieser Schrift war der 1919 als bayerischer Ministerpräsident ermordete Kurt Eisner. In dieser Schrift wendet sich Eisner von dem Nietzscheanismus ab, weil er erkannt hatte, daß Nietzsche kein „Gott", sondern „nur ein Götze" ist, 7 Nietzsche nicht „der Messias der That" ist, für den er ihn gehalten hatte. 8 Diese Schrift, in welcher dem Nietzscheanismus der Sozialismus entgegengesetzt wird, bezeichnet Eisner als einen Akt der „Selbstbefreiung und Selbstwerdung", als „Autoemanzipation" also.9 Nietzsche, der von dem Sozialismus wahrlich nicht viel hielt, stand gewissermaßen Pate bei Eisners Hinwendung zum Sozialismus. Eisner beklagt andererseits auch, daß „mancher begeisterte Sozialist durch Nietzsche zur Fahnenflucht verleitet worden" sei: „Der bisherige Radikalismus schien ihnen plötzlich trivial neben dem Radikalismus Nietzsches". (Man hört Georg Brandes.) „Es war keine Kunst, keine Originalität mehr darin, Sozialdemokrat zu sein, man hüllte sich in die blendenden Argumente des neuen Messias. Der Sozialismus schlug dann geradewegs in sein Gegenteil um, den

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lismus. In: Die Gegenwart, Bd. 39, Nr. 18 - 1 9 , 2. und 9. Mai 1891, S. 2 7 5 - 2 7 8 und S. 2 9 6 - 2 9 9 . - Zu Hansson vgl.: A. Widell: Ola Hansson i Tyskland. Uppsala 1979. Joseph Diner: Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph. In: Freie Bühne für modernes Leben. Hrsg. von Otto Brahm. l . J h g , Heft 13, April 1890, S. 3 6 8 - 3 7 1 (Zitat: S. 368). - Vgl. von Joseph Diner auch: Friedrich Nietzsche. In: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik. II. Bd., Heft 1, 1. Juli 1890, S. 4 2 9 - 4 3 1 ; Heft 4, 1. October 1890, S. 6 3 4 - 6 3 8 . - Josef [sic] Diner-Denes: Vergangenheit und Zukunft. Studien und Eindrücke. Berlin 1896, S. 53 — 75: „Friedrich Nietzsche". Vgl. auch: Jürgen Krause: „Märtyrer" und „Prophet". Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende. Berlin/New York 1984 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 14). — Nietzsche sei „mehr als Prophet denn als Denker aufgetreten" meint auch Georg Brandes: Gestalten und Gedanken. München 1903, S. 339. Kurt Eisner: Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft. Beiträge zur modernen Psychopathia spiritualis. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik. Drittes Quartal, Jhg. 1891, S. 1 5 0 5 - 1 5 3 7 und S. 1 6 0 0 - 1 6 6 4 . Leipzig 1892. — Vgl. von K. Eisner auch: Uber und unter Nietzsche. In: Das Magazin für Literatur. 62. Jhg., Nr. 35, 2.IX.1893, S. 5 5 5 - 5 6 0 . Psychopathia, a. a. O. S. 9. Psychopathia, a. a. Ο., S. 98. Psychopathia, a. a. O., S. 99.

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Anarchismus." 10 Nietzsche als neuer Messias des Anarchismus — Gustav Landauer wie Emma Goldman hätten dem wohl zugestimmt. Rudolf Steiner wird dann am 2. April 1892 eine Sammelrezension erstmals mit „Nietzscheanismus" betiteln. Er versteht hierunter nicht die Philosophie des „radikalen Zerstörers" und „radikalen Geistes" Friedrich Nietzsches — wieder eine Anspielung auf den epochemachenden Aufsatz von Georg Brandes —, sondern das, was die „Anhänger eines neuen Götzen" über ihn schreiben: „Sie wären ja doch niemals von sich selbst aus zu Nietzscheschen Ansichten gekommen, sie sprechen und schreiben nach". 11 Rudolf Steiner selbst gehört 1892 zu den Anhängern des neuen Götzen, gleichzeitig verurteilt er diese - ganz im Sinne Nietzsches — als Epigonen. (Ferdinand Tönnies betitelt 1893 seine Streitschrift gegen diese „Nietzsche-Narren". 12 ) Nach Steiner mehren sich die Belege in den Jahren 1892/93, ich nenne nur einige Namen: Franz Mehring, Franz Servaes und Eduard Bernstein, der schon 1892 zum ersten Mal von einem „AntiNietzscheanismus" 13 spricht. Aber nicht nur der Nietzscheanismus der Nietzsche-Jünger wurde scharf kritisiert, auch Nietzsche selbst und seine Werke. Als der schärfste Kritiker kann der spätere Zionist Max Nordau bezeichnet werden, der 1893 im 2. Teil seines Werkes „Entartung" Nietzsche als tobsüchtigen Irren, seine Anhänger als Idioten abstempelt. 14 Schärfere Worte über Nietzsche als in der „Entartung" sind seitdem nicht mehr gefallen. „Nietzsche und der Nietzscheanismus" — so der Titel von Ernst Noltes Buch von 1990 15 — sind also mehr oder weniger scharf zu trennen. Dieser Vorbehalt betrifft auch den jüdischen Nietzscheanismus. Für manche war Nietzsche ein Gott oder Messias. Der Titel meines Beitrags verweist auf eine besondere Art des Nietzscheanismus durch die Hinzufügung des Adjektivs „jüdischer": Jüdischer Nietzscheanismus — das ist ein sehr unschöner Ausdruck, sprachlich gesehen, und verdient eine besondere Erklärung. Doch erst einmal eine Abgrenzung: 10 11

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Psychopathia, a. a. O., S. 8 6 - 8 7 . Rudolf Steiner: Nietzscheanismus. In: Literarischer Merkur, XII. Jhg., Nr. 14, 2. April 1892, S. 105 — 108. Zitiert nach: Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1 8 8 7 - 1 9 0 1 . Dornach 1989, S. 4 5 3 - 4 6 0 . Vgl. auch: Rudolf Steiner und das Nietzsche-Archiv. Briefe und Dokumente. Dornach/Schweiz 1993. Ferdinand Tönnies: Nietzsche=Narren. Berlin 1893. Jetzt in: Ferdinand Tönnies: Der Nietzsche-Kultus. Hrsg. von Günther Rudolph. Berlin 1990, S. 9 8 - 1 0 4 . - Zum Begriff „Nietzscheanismus": ibd. p. 15 des Inhaltsverzeichnisses. Eduard Bernstein: Rezension von Wilhelm Weigand: Friedrich Nietzsche. Ein psychologischer Versuch. In: Die Neue Zeit. XI. Jhg., 2. Bd, 1892/93, S. 345: „Denn heute hat gegen den Nietzscheanismus sowohl wie gegen den AntiNietzscheanismus bereits die Reaktion eingesetzt — der Prediger des .Ubermenschen' wird weniger laut und unbedingt angepriesen, aber auch weniger erbittert bekämpft." Max Nordau: Entartung. 2. Bd., Berlin 1893, S. 2 7 2 - 3 5 7 : „Friedrich Nietzsche". Ernst Nolte: Nietzsche und der Nietzscheanismus. Frankfurt a.M./Berlin 1990.

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Unter dem Titel Jüdischer Nietzscheanismus sollte nicht — so meine ich abgehandelt werden: a) Nietzsches Gedanken und Ansichten über spezielle Juden, ζ. B. den mit Nietzsche in Briefkontakt stehende Siegfried Lipiner in Wien, der für Gustav Mahlers Vertonung des Trunkenen Liedes aus dem „Zarathustra" im 4. Satz seiner 3. Symphonie der Verbindungsmann war. b) Nietzsches Ansicht über das mosaische Schrifttum und die Juden zur Zeit Jesu (zum Teil vernichtend). c) Nietzsches Ansicht über das zeitgenössische Judentum im allgemeinen (positiv bis bewundernd), wie speziell über das Ostjudentum (nicht mehr ganz so positiv). Es soll weiterhin nicht zur Debatte stehen, auch wenn sie als Hintergrund wichtig ist, Nietzsches Ablehnung des Antisemitismus und seine scharfe Verachtung aller Antisemiten. Wohl aber ist unter Jüdischer Nietzscheanismus zu subsumieren die Aufnahme und Verbreitung Nietzscheanischer Gedanken durch jüdische Denker, und dies in zweifacher Hinsicht: a) Die Verbreitung und Aufnahme Nietzscheanischer Gedanken für ihre eigene Philosophie, Welt- und Sinndeutung, Bewertung von Moral, Tradition, Geschichte (Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Maximilian Harden, Theodor Lessing, Walter Rathenau, Oscar Levy oder Karl Löwith). b) Die Verbreitung und Aufnahme Nietzscheanischer Gedanken durch jüdische Denker speziell für eine neue Interpretation des Judentums, um ihre eigene Identifikation als Jude in einer nicht-jüdischen Umgebung neu zu finden. Dieser eigentliche jüdische Nietzscheanismus kann gesehen werden als — um mit Maimonides zu reden — Hilfe für die Zweifelnden, „Führer der Unschlüssigen" (das zeigt auch, daß es einen jüdischen Nietzscheanismus in der strengen jüdischen Orthodoxie, dem Thora-Judentum kaum gegeben hat, weil diese Orthodoxie das Judentum eben nicht neu zu finden und zu werten brauchte). Als Beispiel eines Amalgams von Nietzscheanismus und Judentum sei exemplarisch nur auf das Buch von Ch. Müntz verwiesen „Wir Juden" (Berlin 1907). [Es gibt auch Formulierungen wie „Wir jungen Juden" und „Wir neuen Juden" — Wir / jung / neu: das signalisiert selbstbewußten Aufbruch!] Das Buch von Müntz ist „Dem grossen Andenken Friedrich Nietzsches" gewidmet. Die ersten Zeilen lauten: „Der neue Jude erkennt die Erwartung, er kennt die Zukunft, er glaubt an die Persönlichkeit als den Messias, an den Messias als die Persönlichkeit, er glaubt an den Menschen". Das Buch ist ein Aufruf an die Juden, sich

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selbst und das Judentum zu bejahen, stark zu werden („sobald wir stark in uns geworden sind") und „die Furcht vor sich zu verlernen".16 „Ja-Sagen zum Judentum", das ist die Parole, unter welcher sich Nietzscheaner wie Zionisten (oder auch zionistische Nietzscheaner, Gerhard Scholem ζ. B. in der Phase seiner Selbstemanzipation) gemeinsam versammeln konnten in ihrem Kampf gegen Assimilation und jüdischen Selbsthaß. Noch 1933 gab Robert Weltsch eine Schrift heraus mit dem Titel „Ja-Sagen zum Judentum". 17 Es kann gezeigt werden, wie mit dem verstärkten rassischen Antisemitismus alle Spielarten des jüdischen Selbsthasses aufbrachen.18 Der jüdische Nietzscheanismus ist eine Antwort auf den jüdischen Selbsthaß; die Philosophie Nietzsches bot das Instrumentarium, um mit dem schlechten Gewissen und dem Haß auf sich und sein Judentum (individuell wie kollektiv) fertig zu werden. „Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja sagen dürfen..." — das ist Nietzsches Formulierung in der „Genealogie der Moral".19 Zu sich mit Stolz Ja sagen dürfen — das ist auch das Programm der jüdischen Nietzscheaner. Nicht der „Übermensch" ist für die jüdischen Nietzscheaner das eigentlich Faszinierende, sondern die Abschaffung der Tradition und des schlechten Gewissens in der „Genealogie der Moral" - und somit die Möglichkeit, sich selbst nicht mehr hassen zu müssen. Jüdischer Selbsthaß und jüdischer Nietzscheanismus müssen zusammen gesehen werden. Der Aufbruch der Juden mit Nietzsche zu sich selbst war möglich, weil es innerhalb des Judentums Strömungen gab, die dies vorbereitet hatten. Ich verweise wiederum exemplarisch nur auf die kleine Schrift „Autoemanzipation" des polnischen Arztes in Odessa Jehuda Löb Pinsker, die 1882 in Berlin auf Deutsch erschienen war. Pinsker bestreitet, daß Humanität und Aufklärung „Heilmittel für das Siechtum unseres Volkes" seien, er geißelt scharf den Mangel an Selbstvertrauen unter den Juden, denen es an Selbstgefühl und Bewußtsein der Menschenwürde fehle. „Verächtlich seid ihr", — so ruft Pinsker — „weil ihr keine wahre Eigenliebe und kein nationales Selbstgefühl habt".20 Am 16. Mai 1933 ruft Robert Weltsch in der „Jüdischen Rundschau" die Juden auf: „Juden, alle, alle, werdet Führer zur ewigen Kraft. Dies ist es in der Tat, was dem Juden heute not tut: das Seine zu finden, das tief in ihm steckt, sein eigenes, von Schlacken und Trümmern bedecktes Ich".21 Auf solchem Boden konnten 16 17

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Ch. Müntz: Wir Juden. Berlin 1907, S. 6 vgl. S. 104; S. 1 1 2 - 1 2 0 . [Robert Weltsch, Hrsg.]: Ja-Sagen zum Judentum. Eine Aufsatzreihe der „Jüdischen Rundschau" zur Lage der deutschen Juden. Berlin 1933. Vgl. Friedrich Niewöhner: Selbsthaß, jüdischer. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9, Basel 1995, Sp. 4 5 8 - 4 6 2 . GM (KSA 5.294). [Jehuda Löb Pinsker]: „Autoemanzipation!" Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Mit einer Vorbemerkung von Achad Haam. Berlin 1917, S. 17. Vgl. Anm. 17, S. 81.

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dann sowohl der Zionismus als auch der jüdische Nietzscheanismus gut gedeihen. Der Begriff „jüdischer Nietzscheanismus" wurde von Achad Haam in Heft 2 des IV. Bandes der in Berlin erscheinenden hebräischen Zeitschrift „Haschiloah" im Jahre 5658 geprägt (1898). Der Aufsatz hatte den Titel „Li-sche'elot hayom" (etwa: „Die Tagesfragen betreffend"). 22 In der „Illustrierten Monatsschrift für modernes Judentum" mit dem Titel „Ost und West" erschien dieser Aufsatz in der Übersetzung von Dr. J. Friedländer in zwei Folgen im März und April 1902 unter dem Titel „Nietzscheanismus und Judentum". 23 Als im „Jüdischen Verlag" in Berlin 1923 Achad Haams (eigentlich Ascher Ginzberg, geb. 1856) „Gesammelte Aufsätze" in Deutsch unter dem Titel „Am Scheidewege" erschienen, hieß dieser Aufsatz nun gut Nietzscheanisch „Umwertung aller Werte". 24 Dieser neue Titel wurde später ins Hebräische rückübersetzt und ist 1947 in der Jerusalemer Gesamtausgabe Haams zu finden: „Schinui ha-arachin". — Die deutsche Ubersetzung hat eine Titel-Anmerkung, die im Hebräischen des Jahres 1898 fehlt. Sie verweist auf „nietzscheanische Tendenzen" in der neuhebräischen Literatur, „die hauptsächlich an den Namen Dr. M.J. Berdyczewskis anknüpfen". Auf Seite 100 der hebräischen Zeitschrift steht nun die Wendung „Nietzscheanismus jehudi", jüdischer Nietzscheanismus, wobei „Nietzscheanismus" in Anführungsstrichen steht, welche in der deutschen Ubersetzung fortgelassen wurden. 25 Dieses unschöne Wort „jüdischer Nietzscheanismus" ist also a) schon zu Lebzeiten Nietzsches geprägt worden; b) ist nicht eine Erfindung von neueren Nietzsche-Philologen, sondern geht zurück auf die hebräische Formulierung des großen Kultur-Zionisten Achad Haam. Was waren das für nietzscheanische Tendenzen der neuhebräischen Literaten, die noch 1921 von Jakob Klatzkin bezeichnet wurden als diejenigen, „die 22

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Haschiloah. Litterarisch-wissenschaftliche Monatsschrift. Bd. IV, Heft 2, Berlin 5658 (1898), S. 9 5 - 1 0 3 . Achad Haam (A. Ginzberg): Nietzscheanismus und Judentum. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für Modernes Judentum. Hrsg. von David Trietsch und Leo Winz. II. Jhg., Heft 3, März 1902, Sp. 1 4 5 - 1 5 2 ; Heft 4, April 1902, Sp. 2 4 1 - 2 5 0 . - In der Titel-Anmerkung (Sp. 145) betont der Übersetzer Dr. J. Friedländer, er sei „in mehreren Punkten mit den Konklusionen des Artikels nicht einverstanden." Achad Haam: A m Scheidewege. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Berlin 1923, S. 1 1 6 - 1 3 5 (plus „Ergänzung" S. 136 — 139). - Zu A. Haam vgl. Jacques Kornberg (Ed.): At the Crossroads. Essays on Ahad Ha-Am. New York 1983; speziell Ali Attia: Ahad Ha-Am, the Editor of HaSchilo'ah, S. 28 — 35. - Steven J. Zipperstein: Elusive Prophet. Ahad Ha'am and the Origins of Zionism. London 1993, speziell S. 105 — 169: The Politics of Culture: Ha-Shiloach and Herzlian Zionism. In der deutschen Ubersetzung steht „jüdischer Nietzscheanismus" S. 124.

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sich in einem Pathos der Distanz [...] für das Judentum wie etwas Exotisches begeisterten"? 26 Es war eine Gruppe von Intellektuellen, die sich bzw. ihren Verlag „Tze'irim" nannten, die „Jungen" — vergleichbar etwa der Gruppe der nietzscheanischen „Jungen" um Bruno Wille. 27 Ihr Wortführer war Micha Josef Berdyczewski, später bekannt geworden unter dem Namen Micha Josef Bin Gorion (1865-1921).28

Es ginge hier zu weit, ausführlich auf die in der Forschung so genannte „Berdyczewski-Haam-Kontroverse" einzugehen, 29 nur stichwortartig so viel: Die „Jungen" (Rebellen) opponierten sowohl scharf gegen den Zionismus wie auch gegen die Orthodoxie. Gegen das religiöse Judentum (Orthodoxie) waren sie, weil sie aufgeklärt waren. Gegen den Zionismus waren sie, weil dieser keinen radikalen Bruch mit den Traditionen und Werten des Judentums durchgeführt hatte, Altes mit Neuem verbinden wollte. Hierzu Berdyczewski: „Man kann eben nichts Neues anfangen und eine totale Umwertung und Umwälzung im Leben eines Volkes herbeiführen, ohne das Bisherige zu prüfen und abzurechnen". 30 Sowohl die „nationale Absonderung" des politischen Zionismus als auch die „kulturelle Absonderung" des Kulturzionismus „hat uns geschadet, und zwar vornehmlich dadurch, dass sie umgekehrt nicht die ganze Macht über uns gewonnen hat und wir so immer nach der Kultur eines anderen Volkes schielen, weil wir keine eigene profane besitzen. Und diese Entzweiung mit sich selbst und das Hinauswollen über sich selbst wird auch im eigenen Lande statthaben, so lange die geistige Basis des jüdischen Volkes nicht eine ganz andere geworden ist und eine völlige Umwertung in allem stattgefunden hat; es muss an die Schaffung einer eigenen weltlichen Kultur gedacht werden, die souverän das Leben beherrschen soll, wie einst das religiöse Judentum". 31 Berdyczewski — der „den Ursprung der israelitischen Religion" nicht am späten Sinai, sondern am Garizim sah und der den mosaischen Dekalog ab26 27

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Jakob Klatzkin: Krisis und Entscheidung im Judentum. 2. Aufl. Berlin 1921, S. 138. Bruno Wille: Aus Traum und Kampf. Berlin 1920. — R. Hinton Thomas: Nietzsche in German politics and society 1890 — 1918. Manchester 1983; speziell Kap. 1: „Social Democracy, the Jungen, and Nietzsche", S. 7—16. Zu ihm vgl.: Gedächtnisschrift zum zehnten Todestage von Micha Josef Bin Gorion. Hrsg. von Rahel und Emanuel Bin Gorion. Berlin, 18. November 1931. - Dan Almagor/Arnold J. Band: Berdyczewski (later: Bin Gorion), Micha Josef. In: Encyclopaedia Judaica, Vol. 4, Jerusalem 1971, Sp. 5 9 2 - 5 9 6 . Vgl. Arnold J. Band: The Ahad Ha-Am and Berdyczewski Polarity. In: Jacques Kornberg, a. a. O. [Anm. 24], S. 4 9 - 5 9 . Dr. M. J. Berdyczewski: Zur Klärung. In: Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus. 1. Jhg., Würzburg 1905, S. 283. ibd., S. 284. — Noch 1984 konnte sich Isaac Bashevis Singer erinnern: „Somewhere, I had heard or read the expression »the reappraisal of all values« and it was clear to me that this was what I had to do: reappraise all values. I could not rely on any authority." In: I. B. Singer: Love and Exile. The Early Years - A Memoir (1984). New York 1985, S. 97.

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lehnte, weil er Josua (und seinen Dodekalog [Deut. 27,11—26]) als den Stifter der Religion Israels ansah 32 — erstrebt die Schaffung einer eigenen jüdischen weltlichen Kultur — und dafür braucht er erst einmal Juden, die nicht nur mit ihrer religiösen Tradition (der sinaitischen), sondern auch mit allen Traditionen brechen, radikal eine Umwertung aller Werte mit Blick auf das Neue anstreben. Nietzsche hatte im „Antichrist" gesagt, die sinaitische Offenbarung sei eine „Fälschung" gewesen, der Gottesbegriff wie der Moralbegriff seien durch die Priesterschaft gefälscht worden — aus macht-hungrigen Eigeninteressen. Die Priester wären dadurch in die Lage versetzt worden, sich „in alle natürlichen Vorkommnisse des Leben" einzumischen, sie hätten versucht, diese zu „entnatürlichen" und „jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung" zu unterdrücken. 33 Berdyczewski greift diesen Vorwurf in einem ganz speziellen, nur auf das Judentum bezogenen Sinne auf: durch den Verlust der Staatlichkeit nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 und die darauf erfolgte kompensatorische Uber-Spiritualisierung des Volkes durch die Rabbinen (Jawne statt Jerusalem) seien die „Hebräer" zu „Juden" geworden. Das soll heißen: schon damals sei eine Art talmudischer Ghetto-Kultur entstanden, die die Juden vom Leben, der Natur und der Welt abgesondert habe. Die Theokratie habe alle Lebenswerte vernichtet und allein noch religiöse Werte anerkannt. Den Hebräern wurde das Leben genommen, alle Werte des Lebens wurden als falsche Werte der NichtJuden verdammt. Jude sein bedeutete nur noch, religiös zu sein. Dies ist der Hintergrund von Berdyczewskis Polemik gegen Achad Haam, wie Berdyczewski sie in einem offenen Brief an Haam im 1. Band der Zeitschrift „Haschiloah" im März 1897 formuliert: Wir wollen das sein, was jeder von uns gemäß seiner geistigen Voraussetzung, Aufklärung und seiner Verbindung zur Welt in ihrer Fülle zu sein vermag; genauso, wie es bei jedem anderen Volk gehandhabt wird, das alle persönlichen Kräfte, die in seiner Welt vorkommen, abschöpft und zusammenfaßt. [...] Und dies macht uns zu „Söhnen der Hebräer-Menschen" (le bne adam ivrim), und zwar dadurch, daß das Leben nicht mehr in zwei Hälften geteilt ist: auf der einen Seite das Judentum, auf der anderen die Menschlichkeit.

Nicht seinen Gedanken sei man verpflichtet, sondern seinem Instinkt, der aus einem einen „starken Hebräer" mache. Berdyczewski ruft Achad Haam zu: Unser Herz ist voll vom Tau der Jugend [...] und es wird kraftvoll in die große Welt [...] gezogen, daß endlich auch diese Welt in uns wohnt. Der Lebenswille,

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Micha Josef Bin Gorion: Sinai und Garizim. Über den Ursprung der Israelitischen Religion. Forschungen zum Hexateuch auf Grund Rabbinischer Quellen. Hrsg. von Rahel und Emanuel Bin Gorion. Berlin 1926. — Vgl. hierzu: Emanuel Bin Gorion: Vom Ursprung der Israelitischen Religion. Vortrag auf Grund des Werkes Sinai und Garizim. Berlin 1926. AC 26 (KSA 6.196).

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der mit Kraft in unserem Innern tobt, unser Wille %ur Macht (razon ha-oz), sowohl Menschen wie auch Kinder Israels zu sein, dieser wird uns mit Hoffnung erfüllen [...] und die Risse [zwischen Judentum und Menschlichkeit] schließen.34

Vier Jahre vor der ersten Publikation von Nietzsches „Wille zur Macht" durch seine Schwester (1901) wird in Berlin diese Parole (auf Hebräisch) auf die Fahnen des jüdischen Nietzscheanismus geschrieben! Im Anschluß an Berdyczewskis „starken Hebräer" wird dann Michael Rabbinowitz in Haschiloah, 5662, in einem Artikel „Judentum und Übermensch" die berüchtigte „blonde Bestie" preisen, „um die für die Belebung des Volkes notwendigen physischen Kräfte zur Erstarkung zu bringen". 35 Gegen solche Tendenzen richtet sich der Artikel von Achad Haam, in welchem zuerst von einem „jüdischen Nietzscheanismus" die Rede ist — ist doch dieser ein dritter Weg neben Orthodoxie und Zionismus. Der Zionismus war ein Weg gewesen, der sowohl die Assimilation/Akkomodation wie auch die Orthodoxie vermied. Das nietzscheanische Judentum lehnte Assimilation selbstverständlich ab, brauchte aber auch keinen Zionismus mehr und die Orthodoxie schon gar nicht. Darin lag seine selbstbewußte Stärke. Nicht Selbsthaß, sondern Selbstbewußtsein stand auf seinen Fahnen, nicht mehr die Entzweiung mit sich selbst, das Schielen nach der Kultur eines anderen Volkes. Das war die Verlokkung — und die Gefahr, vor der Haam warnte. Aber auch A. Haam ist nicht ganz frei von Nietzsche, sieht in dem jüdischen Nietzscheanismus nicht nur Gefahren. Ich zitiere zwei Seiten aus dem Haschiloah-Aufsatz „Umwertung aller Werte": Nun braucht den Kundigen nicht erst gesagt zu werden, daß ein jüdischer Niet scheanismus in dem angeführten Sinne nicht erst geschaffen werden muß, daß er vielmehr schon seit uralten Zeiten fertig vor uns steht. Nietzsche, der Deutsche, mag zu entschuldigen sein, wenn er den Geist des Judentums verkannte und dasselbe mit einer andern Lehre verwechselte, die aus ihm hervorging, sich aber bald von ihm abspaltete. Seine jüdischen Schüler jedoch wären verpflichtet zu wissen, daß die Lehre des Judentums sich niemals auf den Grundsatz des Mideids beschränkte, daß sie ihren Übermenschen keineswegs als Anhängsel des großen Haufens betrachtete, dessen Wohlfahrt zu mehren er in erster Reihe berufen wäre. Es ist bekannt, welcher Rang dem „Gerechten" in unserer Moralliteratur, vom Talmud und von den Midraschim bis auf das Schrifttum des Chassidismus herab, zugeteilt wird, wie oft betont wird, daß nicht er für andere geschaffen, sondern wie ein sehr charakteristischer Ausspruch lautet, ,die ganze Welt lediglich für den Gerechten geschaffen', daß er 34

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M. J. Berdyczewski: Al Parashat Deralchim (Am Scheidewege). In: Haschiloah, Bd. 1, Berlin 1897, S. 154—159 (Hebräisch. Die deutsche Ubersetzung stammt von Ursula Gelis, der ich hierfür danke). Michael Rabbinowitz: Ha-Jahadut we „ha-Adam ha-EIjon" (Das Judentum und der Übermensch). In: Haschiloah Bd. 9, Heft 4, 5662 (= 1902), S. 3 7 6 - 3 8 2 .

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Selbstzweck sei. Sentenzen der genannten Art finden sich bekanntlich sehr häufig in unserer Literatur, und sie blieben nicht etwa die Anschauungen Vereinzelter, Gedankensplitter von Philosophen, sondern drangen ins Volk und erhielten die Geltung von allgemein anerkannten ethischen Prinzipien. Ja, noch mehr. Wenn wir etwas tiefer dringen, finden wir denselben Gedanken in erweiterter Fassung auch in dem Kern des nationalen Judentums wieder. Nietzsche selbst beklagt sich in seiner letzten Schrift (dem „Antichrist") über die bisherige Erziehung, die bis jetzt nicht von dem Ziele, Ubermenschen hervorzubringen, geleitet war. Wenn nun ein solcher dennoch erstand, so war es bloß ,als Glücksfall, niemals aber als gewollt'. Und in der Tat, so leicht es auch sein mag, die Gestalt des Übermenschen in poesiereichen und phantasieerhitzenden Farben zu schildern: wenn dessen Vorkommen kein Glücksfall, sondern eine reguläre Erscheinung werden soll, so ist es unbedingt notwendig, daß die Lebensbedingungen, in denen er sich befindet, eine bestimmte Disposition dafür haben. Der trockene Felsen gibt kein Wasser und der Boden der Wüste bringt keine Früchte hervor. Schließlich bleibt der Mensch unter allen Umständen ein gesellschaftliches Wesen, und selbst das Wesen des Übermenschen bleibt gesellschaftlich und kann sich nicht gänzlich von der sittlichen Atmosphäre loslösen, in der er aufwuchs und sich entwickelte. Wenn wir nun anerkennen, daß der letzte Endzweck der Übermensch ist, so müssen wir auch gleichzeitig anerkennen, daß einen wesentlichen Teil dieses Endzwecks das Übervolk bilden muß: Daß irgendwo in der Welt ein Volk existiere, dessen Geistesanlagen es in höherem Maße für eine sittliche Entwicklung prädisponieren als die übrigen Völker und dessen ganze Lebensführung von einer hohen, über den gewöhnlichen Durchschnittstyp hinausragenden Ethik durchweg bestimmt wird, so daß dieses Volk den fruchtbaren Boden bildet, der von vornherein besonders günstige Wachstumsbedingungen für den Übermenschen besitzt. Dieser Gedanke entrollt vor unseren Augen ein weites Panorama, innerhalb dessen das Judentum in einem neuen, erhabenen Lichte erscheint und in dessen Gesichtskreis viele Mängel, welche die anderen Völker an uns auszusetzen haben und welche die jüdischen Apologeten abzuleugnen oder zu entschuldigen suchen, die Eigenschaft besonderer Vorzüge gewinnen, die dem Judentume zum Ruhme gereichen und die weder der Ableugnung noch der Entschuldigung bedürfen. 3 6 D i e s e Sätze sprechen für sich und b e d ü r f e n keines K o m m e n t a r s .

Hatte

Nietzsches Zarathustra seinen J ü n g e r n d o c h zugerufen: „ I h r E i n s a m e n v o n heute, ihr A u s s c h e i d e n d e n , ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: — u n d aus ihm der U b e r m e n s c h . " 3 7 A c h a d H a a m s A u s f ü h r u n g e n lesen sich wie ein K o m m e n t a r zu diesem A u f r u f . Zwei J a h r e nach der deutschen Veröffentlichung des A u f s a t z e s v o n A . H a a m wird Isaak H e i n e m a n n in der Zeitschrift „ D e r M o r g e n " (1925) über den „ B e g r i f f des U b e r m e n s c h e n in der jüdischen Religions-Philosophie"

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A. Haam: Umwertung aller Werte, a. a. O. [Anm. 24], S. 1 2 4 - 1 2 6 . ZA I, Von der schenkenden Tugend, 2 (KSA 4.100 f.).

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referieren und feststellen, daß es drei Typen von Übermensch im Judentum gegeben habe: den der Rassenkunde bei Philo, den des Rationalismus bei Maimonides und den der Mystik bei Jehuda Halevi. Die letzten Sätze reihen Nietzsche in diese Reihe der Ubermenschen ein: „Der Ubermensch ist der formale Ausdruck eines Pathos der Distanz. Ein solches Pathos kennt auch das Judentum - in ganz anderer Richtung als Nietzsche, aber kaum minder stark als er." 38 Wie stark der jüdische Nietzscheanismus um die Jahrhundertwende war, mögen einige Zeilen verdeutlichen, die David Neumark am 9. XI. 1900 in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums" wütend schrieb: Nietzsche und das Judenthum! Dieses Thema mußte man sich in den letzten Wochen gefallen lassen. Und hat Einer die Gewohnheit, mehrere jüdische Wochenblätter zu lesen, dann mußte er dieses Thema bis zum Ueberdruß über sich ergehen lassen. Am unschuldigsten waren noch Jene, welche sich damit begnügten, die verschiedenen Aussprüche Nietzsches über das Judenthum zu sammeln und wiederzugeben. Aber nur die Wenigsten gaben sich damit zufrieden. Die Meisten ermangelten nicht, bei dieser Gelegenheit ihren eigenen Geist in just Nietzsche'schem Stile leuchten zu lassen. Ja, es fehlte auch nicht an Versuchen, den deutschen Philosophen geradezu zu einem Hebräer zu machen. Und das Frappanteste, vielleicht richtiger: das Lächerlichste an der Sache — der stark sezessionistische Nietzschekultus kam von einer Seite, von der man es am wenigsten erwartet hätte: Einige überspannte Rabbiner glaubten es sich und ihrem Stande schuldig zu sein, heißblütige Tiraden über Nietzsche zu deklamiren. Dem Einen ist die Phantasie durchgegangen — Nietzsche ist ein Prophet! — dem Andern der Verstand — Nietzsche ist ein Lehrer Israels. Das ist lächerlich und ärgerlich zugleich. Rabbiner dürfen doch nicht hysterisch sein. 39

Warum wird der jüdische Nietzscheanismus, so ist nun zu fragen, mit dem Jahre 1888 versehen? Am 26. November 1887 hatte der dänische Literat und Literaturkritiker Georg Brandes sich mit Nietzsche brieflich in Verbindung gesetzt und dessen Philosophie als „aristokratischen Radicalismus" bezeichnet. Diese Bezeichnung findet Nietzsche am 2. Dezember 1887 „sehr gut" — das Beste, was bis jetzt über ihn gesagt worden sei. Im April 1888 fängt Brandes dann an, in einer Kopenhagener Zeitung über Nietzsche zu schreiben, hält vor Hunderten von Zuhörern Vorlesungen über Nietzsche und konzipiert daraus den Aufsatz „Aristokratisk Radikalisme" (1889), der unter dem Titel „Aristokratischer Radicalismus" in 38

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Isaak Heinemann: Der Begriff des Übermenschen in der jüdischen Religions-Philosophie. In: Der Morgen. Hrsg. von Julius Goldstein. 1. Jhg., Berlin 1925, S. 3—17; Zitat S. 15. — Zu Heinemann vgl. Christhard Hoffmann: Juden und Judentum im Werk Deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts. Leiden/New York 1988, S. 2 1 9 - 2 3 2 . David Neumark: Die jüdische Moderne. In: Allgemeine Zeitung des Judenthums. Berlin, 9. November 1900, S. 5 3 6 - 5 3 8 ; Zitat S. 536.

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deutscher Übersetzung, ohne den für ein skandinavisches Publikum bestimmten Schluß, im April 1890 in der „Deutschen Rundschau" erscheint. Rückblickend wird Brandes 1899 stolz feststellen, daß dieser Aufsatz dem damals noch fast unbekannten Nietzsche zum Durchbruch verholfen habe, er jetzt — im Dezember 1899 — in jedem europäischen Land bekannt sei.40 Wie groß das Interesse auch der Juden an Nietzsche war, möge ein kleiner Hinweis illustrieren: der „Jüdische Litteraturverein" in Budapest bat im November 1889 Dr. Eduard Neumann, Rabbiner in Nagykanizsa, seinen Gastvortrag doch bitte nicht über Abraham Geiger zu halten, sondern über Friedrich Nietzsche.41 Das waren damals die Alternativen! Nietzsches europäischer Ruhm begann, so kann gesagt werden, im April 1888 in Kopenhagen (im „Ecce Homo" verweist Nietzsche selbst darauf). Derjenige, der Nietzsche den europäischen Intellektuellen bekannt machte, hieß mit vollem Namen Georg Morris Cohen Brandes. Und das kam so: Der Vater von Georg Brandes (1842-1927) hieß bei seiner Geburt Hirsch (dänisiert: Hermann) Moses Cohen. Diesem Namen fügte er jedoch nach dem Tode seines Vaters (Moses Israel Cohen) und der Wiederverheiratung seiner Mutter auch den Namen seines Stiefvaters, Brandes, hinzu. Georg Brandes Vater war verheiratet mit einer Enkelin des berühmten ungarischen Talmudisten Rabbi Mendel Kanzenbach, ihren Sohn nannten sie Georg Morris Cohen Brandes. Dieser besuchte bis zur Bar Mizwah regelmäßig die Synagoge, dann nicht mehr. Bis etwa 1907 war er jedoch Steuerzahler in der jüdischen Gemeinde. Brandes hat seinen Namen - trotz anders lautender Berichte — nie gewechselt, nur hat er die zwei mitderen Namen (Morris Cohen) als Autor nicht verwendet.42 Nietzsche verdankt seinen Durchbruch also, das muß gesagt werden, einem begeisterten Nietzscheaner aus dem vornehmen jüdischen Geschlecht der Cohen. Georg Morris Cohen Brandes kann nicht besser charakterisiert werden als - in leichter Variante — er selbst Heinrich Heine bündig charakterisiert: Brandes „war durch seine Abstammung Orientale, durch Geburt und Erziehung Däne, durch einen großen Teil seiner Bildung Deutscher, geistig endlich Kosmopolit." So begann es 1888, dem „Jahr 1" für Nietzsche. Das Ende wurde 1932 durch ein Buch dokumentiert, das den Titel trug „Klärung. 12 Autoren, Politiker über die Judenfrage [...] Mit Beiträgen aus Friedrich Nietzsches Antichrist und 40

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Die Nietzsche-Brandes-Beziehung dokumentiert am ausführlichsten: Georg Brandes. Friedrich Nietzsche (1914). New York 1972. — Zu Brandes vgl.: Hans Hertel and Sven Moller Kristensen (ed.): The Activist Critic. A symposium on the political ideas, literary methods and international reception of Georg Brandes. Copenhagen 1980. Vgl. Ignaz Goldziher: Tagebuch. Hrsg. von Alexander Scheiber. Leiden 1978, S. 224. Goldzihers Kommentar: „Eine saubere Jüdische Litteraturgesellschaft!" Vgl. David Simonsen: Name und Abstammung von Georg Brandes. In: Jüdische Familien = Forschung. 3. Jhg., Nr. 1, März 1927, S. 231 - 2 3 2 .

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Zur Genealogie der Moral". Zwar verteidigt Robert Weltsch darin tapfer die deutsche zionistische Bewegung und schwärmt, für uns nach Auschwitz („Arbeit macht frei") heute schrecklich zu lesen, von A. D. Gordons Parole von der „Erlösung durch Arbeit", doch findet Hanns Johst — der zu dieser Zeit schon gerne seine Bücher „Adolf Hider in liebender Verehrung und unwandelbarer Treue" - widmet schon ganz andere Worte unter dem Schlagwort „Volk im Volke". Nietzsche wird, so wörtlich, zum Kronzeugen „einer ernsten Würdigung des Antisemitismus".43 Es muß nun jedoch noch einmal gefragt werden, warum der Aufbruch gerade mit Nietzsche als Fahnenträger vor sich gehen konnte? Ich zähle einige wesentliche Punkte auf, wobei ich vorab jedoch deutlich die These zurückweisen möchte, die besagt, Nietzsches und „das jüdische Denken" hätten Ähnlichkeiten oder verwandte Wesensmerkmale. Ich weise diese These zurück, weil ich nicht sehen kann, was „das" jüdische Denken ist. In der Philosophie zum Beispiel sehe ich nur jüdische Platoniker, Aristoteliker, Kantianer, Hegelianer, Marxisten, Atheisten etc. etc. Husserls „Phänomenologie" eignet nichts spezifisch „Jüdisches". Mit Nietzsche konnte man denken, weil a) Nietzsche ein ausgesprochener Anti-Antisemit war; b) Nietzsche meinte, daß die Juden das einzige Volk seien, das eine Nation nicht nötig hätte, um zu überdauern; c) Nietzsche ein scharfer Kritiker des Christentums mit seiner „Sklavenmoral", also des gefahrlichen Unterdrückers der Juden, war; d) Nietzsche gegen eine flächliche Humanitätsduselei mit ihrer Mitleidsethik war; e) Nietzsche den Sinn der Geschichte und somit alle ehrwürdigen Traditionen in Frage stellte (Garizim statt Sinai); f) Nietzsche in wesentlichen Punkten seines Denkens, so seine eigenen Worte, mit Spinoza übereinstimmte; g) Nietzsche die Juden davon befreite, als Juden ein schlechtes Gewissen haben zu müssen (weil sie Juden seien), und sie somit von dem jüdischen Selbsthaß befreite; h) Nietzsche die Juden auf ihr Selbstbewußtsein und ihre Macht verwies, einfach so Juden sein zu können.

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Klärung. 12 Autoren, Politiker über die Judenfrage. Mit Beiträgen aus Friedrich Nietzsches Antichrist und zur Genealogie der Moral. Berlin 1932, S. 1 1 7 - 1 2 3 (H. Johst) und S. 1 2 5 - 1 3 7 (R. Weltsch).

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Kurz: Weil man sich mit Nietzsche von allem befreien konnte, was einen hinderte, erschwerte und oft unmöglich machte, Jude — und zwar Jude in einem modernen Europa — zu sein. Jüdischer Selbsthaß und jüdischer Nietzscheanismus (Walter Rathenaus „Höre Israel" möge hier als Beispiel dienen), 44 der Berliner Antisemitismus-Streit und jüdischer Nietzscheanismus und auch der aufkommende christliche Philosemitismus 45 und der jüdische Nietzscheanismus müssen zusammen gesehen werden. Der jüdische Nietzscheanismus kann gesehen werden als Antwort auf die in ihren Folgen entartete und fehlgeschlagene Juden-Emanzipation als Folge der europäischen Aufklärung. (Es ist ja auch bekannt, daß die Autoren der „Dialektik der Aufklärung", Adorno und Horkheimer, Nietzsche wohlwollend bis zustimmend betrachteten.) Mit Nietzsche können sie einfach Juden sein. 46 Am 20. Januar 1901 hat Gustav Landauer im Berliner Architektenhaus einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Friedrich Nietzsche und die neue Generation". Er feierte Nietzsche als den „Apostel" einer neuen Generation. Er rief seinen Zuhörern emphatisch zu: „Ein neues Volk ist im Begriff hochzukommen, ohne daß die Herren Geschichtsprofessoren um ihre Erlaubnis angegangen worden sind, ein Volk, das aus den Abtrünnigen und Vorgeschrittenen aller Völker sich zusammensetzt, ein Volk, das immer mehr zum Bewußtsein seiner Zusammengehörigkeit kommt, eine Gemeinschaft derer, die nicht länger die geistige Vereinsamung mitten unter Fremden ertragen. Und Nietzsche ist einer der Führer, die diesem jungen Volke vorangehen, das sich von der Dekadenz zur Renaissance erheben will." 47 Gustav Landauer war Jude, wie er dachten viele der jüdischen Nietzscheaner. 48 Nietzsche — das bedeutete selbstbewußten und jungen Aufbruch. Ich möchte zum Schluß noch einmal Gustav Landauer zitieren, der schon 1893 in der „Einleitung" zu seinem Nietzsche-Roman „Der Todesprediger" — Landauers Buch war der erste Nietzsche-Roman, er erlebte drei Auflagen — mit kurzen Worten das umrissen hat, was seinem Romanhelden Max Emanuel Karl Wilhelm Starkblom, Sohn von Adam und Elisabeth Starkblom, in dem Roman widerfährt: Der Versuch, „sich kalten Blutes auf sich selbst zu besinnen, die

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W. Hartenau [= W. Rathenau]: Höre Israel! In: Die Zukunft 18, 6. März 1897, S. 4 5 4 - 4 6 2 . Friedrich Niewöhner: Philosemitismus. In: Evangelisches Kirchenlexikon. Bd. 3, Göttingen 1992, Sp. 1 1 9 1 - 1 1 9 4 . Vgl. Norbert Rath: Zur Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos. In: W. von Reijen und G. Schmid (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. Frankfurt 1987, S. 7 3 - 1 1 1 . Zitiert nach: Hanna Delf: „Nietzsche ist für uns Europäer...". Zwei unveröffendichte Aufsätze Gustav Landauers zur frühen Nietzsche Rezeption. Teil II. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 44. Jhg., Heft 4, 1992, S. 3 0 2 - 3 2 1 , Zitat S. 305. Vgl. Steven E. Aschheim: Nietzsche and the Nietzschean Moment in Jewish Life ( 1 8 9 0 - 1 9 3 9 ) . In: Leo Baeck Institute. Year Book XXXVII, London/Jerusalem/New York 1992, S. 1 8 9 - 2 1 2 . — Vgl. auch Friedrich Niewöhner: Dionysische Politik. Der Nietzscheanismus der jüdischen Erneuerungsbewegung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5.1993, Nr. 115, S. N5.

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entsetzte Rückschau auf die Entwicklung der Vergangenheit und das gegenwärtige Treiben, die Auflösung und Abschüttelung alles überlieferten Herkommens, der Strich unter die ganze Rechnung der menschlichen Geschichte, und das Wagnis, nach all den Erfahrungen den Staub der Vorzeit von den Händen zu waschen und das Leben der Menschheit von vorn [...] zu beginnen." 49

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Gustav Landauer: Der Todesprediger (1. Aufl. Dresden 1893; 2. Aufl. Dresden 1903). 3. Aufl. Köln 1923, S. 2.

III. Nietzsche und die jüdische Erneuerungsbewegung

MENACHEM BRINKER

Nietzsches Einfluß auf hebräische Schriftsteller des russischen Zarenreichs Die zwei letzten Jahrzehnte des 19. und die zwei ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren eine Epoche der Krise und des Ubergangs im Leben der russischen Juden. Die Pogrome von 1881 und 1882, der Beginn der industriellen Revolution, die Hunderttausende von jüdischen Familien in die Armut trieb, und die „Maigesetze" von 1882, die das Leben im Ansiedlungsrayon unerträglich machten, führten allesamt zu einem neuen Selbstverständnis unter den Juden. Die Zeit, in der ein Großteil der jüdischen Intelligenz die Russifizierung predigte, war beendet, wenngleich die Integration in weite Teile der russischen Gesellschaft nicht aufhörte; sie ging tatsächlich über die höheren Schichten hinaus und erreichte die Massen. Die gebildeten Juden erlebten den Zusammenbruch traditioneller Lebensformen und Weisen kultureller Schöpfung. Hebräische und jiddische Schriftsteller wurden jetzt von jungen und säkularisierten Elementen des jüdischen Volkes als eine neue geistige und intellektuelle Führung betrachtet, die an die Stelle traditioneller rabbinischer Autorität treten sollte. Viele der Lehren dieser neuen Autoritäten waren in hohem Maße von den Werken Friedrich Nietzsches beeinflußt. In den frühen 20er Jahren starben die meisten dieser Schriftsteller oder emigrierten nach Palästina; ihre Bücher aber und ihre Ideen waren weiter in der sowjetischen jüdischen Öffentlichkeit offen im Umlauf. Nach Stalins Tod trugen sami^dat- Versionen ihrer Werke dazu bei, die jüdische nationale Erneuerung geistig zu beleben. Unter Gorbatschow wurde ihre Veröffentlichung legal, und Ubersetzungen hebräischer Lyrik dieser Zeit erschienen in der russischen Presse. Zwischen 1880 und 1920 blühte säkulare hebräische Literatur ungemein. Gedichtbände, Erzählungen und Essays wurden zu Tausenden und mitunter zu Zehntausenden verkauft, eine Erscheinung, die sich erst mit der Gründung des Staates Israel mit seinen Millionen Lesern des Hebräischen wiederholen sollte. Der Grund für diese unerhörte Verbreitung hebräischer Literatur lag darin, daß junge Juden ihre Jeschiwot (Talmudschulen) verließen und zu Zehn-, vielleicht Hunderttausenden sich säkularisiert hatten, ohne Kenntnis irgendeiner europäischen Sprache wie der russischen oder deutschen zu haben. Sie waren daher bei

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Menachem Brinker

der Bildung ihrer neuen kulturellen Identität völlig abhängig vom Hebräischen und Jiddischen. Dieses Publikum war gleichzeitig ein Symptom und ein Hauptfaktor dessen, was heute die „Periode nationaler Erneuerung" genannt wird. Die Garantie politischer Emanzipation für Juden in Westeuropa erweckte Hoffnungen auf eine ähnliche Entwicklung in Osteuropa. Trotz Pogromen, Verfolgung und der Verelendung großer Teile der jüdischen Bevölkerung, insbesondere der Kleinhändler und Künstler, nährten Juden Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Verschiedene politische Lösungen wurden angeboten. Zionisten wiesen auf die Notwendigkeit hin, in Palästina eine neue Heimat für die Juden zu schaffen. Andere favorisierten die kollektive Ansiedlung der Juden in Argentinien oder die Emigration in andere Teile der Neuen Welt. Wieder andere formulierten politische Pogramme zur Lösung jüdischer Probleme in Osteuropa. Die Autonomisten faßten Emanzipation (d. h. gleiche Rechte) in Verbindung mit Bildungs-, Sprachund Kulturautonomie ins Auge. Sozialisten schlugen den Juden vor, sich der Revolution anzuschließen, die neben anderen Problemen auch die „jüdische Frage" lösen würde. Viele von ihnen traten dem „Bund" [Abk. für „Algemeyner Yidischer Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland" - d. Übers.] bei, einer sehr populären marxistischen Organisation (in ihren besten Zeiten hatte sie Hunderttausende jüdische Arbeiter), die sich für die Beibehaltung einer sich deutlich abgrenzenden jüdischen Sprach- und Kulturidentität während und nach der Revolution einsetzte. Andere schlossen sich russischen sozialistischen Parteien direkt an und wurden Sozialrevolutionäre, Bolschewiki oder Menschewiki. Diese Juden akzeptierten die Idee, daß eine jüdische nationale Existenz zusammen mit anderen nationalen Identitäten nach der Revolution verschwinden würde. Sie entschieden sich auf solche Weise für Assimilation. Doch trotz der augenscheinlichen Verlockung, die Autoemanzipation, eine sozialistische Revolution oder Emigration für viele osteuropäische Juden hatten, sah man eine jüdische nationale Existenz bedroht, solange kulturelle Probleme der Juden nicht gelöst sein würden. Die Schriftsteller und Denker waren sich als die neuen Führer der jüngeren Generation des Volkes darin einig, daß die jüdische Kultur nicht den orthodoxen Rabbinern überlassen werden dürfe. Dies konnte die Juden nur vor zwei Alternativen stellen: traditionelle religiöse Kultur, die für viele gleichermaßen Stagnation wie intellektuelle und emotionale Repression bedeutete, oder Assimilation, die nach einer Identität außerhalb des jüdischen Volkes sucht. Diese tragische Wahl wurde von Micha Josef Berdyczewski wiederholt als „die Spaltung im Herzen" beschrieben. Die Forderung nach nationaler Erneuerung war infolgedessen, zumindest zum Teil, eine Forderung nach Europäisierung jüdischer Kultur. Hebräische Schriftsteller schlugen die Einführung europäischer Geschmacks- und Stilrichtungen, Meinungen und Werte in die hebräische Literatur und jüdische Kultur

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vor. Sie idealisierten die neue Generation von Juden als „europäische Hebräer" und taten sich in hitzigen Debatten hervor, die sich um die Möglichkeiten drehten, wie eine harmonische Synthese des Geistes des Judentums mit dem Geist des modernen Westeuropa erreicht werden könne. Auf diesem Hintergrund eines deutlichen Bewußtseins einer Kulturkrise auf der einen und eines Rufs nach kultureller Erneuerung auf der anderen Seite muß die extreme Wirkung verstanden werden, die Nietzsche auf die hebräische Literatur in den Jahren 1885 bis 1920 hatte. Kein anderer europäischer Denker hatte einen vergleichbaren Einfluß auf die hebräische Literatur dieser Zeit. Nietzsches Name, die Titel seiner Werke, einige seiner berühmtesten Schlagworte („die Umwertung aller Werte", „der Tod Gottes", „jenseits von Gut und Böse" und andere) begegneten wiederholt in hebräischen Essays und Erzählungen. Der Nietzsche, den die Autoren dieser Zeit kannten, war im allgemeinen der junge und mitdere: der Autor von Die Geburt der Tragödie, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben, und Menschliches, Alltqtmenschliches. Von den späteren Werken hatten nur Zur Genealogie der Moral und Jenseits von Gut und Böse Einfluß. Zarathustra beeinflußte verschiedene Lyriker (insbesondere Jakob Cohen und Salman Schneur) durch seinen Stil und Symbolismus; aber die Ideen der ewigen Wiederkehr und der Bedeutungslosigkeit der Geschichte wurden von den hebräischen Schriftstellern entweder ignoriert oder gänzlich abgelehnt. Einige hebräische Schriftsteller, namentlich Micha Josef Berdyczewski, Josef Chajim Brenner, Hillel Zeitlin und David Frischmann, lasen Nietzsche im Original in Deutsch. Andere wurden mit seinen Ideen durch Kommentare vertraut, vor allem durch die von Georg Brandes und Georg Simmel, deren deutsche Bücher über Nietzsche wenige Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung ins Russische übersetzt worden waren.1 Es ist schwer einzuschätzen, was von Nietzsche selbst den meisten hebräischen Autoren bekannt war und in welchem Maße ihre Kenntnis seiner Ideen aus sekundären Quellen stammte. Doch das Interesse, das die hebräischen Schriftsteller an dem frühen Nietzsche hatten, ist begreiflich. Nietzsche faszinierte sie wegen seiner scharfen Kritik an einer übertriebenen Geistigkeit, am Aszetismus und an allen Formen von Glauben an das Übernatürliche, die die hebräischen Säkularisten als die historischen Beschränkungen des traditionellen Judentums erfuhren und die sie mit Nietzsches eigenen Worten als „Sünden gegen das Leben" und „gegen die Natur" beschrieben. Der Lyriker Saul Tschernichowski (1875 — 1943), der neben Chajim Nachman Bialik als der größte Dichter dieser Zeit galt, schrieb eine Ode an den 1

Was die Schnelligkeit betrifft, mit der Brandes' und Simmeis Nietzsche-Bücher ins Russische übersetzt wurden, vgl. Herbert W Reichert / Karl Schlechte, International Nietzsche Bibliography, Chapel HUI 1960.

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Hellenismus, Vor der Statue Apollons, welche die Lebenskraft griechischer Kultur rühmt und sich auflehnt gegen die Enge jüdischen religiösen Lebens: Ich neige mich vor dem Leben, vor der Kraft, vor der Schönheit. Ich neige mich vor all den herrlichen Tugenden, die stark und kräftig die leichenhaften Menschen, die Menschen der Verwesung vertrieben haben, die das Licht wegnahmen bei meinem Allmächtigen (Schaddaj) — dem Gotte der geheimnisvollen Wüsten, dem Gotte der waghalsigen Eroberer Kanaans, den sie mit den Riemen ihrer Tephillin gefesselt haben. 2

Tschernichowski und ein weiterer Lyriker, Salman Schneur (1886—1959), schrieben mehrere Gedichte, die heidnische Riten des alten Israel zur Darstellung brachten. Diese Gedichte waren ein beträchtlicher Teil dessen, was Schneur und Tschernichowski an dichterischen Versuchen unternahmen, um die jüdische Geschichte neu zu schreiben.3 Die monotheistischen Propheten, die in fast allen historischen und philosophischen Schriften über das Judentum einen so hohen Rang einnahmen, die für gewöhnlich als der deutlichste Ausdruck des jüdischen Geistes betrachtet wurden, wurden in diesen Gedichten als Zensoren und geistige Despoten dargestellt. Monotheistischer Glaube wurde als Unterdrückung der bebenden dionysischen Triebe der alten Hebräer angesehen. Gleichzeitig wurden die falschen Propheten der Bibel, die Anbeter heidnischer Gottheiten, von der gesamten jüdischen Tradition als die schlimmsten Vertreter der Todsünde des Götzendienstes betrachtet, zu den eigentlichen Fürsprechern des Lebens und der natürlichsten und gesündesten Lebenstriebe. Zwei Oppositionen — die Forderungen des Lebens / das Joch der Tradition und Natur / das Buch — wurden vertraute Konzepte für Leser hebräischer Literatur in den Jahren nach 1860, und zwar infolge des sich mischenden Einflusses von Haskala (Aufklärung) und deutscher Romantik. Die jüdische Aufklärung, an der viele Rabbiner teilhatten, sprach von dem Bedürfnis nach Reform im Judentum, um die Halacha (das religiöse Gesetz) mit modernen Realitäten in Einklang zu bringen und damit einen Riß zwischen Religion und Leben zu verhindern. Nietzsches Einfluß radikalisierte diese bereits vorhandenen Konflikte bis zu dem Grade einer offenen Zurückweisung der Vergangenheit. Diese Zurückweisung ging im Namen der Instinkt- und Kulturbedürfnisse des moder2

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Saul Tschernichowski, Vor der Statue Apollons, in: Joseph Klausner, Geschichte der neuhebräischen Literaturdeutsch hrsg. von Hans Kohn, Berlin 1921, 116 f. Die zitierten Zeilen sind der Schlußteil des Gedichts. Die hebräische Fassung heißt Le-nochach pessel Apollo. Salman Schneur publizierte einen Gedichtband mit dem Titel huchot genusim („Verborgene Tafeln", 1948). Das Buch beschäftigt sich mit fingierten heidnischen Gedichten, die von den alten Hebräern geschrieben und von den Priestern und Propheten außer Verkehr gezogen wurden. Tschernichowski verfaßte unter seinen „heidnischen Gedichten" einen Sonettzyklus mit dem Titel La-schemesch („Zur Sonne"). Er verbindet Motive aus Nietzsche und Schelling. Der Zyklus ist [ins Englische] übersetzt worden in Shaul Tchernichovsky, Shaul Tshernichovsk% transl. by David Kuselewitz, Tel Aviv 1978, 9 - 2 3 .

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nen Juden bisweilen einher mit der Ablehnung des Jochs einer kollektiven Tradition. Frühere Generationen bedienten sich der Opposition zwischen Leben und dem Buch, um das Bedürfnis nach halachischer Reform auszudrücken. Sie wollten einen Kompromiß erreichen zwischen den strengen Forderungen eines orthodoxen Lebens und der Moderne. Haskala-Denker kritisierten eine erstarrte Halacha, stellten aber nie die Moral der Religion selbst in Frage. Sie versuchten — wenn auch in naiver Weise — zu zeigen, daß es keinen grundsätzlichen Unterschied gebe zwischen der Religion der Vernunft und dem Wesen des Judentums. Am Ende des 19. Jahrhunderts dachte die jüngere Generation anders. Sie erkannte die Unvereinbarkeit eines historischen Standpunkts des Judentums mit einem religiösen. Diese Verschärfung älterer Oppositionen stand im Mittelpunkt des Werks von Micha Josef Berdyczewski, einem Erzähler und Kritiker, und von Achad Haam, der neben Berdyczewski der wirkungsvollste Essayist dieser Zeit war. Berdyczewski, vielleicht der tiefste Denker in der modernen hebräischen Literatur, gab einer Sammlung seiner Essays den Titel Schinui arachim („Eine Umwertung der Werte"), eine ausdrückliche Anspielung auf Nietzsches „Umwertung aller Werte". 4 Seine Gedanken lösten eine anhaltende Debatte mit Achad Haam aus, der sich 20 weitere Schriftsteller anschlossen und die fast zwei Jahrzehnte andauerte. Der Erzähler und Kritiker Josef Chajim Brenner (1881 — 1921), der bedeutendste Kommentator des Lebens der russisch-jüdischen Intelligenz zu Beginn des Jahrhunderts, verwies oft auf Nietzsche und seine Ideen, und dies nicht nur in seinem kritischen Werk. In allen Erzählungen Brenners diskutieren die Figuren über Ideen von Nietzsche in unterschiedlichem Grad an Originalität und Tiefe. Andere Erzähler der Zeit lassen zwar auch ihre Figuren über Nietzsche reden, aber in Brenners Erzählungen gehören Nietzsches Ideen zu den grundlegenden Motiven. Die Erzählungen beschreiben Nietzscheaner, wie sie in Mode sind, Männer, die sich ihrer amoralischen Lebenshaltung rühmen und ihr leichtlebiges, oft zynisches Verhalten gegenüber Frauen mit Zitaten aus Nietzsche untermauern. 5 Ihre Beschreibung ist eine Verschmelzung einer oberflächlichen nietzscheanischen Pose mit der Nachahmung anderer literarischer Charaktere wie des Pechorin von Lermontow.

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Micha Josef Berdyczewski, Schinui arachim, in: Collected Essays of Berdichevskf, Tel Aviv 1960. Die Aufsätze in dieser Sammlung wurden zwischen 1890 und 1896 geschrieben. Dies trifft zumindest für vier Erzählungen Brenners zu, für Ba-choref („Im Winter", 1902), für Mi-saviv-la-nekuda („Rings um den Punkt", 1905), für Bein mayim le-mayim („Zwischen Wasser und Wasser", 1909) und für Schechol ve-chischalon („Verlust und Scheitern", 1918). Nur die letzte Erzählung ist — ins Englische — übersetzt worden unter dem Titel Breakdown and Bereavement (vgl. Anm. 23 unten).

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Andere Figuren in Brenners Erzählungen sind nach der Beschreibung von Nietzsches Schriften nicht weniger stark beeindruckt als von Schopenhauer und Tolstoi. Diese Figuren leiden oft an einem inneren Kampf, der durch den Konflikt zwischen Nietzsches Ideen und den Werten, mit denen sie groß geworden sind, ausgelöst wurde. Eine von ihnen, Uriel Davidowski in der Erzählung Misaviv la-nekuda („Rings um den Punkt"), ein Mann, der augenscheinlich in das Studium der Geburt der Tragödie vertieft ist, bringt sich am Ende der Erzählung um. Davidowski ist Brenners Freund Sender Baum nachgebildet, dem führenden Kopf der Homel-Studiengruppe junger jüdischer Intellektueller, die sich mit modernen Philosophen beschäftigte. Nietzsches Schriften waren der Kern ihrer Studien. Der Homel-Studiengruppe gehörte auch der hebräische und jiddische Essayist Hillel Zeitlin (1877 — 1942) an, einer der drei hebräischen Essayisten, deren Werk oft auf die Person Nietzsches und deren Ideen Bezug nimmt. Der zweite, Ahron David Gordon (1856 — 1942), war das geistige Haupt und der Mentor der zweiten Alija, während der zwischen 1903 und 1914 Hunderte junge Juden Haus und Beruf in Osteuropa aufgaben und nach Palästina gingen, um sich der Kultivierung des Landes hinzugeben. Der dritte war David Frischmann (1859 — 1922), der bekannteste hebräische Literaturkritiker und Herausgeber seiner Zeit. Die Werke dieser Essayisten sind ein Beispiel für die typische Haltung, die man in der modernen hebräischen Literatur Nietzsche gegenüber einnahm. Alle drei behandelten Nietzsche mit Hochachtung. Zeitlin, der erste hebräische Autor, der ein Essay über Nietzsche vom Umfang eines Buches schrieb6, nennt dessen Denken die „innere heilige Erfahrung eines großen Mannes"; Gordon spricht wohlwollend über Nietzsches „innere Kämpfe", während Frischmann Nietzsches Originalität, seinen Mut und seinen Stil bewundert. Alle drei jedoch nutzten Nietzsches Inspiration, um zu Schlüssen zu kommen, die von Nietzsches eigenen weit entfernt waren. Zeitlins intellektuelle Entwicklung ist ganz ähnlich der von russischen Interpreten Nietzsches, und er war zumindest von einem von ihnen direkt beeinflußt: von Lew Schestow, dessen Werk er sehr gut kannte. Zeitlin akzeptierte Nietzsches scharfe Kritik des Idealismus und Utilitarismus als eines Ersatzes für verlorenen religiösen Glauben. Nach einer Periode geistiger Wanderschaft kehrte Zeitlin zu einer streng ortho-

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Der Essay erschien zuerst in Ha-seman („Zeit"), einer hebräischen Monatsschrift für Leben, Literatur, Kunst und Wissenschaft, Nr. 1 (Wilna 1905). Zeitlin beginnt mit der Erklärung, daß Nietzsches Bedeutung im wesendichen nicht auf seinen philosophischen „Sprüchen" beruhe, sondern auf der Leidenschaftlichkeit, mit der er nach Wahrheit suchte. Diese Auffassung war allgemein verbreitet. Ein anderer hebräischer Kritiker, Reuven Brainin, lobt Nietzsches Schriften für die „Bekenntnisse einer Seele", die sie darstellen, in Sifrut („Literatur"), Warschau 1908.

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doxen Lebensform zurück und wurde ein aktiver und populärer religiöser Erneuerer in Polen, bis er 1942 von den Nazis ermordet wurde. Gordon, der als Landarbeiter in Palästina von 1905 bis zu seinem Tode im Jahre 1922 lebte, betrachtete Nietzsche als den aufrichtigsten europäischen Rebellen gegen die emotionale Entropie des modernen Menschen und als einen scharfen Kritiker der Unterwerfung des inneren Wesens des Menschen an die kalten pragmatischen und kommerziellen Diktate der Urbanen Gesellschaft. Gordon appellierte an die jüdische Jugend, seinem Beispiel zu folgen und das urbane Leben zugunsten körperlicher Arbeit auf dem Lande in Palästina aufzugeben, um sich und das gesamte jüdische Volk von ihrer Entfremdung zu erlösen. Sein Appell war eine Vereinigung von tolstoischen Motiven mit den ökonomischen Lehren russischer Populisten, die in der Landwirtschaft die Hauptbeschäftigung und -lebensquelle sahen. Gordon wies als ein traditioneller Jude, der er bis zu seinem Lebensende blieb, Nietzsches Ideen fast gänzlich zurück, verwies aber weiter auf Nietzsches Person, um die Notwendigkeit und Möglichkeit einer geistigen Erneuerung aufzuzeigen. Frischmanns zentrale Absicht war, eine nationale Erneuerung dadurch zu erreichen, daß er Augen und Ohren der unterdrückten jüdischen Seele für Kunst und Phantasie öffnete. Frischmann war deutlich von Nietzsches Ideen über Krankheit, Gesundung und den therapeutischen Wert künsderischer Kreativität beeinflußt. Seine Meinungen über Stil und über die künstlerische Persönlichkeit kamen aus denselben Nietzscheschen Quellen; seine Verachtung für den Geist der Objektivität in der Literaturkritik rührte von Nietzsches Sprachstil her. Frischmann rief die Kritik dazu auf, nicht vor einer auf persönlichem Geschmack und subjektiven Präferenzen beruhenden Polemik zurückzuschrecken. Seine eigene, oft von hebräischen Schriftstellern zitierte Ubersetzung des Zarathustra war in einem hoch biblischen Stil, der unfreiwillig an die Grenze der Parodie stieß. 7 Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts war ein klarer nietzschescher Ton nicht nur in offiziellen und halboffiziellen zionistischen Abhandlungen und Proklamationen wahrnehmbar, sondern auch in Gedichten, Erzählungen und Essays, die durch den Zionismus inspiriert wurden. Sie alle predigten das Bedürfnis nach einem „neuen Juden", „einem neuen Hebräer" oder einem neuen Menschenwesen „aus dem Juden". Max Nordau sprach von einem „Muskeljuden" 8 ; Chajim Nachman Bialiks mythologisches Gedicht „Die Toten der Wüste" 7

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David Frischmann, Targumin („Übersetzungen", Israel, ohne Jahr). Die Übersetzung wurde zuerst in Warschau 1 9 1 0 veröffentlicht. Der biblische, zuweilen prophetische Stil paßt gut zu vielen Stellen von Nietzsches Zarathustra, doch es gibt auch bestimmte Stellen, wo der parodistische Effekt bewußt erzeugt worden ist. Ζ. B. klingt der Abschnitt über die Mitleidigen (im Teil II des Zarathustra) wegen seines Stils und trotz seines Inhalts, als wäre er eine von den Reden Jesu. Max Nordau, Muskeljudentum, in: Jüdische Turn%eitung (Juni 1903).

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brachte zum Ausdruck, was zu einem sehr populären zionistischen Slogan wurde: „der Knechtschaft letztes Geschlecht, das erste Geschlecht der Befreiung".' Der Fall Bialik (1873 —1934) ist sehr interessant. Er war hin und her gerissen von den gegensätzlichen Wirkungen dessen, was er die „zwei Magneten" nannte: von der geistigen und geschichtlichen Tiefe der Tradition einerseits und von dem Geist des modernen Europa andererseits. Der Löwe war — in einem hohen Grad an Komplexität — das am häufigsten vorkommende Symbol in seiner Lyrik. Er repräsentierte, mit unterschiedlicher und wechselnder Betonung, unterdrückte Natur- und Instinkttriebe (vor allem den Sexualtrieb), uneingeschränkte physische Macht und sogar die nichtjüdische Welt. In einem frühen Gedicht verwendete Bialik das Symbol, um auf einen Geist von Nietzscheanismus hinzuweisen, wie er ihn (unter dem Einfluß seines Lehrers Achad Haam) verstand. Stärker war der Feind — er zwang ins Nichts mich nieder — Doch ich wahrte Gott — und Gott hat mich gewahret ... Eh ein Leu den Leuen, Lämmern mich gesellen, Nicht begabt mit Krallen, mit des Raubtiers Zähnen — Meine K r a f t ist Gott und Gott allein ist Leben! ... Sah schon goldgemähnte Löwen niedersinken! Alles Fleisch ist Gras — und seine Kraft verwelket — Von dem Hauch des Herrn umwehet, muß sie weichen. 1 0

Doch in einem längeren und weit bedeutenderen Gedicht aus der späteren Zeit ist Bialiks Haltung ambivalenter. Die Toten der Wüste (eine Anspielung auf die Generation der alten Hebräer, die nicht das Land Israel erreichten und in der Wüste verbrannten) werden mit schlafenden Löwen verglichen. Ihre gewaltige Macht ist verborgen, solange ihr ewiger Schlaf ungestört ist. Doch von Zeit zu Zeit wird ihr Schlaf gestört. Das Gedicht beschreibt eine solche Episode der Rebellion gegen den Himmel. Die Toten der Wüste erklären: Wir sind die Helden! Der Knechtschaft letztes Geschlecht, das erste Geschlecht der Befreiung! Unsere A r m e Brachen das Joch von den Schultern entzwei! Wir erhoben zum Himmel das Haupt, er war uns zu enge, Flohn in die Wüstenei und koren die Ode zur Mutter. Uber den Häuptern der Felsen, zwischen getürmten Wolken Tranken wir Freiheit am Quell mit den Adlern des Himmels. Wer ist unser Herr?

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Chajim Nachman Bialik, „Die Toten der Wüste", in: ders., Ausgewählte Gedichte, übers, von Ernst Müller, Wien/Jerusalem/Leipzig 1935, 153. Bialik, „Al-saf bet ha-midrasch" („An der Schwelle des Bet-Hamidrasch"), in: ders., Ausgewählte Gedichte, a. a. O., 35 f.

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Jetzt noch, zwang uns der Rache Gott in den Kerker der Wüste, Kaum trifft uns der machtvolle Sang des Trotzes — stehen wir auf! Greifet Schwerter! Speere! Sammelt euch, tretet zu Scharen Wider des Himmels Grimm und Zorn! Auf laßt uns steigen Im Sturm! Und wenn uns ein Gott entzogen die Hand hat, Steigen wir ohne ihn! 11

Der Aufstand schlug fehl, und die Toten der Wüste kehrten zu ihrem früheren Zustand zurück. Es gab verschiedene Interpretationen dieses rätselhaften Gedichts. Die Rebellen gegen den Himmel wurden als säkulare Zionisten gedeutet, als unterdrückte Anti-Kultur-Instinkte oder allgemein als moderne Atheisten. Einige Kritiker bemerkten Nietzschesche Symbole und Ausdrücke. Das Gedicht drückt sehr deutlich eine grundlegende Ambivalenz gegenüber dem Aufstand und den Aufständischen aus. Doch was in die zionistische Erziehung eindrang, waren die sprachlichen Wendungen, die in der Episode verwendet wurden, und nicht das traurige Schicksal der Rebellen. Hebräische Schriftsteller priesen die Mannhaftigkeit und den Mut des kämpfenden Mannes und gaben diese Eigenschaften als Tugenden für den neuen Hebräer vor. Die eigentliche Anziehungskraft, die das Beiwort „hebräisch" im Gegensatz zu „jüdisch" hatte, lag in der Bedeutung der Diaspora-Periode als einer Zeit der Dekadenz im Vergleich zu der Mannhaftigkeit und Tapferkeit der biblischen Zeit. Verschiedene Nietzschesche Polaritäten (Verneinung / Bejahung des Lebens, Krankheit / Gesundheit) wurden bemüht, um eine neue Ära zu proklamieren, die die Dominanz der neuen jüdischen Werte und Tugenden und das Entstehen eines neuen hebräischen Menschen bezeugen sollte. Gleichzeitig kam unter den tiefgründigeren Denkern eine Ambivalenz gegenüber Nietzsche auf. Der Philosoph des amorfati und der ewigen Wiederkehr war für hebräische Autoren weit weniger anziehend als der Kritiker asketischer Ideale, der sich der Unterdrückung der Sinnlichkeit und der Verneinung des Lebens entgegenstellte. Als der Lyriker Jakob Cohen, ein militanter Hebraist und Zionist, die Metaphern und Phraseologie von Frischmanns Ubersetzung des Zaratbustra verwendete, um die Ankunft einer neuen heroischen Generation vorauszusagen, erwiderte ihm der Erzähler und Literaturkritiker Brenner in sarkastischem Ton. Er antwortete: Wollt ihr tatsächlich mit dieser pathetischen Waffe, einigen falsch zitierten Sätzen aus dem Zarathustra über den Weg in die Zukunft, ihr wenigen und Stolzen, die Zukunft erobern ... die hebräische Revolution machen, den Geist der Diaspora und alles, was aus ihr kommt, vernichten? 12 11 12

Ebd., 153 f. Josef Chajim Brenner,

Ktavim

(„Schriften"), Tel Aviv 1985, III 795.

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Brenners genaue Kenntnis des tieferen und problematischen Nietzsche wird noch deutlicher in seiner Antwort auf den Lyriker Schneur, der ein langes Gedicht geschrieben hatte, um die Herrlichkeiten des Krieges zu preisen und sich über die Friedensapotheose der Propheten lustig zu machen. Brenner vergleicht Schneur mit einem Dienstmädchen, das glücklich dabei ist, ein Soldatenbataillon auf seinem Weg in den Tod zu begleiten, und nennt ihn „einen militaristischen Journalisten, der den Rücken Nietzsches, aber nicht dessen Gesicht sah".13 Das Verständnis der enormen Wichtigkeit, die die Entdeckung Nietzsches für die hebräische Literatur hatte, und der Unfähigkeit seiner glühendsten Bewunderer, eine vollständig nietzscheanische Haltung gegenüber den Problemen, mit denen sie konfrontiert waren, einzunehmen, wird vielleicht am ehesten durch Analyse des Denkens von Micha Josef Berdyczewski (1865 — 1921) möglich. Im Rahmen dieses Aufsatzes können wir nur den Grundzug seines Denkens und das wesentliche Gegenargument verfolgen, das von Achad Haam (dem Pseudonym von Ascher Ginzberg) gegen ihn erhoben wurde. Die ursprüngliche Auseinandersetzung fand zwischen 1896 und 1910 statt. Nach dem Tod der beiden fuhrenden Köpfe der hebräischen Literatur-Elite (Achad Haam starb in Tel Aviv, Berdyczewski in Deutschland) setzten ihre Nachfolger die Debatte fort. In der Tat hallt sie noch immer hörbar in der jüdischen intellektuellen Welt nach. Während des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts hatte Berdyczewski in seinen Aufsätzen oftmals Schlagworte und längere Zitate aus Nietzsches Schriften verwendet.14 „Um einen Tempel zu bauen, muß ein anderer zerstört werden", wird am Anfang seiner Aufsatzsammlung zitiert, und er zitiert Nietzsches Diskussionen über die Verfälschungen, die die Priester an der jüdischen Geschichte angestellt hatten, (Paragraphen 25 — 26 des Antichrist) an zwei getrennten Stellen fast vollständig.15 Berdyczewski führt Nietzsches Ideen in Vom Nutzen und Nachtbeil der Historie für das Leben an, um seine Leser vor der paralysierenden Macht der jüdischen Vergangenheit zu warnen und das unbedingte Recht jedes modernen Juden hervorzuheben, die jüdische Tradition aus dem Blick seiner eigenen kulturellen Bedürfnisse heraus neu zu bewerten. Berdyczewski behauptete, daß „das Joch des Buches" den Juden verstümmele. Unter „dem Buch" verstand er den gesamten Komplex an Gesetzesliteratur von der Bibel über die Mischna, den Talmud bis zu all den späteren, sich übereinander häufenden Schichten exegetischer Literatur. Nach Berdyczewskis Meinung hielt dieses Geflecht die Juden von dem direkten Kontakt sowohl mit der Mitwelt als auch mit der Welt in ihnen selbst ab. Die jüdische Kultur war, wie er meinte, um das 13 14

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Ebd., IV 1646. Der Aufsatz wurde 1920 geschrieben. Berdyczewski, „Old Age and Youth" (hebr.), in: ders., Gesammelte Aufsätze, Tel Aviv 1960, 32. Der Aufsatz wurde 1896 geschrieben. Ebd., 48.

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Buch herum erstarrt. Sie konnte sich nicht entfalten, weil sie nicht die kreativen Möglichkeiten von Verneinung, Ablehnung, freier Wahl und Innovation anerkannt habe. Die jüdische Kultur habe neue Ideen nur dann akzeptieren können, wenn sie als Interpretationen alter und festgefügter Ideen vorgestellt wurden. Berdyczewskis Ruf nach Erneuerung war ein doppelter Protest. Zum einen war er ein Protest gegen die Unterwerfung der Gegenwart unter die Vergangenheit; zum anderen war er ein Protest gegen die Opferung des Individuums und seiner Bedürfnisse an den Kollektivgeist. Berdyczewski hatte keine Angst, daß die Befreiung des Individuums in einer Vernichtung der jüdischen Kollektivität enden würde. Im Gegenteil! Er war der Meinung, daß die Assimilation nur wegen der Enge und des monolithischen Charakters der jüdischen Kultur eine so große Anziehungskraft für viele Juden hatte. Achad Haam, Berdyczewskis Gegenspieler, betrachtete den Mangel an kultureller Einheit als eine Gefahr für das nationale Überleben in einer Zeit rapider Säkularisierung. Als ein Heilmittel für den inneren Pluralismus des modernen Judentums versuchte Achad Haam eine Minimal-Nationalphilosophie zu begründen, die sowohl für religiöse wie für säkulare Juden akzeptabel war. Sein Kulturzionismus entsprang demselben Quell. Er sah in der Schaffung eines Kulturzentrums im Lande Israel eine einigende Kraft, die die unterschiedlichen Richtungen abfangen würde. Berdyczewskis Haltung war genau entgegengesetzt: nur Pluralismus und sogar kultureller Individualismus, der eine ungehinderte Einverleibung jedweder europäischen Idee, jedweden für moderne Juden attraktiven Stils, Wertes oder Geschmacks in die jüdische Kultur bedeutete, könnten die jüdische Kultur aus ihrer inneren Stagnation befreien und die Abwanderung des besten Teils der jüdischen Jugend verhindern. Berdyczewski meinte, daß nur dann, wenn die Juden voll europäisiert würden, sie möglicherweise — gemeinsam mit den anderen Völkern — eine wahrhaft jüdische oder vielmehr hebräische Nation hervorbringen könnten. Die zionistische Idee lockte Berdyczewski daher aus kulturellen Gründen. Er glaubte, daß die Bedingungen des Exils verantwortlich waren für den übermäßig geistigen und repressiven Charakter orthodoxer jüdischer Kultur. Letzten Endes würde nur die Normalisierung der Lage der Juden, die zustande käme mit politisch-territorialer Existenz, die Erneuerung jüdischer Kultur erlauben. Es ist selbst aus dieser schematischen Darstellung heraus möglich, die Bereiche des Nietzscheschen Denkens namhaft zu machen, die für Berdyczewski von großer Bedeutung waren. Seine Wahl der Worte Schinui arachim („Eine Umwertung der Werte") als Titel seiner wichtigsten Aufsatzsammlung ist besonders bezeichnend. Berdyczewski hat nicht einfach die Verminderung und Unterdrükkung natürlicher Strebungen durch repressive Moral verurteilt. Er definierte neue Werte, und in nietzscheanischer Sprache pries er das Bedürfnis nach einem

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starken, Krieg führenden Individuum und geißelte den Geist, der Frieden mit sich, seinem Herrn oder seinem Nachbarn um jeden Preis sucht. 16 Berdyczewski betrachtete die Zeit des Exils als die Zeit jüdischen Niedergangs. Er nannte den Geist der Sanftmut, der unter den Juden dieser Zeit herrschte, „den Geist von Jabne". 17 Die orthodoxe Tradition lobte den im ersten Jahrhundert lebenden Schriftgelehrten Jochanan ben Sakkai dafür, daß er politische Unterwerfung als Preis für die um Jabne konzentrierte religiöse Autonomie in Kauf nahm, indem er die Aufständischen anzeigte, die gegen Rom für politische Souveränität der Juden gekämpft hatten. Moderne Historiker wie Graetz sahen Jabne als einen Beweis für die idealistische Natur des Judentums, das geistige Werte und innere Freiheit politischer Freiheit vorzieht. Berdyczewski war der erste jüdische Denker, der den Geist von Jabne verurteilte und der in unzweideutiger Weise den Mut und die Entschlossenheit der Aufständischen lobte. Viele sind ihm in diesem dramatischen Akt der Umwertung gefolgt. Und tatsächlich war dies Berdyczewskis bedeutendster Beitrag zu den neuen Monumentalgeschichten der Juden, die zionistische Historiker beschrieben und in denen die Aufständischen gegen Rom in inspirierende Denkmäler jüdischen Mutes umgedeutet wurden. Für Berdyczewski jedoch war diese spezifische Umwertung nur ein Detail in der Total-Genealogie traditioneller religiöser Kultur der Juden, mit deren Beschreibung er sich beschäftigte. Er hielt die dieser Kultur zugeschriebene monolithische Vergangenheit für eine Fassade, die von der rabbinischen Interpretationsgeschichte geschaffen wurde. Die rabbinische Autorität hatte ihr Bestes getan, um nicht nur gegensätzliche Tendenzen, sondern auch andere nichthalachische, sei es mystische, sei es philosophische, Lebenstriebe zu verheimlichen. Die Einheit und der Zusammenhalt nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 waren, so glaubte Berdyczewski, zwar echt, waren aber das Resultat von Unterdrückung. So seien die besten jüdischen Köpfe und schöpferischen Geister, Menschen wie Spinoza und Heine, durch die Enge der Ghetto-Kultur dazu getrieben worden, das jüdische Volk zu verlassen. Nach 16

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Ebd., 20: „Man hat uns gesagt: der Mensch soll Frieden lieben und immer Frieden suchen. Er soll in Frieden mit dem Himmel und mit anderen Menschen sein ... und ich sage euch: ihr sollt niemals den halben Weg gehen. Niemals Kompromiß ... der Mensch soll jedes Hindernis und jede Behinderung aus seinem Weg entfernen." Der „Geist von Jabne" ist eine Anspielung auf eine talmudische Legende über den Beginn des rabbinischen Judentums. Jabne war eine der verschiedenen Schulen, in denen sich die Verfasser der Mischna und später des Talmud mit der Erklärung des biblischen Gesetzes befaßten. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels wurde, wie es heißt, Rabbi Jochanan ben Sakkai, dem führenden Kopf unter den Weisen, die sich dem Aufstand gegen Rom im ersten Jahrhundert widersetzten, von Kaiser Vespasian eine Bitte gewährt. Jochanans Bitte „Gib mir Jabne und seine Weisen" wurde zum Symbol für die Bereitschaft der Juden, politische Abhängigkeit in Kauf zu nehmen, sofern damit die Gewährung geistiger und religiöser Autonomie verbunden ist.

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Berdyczewski war es der rabbinischen Autorität gelungen, der jüdischen Geschichte und der Psychologie des einzelnen Juden eine einheitliche Struktur aufzudrücken. Daher war die Befreiung des Geistes des Individualismus durch freien Kontakt mit Europa Voraussetzung für eine nationale Kulturerneuerung. Im Gegensatz dazu sah der Kulturzionist Achad Haam die Jabne-Geschichte in einem günstigeren Licht. Er betrachtete Jochanans Bitte als einen Ausdruck von Schläue des jüdischen Überlebensinstinkts. Der von rabbinischen Weisen aufgerichtete Bau talmudischer Kultur hielt die nationale Existenz der Juden nach dem Verlust der politischen Freiheit im Jahre 70 n. Chr. und der darauf folgenden Zeit des Exils am Leben. Achad Haam war sich der Wirkung wohl bewußt, die Nietzsche auf die jüngere Generation von Schriftstellern und Lesern ausübte. Er hatte ein Empfinden für den machtvollen Befreiungston, den Berdyczewski aus Nietzsches Umwertung aller Werte entnahm und in die Diskussion über die Lage des modernen Juden warf. Doch seine Vorstellung über die Art und Weise, in der eine Modernisierung jüdischer Kultur erfolgen sollte, war der von Berdyczewski diametral entgegengesetzt. Achad Haam glaubte an Entwicklungsprozesse und an den organischen, einheitlichen Charakter aller nationalen Kulturen. Er trat für Offenheit gegenüber Europa ein, sagte aber voraus, daß der Geist des Volkes nur die Elemente aus der europäischen (d. h. allgemeinen) Kultur auslesen würde, die er seinen eigenen Strukturen assimilieren könnte. Beeinflußt von der Sprachphilosophie der britischen Empiristen (vor allem von John Stuart Mill), glaubte Achad Haam, daß der Inhalt menschlicher Erfahrung (d. h. die vorsprachlichen Bilder und Vorstellungen, die Worte ausdrücken) allgemein sei. Doch ihre Form, der Ausdruck dieser Erfahrungen in den einzelnen Sprachen, sei geprägt von der Geschichte der einzelnen Völker und sei daher national. Deswegen bedeutete für ihn Europäisierung die Absorption der europäischen Vorstellungen und Werte, die eine spezifisch jüdische Form annehmen könnten. Achad Haam unterschied zwischen dem allgemeinen Inhalt von Nietzsches Philosophie und ihrer besonderen geschichtlichen und nationalen Form. Er meinte, daß der allgemeine Kern des Nietzscheschen Denkens die Idee war, daß menschlicher Fortschritt eher an den Erfolgen großer Individuen als an den Verhältnissen und der Lage der Menge gemessen werden sollte. Er glaubte, daß diese Idee der jüdischen Kultur einverleibt werden könnte, wenn die individuellen Anstrengungen auf die Verfolgung von Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtet wären. 18 Juden, meinte er, würden immer den höchsten Wert eher ratio18

Achad Haam [Ascher Ginzberg], „Umwertung aller Werte", in: ders., Am Scheidewege (Gesammelte Aufsätze), 2 Bde., Berlin 1923, Bd. 2, 1 1 6 - 1 3 9 . Der Aufsatz wurde 1898 geschrieben. Die hebräische Fassung findet sich in: Achad Haam, Gesammelte Werke, Tel Aviv 1959, 1 5 4 - 1 5 8 .

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nalem Denken und strikter Moralität zuschreiben als dem Herausragen im Künsderischen und Physischen. Ohne Zweifel kann Achad Haams Konzept einer Nationalkultur nicht innerhalb der Opposition von allgemeinem Inhalt und nationaler Form aufrecht gehalten werden. Nicht die Form des Nietzscheschen Denkens, sondern einige von Nietzsches zentralen Ideen konnte Achad Haam nicht anerkennen. Aber die Tatsache selbst, daß er Nietzsche für die Darstellung seiner persönlichen Meinung über kulturelle Assimilation wählte, macht die einzigartige Rolle deutlich, die Nietzsche für die hebräischen Schriftsteller des russischen Zarenreichs spielte. Sowohl der Lehrer Achad Haam als auch der Schüler Bialik empfingen ihr Nietzsche-Bild aus sekundären Quellen. Berdyczewski und Brenner dagegen lasen Nietzsche direkt und kannten ihn besser. Sie hatten ihn daher nie als einen naiven Feind des Geistes und als einen Fürsprecher brutaler Gewalt betrachtet. Brenner radikalisierte Berdyczewskis und Nietzsches genealogisches Mißtrauen in die traditionellen jüdischen Werte, indem er 1920 für eine bewaffnete Selbstverteidigung in Palästina eintrat und mit einem von Tolstoi geprägten Pionier stritt, der eine gewaltfreie Erwiderung auf die arabischen Uberfälle dieser Zeit vorschlug: „Natürlich gibt es eine Ebene, die oberhalb des Militarismus ist. Aber es gibt auch eine Ebene, die unterhalb des Militarismus ist." 19 So merkte Brenner sarkastisch an, daß der wohlbekannte Abscheu der Juden vor Blutvergießen mehr aus gewohnter Feigheit als aus freier moralischer Entscheidung herrühre. Aber zugleich verurteilte er reinen Militarismus mit einem klaren Verweis auf einen Kulturzustand, der darüber hinaus ist und wo eine Armee nicht mehr nötig wäre. Berdyczewski und Brenner äußerten deutlich, wenn auch oft in einer hochprovokativen militanten Sprache, die auch von anderen modernen Juden geteilte Vermutung, daß der Ursprung der traditionellen Verachtung der Juden für körperliche Arbeit und für militärische Werte tatsächliches Unvermögen auf beiden Gebieten war. Sie beschuldigten jüdische Ideologen, Machtlosigkeit zu einer Tugend gemacht zu haben. Berdyczewski und Brenner benutzten die Nietzschesche Sprache, um die Juden immer wieder auf eine nationale Einheit zu drängen, die zu Gutem wie zu Schlechtem fähig wäre. 20 Gerade hierin ist die Stärke von Nietzsches Wirkung nicht nur in der hebräischen Literatur, sondern auch im Zionismus und allgemein in der modernen 19

20

Brenner, Ktavim, a. a. Ο., IV, 1639. Der Aufsatz wurde 1920 geschrieben, als jüdische Pioniere zum ersten Mal die Organisation von nationalen Verteidigungsstreitkräften in Erwägung zogen. Berdyczewski gebrauchte verschiedene Wendungen, um diese Idee auszudrücken. Eine davon war: „Man sagt uns, wir seien ein heiliges Volk [...] aber ein geschlagenes, gedemütigtes, verfolgtes Volk kann nicht heilig sein [...] Ein heiliges Volk muß auch eine existierende Nation sein",

Gesammelte Aufsätze, a. a. O., 21.

Nietzsches Einfluß auf hebräische Schriftsteller des russischen Zarenreichs

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jüdischen Geschichte fühlbar. Doch an demselben Punkt gewahren wir auch die Grenzen von Nietzsches Einfluß. Sowohl Berdyczewski wie Brenner hatten einen tiefen Glauben daran, daß eine moderne jüdische Nation, ist sie erst einmal erschaffen, in ihrem politischen Verhalten und ihrer allgemeinen Kultur bestimmte Qualitäten offenbaren würde, die traditionell dem jüdischen Geist zugeschrieben werden. Keiner von beiden konnte Nietzsches Umwertung aller Werte als eine Antwort auf letzte moralische Probleme hinnehmen. Diese Ablehnung von Nietzsches positiver Philosophie ist einfach zu verstehen, wenn wir in Erinnerung rufen, daß Nietzsches revolutionäre Werte die Bedeutung hatten, das Leben von einsamen Philosophen zu lenken, die sich über allgemeine Bedürfnisse und Nöte hinwegsetzen. Die hebräischen Schriftsteller des fiti de siecle jedoch suchten nach neuen Werten für ihr gesamtes Publikum, Werten, deren Ziel war, die jüngere Generation eines ganzen Volkes zu stärken und aufzuklären. Sie konnten schwerlich dieses Publikum spöttisch als die blinden, Ignoranten Massen oder als die Herde behandeln. Daher konnten Nietzsches Kritik der asketischen Ideale, seine Opposition gegen die Unterdrückung von Sinnlichkeit und gegen die Verneinung des Lebens Eindruck auf sie machen, während sie mit der Ausnahme Brenners kein Interesse hatten an seiner Verherrlichung des Fatalismus. Der Triumph des Ubermenschen über die Zwecklosigkeit des Daseins und die ewige Wiederkehr des Gleichen im Sinne des amor fati konnten kaum eine Generation beeindrucken, die hohe Erwartungen an die nächste Zukunft hatte — nicht nur für sich selbst, sondern für das gesamte jüdische Volk. Aus demselben Grunde ging Nietzsches allgemeiner Einfluß mit romantischen Wertschätzungen von Natur und Natürlichkeit konform, die in die hebräische Literatur mehr oder minder gleichzeitig eindrangen. In der hebräischen Lyrik ζ. B. ist es teilweise schwierig, den Einfluß Nietzsches von dem des Schellingschen Naturmystizismus zu trennen. Der neue hebräische Mensch, den jüdische Kritiker und Schriftsteller und später politische Zionisten vor Augen hatten, war nietzscheanisch bis zu dem Grade, wo Mut, physisches Wohlbefinden und Mannhaftigkeit auf- und alle Formen von Jenseitsgerichtetheit abgewertet waren. Doch der neue Hebräer war weit davon entfernt, ein Nietzschescher Übermensch zu sein. Dazu entschlossen, an einen Fortschritt zu glauben, verachtete er nicht die Massen, noch kultivierte er aristokratische Geschmacks- und Stilrichtungen, noch akzeptierte er die Bedeutungslosigkeit aller menschlichen Geschichte mit stoischer Gelassenheit. Berdyczewskis Werk ist voll von dieser Mischung aus Nietzscheschen und romantischen Motiven. Obwohl er sich gegen das „Joch der [religiösen] Tradition" auflehnte und vorschlug, alle Werte der Vergangenheit im Sinne ihrer Bedeutsamkeit für die „Bedürfnisse des Lebens und der Gegenwart" umzuwerten, war Berdyczewskis Methode alles andere als in jeder Hinsicht nietzschean-

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isch. Er war nicht zufrieden mit Nietzsches Beschreibung der jüdischen Geschichte. Berdyczewski stimmte mit Nietzsche darin überein, daß die Wende, die die jüdische Religion zunächst mit den Propheten und später mit der Zerstörung des Zweiten Tempels von einem nationalen Kriegs- und Eroberergott zu einem moralischen und persönlichen Gott genommen hatte, einen Niedergang jüdischer Vitalität bedeutete. Aber in ganz unnietzschescher Art glaubte Berdyczewski, daß der frühere Stammesgott ebenso einen Niedergang vitaler Macht darstellte, verglichen mit den alten Göttern der Täler und Berge, die von den Israeliten vor der Offenbarung auf dem Berg Sinai angebetet wurden. Diese Verklärung prä- und außerkultureller Natur zeigt den Einfluß romantischer Ideen auf Berdyczewskis Denken. In die gleiche Richtung geht seine Prophezeiung, daß die Seele des gegenwärtigen Menschen immer zwischen den Verlockungen der Moderne und den Zaubern der Vergangenheit hin und her gerissen werde. Nach Berdyczewskis Ansicht könnte es niemals eine vollständige und absolute Uberwindung traditioneller Werte geben. Berdyczewskis Schüler Brenner war sich noch weit mehr der Schwierigkeiten bewußt, denen der moderne Jude gegenüberstand, der zum einen sich so viel wie möglich von Nietzsches moralischem Erbe einverleiben und zum anderen an der nationalen jüdischen Erneuerung teilhaben wollte. Brenner bewies ein tiefes, von keinem anderen jüdischen Intellektuellen geteiltes Verständnis der tragischen Aspekte von Nietzsches Philosophie: des Perspektivismus, des rationalen und moralischen Relativismus, der Fiktionalität aller definitiven Interpretationen über das Schicksal des Menschen. Brenner akzeptierte voll diese Aspekte moderner Philosophie. In einem seiner Aufsätze nannte er Nietzsche „den Genius arischer Kultur". 21 Er bewunderte den Mut, mit dem Nietzsche über den Tod Gottes handelte, und seine Bereitschaft, die damit einhergehenden und unbarmherzigen Konsequenzen anzuerkennen. Doch die Art, in der Nietzschesche Themen in Brenners Erzählungen behandelt werden, zeigt die grundlegende Ambivalenz ihnen gegenüber. Zumindest vier von seinen Erzählungen 22 , die allesamt der Beschreibung der russischjüdischen Intelligenz zur Jahrhundertwende gewidmet sind, bedienen das gleiche Muster. Der Protagonist und der Antagonist sind von derselben Frau angezogen. Dem Helden, der in Wirklichkeit ein Antiheld ist, fehlt das Vertrauen in seine Macht, die Aufmerksamkeit der jungen Heldin auf sich zu lenken. Er glaubt, daß die Wirkung, die er auf sie macht, nicht ernst genug ist, und zweifelt daran, ob sein Verhältnis zu ihr von Dauer bleibt. Der Antagonist dagegen findet nicht viel dabei, mit der Heldin zu flirten und ihr das Herz zu stehlen. Der übermäßig nachsinnende und gehemmte Held ist augenscheinlich eifersüch21 22

Brenner, Ktavim, a. a. Ο., III, 657. Der Aufsatz wurde 1 9 1 2 geschrieben. Vgl. Anm. 5.

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tig auf den Erfolg des anderen, vor allem auf seine Spontaneität und seinen fast gänzlichen Mangel an Reflexion. Der Protagonist führt in Gedanken eine Diskussion, in der der Antagonist zu ihm über das Recht starker Naturen predigt, seine Sklavenmoral verachtet und eine ungehinderte Aufgabe an die Forderungen aller leitenden Instinkte verficht. Der Protagonist erwidert auf diese Forderungen mit der gleichen ideologischen Sprache und erkennt die Notwendigkeit, nach den herrschenden Instinkten zu handeln, an. Doch für ihn ist der einzige Herrschaftskandidat der moralische Instinkt. Es hat keinen Sinn, den Protagonisten zu tadeln, weil beide Charaktere, der starke und der schwache, nur einen begrenzten Blick auf die Realität haben. Jeder sieht das Leben aus den ihm innewohnenden Grenzen seiner eigenen Perspektive. Daher kann keiner von beiden Überlegenheit für sich und seine Werte beanspruchen; jeder muß sein Schicksal akzeptieren. Das Urteil des Starken hat nicht mehr Wert als das Urteil des Schwachen; es mag tatsächlich so sein, daß der Starke nur oberflächlich betrachtet stärker als andere ist. 23 Diese paradoxe Umkehr von „stark" und „schwach" zeigt auch Nietzsches Diskussion dieser Begriffe, am offensichtlichsten in der Genealogie der Moral. Diese Figuren vertreten zweifellos vergröberte Versionen von Nietzsche. Es ist der seichte Nietzscheanismus, wie er in ihrer Zeit in Mode gekommen ist. Aber es ist offenbar, daß in der Ablehnung der imaginären Verfechtung des Starken Brenners jüdischer Antiheld die Grenzen der Nietzscheschen Elemente definiert, die er absorbieren kann. Der Konflikt kann einfach beschrieben werden als ein Konflikt von Kulturidealen: der Protagonist ist immer ein typischer Jude (ζ. B. in der Erzählung Mi-savivla-nekuda [„Rings um den Punkt"] wird er Jakob genannt, der Sohn von Isaak Abramsohn), während der Antagonist ein assimilierter Jude oder ein Russe ist. Der Umstand, daß die nietzscheanischen Charaktere immer Assimilierte sind, ist sehr bezeichnend. Sie verkörpern Brenners Standpunkt, daß ein extremer Individualist, der ernsthaft nur an der Kultivierung seiner eigenen Person interessiert ist und der gänzlich pessimistisch oder nihilistisch ist, was die Verbesserung der Lage der Massen betrifft, sich assimilieren wird. Warum sollte solch ein Mensch seinen kranken und armen Brüdern treu bleiben? Was für einen positiven Wert kann er mit jüdischer Solidarität verbinden? Gegen Ende seiner Analyse nähert sich Brenner augenscheinlich Achad Haam an — in dem Glauben, daß ein Jude unabhängig davon, in welchem Maße er Nietzsche bewundern mag, Nietzsches neue Werte letztlich nicht mit denen identifizieren kann, nach denen er wirklich lebt. 23

Vgl. Brenner, Verlust und Scheitern, in der englischen Übersetzung (Breakdown and Bereavement) von Hillel Η alkin, Philadelphia 1971, 1 5 9 - 1 6 5 . Die Erzählung wurde zwischen 1914 und 1916 geschrieben und 1918 veröffentlicht.

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Der wichtigste Punkt, den man im Blick haben muß, wenn man über Nietzsches Wirkung redet, ist, daß die hier angeführten Schriftsteller in der Tat mit einer gehörigen Anzahl Nietzschescher Ideen experimentierten, mit Ideen, die sich beziehen auf die Herkunft und Funktion asketischer Ideale, auf den dionysischen Ursprung der Tragödie, auf die illusionistische Natur apollinischer Kunst, die Instinkt-Anarchie modernen Empfindens und auf das konsequente Bedürfnis nach Stil, Form und herrschendem Instinkt. Diese Ideen trugen dazu bei, bei den Schriftstellern ein besseres Verständnis ihrer selbst und ihrer Kunst zu entwickeln. Sie trugen auch dazu bei, ihr kritisches Verhältnis zur jüdischen Tradition zu verschärfen. Nietzsche schärfte das Empfinden dieser Schriftsteller für die elende äußere Lage des Juden und für die Spannung zwischen dem theoretisch überlegenen Anspruch der Juden — der Mission an die Völker — und der Realität der jüdischen Existenz. Sein Einfluß drängte sie, den Anspruch aufzugeben und danach zu trachten, eine wirkliche Existenz wieder herzustellen. Sie hielten diese Wiederherstellung für die endgültige Probe dafür, ob die vitalen und kreativen Kräfte im jüdischen Volk überleben würden oder nicht. Nietzsches Schlagworte und Bilder paßten völlig zu ihrem Verlangen nach einer Kulturrevolution, die zu nationaler Erneuerung führen sollte. Doch dieselben hebräischen Schriftsteller konnten nicht Nietzsches System in seiner Gesamtheit billigen. Es war weit mehr das Erregende seiner Person, was sie in Besitz nahm, als der systematische innere Zusammenhang seiner Ideen. Was die Fragen betrifft, die über das allgemeine Gefühl der Notwendigkeit einer kulturellen Erneuerung hinausgingen, bestand die größte Wirkung Nietzsches in der Stärkung eines scharfen Bewußtseins einer tiefen Krise — des Rückgangs traditioneller Werte und Bestrebungen —, weniger darin, eine Antwort auf das Problem anzubieten.

Zuerst veröffentlicht in: Bernice Glatzer-Rosenthal (Hrsg.), Nietzsche and Soviet Culture. Adversary and Ally, Cambridge 1994, 393—413. Mit freundlicher Genehmigung des Autors übersetzt von Wolfgang Schneider und Werner Stegmaier.

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Neue Tafeln Nietzsche und die jüdische Counter-History1 1. Der Nietzsche-Impuls der Jahrhundertwende A. 1900, am 25. August, starb Nietzsche in Weimar. In der jüdischen Presse erschien eine ganze Reihe von Nachrufen. Der Religionsphilosoph David Neumark (1866-1924) faßte am 9. November 1900 in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums"2 zusammen: Einige „überspannte Rabbiner glaubten sich und ihrem Stande schuldig zu sein, heißblütige Tiraden über Nietzsche zu deklamieren. Dem einen ist die Phantasie durchgegangen — Nietzsche ist ein Prophet! —, dem andern der Verstand — Nietzsche ist ein Lehrer Israels — [...] Rabbiner dürfen doch nicht hysterisch sein." Doch nachdem Neumark die „talmudistischen Nietzschebummler" abgetan hat, kommt er auf die hebräischen Artikel eines „Jünger(s) Nietzsches", Micha Josef Berdyczewski (alias Micha Josef BinGorion 1865 —1921)3, zu sprechen, die 1900 gesammelt im Verlag der „Jungen" (geinm) herausgekommen sind. Die Artikel, die später unter dem prägnanten Titel „Umwertung der Werte" (schinuj arachin) erscheinen,4 gehören in den Zu1

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Zum Begriff der „Counter-History" vgl. David Biale, Gershom Schalem, Kabbalah and CounterHistory, Cambridge (Mass.)/London 1979, 21982. Seltsamerweise fehlen in der zweiten Edition des Buches just die entscheidenden Kapitel zum Begriff der „Counter-History": Kap. 2, Revision and Revolution, 3 3 - 5 1 , und Kap. 9, Counter-History, 189-205. Ders., Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986, 136-141, 147. Dieses Buch ist Arnos Funkenstein gewidmet, auf dessen Kritik des Begriffs der „Counter-History" wir abschließend zurückkommen. David Neumark, Jüdische Moderne, in: AZJ 64 (1900) Nr. 45, Sp. 536, 2 - 5 3 8 , 1. Über Neumarks Ansicht zu Nietzsche und das Judentum vgl. Bruce E. Ellerin, Nietzsche et les sionistes: tableau d'une reception, in: Dominique Bourel, Jacques le Rider (Hrsg.): De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et le judaisme. Les intellectueb juijs et Nietzsche, Paris 1991, 118. Auf David Neumarks aufklärerische Stellung zur Wiedergeburt des jüdischen Mythos, die ein wichtiges Motiv des jüdischen Nietzscheanismus ist, kommen wir weiter unten (2. E) zurück. Zu Leben und Werk Berdyczewskis vgl. Shalom Spiegel, Hebrew Reborn, London '1931, 2 1957 (erweitert), Philadelphia 1962, 332-370. Jeshurun Keshet, M.J. Berdyczewski, Sein Leben und sein Werk (hebr.), Jerusalem 1958. Zum Einfluß Nietzsches vgl. Alisa Klausner-Eschkol, Der Einfluß von Nietzsche und Schopenhauer auf M. J. Bin-Gorion (Berdyczewski) (hebr.), Tel Aviv 1954, 17 — 98. In: Micha Josef Bin-Gorion, Kol maamarim („Sämtliche Artikel"), Sämtliche Werke, (hebr.), Tel Aviv 1960, 29. Dieser neben anderen Artikeln in engl. Ubersetzung in: Arthur Hertzberg, The Zionist Idea. A Historical Analysis and Reader, New York ,3 1981, 292-295. Vgl. Menahem Brinker, in diesem Band.

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sammenhang einer Kontroverse mit Achad Haam (alias Ascher Ginzberg 1856 — 1927) über das Literaturproblem in der zionistischen Kulturrevolution, einer Kontroverse, die seit 1896 im Geburtsjahr des politischen Zionismus in hebräischen Periodica ausgetragen wurde. 1898 hatte Achad Haam „unsere Nietzscheaner" in seinem ebenfalls Umwertung der Werte (Schinui haarachin) betitelten Aufsatz angegriffen und den Begriff „Jüdischer Nietzscheanismus" (nitscheanismus jehudt) geprägt. 5 In einem von Achad Haam kritisierten Artikel Berdyczewskis, einer Art Manifest der „Junghebräer", Zerstörung und Aufbau (Setira uwinjati), heißt es ζ. B.: „Sein oder Nichtsein, die letzten Juden oder die ersten Hebräer sein" [hejot ο chidalon! lihjot hajehudim haacharonim ο imim rischonim)·, zum Zweck „der Wiederauferstehung des Volkes (el tchijat haam) können wir nicht einmal gegen die Traditionen dieses Volkes nachsichtig sein"; die Auferstehung ist „unmöglich, außer durch eine vollständige Umwälzung ( h a ß c h a t hakeara a l f i i h a 6 ) , d. h. — durch eine Umwertung der Werte ( b e s c h i n u j - h a a r a c h i m ) , die für unser Leben bisher als Maßstäbe dienten"; schließlich die Verheißung: „diese Umwertung ist wie ein sprudelnder Quell, er belebt alles wieder, was in uns ist." 7 Derartige revolutionäre Losungen, die einen radikalen Bruch mit der jüdischen Tradition fordern, fanden vor allem bei radikalen jüdischen Studenten aus Rußland Gehör. Diese konnten sich angesichts des reaktionären Bündnisses von Thron und Altar im russischen Reich weder mit dem optimistischen Evolutionismus Achad Haams, der in bezug auf die Tradition lediglich eine nationalistische Verschiebung des Interesses (schinuj hamerkas) empfahl, noch mit der in bezug auf die Tradition gleichgültigen Trennung von Politik und Religion Herzls zufriedengeben. 8 Was David Neumark an den Artikeln aber vor allem beein5

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Der Aufsatz erschien erstmals in der von Achad Haam herausgegebenen hebräischen Zeitschrift Haschiloach 4 (5658) 2, sub voce Tagesfragen IV. Vgl. Kol kitwei achad haam, Jerusalem 1947, 154—159; Achad Haam, Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, übersetzt von Harry Torczyner, Bd. 2, Berlin 1923, 1 1 6 - 1 3 9 . Ein rabbinischer Ausdruck, der bedeutet „die Vorsehung herausfordern", „häretische Behauptungen aufstellen". Es können aus diesem Essay noch viele Formeln gleichen Schlages angeführt werden, ζ. B.: „Wir sind die letzten Juden oder die ersten eines neuen Volkes" (Jehudtm acharonim am ο rischonim legoj chadasch); „das traditionelle Credo (ani maamin) ist für uns nicht mehr genug"; .Jüdische Wissenschaft, jüdische Religion sind nur verschiedene Teile [...] Aber das Volk Israel kommt vor ihnen, ,Israel kommt vor der Tora'" (chochmat-jisraei\ dat jisrael rak chalakim schonim hem, aval am jisrael kodem lahem, jisrael kodem leorajta' - Letzteres ist ein Zitat aus Tana Dewe Elijahu 14, das von Nationalisten oft ins Feld geführt wird); die Auferstehung Israels (tchyat-jisrael) hängt davon ab, „daß die Juden vor dem Judentum, der lebendige Mensch vor dem Erbe der Vorfahren kommt." (mischpat hahechora lajehudim al hajahdut — haadam hachaj kodem lenachalat awotaw)\ „Wir sind die Söhne und Enkel der früheren Generationen, aber nicht ihre Särge" (anu banim uwne wanim schel hadorot schelefanenu, aval lo aronot schelahem). Vgl. Ehud Luz, Parallels Meet, Religion and Nationalism in the Early Zionist Movement (1882— 1904), (1985), übersetzt von L.J. Schramm, Philadelphia/New York/Jerusalem 1988, 85 ff., 1 5 9 - 1 9 0 . Zur evolutionistischen Historiosophie Achad Haams vgl. Salomon Schiller, „Achad-Haam als Historiosoph", in: Die Welt 5 (1901) 42, 9 f , 43, 6 f., 45, 7 ff.

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druckte, war die radikale Abrechnung mit der gesamten jüdischen Geschichte, eine „Kritik der jüdischen Geschichte", wie sie „einschneidender und tiefer nie vorher versucht wurde". Neumark zitiert einige von Berdyczewskis historischen Urteilen. Die „Sikarier", die Jerusalem gegen die Römer hielten, stellt er als Patrioten und R. Jochanan ben Sakkai, der sich aus der belagerten Stadt herausschmuggeln ließ, um in Jawne ein Lehrhaus — und damit das rabbinische Judentum — zu begründen, als Verräter dar; das allgemein verabscheute Scheusal Herodes wird als Machtpolitiker den frommen Memmen Esra und Nechemia vorgezogen usw. Es gibt in der Tat kaum eine Gegenpartei, die Berdyczewski in seinem Werk nicht ergriffen, kaum ein herrschendes historisches Urteil, das er nicht einer Revision unterzogen hätte. Die Liste seiner Plädoyers und Ehrenrettungen ist lang. Er verteidigt, um nur einige zu nennen, die Propheten und Schriften (Nemim, Ketuwini) gegen die Bevorzugung der fünf Bücher Mose (Tora), die zehn Stämme Israels gegen den Stamm Juda, die Könige gegen die Propheten, die Zeloten gegen die Pharisäer, selbstverständlich auch Uriel Acosta und Spinoza gegen die Rabbinen und Gemeindevorstände von Amsterdam, die Chassidim gegen die Mitnaggdim usw. Die Counter-History des „Verkünders" Nietzsche in der hebräischen Literatur ist eine totale Eversion des traditionellen Geschichtsbildes aufgrund einer radikalen Umkehrung der jüdischen Werte. B. 1900 erschien der zweite Band der „Visionen und Melodien" (chesjonot umanginot) von Saul Tschernichowsky. Er stand nach dem Zeugnis seines Freundes und Biographen Josef Klausner in dieser Zeit unter dem Einfluß Berdyczewskis und Nietzsches.9 Mit den Gedichten, die er in der Jahrhundertwende als Medizinstudent in Heidelberg verfaßte, wurde er zum Psalmisten der nietzscheanischen Counter-History. In seiner Autobiographie bekennt Saul Tschernichowsky seine Abneigung gegen den biblischen Psalmisten David, der wie viele andere biblische Helden in der Tradition trotz seiner Untaten als „heilig und gut" gelte; er sei, nomen est omen, immer auf der Seite von Saul gewesen. 10 Aber Tschernichowsky geht es nicht nur um die Neubewertung schlecht behandelter biblischer Personen, sondern um die des biblischen Gottes selber. Jeder Schüler in Israel kennt das Gedicht Lenochach pessel apollo („Vor der Statue Apollos", 1899) n . Die Rebellion wider das Judentum, die in diesem Gedicht zum Ausdruck kommt, hat nach einem Jahrhundert eher noch an Schärfe gewonnen. Der Apollo Tschernichowskys ist nicht der „Apollogott" des „großen Heiden 9 10

n

Josef Klausner, Schaut Tschernichowsky, Der Mensch und der Dichter (hebr.), Jerusalem 1947, 71. „Autobiographie", in: Haschiloach 35 (1918) 9 7 - 1 0 3 , zit. in: David C.Jacobson: Modern Midrash, The Retelling of Traditional Jewish Narratives by Twentieth Century Hebrew Writers, New York 1987, 91. Wir zitieren nach der Gesamtausgabe der Gedichte, Schocken-Verlag, Tel-Aviv 1953, 72 — 74. Dieser Text liegt in mehreren engl. Ubersetzungen vor. Vgl. Eisig Silberschlag, Saul Tschernichowsky. Poet of Revolt, with translations by Sholom J. Kahn and others, Ithaca New York 1968, 97 f.

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Nr. II", des „weinlaubumkränzten Dionysus", der „Apollogott" Heinrich Heines, der sich als „Rabbi Faibusch" entpuppt; es ist übrigens auch nicht ganz Nietzsches Apollo; es ist ein lebenstrunkener und lebensfroher (scbchur schefa hachajim) Dionysos und junger, schöner, lichter Apollo zugleich — im Gegensatz zum alten Gott des alten Volkes {saken haam - elohaw saknu imof). Der jüdische Dichter, der sich aus dem „Schmerzenshause" {bet hakoamm), aus der „ewigen Agonie" {gssissa ledorol), aus den Fesseln der Tradition befreit hat, wirft sich reuevoll vor dem Bild Apollos nieder und klagt, daß die „Rebellen wider das Leben" {morde hachajim) seinen allmächtigen Gott des Lebens, den entfesselten Gott des Sturmes und des Krieges, den biblischen schaddai mit den „Riemen der Tfillin gefesselt" (wajaassruhu wir^uot sehel tßiin) hätten — vielleicht Tschernichowskys berühmtester Vers. Nach zweitausend Jahren Triumph über den Götzendienst kniet der Dichter vor dem Götzenbild und singt in der Sprache der Psalmen den Lobpreis der heidnischen Götter Griechenlands und Kanaans. Ein blasphemischeres Kontrafakt ist schwer vorstellbar. Es gibt kaum einen falschen Propheten und keinen Götzendienst des alten Israel, den Tschernichowsky in seiner Dichtung nicht rehabilitiert hätte. Er verteidigt die „falschen Propheten", die in Wirklichkeit die Lebensbejahung und Lebensfreude gepredigt, gegen die „wahren Propheten", die das Volk der Sklaverei des Gesetzes und des Rituals unterworfen hätten; 12 er verteidigt die Götter des semitischen Mythos und Ritus: die Klagweiber des Tammus im Tempel 13 und die Sonnenanbeter 14 gegen den Propheten Ezechiel (8, 14.16), den Kult der Aschera usw. Dabei kommt er öfter auf den Entscheidungskampf zwischen dem Propheten Elia und den Propheten Baals auf dem Karmel — ein Emblem des jüdischen Nietzscheanismus — zurück. Counter-History drückt sich bei ihm im frontalen Angriff auf den Wertund Gesetzgeber, auf den Gott der Propheten, aus. C. 1900 war auch sonst das Jahr des jüdischen Nietzscheanismus. David Frischmann, ein führender Kritiker der neuhebräischen Literatur, übersetzte im biblischen Stil Also sprach Zarathustra^ 5 und machte Nietzsches Zarathustra buchstäblich zu einem der Propheten. Zarathustras Ruf „Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln", 16 der in seiner Ubersetzung schibru, schibru na Ii et haluchot hajeschanim und auf Jiddisch gebrecht di alte luches17 lautet, wurde zum Schlachtruf 12

13 14 15

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Mechesjonot nem-hascheker („Aus den Weissaggungen der Lügenpropheten", Heidelberg, 1900), Tschernichowsky, Gedichte, 95 — 102. Mot katamus, („Tod des Tammus", 1908), Tschernichowsky, Gedichte, 252-255. Laschemesch, („Für die Sonne", 1919), Tschernichowsky, Gedichte, 291 - 3 0 1 . Vgl. mSuk V, 4. Er hat sie dann 1 9 0 9 - 1 9 1 0 in seiner TB-Reihe Reschafim publiziert. David Frischmann, Sämtliche Werke, Targumim (Ubersetzungen), Tel Aviv o.J. Za III, Von alten und neuen Tafeln 7 (KSA 4.51). Die Erforschung des jüdischen Nietzscheanismus in der jiddischen Literatur ist, so weit ich sehe, Brachland. 1909 erschien die Ubersetzung der Vorrede von Also sprach Zarathustra in Kiew und 1919 eine vollständige Ubersetzung von Chaim Zhitlovski in New York.

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der jüdischen Nietzscheaner.18 Gegen diesen Radikalismus wandten sich die Gegner der Nietzscheaner. Achad Haam schreibt: „Neue Werte! neue Tafeln! An Stelle der ,Schrift' komme das ,Schwert', an Stelle der Propheten — die blonde Bestie! [...] Wir vernehmen tagtäglich den Ruf, daß unsere ganze nationale Welt bis auf den Grund zertrümmert werden müsse, um alles neu zu bauen."19 Die Gegengeschichte des Nietzsche-Ubersetzers Frischmann besteht aus Gegengeschichten zu biblischen Geschichten, die die dionysische Revolte gegen das Gesetz schildern. Counter-History präsentiert sich in den Erzählungen Frischmanns als Counter-Aggada. Sie schildert gesetzesbrecherische Akte im Sinai. Die jüdischen Nietzscheaner kommen insbesondere immer wieder auf die Urszene des Zerbrechens der Tafeln am Sinai — ein weiteres ihrer Embleme — zurück. Auch sonst artikuliert sich bei zeitgenössischen jüdischen Autoren die Reflexion über das Gesetz im Motiv des Zerbrechens der Tafeln. 20 Frischmanns Counter-History richtet sich gegen die mosaischen Werte- und Gesetzestafeln. D. 1900 verfaßte der zweiundzwanzigjährige Martin Buber „Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte".21 1895 hatte Buber als Siebzehnjähriger mit 18

Vgl. Jizchak Bakon, J. Ch. Brenner — Sein Leben und Schaffen bis Erscheinen des HAMEORER (hebt.), Diss., Jerusalem 1972, 69 — 71. Uber den Einfluß von Nietzsche auf den hebräischen Schriftsteller J. Ch. Brenner vgl. Menachem Brinker, Narrative Art and Social Thought in Υ. H. Brenners Work (hebr.), Tel Aviv 1990, 139-149. Über den Nietzsche-Zirkel, der sich um Sender Baum in Gomel um die Jahrhundertwende bildete und wozu neben Brenner auch Hillel Zeitlin (1871-1942) gehörte, vgl. Brinker, Nietzsche's influence, 398. Zeitlin hat Sender Baum und seinen Zirkel beschrieben, vgl. Josef Chaim Brenner (hebr.), Hatekufa 14/15 (1934), 626-630. Zeitlin hat selber eine Art Nietzsche-Hagiographie verfaßt. Vgl. Hillel Zeitlin, Friedrich Nietzsche, Sein Leben, seine Dichtung und seine Philosophie (hebr.), in: Hasman, I (1905), 1, 125-135; I (1905) 3, 423-431; II (1905), 4, 113-124; II (1905) 6, 398-419; III (1905) 9, 389-408; III (1905) 10, 131-141.

19

Kol kitwei achad haam, 157, 1 (Hier steht: schinuj haarachinl arachin chadatin!), dt. 130. Mit dem Begriff „jüdischer Nietzscheanismus" meint allerdings Achad Haam nicht „unsere Nietzscheaner", sondern einen originär jüdischen Nietzscheanismus; „unsere(n) Nietzscheanern" wirft er gerade vor, keine echten jüdischen Nietzscheaner zu sein! Er unterscheidet nämlich eine arische und eine jüdische Form der Lehre des Ubermenschen, die er im Anschluß an Georg Simmel skizziert. (Georg Simmel, Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette, in: Ztschr. fir Philosophie und philosophische Kritik 107 (1896), 202 ff.) Die arische Version des Übermenschen als „blonde Bestie" sei für den jüdischen Geschmack unverdaulich, die jüdische Version des Übermenschen als der vom „Übervolk" gezüchtete sittliche „Übermensch" jedoch urjüdisch, wie das Ideal des „Gerechten" (%addik) als letzter Sinn der Schöpfung zeige (Vgl. bSab 30b). Um jüdische Nietzscheaner zu sein, müßten „unsere Nietzscheaner", die mit ihrer Kraftmeierei bloß den arischen Nietzscheanismus imitieren, gar nicht bei Nietzsche nachschlagen, sondern nur in ihren eigenen Quellen, bei Nietzsche sollten sie aber die Wertschätzung der Quellen lernen. Obwohl Achad Haam also mit seinem Begriff des „jüdischen Nietzscheanismus" gerade nicht die „Jungen" meint, ist es aber dennoch legitim, diesen Begriff auf sie anzuwenden.

20

Vgl. Ernst Simon, Freuds Moses, in: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Sie u/erden lachen - die Bibel. Erfahrungen mit dem Buch der Bücher, (1975), München 21986, 169-180; Jürgen Uhde, Das Alte Testament im Werk Arnold Schönbergs, in: ebd., 181 —192; Rainer Otte, Der Vater, die Söhne, das Gesetz. Was Nietzsche und Freud mit Moses verbindet, in: Hans-Martin Gerlach u. a. (Hrsg.), Niet^scheforschung, Bd. 1, Berlin 1994, 191-206.

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der Übersetzung des Also sprach Zarathustra ins Polnische begonnen22 und betrachtete sich als „Anhänger Nietzsches"23. Obwohl sich Buber später von Nietzsche immer schärfer distanziert,24 gilt für seine Schriften der Jahrhundertwende, was Gershom Scholem über ihn geschrieben hat: Buber gehört zu der Generation, die um 1900 von Nietzsche und seinen Losungen tief beeinflußt war. Nietzsches Rede von den „Schaffenden" durchzieht alle seine frühsten Schriften. Das Schöpferische gegenüber dem Unproduktiven und im Leerlauf Beharrenden soll im Judentum wieder zur Geltung gebracht werden. 25

Sein vitalistischer Antinomismus wider die „fortschreitende Erstarrung des Gesetzes", wider die „karge Herrschaft des Zeremonialgesetzes"26 im normativen Judentum hat sich jedoch auch in seinem ganzen späteren Werk durchgehalten. Seine Counter-History ist die Geschichte der von der „offiziellen" Gesetzesreligion verbannten „unterirdischen" Religiosität,27 in seinem Bild, die Geschichte des unterschwellig glimmenden, jäh aufflammenden und rasch wieder verglühenden religiösen Lebens. Dieser Kampf zwischen Religion und Religiosität ist, wie Martin Buber schreibt, dialektisch und verborgen; er redete in den Lehrhäusern die Sprache des Scharfsinns und in den Wohnungen die Sprache der Frauen; er war groß in den verstoßenen Ketzern, klein in den kleinen Kühnheiten des Ghettos; und so spielte und brannte er um den gekrönten Leichnam des Gesetzes herum, bis wieder eine große Bewegung kam [...] der Chassidismus. 28

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Ein Wort über Nietzsche und die Lebenswerte, in: Die Kunst im Leben I, 2 (Berlin 12. 1900) 9 - 1 3 . Der Artikel beginnt in bezug auf Nietzsche mit dem Satz: „Viele stehen in seinem Namen auf." Vgl. Grete Schaeder, Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, 19. Vgl. Paul R. Mendes-Flohr, Von der Mystik Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin Ich und Du, übersetzt von Dafna A. von Kries, Königstein/Ts. 1979, 9, FN 12, 16, 55. Mendes-Flohr: Von der Mystik %um Dialog, 88, FN 2. Dominique Bourel, „De Lemberg a Jerusalem. Nietzsche et Buber", in: Dominique Bourel, Jacques le Rider (Hrsg.), De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et le judaisme. Les intelleäuels juifs et Nietzsche, Paris 1991, 121-130. „Martin Bubers Auffassung des Judentums" (1966), in: Judaica 2, Frankfurt/M. 1970, 140. Vgl. ζ. B. Martin Buber, Jüdische Renaissance, in: Ost und West 1 (1901), 9 - 1 0 ; Martin Buber: Die Jüdische Bewegung, in, Ders.: Gesammelte Aufsätze und Ansprachen, Berlin 1916, 7 — 16. Martin Buber hat als Vordenker der „jungjüdischen Bewegung" um 1900 starke nietzscheanische und berdyczewskische Impulse weitergegeben. Vgl. Mark H. Gelber, The Jungjüdische Bewegung, An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History, in: LBI-YB, Bd. 31, London 1986, 105-119. Martin Buber, Die Erneuerung des Judentums. Reden über das Judentum, (1911, Rede vor der zionistischen Hochschulverbindung Bar Kochba in Prag), in: Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, Gesammelte Reden und Aujsät^e, Köln 1963, 36 — 38. Martin Buber, Das Judentum und die Menschheit (1911), in: Buber, Reden über das Judentum, 25. Buber: Die Erneuerung des Judentums, a. O., 39.

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1900 ist auch das Jahr, in dem Berdyczewskis „Sefer cbassidim" erschienen Damit war er vor Martin Buber der Verkünder des Neochassidismus, 30 welcher vor allem eine Brücke zwischen Ost und West, zwischen der hebräischen und der deutschen Literatur bildete. Das steht mit Berdyczewskis und Bubers Kritik der normativen Tradition nicht im Widerspruch. Chassidismus hatte bei Berdyczewski nichts mit nostalgischer Verklärung und Folklore zu tun, er ist ein Exempel der gleichen nietzscheanischen Rebellion. Seine Chassidim sind dionysische Menschen im Kampf gegen den sklerotischen Rabbinismus. Im Chassidismus fand Berdyczewski eine vitalistische Haltung wieder. Entgegen der Weltverneinung des rabbinischen und der Gespaltenheit des aufgeklärten Judentums führt das chassidische Lebensgefühl zur ursprünglichen Unmittelbarkeit und Ganzheit zurück. Seine Zaddikim sind Ubermenschen im Sinne Zarathustras. Martin Buber zeichnet ein ähnliches Bild des Urchassidismus. Er stellt ihn wie das Urchristentum als Repräsentanten der „wahrhaften Religiosität" gegen die „Rabbinerreligion" dar. Counter-History ist hier eine Geschichte der vom normativen Judentum unterdrückten, unterirdischen Strömungen des wahren Judentums. ist. 29

Offenbar ist Counter-History die bevorzugte Ausdrucksform des jüdischen Nietzscheanismus. Deshalb soll hier der Inhalt dessen, was die jüdischen Nietzscheaner unter „Counter-History" verstehen, genauer bestimmt werden.

2. Counter-History des jüdischen

Niet^scheanismus

Der Begriff der „Counter-History", wie ihn David Biale in seiner großen Scholem-Monographie verwendet und wie er nachfolgend in der jüdischen Gei29

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Sefer cbassidim, Warschau, 1900. Der einleitende Essay, „Nischmat chassidim" {„Die Seele der Chassidim") ist in: Mimisrach umimaaraw 4 (1899) erschienen und wird in einem Brief an David Frischmann bereits 1897 erwähnt. Das neochassidische Werk von J. L. Perez, Chassidut („Chasssidismus"), erschien 1901 und die neochassidischen Werke von Martin Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, 1906, Ders., Die Legende des Baalschem, 1907. Nebenbei erweist sich, daß der Neochassidismus von einem intimen Kenner des Chassidismus ausging. Berdyczewski kam aus einem chassidischen Haus. Später ist Berdyczewski unter dem Einfluß von Saul Israel (Schay Isch) Hurwitz wieder vom Neochassidismus abgerückt. Dieser hatte in dem Aufsatz „Chassidismus und die Haskala" (hebr.) in der von ihm herausgegebenen hebräischen Zeitschrift Die Zukunft (Heatid) 2 (1914) die Illusionen von der Gesetzeskritik und der Natur- und Volksnähe des Chassidismus endarvt. Vgl. auch S. Hurwitz, Woher und Wohin, Gesammelte Aufsätze und Essays über jüdische Probleme (hebr.), Berlin 1914, 181 —258. Es ist kein Zufall, daß Berdyczewski seine Kritik der Quellenschriften des Chassidismus Ausdehnung undZusammen^iehung (hebr.) in Heatid 5 (1913), 151 — 171, von Hurwitz veröffentlicht hat. Zu Hurwitz, einem Meister der Counter-History, vgl. Elias Hurwicz, Shay Ish Hurwitz and the Berlin He-Athid. When Berlin was a Center of Hebrew Literature, in: LBI- Year Book 12 (1967), 85 — 104, und die große Monographie von Stanley Nash, In Search of Hebraism: Shai Hurtviti^ and His Polemics in the Hebrew Press, Leiden 1980, 246 — 254.

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stesgeschichtsschreibung rezipiert wurde, ist im nietzscheanischen Kontext mehrdeutig. „Counter-History" kann heißen: „gegen die Historie überhaupt" (A), „gegen den Historismus" (B), „gegen herrschende historische Urteile" (C), „gegen kanonische historische Quellen" (D), „gegen die angenommene Richtung der Historie" (E). Diese fünf verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Counter-History sollen im folgenden an topischen Beispielen aus dem Werk der im vorigen Abschnitt aufgezählten Vertreter des jüdischen Nietzscheanismus illustriert werden. A. „Counter-History", kann erstens bedeuten „gegen die Historie überhaupt", gegen, wie Nietzsche sagt, die „historische Krankheit", gegen Historie als Übergewicht der Vergangenheit über die Gegenwart, als Herrschaft des Todes über das Leben und somit für Abwurf von historischem Ballast und für einen unhistorischen Neuanfang. In diesem Sinn hatte Nietzsche in seiner von ihm nicht besonders geschätzten, aber gerade auch bei jüdischen Autoren sehr wirksamen Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" (1874)31 behauptet: „Ein Uebermaass der Historie schadet dem Lebendigen."32 Berdyczewski, der auf das hypertrophe kollektive Gedächtnis des Judentums blickt, sekundiert: Unsere Vergangenheit verdrängt unsere Gegenwart; sie nimmt uns unsere ganze Gegenwart und setzt sich selber an ihre Stelle; sie macht uns zu Lastträgern [...]. Zwei Jahrtausende hatten wir gar keine Gegenwart und lebten nicht unser eigenes Leben [...] unsere Kinder waren geborene Greise [...] keine Nachkommen, nur Vorfahren haben wir [...] eine Vergangenheit, ohne Gegenwart, ohne Zukunft. 3 3

Rabbiner Marcus Ehrenpreis (1869 — 1951), der dem Kreis um Berdyczewski nahestand, hat das antitraditionalistische Credo der „junghebräischen Literatur" im zionistischen Organ Die Welt34 noch schärfer formuliert: Was sich überlebt und abgenützt, muß ausgeschieden werden; nur ein zukunftsloses Volk muß in seiner Vergangenheit aufgehen: Wir aber können vom Gestern nur das brauchen, was ein Element des Morgen werden kann. Für uns gibt es kein dogmatisches Judenthum, das als historisches Abstractum aus leblosen Folianten starr in die Gegenwart hineinglotzt; für uns gibt es nur Juden, lebende, fühlende, werdende Menschen, welche Werthe schaffen und Werthe vernichten. Für uns gibt es keine versteinerte Cultur, die wir wie eine Last immer weiter schleppen müssen.

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Vgl. Jörg Salaquarda, Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, in: Nietzsche-Studien (1984) 1 ff. Nietzsche, UZ II (KSA 1.258). Zit. bei Neumark: Jüdische Moderne, Sp. 538, 1. 5 (Wien 1900), Nr. 7, 1 4 - 1 6 .

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Berdyczewski gebraucht in dem Essay „Änderungen" (schinujim) ein suggestives Bild für das erdrückende Ubergewicht der Tradition. Zu dem Vers, der das Volk Sinai vor der Offenbarung des Dekalogs schildert: „Und sie stellten sich am Fuße (betachtit) des Berges auf" (2. Mose 19, 17) gibt es im Talmud (bShab 88a, bAbZa 2b) folgende Auslegung, die auf dem Doppelsinn von „tachat" fußt, das „unten" am Berg, aber auch „unter" dem Berg heißen kann: „Dies lehrt, daß der H.g.s.e., über sie den Berg wie einen Kübel (kegigit) stülpte und zu ihnen sprach: Wollt ihr die Tora empfangen, so ist es gut, wenn aber nicht, so ist hier euer Grab." 35 Berdyczewski zitiert diese Auslegung und bestätigt: „Unsere Historie, unsere Literatur, unser Leben — alles lehrt uns, daß man den Berg über uns gestülpt hat, d. h. uns gezwungen hat, unsere Natur zu pervertieren" 36 ; darauf folgt eine Klage über die Entfremdung vom Leben im Volk des Buches und über die großen Zeiten vor der Offenbarung des Buches (liftie matan haktaw). Als Heilmittel gegen die „historische Krankheit" des Judentums verlangt Berdyczewski in einem anderen Essay „Zur Frage der Vergangenheit" 37 wiederum unter Verwendung des Sinai-Motivs eine neue Offenbarung: Die Tafeln sind Gotteswerk und beständig. Die Buchstaben, die auf den Tafeln eingeschrieben sind, können so wenig ausgelöscht werden wie die Sterne. Aber laßt uns sie erneuern (lechadesch), wie die Sterne erneuert werden; laßt uns auf unsere Art das Lied unseres Lebens singen, unser Wesen und Sein verkörpern. Laßt auch uns am Fuße des Berges (betachtit hahar) stehen und rufen: das wollen wir hören und tun (naasse wenischma, 2. Mose 24, 7), zu allem was uns offenbart werden wird. Da kam Gott hernieder in einer Wolke ... (2. Μ 34, 5) - laßt auch uns mit unseren Augen Visionen des Allmächtigen sehen. An die Stelle des erdrückenden Alten sollen neue Tafeln treten, die den inneren Bedürfnissen der neuen Generation entsprechen. 38 Die Rebellion gegen die Herrschaft des toten Buchstabens der Tradition war übrigens nicht nur eine Sache der „Jungen". Achad Haam, der Kontrahent Berdyczewskis und der jüdischen Nietzscheaner, hat in seinem Aufsatz „Die Lehre des Herzens" (1895) die Vorherrschaft der Schrift angegriffen: „ein Volk der Schrift {am bassefer) ist ein Sklave der Schrift (owed hassefer), eine Gemeinschaft, aus deren Herzen das Leben entflohen ist". Er schildert das „Volk der Schrift" als eine dem Leben entfremdete Gemeinschaft, die mit der Natur und der Welt nur noch vermittels der erstarrten Schrift in Beziehung trete, und erinnert an bessere Zeiten, wo die Propheten und Rabbinen die tote Schrift im 35

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Zu diesem Topos vgl. Gerald J. Blidstein, In the Shadow of the Mountain: Consent and Coercion at Sinai, in: Jewish Political Studies Review 4 (1992), Nr. 1, 41 — 53. Berdyczewski: „Schinuj-arachin", in: Kol maamarim, 46. „Lischeel at beawar" (1902), Berdyczewski: Kol maamarim, 41 ff. 2. Mose 34, 5, das Berdyczewski zuletzt zitiert, bezieht sich auf die Offenbarung Gottes nach der Herstellung der neuen Tafeln, nach dem Zerbrechen der alten.

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Namen der Lehre des Herzens (tora schebalew), im Namen der mündlichen Lehre [tora schebeal pe) wiederbelebten. Deren mündliche Lehre sei aber inzwischen auch in „schriftlichen Urkunden versteinert".39 Achad Haam legte aber trotzdem Einspruch gegen die Berufung der jüdischen Nietzscheaner auf seinen Aufsatz ein. Denn ihm ging es nicht um die Verneinung der Schrift, etwa im Namen des Schwertes, sondern um die sittliche und nationale Wiederbelebung des jüdischen Schrifttums. Übrigens ist die Schriftkritik, seit Moses Mendelssohn das rousseausche Lamento in „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" (1783) über die literati, die „Buchstabenmenschen", und die Utopie der Unmittelbarkeit der mündlichen Lehre beschworen hatte, ein Gemeinplatz des modernen jüdischen Denkens und findet sich etwa auch bei dem Vater der Wissenschaft des Judentums, Leopold Zunz. B. In einer zweiten Bedeutung meint der Ausdruck „Counter-History" „gegen die herrschende Methode der Historie", nämlich die historistische, d.i. in etwa die antiquarische Historie Nietzsches.40 Historie steht im Dienst des Lebens, und sie muß nach dem Kriterium der Lebensdienlichkeit beurteilt werden. Counter-History bildet hier einen Gegensatz zum Historismus der Wissenschaft des Judentums, die sich, nach einem überlieferten Wort von Moritz Steinschneider, selbst die Aufgabe gestellt hat, „die Uberreste des Judentums ehrenvoll zu bestatten". „Die Tatsache", schreibt Berdyczewski angesichts der großartigen Leistungen der Wissenschaft des Judentums, „die Tatsache, daß ein Volk sich darauf beschränkt, nur Gegenstand der Wissenschaft zu werden, beweist genug, daß es mit dem Leben abwärts geht."41 Dagegen setzen die jüdischen Nietzscheaner unter anderen jüdischen Kritikern des Historismus42 eine lebensdienliche Historie, die vor allem der Wiedergeburt des jüdischen Volkes nützen soll. „Das nationale Gefühl, das sich von der Gegenwart nicht mehr zu nähren vermochte, konnte sich nur in einen Historismus umwandeln. Bloße Erinnerung an Zeiten, die nie wiederkehren werden, deren Wiederkehr nicht einmal gewünscht wird und zu denen das Heute im striktesten Gegensatz steht, sind nicht Lebensfunktionen, die für ein ganzes Volk ausreichen können."43 Die Historismuskritik des jüdischen Nietzscheanismus ist umfassend und vielfältig. Sie verwirft wie 39

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Kol kitwe achad haam, Jerusalem, 1947, 51 — 54, Achad Haam, Am Scheidewege. Gesammelte Aufsätze, übersetzt von Israel Friedländer u. Harry Torczyner, Berlin 1923, Bd. I, 1 9 5 - 2 1 0 . Nietzsche, UZ II (KSA 1.265-269). Berdyczewski, „Zur Klärung", in: Lazar Schön (Hrsg.): Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, Würzburg 1905, 281. Achad Haam nennt die Wissenschaft des Judentums ein „Denkmal unserer geistigen Knechtschaft" (Am Scheideweg, Bd. 2, Berlin 1916, 124). Vgl. Michael A. Meyer, Jüdische Wissenschaft und Jüdische Identität, in: Julius Carlebach (Hrsg.), Wissenschaft des Judentums, Anfänge derJudaistik in Europa, Darmstadt, 1992, 3 — 20; Eliezer Schweid, The Critique of the ,Science of the Judaism', in: The Jerusalem Quarterly (1988), Nr. 45, 8 5 - 1 0 9 . Berdyczewski, Zur Klärung, 281.

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Nietzsches Kritik der Altphilologie 44 die Wissenschaft des Judentums als „eine Abtheilung der Philologie" 45 und fordert eine umfassende wissenschaftliche Behandlung des lebendigen Judentums. Für den jüdischen Nietzscheanismus steht aber nicht die Kritik der „antiquarischen" jüdischen Historiographie, sondern die Kritik der, mit Nietzsche zu sprechen, „monumentalischen" jüdischen Nationalgeschichte im Vordergrund. Gerade weil es um die nationale „Renaissance" und den nationalen „Mythos" geht, ist nietzscheanische Counter-History in ihrer wissenschaftlichen und literarischen Gestalt Counter-Midrasch, 46 Counter-Aggada zu einer „heiligen Geschichte", die die Diaspora und ihre Werte legitimiert; sie ist, mit Blumenberg zu sprechen, „Arbeit" am nationalen Mythos. Der antinormative, antinomistische Sinn dieser „Arbeit am Mythos" kommt paradigmatisch in folgender biblischer „Gegengeschichte" von Frischmann zum Ausdruck: Der Nietzsche-Ubersetzer David Frischmann, den David Biale als Beispiel für Counter-History nennt, 47 hat in seinem erzählerischen Werk 48 immer wieder den Konflikt des Individuums mit dem Gesetz geschildert. In archetypischer Weise stellt er diesen Konflikt in einer Reihe von biblischen Geschichten (Maassijot biblijoi) dar mit dem bezeichnenden Titel „Bamidbar" (In der Wüste) 49 — dem hebräischen Titel des vierten Buch Mose (Numeri). In den Abschnitten des vierten Buches Mose wechseln in der Tat dauernd abrupt die Beschreibungen der idealen Sitz-, Marsch-, Funktions-, Zeremonial- und Rechtsordnung Israels mit Schilderungen von Aufständen des „murrenden" Volkes gegen seine Führer. Für David Frischmann ist die Wildnis der Wüste der mythische Ort, 50 wo der ewige Kampf zwischen Gesetz und Freiheit, dem Joch des Gesetzes und der Vitalität des Individuums vor der amorphen, manipulierbaren Masse des Volkes ausgetragen wird. Mit „Bamidbar" knüpft Frischmann aber nicht nur an die Bücher Mose, sondern auch an die Reden Zarathustras an. In dessen erster Rede Von den drei 44

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Vgl. Karl Brose, Geschicbtsphilosophtsche Strukturen im Werk Nietzsches (Diss.), Frankfurt/M. / Bern 1973, 6 ff. Martin Buber, Jüdische Wissenschaft (I), in: Die Welt 5 (1901) 41, 2, Sp. 1. Zum literaturwissenschaftlichen Begriff des „Counter-Midrasch" vgl. Gundula van den Berg, Ver-kehrung. Zu Elie Wiesels ,neuem Midrasch' in Le Crepuscule, au loin, in: Jürgen Ebach, Richard Faber (Hrsg.), München 1995, 2 1 5 - 2 4 0 . Biale, Gershom Scholem, 236, FN 31. Daran knüpft auch Jacobson, Modern Midrash, 198, FN 12, an. Etwa in der Erzählung „Jörn hakippurim" (1881). David Frischmann, Bamidbar. maassijot biblijot, sippurim weaggadot, Berlin 1923. Wir benutzen die Ausgabe des Knesset-Verlages, Tel Aviv 1962. In der ersten Geschichte, Mecholot („Reigen"), (1909) heißt es von der Wüste: „In jenen wundersamen Tagen waren die Himmel noch vieltausendmal neuer und bläuer als heutzutag, ebenso die Erde noch tausendmal frischer und grüner als jetzt, und auch die Liebe tausend- und aber tausendmal stärker und steter als in unseren Zeiten." Emanuel Bin-Gorion (Hrsg., Üb.), Der Mandelstab, Ölten, Freiburg i.Br. 1963, 417.

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Verwandlungen schildert er die Metamorphose des tragsamen Geistes: „dem Kamele gleich, das beladen in die Wüste (el-hamidbar) eilt", in den rebellischen Löwen, das Attribut der Umwertung aller Werte. Aber in der einsamsten Wüste (betoch hamidbat) geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste. Seinen letzten Herren sucht er sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen. Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? ,Du sollst' heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „ich will". „Du sollst" liegt ihm am Wege, goldfiinkelnd, ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden „Du sollst!" Tausendjährige Wierthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen: „Aller Wert der Dinge — der glänzt an mir."51

Der Drache ist der Hüter der bestehenden Werte. Frischmann gibt „Drache" mit „nachasch" wieder, was natürlich an die Paradiesschlange im 3. Kapitel der Genesis erinnert und dem „Also spricht der Drache" (wecho jomar nacbasch) die antinomistische Konnotation einer Naassenerpredigt verleiht. Meistens wählt Frischmann in seinen Geschichten ein Gesetz 52 und schildert einen entsprechenden Fall von einem Gesetzesbrecher, der instinktiv und naiv oder subversiv und aktiv dagegen rebelliert. Er schildert die Revolte gegen das Gesetz aus dem Blickwinkel einer matriarchalen, also alternativen Tradition und nimmt die Gegenposition des Rebellen ein. 53 Für seine fiktionale Counter-History ist die Geschichte „Im Berg Sinai" 54 paradigmatisch. Es ist die Geschichte von den jungen israelitischen Sklaven, die sich verlieben und — kurz vor dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten — in die Wüste ziehen, im Berg Sinai unterschlüpfen, um sich ganz ihrer Liebe - die Frischmann dichterisch nach dem Hohelied schildert — hinzugeben. Bald holt sie dort das ganze Volk ein, und sie erfahren, daß ihr Venusberg der Offenbarungsberg sein soll. Sie begreifen nicht, weshalb das Gesetz das glückliche Leben stören soll, und ziehen sich in das Innerste des Berges zurück. Während draußen mit furchterregenden Erscheinungen der Dekalog ertönt, kommt es im Berg zu einem Liebesdelirium. Diese Szene ist kontrapunktisch aufgebaut: auf jedes Gebot draußen folgt ein widersprechendes Bekenntnis drinnen. Während die Stimme draußen gebieterisch exklusive Verehrung verlangt und den Götzendienst verbietet, bekennen sich drinnen die Liebenden zu ihrer exklusiven Liebe und Verehrung; von Gebot 51 52

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Za I, Von den drei Verwandlungen (KSA 4 . 2 9 - 3 1 ) . Ir bamiklat (1918) an 4 Μ 35, 9 - 3 4 an , Sota (1920) an 4 Μ 5, 11 ff, Egla arufa (1921) an 5 Μ 21, 1 - 9 an , Sorer umore (1921) an 5 Μ 21, 1 8 - 2 1 , Hamekoschesch (1922) an 4 Μ 15, 3 2 - 3 6 . Vgl. die Geschichten Ir bamiklat und Egla arufa, analysiert von Jacobson, Modern Midrash, 80 — 88. Behar sinai (1919), Frischmann, Bamidbar, 43 — 52.

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zu Gebot auf dem Berg steigert sich im Berg der Liebesrausch und gipfelt in einem besinnungslosen Paroxysmus, in Verschmelzungs- und Vernichtungswünschen. Doch die Stimme, die das zehnte Verbot, das Wunschverbot, verkündet, triumphiert schließlich über die dionysische Revolte. Dieses Verbot — nicht die Sünde — vertreibt die Liebenden aus ihrem Paradies. Sie schließen sich nun willenlos dem Führer Moses an. Die Frau fragt: „Hat die Tora das Leben bezwungen?" Der letzte Satz der Erzählungen nennt den Preis dieses Sieges des Gesetzes: „Ihre Freude ist von ihnen gewichen auf ewig." 55 Die erotische, dionysische Infragestellung des Gründermythos von der einmütigen und für immer besiegelten Unterwerfung des Volkes am Sinai unter das Gesetz ist Ausdruck einer antinormativen, antinomistischen Gegengeschichte. C. Drittens bedeutet der Ausdruck „Counter-History" „gegen herrschende historische Urteile", d. h. „Gegendarstellung". Der Revision sakrosankter historischer Urteile haben sich die jüdischen Nietzscheaner als Anwälte verlorener Sachen und verdammter Antihelden in ihren Essays und Gedichten eifrig gewidmet. Darin waren sie nicht ohne Vorläufer. a. Ein Vorbild solcher Gegendarstellungen waren die Gedichte des großen russisch-jüdischen Aufklärers Jehuda Löb Gordon (1830—1892).56 Er nimmt mit seinen aufklärerischen Umwertungen der jüdischen Geschichte die späteren nationalistischen Versionen der Counter-History vorweg. 57 Im Monolog „Zedekia im Gefängnis" (1880) 58 beklagt der letzte König von Juda den zersetzenden Einfluß der Propheten, vor allem des Priester-Propheten Jeremia. Dieser riet zur Unterwerfung unter die babylonische Fremdherrschaft, zur Knechtschaft, als es galt, die Freiheit zu retten; er forderte, die göttlichen Gebote zu erfüllen, als es galt, die belagerte Stadt zu verteidigen; er machte das Judentum zu einem Volk von Schriftgelehrten, das Tag und Nacht die heiligen Bücher studiert, zu einem Volk von unproduktiven Müßiggängern, als es galt, zu pflügen, zu arbeiten und

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Frischman, Bamidbar, 52. Wir zitieren seine Werke nach der Ausgabe Jehuda Löb Gordon, Schriften (heb.), Tel Aviv 1959. Vgl. Michael Stanislawski, For Whom Do I Toil, Judah Leib Gordon and the Crisis of Russian fenny, New York/Oxford 1988. Eisig Silberschlag, From Renaissance to Renaissance, Hebrew Literature from 1492— 1970, Bd. 1, New York 1973, 114f. „Zedekia im Gefängnis" (Zidkijahu bewet hapekudol), in: Gordon, Ktawim, 98 — 101, bezieht sich auf die Zerstörung des ersten Tempels im Jahr 586 v. Von ähnlicher Tendenz sind weitere Gedichte, die sich auf spätere Katastrophen des jüdischen Volkes beziehen. „Zwischen den Zähnen des Löwen" (Ben schine arajot 2 1884), Ktawim, 1 0 3 - 1 0 7 , bezieht sich auf die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 n.; „In den Tiefen der See" (Bime^uktjam), Ktawim, 1 0 7 - 1 1 1 , auf die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492. Die beiden letzten Gedichte sind in Wilna 1868 erschienen. Interessant ist, daß J. L. Gordon in einer Reihe von Gedichten das Gesetz vom Standpunkt der Frauen kritisiert: „Das Häkchen vom Jod" (Kosp sehet jod), Ktawim, 129; „Warten auf den Schwager" (Schomeretjawam), Ktawim, 171, wie David Frischmann in seinen Erzählungen eine „feministische" Perspektive einnimmt.

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zu kämpfen. Hier spricht Zedekia die aufklärerische Kritik am Judentum aus, die mit der nationalistischen Kritik in diesem Punkt völlig übereinstimmt. Die Haskala hatte von Anfang an die Produktivierung der Juden gefordert. 59 Der Wille des Propheten, daß der Bauer seinen Pflug, der Soldat seine Waffen und der Handwerker sein Geschäft aufgebe, widerspricht genau der Forderung der Aufklärer, wie Gordon sie in seinem Manifest „Erwache, mein Volk!" verlangt hatte. 60 Gordon merkt zu seinem Gedicht an, daß der Konflikt zwischen Zedekia und Jeremia der alte und ewige „Kulturkampf" zwischen „weltlicher Macht" und „Geistlichkeit" sei. Der Konflikt, den Saul gegen Samuel, die Sadduzäer gegen die Pharisäer und die Aufklärer gegen die Orthodoxen austragen. Gordon stellt sich auf die Seite Zedekias und macht entgegen der Bibel Jeremia für die Niederlage und das Exil verantwortlich. Die biblische Geschichte über diesen und andere Könige (2. Kön 24, 1 8 - 2 0 , 2. Chr 36, 1 1 - 2 1 Jer 37. 38) setzen sie vom prophetischen Standpunkt ins Unrecht — biblische Geschichte ist Gericht über die Könige. Gordon kehrt lange vor dem Einsatz des Nietzsche-Impulses in der hebräischen Literatur die Tendenz des biblischen Berichts vom Standpunkt der Lebensdienlichkeit um. b. Die nietzscheanische Counter-History ging trotz der Anerkennung der Verdienste der Haskala weit über die aufklärerische Counter-History hinaus. Sie richtete sich nicht nur gegen die Bewertungen der Bibel und der Tradition, sie richtete sich auch gegen Werte der Aufklärung, die sich in der kulturzionistischen und nationalreligiösen Literatur sonst fragloser Verehrung erfreuten. Anfang des Jahrhunderts hat der nationalreligiöse Schriftsteller und Historiker Seew Wolf Jawez (1847-1924) in einem populärwissenschaftlichen Artikel die Tafeln der untergegangenen antiken Kultur den ewigen Tafeln Israels gegenübergestellt 61 : Auf der einen Seite die Tafeln der sinnenverfallenen Griechen, die torat jawan, auf der anderen Seite die Tafeln der reflektierenden Hebräer, die torat jisrael. Die Tafeln Israels zeichnen sich durch Werte wie: 1. Gotteserkenntnis, 2. Willensfreiheit (ra^on), 3. Liebe, 4. Zucht ( m u s s a r ) , 5. Gerechtigkeit, 6. Gerechtigkeitsprinzip, 7. Befriedigung und Erhaltung des Selbst und des Anderen aus; die Tafeln der Griechen durch 1. Naturerkenntnis, 2. Schicksal (oness), 3. Kraft, 4. Triebhaftigkeit (Je^er), 5. Gewalt ( t o k e f ) , 6. Nützlichkeit, 7. Eroberung, Selbsterhaltung und Vernichtung des Anderen. Berdyczewski vergleicht diese selbstgefäl59

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Vgl. Tamar Bermann, Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Eine soziologische Studie, Wien 1973, 71. J. L. Gordons Gedicht: Erwache, Mein Volk.' (Hakiya, ami) ist das Manifest der russisch-jüdischen Haskala. Hier formuliert er deren berühmte Devise „Sei ein Mensch in den Straßen und ein Jude Hause" (heje adam be^etecha vijehudi beohalecha). Das erinnert an 5. Mose 33, 19: Smach stvulun byetecha wejissachar beohalecha, Gordon: Klamm, 17. Vgl. Stanislawski: For Whom Do I Toil, 144. Seew Wolf Jawez, Vergangene Welten, bestehende Welt, in: Ν. Sokolow: Sefer haschana (, Jahrbuch"), Warschau 1 9 0 9 - 1 9 1 6 (5 Bde.). Genaueres ließ sich noch nicht ermitteln.

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lige Darstellung von Jawez in „Umwertung der Werte" 62 mit Heines satirischer Gegenüberstellung der „aszetischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen" Juden oder „Nazarener" auf der einen und der ,,lebensheitere(n), entfaltungsstolze(n) und realistische(n)" Hellenen auf der anderen Seite im ersten Buch von „Ludwig Börne. Eine Denkschrift" (1839). 63 Was bringt es, fragt Berdyczewski, sich von den allgemein abgelehnten Werten zu distanzieren und mit den allgemein anerkannten Werten zu identifizieren? Ist die Tafel des „ethischen Monotheismus", gesetzt daß sie mit den jüdischen Tafeln überhaupt übereinstimmt, nicht eine Unterwerfungscharta? Die Tafel des „ethischen Monotheismus" stimmt aber nach Berdyczewski gar nicht mit den Quellen überein. Ursprünglich {dorot harischonim, jeme-ksdem) war Israel das natürliche Leben wichtiger als die Gotteserkenntnis, die Kraft wichtiger als die Liebe, der Trieb wichtiger als die Zucht, die Eroberung des Landes, die Selbsterhaltung und die Vernichtung der Anderen wichtiger als Befriedigung und Erhaltung aller. Nicht Gerechtigkeit, sondern nationaler Egoismus hat den Vernichtungsbefehl bei der Landnahme (5. Mose 20, 16) diktiert. Und war die Gotteserkenntnis in den Psalmen nicht zugleich Naturerkenntnis? War die Behauptung der Willensfreiheit nicht zugleich verbunden mit dem Glauben an die durchgängige Bestimmung — die sogar Gott zwingt? Finden sich nicht auch genügend Belege in den rabbinischen Quellen für elitäres, unbarmherziges Verhalten der Rabbinen etwa gegen die Ignoranten (ame haare%y?M Und „da kommt", schließt Berdyczewski, Jawez mit „beiden Tafeln in seiner Hand" {sehne luchot bejado) und behauptet, die torat jawan sei „Gewalt" und die torat jisrael „Gerechtigkeit". Nach den überlieferten Quellen können diese Tafeln nach Berdyczewski vielmehr ausgetauscht oder in eins gesetzt werden — von den nicht überlieferten ganz zu schweigen. 62 63

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Berdyczewski, Kol Maamarim, 52 — 53. Jawez' Gegenüberstellung beruht sicher nicht auf der Antithese Heines, die gegen die GoetheKritik Börnes gemünzt war und unter umgekehrten Vorzeichen steht. Im zweiten Buch von Ludwig Börne unter „Helgoland, 8. Julius" stellt Heine den Wertgegensatz zwischen den „Völkern des Altertums" und Juden als Gegensatz zwischen Materie und Geist bzw. zwischen dem in Bild und Symbol inkarnierten und dem im Buch inkarnierten Geist. Er fügt hinzu: „[...] Moses gab dem Geiste gleichsam materielle Bollwerke, gegen den realen Andrang der Nachbarvölker: Rings um das Volk, wo er Geist gesäet, pflanzte er das schroffe Zeremonialgesetz und eine egoistische Nationalität, als schützende Dornhecke." Für Jawez kommen andere Quellen in Betracht. So David-Samuel Luzattos (1800—1865) Antithese von „Attizismus" und Judentum als Gegensatz von ewiger Moral und fortschreitender Wissenschaft. Aber Luzatto betrachtete den „Attizismus" als ein notwendiges Moment der Kultur. Vgl. Ozar Nechmad, IV (1863), 131 — 132. Jawez stand auch der Richtung von Samson Raphael Hirsch nahe und kannte wohl dessen grundlegenden Kommentar zu Noachs Orakel über Schern und Japhet in 1. Mose 9, 27. Aber im Gegensatz zu Hirsch, der in Anlehnung an Schillers Briefe „Uber die ästhetische Erziehung des Menschen" die Bedeutung des ästhetisch Schönen für Japhet bzw. Jawan hervorhebt, fehlt dieser Aspekt bei Jawez. Heine ist vielmehr eine wichtige Quelle für Nietzsche, Berdyczewski, Tschernlchowsky und die pagane Richtung in der neuhebräischen Literatur. Berdyczewski zitiert ζ. B. das Verhalten Rabbis, des Autors der Mischna, gegen die Tochter des Erzketzers Acher, jChag II, 1.

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Die Eversion der traditionellen monumentalischen Historie vom Standpunkt niet2scheanischer Werte führt dann in der Folge bei den jüdischen Nietzscheanern zu einer Umkehrung der Tendenz aller historischen Portraits: der Schwertund nicht der Federadel, die Machtmenschen und nicht die Märtyrer bekommen, wie bei Nietzsche, den Applaus. D. Viertens bedeutet „Counter-History" „gegen kanonische historische Quellen", d. h. Quellenkritik vom nietzscheanischen Standpunkt. Die jüdischen Nietzscheaner dehnen diese Kritik auf alle Quellen des Judentums aus. Sie sind in ihrem wissenschaftlichen und kompilatorischen Werk 65 der „wahrhaften Religiosität" in der Bibel, in der Aggada, im Midrasch, in der Kabbala und in der Chassidut auf der Spur. Counter-History bedient sich hier der nietzscheanischen „Kunst des Mißtrauens", der „Hermeneutik des Verdachts", etwa bei der Kritik der von der „vom Geiste des offiziellen spätjüdischen Priestertums inspirierten Körperschaft" zensierten Bibel, bei der Entdeckung der von dem „intellektuellen Gebilde der rational-monotheistischen Rabbinerreligion" und von der rationalistisch-apologetischen Wissenschaft des Judentums zensierten Traditionen der „natürlichen", „mythischen" Volksfrömmigkeit. 66 Ein großartiges Beispiel für eine derartige, mit Nietzsche zu sprechen, „kritische Historie" ist Berdyczewskis alternative oder subversive Relektüre der heiligen Schriften. Berdyczewski unterzieht in seinem opus posthumum „Sinai und Garizim. Uber den Ursprung der Israelitischen Religion" 67 die Bibel und die Tradition einer radikalen Kritik. Diese Kritik zielt auf eine radikale Revision des herrschenden jüdischen Geschichtsbildes, wobei er die Traditionsliteratur nach Reminiszenzen einer anderen, ursprünglicheren, israelitischen, samaritanischen, antisinaitischen, antimosaischen Geschichte absucht. Er will beweisen, daß der Dodekalog der zwölf Flüche (5. Mose 27, 15 — 26), der auf dem Garizim im Land gegeben wurde, ursprünglicher sei als der Dekalog, der auf dem Sinai in der Wüste gegeben wurde. 68 Folglich gebührt den Samaritanern, dem Reich Israel, der Hauptstadt Sichern der historische Vorrang vor den Juden, dem Reich Juda und der Hauptstadt Jerusalem sowie dem Stifter Josua (aus Efraim) der Vorrang vor Mose. Die Moseerzählungen erweisen sich ihm als tendenziöse Entstellungen der ursprünglicheren Josuaerzählungen. Mose steht für die ethische Offenbarung am Sinai, Josua für die militärische Tradition der Landnahme. Die Gesetzgebung wäre also nach der Landnahme im Land durch den Eroberer vollzo65

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Micha Josef Bin-Gorion, Die Sagen der Juden, 5 Bde., Frankfurt/M. 1913 ff.; Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1950. Martin Buber, Der Mythos der Juden, in: Verein Jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag (Hrsg.), Vom Judentum. Ein Sammelbuch, Leipzig, 1913, 22 ff. Rahel u. Emanuel Bin-Gorion (Hrsg.), Sinai und Garinjm. Uber den Ursprung der Israelitischen Religion. Forschungen %um Hexateuch auf Grund rabbinischer Quellen, Berlin 1926. Bin-Gorion, Sinai und Garizim, 403-414.

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gen worden. Josua tritt an die Stelle von Mose,69 der Garizim an die Stelle des Sinais, die mündlichen Fluchworte, der unbehauene Stein an die der zwei beschriebenen Bundestafeln. Der Inhalt und Geist dieses Gesetzes ist dann auch ein ganz anderer als der des Dekalogs.70 Der Meuchelmord, nicht der Mord (5. Mose 27, 24 — 25), nicht der Götzendienst, sondern der Raub der Götzen (V.15), nicht der Diebstahl, sondern die Grenz- und Wegverrückung (V. 16 — 17), nicht der Ehebruch, sondern der Inzest (V. 20 — 23) seien verboten — letzteres zur Beförderung der Exogamie und Assimilation (sie!).71 Insgesamt handele es sich bei diesem Dodekalog nicht um die übernatürliche Offenbarung des Naturgesetzes, sondern um die natürlichen „Verordnungen zu der ersten Bildung einer Gesellschaft".72 Der Gegensatz von Sinai und Garizim, Mose und Josua, reiht sich ein in die für Berdyczewskis Gegengeschichte typischen Gegensätze: Schwert und Buch, ethische Religion der Propheten und vitalistischer Nationalismus der kriegerischen Hebräer, Jawne und Jerusalem, Jochanan ben Sakkai und Zeloten. Nach der Niederlage gegen Rom lebte die vitalistische Tradition als Unterströmung weiter bei den Karäern (Antitalmudisten), den Sabbatianern, den Chassidim. Um vom impotenten Spiritualismus des rabbinischen Geschichtsbildes loszukommen, muß an diese Traditionen wiederangeknüpft werden — wozu Berdyczewski seine Rekonstruktion des ursprünglichen nationalen Mythos, des Gründermythos von Josua am Garizim, als Beitrag angesehen haben mag. E. Fünftens bedeutet „Counter-History" „gegen die angenommene Richtung der Historie", d. h. Gegenrichtung vor allem zu dem von der liberalen jüdischen Apologetik unterstellten Fortschrittssinn der Geschichte, der sich hauptsächlich der biblischen Überwindung des zirkulären Zeitschemas des Mythos verdanke. Die Formel des Altphilologen Wilhelm Nestle „Vom Mythos zum Logos", die er noch 1940 prägte, paßt auf das liberale jüdische Geschichtsbild etwa Hermann Cohens73 und David Neumarks74. Sie wird angesichts des 69

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Bin-Gorion, Sinai und Garizim, 406: „Alles in allem genommen gelangen wir zu der Einsicht, daß in der Josua-Tradition der Schwerpunkt der alten Religion Israels zu suchen ist; in gewissem Sinn ist also der Schüler an die Stelle des Meisters zu setzen," Bin-Gorion, Sinai und Gan^im, 479 — 496. Die Mischehe und Absorption der fremden Bevölkerung, etwa der Kanaaniter, ist nach Berdyczewski „beim Wiedererobern des eigenen Landes [...] die erste Bedingung" — damals wie heute, vgl. Berdyczewski, Zur Klärung, 283. Bin-Gorion, Sinai und Garizim, 484. (Unterstreichung im Text) Vgl. Emanuel Bin-Gorion, „Das bibelkritische System", in: Rahel und Emanuel Bin-Gorion (Hrsg.), Gedächtnisschrift %um zehnten Todestage von Micha Josef Bin Gorion, Berlin 1931, 5 2 - 6 1 . Einer vernichtenden exegetischen Kritik unterzieht Bernard Heller das Werk von Bin-Gorion, in: MGWflX (1927), 141-144. Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Berlin 2 1928, Neudruck, Wiesbaden 1966. Aber Cohen verwirft den Mythos nicht vollständig. „Der Mythos", schreibt er, „ist überall das Morgenrot der Kultur, aber der Sonnentag der Sittlichkeit bricht mit ihm noch nicht an" (292). Natürlich meint Cohen nur den heidnischen Mythos, der durch den ethischen Monotheismus der Propheten transformiert worden ist. Die Bibel hat schicksalhafte, rückwärtsgewandte, regressive Mythen in zielgerichtete, zukunftsbezogene, progressive Ideale

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Rückfalls in den Mythos im Nationalsozialismus gerade Exponenten der Aufklärung fragwürdig. In „Der Mythos des Staates" (1944) erörtert etwa der CohenSchüler Ernst Cassirer den politisch erzeugten „Rückfall" vom Logos in den Mythos; in „Dialektik der Aufklärung" (verfaßt 1 9 4 2 - 1 9 4 4 , EA 1947) zeigen Adorno und Horkheimer, daß just die Aufklärung mit ihrem totalen Entmythologisierungsprogramm dialektisch zum mythischen Verhängnis wird; in „Die Zerstörung der Vernunft" (1954) macht Lukäcs nicht den totalitären Staat und nicht die Aufklärung, sondern einfach den deutschen Irrationalismus für den Rückfall verantwortlich. Der Prophet der „Wiedergeburt des deutschen Mythus" war der frühe Nietzsche der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872). Im 23. Kapitel ruft Nietzsche als Prophet Richard Wagners zur Rückkehr aus der Moderne in die „mythische Heimat" auf. Die „mythenlosen" Menschen der Moderne sollen wieder, wie im Altertum, zum „mythengeleiteten" Menschen werden. An ihn knüpfen die jüdischen Nietzscheaner75 neben allen möglichen nichtjüdischen vielfach an. Läßt sich das liberale Programm mit dem Titel von Cohens religionsphilosophischem Hauptwerk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" prägnant zusammenfassen, so könnte man das antiliberale Programm der freilich nicht nur aus Nietzscheanern bestehenden Genera-

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verwandelt (285 — 293). Aber einem Mythos zollt Cohen ausdrücklich Respekt: „Im Zyklus der Dionysos-Mythen entsteht der tiefsinnige Gedanke von Zagreus, dem zerrissenen Gott, der sich über die Welt verteilt, der aber die Wiedervereinigung seiner Teilung anstrebt" (292). Cohens Quelle war vermutlich Erwin Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglauben bei den Griechen, Repr. der 2 1898, Darmstadt 1974, Bd. 2, 116 ff., 132, Anm. 1. Hier ergeben sich unerwartet Zusammenhänge mit Nietzsche. In der Einleitung zu seiner vielbändigen „Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters" (Bd. 1, I, Berlin 1907) beschreibt David Neumark die Bedeutung des Judentums als „Befreiung vom Mythos" (4). Die Geschichte der jüdischen Philosophie sei von Anfang an, und das heißt für ihn seit den Propheten, ein dauernder innerer und äußerer Kampf der Philosophie gegen die Mythologie gewesen. Neumark bestreitet nicht, daß auch das griechische Denken „mit dem Kampf gegen die Mythologie" beginnt (23). Aber im Kampf des Logos gegen den Mythos haben die Propheten, nicht die Philosophen, die „nimmer versagende Waffe" (13) bereitgestellt. Neumark betrachtet diesen Kampf aber keineswegs als einen Siegeszug „vom Mythos zum Logos", sondern als einen dialektischen Prozeß. Gegen den naiven Fortschrittsoptimismus betont er, daß jede philosophische Entmythisierung als „Gegenreaktion" eine „mythologische Neubildung", einen „Rückfall ins Irrationale" hervorrufe (4, 12 ff). Einer dieser Remythisierungsschübe ist nach David Neumark die Kabbala (206 — 209). „Das reine und klare Denken muß immer wieder den Kampf gegen die Mythologie aufnehmen." Die Aufklärung, die Aufklärung der Aufklärung usw. ist jedoch keine Sisyphusarbeit, sondern eine zunehmende Klärung der Vernunft über ihre Selbsttäuschungen. Martin Buber setzt sich trotz dieser differenzierten rationalistischen Betrachtungsweise in seiner Verteidigung des „Mythos der Juden" gerade mit der Behauptung Neumarks: „Die Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion ist in Wahrheit die Geschichte der Befreiungskämpfe gegen die eigene und fremde, altehrwürdige und neugedichtete Mythologie." auseinander und akzeptiert sie, allerdings unter umgekehrten Wertvorzeichen. Vgl. Buber, Der Mythos der Juden, 24. Vgl. Jacques le Rider, Les intellectuels juifs Viennois et Nietzsche. Autour de Sigmund Freud, in: Dominique Bourel, Jacques le Rider, De Sils-Maria a Jerusalem. Nietzsche et le judaisme. Les intelleäuels et Nietzsche, Paris, 1991, 191 - 1 9 3 .

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tion von 1900 in der umgekehrten Formel „Religion des Mythos aus den Quellen des Judentums" ausdrücken. Oskar Goldberg gilt der Pentateuch, Buber die Bibel und die chassidischen Legenden, Micha Josef Berdyczewski die Sagen des Midrasch und der Aggada, Gershom Scholem die Kabbala als verdrängte Quellen der jüdischen Mythologie bzw. als reaktive Remythisierungsschübe auf den rabbinischen Rationalismus. 76 Die jüdischen Nietzscheaner betrachteten insbesondere den Rationalisierungsprozeß nicht als Fort-, sondern als Rückschritt und treten für die Wiedergeburt des jüdischen, ja sogar des altisraelitischen und kanaanäischen Mythos ein. Die Ablehnung der Entwicklung und die Aufforderung zur Rückkehr zu den vorbiblischen Wurzeln ist Counter-History als Negation des Sinns der Geschichte. Das soll hier mit einer topischen Figur des jüdischen Nietzscheanismus illustriert werden. a. Der Topos dafür ist der Kampf Elias gegen die Propheten des Baal auf dem Karmel. 1900 hat Berdyczewski den Entscheidungskampf des Propheten auf dem Karmel (1. Könige 18), d. i. die Entscheidung zwischen Heidentum und Judentum im Reich Israel, in Frage gestellt — als Frage seines Sohnes. 77 Er erzählt die biblische Geschichte wie einen Wettbewerb zwischen gleichrangigen Göttern, den zufällig der Gott Elias gewonnen habe. Er fragt sich, was wohl passiert wäre, wenn Elia den Kampf gegen die Propheten des Baal zufallig verloren hätte, wenn nicht der „Wunderbeweis" entschieden hätte. 78 Dann, meint er, „wären wir vielleicht nicht von unserem Land verbannt worden, und wir hätten nicht unsere Erde verloren." Der Sieg des Gottes Elias über die Baalim hat das Schicksal Israels besiegelt. Nach Tausenden von Jahren wird die Abkehr vom Götzendienst vom Sohn eines chassidischen Rabbiners und Studenten der Jeschiwa von Wöloschin als Irrtum der Geschichte Israels erkannt. Die Leidensgeschichte und Lage der Juden zeigt, daß es falsch war, dem Gott Elias zu folgen. Hoffnung ist nur in der Rückkehr zu den heidnischen Göttern des Lebens, des Bodens. Tschernichowsky läßt in dem Gedicht Cbason newi-haaschera (1933) 79 die radikale Revision der heiligen Geschichte, die Berdyczewski dem Publikum insgeheim (bachaschj) zuflüstert, einen Propheten der Aschera, der dem Massaker am Kischon entronnen ist, laut verkünden. Der 76

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Gershom Scholem, „Kabbala und Mythos" (1950), in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik (1960), Frankfurt/M. 6 1989, beschreibt die Kabbala als „Reaktion", als „Gegenschlag", als „Rache" (132) gegen die „Tendenz der [...] klassischen jüdischen Tradition zur Liquidation des Mythos" (118). In dieser Hinsicht vergleicht er die Kabbala, besonders die lurianische Kabbala (147), mit der Gnosis. Diese sei eine „Revolte gegen das antimythische Judentum", ein „Ausbruch später und schon denkerisch verkleideter, aber desto intensiverer mythenschwangerer Kräfte" (131). Scheelot mbearot, Kol maamanm, 54. Der Ausdruck kotle bet-bamidraschjochichu (bBM 59b), d. h. „so mögen die Wände des Lehrhauses beweisen" ist der Ausdruck für einen im Lehrhaus nicht zugelassenen Wunderbeweis, dort zählt nur der logische bzw. exegetische Beweis. Tschernichowsky: Gedichte, 501.

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Prophet nimmt die Natur zum Zeugen und weissagt gegen den Propheten Gottes (hoj, hoj, kohane adonai elohim), daß das Volk nach einer erdrückenden Herrschaft Gottes und seiner Gesetze, nach einem langen und erniedrigenden Exil wieder ins Land zurückkommen und die Baalim wieder die Götter der Pioniere werden würden. Zionismus mündet in der Perspektive der Nietzscheanischen Wiederkehr des Mythos in der Remythisierung und Repaganisierung des Judentums. b. Dieser primitivistischen Counter-History entsprechen „kanaanitische" Geschichtskonstruktionen, die seit den dreißiger Jahren in einem ganz anderen Kontext auftauchen. Bei dieser „kanaanitischen" Counter-History handelt es sich, wie der Historiker des „Kanaanismus", Yaakov Shavit, betont, nicht um Counter-History im Sinne von Biale, also um antinormative Strömungen, sondern um antikonformistische „Geschichtskonstruktionen". 80 Hier werden im Gegensatz zur traditionellen Geschichtsauffassung andere Subjekte der Geschichte, andere Zeitachsen, andere, um mit Emil Fackenheim zu sprechen, „roots experiences" und „epoch-making events" 81 angesetzt. Wir müssen uns hier auf eine kurze Skizze beschränken. 82 Wie den jüdischen Nietzscheanern geht es auch den Kanaanäern um die Uberwindung des Diasporajuden durch einen autochthonen „Hebräer" und um ein heroisches Geschichtsbild, das zudem die politischen Ansprüche und Visionen der „Hebräer" im Nahen Osten rechtfertigt. Im Unterschied zum philosophischen Hintergrund des jüdischen Nietzscheanismus stützen sich aber die Vordenker des „Kanaanismus", A. G. Horon (1907-1975) und sein Schüler Jonathan Ratosch (1908-1981) 8 3 , auf die zeitgenössische Geschichte des vorderen Orients und auf die Funde der französischen Archäologie in Ras Schamra/Ugarit. Dabei wurde zunächst ein neues, hebräisches Subjekt der Geschichte konstruiert: die hebräische Zivilisation im fruchtbaren Halbmond, die Israeliten, Phönizier und Kanaanäer sowie die Edomiter, Moabiter, Amoräer umfaßte. Israel als „Hinterland" der phönizischen Stadtstaaten, das war ein Geschichtsbild, das aus dem Volk der Nomaden, Sklaven und Exulanten ein Volk von heroischen Seefahrern, Eroberern und Kolonisatoren machte. Damit war gegen die aterritorialistische, isolationistische, monotheistische eine territorialistische und polytheistische Version der Geschichte des alten Israel und zugleich eine hebräisch-phönizisch-karthagische 80

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Yaakov Shavit, The New Hebrew Nation. A Study in Israeli Heresy and Fantasy, London 1987, 179, FN 1. Vgl. E. Fackenheim, God's Presence in History. Jewish Affirmations and Philosophical Reflection, New York/London 1970. Zu den „roots experiences" zählt Fackenheim Exodus, Sinai und Holocaust (!), zu den „epoch-making events" Tempelzerstörung und Makkabäeraufstand. Wir folgen der Rekonstruktion in Yaakov Shavit, The Hebrew Nation, 7 7 - 9 1 . Horon hieß ursprünglich Gurewitsch und nannte sich nach dem kananäischen Rachegott Horon. Jonathan Ratosch hieß ursprünglich Uriel Halperin. Vgl. James S. Diamond, Homeland or Holy Land? The „ Canaanite" Critique of Israel, Bloomington/Indianapolis 1986.

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Gegengeschichte zur antiken griechischen und römischen Geschichte gewonnen. Der Prophet Elia, der auf dem Karmel gegen den phönizischen Einfluß der Königin Isebel, Tochter Etbaals, des Königs von Sidon, und den Baalskult in Israel kämpft (1. Könige 16, 32 f.), erscheint als konservativer Reaktionär gegen den hebräischen Imperialismus. Dieser unterliegt nach dieser Geschichtskonstruktion im Bar-Kochba-Aufstand endgültig dem griechischen und römischen Imperialismus. Die spätere jüdische Diaspora ist in dieser Sicht keine Folge des Exils, sondern der Kolonisation, und die „Hebräer" bzw. „Kanaanäer", die daraus wieder hervorgehen sollen, sind die einzigen Eingeborenen und legitimen Erben Palästinas! Gegengeschichte in allen soeben unterschiedenen Bedeutungen kommt im jüdischen Nietzscheanismus und seinen Folgen vor: als Protest gegen den Ballast der Geschichte (A), als Kritik der akademischen Geschichtsschreibung (B), als Revision des Gerichts der Geschichte (C), als Konstruktion alternativer Versionen der Geschichte (D), als Negation des Sinns der Geschichte (E). Es ist vielleicht nützlich zu unterscheiden, in welchem Sinn der Begriff der „CounterHistory" von den jüdischen Nietzscheanern gebraucht wird und in welchem Sinne nicht. Der jüdische Nietzscheanismus ist nicht die Sache „marginaler", „nichtjüdischer" Juden, sondern im Gegenteil von Kritikern der entfremdeten, entwurzelten Juden, der taluschitn.M Von Nietzsche entlehnen sie die Rhetorik für ihre Propaganda einer sprachlichen, kulturellen und politischen Einwurzelung. Das Kriterium ihrer Kritik der jüdischen Geschichte, der Maßstab ihrer Counter-History, lautet: Schlecht ist, was die Entwurzelung, gut, was die Einwurzelung fördert. Sie lehnen jede Sicht des Judentums ab, die es in Gegensatz zur Geschichte und Geographie bringt: das abseits stehende Volk, das nicht zu den Völkern gezählt wird (4. Mose 23, 10), das außerhalb der Geschichte oder darüber stehende, das unglückliche, das wartende, das wegweisende Volk usw. 85 Wenn man solche sei es jüdisch oder antijüdisch motivierte Vorstellungen von der jüdischen Geschichte Counter-History nennt, dann müssen diejenigen der jüdischen Nietzscheaner als Counter-Counter-History bezeichnet werden — eine doppelte Negation, die wieder zur Einwurzelung und Unmittelbarkeit des Lebens zurückführen soll: Der heimatlose Jude soll wieder ein eingeborener, bodenständiger, wehrhafter Hebräer werden. Wo sind Quellen der Counter-History der jüdischen Nietzscheaner bei Nietzsche? In welchem Zusammenhang steht die Counter-History des jüdischen Nietzscheanismus mit Nietzsches Aussagen zum Judentum? 84

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Vgl. Ehud Luz, Spiritual and Antispiritual Trends in Zionism, in: Arthur Green, Front the Sixteenth-Century Revival to the Present, New York 1987, 371 - 4 0 1 . Zu modernen messianischen und apokalyptischen Entwürfen der jüdischen vgl. Biale, Cershom Scholem, 196 ff. Stephane Moses, L'Ange de l'histoire. Rosenvjveig, Paris 1992. Michael Löwy, Redemption et Utopie, Le judaisme libertaire en Europe d'afßnite elective, Paris 1988.

Jewish Spirituality. Counter-History Benjamin, Scholem, centrale. Une etude

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3. Nietzsche und derjüdische

Niet^scbeanismus

A. Das Kriterium der Counter-History der jüdischen Nietzscheaner ist die Umwertung aller Werte, die sich in der Umschreibung der Geschichte ausdrückt. Nietzsche illustriert die Umwertung der Werte mit dem alttestamentlichen Motiv vom Zerbrechen der Tafeln am Sinai. Auf dieses Motiv, das, wie wir sahen, für die jüdischen Nietzscheaner charakteristisch ist, müssen wir zuerst eingehen. Nach Nietzsches Darstellung im Ecce Homo ist der aus der Gesamtkonzeption des Also sprach Zarathustra deutlich herausragende Abschnitt „Von alten und neuen Tafeln" eine entscheidende Partie des Werkes.86 Das Motiv der Tafeln durchzieht in der Tat das ganze Werk. Der Prophet, der vom Berge zu den Menschen heruntersteigt, will ihre Tafeln zerbrechen. Er kommt als „Brecher der Tafeln", als „Verbrecher"87 — in der hebräischen Ubersetzung von David Frischmann als „schower" und „ower" — und tritt gegen die „Guten und Gerechten", gegen die „Hirten" des „rechten Glaubens" und ihre „Herde" auf. Der Zorn Zarathustras („Wenn mein Zorn [...] alte Tafeln zerbrochen in steile Tiefen rollte" 88 ) richtet sich nicht wie der Zorn des Mose (2. Mose 32, 19) gegen die Gesetzesbrecher, sondern gegen die Gesetzestafeln, die er bei den Menschen vorfindet. Er ruft: „Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln." 89 Mit den „alten Tafeln" sind hier freilich nicht nur die Tafeln vom Sinai gemeint: „Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke." 90 Alle Wertetafeln sollen überwunden werden — die agonalen Werte der Griechen, Perser und Germanen nicht minder als die servilen Werte der Israeliten, die im 5. Gebot zusammengefaßt sind. 91 Vor allem die lebensfeindlichen Tafeln sollen zerbrochen werden, die Tafeln der „Nimmer-Frohen" 92 , der „Welt-Verleumder"93, der „Weg-Müden"94. Auf sie trifft die Schelte Zarathustras zu: „eine Predigt des Todes, dass heilig hiess, was allem Leben widersprach und widerrieth? — Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!" 95 Aber nicht nur die bestehenden Tafeln, sondern die Tafeln als solche, die lebens feindliche Fixierung, die Versteinerung der Werte soll überwunden werden. Die „neuen Tafeln" sollen nicht nur einen neuen Inhalt, sie sollen auch eine neue Form haben: keine festen Wertetabellen, 86 87

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Za III, Von alten und neuen Tafeln (KSA 4.246-269). Za Vorrede 9 (KSA 4.26) (Frischmann übersetzt: haisch ascher jeschaber et-luchot haarachim ascher lahem, hu haschower, hu haower) und Za III, Von alten und neuen Tafeln 26 (KSA 4.265 f.). Za III, Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied) 2 (KSA 4.288). Za III, Von alten und neuen Tafeln 7 (KSA 4.251), 10 (KSA 4.253). Za I, Von tausend und Einem Ziele (KSA 4.74). „,Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein ihnen zu Willen sein' [...]", Za I, Von tausend und Einem Ziele (KSA 4.75). Za III, Von alten und neuen Tafeln 13 (KSA 4.256). Za III, Von alten und neuen Tafeln 15 (KSA 4.257). Za III, Von alten und neuen Tafeln 16 (KSA 4.258). Za III, Von alten und neuen Tafeln 10 (KSA 4.253).

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s o n d e r n veränderliche Tafeln mit frei flottierenden Werten.

Entsprechend

schwierig gestaltet sich ihre Feststellung: „Hier sitze ich und warte, alte z e r b r o chene Tafeln u m mich und auch neue halb beschriebene Tafeln." 9 6 D e r Verkünder sucht mit der prophetischen Formel f ü r das N e u e Testament nach Jüngern: „ w o sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen?" 9 7 D a s Bild des Zerbrechens der Tafeln — auch nach der jüdischen Tradition der revolutionäre A k t par excellence 9 8 -

f ü h r t gleichwohl i m m e r wie-

der auf den D e k a l o g und seine Uberbietung, auf die Konstellation Α . Τ. — Ν. T. zurück. D i e neuen Tafeln w e r d e n im K o n t r a s t zu d e n alten Tafeln g e w o n n e n . D i e neuen Tafeln sind aber nicht die U m k e h r u n g der alten, s o n d e r n die alten Tafeln die U m k e h r u n g der neuen, ursprünglicheren Tafeln des Lebens. D i e Lebensverneiner, die „ f r o m m e n Hinterweltler", haben die G e s e t z e des Lebens auf den K o p f gestellt, es gilt, sie wieder auf die Füße zu stellen. D i e G e b o t e des Dekalogs w e r d e n als G e b o t e gegen das L e b e n endarvt. Sind nicht das 6. u n d 8. G e b o t (nach jüdischer Zählung): „ D u sollst nicht rauben! D u sollst nicht totschlagen!" S ü n d e n w i d e r das Leben, das in allem „Rauben und Todtschlagen"

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Za III, Von alten und neuen Tafeln 1 (KSA 4.246). Za III, Von alten und neuen Tafeln 4 (KSA 4.249). Vgl. Ez 11, 19; 36, 26;Jer 31, 33; 2 Kor 3, 3. Die jüdische Tradition hat den Akt nicht immer entschuldigt, sondern gelegentlich auch als felix culpa gerechtfertigt. Der Zorn des Mose in Vers 19 überrascht die Kommentatoren, da er doch in Vers 7 von Gott über alles informiert worden war und den Zorn Gottes besänftigt hatte (Vers 11 — 15). Wie konnte Mose in seinem Zorn die Tafeln, die in den Versen unmittelbar davor als „Werk Gottes" (maasse elokim) und als „Schrift Gottes" (michtaw elokim) beschrieben worden waren (2. Mose 32, 16), in denen mehrfach der sakrosankte Gottesname „eingraviert" {charut) war, zertrümmern? War dieser Gestus nicht im höchsten Maß und eigentlichen Wortsinn gesetzesbrecherisch? Vgl. Maimonides: „Mischne Tora", Hilchot Jessode Hatora 6, 1. Die Tradition hat aber Mose just diesen Akt zum höchsten Verdienst angerechnet. Dieser „Heldentat" Mose wird in der Tora öfter mit dem gleichen Ausdruck gedacht (2. Mose 34, 1; 5. Mose 10, 2; 9, 17). Im Vers 2 Mose 34, 1 bekommt Mose den Auftrag, die zweiten Tafeln zu behauen, damit Gott sie wie die ersten beschrifte, „die, wie es da heißt, Du zerschmettert bast" [ascher schibarta). Das hat man als Bestätigung des Mose gelesen. Das Wort ascher („welche") wird mit dem Wort aschrei d. h. „heil dem [...]", „glücklich, wer [...]" und jischar des Ausdrucks jischar kochacha d. h. „möge deine Kraft stark sein" bzw. „möge Er deine Kraft stärken" assoziiert. Damit wird der Dank an jemanden ausgedrückt, der ein Gebot erfüllt hat. Diese Erklärung bringt Raschi in seinem Kommentar zum letzten Vers der Tora 5. Mose 34, 12, wo der „starken Hand" (hajad hachasaka) des Mose gedacht wird, die, wie Raschi meint, die schweren Tafeln getragen, die sie aber auch zerschmettert hat (vgl. auch Raschi zu bShab 87a). Es ist merkwürdig, daß der Kommentar von Raschi zur Tora mit den Worten endet: jischar kochacha scheschibarta („Heil dir, daß Du sie zerbrochen hast.") Die Quelle Raschis ist bMen 99a—b: Der Amora R. Schimon bar Lakisch (3. Jh.), der diese Ableitung vorträgt, erläutert sie mit dem geflügelten Wort: peamim schebitula schel tora sehujissuda („Manchmal ist die Aufhebung der Tora ihre Wiederbegründung.") Der Akt wird als Schocktherapie verstanden. Die zweiten Tafeln sind nach der Tora inhaltlich keine neuen Tafeln, sondern ausdrücklich (2 Mose 34) die genaue Kopie der alten Tafeln. Nach der traditionellen Auslegung zu 5 Mose 10, 2 werden die Bruchstücke der alten Tafeln gleichwohl in der Bundeslade mitgeführt (bMen 99a). Die Gesetzgebung muß wiederholt werden und der erste Gesetzesbruch sinnfällig als Zeugnis aufbewahrt werden.

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Daniel Krochmalnik

ist?" Ist nicht das Begehren Ausdruck des Lebens und der Ehebruch — das 10. Verbot — die natürliche Folge schlechter Ehen? 100 Die neuen Tafeln sind, gegen das 2. Gebot, Tafeln eines neuen Adels, 101 neuer Schöpfer neuer Werte, 102 neuer Götter. 103 Nicht eines Adels der Herkunft, sondern der Zukunft. Darum steht auf diesen Tafeln nicht das 5. Gebot: „Vater und Mutter ehren", sondern: die Kinderliebe. 104 Die neuen Tafeln sind auch keine Bundestafeln. 105 Das Zertrümmern der alten Tafeln setzt neue Kräfte und neue Herren frei, die nicht gebunden werden dürfen; 106 das Zerbrechen der alten Tafeln ist ein Aufbruch 107 in die Utopie 108 . Die neuen Tafeln enthalten vor allem eine Antithese zu den christlichen Tafeln. 109 Gleichwohl enden die Stifter altneuer Tafeln im metaphorischen Kontext, trotz aller Abscheu vor dem „schlimmste [n] aller Bäume" 110 —, am Kreuz: Die „Pharisäer", heißt es hier, „kreuzigen Den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt"111 und opfern sich freudig den Priestern der alten Tafeln. 112 Die jüdischen Nietzscheaner betrachten sich auch als die Brecher der alten Tafeln und Stifter neuer oder vielmehr als Entdecker uralter, „verborgener Ta99 100

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Za III, Von alten und neuen Tafeln 10 (KSA 4.253). „ ,wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe — mich!'" Za III, Von alten und neuen Tafeln 24 (KSA 4.264). „[...] auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ,edel'", Za III, Von alten und neuen Tafeln 11 (KSA 4.254). „[...] Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, — / — Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz", Za III, Von alten und neuen Tafeln 29 (KSA 4.268). „,Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!'" Za III, Von alten und neuen Tafeln 11 (KSA 4.254). „An euren Kindern sollt ihr g u t m a c h e n , dass ihr eurer Väter Kinder seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!", Za III, Von alten und neuen Tafeln 12 (KSA 4.255). „[...] kein .Vertrag'! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen der Halb- und Halben!", Za III, Von alten und neuen Tafeln 25 (KSA 4.265). Za III, Von alten und neuen Tafeln 25 (KSA 4.265). „Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hiess und die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe See ...", Za III, Von alten und neuen Tafeln 28 (KSA 4.267). „Eurer K i n d e r Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel, — das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen!", Za III, Von alten und neuen Tafeln 12 (KSA 4.255). „[·..] härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. / Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: w e r d e t h a r t ! " Za III, Von alten und neuen Tafeln 29 (KSA 4.268); „[...] s c h o n e d e i n e n N ä c h s t e n nicht" Za III, Von alten und neuen Tafeln 4 (KSA 4.249); „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fallt, das soll man stossen! / [...] Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt? (— analog zu den Tafeln. D. K.)" Za III, Von alten und neuen Tafeln 20 (KSA 4.261 -262). Za III, Von alten und neuen Tafeln 12 (KSA 4.255). Za III, Von alten und neuen Tafeln 26 (KSA 4.266). Za III, Von alten und neuen Tafeln 6 (KSA 4.250-251).

Neue Tafeln

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fein" (luchot genusim113). Anstelle der Werte der Diaspora, des schattenhaften, blutleeren Spiritualismus, des abstrakten, heimadosen Universalismus der Juden, wollen sie, Zarathustras Devise „bleibt der Erde treu" folgend, die Werte des ursprünglichen mythengeleiteten, erdverbundenen, erotischen Hebräers, eines Ubermenschen im Sinne Nietzsches, setzen. Nun ist zu klären, in welchem Zusammenhang die antinormativen, antinomistischen Geschichtskonstruktionen der jüdischen Nietzscheaner mit Nietzsche stehen. B. Das Modell der Counter-History der jüdischen Nietzscheaner hat Nietzsche im 25. und 26. Abschnitt des Antichrist entworfen. Die Geschichte Israels wird als Paradigma der „Entnatürlichung der Natur-Werte" hingestellt. „Ursprünglich, vor allem in der Zeit des Königthums, stand auch Israel zu allen Dingen in der r i c h t i g e n , das heisst natürlichen Beziehung." 114 Gott („Jahve") und die Moral waren der natürliche Ausdruck der Selbstbejahung und des Machtbewußtseins des Volkes. Der Machtverlust des Volkes wurde aber nicht als Beweis der Ohnmacht, sondern der Macht Gottes gedeutet —, der Israel mit übermächtigen Völkern für seine Sünden straft. Damit zerbricht die ursprüngliche und natürliche Einheit von Gott und Volk und der „entnatürlichte" Gott tritt als Richter in einen unnatürlichen Gegensatz zum Volk, das nun sein Schicksal aus der „widernatürlichen" Kausalität von Lohn und Strafe deutet. Die Umdeutung des positiven in einen negativen Gottes- und Moralbegriff ist für Nietzsche, wie für die Aufklärung, „Priesterbetrug", den Nietzsche mit voltairescher Verve brandmarkt. Die Priester haben nach dem ursprünglichen Gottes- und Moralbegriff die Geschichte Israels gefälscht, sie haben jenes Wunderwerk von Fälschung zu Stande gebracht, als deren Dokument uns ein guter Theil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit

113

So der Titel des 1948 erschienen Werkes Salman Schne'urs (1887 — 1959), eines weiteren bedeutenden Nietzscheaners in der neuhebräischen Literatur. Dieser Gedichtzyklus geht von der Fiktion aus, daß bei archäologischen Ausgrabungen in Israel Tafeln gefunden werden, die nicht die Zensur der Tradition durchgemacht haben und im biblischen Stil eine antibiblische Version der Geschichte Israels enthalten; die verdrängten Stimmen der Opposition kommen zu Wort. Die neuen Tafeln sollen die ursprünglichen, von der Tradition verschütteten Tafeln erneuern. Ein altneuer Mensch soll nach den altneuen Tafeln gebildet werden, das Gegenstück zum Typus des Juden. Einen solchen Helden hat Schne'ur mit der Figur des Noach im Pandre hagibor („Pandre der Held") (hebr.), Berlin, 1937, (jidd.) Berlin 1938, (dt. v. G. Fischer, J. Leftwich) 1946 geschaffen. Noach ist ein Held ohne Furcht und Tadel, ein Held, der den Helden der heroischen Zeit Israels gleicht im Gegensatz zum unterwürfigen Gola-Juden. Ein Held, der wie der Mensch „Noach" heißt und auch den Nichtjuden Respekt abnötigt. Nach den Maßstäben der Tradition wäre er freilich Antiheld, ein Nachkomme Israels, der aber nicht wie Jakob im Zelt, d. h. in der Jeschiwa sitzt und studiert, sondern „mit den Händen Esaus" handelt, der nicht passiv, fatalistisch, resigniert ist, sondern das Leben meistert. Von der gleichen Tendenz ist Schne'urs Ehrenrettung des traditionell negativen Typus des am haare^ („Mann des Landes", des Ignoranten ), der nicht von der Blässe der Gelehrten angekränkelt ist und dem Leben positiv gegenübersteht, in seinem Schir mismor leame haaraspt.

114

AC 25 (KSA 6.193).

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Daniel Krochmalnik mit einem Hohn ohne Gleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse übersetz [...]. Man sehe sie am Werk: unter den Händen der jüdischen Priester wurde die g r o s s e Zeit in der Geschichte Israels eine Verfalls-Zeit; das Exil, das lange Unglück verwandelte sich in eine ewige S t r a f e für die grosse Zeit [...] Sie haben aus den mächtigen, s e h r f r e i gerathenen Gestalten der Geschichte Israels, je nach Bedürfniss, armselige Ducker und Mucker oder „Gottlose" gemacht, sie haben die Psychologie jedes grossen Ereignisses auf die Idioten-Formel „Gehorsam o d e r Ungehorsam gegen Gott" vereinfacht. 1 1 5

Die priesterliche Geschichtsfälschung dient natürlich der Errichtung einer Priesterherrschaft, die alle natürlichen Verhältnisse „entnatürlicht", „entwertet", „entheiligt" — um sie dann besser „heiligen" zu können. Nietzsches Verfallsgeschichte Israels entspricht strukturell seiner Verfallsgeschichte der griechischen Kultur, des Christentums und des Abendlandes und zielt auf eine archaistische Utopie. Berdyczewski zitiert die Passage aus dem Antichrist in „Umwertung der Werte", in der sich alle Motive der jüdischen Nietzscheaner wiederfinden, in extenso. 116 Es gilt, die große Geschichtsfälschung zu entlarven, die aus der großen Zeit Israels eine Sünde macht, für die Israel mit dem Exil büßt. Die jüdischen Nietzscheaner setzen dagegen: Es sei umgekehrt die Negierung dieser Zeit, ihrer vitalen Werte und ihrer heroischen Tugenden, eben die Sünde, die zum Exil geführt habe. Nur die Rückkehr zum ursprünglichen Israel vermag die Juden aus ihrer zweitausendfünfhundertjährigen Verfallsgeschichte zu erlösen. Wenn „Heiden", wie Nietzsche im Antichrist sagt, „alle (sind), die zum Leben ja sagen, denen ,Gott' das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist", dann bedeutet Rückkehr zum ursprünglichen Israel auch Rückkehr zum heidnischen, zum kanaanäischen Israel und Erlösung von einer zweitausendfünfhundertjährigen Verneinung des Lebens. In den Abschnitten des Antichrist kommen die Propheten als „Kritiker und Satiriker des Augenblicks" gut weg. Das ist bei Nietzsche und vor allem bei den jüdischen Nietzscheanern nicht immer so. Im 195. Abschnitt von Jenseits von Gut und Böse wird den Propheten die „Entnatürlichung" angelastet, sie haben ,reich', ,gottlos', ,böse', .gewalttätig', .sinnlich' in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort .Welt' zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werte [...] liegt die Bedeutung des jüdischen Volkes: mit ihm beginnt der Sklavenaufstand in der Moral.

Die jüdische „Umkehrung der Werte" wollen die jüdischen Nietzscheaner wieder umkehren und durch die doppelte Negation das ursprüngliche, natürliche Leben wiederfinden. Der Angriff auf die „Propheten" ist eine Verteidigung der falschen, der heidnischen Propheten und ihrer Götter und Mythen. Für die 115 1,6

AC 26 (KSA 6.194-196). Berdyczewski: Kol maamarim

{Anu wahem),

47—48.

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Counter-History der jüdischen Nietzscheaner und Kanaanäer ist die archaische, heidnische Vergangenheit die Utopie. Wobei der Begriff „Counter-History" eigentlich nicht ihrer Bewußtseinslage entspricht. Für sie ist die priesterliche, die prophetische, die rabbinische GeschiehtsFälschung in Wahrheit „Counter-History", unter der die ursprüngliche Geschichte Israels begraben liegt. Es wird deutlich, wie sehr die Kritik der jüdischen Geschichte im jüdischen Nietzscheanismus mit der nietzscheanischen Kritik der Geschichte übereinstimmt. Die jüdischen Nietzscheaner begreifen wie Nietzsche die Geschichte als Anschlag auf das Leben und internalisieren dabei den negativen Part, den er den Juden bzw. Christen in diesem Dunkelmänner-Komplott zugedacht hat. Die billigen psychologischen Formeln: „Identifikation mit dem Aggressor", „Jüdischer Selbsthaß" sind hier jedoch fehl am Platz. Der jüdische Nietzscheanismus versteht sich nicht als Verleugnung, sondern als auftrumpfende Behauptung der jüdischen Identität gegen die schuldbewußte Tradition und die verschämte Assimilation. Der Begriff des „Selbsthasses" ist vielmehr ein Produkt dieser Selbstbehauptung, die die zionistische Rebellion der Jahrhundertwende auszeichnet.

4. Jüdischer Niet^scheanismus und die ^zionistische Kulturrevolution A. 1900 war eine Kritik der Geschichte in den Reihen der Zionisten nicht ungewöhnlich. Sie findet sich im ganzen Spektrum der zionistischen Kulturrevolution wieder. Die Verneinung der Diaspora {schhlat hagalul),117 die Uberwindung des Diasporajuden, wird auch von denen gefordert, die Nietzsche reserviert oder ausgesprochen ablehnend gegenüberstehen. Aber in einem Punkt gehen die jüdischen Nietzscheaner doch weiter als alle anderen Strömungen des Zionismus. Sie fordern mit der Verneinung des Exils auch die Verneinung der Ursachen des Exils, und das bedeutet die Verneinung der religiösen Rechtfertigung des Exils und die Anknüpfung an eine vorexilische Religion. Die jüdischen Nietzscheaner geben nämlich dem Juden als solchem die Schuld für das Exil, und zwar nicht wie die jüdische Liturgie den schlechten, sondern den guten Juden. Die Entfremdung des Juden von der Erde, vom Leben, von der Natur, von den Instinkten hat ihn endlich reif für das Exil gemacht. Das Judentum ist der Erreger, nicht die Therapie für die Diaspora-Krankheit. Folglich kann die Diaspora nur durch die Verneinung des rabbinischen, des synagogalen Judentums überwunden werden. Der Zionismus, so fordert Berdyczewski, müsse gleichzeitig Erbe der Aufklärung und Säkularisierung und des antinomistischen

117

Vgl. Eliezer Schweid, The Rejection of the Diaspora in Zionist Thought. Two Approaches, in:

Studies in Zionism

5 (1984) 1, 43-70.

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Messianismus werden und dürfe nicht in „religiöse Romantik"118 zurückfallen. Der Zionismus muß die priesterliche Kultur abschütteln, er muß die Juden erden und ihnen eine weltliche Kultur zurückgeben. Alle zionistischen Programme wollten die Dissimilation, doch das Programm der jüdischen Nietzscheaner und Kanaanäer führte zur Selbstdissimilation und paradoxerweise zur kollektiven Assimilation im biblischen und rabbinischen Sinn, nämlich zur Paganisierung des Judentums. Entsprechend radikal fällt die Revision der jüdischen Tradition und Geschichte aus. Die Counter-History der jüdischen Nietzscheaner ist eine extreme Erscheinung der nationalistischen Umwertung aller jüdischen Werte. Nietzsche war in dieser Hinsicht doch ein „Prophet" und „Lehrer" Israels — wider das Judentum. Das mag als das bedenkliche Resultat einer Richtung erscheinen, die vielleicht mehr als jede andere die moderne hebräische Literatur und Dichtung geprägt hat und deren prosaischer Abklatsch der israelische Säkularismus ist. Die auftrumpfende Selbstbehauptung schlägt wider Willen in eine subtile Selbstverleugnung um. Dieses Resultat stellt die „Counter-History" überhaupt in Frage. Arnos Funkenstein hat, im Hinblick auf David Biales Begriff der „CounterHistory",119 die „Gegengeschichte" als schädliche Form der Geschichtsschreibung kritisiert. Er charakterisiert die Methode dieses „literarisch-polemischen Genres" so: „die bewährtesten Quellen des Gegners systematisch entgegen ihrer Intention zu verwenden, die ,Geschichte gegen den Strich (zu) bürsten'" 120 , und zwar mit der Absicht das „Selbstbild" des Gegners zu verzerren. Als Beispiele bringt Arnos Funkenstein Manethos' ägyptische Gegengeschichte des Exodus, Augustinus' christliche Gegengeschichte Roms in der „Civitas Dei", die jüdische Gegengeschichte des Neuen Testaments im „Sefer toldotjeschu", Gottfried Arnolds protestantische Gegengeschichte zur Kirchengeschichte in „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie", die kommunistische Gegengeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die antisemitische Gegengeschichte der jüdischen Geschichte, die revisionistische Gegengeschichte der Auschwitzlügner. In jedem Fall werden Quellen der Gegner in malam partem gelesen und gegen sie verwendet.121 Die Helden werden zu Schurken, die Schurken zu Helden, die Täter zu Opfern, die Opfer zu Tätern erklärt. Der Selbstdarstellung wird eine Gegendarstellung, der Selbstbewertung eine Gegenbewertung entgegengehalten. Die Juden waren kein Volk, sondern ein Haufen aufsässiger Aussätziger, der Exodus 118 119

120

121

Berdyczewski, Zur Klärung 282. Arnos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen (1993), übersetzt von Chr. Wiese, Frankfurt/M. 1995, 38 ff., Anm. 46, 288. Das Zitat stammt von Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt/M. 2 1978, 697. Benjamin hat es im 7. Abschnitt, Uber den Begriff der Geschichte (1942), zur Aufgabe der antihistorizistischen historischen Materialisten gemacht, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten." Arnos Funkenstein, Jüdische Geschichte, 39 — 42.

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war keine Befreiung, sondern eine Vertreibung, das heidnische Rom war keine Friedensmacht, sondern eine Gewaltherrschaft, Jesus war kein Wundertäter, sondern ein Zauberer und Verführer, Judas kein Verräter, sondern ein verdeckter Ermitder des Sanhedrin usw. Durch die Gegengeschichte soll das Selbstverständnis der Gegner getroffen und ihre Identität zerstört werden. Der Gegengeschichte wirft Arnos Funkenstein Realitätsverlust vor. Sie setzt dem Selbstbild der Gegenseite ein seitenverkehrtes Spiegelbild entgegen und bleibt ihm bis zur Selbstzerstörung schicksalhaft verbunden. 122 Die Gegengeschichte, die vor allem auf die zerstörerische und selbstzerstörerische Entstellung des Feindbildes in der politischen und religiösen Propaganda abzielt, ist gewiß schädlich. Aber Gegengeschichte kann auch nützlich sein. Funkenstein weist ζ. B. selber darauf hin, daß nicht jede Gegengeschichte den Sinn hat, das „Selbstbild" des Gegners zu zerstören, sondern, daß sie, wie Herodots Bild der Ägypter oder Tacitus' Bild der Germanen, auch der Selbstkritik dienen kann. Gegengeschichte ist also nicht notwendigerweise die Geschichte aus der destruktiven Sicht des Gegners. Wie nützlich und befreiend „kritische Historie" ist, hat gerade Nietzsche betont: Der Mensch muss die K r a f t haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt und endlich verurtheilt; [...] dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg [...]. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt [...] 1 2 3 .

Die Geschichte wird vom Standpunkt einer Gegengeschichte dem Gericht unterworfen, und so wird ihr unerträglicher Bann gebrochen. Gegengeschichte ist Funktion der Rebellion und Emanzipation. Sie ist geradezu die Methode der Emanzipation: die Geschichte aus der Perspektive des Ausgeschlossenen, der Blickwinkel der Bibel wie des Counter-Historismus in der gegenwärtigen Historiographie, den Nietzsche auch als den bösen Blick des Neides und Ressentiments zu endarven versucht, macht erst die Sicht frei auf eine andere Geschichte, auf eine Veränderung. Der jüdische Nietzscheanismus leistet mit seiner Arbeit am Mythos die Arbeit des Negativen.

122 123

Arnos Funkenstein, Jüdische Geschichte, 52 — 54. UZ II, 3 (KSA 1.269-270).

CORDULA HUFNAGEL

„Sünder und Schwärmer in einer Person". Niet2sche in der Philosophie Franz Rosenzweigs Franz Rosenzweig hat in seinen frühen Studienjahren, noch vor dem Wechsel des Studiums von Medizin zu Geschichte und Philosophie, Nietzsche gelesen und sich intensiv mit ihm auseinandergesetzt. Das zeigen die aus dieser Zeit erhalten gebliebenen Tagebücher. 1906 schon ist ihm Nietzsche Prophet und Bild eines neuen Zeitalters. Eines Zeitalters, das den mit der Französischen Revolution begonnenen Versuch, die christlichen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aus ihrer Innerlichkeit herauszuführen und ihnen Wirklichkeit innerhalb der Welt zu geben, fortsetzt 1 — wenn auch, in Umkehrung von Hegels Philosophie des Geistes, zunächst vor allem auf der materialistischen Ebene. Dafür stehen Rosenzweig in der Geschichte die nationalistischen Bestrebungen, auch die der Antisemiten und Zionisten, und in der Philosophie Schopenhauer und dann vor allem Nietzsche durch die Aufladung ihres Denkens mit subjektiven und christlichen Inhalten. Trotz ihrer auch in den Inhalten des Denkens manifestierten negativen Züge ist die mit Schopenhauer begonnene, in Nietzsche auf die Spitze getriebene Uberwindung der alten, überpersönlichen Philosophie für Rosenzweig ein notwendiger Entwicklungsschritt, mit dem die Welt zu ihrem Ende im „Reich Gottes" hin fortschreitet. Die Umwertung ist „Fortschritt" in dem Sinn, in welchem Rosenzweig später schreiben wird, daß er „eine fortschreitende Scheidung" in Gut und Böse bedeute 2 und das Erscheinen des Antichrist, d. h. die Vollendung des Gedankens der Immanenz, Hinweis darauf sein könnte, daß die Welt in ihr letztes, drittes Zeitalter eingetreten sei. 3 Diese geschichtsphilosophische oder geschichtstheologische Vision des Fortschritts hat Rosenzweig erst 1917 angesichts des Ersten Weltkriegs ausgearbeitet und dann in den Stern der Erlösung übernommen. Doch seine Ambivalenz 1

2 3

Vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Den Haag, 4 1976, S. 319 (Gesammelte Schriften [GS] II). Im folgenden zitiere ich mit der Seitenzahl im Text. Vgl. auch den Brief an Eugen Rosenstock vom 7.11.1916, in: Franz Rosenzweig: Briefe und Tagebücher, 2 Bände (Gesammelte Schriften [GS] I), S. 281 f. Brief an Gertrud Oppenheim vom 31.5.1917, GS I, 415. Vgl. Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat, München/Berlin, 1920, 2. Band, 204.

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hat bereits in den Tagebüchern ein Bild erhalten in der Person von Friedrich Nietzsche. Nietzsche ist für Rosenzweig einerseits einer jener Skeptiker, „die eine [...] Wahrheit überhaupt" leugnen, jede Moral verwerfen „und das Recht des Stärkeren für das einzig Sittliche" erklären4 — Nietzsches „blonde Bestie" und der „Ubermensch" als Verklärung des Antichrist. Andererseits notiert Rosenzweig 1906 aus Nietzsche den Satz, der Ausgangspunkt der Urteile5 und Grundlage des ersten Teils des Stern der Erlösung werden wird: „ ,Das Persönliche ist das ewig Unwiderlegbare' [•·•]"6 — Nietzsche als unhintergehbare Bedingung der neueren Philosophie. Den 1921 erschienenen Stern der Erlösung beginnt Rosenzweig mit einer Kritik der traditionellen Rationalität, die in der Philosophie ihr Selbstverständnis gefunden habe. Den ersten Teil des Stern versteht Rosenzweig als ein Zurückgehen zur Faktizität der erfahrbaren Wirklichkeit, zur ,Tatsächlichkeit', im Gegensatz zur Tendenz ihrer Auflösung im Idealismus. Er benennt ihn als „Adabsurdumführung und Rettung der alten Philosophie".7 Rosenzweigs Denken fangt an bei jener Tatsächlichkeit, die der Idealismus — und das war bisher: jede Philosophie — als Wirklichkeit verleugnen mußte, der Stern beginnt mit Überlegungen zur Wirklichkeit des Todes. Der Tod als das ,bestimmte' Nichts unseres Daseins ist Rosenzweig die Wirklichkeit, die sichtbar macht, daß ich „noch da bin", „Ich ganz gemeines Privatsubjekt, Ich Vor- und Zuname, Ich Staub und Asche".8 Der Tod ist das Faktum, das das System der Philosophie des reinen Ich und Bewußtseins stört, einer Philosophie, die vom Ende im Tod nichts wissen will, nichts von der Angst alles Irdischen gelten läßt, die das Sterben auf den Körper beschränkt, den Geist freihält, obwohl die wirkliche Todesangst von dieser Trennung nichts weiß. Denn der Mensch kann, solange er lebt, der Angst alles Irdischen vor dem Tod nicht entrinnen. Und er soll es auch nicht. Die Philosophie betrügt ihn um dieses Soll. „Denn freilich: ein All würde nicht sterben und im All stürbe nichts. Sterben kann nur das Einzelne, und alles Sterbliche ist einsam." (4) In der Philosophie nach Hegel tritt der wißbaren Welt selbständig ein Anderes gegenüber, der einzelne, lebendige Mensch, dem All das jeder Allheit spot4 5

6

7

8

Brief an die Mutter vom 18.11.1907, GS I, 73. „Urzelle" des Stern der Erlösung. Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18.11.1917, in: Franz Rosenzweig: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, Dordrecht, 1984 (Gesammelte Schriften [GS] III), 1 2 5 - 1 3 8 , bes. 126 f. Tagebucheintrag vom 16.11.1906, BT I, 64. Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Späteres Vorwort (1875/76): „[...] denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare." (KSA 1.803) „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ,Stern der Erlösung'" (1925), GS III, 142. „Urzelle", GS III, S. 127.

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tende Eins, der „Einzige und sein Eigentum". Der einzelne Mensch, das philosophierende Ich mit seinen Bedürfnissen und Bedingtheiten hat aufgehört, die „quantite negligeable" für seine Philosophie zu sein. Die Philosophie hat nicht mehr das objektiv denkbare All und das Denken dieser Objektivität zu ihrem Gegenstand, vielmehr ist sie „Weltanschauung", ist der Gedanke, mit dem der Einzelne auf sein Dasein in der Welt und auf den Eindruck, den diese auf ihn macht, reagiert (vgl. 8 ff.). In Nietzsche hat der Aufstand gegen das System seinen vorläufigen Höhepunkt. Für Nietzsche gibt es nicht mehr die Wahrheit, das Allgemeine, dem es sich anzunähern gälte, um darin aufzugehen. Vielmehr philosophiert — perspektivisch — ein Besonderes, das Ich, das es um seiner Freiheit willen nicht ertragen kann, ein Anderes, Höheres über und neben sich zu sehen. In Nietzsche hat sich so nach Rosenzweig die „Philosophie des Alls" aufgelöst in die „Philosophie des Standpunkts" eines „metaethischen Selbst", das sich gegen jedes Außen absolut setzt, über jeder Ethik steht, indem es kein Gesetz, kein Allgemeines anerkennt, dem es sich als Besonderes unterzuordnen hätte. Das Beharren auf dem selbsteingenommenen Standpunkt ist zunächst das Heidnische, dann das Sündige am Typus des Standpunktphilosophen. Das Heidnische, denn der eigentliche Ort des in sich geschlossenen Selbsts ist Rosenzweig das Heidentum der griechischen und römischen Antike, d. h. die Zeit vor dem Eintritt der Offenbarung in die Geschichte, welche Rosenzweig — hier vor allem Schelling folgend - mit dem Auftreten des Christentums in der Welt gleichsetzt. Paradigmatische Figur des Selbst ist der Heros der griechischen Tragödie. Sein „Merkzeichen" ist das Schweigen der Einsamkeit (83 f.), ewiges Monologisieren. Denn das Heidentum ist eine „Welt ohne Götter" (37), d. h. eine Welt, in der es keine Grenzziehung zwischen Mensch und Gott gibt, eine Welt ohne Transzendenz. Sie weiß nichts von der absoluten Grenze zwischen Gott und seiner Kreatur, dem Abgrund, der nur durch das Wort überbrückt werden kann, welches das in die Welt hineingerufene der Offenbarung ist. Im liebenden Anruf Gottes, in dem sich bei Rosenzweig die Offenbarung zusammenzieht — „Du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott [...]" (196) 9 —, im direkten Angesprochenwerden als ,Du' erst kann das Selbst sich öffnen und aus der Einsamkeit des Monologs hinübertreten in die wirkliche, „redende" Sprache des ,Ich und Du', in den Dialog. Das Selbst öffnet sich dabei zur Seele, sein Stolz verkehrt sich in das Wissen um die essentielle Abhängigkeit. Mit dem Eintritt der Offenbarung in die Geschichte — d. h. mit dem Christentum, denn das Judentum steht Rosenzweig über und außerhalb allen zeitlichen Geschehens 10 - ist die 9 10

Vgl. Deut. 5,6. Vgl. im Stern der Erlösung vor allem 331—339 und die Briefe an Hans Ehrenberg vom 31.10. / 1.11.1913, GS I, 132ff., und vom 21. 4. 1918, GS I, 543f.

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mythische Einheit des Heidentums zerstört und in ihre — das Christentum konstituierenden — Gegensätze aufgelöst. Die Gespaltenheit in Diesseits und Jenseits, unerlösten Leib und erlöste Seele, 11 die Zerrissenheit zwischen Realem und Idealem wird vorantreibendes Moment der Weltgeschichte. Mit der Auflösung des Selbst in die Zweiheit von Körper und Seele verfällt auch die Gestalt des griechischen Heros. Kunst wird Ausdruck des Leidens der erlösten Seele an der unerlösten Welt, die Tragödie zum Trauerspiel, in welchem das Individuum über seinen Zustand reflektiert und in den Dialog tritt. Die Schicksalstragödie mutiert zur Charaktertragödie, in der der Einzelne mit der absoluten Forderung ringt — sei es auch nur wie in der „Tragödie des Nietzscheschen Lebens" (9), um diese zu negieren und sich in selbstherrlicher Individualität einzuschließen. Die Tragödie Nietzsches erwuchs Rosenzweig aus seinem falschen Verständnis dessen, was menschliche Freiheit ist und sein kann. Nietzsche ist kein antiker Heros und kein „heidnisches Gehirn" 12 , sondern Held unter den Bedingungen der Offenbarung. Ein Held der „tragischen Individualität" 13 , die scheitern muß in ihrem Versuch totalitär gesetzter Autonomie, der Illusion, Sinn und Ziel selbst setzen zu können, dem Experiment, Leben als das Kunstwerk zu begreifen, das durch den menschlichen Willen jeden Augenblick neu zu erschaffen sei. Nietzsche verkörpert das „dunkel aufkochende Urböse im Menschen" (190), einen Trotz, der Gott vor seinem Angesicht leugnet. „Denn einen Fluch [...] bedeutet jener Satz: ,wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein'. [...] Das trotzige Selbst schaut mit ingrimmigem Haß die alles Trotzes ledige göttliche Freiheit, die ihn [...] zur Leugnung drängt, — denn wie hielte er [sie] es sonst aus, nicht Gott zu sein." (20 f.) 14 So ist Nietzsche nicht mehr der Heide, dem der Unterschied zwischen Gott, Mensch und Welt in der Alleinheit verschwindet, sondern dezidierter Nichtchrist und der erste Philosoph, der Gott, indem er ihn leugnet, ernst nimmt. Nietzsche ist jedoch nicht nur „Sünder", alle Tafeln zerschlagender Immoralist, er ist auch „Schwärmer", „Sünder und Schwärmer in einer Person" (319). Wie nun das metaethische Selbst dem ersten Teil des Stern der Erlösung zuzuord11

12 13

14

Prinzipiell ist in der Taufe der Tod des inneren Menschen vollzogen, die Knechtschaft der Sünde gebrochen, aber das Leben der Auferstehung besitzt der Christ nicht: „Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welche ist in meinen Gliedern" (Rom. 7, 23). Vgl. auch Stern der Erlösung, GS II, 415 ff. Als solches bezeichnet Rosenzweig Hegel. „Urzelle", GS III, 126. Im September 1911 schreibt Rosenzweig an Gertrud Oppenheim, daß er angefangen habe, ein Buch mit dem Titel „DER HELD. Eine Geschichte der tragischen Individualität in Deutschland seit Lessing" zu schreiben. Zu dem Buch ist es nicht gekommen, doch die Vorarbeiten sind wohl in den Stern der Erlösung übernommen worden, wie dessen elargierte Theorie der Tragödie nahelegt. Vgl. GS I, 119. Bei Nietzsche heißt das: „Wenn es Götter gäbe: wie hielte ich es aus, kein Gott zu sein! Aber es giebt keine Götter." Nachlaß Juni-Juli 1883, KGW VII 10 [9] (KSA 10.368).

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nen ist, der Sünder an der Schwelle steht zu seinem zweiten Teil, so ist der Mystiker Figur des zweiten und steht in der Mutation Schwärmer und Revolutionär an der Schwelle zum dritten Teil des Stern. Das Selbst öffnet sich im Empfangen des göttlichen Liebesgebots zur Seele, sein Trotz verkehrt sich in die Demut, die sich öffnende Hingabe der Seele an das Du ist, von dem sie angerufen worden ist. Das Selbst öffnet sich, jedoch nur in die Richtung, aus der es angesprochen worden ist, und löst sich dabei auf im Gefühl des Sichgeliebtwissens, in der Inaktivität und Weitabgewandtheit des Mystikers. Diese der Offenbarung entspringende Hingabe an Gott als zu erreichendes Ideal ist für Rosenzweig doppelt unsittlich und geht in ihrer Verderbtheit über die des Sünders hinaus. Wie der Sünder Gott leugnet, so verleugnet der Mystiker die Welt und sein leibliches Leben, wähnt, mit dem Absoluten zur Einheit verschmolzen zu sein. „Der Mensch würde sich für einen Gott halten, wenn er keinen Unterleib hätte" — so Nietzsche15, ,ganzheitlich', wie Rosenzweig ihn interpretiert, aber deftiger. Verschmilzt die Lebensgrenze des Selbst mit dem Tod, in dem es zugleich sein Ende findet und sich als dieses konserviert, so hat der Mystiker die Grenze übersprungen in dem Versuch, aus dem Diesseits in ein vorgezogenes Jenseits zu entfliehen, in dem der Tod keine Macht mehr hat. Der Mystiker ist als „Gefäß seiner erlebten Entzückungen" (232) ebenso in sich verschlossen wie das metaethische Selbst, nun der Welt, nicht Gott gegenüber. Auch er hat nicht die wirkliche Sprache erreicht, denn, was er spricht, ist „nur Antwort, nicht Wort" (232), ihm fehlt, wie dem Heiden das Du, das sprechende Ich. Das Gefährliche und Verderbliche am Mystiker ist für Rosenzweig, daß er die Offenbarung empfangen hat, ohne doch ihren Sinn zu verstehen. Dadurch verzögert er das Kommen der Erlösung, macht es gar unmöglich. Denn Erlösung - das ist sein Widerspruch gegen ihre christliche Interiorisation16 — ist Rosenzweig etwas, was der Welt geschieht und in ihr und in die Weltzeit vorgezogen werden kann und muß. Offenbarung, das ist das Mißverständnis des Mystikers, erschöpft sich ja nicht darin, daß ein jeweils exklusives Verhältnis zwischen Gott und dem angerufenen Einzelnen hergestellt wird. Offenbarung ist auch nicht der Selbstzweck, bei dem stehengeblieben werden dürfte, sondern ist Wegweisung, Offenbarung der Schöpfung und der Erlösung, des Woher und Wohin aller Existenz. In dieser Funktion — da ohne sie weder etwas von Schöpfung noch von Erlösung gewußt werden kann — ist sie Mitte und Drehpunkt des Stern der Erlösung. Der Sünder leugnet die Erlösung in seiner Absage an Gott. Der Mystiker negiert die Schöpfung als Teufelswerk (vgl. 231), und auch er 15 16

Ebd., 1 2 [1] 1 1 6 ( K S A 10.393). Das Christentum ist im Gegensatz zum Judentum „Gefühlssache". Vgl. den Brief an Mawrik K a h n v o m 2 6 . 2 . 1 9 1 9 , G S I, 625. Siehe auch G e r s h o m Scholem: „ Z u m Verständnis der messianischen Idee im Judentum", in: Judaica, Frankfurt a.M., 1 9 6 3 , 7 ff., und ders.: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt a.M., 1 9 9 2 , 1 0 9 ff.

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erreicht in dieser Verschlossenheit nicht die Erlösung. Denn „Erlösung" ist ein Vorgang, der sich in der Öffentlichkeit vollzieht, in Geschichte und Gemeinschaft, und in jedem der Augenblicke, in welchen sich die in der Offenbarung auf Gott gerichtete Liebe zurückwendet zu Welt und Schöpfung. In der Rückwendung der Liebe von Gott zur Schöpfung entsteht Rosenzweig eine neue Figur, die des Heiligen, der das Absolute erfahren hat und aus ihm heraus nun lebt und wirkt. Der Heilige ist der „ganze Mensch", der die dualistische Spaltung in Reales und Ideales, Körper und Seele überwunden hat in die neue Einheit, die Rosenzweig erst „wahrhaftes" Leben heißt. Nietzsche ist Rosenzweig der erste Philosoph, der in der Einheit von Leib und Seele gedacht und gelebt hat, der, obwohl Philosoph, „ganzer Mensch" gewesen ist. „Die Dichter hatten immer schon vom Leben gehandelt und von der eigenen Seele. Aber die Philosophen nicht. Und die Heiligen hatten immer schon das Leben gelebt und der eigenen Seele. Hier aber kam einer, der von seinem Leben und seiner Seele wußte, wie ein Dichter, und ihrer Stimme gehorchte, wie ein Heiliger, und der dennoch Philosoph war." (9) Für Nietzsche gab es die Scheidung in Höhe und Niederung im eigenen Selbst nicht, von der bisher die Philosophie gezehrt hatte; „ganz ging er seinen Weg, Seele und Geist, Mensch und Denker eine Einheit bis ans Letzte" (10). ,Wie ein Heiliger' gehorchte Nietzsche der Stimme seiner Seele und versuchte, das von ihr geschaute Ideal umzusetzen und der Welt einzuhämmern. ,Wie ein Heiliger' — denn Nietzsche ist keiner, sondern „Sünder und Schwärmer in einer Person" (319).17 Der „Schwärmer" steht in Rosenzweigs Konzeption zwischen Offenbarung und Erlösung, zwischen Mystiker und Heiligem. Er hat — weg von dem passiven Hingebreitetsein vor dem Absoluten — die Rückkehr zur Welt und zum Ich vollzogen, hat die Gottesliebe — das ist das Entscheidende — ergänzt durch die Liebe zur Welt, zum Nächsten, in der allein sie sich als Tat, und das muß „Liebe" sein, äußern kann. Die Nächstenliebe bringt die Erlösung in die Welt, denn Liebe ist nichts anderes als das „Einsäen des Ewigen ins Lebendige" (410), Beseelung der Schöpfung. In der Liebe setzt sich das „Reich Gottes [...] durch in der Welt, indem es die Welt durchsetzt" (266). Doch wie das Gebot der Liebe zu Gott mißverstanden werden kann, so kann auch das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"18, das jenes erste Liebesgebot ergänzt (vgl. 229 und 238 f.), falsch ausgelegt werden. In der Offenbarung des Wohin und Wozu, das Erlösung ist, liegt die Versuchung, das Reich Gottes vorzeitig und mit menschlichen Mitteln verwirklichen zu wollen. Ihr verwandelt sich die absichts- und richtungslose Liebestat in eine des Zwecks, 17

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Für den „Sünder" steht in der zitierten Passage der „Dichter", der als Künsder der Immanenz verfallen bleibt. Der Künstler ist der Gegenpol des Mystikers, auch er ein „Unmensch" (GS II, 211), der ganz in der Hingabe aufgeht, nun an den .Stoff der Welt. Lev. 19, 18.

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die um des geschauten Ziels willen ihr Nächstes übersieht, es gar als ein lästiges Hindernis erscheinen läßt, das dem Erreichen des Geschauten im Weg steht. Der Schwärmer vergißt oder negiert im Willen, seine Vision zu verwirklichen, das Nächste um des Ubernächsten willen. Er verwandelt die Nächsten- in die Fernstenliebe und kann dahin geraten, allem, was seinem Ziel widerspricht, eine Daseinsberechtigung überhaupt abzusprechen. Aus der Schau die Tat folgen zu lassen, ist für Rosenzweig die „große negative Möglichkeit"19, das Kommen des Reichs zu verzögern, es gar aufzuhalten. Gegen sie steht das Motto des dritten Teils des Stern der Erlösung „in tyrannos!", Rosenzweigs Versuch, die messianischen Tendenzen der Verwirklichung des Himmelreichs vor der Zeit' wieder einzudämmen, die aus der von ihm behaupteten Möglichkeit der Vorwegnahme der Erlösung in falscher Schlußfolgerung gezogen werden könnten. Bei dieser Abwehr bleibt jedoch die Notwendigkeit der Vorwegnahme der Erlösung vorrangig, denn nur in ihr wird für Rosenzweig Erlösung als die kommende Zukunft begriffen und an das Reich Gottes geglaubt. Der Schwärmer und der Revolutionär liegen so Rosenzweig doch näher als der Sünder, der im Gebet an das eigene Schicksal ganz in der Zeitlichkeit aufgeht (vgl. 320), und als der Fortschrittsgläubige, dem die Zukunft nur unendliche Fortsetzung der Vergangenheit ist. „Es ist gradezu das Schiboleth, an dem man den Gläubigen des Reichs, der nur um die Zeitsprache zu sprechen das Wort Fortschritt gebraucht und in Wahrheit das Reich meint, von dem echten Fortschrittsanbeter unterscheiden kann: ob er sich gegen die Aussicht und Pflicht der Vorwegnahme des ,Zieles' im nächsten Augenblick nicht zur Wehr setzt. Ohne diese Vorwegnahme und den inneren Zwang dazu, ohne das .Herbeiführenwollen des Messias vor seiner Zeit' und die Versuchung, das .Himmelreich zu vergewaltigen', ist die Zukunft keine Zukunft, sondern nur eine in unendliche Länge hingezogene, nach vorwärts projizierte Vergangenheit." (253 f.) Wie die „wahre Vorwegnahme" der Erlösung aussehen soll, kann ich hier nicht ausführen, angedeutet ist sie in der Figur des Heiligen. Für Nietzsches Stellung im Stern genügt das Bild des Schwärmers. Seine falsche Vorwegnahme der Zukunft ist bei Nietzsche noch gesteigert dadurch, daß er Schwärmer und Sünder zugleich ist und als Sünder aktiver Verächter der Offenbarungsreligionen. Noch in dieser Gegnerschaft aber ist Rosenzweig die Philosophie Nietzsches wesentlich eine christliche, weil sie erstens mit christlichen Begriffen operiert wie Umkehr, Überwindung, Willenswende, Mitleid etc., die vorher kein Philosoph in seinem System zulassen konnte, und zweitens, weil sie subjektiv ist, im Ernstnehmen des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" das philosophierende 19

Karl Barth: Der Römerbrief, Zürich, 1976 (elfter Abdruck der neuen Bearbeitung von 1922), 459 ff.

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Selbst als solches stehenläßt.20 ,B e s s e r der Übermensch als Messias als kein Messias, besser ein Ziel als keines, denn dann bleibt Umkehr, Besinnung möglich', das kann, hart gezogen, Konsequenz der Überlegungen zum Schwärmer im Stern der Erlösung sein. Dabei erahnte Rosenzweig noch nicht den Irrsinn, zu dem losgelöster Fanatismus fähig sein kann, um ein subjektiv geschautes Ziel zu erreichen. Auch an Nietzsche will Rosenzweig die Monstrositäten seiner Standpunktphilosophie kaum ernstnehmen: „Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was er erphilosophierte. Das Dionysische und der Übermensch, die blonde Bestie, die ewige Wiederkunft — wo sind sie geblieben?" (9 f.) Was stehenbleibt im Stern der Erlösung, ist nicht Nietzsches Philosophie, sondern Nietzsches Leben, das in seiner Selbstherrlichkeit Rosenzweig warnendes Exempel dafür ist, daß der Versuch, autonom, ohne Halt am Ewigen, einen Sinn des Daseins zu setzen, notwendig zum Scheitern verurteilt ist und in der „Tragödie" enden muß, für die Nietzsches Leben ihm als Beispiel steht.

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Vgl. den Brief an Rudolf Ehrenberg vom 1.12.1917, G S I, 485.

H E R B E R T KOPP-OBERSTEBRINK

Unzeitgemäße Betrachtungen zu Nietzsche contra jüdische Nietzscheanismen Ein Kapitel aus der intellektuellen Frühgeschichte Gershom Scholems Scholem und Nietzsche - was haben sie miteinander zu tun? Herzlich wenig - folgt man den Worten des späten Scholem. Der amerikanische Literaturwissenschafder Robert Alter berichtet, Scholem habe ihm in einem Brief mitgeteilt, „daß er Nietzsche verachte und nicht im geringsten von ihm beeinflußt sei [...]". „Aber", so fügt Alter mit der List des Hermeneuten hinzu, „intellektuelle Einflüsse wirken oft über Wege, die umständlicher und verschlungener sind, als dem Autor selbst bewußt sein mag."1 Freilich stimmt das Bild, das Scholem in dem oben erwähnten Brief von sich gibt, weitgehend mit dem überein, das er in den Büchern zeichnet, in denen er selbst seine frühe intellektuelle Geschichte beschrieben hat. Nietzsche kommt dort nur selten vor, und wird er gelegentlich doch erwähnt, dann nur zur Charakteristik anderer: so ist es Kurt Hiller, der in einem Vortrag aus dem Jahre 1915 „in Nietzsches Fußspuren" wandelte,2 oder Walter Benjamin, in dessen Reden „ein starker Schuß Nietzsche" zu finden war.3 Derselbe Befund gilt für Scholems Jugenderinnerungen Von Berlin nach Jerusalem.4 Den Nietzsche-Leser Scholem gibt es in den Autobiographica, die ansonsten mit der Herzählung seiner Lektüren kaum geizen, nicht. Der Blick in Scholems Tagebücher undfrühe Schriften^ sowie Briefe6 belehrt freilich eines besseren. Werke Nietzsches finden dort häufige Erwähnung, sei es 1

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Robert Alter: „Scholem und die Moderne", in: Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen, Frankfurt a. Main, 1995,166. Nach Mitteilung Alters stammt der Brief aus den siebziger Jahren. — Wiederholter Nachweis im folgenden mit Kurztitel. Gershom Scholem: Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. Main, 1975, 12. Scholem: Walter Benjamin, 71: „Oft war, mir ganz überraschend, ein starker Schuß Nietzsche in seinen Reden." Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, erweiterte Fassung, Frankfurt a. Main, 1994. Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923, 1. Halbband 1 9 1 3 - 1 9 1 7 , unter Mitarbeit von Herbert Kopp-Oberstebrink hrsg. von Karlfried Gründer und Friedrich Niewöhner, Frankfurt a. Main, 1995. — Stellennachweise aus diesem Band gebe ich im fortlaufenden Text, wo nötig mit Datum des Eintrags. Bei Nachweisen aus den noch unveröffentlich-

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zustimmende oder kritische, in jedem Falle sind sie nicht nur Sache der anderen. Blickt man näher hin, so bemerkt man, daß eine Fülle sprachlicher und theoretischer Motive aus der Philosophie Nietzsches Eingang in das Denken des frühen Scholem gefunden hat. Mehr noch, Nietzsche geriet für den Scholem der Jahre 1914 bis 1918 in einen der Brennpunkte seiner intellektuellen Auseinandersetzung. Die oben zitierten Wendungen aus dem Buch über Walter Benjamin lassen sich ohne weiteres auf den frühen Scholem zurückübertragen: Scholem selber wandelte auf den Spuren Nietzsches und seine Reden waren bisweilen mit einem starken Schuß Nietzsche gewürzt. Hält man diesen ersten Befund neben die oben erwähnte späte briefliche Äußerung, so muß diese als nachträgliche Distanzierung und Rezeptionslenkung erscheinen. Zumal wenn man sich klar macht, daß die erwähnten Autobiographica vor allem auf seinen Tagebüchern basieren. In Scholems frühen Aufzeichnungen lassen sich jedoch gewichtige innere Gründe für diese späte Distanzierung namhaft machen. Ihnen wird im folgenden nachzuspüren sein.

I. Scholems Nietzsche Eingangs sei gefragt, welche der Werke Nietzsches Scholem überhaupt gekannt hat und wann er sie zur Kenntnis nahm. Der Befund ist eindeutig. Die Lektüre Nietzschescher Werke gehört zu den ganz frühen Leseerfahrungen des jungen Scholem. Bereits eine Tagebucheintragung aus dem November 1914 erwähnt die Lektüre des Zarathustra und der Un^eitgemässen Betrachtungen ebenso wie die des Anti-Christ und der Schriften über Wagner {Tagebücher, 51 — 52). An diesem Bestand hat sich in der Folge nicht mehr viel geändert. Wohl kommen später noch Stücke aus den Briefen Nietzsches hinzu, so die Korrespondenz mit Brandes (Tagebücher,; Eintr. v. 10. Jan. 1916, 238) 7 und der Briefwechsel zwischen Nietzsche und Overbeck, 8 doch hinterlassen sie keine Spuren in seinen Aufzeichnungen, die über bloße Erwähnung hinausgingen. Scholems Lektüre von Werken Nietzsches findet also schon frühzeitig ihren Abschluß und bleibt auf einen schmalen Ausschnitt aus dessen Oeuvre beschränkt. Sein Interesse an der Biographie Nietzsches bleibt über diesen ersten Impuls hinaus erhalten. Sieht man vom Anti-Christ und vom Zarathustra ab, so hat Scholem Werke des mittle-

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ten, im 2. Halbband erscheinenden Tagebüchern nenne ich in der Anmerkung nur Tagebuchtitel und Datum des Eintrags. Gershom Scholem: Briefe, Bd. 1: 1914- 1947, hrsg. von Itta Shedletzky, München, 1994. Friedrich Nietzsche: Gesammelte Briefe, Bd. 3: Briefwechsel von Friedrich Nietzsche u. Dr. Georg Brandes, hrsg. und erläutert von Elisabeth Förster-Nietzsche, Leipzig, 1905. 22. Febr. 1918- 18. April 1918 [ohne Titel], Eintr. vom 20. März 1918. - Friedrich Nietzsches Briefwechsel mit Fran^ Overbeck, hrsg. von Richard (Dehler und Carl Albrecht Bernoulli, Leipzig, 1916.

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ren und späten Nietzsche nicht wahrgenommen. Entsprechend hat keines ihrer gängigen großen Themen — Ubermensch, Wille zur Macht, amor fati, Umwertung der Werte und der Gedanke der ewigen Wiederkehr — Eingang in sein Denken gefunden oder wird auch nur erwähnt. Das trifft sogar auf diejenigen unter ihnen zu, die Scholem aus dem Zaratbustra gekannt hat. In dieser Hinsicht zeigt schon die erste Bestandsaufnahme der Nietzsche-Rezeption Scholems eine gewisse Gegenläufigkeit zu der am Beginn dieses Jahrhunderts vorherrschenden.9 Es wird im folgenden zu zeigen sein, welche der Motive und Themen Nietzsches Scholem favorisierte und welche Anliegen ihn dabei leiteten. Scholems Nietzsche-Lektüre schlägt sich in seinen Aufzeichnungen in doppelter Weise nieder. Einerseits nimmt er ausdrücklich Bezug auf Nietzsche, benennt seine Werke und zitiert aus ihnen. Daneben findet man aber auch einen Modus seiner Nietzsche-Rezeption, den man als den der Anverwandlung bezeichnen könnte: Scholem hantiert mit dem Vokabular, mit Denkmotiven und Themen der Philosophie Nietzsches, verwirft oder denkt sie weiter, prägt sie um und paßt sie dem eigenen Denken ein — ohne daß er über ihre Herkunft Rechenschaft ablegte oder sie auch nur kennzeichnete. Dies zeugt von profunder Lektüre und sicherem Umgang mit dem einmal Gelesenen. Solche Art der produktiven Anverwandlung, des eklektischen Umgangs mit Lektürestücken, des eigenständigen Weiterdenkens ist charakteristisch nicht nur für die NietzscheRezeption des frühen Scholem. Dabei ist zu bedenken, daß Scholem Nietzsche zu einer Zeit las, da dieser längst Eingang gefunden hatte nicht nur in das Denken der Zionisten; er gehört, folgt man einer Einteilung, die Steven E. Aschheim gegeben hat, bereits zur zweiten Generation nietzscheanisierender Zionisten oder jüdischer Nietzscheaner.10 Seine Nietzsche-Lektüre ist denn auch vom Kontext eben dieser Nietzscheanismen abhängig und ohne ihn nicht zu denken, denn Scholem setzt sich mit den Nietzsche-Adepten eingehend auseinander. So sehr sich Scholem auch in seinen Anfängen vor allem vom Zaratbustra enthusiasmiert zeigt: gerade in dieser Auseinandersetzung wird er sich nicht als Nietzscheaner erweisen, auch wenn Motive und Themen Nietzsches seine frühen Aufzeichnungen durchziehen. II. Zeitgemäße Betrachtungen im Hochgebirge Bereits die mit „Reisebeobachtungen und Reisegedanken" überschriebene längere Aufzeichnung vom August 1914 (Tagebücher.; 27 — 38) gibt Hinweise auf 9

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Vgl. dazu Ernst Behler: „Nietzsche jenseits der Dekonstruktion", in: Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 1, hrsg. von Josef Simon, Würzburg, 1985, 93 — 94 und 104. Steven E. Aschheim: The Nietzsche hegacj in Germany 1890— 1990, Berkeley/Los Angeles/Oxford, 1992, 1 0 2 - 1 0 3 .

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Scholems Nietzsche-Lektüre. Sie ist deren frühestes Dokument. Es handelt sich hierbei um einen in sich geschlossenen und überarbeiteten Text, um keine Tagebuchaufzeichnung im eigentlichen Sinne also. Er war dem jungen Scholem offenkundig so wichtig, daß er nachträglich ein Typoskript von ihm anfertigte. Die „Reisebeobachtungen" entstanden während eines Aufenthaltes in den Schweizer Alpen, bei dem Scholem vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht wurde. Sie entwerfen das Szenario einer Bergwelt, in deren Klarheit der Suchende einsam wandelt. Ihr zarathustrasches Gepräge ist unverkennbar. Aber auch eine Stelle aus Nietzsches dritter Unzeitgemäßer Betrachtung bezeichnet sehr genau diese Ausgangssituation der „Reisebeobachtungen": „So hoch zu steigen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- und Eisluft hinein, dorthin wo es kein Vernebeln und Verschleiern mehr giebt und wo die Grundbeschaffenheit der Dinge sich rauh und starr, aber mit unvermeidlicher Verständlichkeit ausdrückt!"11 Scholem wendet das Motiv der Suche zunächst zum Gedanken der Selbstfindung: „Wer mag sich selber finden, wenn er nicht hinabsteigt in den Abgrund und sich sucht in der Gefahr? Wer wird das Chaos finden, wenn nicht in der Berge Toben?" (Tagebücher.; 33). Der Gedanke der Selbstfindung oder der Authentizität gehört in jener Zeit zur Lesart nicht nur des jüdischen, an der Idee der Selbstverwirklichung orientierten Nietzsche-Verständnisses.12 Auch die Motive der „Gefahr" und des „Abgrunds" verweisen auf diesen gedanklichen Komplex und den Zusammenhang mit dem Zarathustra. Sie werden in späteren Aufzeichnungen von Scholem immer wieder erwähnt. Und noch das Motiv der Suche nach dem „Chaos" entstammt dem Buch, das der Nietzsche-Begeisterung um die Jahrhundertwende eher „ein Buch für Alle" denn eines „für Keinen" war.13 „Chaos" ist hier für Scholem nichts anderes als eine Chiffre für das eigentliche, unkorrumpierte Selbst — mit Buber gesprochen: „das Schaffende" —, das im Rückgang in sich selbst gefunden wird. Im Gegensatz zum Abstieg in sich steht, als Kehrseite gewissermaßen, das, wovon der Sucher sich abwendet, die bürgerliche Kultur und Bildung: „Diese hier" — gemeint sind die „Kulturmenschen" (Tagebücher.; 29) — „schauen nicht auf die Natur und daß sie schön ist, sie schauen in das rote Buch [d. i. der Baedeker, H. K.-O.], das ihnen verkünden wird die Gedanken des Kulturmenschen an diesem Orte" (Tagebücher; 31). Scholems Kritik der „Kulturmenschen" 11 12

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SE 5 (KSA 1.381). Darauf verweist Aschheim: The Nietzsche Legaiy, 104: „As Jewish renaissance was increasingly conceived as a question of personal realization, the Nietzschean moment entered German Zionism." Unter Hinweis auf Jacob Golomb hält Friedrich Niewöhner: „Dionysische Politik. Der Nietzscheanismus der jüdischen Erneuerungsbewegung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 115 vom 19. Mai 1993, S. Ν 5, die Konvergenz zwischen dem Gedanken der „Autoemanzipation" im Zionismus und „möglicher Selbstverwirklichung" fest. Za I, Vorrede 5 (KSA 4.19): „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch."

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bedient sich des Arsenals der Kultur- und Bildungskritik Nietzsches, wie dieser sie in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung entworfen und, mit leichten Umakzentuierungen, in den folgenden fortgeführt hat. Sie zieht sich geradezu leitmotivisch durch die frühen Aufzeichnungen Scholems. Hier nimmt Scholem vor allem die Grundkonstellation aus der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung auf, die den Typus des Bildungsphilisters dem des Suchenden gegenüberstellt.14 Das war in seinem kulturkritischen Aspekt, vor allem aber durch die grundlegende Bedeutung der Selbstfindung gut „zehlendorfisch" gedacht — wie Scholem an anderer Stelle das bubersche Idiom bezeichnet (Tagebücher, 64) — und gehört in den Kontext des Nietzscheanismus Bubers.15 So ist es nicht verwunderlich, wenn der Text schließlich die Wendung zu Bubers Wort von der „Erneuerung" nimmt: „Erneuerung! Ein altes Wort, aus alten Büchern klingt es uns entgegen" (Tagebücher.; 34). Scholem verbindet den Gedanken der Selbstfindung mit dem der Erneuerung des Zionismus. Der Sucher nach dem Selbst ist zugleich derjenige, der den Zionismus wiederbeleben soll. Die Kritik am erstarrten, rein politischen Zionismus Herzischer Prägung ist Buber entnommen. 16 Doch fugt Scholem ihr ein messianisches Element hinzu, wenn er den sich selbst Suchenden als Gottsucher versteht: „Ihr seid das Chaos jetzt, doch ewiger Wille bringt aus euch Erneuerung hervor. In der Gefahr allein wird Gott gefunden. Ich stehe hier und warte auf ihn, daß er mich führe durch die Himmel" (Tagebücher, 33). Indem sie den Text beschließt, wird die Präponderanz der Suche nach Gott noch einmal hervorgehoben: „Er [gemeint ist Herzl, H. K.-Q] ließ die Fahne euch, und ist die Fahne nicht Befehl zum Marsch? Ja, er ließ die Fahne uns, aber seit zehn Jahren suchen wir den Gott, daß er sie uns trage" (Tagebücher, 37). Der den Unzeitgemäßen Betrachtungen entnommene Typus des Suchenden schließt die tragenden Motive und Themen der „Reisebeobachtungen" — Bergwelt, Abgrund, Chaos, Selbstfindung, Bildungskritik und Erneuerung des Zio14

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DS 2 (KSA 1.167): „Wie ist es nur möglich, dass ein solcher Typus, wie der des Bildungsphilisters, entstehen [...] konnte, wie ist dies möglich, nachdem an uns eine Reihe von grossen heroischen Gestalten vorübergegangen ist, die in allen ihren Bewegungen, ihrem ganzen Gesichtsausdrucke, ihrer fragenden Stimme, ihrem flammenden Auge nur Eins verriethen: dass sie Suchende waren [...]." Gerade der Zusammenhang von „Schaffen" und „Selbstfindung" gehört in den Kontext von Bubers Nietzscheanismus, vgl. Buber: „Wege zum Zionismus", in: ders.: Die Jüdische Bewegung. Gesammelte Aufsätze und Ansprachen 1900- 1915, Bd. 1, Berlin, 1916, 42: „Schaffen! Der Zionist, der die ganze Heiligkeit dieses Wortes fühlt und ihr nachlebt, scheint mir auf der höchsten Stufe zu stehen. [...] Sich entdecken! Sich finden! Sich erkämpfen!" Dieser Essay Bubers, der 1900 erstmals erschien, war Scholem zur Zeit der Abfassung seiner „Reisebeobachtungen" bekannt. Zum Einfluß Nietzsches auf Buber vgl. ausführlich: Paul R. Mendes-Flohr: Von der Mystik %um Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin ^u „Ich und Du", Königstein/Ts., 1978, 9 — 10, 71 und 8 8 - 8 9 , Anm. 2. Vgl. Buber: „Herzl und die Historie", in: Ost und \Vest, 4. Jg. 1904, 583-594.

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nismus — zusammen. 17 Man wird freilich in dem Vorrang, den Scholem der Suche nach dem Gott vor der Selbstsuche und -findung einräumt, eine unausdrückliche und doch entscheidende Akzentverschiebung gegenüber der Auffassung Bubers sehen müssen. In dieser messianischen Ausprägung bildete der Typus des Suchenden für den Scholem jener Jahre das Leitbild seines Selbstverständnisses ebenso wie seiner Auffassung vom Zionismus. 18

III. Zarathustra — ein „Juden^arathustra"? Scholems Kenntnis des Zarathustra, die schon aus den erwähnten „Reisebeobachtungen" sprach, ist in einer späteren Aufzeichnung des Jahres 1914 zur Zaratbustra-Hegeistening gesteigert: „[...] was ist das Wundervolle am Zarathustra? [...] Ja, dies Buch ist in der Tat, mag man noch so über die Ideen denken, die davon aufgestellt sind, es ist in der Tat eine neue Bibel. Jawohl, so etwas zu schreiben, das ist ein Ideal für mich. Einen Judenzarathustra [...] eines modernen [...] Juden zu schreiben, wer das könnte" (Tagebücher.; 51 — 52). Scholems Enthusiasmus hielt zunächst an und fand seinen Ausdruck in einer Passage, die er mehr als ein Jahr später niederschrieb: „Wieder im Zarathustra gelesen, den man wirklich absolut und in keiner Weise auslesen kann. Immer wieder von vorn und an irgendwelchen Stellen eingehakt, findet man Sätze, die einen im Innersten überraschen und treffen. Immer wieder staunt man vor der Bildergewalt und Wucht der Sprache, die zu uns schreit. Es ist zweifellos ein heiliges Buch, wo ,heilig' recht verstanden werden muß" (Tagebücher; 207). Dieser Wertschätzung entspricht die Tatsache, daß sich in Scholems Aufzeichnungen bis 1918 zahlreiche Zitate aus dem Zarathustra finden, ausgewiesene wie versteckte. Es fragt sich nun allerdings, wie es kommen konnte, daß Scholem wenig später sein Urteil über den Zarathustra revidierte. In einem Brief vom Juni 1918 teilt Scholem seinem Freund Harry Heller mit, von Nietzsche kenne er „nur sehr wenig, und sicher grade das Schlechteste", und in Klammern fügt er hinzu, was er damit meint: „den Zarathustra",19 Diese entschiedene Absage ist der oben zitierten Begeisterung diametral entgegengesetzt. Freilich: zwischen den Elogen auf den Zarathustra finden sich in den Tagebüchern vereinzelt auch kritische Anmerkungen. Sie beziehen sich aber auf einzelne Stellen und lassen eine solche Abkehr nicht erkennen. 17

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Von hier aus erschließen sich weitere Verweise der „Reisebeobachtungen" auf messianische Figuren wie den Sabbatai Zwi (Tagebücher; 31) oder auf mit dieser Thematik befaßte Texte, so Gerhart Hauptmanns Roman Der Narr in Christo Emanuel Quint (Tagebücher; 32). Vgl. Tagebücher, 41, 42, 54, 1 1 7 - 1 2 0 , 155, 180, 224, 245, 331 - diese kleine Auswahl von Steüen muß hier genügen. Scholem: Briefe, Bd. 1, 163.

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Es sind zwei Momente, die — wie ich meine — Scholems Abkehr vom Zarathustra bewirkt haben: 1.) Scholem verwirft die vom jüdischen Nietzscheanismus favorisierte Lesart des Zarathustra, die sich unter dem Begriff der Selbstfindung oder der Selbstverwirklichung fassen läßt. Dies geschieht vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Nietzscheanismus Buberscher Spielart. 2.) Scholem erfährt am eigenen Leib die Gefahrdungen, die die Ubersteigerung zum Künder auf den Spuren Zarathustras, in Scholems Lesart: zum Messias, mit sich führte. Dieses biographische Moment darf nicht übersehen werden. Das Verständnis des Zarathustra als einer Anleitung zur Selbstsuche und Selbstfindung deutete sich in den eingangs erwähnten „Reisebeobachtungen" an. Wegweisend hierfür war für Scholem die Lektüre der Nietzscheaner aus Zehlendorf und Prag — Bubers und des Prager Bar Kochba. Deren Deutung versteht den Zarathustra als Aufforderung an den Einzelnen, in der Rückkehr zu sich selbst und in der Abkehr vom Getriebe der Kultur und der Bildung er selbst zu werden, er selbst als „Schaffender", und damit „Überwinder" des Menschen zu sein.20 Zum Medium dieser Rückkehr und — mit Nietzsche gesprochen — „Selbstüberwindung" wird bei Buber nun, spätestens mit den Drei Reden über das Judentum,21 die Rede vom „Erlebnis" als einer quasi-mystischen Schau des Einzelnen. Der Scholem der „Reisebeobachtungen" hatte dazu noch ein ungebrochenes Verhältnis. Er wird aber durch Bubers Begeisterung für den Ersten Weltkrieg — also noch vor seiner Bekanntschaft mit Walter Benjamin — zu einem seiner schärfsten Kritiker, und dies gerade wegen der Instrumentalisierung, die der Begriff des „Erlebnisses" erfuhr. „Erlebt" werden konnte alles und jedes: der Krieg, das Judentum usw., und es ist weithin bekannt, daß Benjamin und Scholem diesen Sachverhalt später in der Frage verballhornten: „Haben Sie schon das jüdische Erlebnis gehabt?" (Tagebücher,; 386) Scholem geht noch weiter: Er leitet sogar Bubers „Stellung zum Weltkriege" von dessen „Ich-Verherrlichung" ab.22 „Ich-Verherrlichung" meint hier Bubers Ubersteigerung des „Erlebnisses" zu einer unmittelbaren, gleichsam mystisch-ekstatischen Schau und deren Zentrierung im Subjekt. Scholem wandte nun seinerseits Motive aus dem Zarathustra gegen Bubers „Ich-Verherrlichung": „Aber hört: In Von Tausend und einem Ziele [...] steht: 20

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Als ein solcher „Übermensch" ist der bei Buber und den Pragern beliebte Typus des „Orientalen" zu sehen, vgl. Vom Judentum. Ein Sammelbuch, hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bat Kochba in Prag, Leipzig, 1913, 5 — 18, bes. 1 5 - 1 6 . Scholems früheste Aufzeichnungen belegen die intensive Lektüre von Vom Judentum. Martin Buber: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt am Main, 1911. Besonders ausprägt zu finden in Bubers Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, Leipzig, 1913. Eintrag vom 15. Mai 1915 ('Tagebücher; 107). - Es ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, wenn man festhält, daß Scholem im weiteren als Beispiel hierzu ein Gedicht Bubers zitiert, das seinerseits Verweise auf den Zarathustra enthält: „Dem Fähnrich W. St. ins Stammbuch", in: Das Zeit-Echo. Ein Kriegs-Tagebuch der Künstler, 1. Jg., 1914/15, H. 13, 186.

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Schaffende waren erst Völker und später erst Einzelne; wahrlich, der Einzelne selber ist noch die jüngste Schöpfung.' Ist dieser Satz nicht geradezu frappant? Der ,Einzelne' in der wahrsten Bedeutung des Wortes war in der Tat die jüngste Schöpfung, ist dreißig Jahre alt!" (Tagebücher; Eintr. v. 20. Sept. 1915, 162—163) Damit legt Scholem eine weitere Perspektive auf Bubers Orientierung am erlebenden Individuum frei. Sie war für Scholem auch deshalb zu verwerfen, weil er die zentrale Bedeutung, die sie dem Einzelnen einräumt, im Kern für christlich hielt, weil der Einzelne so betrachtet letztlich der Einzelne, Christus, ist. Genuin jüdisches Selbstverständnis hat sich dagegen am Volk als dem Ursprünglicheren zu orientieren, wie Scholems Zustimmung zu der Stelle aus Zarathustra deutlich macht. Seine Kritik an der „Ich-Verherrlichung" ist auf Buber gemünzt und trifft doch zugleich jeglichen jüdischen Nietzscheanismus, der vom Gedanken des „Ubermenschen" geleitet wird. Auch wenn Scholem hier Nietzsche gegen den jüdischen Nietzscheanismus aufbietet, so mußte sich seine Kritik am Ende folgerichtig auch auf Nietzsche selber richten. Es findet sich in Scholems Nietzsche-Rezeption eine weitere Art der Umprägung Nietzschescher Motive. Auch sie ist gegen die „Buberei" gerichtet: „Heute nachmittag habe ich wieder die Drei Reden von Buber gelesen: Diesmal fiel mir auf, daß am Schlüsse der dritten Buber auch die Ubersiedlung nach Palästina totschweigt, unter den Mitteln zur Tat. Ich fürchte, nach ihm kann man sogar ein Hierbleiben ausreichend begründen. ,Es heißt sich zur Tat bereiten', aber die Tat tun, das mögen sie nicht. Siehe die guten Worte von Kerr, die Kohn im Buch vom Judentum in bezug auf die Frage zitiert" (Tagebücher,; 100). Die Neuorientierung von Scholems Zionismus nicht mehr am Erleben, sondern an der Tat enthält auch unausgesprochene Selbstkritik. In den am Anfang erwähnten „Reisebeobachtungen" war die „Selbstfindung" noch gedacht als Auffinden des „Chaos", das man mit Nietzsches Zarathustra gesprochen „in sich haben" mußte. 23 Diesem Primat des noch Ungeordneten im Subjekt entspricht die Abwertung erstarrter und verfestigter Formen, die dieses als Resultat innerer Prozessualität aus sich heraussetzt. Scholems Hinweis auf Alfred Kerrs Diktum kehrt diese Rangordnung um. Bei Kerr heißt es: „Chaos ist der Vorzustand eines Sterns. Die Ansicht, wenn aus dem Chaos ein Stern geboren werde, sei nicht das Chaos das Bemerkenswerte, sondern der Stern, wird von den meisten verworfen, — begünstigt bleibt sehr der Vorzustand eines Sterns." 24 Scholems Lesart legt den Vorrang auf die Seite des Realen, der Tat, nicht auf die des im Fundus subjektiver Innerlichkeit gelegenen „Vorzustandes". Doch auch diese Deutung lag noch immer im Rahmen dessen, was aus dem Zarathustra herauszu-

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Vgl. Anm. 13. Zitiert nach: Vom Juden/um, 18.

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holen war: „Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad des Grundes rollt nicht zwischen ihnen."25 Scholems Begeisterung für den Zarathustra dürfte also empfindlich gedämpft worden sein gerade durch jüdische Nietzscheaner, die solcherart von ihm inspiriert waren. Mitte November 1914 schränkte ein immerhin noch vom Zarathustra enthusiasmierter Scholem seine Begeisterung bereits ein: „mag man noch so über die Ideen denken, die davon [d. i. vom Zarathustrar] aufgestellt sind" (Tagebücher,, 52). Dieses wenig günstige Urteil meinte wohl schon damals nicht nur Buber und die Prager. Es konnte aber noch schlimmer kommen. Das Extrem eines jüdischen Nietzscheanismus, der in seiner Stoßrichtung dem zionistisch geprägten entgegengesetzt, in Nietzschescher Thematik und Motivik gleichwohl nicht allzuweit von ihm entfernt war, begegnete Scholem wenig später. Ende November 1914 erhielt er von einem Freund ein kleines Buch mit dem Titel Wir Juden,26 Das Werk ist „Dem grossen Andenken Friedrich Nietzsches" gewidmet und zeigt so schon gleich zu Anfang, wessen Geistes Kind es sein möchte. Scholem jedenfalls war skeptisch noch vor näherer Lektüre: „Ein Nietzscheaner als Nationaljude. [...] Der Stil sollte eigentlich nietzschesch sein, es kommt aber etwas heraus, etwa wie der Stil von Pasmanik, der ja auch in Nietzsche macht. Warum hat Müntz übrigens nicht das Wort Nietzsches als Motto gewählt: ,Nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen'? Das ist doch beinahe gerade auf uns heraufgeschrieben und hätte besser gepaßt als sein mißglücktes" (Tagebücher.; 58 — 59). Diese Frage dürfte sich mit der Lektüre des Buches von selbst erledigt haben. „Nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen" — das ist für Scholem die Parole seines Zionismus. Sie ist dem Zarathustra entnommen27 und taucht in den Tagebüchern auch noch an anderer Stelle auf. IVir Juden dagegen ist von antizionistischer Tendenz. Das seiner äußeren Form nach scheinbar aphoristische Werk fordert „den neuen Juden", der „der wahre Mensch, der starke intensive Wille", die „starke Natur", „die Persönlichkeit", „das Individuum" und dergleichen mehr sein soll. Er überwindet sich — und damit den „schlechten Juden" - und hat sodann keine Angst vor „Leben", „Kampf*', „Tod", „Verantwortung" und „Pflicht", denn: „alles wahre Leben ist Pflicht".28 Der andere Strang des Buches wandelt auf den Spuren von Nietzsches Anti-Christ und seiner von Wellhausen übernommenen Entwicklungsgeschichte des Christentums aus dem Judentum. Wir Juden nimmt dann aber eine christologische Wendung, denn Christus erscheint als 25 26

27 28

Za I, Vom bleichen Verbrecher (KSA 4.45-46). Ch. Müntz: WirJuden, Berlin, 1907. - Verfasser ist wohl der 1884 in Lodz geborene und später in Berlin lebende Mathematiker Chaim Müntz. Za II, Das Grablied (KSA 4.145). Wir Juden, 59.

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„das schönste Juwel" des Judentums. 29 Diese beiden Linien — Selbstüberwindung und ins Christentum mündende Geschichte des Judentums — werden durch ein messianisches Moment verbunden: das Judentum erwarte den Messias, „den Sohn Gottes", 30 und entsprechend habe der starke, neue Jude seine „Furcht vor Christus" abgelegt. Das ergibt „das befreite Judentum" — befreit vom „schlechten Juden", zu dessen Beschreibung der Verfasser auch auf die Palette der Anti-Semitismen und Anti-Judaismen zurückgreift, befreit schließlich wohl auch vom Judentum, was um so klarer wird, wenn man bedenkt, daß am Ende auch noch Otto Weininger als „der neue Jude" gepriesen wird. 31 Weininger war fünf Jahre vor Erscheinen von WirJuden zum Protestantismus übergetreten und hatte 1903 seinem Leben ein Ende gesetzt. Auch dies war also „jüdischer Nietzscheanismus" — ein „jüdischer Nietzscheanismus" allerdings, dem in seiner Beschwörung der Selbstüberwindung und seinem Jargon der Selbstfindung am Ende sein Attribut abhanden kam. Scholem jedenfalls erkannte sogleich die christliche Tendenz dieses Elaborats, wenn er zum Namen des Verfassers — das Titelblatt weist einen „Ch. Müntz" als solchen aus — anmerkt: „Ch(ristian oder ajim?) Müntz". Und den Namen des Verlags „Oesterheld" verschreibt er, wohl nicht unabsichtlich, zu „Osterheld" und versieht ihn mit Ausrufe- und Fragezeichen (Tagebücher.; 58 — 59). Die Nähe eines solchen, durch Nietzsches Vokabular und Themen gespeisten Messianismus zum Christentum, wie er Scholem durch WirJuden vor Augen geführt wurde, brachte für ihn zunächst wohl mehr den Nietzscheanismus in Mißkredit als Nietzsches Werk. Zur Verwerfung dieses Messianismus hat sie alleine nicht geführt. Indes ist in diesem Zusammenhang ein biographisches Moment, dessen Erschütterung in Scholems Aufzeichnungen noch lange nachhallt, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Hier lauerte nun tatsächlich ein Abgrund für den jungen Scholem, wurde die sonst nur an Schreibtischen vielbeschworene „Gefährlichkeit" des Nietzscheschen Denkens wirksam. Scholems Begeisterung für den Zarathustra zeigt unübersehbar ein persönlich-identiflkatorisches Moment. Offenkundig sah das auch sein damaliger Freundeskreis so. Jedenfalls findet sich im Nachlaß ein Blatt, auf dem der Jugendfreund Erich Brauer eine kleine Charakteristik Scholems in Gedichtform gibt. Dort heißt es, in Anspielung auf eine Gedichtzeile von Rilke: „Du bist der eine und bist Beide / Du bist der Gerhard bist der Scholem /" und einige Zeilen später schließlich: „Du bist der Nietzsche". Brauer hat mit seiner Charakteristik tiefer getroffen, als das Gedichtchen mit seiner Nähe zur Blödsinnskultur zunächst vermuten läßt. Denn was in den 29 30 31

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bereits erwähnten „Reisebeobachtungen" noch in literarischer Form und Rede distanziert und damit auch gebändigt war, das tritt nun, in den folgenden Monaten offen zutage: Scholem sieht sich selbst als den Gottsucher und Künder, der selber die Züge eines Messias annimmt. Eine längere Aufzeichnung vom Mai 1915 gibt eine Vision Scholems, in der er sich zum Künder stilisiert: „Meine Sehnsucht nach dem Neuen, Ungeschaffenen, das uns kommen soll, das ich künden möchte und nicht kann, meine Sehnsucht nach der objektiven und subjektiven Erlösung." Wenig später fährt er fort: „Wer von uns jungen Juden hat wohl nicht den gleichen Königstraum gehabt und sich als Jesus gesehen und Messias der Bedrückten. [...] Und er wußte tief, daß er der Auserwählte war, seines Volkes Seele zu suchen und zu finden [...]" (Tagebücher.; 115 — 121). Scholem war der Preis dieses Messianismus, die äußerste persönliche Gefahrdung, bewußt, als er sich später von diesen Aufzeichnungen distanzierte: „Ich glaube nicht, im Ernste, daß ich jemals richtig wahnsinnig werden werde [...] Ich glaube in dieser Stunde nicht mehr, wie ich es einmal geglaubt habe, daß ich der Messias bin" (Tagebücher; 158). In diesem Lichte erhält die beiläufige Erwähnung einer historischen Koinzidenz in Von Berlin nach Jerusalem Bedeutsamkeit. Scholem besuchte während seines Studiums in Jena eine Bekannte, die Psychologie in Leipzig studierte: „Einige Male nahm sie mich auch zu psychiatrischen Übungen mit, bei denen Fälle aus der Realität vorgestellt wurden, und ich war von den wissenschaftlichen Beschreibungen der Literatur ebenso beeindruckt wie von den Übungen bei Professor Binswanger, der dreißig Jahre vor meiner Zeit Arzt des kranken Nietzsche gewesen war [...]". 32 Der Bezug auf Otto Binswanger macht Nähe und Differenz der beiden Lebensläufe evident: während der Künder Nietzsche als Gegenstand der Psychopathologie endete, ließ Scholems rechtzeitige Umkehr von diesem Weg ihn als Hörer zu Binswanger kommen und nicht als Patient. Solcherart mußte Scholems Verhältnis zum Zarathustra am Ende zwiespältig bleiben. Davon zeugt der bereits erwähnte Brief aus dem Jahre 1918, der im Zarathustra „gewiß das Schlechteste" sah. Scholems Verdikt enthält auch ein Moment von Selbstkritik und Selbstreflexion. Die Wendung gegen den Zarathustra ist Abkehr von einer frühen Phase des eigenen Denkens, dessen Nähe zum Nietzscheanismus Bubers vom Judentum wegführte und dessen unreflektierter Messianismus ihm nun als Gefahrdung erschien.33 Freilich war Scholem mit dieser endgültigen Verabschiedung der „Ich-Verherrlichung", mit seiner sich im32 33

Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, 112. Entsprechend wird man auch in Scholems 1918 verstärkt einsetzender philosophischer Auseinandersetzung mit der Problematik des Messianismus ein solches Moment der Selbstreflexion, der Rationalisierung des eigenen frühen Messiasglaubens sehen müssen. Dies ist zugleich der Ort, an dem deutlich wird, daß sogar noch Scholems spätere Forschungen frühe Erfahrungen reflektieren und in wissenschaftliche Einstellung bringen.

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mer deutlicher ausprägenden Ablehnung aller am Einzelnen, am starken und sich überwindenden Individuum orientierten Nietzsche-Deutung der Zugriff auf das Ganze des Zarathustra versperrt. Tragende Theoreme wie die im zionistischen Nietzscheanismus so beliebte Lehre vom „Ubermenschen" mußten so von Scholem verworfen oder gar ignoriert werden, nimmt doch auch der Gedanke von der „Uberwindung des Menschen" seinen Ausgang vom Individuum und endet mit ihm. Gerade die Neuorientierung seines Denkens dürfte Scholems Eindruck vom Zarathustra am Ende nachhaltig beschädigt haben, weit über das hinaus, was die Zurechtmachungen der Nietzscheaner vermocht hatten. Eine Lektüre aber, die dieses von ihm einstmals für „heilig" gehaltene Buch als Steinbruch benutzte und sich an Motiven und Metaphern entnahm, was in anderen Zusammenhängen brauchbar schien, eine solche Lektüre stand Scholem auch weiterhin offen.

IV. Geschichte, negative Geschichtsphilosophie und Gegengeschichte Paradox mag scheinen, daß das Werk Nietzsches, das Scholems Aufzeichnungen ausdrücklich kaum je erwähnen, die Unzeitgemäßen Betrachtungen, entschieden nachhaltiger auf ihn wirkte als der häufig zitierte Zarathustra. Scholems frühe Beschäftigung mit der Geschichte ist untrennbar mit Nietzsche verbunden. Gerade unter diesem Aspekt läßt sich seine intellektuelle Entwicklung in den frühen Jahren kaum verstehen, wenn man sich nicht klarmacht, daß Scholem an Problembestände der Unzeitgemäßen Betrachtungen anknüpft. Im folgenden seien zwei Aspekte der Problematik unterschieden und andeutungsweise ausgeführt: 1.) die Frage nach Geschichtsphilosophie und historischer Skepsis und 2.) die Frage nach der Last der Geschichte in der Gegenwart. 34 Im Laufe des Jahres 1914 war zwischen Scholem und seinem Bruder Werner eine Diskussion über „materialistische Geschichtsauffassung" im Gange. In deren Verlauf entgegnet Scholem in einem Brief vom September 1914 auf die zuvor brieflich geäußerte Zumutung seines Bruders, er möge sich mit dieser Materie eingehender befassen: „[...] ich glaube nicht an Geschichtsphilosophie — komme sie nun von Hegel (id est Marx), Ranke oder Treitschke, meinetwegen sogar nicht einmal an die negative von Nietzsche". 35 Das war in erster Linie 34

35

Scholems Auseinandersetzung mit der der protestantischen Alttestamentarik entsprungenen Religionsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts - im weiteren Zusammenhang der Entwicklung seines Geschichtsdenkens womöglich der wichtigste Gesichtspunkt — muß hier ausgespart bleiben, auch wenn sie Nietzsche tangiert. Wie weitgehend Nietzsche im Anti-Christ den Auffassungen Wellhausens folgt, konnte Scholem seiner vorzüglichen Kenntnis der Prolegomena %ur Geschichte Israels wegen nicht verborgen bleiben (vgl. Tagebücher, 59 und 146). Scholem: Bneft, Bd. 1, 11.

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gegen marxistische teleologische Geschichtsauffassungen gesprochen, wie der oben skizzierte Diskussionszusammenhang nahelegt. Scholem fährt dann freilich fort: „Ich glaube, daß - um ein Wort des letzteren [d. i. Nietzsche] zu variieren — wo in der Geschichte es Gesetze gibt, die Geschichte nicht taugt oder die Gesetze nichts wert sind" 36 — eine Begründung, mit der Scholem in der Folge wiederholt alle Geschichtsphilosophie verwerfen sollte. Nimmt man diese Auffassung zusammen mit dem wenige Zeilen später folgenden Satz „Ich glaube nicht [...], daß es auf dieser unserer Welt außer der nichteuklidischen Geometrie und der Differentialrechnung irgend etwas gibt, was bewiesen werden kann. Es kann nichts bewiesen werden", so hat man das wissenschaftliche Credo, das den Scholem der nächsten Jahre leiten sollte — bis hin zu seinem Entschluß, Mathematik zu studieren. Scholem folgte dem bekannten Muster des „Dualismus zwischen erzählender und Gesetzeswissenschaft" 37 — für den gesetzmäßig geordneten Teil des Kosmos ist die Mathematik zuständig, für alles andere die Mythen oder Geschichtenschreiber. Für Geschichtsphilosophie ist da kein Platz, ja, in Scholems konsequenter Zuspitzung dieses Modells nimmt Philosophie überhaupt einen inferioren Rang ein; an ihrer Stelle steht die Gesetzeswissenschaft, die Mathematik. 38 Eine Spur dieses Dualismus findet sich nicht zuletzt in der bilderreichen Sprache des jungen Scholem, und zwar überall da, wo nicht von Mathematik die Rede ist. Zwischen den beiden Reichen des Dualismus ist kein Ubergang, und in dieser Kluft macht sich der Skeptizismus breit. Scholem pflegte diesen überwiegend in Form der Sprachkritik Fritz Mauthners zu sich zu nehmen (Tagebücher.; 136—140), der oben zitierte Satz „es kann nichts bewiesen werden" gehört in diesen Zusammenhang. Der Scholem der Jahre 1915 und folgende tritt an, eben diesen Skeptizismus zu bekämpfen. Mit der Wendung gegen die „historische Skepsis" befindet er sich freilich gänzlich in Übereinstimmung mit dem Anliegen Nietzsches in den Unzeitgemäßen Betrachtungen, vor allem in der zweiten. 39 Die Frage nach der Last der Geschichte führt diese Problematik weiter und bringt sie in Zusammenhang mit Scholems frühem Zionismus. Nach einem Vortrag von Kurt Hiller in der Berliner Freien Studentenschaft verfaßte Scholem eine scharfe Kritik (Tagebücher, 122-123). Ihr zentraler Punkt ist die Frage nach Nutzen und Nachteil der Geschichte für die Gegenwart: „Herr Dr. Hiller macht 36

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Ebenda, 1 1 . — Bei Nietzsche heißt es in HL 9: „[...] so weit es Gesetze in der Geschichte giebt, sind die Gesetze nichts werth und ist die Geschichte nichts werth." ( K S A 1.320). G e o r g Simmel: „Probleme der Geschichtsphilosophie", in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. Main, 1 9 8 9 , 3 4 6 - 3 4 7 . Zu diesem Dualismus vgl. Tagebücher, 2 5 8 - 2 6 1 . S o versuchte Scholem noch Anfang 1 9 1 8 in einem Seminarreferat bei B r u n o Bauch, die Logik der Wissenschaften und der Philosophie aus mathematischer Logik zu begründen und deren Kalkülisierung zu verteidigen. Bereits die Bildungskritik in D S ist gegen die „skeptische Historiographie" gerichtet, vgl. D S 2 ( K S A 1.170).

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es sich einfach: Geschichte? Unsinn! Wir leben ohne Geschichte, was geht uns dieser ganze Kram der Jahrtausende an? Wir leben mit dem Geschlechte, das mit uns geboren ist!" Scholem hat später im Erinnerungsbuch an Walter Benjamin der Erwähnung dieser Episode einen Satz hinzugefügt, der seine Distanz zu den jüdischen Nietzscheanern aufs schärfste markiert: „Er [d. i. Hiller] trug, sozusagen in Nietzsches Fußspuren, eine vehemente Denunziation der Historie als einer geist- und lebensfeindlichen Macht vor, die mir gänzlich unzulänglich und verfehlt schien." 40 „In Nietzsches Fußspuren" — das gehört freilich auch ins Repertoire der späteren Rezeptionslenkungen Scholems, denn daß er selbst damals Nietzscheschen Fußspuren folgte und zwischen jenen und dem Getrampel der Nietzsche-Jünger sehr wohl zu unterscheiden wußte, das dürfte mittlerweile deutlich geworden sein. Im Falle Hillers, der hier zum Repräsentanten des auch im jüdischen Nietzscheanismus so populären Gedankens einer Entlastung vom Ballast der Geschichte wird, war das nicht anders. Der frühe Scholem wußte, daß es Nietzsche in den Unzeitgemäßen Betrachtungen mitnichten um „Denunziation der Historie" zu tun war — diese Verschleifung der Problematik ist vielmehr ein Rezeptionsphänomen. Er war sich im Gegenteil im klaren darüber, daß Nietzsche gerade in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fiir das Leben eine kritische Neubestimmung des Verhältnisses von Historie und Gegenwart geben wollte. Genau hier knüpft Scholems Kritik an Hiller an, auch wenn er am Ende noch keine positive Lösung dieser Aufgabe geben konnte. Scholem stellt dem Vortrag Hillers im folgenden seine Skizze der Problematik entgegen: „Der Tatbestand ist der: Wir tragen Geschichte in erdrückender Menge mit uns herum, sie ist gegeben, sie ist da, bei jedem unserer Schritte fühlen wir ihre Wucht: Wir tragen die Last der Geschichte in unserem Blute und in unserem Bewußtsein." Es ist dies die erste Stelle, an der Scholem sich mit dem einen der beiden großen Topoi des jüdischen Nietzscheanismus, der Problematik der Last von Geschichte, befaßt. 41 Auch hier besteht eine Kluft — die zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Geschichte und Tat. Die Tat erfordert einen „Sprung", wie Nietzsche in der III. Unzeitgemäßen Betrachtung gegen „den Menschen Goethes" einwendet, einen Gewaltakt des „Empörers und Befreiers" gegen die „skeptische Bosheit und Verneinung". 42 Die Aufnahme dieses Gedankens findet sich am Ende der Hiller-Kritik, wenn Scholem - noch skeptisch — anmerkt: „Und das ist das Problem, das alle jungen Menschen in sich auszukämpfen haben, die Spannung, der Gegensatz zwischen dem Geschehen und der Sehnsucht ihrer Tage und der Historie und der schlafenden Sehnsucht der Jahrtausende, die in unserem Blute wohnen: Diese Spannung gilt 40 41 42

Scholem: Walter Benjamin, 12. Der andere ist der Gedanke der „Selbstüberwindung", des „Ubermenschen" etc. SE 4 (KSA 1.370).

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es fruchtbar zu machen, diese Antinomie gilt es zu vollenden. Es ist keine Lösung des Problems, über den Abgrund hinwegzuspringen: Wir können nicht springen" (Tagebücher,; 123). Damit ist die Schnittstelle bezeichnet, an der der ganz frühe Scholemsche Zionismus — man kann ihn einen Zionismus der Tat nennen — einsetzt. Denn in den folgenden Jahren, bis ungefähr zur Mitte des Jahres 1917, gehen alle Überlegungen Scholems jenseits der oben skizzierten erkenntnistheoretischen Problemstellung darauf, wie dieser Kluft abzuhelfen sei. Es folgen praktische „Aufrufe zur Tat" in Scholems zionistischer Hauspostille, der „Blau-Weißen Brille" (Tagebücher,; 291—301), und ähnliches mehr. So versteht sich Scholem als „Apologet des Tatsächlichen" im Sinne Nietzsches, der sich gegen die „Kämpfer gegen die Geschichte"43 wendet. Der Begriff, der sodann aber für Scholem die leitende Rolle einnehmen und die Kluft zum Vergangenen schließen sollte, war der der Tradition. Er wurde für sein Denken virulent mit der Bekanntschaft von Franz Joseph Molitors Philosophie der Geschichte oder über die Tradition,44 Dies gilt für Scholems philosophische und geschichtsphilosophische Überlegungen — denn daß die zuvor begründete Verwerfung von Geschichtsphilosophie am Ende nichts anderes ist als selbst Geschichtsphilosophie, dürfte unstrittig sein. Dies gilt aber auch für die Neuorientierung seines frühen Zionismus. Scholem begann nun, alle praktische Arbeit in der Diaspora abzulehnen, und zog sich aus der jüdischen Jugendbewegung vollständig zurück.45 Der Begriff der Tradition kann — wenn man ihm das für Scholem wichtigste Motiv aus Nietzsche einsetzt — beides aufnehmen: die Geschichte, von der man sich endasten will, und die, zu der man sich bekennt, die verborgene Geschichte — man nennt sie heute auch „Gegengeschichte". Für diese Differenzierung im Begriff der Tradition findet Scholem das Motiv des Oben und Unten, des Gegensatzes von Oberirdischem und Unterirdischem — und er findet es bei Nietzsche. Auch Buber benutzt dieses Motiv und bezeichnet die mystischen Strömungen und Sekten des Judentums als „unterirdische" im Gegensatz zum rabbinischen, dem „oberirdischen" Judentum.46 43 44

45

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HL 8 (KSA 1.310-311). Somit läßt sich auch der Zeitpunkt einigermaßen genau bestimmen, da der Begriff der Tradition in Scholems Blickfeld rückte: er erwähnt Molitor zum ersten Mal am 11. Oktober 1916; vgl. Tagebucher, 404. — Zu Scholem und Molitor vgl. Christoph Schulte: „ ,Die Buchstaben haben ... ihre Wurzeln oben.' Scholem und Molitor", in: Kabbala und Romantik, hrsg. von Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte, Tübingen, 1994, 143-164. Vgl. „Abschied. Offener Brief an Herrn Dr. Siegfried Bernfeld und gegen die Leser dieser Zeitschrift", in: Jerubbaal. Eine Zeitschrift der jüdischen Jugend, 1. Jg., 1918/19, 125 — 130; wiederabgedruckt in: Scholem: Britfe, Bd. 1, 461—466. Dieses Verhältnis von „unterirdischer" und „oberirdischer" Bewegung in der jüdischen Geschichte ist beim frühen Buber häufig anzutreffen; so ζ. B. in Die Legende des Baalschem, Frankfurt a. Main, 1908, V: „Im Chassidismus siegt für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle — über das allbekannte, übersichtliche Judentum, dessen Geschichte man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständliche Formeln faßt."

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Dies ist freilich eine Entlehnung — und zwar aus Nietzsche, und Scholem hat, das legt seine Erwähnung der Lektüre des Anti-Christ nahe, die ursprüngliche Fundstelle gekannt. Schon Nietzsche charakterisierte mit dem Motiv des „Unterirdischen" eine Sekte, die christliche. Gleichsam wie ein Leitmotiv durchzieht es in vielerlei Variationen die Scholemschen Aufzeichnungen bis 1923. Hier schließt sich der Bogen zum Anfang, der Epoche, da Scholem noch dem „Erlebnis" Bubers und der zarathustraschen Selbstfindung nachhing. Denn dieses Motiv tritt die Erbschaft der in den „Reisebeobachtungen" erwähnten „Kluft" oder des „Abgrunds" an. Verwiesen letztere auf den gefahrvollen Abstieg des Ichs zu sich selbst, so markiert das Motiv in seiner Neuprägung nun das verborgene, lebendige, auch revolutionäre Potential der jüdischen Geschichte. Man wird Scholems Lektüre der Philosophie Nietzsches schwerlich einen „jüdischen Nietzscheanismus" nennen können. Keines ihrer tragenden Themen hat er aufgenommen und seinem Denken integriert. Der frühe Scholem knüpfte vielmehr an Problembestände der Unzeitgemäßen Betrachtungen an, um sie kritisch und selbständig weiterzudenken; ansonsten fanden bloß einige Nietzschesche Motive Eingang in sein Denken. Er war in keiner Weise an der die Rezeption in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts prägenden „Auffassung eines kohärenten und feststellbaren Nietzsche" interessiert.47 Auch aus diesem Grunde begegnete er jüdischen Nietzscheanismen durchwegs mit Kritik, sieht man von einer kurzen Initialphase seiner Rezeption ab. Scholems Nietzsche-Lektüre wird deshalb der Titel einer „Unzeitgemäßen Betrachtung" zukommen müssen.

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Behler: Nietzsche jenseits der Dekonstruktion, 93.

HUBERT CANCIK

Niet2sches Antike und die jüdische Kritik § 1 Nietzsches Antike § 1.1 Begrenzung des Themas Keiner der drei Denker, Schriftsteller, Wissenschaftler, deren Kritik an Nietzsches Bild von der Antike im folgenden vorgestellt werden soll, war ,Nietzscheaner' oder auch nur ,Anti-Nietzscheaner': weder Franz Rosenzweig, noch Walter Benjamin, noch Jacob Taubes. Ihre Kritik an Nietzsche geht weit über die Kritik an Nietzsches Antikebild hinaus, auf die ich mich hier beschränke. Ihre Kritik geht andererseits nicht tief genug: Sie erreicht nämlich nicht die Frage, inwieweit Nietzsches Antike die wirkliche Antike sei. Keiner der drei genannten Denker hat gefragt, wie — jenseits von Nietzsche — diese ,wahre Antike', einige ihrer Teile oder die Gesamtkultur, sich mit der antiken jüdischen Kultur oder mit dem Judentum als solchem vertrage. Keiner der drei Gelehrten hat seine Kenntnis der Antike nur aus Nietzsche. Ihre Schulbildung und die bürgerliche Kultur, der sie entstammen, mit ihrem mehr oder weniger ausgeprägten Klassizismus, mit ihrem Goethe, dem „Heiden par excellence",1 sind wichtige Quellen. Das Verzeichnis der Bibliothek von Franz Rosenzweig zeigt die Real-Präsenz der antiken Klassiker.2 Dennoch war es Nietzsche bzw. die jeweiligen zeitgenössischen Nietzsche-Tradenten, die in verhängnisvoller Weise ihr Bild von der Antike eingefärbt haben: August und Ernst Horneffer, Walter F. Otto, Oswald Spengler, Armin Möhler. 1

2

Franz Rosenzweig (FR), Der Stern der Erlösung (1921) (SdE), Den Haag 1976, Neudruck Frankfurt am Main 1988, 315 ff.: Rosenzweig nennt diese Partie „Goetheologie" vgl. Nahum Glatzer, Franz Rosettqveig. His Life and Thought, New York 1958, 128. Ein Verzeichnis der auf der Flucht verschollenen Bücher befindet sich in der Nationalbibliothek Jersusalem; es umfaßt eine ansehnliche Reihe vor allem griechischer Autoren, meist in Originaltext und Ubersetzung: Homer, die Lyriker, Tragiker, Piaton und Aristoteles, die Fragmente der Vorsokratiker; die lateinische Literatur ist weniger gut vertreten: Vergil, Horaz, Ovid, ein wenig Cicero, Caesar, Sallust und Tacitus. — Schalom Ben Chorin nannte Rosenzweig den ,,letzte(n) deutsche(n) Juden", „vergleichbar nur dem hellenistischen Judentum Philos und dem spanischen Judentum der großen Dichter und Denker der Sepharden" (in: Mitteilungsblatt (sc. der deutschen Juden in Israel) Nr. 48, 24.12.1976, S. 5). Ich verdanke die Kenntnis dieser Archivalien der freundlichen Hilfe von Frau Margot Cohn.

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§1.2 Die Grundlagen der Konstruktion 1.2.1: Der Ausdruck .Nietzsches Antike' meint die von Nietzsche konstruierte und gedeutete Antike. Nietzsches Deutung ist gesteuert von seinen eigenen Bedürfnissen, von den Zwängen seiner historischen Situation, dem Erwartungsdruck seines Publikums; sie ist abhängig von dem Forschungsstand innerhalb seiner Wissenschaft. Nietzsches Antike ist vor allem eine Auswahl aus der Antike: (1) die tragische Antike, (2) die aristokratische Antike, (3) die dionysische Religion, (4) die vorsokratischen Philosophen, (5) die antike Metrik und Rhythmik (als Ersatz für die verschollene antike Musik). Hinzu kommen — überwiegend als negative Folie — Sokrates, antike Aufklärung, Hellenismus/Alexandrinismus, das antike Christentum. Rom spielt eine geringe Rolle, eine noch geringere, merkwürdigerweise, die antike Kunst. Es fehlen unter anderem: Komödie, die Zeus-Religion, Eleusis, Aphrodite, die Geschichtsschreibung. Die Stichworte ,Tragödie, Vorsokratik, Dionysos/Antichrist' nennen Leitthemen, die Nietzsches ganzes Werk durchziehen. In seinen späten und den letzten klaren Arbeitstagen hat er sich eindeutig zu seinem Frühwerk gestellt. Die Themen seiner letzten Schriften und die Stichworte auf den sog. ,Wahnsinnszetteln' lauten wieder und immer noch: Dionysos und das unzerstörbare Leben; das Hellenentum als Alternative zum Christentum; Geschichte und ewige Wiederkehr — eine Lehre, die Nietzsche zunächst als eine pythagoreische aufgefaßt hat (HL 2). Die Vorstellung, Nietzsche sei am Anfang seiner Karriere ein strebsamer Philologe gewesen, am Ende ein Philosoph, der sich völlig von den Themen seines Frühwerks gelöst hätte, ist nicht richtig.3 1.2.2: Nietzsches Antike ist eine archaische (antimoderne), aristokratische (antidemokratische), antisozialistische Gegenutopie. Diese archaische Kultur in Hellas — analog in Iran und Indien, so Nietzsche in „Zarathustra" und „Antichrist" — dient als Mittel der Kulturkritik, der Kritik an der Moderne der Gründerjahre, der Bismarckära und der wilhelminischen Epoche. Nietzsches Antike ist Aufklärung, Ursprung von Wissenschaft, von Physis und Logos und dient zur Kritik am Christentum. Diese Antike ist zwar archaisch, aber zugleich hochmodern, voller Politik, Ästhetik und Psychologie; sie ist kein antiquarischer Gegenstand, sie lebt durch Verknüpfung mit aktuellen Problemen. 4

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S. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, München 1978, Bd. 2, 655. FW II 83 (KSA 3, 438 f.): „Übersetzungen": „Sollen wir [sc. Römer] das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen? denn todt ist er nun einmal: wie hässlich ist alles Tote!" — So wie die Römer sich die griechische Kultur aneigneten, so soll sich die Moderne das Griechentum aneignen: dies ist der Nutzen der Historie und Philologie für das Leben.

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Durch Nietzsche vor allem bleibt die griechische Antike, insbesondere ihre Mythen, in den modern gesonnenen Kreisen des Bürgertums präsent. Dem deutschen Philhellenismus entsteht in ihm ein neuer „Zeuge". Die Linie Johann Joachim Winckelmann, ermordet 1768 in Triest, Friedrich Hölderlin - seit 1805 im Turm zu Tübingen, Friedrich Nietzsche - von 1889 bis 1900 in „geistiger Umnachtung" in den Zentren des deutschen Geistes lebend, in Jena, Naumburg und gar in Goethes Weimar: diese Linie wurde ein Trauma. Den Menschen, die im Januar 1889 von Nietzsches Zusammenbruch in Turin erfuhren, war dieser Zusammenhang schlagartig klar.5

§ 1.3 Philhellenismus und Antisemitismus bei Nietzsche Zu den Grundlagen von Nietzsches Antikebild gehört seine Rezeption der zeitgenössischen Rasselehren und die Verschränkung des Philhellenismus mit Antisemitismus. 6 Schon in seinen frühen Basler Aufzeichnungen (ab Winter 1869/70), in den ersten Vorarbeiten zu GT phantasiert Nietzsche einen Kampf zwischen jüdischer und griechischer Welt. Er schreibt:7 Sieg der jüdischen Welt über den geschwächten Willen der griechischen Kultur.

Oder: Vernichtung der griechischen Kultur durch die jüdische Welt.

Der fünfundzwanzigjährige Professor wählt seine Worte sorgfältig: .griechische Kultur' steht gegen .jüdische Welt'; jüdische Kultur gibt es hier nicht. Die Philologie wird angeklagt: Das .Hellenische' seit Winckelmann: stärkste Verflachung. 5

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Die Verbindung Nietzsche — Hölderlin ist alt und fest. Nietzsche las schon in Schulpforta Hölderlin — wohl nicht auf Anregung von Lehrern — und schrieb einen Aufsatz über ihn; er plante ein Drama „Empedokles" - um die Fragmente Hölderlins abzuschließen? (s. Cancik, Nietzsches Antike, S. 73). - Vgl. Hubert Cancik, Der Einfluß Nietzsches auf klassische Philologen in Deutschland bis 1945. Philologen am Nietzsche-Archiv (I), in: H. Flashar (Hg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, 381 —402 (in Zusammenarbeit mit Hildegard Cancik-Lindemaier und Roswitha Wollkopf); Cancik, Hubert und Hildegard Cancik-Lindemaier, Philhellenisme et antisemitisme en Allemagne. Le cas Nietzsche, in: D. Bourel, J. Le Rider (Hg.), De Sils-Maria ä Jerusalem. Nietzsche et lejudaisme — Les intellectuels juifs et Nietzsche. Paris 1991, 2 1 - 4 6 . Vgl. Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart 1995, 9. und 10. Vorlesung. Nachlaß Winter 1 8 6 9 - 7 0 - Frühjahr 1870, KSA 7,80-83 (3[73-86]). - Schon hier ist, wie aus „geschwächter Wille der griechischen Kultur" hervorgeht, das Christentum als Agent des Judentums am Untergang der Antike beteiligt. - Unrichtig E. Nolte, Nietzsche und der Nietzscheanismus, 1990, 97: „So durchzieht die Orientierung an den Griechen [...] das ganze Frühwerk Nietzsches - noch ohne ausdrückliche Wendung gegen Christentum und Judentum [...]." Diese

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Und schuld daran ist ,Judaea". 8 Die Antithese griechisch — jüdisch wird in der kritischen Phase seiner Philosophie fortgeführt. Nur ein Beispiel (Ende 1880):9 Jüdisch — eine Religion des Schreckens, der Verachtung und gelegentlich der Gnade (wie alte Patriarchen) Griechisch — eine Religion der Freude an der Kraft, an der eigenen Vollkommenheit, gelegentlich eine Religion des Neids gegen die Allzuhochhinauswollenden (Agamemnon Achill)

Die Struktur des „Antichrist" (1888) schließlich beruht auf dieser Antithese. Im ersten Teil steht das ,Credo' der Hyperboräer, der Nordleute, die in Eis und Einsamkeit das klassische Erbe hüten. Dagegen steht im Mittelteil die Wertewelt der Christianer, die als „Judentum in zweiter Potenz" definiert sind, als das „Judentum noch einmal" oder „Judentum in der letzten möglichen Steigerung". 10 Ihre Werte sind durch die „Ent-natürlichung aller Natur-Werthe" (AC 25) und die „Verneinung des Lebens" (AC 7) verdreht. Als Nietzsche dem Christentum den „Krieg" erklärte, war aufgrund seiner Definition das Judentum impliziert.11 Deshalb läßt sich Nietzsches Antichrist interpretieren als ,Antijudaismus in zweiter Potenz'. Nietzsche führt jetzt, gegen Ende seines bewußten Lebens, immer noch den Krieg zwischen „jüdischer Welt" und „griechischer Kultur", von dem er in seinen frühen Basler Notizen geschrieben hatte.

JT 2 Die jüdische Kritik, § 2.1 „Die heidnische Welt": Franz Rosenzweig (1886-1929) 2.1.1: Rosenzweig über Nietzsche und die Antike a) Im „Stern der Erlösung" (1921), dem theologischen Hauptwerk von Franz Rosenzweig, spielen weder die klassische Antike noch Friedrich Nietzsche eine besondere Rolle. Klassische Kultur ist hier nur „Heidentum", ein „Ele-

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Aussage steht auch im Widerspruch zu den von Nolte S. 106 wiedergegebenen Zeugnissen über den Antisemitismus des jungen Nietzsche. Nachlaß Winter 1 8 6 9 - 7 0 - Frühjahr 1870, K S A 7,81 (3[76]): „Das .Hellenische' seit Winckelmann: stärkste Verflachung. Dann der christlich-germanische Dünkel, ganz darüber hinaus zu sein. Zeitalter Heraklits, Empedokles usw. war unbekannt. Man hatte das Bild des römischuniversellen Hellenismus, den Alexandrinismus. Schönheit und Flachheit im Bunde, ja nothwendig! Scandaleuse Theorie! Judaea!" - Vgl. AC 58 — 60. Nachlaß Ende 1880, K S A 9,353 (7[175]); vgl. WPh 5[150], Nachlaß Frühling-Sommer 1875, K S A 8,81 und Kommentar z. St. Nachlaß Herbst 1887, 10[79ff.], Nachlaß Herbst 1887, K S A 12, 500 ff. „Gesetz gegen das Christenthum", K S A 6,254.

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ment" unter vielen anderen, mit Indien und Asien in einer Undefinierten „Vorwelt" oder „Urzeit" untergebracht. 12 Die geringe Bedeutung beruht nicht auf Ignoranz. Rosenzweig hat seit seiner Schulzeit im Friedrichs-Gymnasium zu Kassel eine gute Kenntnis der klassischen Sprachen. 13 Er imitiert in einem Brief an Rosenstock (26.11.17) griechischen Satzbau in deutscher Sprache; er schreibt, offenbar aus dem Gedächtnis, griechische Zitate in sein Tagebuch, deren korrekter Abdruck der heutigen Reproduktionstechnik nicht mehr gelingen will. 14 Im Jahre 1906 ist Piaton sein Lieblingsphilosoph. Dessen Lehre vom Schönen — allerdings nur diese — hat für ihn eine „religiöse, dogmatische Bedeutung". 15 Er liest den „Timaios" auf Griechisch, 10 weiß aus dem Gedächtnis, wo das Höhlengleichnis steht, 17 versucht, Rosenstock mit Scholien zu Homers „Ilias" zu imponieren. 18 Seine Antike ist ganz deutscher Philhellenismus: ganz griechisch, Piaton, Homer und deren Rezeption bei Goethe und Hölderlin. Während er 1917 am „Stern der Erlösung" arbeitet, schreibt er an Rosenstock: 19 G r i e c h i s c h m u ß i m m e r gelesen w e r d e n ,

und Hellas ist eine beständige Wirklichkeit.

In dem publizierten Text seines Hauptwerks jedoch spielt die griechische Kultur, wie gesagt, keine eigenständige Rolle. b) Auch Nietzsche wird im „Stern der Erlösung" nur wenige Male genannt, und mit wenig Respekt vor seiner Lehre: 20 Beinahe gleichgültig ist es s c h o n heute, was er erphilosophierte. D a s D i o n y s i sche u n d der Ü b e r m e n s c h , die b l o n d e Bestie, die e w i g e W i e d e r k u n f t — w o sind sie geblieben?

Das ist geschrieben im Herbst 1918 und 1921 publiziert. Nur die Person Nietzsche, den subjektiven Philosophen, in seiner Einheit von Mensch und Denker läßt er gelten — ganz in Ubereinstimmung mit dem zeitgenössischen Nietz12 13 14

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Vgl. SdE, 82: „die elementaren [!] Mächte der Urzeit". FR besuchte ab 1896 das Friedrichs-Gymnasium. Der Stoffplan ist mir nicht bekannt. Auf S. 685 (Brief an W. Raeburn, 20.9.1920) der Briefe und Tagebücher (Bd. 1.1) in: Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-Scheinmann, Bd. 1,1 und 1,2, Den Haag 1979, findet sich ein besonders unschönes Beispiel. FR, Tagebuch, 22.5.1906; vgl. FR an die Mutter, Berlin 18.11.1907. Tagebuch 27.4.1906. FR an W. Raeburn, 20.9.1920: „ [...] aus dem Anfang des VI. Buches (glaube ich) der platonischen Politeia". Gemeint ist das VII. Buch. FR an Rosenstock, 7.11.16. FR an Rosenstock, 30.11.17 (Briefe, S. 302 ff.; bes. 306); ebd. S. 439. SdE, 9 f. - Vgl. Richard A. Cohen, Rosenzweig versus Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), 3 4 6 - 3 6 6 , hier 352.

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sche-Mythos. U n d doch sind Nietzsche und dessen besondere A r t v o n Antike ihm v o n Jugend auf präsent, soweit die (mir) bekannten D o k u m e n t e zurückreichen. A m 5 . 2 . 1 9 0 6 ist der „Zarathustra" gelesen. Nietzsche bietet allerdings kein Fundament. Mit ihm, meint Rosenzweig, könne man nichts begründen. 2 1 Im März liest er das „Nietzsche-Buch H o r n e f f e r s " 2 2 und notiert am 25.5.06 im Tagebuch: „Unser letzter großer Prophet, Nietzsche". Zwei Vorträge H o r n e f f e r s treiben ihn zu einem Klein-Essay über Griechentum und Judentum. D e r Text ist, so scheint mir, ein früher Impuls und ein K e r n für den ersten Teil des zehn Jahre später geschriebenen „Stern der Erlösung". 2 3 Er lautet: 2 4 Horneffer verneint das jüdische Element unsrer Kultur, er kennt nur das griechische. Was ist griechisch? Der Glaube an den Menschen, der „Individualismus". "Ανθρωπος ,,μέτρον π ά ν τ ω ν " , „der Maßstab aller Betrachtung".25 Auch die höchste Forderung der Ethik: Gesteigerter Mensch. Maßlosigkeit: Übertreibung des Menschlichen. — Der Mensch ist der Anfang; Gott kann das Ziel sein, muß es nicht sein. Höchste Leistungen der Kunst aus dem Gefühl des Individuellen, des Menschlichen: Götterstatuen, plastische Phantasie. Dies ist alles ganz unbewiesen, nicht bestimmt genug. Sollte am Ende der Gegensatz kein fundamentaler sein?? Horneffer sagte: „Der Grieche kennt Wissenschaft, voraussetzungsloses Streben nach Erkenntnis, der Orientale kennt nur Offenbarung". 2' 22 23 24

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Weitere Eintragungen zu Nietzsche finden sich das ganze Jahr 1906 hindurch. FR an Hans Ehrenberg, Kassel, 17.3.1906; Berlin, 6.7.1908, zu August Horneffer, Nietzsche als Moralist und Schriftsteller (Jena 1906): „ein Prachtbuch". Als „Keimzelle" von SdE gilt ein Brief FR an Rudolf Ehrenberg, November 1917. a) Tagebuch 1.4.1906; bei Nahum Glatzer, 9 f., ist dieser Klein-Essay ausgelassen. — Der Name Nietzsche ist in dieser Eintragung nicht genannt; er ist jedoch für FR in diesem Jahr immer gegenwärtig. — b) Die Brüder August und Ernst Horneffer hielten beide verschiedene Vortragszyklen über Nietzsche, neue Religion, neue Moral, das klassische Ideal etc. Welchen Vortrag FR in Kassel gehört hat, konnte ich noch nicht feststellen. Die folgenden Angaben können aber einen Eindruck von der Vortragstätigkeit der beiden Horneffer vermitteln: (1) F. Rittelmeyer, Die künftige Religion? in: Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Zwanzigster Jahrgang 1906, Nr. 21 (24.5.1906), Sp. 481-485; ders., Die künftige Religion des Dr. Ernst Horneffer, in: ebd. Nr. 22, Sp. 507-515. - (2) Ernst Horneffer, Nietzsche- Vorträge, Leipzig (Kröner) 1920 (15.-17. Tausend), darin: 1. Nietzsche, der Philosoph und Prophet — 2. Der Ubermensch — 3. Die Umwertung aller Werte; ohne Datierung, laut Vorwort (November 1919): geschrieben „vor etwa 25 Jahren". Protagoras frg. 80 B1 DK. Die Schreibweise mit den Anführungszeichen im griechischen Zitat wurde aus der Tagebuchedition übernommen. — Diesen Satz hat FR in SdE, S. 79 f., erinnert: „dort [sc. in der griechischen Polis] nahm auch die aller Rechte der Gattung sich überhebende Gestalt des Selbst in stolzer Vereinzelung ihren Thronsitz ein, wohl auch [!] in den Ansprüchen der sophistischen Theorien, die das Selbst [!] zum Maß der Dinge machten, vornehmlich aber [...] in [...] den Helden der attischen Tragödie." Die Ersetzung von „Mensch" durch „Selbst" ist nicht korrekt.

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Die Fundamente dieses Gegensatzes wären: der Grieche geht von sich aus; der Jude von der Gottheit, vom Weltganzen. Dieser Gegensatz wäre der geahnte. Ich will die beiden Richtungen als Individualismus und Totalismus unterscheiden. In der Theophanie des Buches Hiob, wo Gott ganz als „Deus sive Natura" spricht, wird in totalistischer Weise aus dem Weltganzen die Stellung des Menschen bestimmt. Ich sehe, daß ich zur Antwort auf diese Frage — Griechentum und Judentum — noch nicht reif bin. Da ich die beiden Kulturen nicht in vollem Umfange kenne, ist es möglich, daß die Frage so allgemein garnicht gestellt werden darf. Vielleicht muß man zunächst fragen: Was in unsrer deutschen Kultur ist antik, was christlich? Welche Gegensätze darin lassen sich auf den Gegensatz der beiden Elemente zurückführen? Und also Schluß hiermit.

Der Ausgangspunkt dieser Tagebucheintragung Rosenzweigs ist „unsre Kultur", der Streit um ihre Bestandteile und deren Bewertung. Schon vorher hatte Rosenzweig einen „Gegensatz geahnt". Durch Horneffers Bestimmung dessen, was griechisch, was orientalisch sei, fühlt Rosenzweig sich in seiner Ahnung bestätigt. Schon taucht der Begriff,Offenbarung' auf — hier noch für alle .Orientalen' — und die Verlagerung des Vergleiches von „Kulturen" auf den Vergleich ihrer Theologien und Mythologien. Es fallt auf, daß Rosenzweig sich in diesen Gegensatz hineindenkt, der ihm doch zunächst gar nicht sicher fundamental zu sein scheint. Rosenzweig hat den hier sichtbaren Konflikt im SdE dadurch entschärft, daß er in einem strikt theologischen Rahmen das griechische Element zum Heidentum erklärte und die griechische Wissenschaft und Anthropologie ausschied. Daß Horneffer in der Aufstellung und Ausfüllung der Gegensatz-Schablone in hohem Grade von Nietzsche beeinflußt ist, ist sicher, wie etwa der Ausdruck „gesteigerter Mensch" anzeigt. Zur Sache ist zu erinnern, daß der Orientale Wissenschaft hat und der Grieche Offenbarung; daß der Vergleich von Theologien leichter ist als der von Kulturen, die Ausmalung von dualistischen (polaren) Stereotypen leichter als differenzierende Analyse.

2.1.2: Hellas Nietzsche, der Mensch und Denker, der subjektive Philosoph, und die griechische Antike bleiben Franz Rosenzweig während der Arbeit am „Stern der Erlösung" präsent. „Hellas", schreibt er 1917 den Eltern, „ist eine beständige Wirklichkeit"; allerdings nur, so fährt Rosenzweig fort, weil „der Grieche der typische ,Heide' ist und als solcher unsterblich". 26 An Gertrud Oppenheim 26

FR an die Eltern, 13.9.1917 (Briefe, S. 439). „Griechisch", sagt Rosenzweig, müßte „als Lernsprache" empfohlen werden, aber nicht im Hinblick auf Goethe und Schiller, also nicht zum Erhalt der philhellenischen Tradition, sondern für den Religionsunterricht, zum Verständnis von Paulus, Augustin und Luther. In dieser Empfehlung zeigt sich auch Rosenzweigs theologische Vermutung, im Christen mm sei notwendig ein Kern von Heidentum enthalten, vgl. SdE, S. 388:

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schreibt er, ebenfalls i m Blick auf die Arbeit am „Stern der Erlösung": 2 7 „ N u r Nietzsche (und K a n t ) lasse ich am Leben." Nietzsches L e h r e n seien zwar beinahe schon „gleichgültig": 2 8 das Dionysische, der Ü b e r m e n s c h , die b l o n d e Bestie, die ewige W i e d e r k u n f t . U n d doch sind es Nietzsche u n d diese Stichworte, die Rosenzweigs A u f f a s s u n g v o n der Antike stark beeinflußt haben. E r teilt die v o n ihm so genannte heidnische Welt nach einem g r o b e n theologischen Raster: G o t t — Welt — Mensch. D a die griechische das Modell f ü r die heidnische Welt überhaupt ist, benutzt Rosenzweig die folgenden, ganz konventionellen Kategorien: „der mythische G o t t , die plastische Welt, der tragische M e n s c h " . 2 9 D i e Heiden in Indien und China passen nicht gut in dieses Schema, sie v e r f l ü c h tigen sich bei Rosenzweig zu bloßen Schemen, sie leiden a m Mangel des plastischen und tragischen Sinns. 3 0 W i r sehen v o n Plastik und Tragik ab und beschränken uns hier auf den mythischen G o t t der Heiden. E r ist nach Rosenzweig zu allererst der lebendige G o t t : 3 1 Denn lebendig sind auch die Götter des Altertums, nicht erst der, den wir heut als den lebendigen bezeichnen. Sie sind sogar viel lebendiger. Denn sie sind nichts als lebendig. Sie sind unsterblich. Der Tod liegt unter ihnen. Sie haben ihn nicht besiegt, aber er wagt sich nicht an sie heran. S o beginnt Rosenzweig seine Auseinandersetzung mit den G ö t t e r n des Altertums. D e n Einsatz mit d e m Begriff ,Leben' hat er sich v o n Nietzsche

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„das zuinnerst in jedem Christen unvertilgbare Stück Heidentum bricht da (sc. in der Christologie) hervor". FR an G.Oppenheim, 27.8.1918. - Vgl. Tagebuch 20.7.22; FR an Stahl, 7.12.25. - Beachte aber auch FR an Willy Haas, Anfang Juli 28 (Briefe 1, 2, S. 1191): Seine Sprache habe sich gebildet an Hölderlin, dem letzten Goethe, Spitteier, Rilke, Rosenstock, Buber; Nietzsche ist hier nicht genannt, Stefan George ausdrücklich ausgeschlossen. SdE, S. 9 f.; vgl. S. 20 f.; 117; 318 f. - Cohen, Rosen^ueig versus Nietzsche, hat beobachtet, daß Nietzsche in allen Einleitungen der drei Bücher des SdE namentlich genannt ist (S. 347). Dies ist gewiß bewußte Komposition. Cohen fügt mit Recht hinzu: „Rosenzweig is not fascinated with Nietzsche". Uber das nietzscheanisch getönte Antikebild Rosenzweigs handelt Cohen nicht. SdE, S. 91. Die lebendigen .Götter Griechenlands' waren „würdigere Gegner für den lebendigen Gott als die Schemen des asiatischen Ostens."(SdE, S. 38). — „geschichtlich erzeugt Indiens wie Chinas Boden überhaupt das Gewächs des Tragischen nicht" (SdE, S. 82) — Rosenzweig übernimmt hier ein übliches theologisches Schema, das die christliche Mission seit Jahrhunderten zu rechtfertigen hatte. Dieses Schema geht auf die Bekämpfung der kanaanäischen Greuel in der Bibel zurück und wurde durch die christlichen Kirchenväter tradiert und ausgebaut. Paradoxerweise wendet Rosenzweig die Vorwürfe des zeitgenössischen Antisemitismus, den Juden fehle plastischer, mythischer und tragischer Sinn, auf einen Teil der .Heiden' selbst an. Daß der Begriff .Heidentum' dadurch, daß die zentralen Bestimmungsstücke nicht auf Indien und China passen, endgültig bedeutungslos wird, hat Rosenzweig nicht bemerkt. Wenn Heidentum durch Tragödie, Plastik, Mythos definiert ist, kann man Chinesen und Inder schon aus logischen Gründen nicht unter diesen Begriff fassen. — Die Fiktion einer Beratungsszene im Himmel, in der der lebendige Gott sich den würdigsten Gegner aussucht, ist eine Mystifikation oder, wenn man will, die Mythologisierung von Geschichte nach dem Muster von Homer und seinen Nachfolgern. SdE, 36.

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vorgeben lassen. In der griechischen Religion, Mythologie, Theologie und Literatur ist keineswegs ,Leben' das erste, das häufigste oder wichtigste Prädikat des Göttlichen. 32 Was Rosenzweig also bekämpft, ist die schon bei Nietzsche verfehlte Antike. Die Aussage, die griechischen Götter seien nichts als lebendig, ist unrichtig. In der Sprache der griechischen Religion bezeichnen alle olympischen Götter, über ihren naturhaften, kosmologischen Aspekt hinaus, ethische, politische, anthropologische, geistige Aspekte: Recht (Dike), Herrschaft, Altersstufe, Charakter, Geschlecht, Ehe. 33 Die Verbindung von Leben und Tod wird in der griechischen Kultur prinzipiell anders thematisiert, als Rosenzweig hier voraussetzt. Der ,Sieg' über den Tod, von dem er spricht, ist eine christliche Tradition. Sie kann nicht unvermittelt in die griechische Antike projiziert werden. 34 Die Griechen haben die Mysterien von Eleusis und den Kult der Heroen geschaffen, um ihre besondere Erfahrung von Leben und Tod im Medium religiöser Zeichensprache mitzuteilen: ihr Tod ist nicht der Feind, der „besiegt" werden muß, nicht Strafe, nicht Sold der Sünde. Diese Auffassung hinwiederum ist zentral in die humanistische Tradition eingegangen. Die todlosen 35 Götter, über den Heroen angesiedelt, sind nur ein Teil griechischer Religion. Da Rosenzweig sich auf die olympischen Götter beschränkt, ja nur die homerischen zu berücksichtigen scheint, sind seine Aussagen unzu32

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Zu Nietzsches Reflexion über die leicht lebenden Götter vgl. KSA 8,67. 71. 81: 5[105], [118]. [150]. Der Begriff des Dionysischen bei Nietzsche ist das gesteigerte Leben: vgl. KSA 1,35 f. Die dionysischen Mysterien vermitteln eben dies: FN, GD - Was ich den Alten verdanke, 4 f. Der Einsatz mit .Leben' ist auch deshalb ein Indiz für die Abhängigkeit von Nietzsche, weil die traditionelle Heidenpolemik, deren Schema Rosenzweig ansonsten folgt, die fremden Götter eher als Dämonen oder als tote Götzen bezeichnet hat. Ein Vergleich von W. F. Ottos hellenischer mit Franz Rosenzweigs jüdischer Theologie wäre aufschlußreich; vgl. Hubert Cancik, Die Götter Griechenlands 1929. W F. Otto als Religionswissenschafder und Theologe am Ende der Weimarer Republik, in: Der Altsprachl. Unterricht 26,4 (1984): Zur Geschichte der klassischen Philologie und des Altsprachlichen Unterrichts II (hg. v. H. Cancik und R. Nickel) 71 - 8 9 ; ebd: Zur Einführung, 3 - 9 (mit Rainer Nickel); zu derartigen ,Religionsgesprächen' vgl. Max Brod, Heidentum, Christentum, Judentum, München 1922. Vgl. FR, Tagebuch 5.7.14: „Die Einheit der Götterfamilie (Zeus) ist schon deshalb nicht die Einheit des offenbarten Monotheismus, weil sie - wegen der Theogonie! - nicht Unvergleichbarkeit ist. Zeus ist Wächter des Sitdichen, aber nicht Schöpfer der Welt - damit bleibt die Synthese von Güte und Wahrheit unvollzogen." Der Kampf gegen den Tod ist ein aus dem griechischen Mythos gut bekanntes Mythologem, vgl. ζ. B. Euripides, Alkestis. Herakles, der Todüberwinder, konnte deshalb, ähnlich wie der zerrissene Dionysos, zum Muster für die christliche Mythologie werden. In der jüdischen Bibel ist ein „Sieg" der Gottheit über den Tod nicht thematisiert. Die Auferweckung von den Toten ist nicht als Kampf mit dem Tod konzipiert worden. Die homerische Titulatur — gr. ambrotoi, athanatoi — enthält den Begriff Leben nur ex negativo, wofür eine Erklärung noch gesucht werden müßte. Zu der Formel rheia ^pontes vgl. G. Rodenwaldt, ΘΕΟΙ PEIA ΖωΟΝΤΕΣ, Theoi rheia zoontes, in: Abb. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1943, Phil.Hist. Kl. Nr. 13; Sonderdruck Berlin 1944; wichtig, aber von Rosenzweig ignoriert, ist die Formel aien eontes — die immer Seienden.

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treffend. Aber schon der Ansatz bei der „leichtlebigen Lebendigkeit" der griechischen Götter, wie Rosenzweig tendenziös fehlzitiert, 36 trifft, wie gesagt, das griechische Selbstverständnis nicht. Die Kritik des jüdischen Theologen geht fehl. Eine Ursache ist die dionysische Fehldeutung der Antike durch Nietzsche, die Rosenzweig nicht zu korrigieren vermochte. Die jüdische Theologie müßte also das Gespräch über den theologisch-anthropologischen Entwurf .Gottheit — Leben — Tod' in der griechischen Kultur jenseits von Nietzsche neu aufnehmen.

2.1.3: ,Heiden' Ist es aber überhaupt möglich, eine „Welt" oder einen Menschentyp mit einem halben Dutzend vertrackter Ausdrücke angemessen zu erfassen: mythisch, Lebendigkeit, kosmisch, Plastik, „plastische Welt", 37 Tragik? Der ,faustische Mensch', die ,Welt der Gotik', der ,Rembrandtdeutsche' waren wenig hilfreiche Konstruktionen dieser Art. 38 Rosenzweigs Begriffsinventar erzeugt eine archaistische, leicht exotische und vor allem eine reduzierte Antike. Mit dieser Reduktion folgt Rosenzweig Nietzsches Vorgaben. Und so wird auch bei ihm die Tragödie von der Komödie, dem Theater als einem öffentlichen Raum neuer, nicht sakraler Kommunikation abgespalten, der Mythos von Philosophie und Wissenschaft getrennt. Aus der griechischen Kosmologie wird die Dimension des Grenzenlosen, Unzählbaren, Infrasensuellen getilgt. Nach Speusipp ist die Substanz die Summe ihrer Relationen. 39 Die Gedankenexperimente mit Leere, Nichts und dem Unendlichen, dem Raum und der Zeit vor der Zeit — lateinisch saecula ante mundum40 — sind unterdrückt. Die ganze Historie ist vergessen, die Religion auf den Mythos reduziert, d. h. sie kommt als Praxis überhaupt nicht vor, so wenig wie in Nietzsches publizierten Schriften. 41 Was die Plastik angeht, 36

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„Leichtlebig" parodiert die Formel von den „leicht lebenden", d. h. ohne die Last von Alter, Arbeit, Krankheit „immer seienden" Göttern. SdE, S. 91. 98; 56 f.: .gestaltet, nicht geschaffen'. — Uber „Unendlichkeit" in der griechischen Philosophie vgl. SdE, S. 58 f. Zur Kritik der Kulturmorphologie, der Kulturkreislehre, intuitiver Typenbildung in der Tradtion von Oswald Spengler und Leo Frobenius vgl. A. Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland, 2. Aufl. 1972. Rosenzweig hat in seinen Briefen Langbehn nicht genannt, spricht aber von O. Spenglers „Untergang des Abendlandes" mit großer Bewunderung; vgl. FR an R. Ehrenberg, 5.5.1919: „der stärkste Eindruck", „das größte Geschichtsphilosophem seit Hegel". Aristoteles, Analytica postenora 97a 6 — 22; vgl. H. Cherniss, Riddle of the Early Academy, Berkeley 1945/New York 1962, 37. Zur Diskussion über die Existenz von Universalien außerhalb dieser Welt zwischen Piatonikern und den antiken Nominalisten, den Kynikern, vgl. L. Edelstein, The Meaning of Stoicism, Cambridge/ Mass. 1966, 21. Cicero, De natura deorum 1,9,21. Die praktizierte Religion hat Nietzsche in seiner Vorlesung „Über den Gottesdienst der Griechen" behandelt; Materialien aus dieser Vorlesung sind in verschiedenen nicht-akademischen Schriften greifbar, ζ. B. in ΜΑ I.

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so erhält sie ihren besonderen Stellenwert bei Rosenzweig nicht aus griechischem Selbstverständnis, sondern aus neuzeitlicher Kontrovers-Philosophie und theologischen Diskussionen über das Bilderverbot der Bibel. Aber die Alten verehrten, wie bekannt, neun Musen, die Muse des Tanzes, des Gesangs, der Geometrie, der Himmelskunde und andere mehr, nie eine Plastikmuse. 42 Die Differenz zwischen griechischem Selbstverständnis und neuzeitlichen Spekulationen über „das Plastische" ist bei Rosenzweig nicht beachtet. Die antiken Lebenswissenschaften — Biologie, Zoologie, Medizin — sind nicht genannt. Rosenzweigs Begriffsinventar ist, wie gesagt, prinzipiell reduktionistisch, verzerrend, polemisch. Rosenzweig geht über die archaisierte Antike Nietzsches noch hinaus. Alle ethischen, rationalen, modernen Züge sind noch weiter reduziert. Diese verkürzte Antike läßt sich leicht widerlegen, wegordnen oder — da ja die griechische Antike als Paradigma für alle heidnischen Welten dient — gut als „Element", „Vorwelt", als der Erlösung bedürftiges Objekt darstellen.

§ 2.2 Tragödie und Trauerspiel: Walter Benjamin (1892-1940) 2.2.1: Benjamin und Nietzsches Antike In der Habilitationsschrift, die Walter Benjamin 1916 entworfen, 1925 verfaßt und 1928 unter dem Titel „Ursprung des deutschen Trauerspiels" publiziert hat, spielt Nietzsches Antike eine wichtige Rolle, eine noch größere die Widerlegung, die der nur wenige Jahre ältere Rosenzweig ihr bereits erteilt hatte. 43 Auch Benjamin, der in Berlin die humanistische Kaiser-Friedrich-Schule am Savigny-Platz besucht hatte, besaß gute Kenntnisse der Antike und war früh, wohl schon in der Schulzeit, von Nietzsches Schriften beeinflußt. Er propagiert

42

43

Rosenzweigs Kategorien sind einerseits unspezifisch, ζ. B. ,das Mythische', andererseits zu spezifisch, ζ. B. ,das Tragische'. Deshalb verfehlt er sowohl das Griechische wie das sogenannte Heidnische. Vgl. die editorische Notiz in UdT, 269 ff. — Zitate nach Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Th. W. Adorno und Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser. Werkausgabe Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980 ff. (GS); Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a. M. 1963 (UdT) — Uber Rosenzweigs Theorie von der Stummheit des tragischen Helden kann hier nicht gehandelt werden, obschon Benjamin behauptet, Rosenzweig habe mit Nietzsches Hilfe die .moderne' Deutung von .Tragödie', ihre „Nivellierungen [!] ins Allgemeinmenschliche" überwunden (UdT, S. 114). Ein konventionelles Schlagwort bei Rosenzweig kann die Richtung seines Tragödienverständnisses andeuten: „starres Marmorbild wie der tragische Held des Altertums" (SdE, 233; vgl. 230: „marmorstumme Gestalt"). Rosenzweig wird von Benjamin besonders UdT, 102. 110. 113. 116 (Stummheit der Tragödie) benutzt.

Nietzsches Antike und die jüdische Kritik

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damals ein unzeitgemäßes, von Reformpädagogik freies Gymnasium. Im Jahre 1913 schreibt er: 44 Kein Gymnasium sei es, in dem (günstigstenfalles) Winckelmannsches Griechentum begriffen wird (denn schon lange ist die ,edle Einfalt und stille Größe' zum fatalen Inventar der höheren Töchterbildung geworden). Unser Gymnasium sollte sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie'. Trotzig, im Vertrauen auf eine Jugend, die ihm begeistert folgt, sollte es die kleinen modernen Reformpädagogen überrennen. A n statt modernistisch zu werden und aller Ecken eine neue, geheime Nützlichkeit des Betriebs zu rühmen. Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte nicht ein fabelhaftes Reich der .Harmonien' und .Ideale' sein, sondern jenes frauenverachtende und männerliebende Griechentum des Perikles, aristokratisch; mit Sklaverei; mit den dunklen Mythen des Aischylos. All dem sollte unser humanistisches Gymnasium ins Gesicht sehen.

Benjamin kennt damals nicht nur Nietzsches schulkritische Schriften — „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" (1872) - , sondern auch die „Zweite Unzeitgemäße" (1873), wahrscheinlich die Tragödienschrift, sicher den „Zarathustra". 45 Nietzsches modernisiertes und zur Archaik entstelltes Bild der Antike hat Benjamin, trotz all seiner Kritik an Nietzsches Epigonen und dem Archiv der Schwester, nicht mehr zu durchbrechen vermocht, zumal es alsbald durch Münchner Mythologie vertieft wurde.

2.2.2: Das geschichtsphilosophische Konstrukt In der Habilitationsschrift vertritt Benjamin die These, das barocke Trauerspiel dürfe nicht aus der antiken Tragödie hergeleitet werden, es sei eine eigenständige Form; die antiken Theorien über Tragödie, zumal des Aristoteles, könnten nicht auf das Trauerspiel angewandt werden. 46 Benjamin betont die „Wesensverschiedenheit von antiker und moderner Dramatik". 47 Schon der Stoff sei ganz verschieden: hier Mythen und tragische Heroen, dort Geschichte, Tyrannen und Märtyrer (Heilige). Eine Bestätigung für diesen Ansatz findet Benjamin in Nietzsches Tragödienbuch. Nietzsche wird das Verdienst zugeschrieben, das Tragische als ein Besonderes fix an die griechische Kultur gebunden zu haben. 48 Eine Harmonisierung von griechischer Tragödie und christlichem Trauerspiel 44

45 46 47 48

Ardor (Benjamin), Über das humanistische Gymnasium, in: Der Anfang (Juli 1913): GS II/l, 3 9 - 4 2 . — Vgl. Hubert Cancik, „Wie die europäischen Menschen Griechentum in ihr Werk versponnen". Hellenisches bei Walter Benjamin, in: Akten des Benjamin-Kongresses, Osnabrück 1992, hg. v. K. Garber, im Druck. Benjamin an Ludwig Strauß, 21.11.1912. UdT, 4 5 - 5 0 . UdT, 114. UdT, 102 ff.; vgl. 118 (zu Sokrates).

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Hubert Cancik

sei also nicht mehr möglich. Zu Recht habe Nietzsche die griechische Tragödie vom Ethos gelöst und an den Mythos gebunden. Gegenüber Johannes Volkelt, der das Tragische als etwas Allgemeinmenschliches zu vergegenwärtigen suchte, bedeute Nietzsches Historisierung der Tragödie einen Fortschritt. 49 Soweit übernimmt Benjamin Nietzsches Thesen von der Eigenart der griechischen Tragödie. Allerdings habe Nietzsche dann doch wieder die Tragödie an allgemeine aesthetische Begriffe gebunden, etwa an die „Menschwerdung der Dissonanz", den Willen zum Leben oder zu seiner Vernichtung.50 Damit habe Nietzsche den Begriff der harten, der geschichtlichen Gegebenheit der griechischen Tragödie verfehlt. Und nun beginnt Benjamin, Nietzsches Thesen fundamentalistisch zu überbieten. Er entwickelt, mit Hilfe von Florens Christian Rang, diesen „harten" Begriff, die „einmalige griechische Art" der tragischen Konflikte. Mit einem Sprung ins Elementare überholt Benjamin die ohnehin schon archaisierenden und sakralisierenden Spekulationen Nietzsches: 51 Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee.

Diese Konstruktion beruht auf zwei damals faszinierenden Modellen: der Menschenopferidee und einem evolutionistischen Phasenmodell von Religion. 52 Hierbei folgt, in der Fassung bei Benjamin, auf eine „gespenstische", „vormythische" Urzeit als relativer Fortschritt die „dämonische" Zeit des Mythos, die das Gespenstische überwinde und ihrerseits vom „Weltalter der Offenbarung" abgelöst werde. 53 Mit der Geschichte der griechischen Religion läßt sich dieses Modell schon deshalb nicht zur Deckung bringen, weil der historische Ort der frühen griechischen Stämme und Territorien am Rande der altorientalischen Hochkulturen eine Epoche gespenstischer, vormythischer Urreligion ausschließt. Vielmehr gewinnen Tragödie, Komödie, Theater ihre Eigenart gerade durch die Lösung aus dem Kult. Die Konstruktion des Dramas in Athen ist eine 49 50 51 52

53

UdT, 101 f. UdT. 104. UdT, 109 = Benjamin GS I 1, 285 f., vgl. Cancik, Nietzsches Antike, 4. Vorlesung § 2.2, 5 8 - 6 0 . Vgl. Hildegard Cancik-Lindemaier, Opferphantasien. Zur imaginären Antike der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich, in: Der Altsprachliche Unterricht 30,3 (1987) 9 0 - 1 0 4 ; dies., Eucharistie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl Heinz Kohl, Bd. 2, Stuttgart 1990, 347-356. Dieses Modell wird schon in der Münchner Zeit entwickelt worden sein, vgl. G. Scholem, Walter Benjamin — Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. Main 1975, 79 f. (Bericht aus den Schweizer Gesprächen); Benjamin GS VI, 90 (1915/16): „Das Heidentum ist eine dämonische Gemeinschaft". — Bei Rosenzweig, SdE, findet sich dasselbe Schema. Zu einigen wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen des Modells vgl. Nietzsche, ΜΑ 1 1 1 1 : „Ursprung des religiösen Cultus"; Quellen und Paralleltexte, vor allem Nietzsches Vorlesung im Wintersemester 1875/ 76, sind im Kommentar (KSA 14,132 f.) nachgewiesen.

Nietzsches Antike und die jüdische Kritik

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kulturpolitische Entscheidung im hellen Lichte von Geschichte, Kunst und Philosophie. Ihre allgemeine, europäische Bedeutung besteht eben darin. Verführt durch Nietzsche hat Benjamin die griechische Tragödie so stark sakralisiert, archaisiert, remythisiert, wiederverzaubert, daß sie ein längst vergangenes, unwiederholbares, partikuläres und in der Jetztzeit wirkungsloses Ereignis der altgriechischen Religions- und Literaturgeschichte geworden ist. Eine Beziehung auf das europäische Menschenbild wird dadurch unmöglich, erst recht auf das „Allgemeinmenschliche". 54 Aber Nietzsches Tragödientheorie ist nicht die griechische Tragödie. Die Beziehung auf Dionysos ist von ihm übertrieben worden. Die Lösung vom Ethos, von Benjamin so begrüßt, ist verfehlt. Die Tragiker und ihr Publikum verbanden durchaus Charakter und Ethos, und die Anthologien der Alten sind voll weiser und lehrhafter Sprüche aus ihren Tragödien. Die Moral, die Gerechtigkeit der Götter, das Lernen aus Leiden (gr. pathei mathos) kann eben nicht aus den Tragödien eliminiert werden. Die Kritik, die Benjamin an Nietzsches Aesthetizismus und Nihilismus übt, mag man gern annehmen. 55 Doch bleibt festzuhalten: Nietzsches amoralische, dionysische, vitalistische Tragödiendeutung hat eine sachgemäße und textbezogene Auseinandersetzung Benjamins mit den griechischen Tragödien verhindert. 56

§ 2.3 „Ewige Wiederkunft des Gleichen": Jacob Taubes (1923-1987) 2.3.1: Naturkreis — Wiederkunft — Eschatologie Nietzsches Antike bot Rosenzweig die Anknüpfungspunkte .Mythos' und ,Leben'; die Stichworte für Walter Benjamin waren ,Tragödie' und ,Agon'. Jacob Taubes, den ich als letztes Beispiel vorstellen möchte, baut seine Antithese zwischen Israel und Hellas auf den Gegensatz zwischen Geschichte und dem Kreislauf des natürlichen Lebens: 57 54

55 56

57

Die griechische Tragödie hat denn auch keine Fortsetzung in der deutschen Klassik. Schillers „Braut von Messina" sei, trotz ihrer antiken Erscheinung und Schillers Absichten, in Wirklichkeit ein Trauerspiel (UdT, 115). UdT, 104. Über die Unterscheidung .Tragödie/Trauerspiel' als solche oder über den Sinn von Begriffen wie ,Tragik', ,das Tragische' kann hier nicht gehandelt werden. Es fallt allerdings auf, daß bei Benjamin das historische Trauerspiel der Griechen nicht berücksichtigt ist: dabei gehören Stücke wie „Die Einnahme von Milet" und „Die Perser" zu den frühesten Tragödien überhaupt. Und in dieser Tradition haben denn auch Juden Tragödien geschrieben: über Moses und den Exodus in der Manier des Euripides. Die Bestimmung der römischen Tragödien (seit dem 3. Jh. v. Chr.), zumal der dem stoischen Philosophen Seneca zugeschriebenen Tragödien mit ihrer erstaunlichen Wirkung auf das spätere Drama, ist bei Benjamin nicht durchgeführt, vgl. ζ. B. UdT, 35 f. — Die Tragödiendeutung Franz Rosenzweigs hat Benjamin in seinem Nietzsche-Verständnis bestärkt. Jakob Taubes, Abendländische Eschatologie (1947), Nachdruck München 1991, 11.

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Hubert Cancik Die umfassende Macht des Ursprungs ist die Natur, denn sie bannt alles Geschehen in den Kreislauf von Blühen und Verwelken. Die Götter der Natur sind die Baale, und der heiligste der Baals-Götter ist Dionysos.

Der Name „Dionysos" zeigt, daß auch Taubes seine Antike an Nietzsche orientiert hat. Wie bei Nietzsche ist auch bei Taubes Dionysos isoliert, alle anderen Götter sind .vernachlässigt'; ihre Reduktion auf Blühen und Welken einer .Naturkraft' wäre nicht so eingängig gewesen. Charakteristisch, daß bei Taubes auf das Blühen das Welken folgt, nicht, wie in den antiken Texten vorgegeben, die Frucht, der neue Same oder das Produkt „Brot" und „Wein". Das Wesen der Geschichte dagegen liegt — nach Taubes — in ihrer Einsinnigkeit, daher könne sie nur von ihrem Ende her erkannt werden. „Das Ende aber ist wesentlich Eschaton." 58 Kulturen, in denen das Eschaton nicht thematisiert wird, mythische Lebenskreise wie — nach Taubes (S. 13) — der Alte Orient und die Antike, haben also keine Einsicht in das Wesen von Geschichte. So entsteht die Paradoxie, daß die Erfinder der Historie das Wesen ihrer Erfindung nicht erkannt haben, bzw. daß Herodot nicht der Vater der Geschichtsschreibung war. Dieses theologische Paradox hat eine lange Vor- und Nachgeschichte; sie nährt sich von dem Bedürfnis, die Profile der griechischen und jüdischen Kultur möglichst gegeneinander abzusetzen und anschaulich zu beschreiben. Die Griechen sind Augenmenschen — so Taubes; also ist Israel „das Gehör der Welt". 59 Die Hellenen denken räumlich: 60 „Damit aber steht in der mythischen Welt die Zeit unter der Herrschaft des Raumes." Sie können Zeit nicht sachgemäß denken. Dieses Schema kann angereichert werden durch den Gegensatz ,statisch/dynamisch' oder gar ,zyklisch/linear'.61 Dementsprechend hat nicht Ionien die Geschichte erfunden, sondern Israel „löst sich zuerst von dem ruhenden Grund Babylons und Ägyptens". 62 Die anderen Kulturen verharren unverändert wie zu einer steinernen Hieroglyphe erstarrt: 63 Das Leben vollzieht sich in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. A m Ende der Geschichte Europas, da die christlich-apokalyptische Substanz aufgezehrt ist, taucht das Symbol der ewigen Wiederkehr des Gleichen wieder auf. Den Lebenskreis der ewigen Wiederkehr des Gleichen durchbricht Israel und erschließt so erst die Welt als Geschichte. 58 59 60 61 62

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Eschatologie 3. Eschatologie 15. Eschatologie 11. Vgl. T. Bomann, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, 7. Aufl. 1977, 148. 210 u.ö. Eschatologie 15: „Israel ist das unruhige Element in der Weltgeschichte, der Gärungsstoff, der erst eigendich Geschichte schafft." Taubes meint den Auszug Abrahams aus Chaldaea und Moses aus Ägypten. Anderen Kulturen die Geschichte bzw. Geschichtsbewußtsein abzusprechen gehört offenbar zur geschichtsphilosophischen Topik, vgl. Rosenzweig über Asien, SdE, 38 ff.. 80 ff. Eschatologie 15 f.

Nietzsches Antike und die jüdische Kritik

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Diese Texte sind 1947 veröffentlicht, als für einen Teil der europäischen Menschheit und Kultur das Ende der Geschichte durch eine einmalige Vernichtungsindustrie tatsächlich herbeigeführt worden war. Nicht korrekt ist dennoch die Behauptung, das Symbol der ewigen Wiederkehr tauche jetzt „wieder" auf. Taubes übernimmt diese Symbolgeschichte ungeprüft von Friedrich Nietzsche. Dessen Lehre von der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen" ist ein überdeterminiertes Symbol, aber sie ist kein ,Symbol' der griechischen oder römischen Kultur. Nietzsche wollte darin kosmologische, physikalische, geschichtstheoretische und ethische Aussagen in einer anschaulichen Formel zusammenfassen. Die Lehre enthält zahlreiche antike Bestandteile; Nietzsche selbst hat sie falschlich als griechischen Mysterien-Glauben und als Lehre Heraklits aufgefaßt. 64 Sein „Zarathustra" ist eine Entwicklung des Empedokles-Dramas und, auch nach Form und Sprache, ein Gegen-Evangelium. Durch die Verallgemeinerung marginaler Motive aus der griechischen Philosophie erzeugte Nietzsche das Bild einer zyklischen Antike, der man gut unterstellen konnte, sie habe es nicht vermocht, lineare Zeit zu denken und Geschichte zu schreiben. Dieses Antike-Bild hatte eine große und verhängnisvolle Wirkung.

2.3.2: Zum Zeitbewußtsein der Griechen und Römer Das eingängige Schlagwort von der .zyklischen Antike' darf aber nicht vergessen machen, daß es bei Hellenen und Römern vom 6. Jh. vor bis zum 6. Jh. nach Christus, von Anaximander und Xenophanes bis Plotin und Boethius eine reiche und subtile Tradition gibt über Zeit, Fortschritt, Geschichte. Es gibt physikalische Theorien über die Zeit als Maß der Bewegung, biologische Beobachtungen über den Lebensrhythmus der Tiere, psychologische Betrachtungen über Langeweile, Angst, Hoffnung, metaphysische Spekulationen über das Sein der Vergangenheit. Im Zusammenwirken mit einer vielgestaltigen, kritischen, erbaulichen oder politischen Geschichtsschreibung bildeten sich hieraus Konzepte, die man — mit modernen Worten — als ,Geschichtsphilosophie' oder ,Geschichtstheologie' bezeichnen kann. Folgende Ideen seien hervorgehoben: (a) der antike Fortschrittsglaube, der in Ciceros Wort von der Rechtfertigung Gottes durch den Fortschritt der Zeiten eine zukunftsträchtige Formel gefunden hat; 65 64 65

Nachweise dazu: Cancik, Nietzsches Antike, 8. Vorlesung, bes. § 82 und § 83, 1 1 1 - 1 1 9 . Cicero, De natura deorum 3,25,65, überliefert bei Lactanz, De ira Dei 13,9 — 12.

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Hubert Cancik

(b) die stoische Begründung der Universalgeschichte aus der Idee der Menschheit und der Vorsehung; (c) die existentielle Zeiterfahrung in Senecas ,Lebensphilosophie'; (d) die nationale Geschichtstheologie der Römer und ihre Vergegenwärtigung im Kult. Zusammenhängende Texte und Diskurse dieser Art über Zeit, Zukunft, Geschichte gibt es weder in der jüdischen Bibel noch im Neuen Testament, weder in Mischna oder Talmud noch in den christlichen Apokryphen. Unter dem Zwang der Profilierung zweier Kulturen als Gegensatz wird ein ,hebräisches Denken' und .Zeitgefühl' aus dem Gebrauch der biblischen Wörter für ,Zeit' und dem hebräischen Verbum und seinen Handlungsaspekten konstruiert. Der Vergleich dieses Konstruktes mit der anders gearteten und überdies verkürzt und verzerrt dargestellten hellenischen Tradition ist unfruchtbar geblieben. »Historisches Bewußtsein', Geschichtsschreibung und .Geschichtsphilosophie' entstehen auch in polytheistischen' Religionen oder sogenannten Naturreligionen. Die Hethiter in Kleinasien haben eine beachtliche Geschichtsschreibung entwickelt, Jahrhunderte vor der biblischen. ,Naturreligion' führt keineswegs zwangsläufig in zyklisches Denken', .Fortschritt' kann ohne Messias gedacht werden, ,Geschichte' ohne den Tag Jahwes, den „Jüngsten Tag", .Menschheitsgeschichte' auch ohne den Adam-Mythos. Im Gefüge der Kulturen sind Religion und Geschichte weniger eng und weniger eindeutig verbunden, als moderne Ableitungen nahelegen.

jf 3 Ergebnisse und Aufgaben 1. Das Thema „Nietzsches Antike und die jüdische Kritik" ist Teil jener Arbeiten, die unter dem Stichwort .Antike in der Moderne' die Wirkung und Rezeption antiker Kultur in der Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft der Moderne erforschen. Die Leistung der Juden für die klassische Philologie in Deutschland ist auf dem Symposion, das Walter Grab 1985 in Tel Aviv veranstaltet hat, von John Glucker dargestellt worden: 66 seine schier endlose Liste ist unvergeßlich — Glucker hat die konvertierten Juden eingeschlossen. Er kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, es gebe keine ,jüdische' Philologie, keine thematischen 6ή

Walter Grab (Hg.), Juden in der deutschen Wissenschaft. Jahrb. des Instituts fur deutsche Geschichte, Beih. 10, Tel Aviv 1986, darin: J. Glucker, Juden in der deutschen klassischen Philologie, 9 5 - 1 1 0 ; vgl. H. Chantraine, Die Leistung der Juden für die Alte Geschichte im deutschen Sprachraum, ebd. 1 1 3 - 1 4 5 .

Nietzsches Antike und die jüdische Kritik

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Schwerpunkte oder methodischen Besonderheiten, sondern eben jene mehr als 120 Juden in der deutschen Altertumswissenschaft vor 1932. 67 2. Dagegen ist, soweit ich sehe, das Antikebild, das sich die Juden in Deutschland — außerhalb der Wissenschaft — gemacht hatten, noch nicht untersucht. 68 Die durch Nietzsche vermittelte Rezeption stellt dabei nur einen kleinen Ausschnitt dar. Und selbst davon habe ich in meinem Beitrag nur drei Vertreter vorstellen können — Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Jacob Taubes. 69 Ihre Kritik trifft die verabsolutierten Begriffe Leben, Mythos, Tragik und die Negation der Geschichte durch die Vermutung einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen". Diese Kritik an Nietzsches Antike ist m. E. berechtigt. Nietzsches Antike aber ist nicht die Antike. 3. Nietzsches verzerrtes und reduziertes Antikebild hat die Auseinandersetzung der jüdischen Gelehrten mit der Antike zu einem beträchtlichen Teil sowohl angeregt als auch behindert. Mir ist unklar, ob ihre Kritik an Nietzsches Antike als Etappe auf einem Rückzug aus der deutschen Kultur anzusehen ist oder, im Gegenteil, als ein Beitrag zu ihrer Rettung. 70 Es bleibt jedenfalls die Aufgabe, die Auseinandersetzung über antike Tradition, Judentum und Moderne — jenseits von Nietzsche und Nietzscheanismus — fruchtbar zu machen. 71

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Zu Modifikationen dieser Annahme vgl. B. Kytzler, K. Rudolph, J. Rüpke (Hg.), Eduard Norden, Stuttgart 1994. Eine Ausnahme ist Heinrich Heine: vgl. Hubert Cancik, Dioniso in Germania. Da Heinrich Heine α Walter F. Otto: una revisione di cent' anni, Roma 1989. Bei Hermann Cohen, Carl Seligmann (1860—1950), Gershom Scholem, Max Brod, Martin Buber u. a. und vor allem bei Ernst Bloch findet sich für die jüdische Antike-Rezeption bzw. Nietzsche-Kritik weiteres reiches Material. Die Formel „Rückzug aus der deutschen Kultur" ist von Moritz Goldstein, Deutsch-jüdischer Parnaß (in: Der Kunstwart 25, Heft 11 (März 1912) 281 ff.; 286 f.; 291 f.), geprägt worden. (Textabdruck in: Benjaminiana, hg. v. H. Puttnies / Gary Smith, Gießen 1991, 41 ff.). Neuere historische, kultur- und religionsgeschichdiche Einsichten in den Zusammenhang der Mittelmeerkulturen in der Bronzezeit („Aegeische Koine"), die Genese der griechischen als einer spätorientalischen Randkultur, die - schon im 19. Jh. bekannte - verhältnismäßig enge Zusammengehörigkeit der semitischen und indoeuropäischen Sprachen verweisen auf einen historischen Sachverhalt „Mittelmeerkultur", der gegenüber die griechische, kanaanäische, hebräische und andere den Status von lokalen Varianten haben.

IV. Frühe Nietzsche-Auseinandersetzungen jüdischer Intellektueller

GERD-GÜNTHER G R A U

Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus? Brandes, Nietzsche und Kierkegaard I. Jüdischer Niet^scheanismus oder Nietzscheanischer

Antisemitismus?

Es macht offensichtlich wenig Sinn, wenn man unter dem jüdischen Nietzscheanismus eine spezifisch jüdische Interpretation des Philosophen versteht, die so mannigfaltig und verschieden ausfallen kann und ausgefallen ist, wie es bei einem derart vielschichtigen und disparaten Werk nicht überraschen darf. Soll dagegen mit dem Begriff eine besondere Resonanzfahigkeit des jüdischen Geistes für Themen und Thesen Nietzsches ausgedrückt werden, dann trifft man damit in der Tat genau den Sachverhalt, daß allerdings zunächst vorwiegend jüdische Gelehrte von seinen Reflexionen tief genug beeindruckt waren, um ihre bestürzende Aktualität zu erkennen und ihre Verbreitung zu fördern. In erster Linie wäre hier natürlich an den dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes zu denken, der zuerst Vorlesungen über den bis dahin weitgehend unbekannten, durchweg unverstandenen oder eilfertig abgelehnten Philosophen gehalten hat; aber auch die ersten umfassenden Darstellungen von Nietzsches Philosophie stammen zum großen Teil aus der Feder jüdischer Autoren wie etwa Karl Joel, Georg Simmel und Raoul Richter, dem Enkel Meyerbeers. Dazu wären die hilfreichen Freunde zu erwähnen, der um Nietzsches Gesundheit besonders bemühte ungarische Jude Paul Lanzky, der österreichisch-jüdische Schriftsteller Siegfried Lipiner, der schon in den siebziger Jahren eine Nietzsche-Gesellschaft in Wien gründete, sowie die Engländerin Helen Zimmern, deren Übersetzung der dritten „Unzeitgemässen" Nietzsche in England bekannt machte, schließlich der Physiologe Joseph Paneth, der später Freud über den Philosophen berichtete.1 1

R. M. Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden, hrsg. von Heinz Robert Schlette, Bonn, 2 1985, 27, 43. — Dazu erwähnt E. Förster-Nietzsche, Der einsame Nietzsche, Leipzig 1913, 296 f., daß ihr „Bruder Gelehrte und Schriftsteller jüdischer Abkunft als die Pioniere aller geistigen Bewegungen in Europa betrachtete, die mit ihrem Scharfsinn gerade für moralistisch-religiöse Studien ein besonders feines Verständnis besäßen".

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Gerd-Günthet Grau

So konnte Bernoulli in seinem Werk über Overbeck und Nietzsche kurze Zeit nach dem Tode des umnachteten Philosophen mit Recht feststellen, daß es so aussehe, „als habe Nietzsche mit einigen philosophischen Grundpositionen wenig anderes als das Kulturideal moderner jüdischer Intellektueller formuliert", wie es denn „erwiesen" sei, „daß das publizistische Interesse an Nietzsche vor allem von jüdischen Schriftstellern alimentiert worden ist", — worauf, nach der Erwähnung von Fritz Mauthner, Leo Berg und Georg Brandes — die anderen soeben genannten Autoren werden später aufgeführt — eine (vermutlich auf juristisches Eingreifen von Peter Gast) geschwärzte Stelle von 14 Zeilen folgt. Jedenfalls könne, so Bernoulli weiter, „das wirksame und begeisterte Eintreten jüdischer Schriftsteller" zugunsten Nietzsches durchaus als „ein natürliches Komplement und Kompliment für Nietzsches Abneigung gegen den Antisemitismus" gelten, — um so mehr, als bei dem Philosophen ja keineswegs „scharfe Ausdrücke gegen die Juden [...] völlig fehlen". Diese sind vor allem im Zusammenhang mit seiner Kritik am Christentum und dessen jüdisch bestimmter, zunächst von Petrus und Paulus formulierter Moral zu vermerken, — weshalb Bernoulli Nietzsche gleichwohl unmöglich als „Anwalt für die Interessen des klassischen Priestervolkes" verstehen könne, dessen „ausgesprochener Feind" er doch gewesen sei. 2 Daher wird man zu einem tieferen Verständnis dessen, was genau mit dem Begriff eines jüdischen Nietzscheanismus gemeint sein sollte, nur gelangen, wenn man zugleich die negativen wie die positiven Äußerungen über die Juden bzw. das „Volk Israel" heranzieht, mit dem der Philosoph sich lebenslang auseinandersetzt. Dabei erscheint es sogar ratsam, die — ohnehin besonders spektakulären — negativen Aussagen des Denkers in den Vordergrund zu stellen, der sich zwar gern als „Anti-Antisemit" bezeichnet, am Ende sogar „alle Antisemiten erschiessen lassen" wollte, sich aber doch zuweilen in einen auf den ersten Blick durchaus antisemitischen Jargon hineinsteigert, der sogar den besonnenen Freund Overbeck zu der Feststellung veranlaßte, Nietzsches „Anti-Christentum" sei „vornehmlich antisemitisch begründet". 3 Indes, diese Behauptung ist nicht nur einseitig, sie ist vor allem insofern irreführend, als es sich bei Nietzsche keineswegs um den gewöhnlichen, rassischen Antisemitismus handelt; vielmehr richtet sich der erbitterte Zorn des Philosophen gegen eben jenes Moment eines absoluten moralischen Anspruchs, der, in Verbindung mit dem monotheistischen An2

3

C. A. Bernoulli, Fran% Overbeck und Friedrich Nietzsche, Jena, 1908, II, 392 ff. Zu den geschwärzten Stellen s. M. Montinari, Die geschwärzten Stellen in C. A. Bernoulli: Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Eine Freundschaft, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), 300 ff. Wahnsinnszettel an Overbeck, Anf. Jan. 1889, KGB III 5, 575 (= KSB 8.575). - Bernoulli, op. cit. I, 362. Kurz zuvor äußert sich Overbeck (?) allerdings dahin, daß zu seiner Zeit „wohl jedermann, jeder Gebildete mindestens, in gewissem Masse den Juden abgeneigt" sei, „so sehr, dass es unter uns die Juden selbst sind".

Jüdischer Nietzscheanismus oder Nietzscheanischer Antisemitismus?

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satz, vielleicht genuin mit dem Judentum verknüpft, womöglich für es charakteristisch ist. Nietzsche erwähnt dieses Moment nicht ausdrücklich, weil ihm die Absolutsetzung von Ideen und Idealen trivial ist, doch wird damit lediglich die Kehrseite des von ihm kreierten Begriffs der „Sklaven-Moral" hervorgehoben, für deren Begründung er die Juden verantwortlich macht. Die entsprechende Theorie — der Sklaven-Moral wird sogleich die „HerrenMoral" gegenübergestellt — liegt Nietzsche offensichtlich besonders am Herzen; zuerst in Aph. 45 von „Menschliches, Allzumenschliches" als Ergebnis der neu entdeckten Methode eines „historischen Philosophierens" aufgestellt, wird sie vor allem in „Jenseits" und der „Genealogie" erneut vorgetragen, schließlich im „Epilog" zum „Fall Wagner" als „Gegensatz ,vornehme Moral' und ,christliche Moral"' zur entscheidenden „Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntniss" erklärt. 4 Dabei soll die „historische Methode" 5 , als geisteswissenschaftliches Pendant zu dem so erfolgreichen naturwissenschaftlichen Verfahren gedacht, die Stringenz der Reduktion von Ideen und Idealen auf ihre menschlich, allzumenschliche Basis gewährleisten; man kennt diese Strategie aus der gegenwärtigen Ideologiekritik, welche sich freilich ebensowenig wie Nietzsche um die mögliche Beweisbarkeit geschichtlicher Genesis Gedanken macht, aber zugleich die daraus abgeleitete Geltung bzw., vor allem, Ungültigkeit der so erschlossenen religiösen, moralischen und gesellschaftlichen Werte für erwiesen hält. Der Philosoph trägt seine Theorie denn auch seinerseits eher dogmatisch vor, wonach vormals die „Herren" ihre selbst gesetzten Werte und mit ihnen sich selbst unbedenklich verwirklichten —, gegenüber den „Schwachen", die, unfähig zu eigener kreativer Lebensgestaltung, das ihnen von den „Starken" vorgegebene Gesetz zu einer höheren Sinngebung stilisieren, welche ineins die aufgezwungene „Sklaverei" sanktionieren wie die „Herren", durch das ihnen eingeredete „schlechte Gewissen", an der Entfaltung ihrer Macht hindern soll. Während die „Herren" dabei den Gegensatz von „gut" und „schlecht" proklamieren und praktizieren, der durch die eigene Moral berechtigten, aber „vornehmen", aus eigener „Stärke" auch zu Hingabe und „Versprechen" fähigen Egoismus bekundet, sind die „Sklaven" auf den Gegensatz von „gut" und „böse" verwiesen, dessen stete Nötigung moralisches Verhalten erzwingen soll, jede freie Entfaltung des einzelnen unterbinden muß. 6 Doch gerade durch die vorschnelle Soziologisierung seiner Theorie entgeht Nietzsche der tiefere Gehalt seines Ansatzes und des in ihm erspürten Gegensatzes, auf den sie abzielt; derart, daß allererst der absolute Anspruch den Menschen zum „Sklaven" eines dann eo ipso heteronomen Gesetzes macht, während 4 5 6

ΜΑ I 45; J G B 260; G M III 7; FaWa, Epilog. ΜΑ I 1 ff. JGB, Neuntes Hauptstück: „Was ist vornehm?".

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die Autonomie gleichsam die „Herren-Moral" aus der Selbstbestimmung der Vernunft, Nietzsche würde sagen: des Geistes, konstituiert, — „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet [. -.]." 7 Mit diesem Anschluß an die Kantischen Begriffe vermeidet man einerseits das Mißverständnis, Nietzsches wesentlich moralphilosophisch gemeinten „Antisemitismus" rassisch zu mißdeuten; auf der anderen Seite gewinnt sein Angriff auf das Christentum mit dem absoluten Anspruch den Bezugspunkt, der — schon im urchristlichen Streit um die doppelsinnig verbliebene Aufhebung des Gesetzes ausgetragen — als jüdisches Element dem christlichen Glauben unentrinnbar innewohnt. Auf den absoluten Anspruch in der Moral, als Anspruch des Absoluten in der Religion verstanden, verfällt der Mensch, nach Nietzsches Darstellung am Ende der „Genealogie", deshalb, weil er eben nicht primär an seinem „Leiden", sondern an dessen Sinnlosigkeit leidet, daher im „asketischen Ideal" totaler Lebensverneinung den höheren Sinn sucht, auf den er als geistbestimmtes „krankhaftes Tier" angewiesen ist. Zwar bezahlt er die überhöhte heteronome Forderung — die ihm überdies nicht einsehbar gemacht werden kann, daher durch menschliche Satzung vorgegeben werden muß — mit dem permanenten Gefühl der „Schuld", jenem Anspruch gar nicht genügen zu können, — „Aber trotzalledem — der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des ,OhneSinns'", wozu es freilich der Hintanstellung aller endlichen Ziele, wo nicht gar des Verzichts auf je-eigene immanente Lebenserfüllung bedarf: „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen ...", sich mit endlichem Streben zufrieden geben. 8 Bekanntlich hat Nietzsche die Begründung dieses Anspruchs auf das „Ressentiment" zurückgeführt, mit dem sich der Mensch ebenso über seine persönlichen Hemmnisse wie über die äußeren politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse empört und zu erheben sucht, die ihn an der freien und vollen Entfaltung seiner Kräfte hindern und auf eine höhere Sinngebung verweisen. Allerdings versäumt es der Philosoph hier noch einmal, seine Einsicht in die Tiefe auszuloten, wenn anders das Ressentiment eben nicht nur in der Auflehnung gegen das persönliche Geschick wirksam wird, sondern darüber hinaus den Protest gegen die menschliche Situation überhaupt bekundet, der den Nihilismus versagter und versagender „oberster Werthe" in der Antwortlosigkeit der Vernunft be-, womöglich anklagt. Erst aus diesem letzten, ebenso begreiflichen wie vergeblichen Protest entspringt dann jener absolute Anspruch, der schon dem „Schwachen" in seiner endlichen Ausgesetztheit eher schädlich als nützlich sein mag, wenn er dessen Ohnmacht bestätigt, statt zu ihrer Bewältigung, soweit möglich, 7 8

Za II, Von den berühmten Weisen. GM III 28.

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aufzurufen; der aber vor allem auch Moral und Religion eher gefährdet als tiefer begründet, weil seine Heteronomie unvermeidlich mit dem Prinzip von Lohn und Strafe verbunden ist, welches jene um ihre Würde, diese um ihre befreiende Wirkung zu bringen droht: „Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der Dinge hat man Lohn und Strafe hineingelogen [...] — Christenthum und Judenthum: das Ideal außer uns gesetzt, mit höchster Macht und befehlend und belohnend und strafend!" 9 Eine derartige Tragödie der Geburt des absoluten Anspruchs aus dem Geiste des Ressentiments 10 — nicht sowohl gegenüber den eigenen Lebensbedingungen als vielmehr aus Empörung über die Bedingungen und die Bedingtheit menschlichen Lebens generell — sieht Nietzsche nun vor allem und wesentlich bei den Juden am Werk, deren Schicksal sie ja immer wieder aus Unterdrückung zu Erhebung geführt hat, die jeweilige Befreiung als Wegweisung des Absoluten, neue Verfolgung als Strafe für die Mißachtung seines Gesetzes verstehen ließ, derart, daß gerade die Koinzidenz von Abwehr und Aufstand jenen „Geist der Rache" entzündet, mit dem sich der Geist am Leben „rächt", der Mensch sich im Geist über das Leben erhebt. Allerdings muß er diese Erhebung über die Sklaverei des Leibes mit dem absoluten Anspruch des Geistes bezahlen, der jedoch wiederum in den „überhistorischen" Werken von Kunst, Wissenschaft und Religion ebenso „schöpferisch" wird, wie er durch den „Sklaven-Aufstand in der Moral" den historischen Menschen seinen Werten unterwirft. 11 Man muß diese Doppelfunktion des Geistes, in der Theorie und für die Praxis, durch kulturelle Werke wie moralische Werte vor Augen haben, um Nietzsches zwiespältige Einstellung dem Judentum gegenüber zu verstehen; tiefste Verachtung und höchste Bewunderung gelten jener Absolutsetzung des Geistes (und durch ihn), die, zugleich das Absolute als Geist verstehend, für das „Volk Israel" prägend und durch es historisch wirksam geworden sein mag. Doch auch umgekehrt möchte die große Resonanz jüdischen Denkens für Nietzsche auf dessen Erspüren dieser Zwiespältigkeit im Anspruch des Geistes beruhen, dessen „Selbstaufhebung" er aus „intellektueller Redlichkeit" betrieb. Wie er seine Philosophie durch das Wechselspiel von Krankheit und Genesung so gefährdet wußte, daß er sich eine „Philosophie der Armuth und Entmuthigung [...] verbot", blieb er der geistigen Bewältigung seines Leidens so tief verbunden, daß er auf eine erneute Umwertung nicht verzichten konnte, — aber den Ubermenschen fordern mußte, statt die Forderung so zu ermäßigen, daß sie der menschlichen Situation gerecht wird. 12 9 10

11 12

Za II, Von den Tugendhaften; KGW V 7 [64] (KSA 9.330). Ausführlich dazu: G.-G. Grau, Ideologie und Wille %ur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York, 1984, bes. Abschn. IV 1. Za II, Von der Erlösung, u.ö. - GM I 11; UB, HL 10. EH, Warum ich so weise bin 2, 6. - GM III 27.

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Immerhin hat — um abschließend an einigen Textstellen Nietzsches doppelsinnige Einstellung dem Judentum gegenüber zu explizieren — durch die von den Juden ins Werk gesetzte „Umkehrung aller Werthe", mag sie aus Verurteilung zu äußerer politischer oder aus Veranlagung zu innerer moralischer „Sklaverei" resultieren, „das Leben auf Erden für ein paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten", - wenn auch um den Preis einer „SklavenMoral", welche die Bewältigung des Lebens und seines „Leidens" eher zusätzlich erschwert als befreiend erleichtert. Die Juden — ein Volk „geboren zur Sklaverei", wie Tacitus und die ganze antike Welt sagt, „das auserwählte Volk unter den Völkern", wie sie selbst sagen und glauben — die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefahrlichen Reiz erhalten hat [...] In dieser Umkehrung der Werthe [...] liegt die Bedeutung des jüdischen Volkes: mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Mora/.13

Durch diesen Aufstand erweisen sich die Juden vollends als „jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence", das sich zwar äußerlich „an seinen Feinden und Uberwältigern zuletzt nur [...] durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung zu schaffen wusste", aber zugleich innerlich eine Lebensbewältigung ermöglichte, derzufolge „der Mensch überhaupt ein interessantes Thier geworden ist", wenn denn „erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne Tiefe bekommen hat und böse geworden ist [...]". Damit ist also, wie bemerkt, die auf den Gegensatz von „gut und schlecht" gegründete autonome Moral der „Herren" durch eine „Sklaven-Moral" ersetzt, welche Handlungen nach „gut und böse" bewertet; kann jene, zur „Vergeltung" im doppelten Sinne fähig, schließlich sogar den anderen respektieren, „ein Thier heranzüchten, das versprechen d a r f ' (aber nicht immerfort muß), so muß hier eine heteronome Forderung ein moralisches Verhalten bestimmen, dem sich der Mensch nur unter Zwang und aus Furcht vor — innerer oder äußerer — „Vergeltung" unterwirft. Die Juden [...] waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte [...] Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen" [...] gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Uberwältigern zuletzt nur durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung zu schaffen wusste.14

Sofern und soweit dieser religiöse Anspruch in der Moral, als moralischer Anspruch der Religion verstanden, nun auch in den christlichen Glauben, jeden13 14

JGB 195. GM I 16, 7; II 1.

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falls in das von Paulus inaugurierte historische Christentum übergegangen ist, macht Nietzsche die Juden dann auch und vor allem für dessen Begründung und historische Wirkung verantwortlich; um so mehr, als mit dem Ubergang des fixierten jüdischen Gesetzes in die unfixierbare christliche Forderung — deren endzeitliche Aufhebung durch Jesus von Paulus auf das „Gericht" am Ende der Zeit verlagert worden sei — nun auch das Prinzip von Lohn und Strafe unendlich vertieft wird. Sieht man Nietzsches Empörung gegen einen derartigen, womöglich selbst jedenfalls theoretisch erfahrenen moralisch-religiösen Zwang an, dann versteht man am ehesten, wenn der Philosoph nun seinerseits den „Hass" entwickelt, den er dem „Priester" als dem „Richtungs-Veränderer des Ressentiment" in Richtung auf die Innerlichkeit zuschreibt, ja sich, allerdings erst und nur bei dieser anti-christlichen Auseinandersetzung, in einen anti-semitischen Jargon hineinsteigert, der die moralphilosophische Intention vergessen zu haben scheint. Nicht genug, daß die Juden, als das „merkwürdigste Volk der Weltgeschichte [...] das Sein um jeden Preis vorgezogen", mit ihrer gegen das endliche Dasein gerichteten Umwertung „die Partei aller decadence-Instinkte" genommen hätten, zugleich als „Entrüstungs-Pessimisten" sich zum „Grössenwahn" der Auserwähltheit verführen ließen, wird jetzt der Gegensatz „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom" wieder als politischer Kampf verstanden, in dem die christliche „Rache" den römischen Willen zur Macht verdrängt, das „Nein" der jüdischen Moral die „Ja-sagende", auf Durchsetzung im endlichen Leben bedachte römische Sitte überwunden hat. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom": es gab bisher kein grösseres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch [...] Die Juden sind, ebendamit, das verhängnissvollste Volk der Weltgeschichte [...] 15

Spricht Nietzsche noch vom „jüdischen ,Alten Testament'" als dem „Buch von der göttlichen Gerechtigkeit", in dem „es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile" gäbe, daß das „griechische und indische Schriftthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat", so verfällt er in seinem Urteil über das Neue Testament — in dem er die jüdische Prätention der „kleinen Leute" auf das Absolute am Werke sieht — in einen so harten, jetzt auch doppelsinnig von „Rasse" sprechenden Ton, daß ein antisemitischer Unterton nicht zu überhören ist. Das war die verhängnissvollste Art Grössenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: kleine Missgeburten von Muckern und Lügnern, [...] kleine Superlativ-Juden, reif für jede Art Irrenhaus, drehten die Werthe überhaupt nach sich um [...] Das ganze Verhängniss wurde dadurch allein ermöglicht, dass schon 15

G M III 15; G M I 16; AC 24.

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eine verwandte, rassenverwandte Art von Grössenwahn in der Welt war, der jüdische [...] Hierzu gehört Rasse. Im Christenthum, als der Kunst, heilig zu lügen, kommt das ganze Judenthum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur letzten Meisterschaft [...] [...] und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität, war in der That das Christenthum darauf aus, die ganze Welt zu „verjüdeln".16

Indes, gerade hier, auf der Spitze seines Kampfes gegen eine religiös bedingte Sklavenmoral — an der er immer noch das „moralische Genie" bewundert — wird Nietzsche der Kehrseite des absoluten Anspruchs durch und für den Geist gewahr, aus dessen „jüdischem Hass" der Empörung gegen ein nicht sowohl unlegitimierbares als unlimitierbares Gesetz nun sogar das Christentum, jedenfalls in der Person seines Urhebers, als Ausdruck für „die tiefste und sublimste aller Arten Liebe" verstehbar wird. Das aber ist das Ereigniss: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses — des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist — wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: — aus welchem anderen Stamme hätte sie auch wachsen können?17

Nun zeigt sich aber auch, daß aus diesem intelligiblen Ressentiment im weitesten Sinne sogar der niedere Aufstand gegen äußere Unterworfenheit produktiv werden kann; derart, daß gerade der Ausschluß von politischer Macht, öffentlichen Amtern und gesellschaftlicher Anerkennung die Juden zu ihren außerordentlichen Leistungen und Werken in Kunst und Wissenschaft, bis hinein in die Politik, stimuliert und befähigt habe. Nicht genug, daß sie „sich aus den Gewerben, [...] die man ihnen überließ [...] ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache [...] zu schaffen" wußten, hat ihre „Freisinnigkeit, auch der Seele", ihre „geistige Geschmeidigkeit und Gewitztheit" sie am Ende sogar — zumal nach der Verschwägerung „mit dem besten Adel Europas" — eine „Vornehmheit" erwerben lassen, die sie, durch ihren Moralismus eher beflügelt als gehemmt, zur Herrschaft in Europa berechtigt. Wollte schon Zarathustra ursprünglich den Willen zur Macht auf Selbstüberwindung gegründet wissen, die freilich immer wieder in den Sog und Dienst äußerer Machtausübung und -ergreifung zu geraten droht, so wird jetzt das Ressentiment verhinderter oder aufgegebener Macht nicht nur in Werten, welche immerhin zur „europäischen Auszeichnung" des Verhaltens „auf allen Gebieten" führen können, sondern ebenso geistig und in geistigen Werken buchstäblich „schöpferisch", — womit die Juden zugleich ei-

16 17

JGB 52; AC 44; FW 135. GM I 8.

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nen gewichtigen Beitrag für die kulturelle Entwicklung Europas, ja der Menschheit geleistet haben. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, - wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa's verwandelt haben wird: dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich [...] seines auserwählten Volkes freuen darf, — und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun! 18 Bedenkt man, daß demgegenüber die Deutschen ausdrücklich gerügt werden, weil sie den Geist der Macht, den „Ernst für wirklich geistige Dinge" der Politik geopfert haben, dann wird der Zwiespalt in Nietzsches Einstellung zum Judentum, im Verhältnis von Macht und Geist vollends sichtbar. Man versteht daher den jüdischen Nietzscheanismus in der tiefen Empfänglichkeit des jüdischen Geistes für Nietzsche nur dann richtig, wenn man zugleich den moralphilosophischen Akzent im Nietzscheanischen Antisemitismus bedenkt; mochte der Philosoph sich vor dem Ressentiment im engeren Sinne durch das Durchschauen seiner Strategie gefeit wähnen, — in seinem geistigen Schaffen und denkerischen Wirken blieb er dem tieferen „Geist der Rache" und damit dem Judentum eng verbunden. Was Europa den Juden verdankt? — Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den grossen Stil in der Moral, in der Furchtbarkeit und Majestät unendlicher Forderungen [...] Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. 19

II. Georg Brandes, Nietzsche und Kierkegaard 1. Georg Brandes Wenn es für den jüdischen Nietzscheanismus im Sinne der im ersten Teil analysierten besonderen Empfänglichkeit des jüdischen Geistes für Nietzsche 18 19

Μ 205. GD, Was den Deutschen abgeht 1; J G B 250 f.; ΜΑ I 475.

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charakteristisch ist, daß seine Vertreter nicht nur keine spezifisch jüdische Interpretation vorlegen, sondern von ihrem Judentum überhaupt nicht nachhaltig berührt erscheinen, dann ist Georg Brandes — der ursprünglich Georg Morris Cohen hieß — gewiß eine seiner auffalligsten Gestalten. Zwar mögen auch die anderen eingangs genannten Autoren, Freunde und Helfer — von Ree über Richter, Joel und Paneth bis zu Freud, der von Nietzsche nichts wissen wollte, weil er seinen Ergebnissen zu nahe stand — der Synagoge weitgehend entfremdet gewesen sein; Brandes jedenfalls, dessen Elternhaus schon nicht orthodox war, hat sein Judentum offensichtlich weder rassisch noch religiös oder auch nur geistig als besonders gravierend empfunden. In seinen zahlreichen, die gesamte europäische Literatur umfassenden Veröffentlichungen spielt denn auch eine damit etwa gegebene Problematik überhaupt keine Rolle; in seinem Dialog mit Nietzsche — der sich an der Idee der autonomen Persönlichkeit entzündet — geht er gar nicht auf dessen Auseinandersetzung mit dem „Volke Israel" ein, deren oben wiedergegebene Texte ihm doch bekannt waren. Allerdings gerät der Autor, der ästhetische Sensibilität und politisches Engagement in sich vereinigte, jedoch zugleich seine links-liberalen Tendenzen mit jenem „aristokratischen Radikalismus" zu vereinen suchte, der ihn bei Nietzsche so anzog, mit der politischen und geistigen Polarisierung in den neunziger Jahren zwischen alle Fronten und wurde von selten des sich nun auch in Dänemark ausbreitenden Pangermanismus als Jude gebrandmarkt, — nach dem Motto etwa: „Wir germanischen Skandinavier auf der einen Seite, der Jude Georg Brandes auf der anderen." 20 In diesem Zusammenhang darf auch daran erinnert werden, daß Elisabeth Förster-Nietzsche zwar die Bekanntmachung ihres „Herzens-Fritz" durch den dänischen Weltmann begrüßte, der „einen ausgezeichneten Spürsinn für interessante Erscheinungen aller Zeiten" habe und durchaus geeignet sei, den Philosophen „in Mode" zu bringen; aber sie konstatiert zugleich, nach Angaben des Bruders, „mit äusserstem Hohne, [...] was für ein Gesindel" er sich dafür „ausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes f...]" 2 1 Auf ihn wurde, wie Janz nach Angaben der Schwester vermutet, Nietzsche durch einen Professor aus dem „vorwiegend jüdischen Wiener Verehrerkreis" aufmerksam gemacht, der im Sommer 1886 Sils besuchte, — was die Ubersendung von „Jenseits" zur Folge hatte, die zunächst unbeantwortet blieb, ein Jahr später aber den Briefwechsel auslöste. 20

21

H. Brandl, „Skandinavische Aspekte der Nietzsche-Rezeption", in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 387 ff. Das Zitat nach Ola Hansson, der selbst ein begeisterter Verehrer Nietzsches war. Unveröffentl. Brief, Nueva Germania, 6. Sept. 1888, nach H. F. Peters, Zarathustras Schwester, München, 1983, 156; die schärfere Version im Brief an Overbeck, KGB III 5, 549 (KSB 5.549). Bernoulli, op. cit. II, 395, überliefert allerdings eine ganz andere Äußerung der Schwester: „Mir kommen immer Tränen und heisse Gefühle der Dankbarkeit, wenn ich den Namen Georg Brandes höre"; auch Lonsbach (Anm. 1) berichtet über eine Sinnesänderung der Schwester nach 1933.

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Georg Brandes wurde am 4. Februar 1842 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Kopenhagen geboren, studierte Jura und Ästhetik und promovierte 1870 mit einer Dissertation über die französische Ästhetik, in welcher er, seiner geistigen Herkunft aus der französischen Aufklärung gemäß, den Standpunkt Hegels zugunsten der Ideen Taines aufgab. Nach Reisen in England, Frankreich und Italien hielt er Vorlesungen an der Universität Kopenhagen über die Literatur des 19. Jahrhunderts, die er in seinem wohl berühmtesten und einflußreichsten Werk „Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts" ab 1871 veröffentlichte; er machte sich mit dieser — im modernen Sinne ideologiekritischen — Arbeit zum Wortführer des „modernen Durchbruchs", einer Gegenbewegung gegen die offiziell herrschenden kulturellen, moralischen und politischen Ideen, die dem Liberalismus zum Sieg über die tradierten Autoritätsansprüche in Staat und Gesellschaft verhelfen sollten. Wegen seiner radikalen Anschauungen — gegen die Kirche sowie jegliche Jenseitsgläubigkeit, gegen die Ehe in ihrer bestehenden Form und das konservative Bürgertum — erhielt er den 1872 freigewordenen Lehrstuhl in Kopenhagen nicht und wurde erst 1902, nach erfolgreicher Vorlesungstätigkeit — u. a. auch in Warschau, St. Petersburg und Moskau —, zum ordentlichen Professor ernannt. Doch obwohl er sich vehement gegen die Unterdrückung aller Art, literarisch gegen die vorherrschenden idealistischen Denkweisen wandte, konnte sich der dänische Intellektuelle, stets zugleich das Recht des Individuums auf seine Unabhängigkeit betonend, nicht für den „demokratischen Radikalismus" entscheiden, den sein Landsmann, Harald Höffding, Kierkegaard-Forscher wie er selbst, seinem an Nietzsche orientierten aristokratischen Radikalismus entgegensetzte. Um den Anfeindungen von allen Seiten, dem konservativen Bürgertum sowohl wie der demokratischen, jedenfalls auf Demokratie pochenden Linken, aber, wie angedeutet, auch den antisemitischen Verdächtigungen zu entgehen, wandte sich Brandes, obwohl die Deutschen eigentlich nicht besonders schätzend, vermehrt Deutschland zu, wo der Linkshegelianismus das Feld für die öffentliche Diskussion bereitet hatte, die theologische Problematik den Weltanschauungskampf nicht mehr beherrschte, das nationale Klima noch nicht von rassistischen Tendenzen bestimmt wurde. Von 1877 bis 1883 lebte der Kosmopolit in Berlin, wo er zu dem Philosophenkreis Zutritt fand, dem auch Ree — den er stets gegen Nietzsches Attacken verteidigte — und Lou Salome — die ihn wohl schon früh auf Nietzsche hingewiesen hat — angehörten. Er begann seine Arbeiten auf deutsch zu publizieren und wurde Mitarbeiter der „Deutschen Rundschau", der national-liberalen Monatsschrift für die gelehrte Welt; seine Monographie über den Sozialistenführer Lassalle sicherte ihm eine unabhängige, nach allen Seiten offene Position, konnte allerdings nicht verhindern, daß der Schriftsteller zugleich zum „Vater der radikaler werdenden Naturalistengeneration" wurde. In den siebziger Jahren hatten sich die auf deutsch erschiene-

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nen Bände der Literaturgeschichte und damit Perspektiven auf die Literatur durchgesetzt, die an die Ideen der Revolution von 1848 anknüpften, mit deren Aktualisierung Brandes sich seinerseits einer anders gearteten „nordischen Bewegung" anschloß und vollends zum Vermitder skandinavischen Schrifttums wurde. Nachdem das — ebenso kritische wie respektvolle — Kierkegaard-Buch schon 1879 auf deutsch erschienen war, folgten weitere umfangreiche Arbeiten, u. a. über Dostojewski, Börne und Heine, Shakespeare und Ibsen; nach dem Ende des Krieges erschienen die Monographien über Goethe, Michelangelo, Cäsar und das Urchristentum, begleitet von Studien zur Gegenwartsliteratur des deutschen Sprachraums, die sich mit Hauptmann, Sudermann, Wedekind, Schnitzler und Hofmannsthal befaßten. 22 Nach einem arbeits- und inhaltsreichen, kämpferischen, aber auch erfolgreichen Leben starb Georg Brandes am 19. Februar 1927 in Kopenhagen. Mögen seine immer noch lesenswerten Beiträge zur europäischen Literaturgeschichte und ihren Persönlichkeiten weithin vergessen sein, so bleibt sein Name wie seine Wirkung im Zusammenhang der ersten öffentlichen Anerkennung und Verbreitung von Nietzsches Gedanken unübersehbar. Bedenkt man des weiteren, daß diese, wenn schon nicht „Entdeckung", so doch gewiß Bekanntmachung Nietzsches durch einen dänischen Forscher geschah, der — sich gelegentlich als „Antichrist des Nordens" verstanden fühlend — den deutschen Denker sogleich auf die Schriften seines Landsmanns Sören Kierkegaard, dem er ja selbst früh eine größere Untersuchung gewidmet hat, hinwies, dann erscheint die Thematik dieses Beitrages vollends verständlich. Dem jüdischen Nietzscheanismus bleibt das von Brandes anvisierte und angeregte Verhältnis des antichristlichen Philosophen zu dem christlichen Anti-Theologen schon dadurch verbunden, daß es wiederum von jenem Begriff der Sklavenmoral ausgeht, deren absoluten Anspruch Nietzsche ebenso leidenschaftlich bekämpft, wie ihn Kierkegaard in der säkularisierten Christenheit regenerieren will. Wobei noch angemerkt sei, daß auch in Kierkegaards innerchristlicher Auseinandersetzung — die Brandes eher mit ungläubigem Staunen betrachtet — das jüdische Erbe des Christentums kaum explizit bedacht, allenfalls der gegenwärtigen Christenheit der Rückfall in eine als jüdisch angesehene Religiosität vorgehalten wird, die auf Erfolg und Wohlleben in dieser Welt ausgerichtet sein soll. Die Berufung auf die beiden großen Gestalten des Alten Testaments, Abraham und Hiob, hat dann bei den dänischen Theologen wesentlich die als genuin christlich verstandene Tendenz, den absoluten Anspruch des Glaubensgehorsams — sei es in der Aufhebung seiner Folgen, sei es in der Einklagung des ausgebliebenen Eingriffs — erneut herauszustellen.

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C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, München/Wien, 1978, II 566 ff., 584 ff. - H. Brandl, I.e.

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2. Brandes und Nietzsche Die beiden Abhandlungen über Nietzsche 23 geben wohl im wesentlichen den Inhalt der Vorlesungen wieder, die Brandes im Frühjahr 1888 in Kopenhagen vor einem immer größer werdenden Publikum gehalten hat; sie wurden vorbereitet durch einen intensiven Briefwechsel, der, im nächsten Abschnitt dargestellt, sich über die letzten zwölf Monate geistiger Regsamkeit des Philosophen bis in dessen Zusammenbruch hinein erstreckte. Hier genügt es, den zentralen Text der ersten Studie zu besprechen, in dem sich Brandes als ein ebenso beeindruckter wie kritischer, aber auch „eiliger" und subjektiv urteilender Leser erweist, dessen Essay eine literarisch gewandte Darstellung gewisser, um die Idee der großen Persönlichkeit kreisender Grundgedanken des Philosophen bietet. Dabei weisen die eingearbeiteten, nicht besonders gekennzeichneten Zitate dem kundigen Leser den Weg, den der Denker durch die aphoristische Struktur seiner Werke ebenso erschwert wie dadurch „erleichtert" habe, „daß er jedem Gedanken einen Hochdruck zu geben pflegt, der ihm eine paradoxale Physiognomie verleiht". Bei aller Zustimmung im Ganzen ist der Unterton einer begrenzten Distanzierung, jedenfalls einer Einschränkung der oft, gewiß nicht mit Unrecht, als überzogen, zuweilen gar als „wenig treffend" angesehenen Thesen Nietzsches nicht zu überhören. So wird zwar die Begründung des „bösen" Gewissens als „geniale Hypothese" anerkannt, jegliche „Grausamkeitsmoral" mit dem Philosophen zurückgewiesen, das „asketische Ideal" in seinem inneren Widerspruch wie in seiner sinngebenden Funktion durchschaut, Selbstbestimmung und persönliche Stilgebung gegenüber moralisch-religiösem Zwang hochgehalten. Aber es wird dezidiert bestritten, daß „die Ansicht Nietzsches von der großen Persönlichkeit gegen das Moralprinzip der Wohlfahrt" verstößt; und wenn auch Nietzsches Verdammungsurteil über das Christentum insoweit akzeptiert wird, wie dieses „als Religion des Altertums ununterbrochene Seelenqual gepredigt und angewendet" habe, so soll Nietzsche doch „nur eine Karikatur im Geist und Stil des achtzehnten Jahrhunderts geliefert" haben, sofern er „die Absicht gehabt hat, mit dieser Schilderung das historische Christentum zu treffen". So wenig sich leugnen ließe, daß „seine Beschreibung einen gewissen Typus der Apostel der Neidmoral" träfe, wie denn „der Selbstbetrug, der sich unter einer Moralverkündigung bergen kann, [...] selten mit größerer Energie entschleiert worden" sei, so gewiß verrät die Einseitigkeit seines Urteils immer wieder „das Unphilosophische und Temperamentbestimmte an ihm", wenn er etwa „in der Macht23

Georg Brandes, „Aristokratischer Radicalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche", in: Deutsche Rundschau LXIII 7 (1890), 52 ff.; hier zitiert nach dem III. Abschnitt in: A. Guzzoni (Hrsg.), 90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, Königstein/Ts., 1979, 1 ff. Bei der Kürze des Artikels werden einzelne Zitate nicht besonders nachgewiesen. — Die zweite Abhandlung: Georg Brandes, „Friedrich Nietzsche", in: Menschen und Werke, Frankfurt/M., 1894, 137 ff.

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freude der herrschenden Klasse förmlich schwelgt", dagegen für „die unterdrückte Kaste oder Rasse" und ihre Moral nur Verachtung übrig habe. Die Theorie der beiden Moralentwürfe mit ihrer Begründung auf das Begriffspaar „gut und schlecht" der zur Vergeltung Fähigen bzw. „gut und böse" der moralisch Verurteilenden beschreibt Brandes denn auch zunächst mit schriftstellerischer Neutralität, welche die Meinung des Verfassers nicht von der philosophischen Behauptung trennen läßt. Dabei übernimmt er die politischsoziale Akzentuierung weitgehend, weist Nietzsche sogar auf die isländischen Sagen hin, deren Helden der Sittlichkeit seiner „Herren" durchaus nahestanden, deren moralisch „grausames" Verhalten freilich eine ganz andere Moral auf Seiten der Unterdrückten zeitigen mußte. Diese Moral, in welcher auch der Philosoph den „langen Zwang" zur Disziplinierung anerkannte, müsse indes nicht zwangsläufig in eine Sklavenmoral entarten, könne vielmehr am Ende sogar den Menschen zum „Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit" führen. Auf die Herausstellung des jüdischen Ursprungs der eigentlichen Sklavenmoral geht Brandes ebensowenig ein wie auf die Nachzeichnung der positiven Entwicklungen und Leistungen des Judentums bei Nietzsche, — den er freilich für seinen „leidenschaftlichen Versuch" zurechtweist, diese Moral als „reine Neidmoral" darzustellen, ohne selbst das vertiefte Ressentiment im überhöhten Anspruch wahrzunehmen. D a der Philosoph zudem „mit seinem ausschließlich psychologischen Interesse allen gelehrten Apparat" liegen lasse, könnten seine - mit Verlaub, auch alle anderen derartigen historisch-psychologischen — Behauptungen ohnehin „nicht direkt kontrolliert" werden, wozu einige „historische Data" eben nicht ausreichten. Insgesamt habe Nietzsche gegen die herrschenden Anschauungen „kaum ein neues, überzeugendes Argument zu Tage gefördert", sich vielmehr durch das „Ubermaß persönlicher Leidenschaft" leiten lassen, — nicht zuletzt deshalb, weil er „dem modernen demokratischen Gedankengange" ablehnend gegenüberstehe. Zu diesem kann sich freilich, wie einleitend angedeutet, auch Brandes nur halbherzig entschließen, der am Ende zwar die Sympathie der modernen Schriftsteller, seit Taines Wende, für die „Männer der großen Empörung" der französischen Revolution versteht, aber ihre Abneigung gegen den „Cäsarismus" nicht teilen kann; sie „übersehen, daß die größten Empörer nicht die vereinten Kleinen sind, sondern die großen Gönner, die anderen Recht, Wohlergehen und geistiges Wachstum gönnen", — „Cäsar ist der große Typus [...]" Es bleibt also bei der schillernden Charakterisierung der aristokratischen, selbstbestimmten Persönlichkeit, deren geschichtliche Heraufkunft allerdings kaum durch Nietzsches „mit vollem Ernst ausgesprochene Zukunftsphantasien über die Erziehung des Ubermenschen und dessen Ergreifen der Macht auf Erden" herbeigeführt werden, zumal wenn dies nur dadurch geschehen könnte, „daß Massen von Menschen, wie wir sie kennen, hingeopfert werden müßten".

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Daß der „Wille zum Leben" bzw. der „Kampf ums Dasein" sich zum „Willen zur Macht" entwickeln könne, sei anzuerkennen, ohne daß man deshalb jeglichen Humanismus leugnen müsse; daß der Fortschritt sich nach der Höhe der Opfer bemesse, die ihm gebracht werden müßten, sei zu bestreiten, ohne daß man darüber die Idee eines höheren Menschentums aufgeben müsse, — mit deren Fixierung im „Übermenschen" ohnehin „bei Nietzsche der leichte Traum sich zu einer dogmatischen Uberzeugung kristallisiert hat". So also ist er, dieser streitbare Mystiker, Dichter und Denker, dieser Immoralist, der nicht müde wird zu verkündigen [...] So wenig deutsch er sich auch fühlt, setzt er doch die metaphysische und intuitive Ueberlieferung der deutschen Philosophie fort [...] In seiner leidenschaftlichen, aphoristischen Form ist er unbedingt original; durch seinen Gedankeninhalt erinnert er hin und wieder an viele Andere [...] Lange scheint er dafür gekämpft zu haben, sich selbst zu finden und ganz er selbst zu werden. Um sich zu finden, kroch er in seine Einsamkeit wie Zarathustra in seine Höhle hinein. Als es ihm gelungen war, zu einer ganz selbständigen Entwicklung zu gelangen und er den eigenthümlichen Gedankenborn reich in seinem Innern strömen fühlte, hatte er allen äußeren Maßstab für seinen eigenen Werth verloren; alle Brücken zur umgebenden Welt waren abgebrochen. Daß die äußere Anerkennung ausblieb, steigerte nur sein Selbstgefühl. Der erste Schimmer einer Anerkennung von außen her, gab diesem Selbstgefühl noch einen Hochdruck. Zuletzt ist es über seinem Kopf zusammengeschlagen und hat für eine Zeit lang diesen so seltenen und ausgezeichneten Geist verdunkelt. Doch wie er im Augenblick in seinem unvollendeten Lebenswerk ausgeprägt dasteht, ist er ein Schriftsteller, der es wohl verdient, studiert zu werden. 24

Von ähnlich distanzierender Zustimmung ist auch der Briefwechsel des Literaturhistorikers mit dem Philosophen bestimmt, der seinerseits sehr bewegt auf die seltene Anerkennung reagierte, die Vorlesungen in Kopenhagen enthusiastisch begrüßte und den Titel des „Aristokratischen Radikalismus" vollauf akzeptierte. Auch hier zeigen die Briefe Brandes als aufgeschlossenen und engagierten, aber auch eigenständigen und kritischen Geist, der gewiß kein „Nietzscheaner" war, aber dem deutschen Denker, von der Schärfe und Radikalität seines Geistes beeindruckt, zum Durchbruch verhelfen wollte, ohne freilich alle Thesen und Behauptungen unbesehen zu übernehmen. Schon im ersten Brief, mit dem Brandes einen „ernsten Dank" für die Übersendung der „Genealogie" ausdrückt, nachdem er — der bereits „Menschliches, Allzumenschliches" besitzt — auf die vor einem Jahr getätigte Zusendung von „Jenseits" offensichtlich nicht reagiert hatte, betont der Däne, daß ihm aus Nietzsches Schriften „ein neuer und ursprünglicher Geist [...] entgehen" wehe, wenn er auch „noch nicht völlig" verstehe, was er gelesen habe, und nicht immer 24

Schluß der vollständigen ersten Abhandlung.

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weiß, „worauf Sie hinaus wollen". So sei ihm Nietzsches „Verachtung der Moral des Mideids [...] noch nicht durchsichtig", wie er auch seine „Reflexionen über die Frauen im Allgemeinen" nicht schätzt; dagegen stimmt die „Geringschätzung der asketischen Ideale und der tiefe Unwille gegen demokratische Mittelmässigkeit" völlig mit seinen „eigenen Gedanken und Sympathien" überein. Insgesamt läuft das erste Urteil darauf hinaus, daß Brandes „Schwierigkeit" empfindet, sich „in Nietzsche hineinzufühlen", dessen „Universalismus in Ihrer Denkart und Schreibart sehr deutsch" sei, was im folgenden Brief dahin erläutert wird, daß deutsche Denker „schreibend mehr an sich selbst denken, als an das grosse Publicum", während Ausländer sich eher hinter „einer Pädagogik des Stils" verstecken; aber er gesteht Nietzsche anerkennend zu, „dass Sie geistig so wenig Professor sind". 25 Nietzsche — über den Hinweis auf seine deutsche Denk- und Schreibweise nicht sehr glücklich — rühmt daraufhin sogleich „die freie und französischanmuthige Art, mit der Sprache umzugehen" bei Brandes, dessen „geselligere Art" er wohl beneidet, wo er doch, mit seinem „Misstrauen gegen Dialektik [...] nur selten den Muth zu dem" habe, „was ich eigentlich weiss". Mit dem Ausdruck „Aristokratischer Radikalismus" fühlt er sich, wie mehrfach bemerkt, vollauf verstanden und gewürdigt, auch wenn Brandes diesen Begriff wohl zugleich deshalb gewählt hat, weil er ganz seinen eigenen politischen Uberzeugungen entspricht; schließlich will sich der Däne gern als „grossen Europäer", nicht aber als „Cultur-Missionär" bezeichnet wissen, weil damit eine „moralisierende" Tendenz ausgedrückt werde, die er verabscheut. Gleichwohl „verletzt" es ihn „ein wenig, wenn Sie in Ihren Schriften so schnell und heftig über Phänomene wie Socialismus oder Anarchismus sprechen"; womit Nietzsches „in der Regel so blendender Geist" gerade dort „ein wenig zu kurz kommen" könnte, „wo die Wahrheit in der Nuance" liegt. Die Verteidigung Rees, der Brandes in Berlin als „ein stiller, in seinem Betragen vornehmer Mensch", wenn auch „ein etwas trockener, beschränkter K o p f begegnet war, ebenso wie die Begegnung mit Lou Salome, deren Buch „Der Kampf um Gott" keinen Begriff von ihrer wirklichen Begabung geben könne, wurden bereits erwähnt. Nietzsche selbst spricht später wieder „sympathisch" von seinem früheren Anreger und „ausgezeichneten Freunde" — in einem höchst dubiosen Lebensbericht, in dem er sich, zur Vorbereitung von Brandes' Vorlesungen, als Nachfahre polnischer Edelleute bezeichnet, seine Großmutter dem „Schiller-Goetheschen Kreise Weimars" zuordnet, seine Krankheit jedoch ganz auf „lokale Ursachen" zurückführt und dem „Gerücht" entgegentritt, „als ob ich im Irrenhause gewesen sei".

25

K G B III 6, 120 f., 129. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf die Bände III 5 und III 6 der KGB.

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Einig und ähnlich sind sich beide Briefschreiber in der Klage über ihre Isoliertheit und die sei es mangelnde Resonanz, sei es politische Verfolgung ihrer Bücher; das mag bei Nietzsche, der jedenfalls den „Muth" seines dänischen Kollegen bewundert, über den „vir obscurissimus" öffentlich sprechen zu wollen, durchaus begreiflich sein, muß aber bei Brandes, trotz der einleitend angedeuteten Schwierigkeiten, doch überraschen. 26 Nicht genug, daß dieser sich, nach Eingriffen seines deutschen Verlegers in einen übersetzten Text, von der deutschen Literatur ganz zurückziehen will, fühlt er, der Vielschreiber, sich „allzu unglücklich" dazu, weitere Bücher zu verfassen, will aber gleichwohl sogleich daran gehen, den 6. Band seiner Literaturgeschichte in Angriff zu nehmen. Aber es bleibt eben doch ein „Kampfleben, das verzehrt", weil er — wie Nietzsche, dem er für das Wort „Bildungsphilister" dankbar ist — „seinen Frieden mit der Mittelmässigkeit nie gemacht" habe, von seinen politischen und religiösen Ansichten ganz zu schweigen; in Rußland sind denn auch nicht nur Nietzsches Bücher verboten (!), sondern steht zu befürchten, daß eines der alten Bücher von Brandes „als irreligiös verbrannt" werden könnte, der Autor möchte jedenfalls verhindern, daß seine neuen Bücher über Polen und Rußland übersetzt würden, damit er nicht dort ausgewiesen, am Reden verhindert werde. 27 Als kleine Episode in dem nun immer persönlicher werdenden Briefwechsel sei noch vermerkt, daß Brandes den Philosophen, wohl aus Anlaß der Begeisterung für Bizets „Carmen", anregen möchte, der in Paris lebenden, wieder verheirateten Witwe Bizets seine Streitschrift gegen Wagner zu schicken. Weitere Exemplare sollte er dann einigen russischen Adligen senden, die ihm womöglich die musikalische Welt St. Petersburgs erschließen könnten. Auch der „tolle Schwede", gemeint ist der zur Zeit in Kopenhagen lebende Strindberg, „liebt Sie besonders", weil „er meint, seinen Frauenhass bei Ihnen zu finden". Sogar Bilder werden ausgetauscht, was bei Nietzsche erst mit Hilfe der Mutter gelingt; inzwischen hat Brandes sich auch mit den Jugendschriften befaßt — „wie Sie jung waren und enthusiastisch, auch offen und naiv" —, bleibt aber dabei, daß der Philosoph schon dort „ganz intime, ganz persönliche Data umzudenken oder zu generalisieren" neigt. 28 Weitaus das bedeutsamste Ereignis in diesen Briefen ist aber natürlich das Schreiben vom 3. April 88, mit dem Brandes — der, „fast isoliert" lebend, eigentlich „ungern Briefe, [...] überhaupt, wie alle Schriftsteller, ungern" schreibt — seinen Entschluß ankündigt, Vorlesungen über Nietzsche zu halten, um ihn „mit einem Schlag [...] in Skandinavien bekannt zu machen", nachdem es ihn geärgert hat, daß seine Schriften dort so gar nicht bekannt waren. 26 27 28

III 6, 130 ff.; III 5, 286 ff. III 6, 170 ff., 361. III 6, 319 f f , 353, 184 f.

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Gerd-Günther Grau Gestern aber, wie ich Ihren Brief erhalten hatte und eins ihrer Bücher vornahm, empfand ich plötzlich eine A r t Arger, dass kein Mensch hier in Skandinavien Sie kenne, und entschloss mich schnell, Sie mit einem Schlag bekannt zu machen. Der kleine Zeitungsabschnitt wird Ihnen sagen, dass ich (der ich eben eine Reihe Vorlesungen über Russland geendigt habe) neue Vorlesungen über Ihre Schriften ankündige [...] 2 9

Nietzsche ist über diesen Entschluß verständlicherweise sehr begeistert und gibt sogleich einen genauen Bericht über die Entstehung seiner Bücher, dazu den erwähnten phantasievollen Lebenslauf, den Brandes durchaus ernst nimmt. Dieser bedauert zunächst, daß Nietzsches Foto dem Bilde, das er sich von dem Autor des Zarathustra gemacht habe, so gar nicht entspricht — „Sie müssen anders aussehen"; „der, welcher Zarathustra geschrieben hat, muss viel mehr Geheimnisse in seinem Gesicht geschrieben haben". Dann aber berichtet er ausführlich, etwas förmlich, über seine „Vorträge über Fr. Nietzsche", die, „wie die Zeitungen sagen, mit einem Beifall" endigten, „der die Form einer Ovation annahm"; dabei komme das Verdienst nicht ihm, sondern „fast gänzlich" Nietzsche zu, — er habe nur versucht, „klar und im Zusammenhang, für moderne Zuhörer verständlich, das wiederzugeben, was bei Ihnen in ursprünglicher Form vorlag". Ich versuchte auch, Ihr Verhältniss zu verschiedenen Zeitgenossen zu bezeichnen, in die Werkstatt Ihrer Gedanken einzuführen, meine eigenen Lieblingsgedanken, wo Sie mit den Ihrigen zusammentrafen, hervorzuheben, meine Abweichungen von Ihnen zu bestimmen, und ein psychologisches Bild von dem Autor Nietzsche zu geben [...] 3 0

Jedenfalls sei der Name des Philosophen „jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens sehr populär und in ganz Skandinavien wenigstens überall bekannt"; allerdings möchte Brandes zunächst die Vorlesungen nicht drucken lassen, weil „ich das Philosophische nicht als mein Fach ansehe, und nicht gern etwas drucke, was einen Gegenstand behandelt, in welchem ich mich nicht hinreichend competent fühle", — welche Bedenken er dann später doch zurückstellte. Zwei weitere bedeutsame, im Briefwechsel kurz angesprochene Themen verdienen noch besonders erwähnt zu werden; zum einen die Übereinstimmung in der Beurteilung Dostojewskis, zum anderen der Hinweis auf Sören Kierkegaard. Nietzsche beantwortet die Mitteilung von Brandes, er bereite französische Vorlesungen für Petersburg und Moskau vor, „um dort aufzuleben" — was nach den letzten Mitteilungen doch überrascht — zustimmend, um dann die Bemerkung

29 30

III 6, 184 ff. III 5, 286 ff. (Anm. 25); III 6, 201 ff. Brandes, erste Abh. (Anm. 23).

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anzufügen, er „rechne irgendein russisches Buch, vor allem Dostojewski (französisch übersetzt, um des Himmels willen nicht deutsch) zu meinen grössten Erleichterungen"; wir wissen leider nicht, um welches Buch es sich handelt, vielleicht „Der Idiot"? Der dänische Briefpartner erwidert, daß er mit Nietzsches — im Brief wie in einem Buch geäußerten — Eindrücken von diesem Schriftsteller voll übereinstimme, um dann hart, aber prägnant hinzuzufügen: „Er ist ein grosser Poet, aber ein abscheulicher Kerl, ganz christlich in seinem Gefühlsleben und zugleich ganz sadique. All seine Moral ist was Sie Sklavenmoral getauft haben." 31 Schon früher hatte Brandes auf einen anderen Schriftsteller hingewiesen, dessen Werke Nietzsche gewiß interessieren würden, „wenn sie nur übersetzt wären", Sören Kierkegaard, „einer der tiefsten Psychologen, die es überhaupt giebt"; über ihn habe er selbst ein (gar nicht so kleines) „Büchlein" geschrieben, das freilich eher „eine Art Streitschrift" sein sollte, „geschrieben um seinen Einfluss zu hemmen". Nietzsche verspricht „für die nächste Reise nach Deutschland", sich „mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen", nicht zuletzt deshalb, um „mir meine eigene Härte und Anmassung im Urtheil ,zu Gemüthe' zu führen". 32 Man muß bedauern, daß es, wegen des Ausbruchs der Krankheit, dazu nicht mehr gekommen ist; wobei es fraglich bleiben mag, ob dabei, über den psychologischen Aspekt hinaus, die religiöse Frage — in der Nietzsche ja weit mehr engagiert war als Brandes — die dominierende Rolle gespielt hätte, welche den Vergleich, der unten zur Sprache kommen soll, allererst lohnend erscheinen ließe. Immerhin geht Nietzsche, dessen letzte Briefe - in denen außer dem „Attentat auf Wagner" die „Götzendämmerung" und „Ecce Homo" angekündigt werden — zunehmend hektisch und von der Krankheit geprägt erscheinen, nun zum ersten Male in dem Briefwechsel auf sein anti-christliches Anliegen ein. So ende „Ecce Homo" „in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei dem Einem Sehen und Hören vergeht", wobei Nietzsche seinerseits betont, „der erste Psychologe des Christenthums" zu sein, ein „Verhängniss", nach dessen Eintritt „wir in zwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden". Jetzt werden auch hier die „Herren Deutschen" als die „im Verhältniss zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte" vorgeführt, — vor allem weil sie — man kennt die Texte — mit der Reformation die Renaissance „um ihren Sinn" als Vollzug der Selbstzerstörung des Christentums in dem historischen Augenblick gebracht hätten, wo dessen „decadence-Werthe" bereits „in den Instinkten der höchsten Geistlichkeit selbst überwunden durch die Gegeninstinkte waren", wie es in der Gestalt von Cesare Borgia als Papst deutlich sicht-

31 32

III 6, 321 ff.; III 5, 456 f.; III 6, 352 f. III 6, 143 f. (11. Jan. 88); III 5, 258 f.

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bar geworden sei. Noch einmal wird Dostojewski als „das werthvollste psychologische Material, das ich kenne", gerühmt, dem der Philosoph außerordentlich dankbar sein müsse — ebenso wie Pascal, „den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ [...]" 3 3 Brandes — inzwischen mit Vorlesungen über Goethe in Kopenhagen erfolgreich — geht auf diesen Problemkreis nicht weiter ein, betont aber noch einmal, er sei unentwegt bemüht, für Nietzsche „Propaganda" zu machen, „wo ich nur kann". Gleichwohl befremdet ihn der immer heftiger werdende „polemische Zug" des Freundes nun doch beträchtlich, den er allenfalls in der Jugend leidenschaftlich betätigt hätte, - „jetzt kann ich nur darstellen; bekämpfe nur durch Schweigen. Das Christenthum anzugreifen läge mir so fern als gegen die Wehrwölfe, ich meine gegen den Glauben an Wehrwölfe, eine Broschüre zu schreiben." Zustimmend äußert sich Brandes jedoch im Hinblick auf die religiösen Gestalten, bei denen er mit Nietzsche eher die ungewollte Zerstörung als ihre intendierte Bestätigung des Glaubens findet; betont zunächst auch seine Liebe zu Pascal, dessen „Provinf iales" die Jesuiten, „welch Meisterstück von Frechheit und Klugheit", selbst herausgegeben hätten, rühmt „dieselbe Collision" im Verhältnis „Luther gegen den Papst" und geht dann noch einmal ausführlich auf Dostojewski ein, dessen „russisches Bauerngesicht [...] von Qualen ohne Zahl, von abgrundtiefer Wehmuth, von ungesunden Gefühlen, von unendlichem Mitleid, leidenschaftlichem Neid" spricht. 34 Nietzsches letzter Brief liegt nur mehr im Entwurf vor, ist schon ganz durch die Erregung der Krankheit bestimmt, die jetzt ausschließlich von der Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben getragen wird. Nun ist auch erstmalig in dem abgebrochenen Briefwechsel von den Juden die Rede, denen Nietzsches „Vernichtungsschlag gegen das Christenthum" doch wohl sehr willkommen sein müßte, wenn anders sie die „einzige internationale Macht" seien, die „ein Instinkt-Interesse an der Vernichtung des Christenthums hat". Der Rest des Briefes ergeht sich in den bekannten wüsten Beschimpfungen des Antichrist, spricht gar von der „Art", solch „braune Idioten zu behandeln", die sich, wie schon der Kaiser, der inneren und äußeren Zerstörung widersetzen könnten, — was nur ein „Gesetz gegen das Christenthum" verhindern könnte: „Das Gesetz gegen das Christenthum hat als Uberschrift: Todkrieg gegen das Laster: das Laster ist das Christenthum."35 Das letzte Wort des nun vollends entrückten Philosophen wendet sich, im Gefolge der Wahnsinns-Äußerungen, die dann Overbeck zum Eingreifen zwan-

" III 5, 482 f. (Hinweis auf AC 61). 3 4 III 6, 361 ff. 3 5 III 5, 500 ff. An wen mag Nietzsche wohl bei den „braunen Idioten" gedacht haben?

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gen, noch ein letztes Mal dem „Freunde Georg" zu, von dem er sich nach wie vor erst eigentlich entdeckt fühlt: Nachdem D u mich entdeckt hast, war es kein Kunststück, mich zu finden: die Schwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren Der Gekreuzigte. 36

3. Nietzsche und Kierkegaard Was nun das Verhältnis von Nietzsche zu Kierkegaard betrifft, das hier abschließend kurz angesprochen werden soll, um das von Brandes vermutete Interesse des deutschen Philosophen an dem dänischen Theologen zu bestätigen und religionsphilosophisch zu vertiefen, so darf man sich von der allseits betonten Beschränkung auf das psychologische Moment nicht irritieren lassen. Läßt doch schon der Hinweis auf den „einzigen logischen " Christen Pascal, dem Nietzsche gewiß Kierkegaard als einen ebenfalls „in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit" vorbildlichen Christen zur Seite gestellt hätte, die Richtung erkennen, in welcher der radikale, das „credo quia absurdum" mit dem „asketischen Ideal" verbindende Glaube ungewollt die innere Destruktion des Glaubens vorbereitet. 37 Diese Tatsache hatte Brandes schon in seiner frühen Arbeit über den Landsmann vermerkt, wo er — dem die Verzweiflung des „tollen Menschen" gewiß fremd war — mit Staunen und Respekt die „große Bedeutung Kierkegaards für das staatskirchliche Geistesleben Dänemarks" darin herauskehrt, daß er die Probe darauf gemacht hat. Der bestehende Zustand war, von außenher, vom humanen Standpunkte der Wissenschaft aus betrachtet, längst als werdos erkannt worden. Durch ihn ward dieser Zustand von innenher, von seinem eigenen Ideal aus, angegriffen, mit seinem eigenen Maße gemessen, und durch seinen Mund beurteilte und verurteilte er sich selbst. Als Kierkegaard seine Laufbahn begann, schien er der freien Wissenschaft der gefahrlichste aller Denker werden zu sollen. Ein Denker von diesem Range — und zugleich ein Prediger! ein Philosoph, so groß angelegt wie keiner zuvor in Dänemark und Bischof Mynsters demütiger Bewunderer! In ihm ward die Probe auf das Exempel gemacht. Er endete damit, selber die A x t wider sein Gottesbild zu erheben. Durch ihn ward das dänische Geistesleben zu jenem äußersten Punkte hingedrängt, von wo ein Sprung geschehen muß, ein Sprung in den schwarzen Abgrund des Katholizismus hinab, oder hinüber auf die Landspitze, von der die Freiheit winkt. 3 8 36 37 38

III 5, 573. Μ 192. G. Brandes, Kierkegaard und andere skandinavische Persönlichkeiten, Dresden, 1924, 430 f. Die Abhandlung über Kierkegaard stammt aus dem Jahre 1877.

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Eben diesen Prozeß der inneren, ebenso ungewollt wie unbewußt vollzogenen Zerstörung des Glaubens aus der von diesem selbst geforderten und geschichtlich geförderten „intellektuellen Redlichkeit" hat Nietzsche immer wieder eindringlich beschrieben und auf den Begriff einer „Selbstaufhebung" gebracht, welcher das Christentum wie alle „grossen Dinge" — letztgültiger Interpretation und „oberster Werthe" — erlegen sei und erliegen werde. Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen „Selbstüberwindung" im Wesen des Lebens, — immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse tulisti". Dergestalt gieng das Christenthum als Dogma zu Grunde, an seiner eigenen Moral; dergestalt muss nun auch das Christenthum als Moral noch zu Grunde gehn, — wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt „was bedeutet aller Wille %ur Wahrheit?" [...] An diesem Sich-bewusstwerden des Willens zur Wahrheit geht von nun an — daran ist kein Zweifel — die Moral ψ Grunde [...]39

Brandes kannte diesen Text bei der Abfassung seines Kierkegaard-Buches natürlich noch nicht, hat ihn wohl später überlesen; er hätte sich aber vollauf durch jene These bestätigt fühlen können, — bis hinein in das Konfessionsproblem, wenn man die Zerstörung des letztlich katholischen Dogmas und eines entsprechend fixierten Gesetzes einer protestantischen Redlichkeit zuschreibt, welche ihrerseits dem Willen zur Wahrheit einer nicht mehr legitimierbaren und daher nicht mehr limitierbaren Forderung — Kierkegaards „Suspension des Ethischen" — erliegt. Allerdings vergißt Nietzsche ausdrücklich zu erwähnen, daß lediglich der absolute Anspruch „oberster" Werte und Wahrheiten der inneren Aufhebung einer heteronomen „Sklavenmoral" erliegt, so daß das letzte Wort des „Willens zur Wahrheit" eigentlich nicht der „unbedingte redliche Atheismus", sondern der menschlich bedingte, autonome Agnostizismus wäre, welcher sich den „Rest" des Absoluten im ermäßigten Ideal bewahrt. Der unbedingte redliche Atheismus [...] steht demgemäss nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, — er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit f...] 40

39

40

GM III 27; dazu die bekannte Definition, KGW VIII 9 [35], erster Text-Aphorismus der Kompilation: „Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?' was bedeutet Nihilism? — daß die obersten Werthe sich entwerthen." GM III 27. Die Selbstaufhebung wird schon M, Vorrede 9, für die Moral festgestellt, FW 357 auf das Christentum angewandt.

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Bezeichnend genug wollte auch Kierkegaard, der in seinem tiefen „Respekt" dem Absoluten gegenüber weder vor dem Gehorsam Abrahams noch vor der Anklage Hiobs zurückschreckte, aber, wiederum mit Nietzsche, jegliche Konzession an eine innerweltliche Bestätigung und Betätigung des Glaubens zurückwies, die Kirche gar als eine Versammlung von „Heuchlern" und „Lügnern" verurteilte, - „nur Redlichkeit". Eine Redlichkeit, in der ihm die philosophischen Kritiker des Christentums mehr zu sagen hatten als seine theologischen Apologeten, die Leugner des Glaubens näher standen als diejenigen, die sich seinen Konsequenzen zu entziehen suchten. Ganz einfach: Ich will Redlichkeit. Ich bin nicht [...] christliche Strenge gegenüber einer gegebenen christlichen Milde. Auf keine Weise, ich bin weder Milde noch Strenge — ich bin: Menschliche Redlichkeit. 41

Mit der Andeutung einer möglichen Koinzidenz von Kierkegaard und Nietzsche eröffnet Brandes eine lange Reihe von Forschern, welche, wie schon der vorn genannte dänische Zeitgenosse Harald Höffding, vor allem aber Jaspers und Löwith, sowie andere Existentialphilosophen, dieses Thema in seiner religionsphilosophischen Bedeutung gesehen und untersucht haben; zuletzt auch noch der hier Vortragende, der damit wenigstens einen halbjüdischen Beitrag zum Titel dieser Tagung bieten kann. 42 Es läßt sich nämlich explizit nachweisen, daß und wie Kierkegaard die von Nietzsche ineins historisch und „logisch" entdeckte, womöglich erfahrene Selbstauflösung des Glaubens unvermerkt und in ihrem letzten Schritt ungewollt vollzogen hat, — in dem zentralen Lehrstück seiner „Stadienlehre". In dieser Nachzeichnung der „Glaubensbewegung" soll der Aufstieg aus der romantischen Verzweiflung des „Ästhetikers", dessen Nihilismus Nietzsche sehr nahe steht, in das christlich-religiöse Endstadium eines verzweifelten Glaubens hinaufführen. Aber der Aufstieg erweist sich als zirkuläre Destruktion, wenn man bedenkt, daß er lediglich aus der zeitlichen Zerrissenheit des Unglaubens in die zerrissene Zeitlichkeit eines paradox-dialektischen Glaubens führt; kann im ersten Stadium die leere Zeitlichkeit nur im Taumel eines momentanen Genußlebens (Don Juan) bewältigt werden, so muß der Religiöse sich mit den Aufschwüngen im „Augenblick" geglaubter Begegnung mit dem Absoluten begnügen. Dazwischengeschaltet sind zwei weitere Stadien, in denen eine Synthese von zeitlicher und ewiger Orientierung, als Bestätigung gleichsam einer gelungenen Lebensbewältigung im Glauben, angestrebt wird; zunächst in der bürgerlichen Christlichkeit des „Ethikers", später in der christlichen Dialektik der „Religiosität A", die noch einmal den Glauben in der „Wohnstube" praktizieren soll. 41 42

Sören Kierkegaard, Der Augenblick, Düsseldorf/Köln, 1959, 44 (Diederichs-Ausgabe). G.-G. Grau, Die Selbstauflösung des christlichen Glaubens. Eine religionsphilosophische Studie über Kierkegaard, Frankfurt/M., 1963.

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Doch erliegt das ethische Stadium der inneren Destruktion seiner allzu naiv betriebenen doppelten Wahrheit, während die dialektische Religiosität an der Entdeckung scheitert, daß die „ewige Seligkeit" auf ein „Historisches" gegründet werden soll, „was nur entgegen seinem Wesen historisch werden kann, also kraft des Absurden". 43 Wenn dann schließlich dem redlichen Gläubigen gleichermaßen das katholische „Kloster" wie sein lutherisches „Korrektiv" versagt ist, aber auch weder ein kirchlicher Ablaß noch ein evangelischer „Freimut" gestattet werden darf, dann vollzieht der radikale Glaube mit der logischen die historische Destruktion seiner Religiosität, welche, auf das Ende der Geschichte gegründet, entweder das geschichtliche Leben desavouieren oder ihren Anspruch ermäßigen muß. 44 Nicht zufällig koinzidiert denn auch Kierkegaards Feststellung, das Christentum sei in der historischen, auf die Geschichte nicht sowohl ausgerichteten als angewiesenen Christlichkeit „gar nicht vorhanden", mit der Behauptung Nietzsches, wonach das historische Christentum die genuine Religiosität seines Urhebers — sei es in einer säkularisierten Christlichkeit, sei es in der un-seligen Fassung völliger Lebensverneinung — verraten habe. Und Brandes konnte mit Recht darauf verweisen, daß man an seinem theologischen Landsmann — der „beständig selbst zertrümmern mußte, was er mehr als irgend ein anderer bewundert und vergöttert hatte" — genau bestätigt finden könnte, was Nietzsche ausdrücklich als einen Vollzug der Selbstauflösung konstatiert hat, daß nämlich gerade „Die, welche sich gerade am meisten bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten [...] seine besten Zerstörer geworden" sind. 45 Eine Behauptung, welche in diesem Falle nicht einmal auf die Deutschen zu beschränken, sondern dem überhöhten Anspruch zuzuschreiben wäre, dessen rational nicht fesdegbare Forderung die Sinngebung in ihr Gegenteil verkehren würde, die Moral zur „Sklaven-Moral" entarten ließe, — dessen Revision indes eine skeptisch-religiöse Redlichkeit ermöglichen könnte, welche die Antwordosigkeit aushält, aber das Fragen nicht läßt, Moralität behauptet, ohne den Menschen zu ihrem Sklaven zu machen. Sollte dies — zwischen Gehorsam und Auflehnung (Kierkegaard), Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Nietzsche), Politik und Poesie (Brandes) — heute etwa der (halb-) jüdische Weg sein?

43 44 45

S. Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift, Düsseldorf/Köln, 1958, II 173, 291 ff. G.-G. Grau, Kritik des absoluten Anspruchs, Würzburg, 1993, 52 f. FW 358; G. Brandes, op.cit. (Anm. 38) 280.

CHRISTOPH SCHULTE

Nietzsches Entartung 1892 Max Nordau als früher Nietzsche-Kritiker Nietzsches Entartung 1892? Aber Max Nordau hat doch den zweiten Band seines Buches Entartung, in dem Nietzsche und sein Werk als „entartet", d. h. als geisteskrank attackiert werden, erst 1893 publiziert, mögen die Nordau-Kenner hier einwenden. Der erste Band von Entartung war vom Verlag Duncker Ende Oktober oder Anfang November 1892 ausgeliefert worden; schon Mitte November erscheinen die ersten Kritiken in deutschen Zeitungen. Zu diesem Zeitpunkt schrieb Nordau jedoch schon am zweiten Band, der das NietzscheKapitel enthält, welches uns hier beschäftigen soll und welches eine der frühesten Nietzsche-Kritiken von jüdischer Seite und auch aus einer jüdischen Perspektive enthält. Die Niederschrift dieses zweiten Bandes ist Ende März oder Anfang April 1893 abgeschlossen, Nordau hat sonach die über 500 Druckseiten dieses Bandes von Entartung, darunter das lange Nietzsche-Kapitel von über 90 Seiten, in weniger als einem halben Jahr zu Papier gebracht, parallel zu seiner Berufsarbeit als politischer Korrespondent der Berliner Vossischen Zeitung in Paris, an die er täglich zweimal die neuesten Berichte schicken mußte, und parallel zu seiner Tätigkeit als Frauenarzt und Geburtshelfer im 17ieme arondissement von Paris, die ihn wegen Entbindungen oft nachts nicht zum Schlafen oder zum Schreiben kommen ließ. Nordaus Nietzsche-Kritik, das ist nicht unwichtig für ihr Verständnis, entsteht wie fast alle der ungezählten schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten Nordaus in Paris, jener kulturellen Metropole des Fin de siecle und „Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts" (Walter Benjamin). Das alles wissen wir aus dem langen Briefwechsel Nordaus mit seinem besten Pariser Freund, Eugen von Jagow (1849—1905), der unveröffentlicht im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem aufbewahrt wird. Dort liegen über 300 Briefe Nordaus an Jagow, die Gegenbriefe sind anscheinend verloren gegangen. 1 Eugen von Jagow war, das gehört ebenfalls zum Verständnis von Nordaus Ent1

Zionistisches Zentralarchiv Jerusalem, Signatur A 119/283. Die Briefe sind zwischen 1886 und 1900 geschrieben.

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artung, ein verarmter preußischer Bilderbuch-Junker, Hugenotte mit sorbischem Namen, Reserveleutnant bei den kaiserlichen Garde-Ulanen in Potsdam, Kriegsteilnehmer 1870/71, ein guter Pianist und ein schlechter, aber ambitionierter Theater-Autor, der in Paris seinen literarischen Neigungen nachging und seinen Lebensunterhalt, man höre und staune, als Paris-Korrespondent der Kreuz-Zeitung verdiente, des ultrakonservativen und antisemitischen Hausorgans der ostelbischen Junker. 2 Das tat der engen Freundschaft zwischen ihm und dem späteren Zionisten Nordau offensichtlich keinen Abbruch, übrigens auch nicht nach Nordaus Wendung zum Zionismus in den Jahren 1895/96. Eugen von Jagow war der erste Leser von Entartung, denn er bekam zwecks Korrektur die Fahnen zu lesen. Und wir können, was bedeutsamer ist, nach dem Briefwechsel der beiden annehmen, daß er auch als Nordaus impliziter oder imaginärer Leser beim Konzipieren und Abfassen von Entartung gelten muß. An Jagow schreibt Nordau am 30. März 1893, offensichtlich nachdem dieser das Nietzsche-Kapitel in den Fahnen gelesen hatte: Ihre Meinung von den Kapiteln die Sie kennen, hat mich sehr gefreut, beruhigt und ermuthigt. Ich habe nämlich überhaupt kein Urteil über das Zeug und schreibe gleichsam nur noch automatisch, aus der Erinnerung an meine eigenen, früher gebildeten Gedanken heraus. Ich bin im letzten Buche und hoffe in 4 — 5 Tagen fertig zu sein. Nietzsches Krankheit ist heroische Manie (exaltation maniaque, jetzt dementia finalis).3

Diese Briefstelle verrät uns mehrerlei. Zum einen beschreibt Nordau hier beinahe einen Vorgang von ecnture automatiqm. In dem Erschöpfungszustand, in dem er sich nach der Schreibarbeit von Monaten befindet, schreibt sein Unbewußtes sozusagen mit. Er bekennt jedoch auch, daß er das Buch schon 1892 konzipiert hatte. Tatsächlich enthält ja der einleitende Teil des ersten Bandes von Entartung mit dem programmatischen Titel Fin-de-siecle sehr weitgehend die Kriterien, Ursachen und die Epochenbezeichnung jener Krankheit „Entartung", die der Arzt, Kritiker und Journalist Max Nordau als die symptomatische Geisteskrankheit von Künsdern und Philosophen des Fin de siecle diagnostiziert. Sein Urteil über diese hatte Nordau sich schon früher gebildet, das Schreiben des Buchs hat nun Züge einer Exekution früher gefaßter Gedanken in den Formen gekonnter Polemik. Nordau arbeitete überdies schon im Wagner-Kapitel des ersten Bandes von Entartung mit den beiden Wagner-Schriften Nietzsches, vermutlich war also auch die Nietzsche-Lektüre schon 1892 abgeschlossen.

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Zur Biographie Eugen von Jagows vgl. einen Brief seines Sohnes Clemens von Jagow von 1960 im Zionistischen Zentralarchiv Jerusalem, Signatur L 33/972. Brief Nordau-Jagow, Paris, 30.3.1893, Zionistisches Zentralarchiv Jerusalem, Signatur A 1 1 9 / 283, Brief Nr. 116.

Nietzsches Entartung 1892

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Schließlich zeigt der Hinweis auf Nietzsche und seine Krankheit „heroische Manie" oder „maniakalische Exaltation", ein Fachbegriff aus Krafft-Ebings Lehrbuch der Psychiatrie, auf welches Nordau im Nietzsche-Kapitel von Entartung hinweist,4 daß Nordau die Diagnose von Entartung in keiner Weise metaphorisch meint, sondern sie als Diagnose sowohl Nietzsches als auch anderer Künstler und Denker des Fin de siecle medizinisch ebenso wie weltanschaulich bitterernst nimmt. Hier erklärt er sich über Nietzsches Krankheit, ohne, was ein Arzt sollte, den Patienten je gesehen zu haben. Aber darin war ihm ja der berühmte italienische Psychiater und Nordau-Freund Cesare Lombroso, dem Entartung gewidmet ist, in seinem Buch Genio efollia vorangegangen.5 Er hatte zuerst mit dem GenieKult des Sturm und Drang und der Romantik dadurch gebrochen, daß er behauptete und an Fallbeispielen verstorbener Künsder zu zeigen versuchte, daß Genie und Wahnsinn bei Künstlern sich nicht ausschließen, sondern nahe beieinander liegen, wenn nicht bisweilen zusammenfallen. Mit dem europäischen Erfolg von Lombrosos Büchern ging eine Ent-Auratisierung des künstlerischen Genius einher. Das ist ein Stück sozio-kultureller Vorgeschichte von Entartung. Diese Ent-Auratisierung von Genie und Werk gründete schon bei Lombroso auf Diagnosen, die auf dem Werk, nicht auf der Kenntnis der Person oder nunmehr des ,Patienten' beruhen. Im Jahr 1892 wußte die Öffentlichkeit nichts von der tatsächlichen Diagnose der Krankheit Nietzsches. Nordau weiß auch nicht mehr, als er in Entartung schreibt, nämlich daß Nietzsche „nunmehr seit Jahren als unheilbar Wahnsinniger in der Anstalt des Professor Binswanger in Jena lebt, ,der rechte Mann am rechten Platz'."6 Um die tatsächliche Krankheit Nietzsches geht es Nordau allerdings letztlich nicht. Er macht diese Bemerkung über Nietzsches Unterbringung in einer Anstalt drei Jahre nach dessen Zusammenbruch in Turin erst, nachdem er schon auf über 50 Buchseiten von Entartung über dessen Werk hergezogen ist. Aus diesem Werk schließt Nordau auf den Geisteszustand des Autors: „maniakalische Exaltation".7 Der tatsächliche Geisteszustand Nietzsches erscheint als Dreingabe oder allenfalls als bestätigendes Indiz eines „entarteten" Werks, das ihm, selbst wenn Nietzsche wie die meisten anderen der von Nordau so klassifizierten „Entarteten", etwa Wagner, Ibsen oder Zola, nicht Insasse einer Heilanstalt gewesen wäre, als Ausdruck und Produkt eines kranken Hirns erschienen wäre.

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5 6 7

Richard von Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie, Stuttgart, 4 1890; Nordau zitiert dieses Buch in: Max Nordau, Entartung, Bd. II, Berlin, 1893, 337 (im ff. zitiert: Entartung II 337). Cesare Lombroso, Genio e follia, Turin, 1864; deutsch: Genie und Wahnsinn, Leipzig [1887]. Entartung II 327. Entartung II 337.

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Wenn Nordau also auf der Höhe der neuesten psychopathologischen Literatur seiner Zeit und deshalb mit wissenschaftlichem Anspruch daran geht, im Rundumschlag fast die gesamte Avantgarde-Kunst des Fin de siecle als „entartet" zu brandmarken, so geschieht dies auf drei Ebenen: Zunächst wird das Werk der Kritik unterzogen. Vom „entarteten" Werk schließt Nordau dann einerseits auf den Geisteszustand des Künstlers zurück. Ist dieser Künstler tatsächlich in psychiatrischer Behandlung gewesen, wie die „Entarteten" Nietzsche, Baudelaire oder Verlaine, haben Kollegen die Diagnose gestellt, und dieser Rückschluß vom Werk auf den Geisteszustand wird durch ein billiges argumentum facti bestätigt: Das Werk ist irre, weil der Künstler tatsächlich irre war. Und schließlich werden nach Werk und Künstler, drittens, auch das Publikum und jene Kritiker für „entartet" erklärt, welche diese Werke schätzen. Hier liegt ein Rückschluß von der Entartung des Werks zur Entartung der zustimmenden Rezipienten vor, den es so bei Lombroso noch nicht gab 8 : Nordau erklärt sogar das Publikum solcher „entarteter" Werke für verrückt, zumindest für von Entartung bedroht und gezeichnet. „Der Degenerierte kann ein Genie sein", schreibt er im Einklang mit Lombroso, er sei es jedoch meistens nicht. 9 Die Nachahmer oder Claqueure der Degenerierten seien in jedem Fall Hysteriker oder Neurastheniker. 10 Daß dies alles in sich selbst widersprüchlich ist und daß dies nicht zusammenstimmt mit der „Aetiologie" von Entartung, als deren zentrale Ursache Nordau das moderne Großstadtleben bestimmt, welches auf Dauer die menschlichen Nerven überfordert, die natürlichen Instinkte und Lebensformen pervertiert und so zu erblicher Geistesschwäche führt 11 — all dies ist allzu durchsichtig und leicht als unsinnig oder als inkohärent oder als bloß dem Zeitgeist verpflichtet abzutun. Es wirkt aus heutiger Sicht so, nachdem sich durch Freud die Psychologie und Psychopathologie vollkommen geändert haben. Aber vor Freud waren sich die Psychiater mehrheitlich über diese Aetiologie nervöser Erkrankungen einig. Erst recht gewaltsam erscheint uns heute Nordaus Diagnose einer psychopathologischen Entartung der Avantgarde-Kunst und -Künsder, weil nach dem Ersten Weltkrieg die von Nordau so diskriminierte Kunst des Fin de

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Lombroso beschränkt sich in Genio e follia auf die Analyse von Werk und Biographie einzelner „Genies". Er hat im übrigen die verallgemeinernde Entartungs-Diagnose Nordaus in einem Brief an Nordau kritisiert und schrieb zu dessen Polemik gegen Wagner, Ibsen und Zola: „non siete giusto" (Brief Lombroso-Nordau, Turin, 12.5.1893 im Zionistischen Zentralarchiv Jerusalem, Signatur A 116/120/16). Diese Differenzen haben die enge Freundschaft zwischen Lombroso und Nordau nicht gestört. Nordau gewann Lombroso später für den Zionismus, und beide verbrachten 1908 und 1909 samt Familie den Sommerurlaub gemeinsam. Entartung I 32. Entartung I 48. Vgl. Entartung I 6 3 - 7 9 .

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siecle unter neuen historischen und sozialen Umständen als herrschende sich durchsetzte und bis heute unseren Kunstkanon bestimmt. Aber wenn wir Nordaus Sichtweise einfach nur als unsinnig abtun, bekommen wir nicht in den Blick, daß und warum Nordau in seiner Epoche einer der berühmtesten europäischen Kritiker und Intellektuellen war, der mit Entartung wieder ein auflagenstarkes, sehr erfolgreiches Buch hervorgebracht hatte, das binnen weniger Jahre in alle großen europäischen Sprachen übersetzt war, weil es die Widerstände des liberalen, fortschrittsoptimistischen Bürgertums gegen die als dekadent verschrieene Avantgarde-Kunst des Fin de siecle zum Ausdruck brachte. Vor allem jedoch übersehen wir, wenn wir Nordau als einen eingebildeten Arzt einer eingebildeten Krankheit mit dem eingebildeten Namen „Entartung" betrachten, was die originäre und originelle Leistung Nordaus war. Nordau war nämlich der erste Autor, der die neuesten Ergebnisse der zeitgenössischen Psychopathologie, der Werke Lombrosos, Morels, Charcots, Bernsteins, Janets, Krafft-Ebbings, Ribots und anderer, einer Psychopathologie, die sich gerade erst als Wissenschaft konstituiert hatte und sich in der zweiten Jahrhunderthälfte allmählich nicht nur innerhalb der medizinischen Fakultäten, sondern auch gegenüber der Rechtswissenschaft, der Philosophie und Theologie universitäre und gesellschaftliche Geltung erstritten hatte 12 , zum ersten Male nicht auf Individuen, sondern allgemein auf Kunstwerke und Kultur angewandt hat. Und dies Jahrzehnte bevor Freud ähnliches unter anderen Prämissen und mit anderen Ergebnissen getan hat, also lange bevor es durch Freud für uns ganz ,normal' wurde, die Kultur als Ganze psychopathologisch zu betrachten. 13 Diese Perspektive ist zwischenzeitlich so gängig geworden, daß uns die Nordausche Innovation in der Kulturkritik nicht einmal mehr auffällt. 14 Entartung artikuliert auf dem Stand der seinerzeit aktuellsten psychopathologischen Literatur, aus der Nordau Dutzende von Werken zitiert, das liberale, bürgerliche Unbehagen an der Avantgarde-Kunst des Fin de siecle. Dabei ist dieses Buch mehr als Kunstkritik, es pathologisiert diese Kunst und diese Künstler. Nietzsche ist nur eines, wenn auch ein herausragendes Opfer dieser Pathologisierung. Bevor wir uns dem Sachgehalt von Nordaus pathologisierender Nietz12 13

14

Vgl. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Zürich, 1985. Vgl. Christoph Schulte, „Le psychiätre et la critique de la culture: Max Nordau", in: Gabrielle Sed-Rajna (Hg.), Rashi 1040- 1990. Congres europeen des Etudes Juives, Paris 1993, 8 0 7 - 8 1 5 . Erzvater der modernen Dekadenz-Theorien ist Rousseau. Auch Nietzsche gebraucht Begriffe wie Entartung, Degeneration und vor allem decadence sehr häufig. Die spezifische Differenz seiner Begrifflichkeit zu der Nordaus liegt m. E. darin, daß Nietzsche (ζ. B. Gefühle wie Ressentiment) psychologisch analysiert und argumentiert, während Nordau die Entartung psychopathologisch und psychiatrisch konzipiert. Bei Nietzsche bleibt das Arztliche, Therapeutische insgesamt eher metaphorisch, bei Nordau wird, auch im Rückgriff auf die psychiatrische Literatur, ernst gemacht. Unübersehbar ist, daß für Nietzsche die Dekadenz mit der ganzen Geschichte des Christentums verbunden ist, während für Nordau Entartung eine Zeitkrankheit ausschließlich des 19. Jahrhunderts ist.

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sche-Kritik zuwenden, wie das Steven E. Aschheim vor zwei Jahren einmal vergleichend getan hat,15 möchte ich die Implikationen von Nordaus Versuch näher beleuchten, um besser erklären zu können, warum Nordaus Entartungs-Kritik trotz der entrüsteten Reaktion der meisten Intellektuellen und Kritiker auf sie16 beim Großteil der Leser offensichtlich, das zeigen die Verkaufserfolge, als so durchaus plausibel akzeptiert werden konnte. Denn Nordau appelliert erfolgreich an das wohlsituierte mittlere und Kleinbürgertum, das er von seiner Entartungsdiagnose ausdrücklich ausnimmt17, während er die „oberen Zehntausend" als degeneriert attackiert.18 Erst nach Analyse dieser pathologisierenden Kulturkritik Nordaus möchte ich mich dann dem Umstand zuwenden, daß Nordau wohl als der erste prominente jüdische Nietzsche-Gegner gelten muß, obwohl er seine Nietzsche-Kritik gerade nicht als Jude, sondern als europäischer Intellektueller schrieb.

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George L. Mosse hat wiederholt darauf hingewiesen, daß wir Nordau als Vertreter des main stream, eines fortschrittsoptimistischen liberalen Bürgertums betrachten müssen, wie vergangen, vergessen, veraltet oder gar unsinnig uns seine Position heute auch erscheinen mag.19 In seiner Epoche ist Nordau repräsentativ für, wie Windelband es nannte, „Normalbewußtsein".20 Und das in einem ganz spezifischen Sinn, denn „normal" ist für dieses Normalbewußtsein, daß alles von der Norm Abweichende „pathologisch" ist. Normal ist, daß im Diskurs des bürgerlichen Normalbewußtseins die Dichotomie von Normal vs. Pathologisch die von Wahr und Falsch überlagert, wenn nicht abgelöst hat. Und dies gilt nicht nur für die Psychopathologie, auf die sich Nordau beruft, dies gilt in gleichem Maße für die gesamten positiven Wissenschaften, allen voran Biologie, Medizin und Soziologie. Wie Georges Canguilhem, nicht nur darin der akademische Lehrer von Michel Foucault, in seinem Buch Le normal et le patbologique 15

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Steven E. Aschheim, „Max Nordau, Friedrich Nietzsche and Degeneration", in: Journal of Contemporary History, 28 (1993), 6 4 3 - 6 5 7 . Milton Painter Foster, The Reception of Max Nordau's Degeneration in England and America, Ph. D. University of Michigan 1954, verzeichnet allein die über 200 angloamerikanischen Reaktionen auf Nordaus Entartung. Am berühmtesten ist wohl das sarkastische Büchlein George Bernard Shaws, The Sanity of Art An Exposure of Current Nonsense about Artists being Degenerate, London, 1908. Entartung 1 1 3 . Entartung I 5 f. Vgl. George L. Mosses Einleitung in die neue Ausgabe von: Max Nordau, Degeneration, New York, 1968, XIX—XXI; sowie: George L. Mosse, „Max Nordau, Liberalism and the New Jew", in: Journal of Contemporary History, 27 (1992), Heft 4. Zum „Normalbewußtsein" im Neukantianismus s. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/M., 1986, 419 ff.

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gezeigt hat, nimmt die Karriere der Dichotomie von Normal vs. Pathologisch ihren Ausgang von Auguste Comtes Cours de philosophie positive (1830 — 42) und wird für den gesamten Positivismus des 19. Jahrhunderts prägend.21 Galt zunächst in der Biologie und der Medizin das von der eo ipso ,gesunden' Norm Abweichende als Krankheit und damit pathologisch, so wird diese Unterscheidung bald auch auf soziale, zuletzt dann auf künsderische und intellektuelle Phänomene angewendet. Entartung ist innerhalb solcher Taxinomie eine Unterform des Pathologischen. Nordaus Wahl des Begriffs, der sich an den französischen Diskurs über psychopathologische degenerescence seit Morel22 anschließt, zeigt überdies an, daß die Evolutionslehre Darwins Teil des positivistischen Normalbewußtseins geworden ist. Entartung ist der pathologische Gegenbegriff zur .gesunden' Norm der Evolution, die im Kampf ums Dasein das Gesunde überleben und das Pathologische der Selektion zum Opfer fallen läßt. Ganz folgerichtig sagt Nordau im Sinne des Darwinismus das .natürliche' Aussterben der Entartung durch Selektion innerhalb weniger Generationen voraus, auch ohne das Zutun seiner eigenen Kritik, die diesen natürlichen Prozeß nur ins Bewußtsein heben und beschleunigen helfen kann.23 Ein Diskurs mit Folgen: Gilt Rationalität als Norm und gesund, ist Irrationales und schon Falsches pathologisch, gelten Fortschritt und Evolution als wissenschaftlich gesicherte Norm, ist Dekadenz oder Pessimismus pathologisch, gilt Aufklärung als Norm, ist Mystik oder Esoterik pathologisch, gilt Universalismus als Norm, sind Aristokratismus und Elitismus pathologisch, gilt irgendeine bürgerliche Arbeitsethik oder Wohlanständigkeit als Norm, sind Faulheit, freie Sexualität oder Drogenkonsum pathologisch, gilt die Erbaulichkeit des Schönen als der relevante und gewollte soziale Nutzen von Kunst, sind eine Ästhetik des Häßlichen oder auch l'artpour l'art pathologisch.24 In Max Nordaus Entartung finden wir diesen Diskurs des liberalen, bürgerlichen Normalbewußtseins auf die Spitze getrieben. Jene bis ins Absurde verfolgte Konsequenz, daß fast sämtliche uns heute als kanonisch geltende Kunst des Fin de siecle als entartet klassifiziert werden muß, folgt streng aus der Logik des Pathologisierungsdiskurses.25 Nordau hatte schon in seinen früheren Werken 21

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Georges Canguilhem, Le normal et le pathologique, Paris, 2 1975; zum Positivismus in Frankreich vgl. Donald Geoffrey Charlton, Positivist Thought in France during the Second Empire 1852— 1870, Oxford, 1959. Benedict Augustin Morel, Tratte des degenerescencesphysiques, intellectuelles et morales de l'espece humaine, Paris, 1857. Entartung I 32; II 5 4 2 - 5 4 5 . Zur Ästhetik des Häßlichen im 19. Jahrhundert, auch bei Nietzsche, vgl. Christoph Schulte, „Über die ästhetische Rechtfertigung der Übel in der Welt", in: Zeitschriftfur Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 24/1 (1989), 5 - 2 7 . Zur „pathologisierenden Kunstkritik" des 19. Jahrhunderts vgl. Thomas Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur, Stuttgart, 1989, 3 3 - 5 2 .

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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit (1883) und Paradoxe (1885) seine von ihm so genannte „naturwissenschaftliche Weltanschauung" breit entwickelt. 26 Sie setzt als ,gesunde' Normen und Eckwerte einer weltanschaulichen Mischung aus Positivismus, naturwissenschaftlichem und weltanschaulichem Monismus, Evolutionstheorie und bürgerlicher Arbeitsethik: die Lebenstüchtigkeit des Individuums im Kampf ums Dasein, die evolutionsinhärente, unendliche Entwicklung der menschlichen Gattung zu mehr Rationalität und Wissen sowie eine utilitarismusnahe Ethik des Strebens nach dem größten Glück für die größte Zahl im Evolutionsprozeß. 27 Was hiervon abweicht, wird dann in Entartung konsequent pathologisiert: Kunst, Künsder, Publikum. Es bedarf der oft an den Haaren herbeigezogenen Krankheitsbilder nicht, die Nordau in Entartung zahlreich aus der psychopathologischen Fachliteratur zitiert, um gut positivistisch dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit seiner Polemik zu genügen: Welche Kunst immer entweder decadent oder fortschrittspessimistisch oder religiös-esoterisch (sprich: nicht-wissenschaftlich und nicht-empirisch) oder elitär-aristokratisch optiert, welche Kunst immer das Lob des Rausches und der Droge, der Muße und der Wenigen singt, welche Kunst immer das Individuum jenseits aller Moral oder über den gesellschaftlichen Nutzen stellt, einer Ästhetik des Häßlichen gehorcht oder gar nur um ihrer selbst willen existieren will — all dies verstößt gegen die Werte der naturwissenschaftlichen, evolutionistischen und utilitaristischen Weltanschauung des Normalbewußtseins und wird von Nordau folgerichtig pathologisiert. Dabei hat Nordau in Einzelpunkten seiner Kritik häufig recht: Es war, wie stets, längst nicht alles ästhetisch gelungen, was sich da als Avantgarde-Kunst präsentierte; nicht jedes Gedicht, Buch oder Theaterstück auch der heute Berühmten hält der Kritik stand. Aber Nordau beläßt es ja nicht bei Kritik, sondern verfährt in seiner Pathologisierungsstrategie so wahllos, daß wir Leser uns bisweilen nicht des Eindrucks erwehren können, daß die Avantgarde-Kunst als solche für entartet erklärt wird, weil sie als Avantgarde-Kunst per definitionem von der Norm des hergebracht Schönen, Wahren und Guten abweicht. Nietzsches .Entartung' steht sonach in einer stolzen Reihe mit den Präraphaeliten, den Parnassiens und Symbolisten (von deren Wirken in Paris Nordau übrigens überragende, noch heute interessant zu lesende literaturhistorische Detailkenntnisse besitzt), Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Huysmans, Mallarme, Flaubert, Wagner, Ibsen, Wilde, Zola, Tolstoi und anderen. Honni soit qui mal y pense.

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Der Begriff „naturwissenschaftliche Weltanschauung" fällt: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, Leipzig, 1883, 30. Übrigens wird, eingeschränkt auf Individuen, auch die Nomenklatur von „entartet" schon 1883 verwendet (ebd. S. 419). Affirmativ überinterpretierend zu Nordaus utilitarismusnaher „Solidaritätsmoral": Meir BenHorin, Max Nordau. The Philosopher of Human Solidarity, New York, 1956.

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II. Nach den hier dargelegten Prämissen der Taxinomie von Entartung ist es nicht überraschend, daß Nietzsche im zweiten Band ausführlich von Nordau vorgenommen wird. Kein anderer Philosoph wird auch nur annähernd so nachhaltig traktiert. Insofern hat die Abfertigung Nietzsches auch programmatischen Charakter, zumal Nordau sich der Präsenz der Werke Nietzsches bei anderen zeitgenössischen Autoren bewußt ist und er dessen Erfolg beim breiten Publikum sehr richtig antizipiert. Kurz: Nordau paßt die ganze Richtung nicht, und er bemüht sich auf fast 90 Buchseiten, Nietzsche als antimoralischen und irrationalistischen Philosophen der „Ich-Sucht" 28 zu erledigen. Das sei im folgenden gerafft vorgestellt. Der letzte und extremste Fall von Ich-Sucht im so betitelten dritten Buch des zweiten Bandes von Entartung ist Friedrich Nietzsche. Nietzsche wird wegen seines ausgesprochenen Aristokratismus und Elitismus, der gepaart ist mit einer offenen Verachtung der Massen, ihrer Unkultur und „Herdenthier-Moral", zu den Ich-Süchtigen gezählt. Aber nicht erst Nietzsches Lehren, schon sein Stil und seine Schreibweise vermitteln Nordau den „Eindruck, einen Tobsüchtigen zu hören". 29 Dem Irrenarzt sei so etwas vertraut. Er lese es, „um die Einschließung des Verfassers in eine Heilanstalt vorzuschreiben." 30 Genau so verfährt Nordau: Er seziert zunächst Nietzsches Schriften und weist nach dieser Demonstration ihrer Entartung erst 50 Seiten später darauf hin, daß Nietzsche nunmehr seit Jahren als unheilbar Wahnsinniger in der Anstalt des Professor Binswanger in Jena lebt. 31 Nordau kennt und zitiert die bekanntesten seinerzeit publizierten Werke Nietzsches; von den Frühschriften, vor allem den vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, kennt er zumindest die vierte über Wagner. Er nennt Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral, Die fröhliche Wissenschaft, Menschliches All^umenschliches, die beiden Wagner-Schriften, zusammen „ein Dutzend dikkerer oder dünnerer Bände". Aber diese Bücher „sind ein einziges Buch" 32 , denn sie sind sich zum Verwechseln ähnlich dadurch, daß sie sich durch dieselbe Schreibweise, die unzusammenhängenden Einfalle, die Selbstwidersprüche, die dogmatischen und zugleich unbegründeten Behauptungen, die „Leberreime" und Kalauer auszeichnen, den ganzen „Gedanken-Kehricht", den Nietzsche „Aphorismen" nennt. 33 Schon Nordau, der im übrigen alle Werke der zeitgenös28 29 30 31 32 33

Entartung Entartung Entartung Entartung Entartung Entartung

II II II II II II

272. 273. 274 f. 327. 277. 277 f.

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sischen Nietzsche-Konjunktur zu kennen schien 34 , bemerkt als Konsequenz dieser aphoristischen Schreibweise eine Eigenart, welche die Nietzsche-Interpreten bis heute plagt und ihre Interpretationen oft so widersprüchlich bis beliebig macht: Man könne alles mögliche Gegensätzliche aus Nietzsche herauslesen oder -kompilieren. 35 Um die „billigen Kalauer", „Neuworte", Wortspiele wie „Hinterweltler", die sinnlosen Sätze, platten Metaphern, die Assoziationsketten, das „Wortgeklapper" und die Gedankenflucht Nietzsches zu demonstrieren, zitiert Nordau ihn dann mehrfach seitenlang. Die Zitate, das ist ihre Natur, sind aus dem Kontext gerissen und vermitteln dem Leser in der Tat den Eindruck, in Nietzsche den Autor von grauenhaftem Unsinn und Kitsch vor sich zu haben. Dieses Verfahren mag uns fragwürdig erscheinen, gerade in seiner Beliebigkeit, aber wie Nordau richtig bemerkte, bietet sich Nietzsches sentenziöse, aphoristische, bisweilen lyrisch überhitzte Schreibweise dafür geradezu an. Auch das Ergebnis solcher Text-Montage durch Nordau entspricht genau dem, was er selber als das Schicksal aller Nietzsche-Interpretationen so richtig prognostiziert hat: Noch das Gegensätzlichste läßt sich aus Nietzsches Figur und seinen Schriften heraus- oder in sie hineininterpretieren: Ein einsamer Heros, Heiland und Märtyrer des Geistes, ein Prophet der Postmoderne oder der blonden Bestie, ein Volksdemokrat oder massenverachtender Geistesaristokrat. Oder, wie bei Nordau, ein Größenwahnsinniger und Irrer. Im Gegensatz zum Schreibstil Nietzsches attackiert Nordau die Inhalte nur an wenigen, aber entscheidenden Punkten. Zunächst nimmt er sich der aristokratischen „Herrenmoral" Nietzsches an, wie sie in der Genealogie der Moral (1887) und anderen Schriften sich findet. Nordau referiert Nietzsches Schilderung des Niedergangs aller aristokratischen Werte nach dem jüdischen „Sklaven-Aufstand der Moral" 36 , der, übernommen und verstärkt durch das Christentum, eine „Herdenthier-Moral" der Massen inthronisiert habe, die mit ihrem Ressentiment gegen alles Starke, Grausame und Rücksichtslose, mit ihrer Ethik des Mideids, des Gewissens, der Liebe und Schwäche im Abendland herrschend geworden sei. Nietzsche wolle wieder eine Herrenmoral der Elite und Aristokraten, nicht die Sklavenmoral der Massen und „Herden-Thiere", ihm liege am „Wohl der Wenigsten", nicht am „Wohl der Meisten". 37 Das steht natürlich im Gegensatz 34

35 36 37

Er nennt: Hugo Kaatz, Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches, Dresden/Leipzig, 1892; Max Zerbst, Nein und Ja!, Leipzig, 1892; Robert Schellwien, Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Leipzig, 1892; Ola Hansson, Das junge Skandinavien. Vier Essays, Dresden/Leipzig, 1891; ACTS., Materialismen i skon litteraturen, Stockholm, o.J.; Albert Kniepf, Theorie der Geistesmrthe, Leipzig, 1892; Kurt Eisner, Psychopathia spiritualis, Leipzig, 1892; der Name, wenn auch kein Buch-Titel, von Georg Brandes fallt ebenfalls. Entartung II 279. Entartung II 282. Entartung II 286.

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zu Nordaus eigener, utilitaristischer Solidaritätsmoral, die eben das Wohl der meisten im Auge hat, und wird von Nordau als irre Ich-Sucht abgetan. Vor allem aber kritisiert Nordau Nietzsches tatsächliche Genealogie der Moral als wissenschaftlich nicht haltbar. Die Vorstellung von der Ursprünglichkeit der aristokratischen Herrenmoral sei historisch ebenso falsch wie die von der Erfindung des moralischen Ressentiment durch „die Juden". Was meint „Israel" bei Nietzsche eigentlich, fragt er polemisch: Ein Volk, ein Parlament, ein Amt, einen Herrscher? Das sei alles falschen Vorstellungen und Klischees verhaftet, so wie die Vorstellung von „den Juden" als handelndem Geschichtssubjekt, die aus berechnender Rache vorsätzlich das antiaristokratische Ressentiment erfinden. Auch Nietzsches Bild von den Juden nennt Nordau „Wortgeklapper", „Irrsinn", „Wahnsinn".38 Gegen Nietzsches Versuch einer Restitution der Herrenmoral von Stärke, Härte, Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit sammelt Nordau eine zweite Gruppe von Argumenten. Die blonde Bestie sei doch nur den Germanen der Völkerwanderungszeit abgeguckt 39 , die Verklärung von Grausamkeit zu einer Quelle von Lust und Lebensbejahung gelte klinisch als „Sadismus", wie ihn Krafft-Ebing in seiner Psychopathia sexualis (1886) erstmals wissenschaftlich benannt und analysiert habe. „Die wirkliche Quelle der Lehre von Nietzsche ist also sein Sadismus." 40 Daß Nietzsches Herrenmoral so viele Bewunderer in Deutschland gefunden habe, erklärt Nordau in einer bitteren Volte gegen das von Bismarck geprägte Gründerzeit-Deutschland sozialpsychologisch: Nietzsches Grundgedanke der Rücksichtslosigkeit und viehischen Verachtung aller fremden Rechte, so weit sie einer selbstsüchtigen Begierde im Wege stehen, muß das Geschlecht anheimeln, das unter dem Bismarckschen System herangewachsen ist. Fürst Bismarck ist eine ungeheure Persönlichkeit, die über ein Land hinwegrast wie ein Wirbelsturm [...]: sie zermalmt Alles in ihrem delirierenden Laufe und läßt eine weite Vernichtung der Charaktere, Verwüstung der Rechtsbegriffe und Zertrümmerung der Sittlichkeit als Spur zurück. Das System Bismarck bedeutet im Staatsleben eine A r t Jesuitismus im Küraß. „Der Zweck heiligt die Mittel" [...]. Bei seinem Urheber hat dieses System der ältesten Barbarei immerhin eine gewisse Größe [...]. Bei den Nachahmern hingegen verkrüppelt es zur „Schneidigkeit" [...]. Die „Schneidigen" erkennen sich dankbar in Nietzsches „Uebermenschen" wieder und Nietzsches sogenannte „Philosophie" ist tatsächlich die Philosophie der „Schneidigkeit". Seine Lehre zeigt, wie das System Bismarck sich im K o p f eines Tobsüchtigen spiegelt. 41

38 39 40 41

Entartung Entartung Entartung Entartung

II II II II

283 u. 289. 290. 324 ff. 353 f.

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Nietzsches Programm einer Überwindung der Massengesellschaft und des Nihilismus durch den Ubermenschen, so der dritte inhaltliche Punkt Nordaus gegen ihn, sei selbstwidersprüchlich und verdanke sich dem Umstand, daß Nietzsche sich selbst nicht verstehe: Nietzsche könne nicht einerseits behaupten „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt" und zugleich die Wahrheit seines Ideals einer Herrenmoral oder eines Ubermenschen reklamieren oder deklamieren. 42 Nietzsches Individualismus und Einsamkeitspathos sei aus Stirners Der Einzige und sein Eigentum (1844) abgekupfert, sein vorgeblich moralfreier Wille zur Macht ein Derivat des Willens zum Leben aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1818). Das alles sei schlechter, wenn auch populärer Zeitgeist: „Wer aber Nietzsche im Zusammenhange mit den gleichartigen Zeiterscheinungen betrachtet, der erkennt, daß seine angeblichen Neu- und Kühnheiten schmierigste Gemeinplätze sind." 43 Auf die „Tatsache des Irreseins" Nietzsches hinzuweisen, werde angesichts seiner wachsenden Popularität zur Pflicht: „Aber es ist eine peinliche, doch nicht zu umgehende Pflicht, immer wieder auf sie hinzuweisen, da Nietzsche der Urheber einer geistigen Seuche geworden ist, deren Verbreitung zu hemmen man nur hoffen kann, wenn man den Wahnsinn Nietzsches selbst ins hellste Licht stellt und seine Jünger gleichfalls mit dem Brande zeichnet, der ihnen gebührt: nämlich als Hysteriker und Schwachköpfe." 44 Daß Nietzsches „falscher Individualismus und Aristokratismus" solchen Erfolg haben und ein Tobsüchtiger „in Deutschland für einen Philosophen gehalten werden und Schule machen konnte", bleibt, so Nordau abschließend, „eine schwere Schmach für das deutsche Geistesleben der Gegenwart." 45 Wie Nietzsche gelegentlich auch, gebraucht Nordau die Sprache der darwinistisch aufgemotzten „autoritären Biologie", wie Helmuth Plessner sie später einmal nannte. 46 Den Geisteskranken geht es an den Kragen, sei es seitens der Ärzte oder seitens der Polizei. Die Kulturkritiker jedenfalls rufen in der Sprache der autoritären Biologie zur Züchtung und zur gezielten Selektion, sprich: zur Gewalt auf, die andere auszuüben hätten. Nordau wendet dieses Vokabular gegen Nietzsche und ruft zum Totschlag an dessen Ideen, potenziell an deren Vertretern, auf: Wer mit mir glaubt, daß die Gesellschaft die natürliche, organische Form der Menschheit ist [...], wer die Gesittung für ein Gut hält, das Werth hat und vertheidigt zu werden verdient, der muß unerbittlich den Daumen auf das gesellschaftliche Ungeziefer drücken. [...] Wer mit Nietzsche für das „frei

42 43 44 45 46

Entartung II 297 f. Entartung II 311. Entartung II 328 f. Entartung II 357. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation (1934/35), Frankfurt/M., 1974, 144 ff.

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schweifende lüsterne Raubthier" schwärmt, dem rufen wir zu: Für das lüsterne Raubthier ist bei uns kein Platz und wenn du dich unter uns wagst, so schlagen wir dich unbarmherzig mit Knüppeln todt. 4 7

An verbaler Gewalttätigkeit sind solche Attacken kaum zu überbieten. Wir müssen uns jedoch vergegenwärtigen, daß Nordau diese Sätze in dem Bewußtsein schreibt, daß solche rhetorischen Gewaltakte in den liberalen, bürgerlichen Rechtsstaaten und konstitutionellen Monarchien seiner Zeit gerade nicht zu verwirklichen waren. Wir sind heute, nach dem Ende des liberalen 19. Jahrhunderts und nach der Shoah, in dieser Hinsicht aufmerksamer und vorsichtiger geworden, weil wir die schreckliche Nachwirkung solcher Sprache der autoritären Biologie kennen, wenn sie in die Tat umgesetzt wird. Und die Spur des EntartungsDiskurses, in dem Nordau jedenfalls eine zentrale Rolle spielt, zieht sich bis zur Ausstellung „Entartete Kunst" im München des Jahres 1937. 48 Steven Aschheim mag recht haben, daß Nietzsche, ob zu Recht oder Unrecht in Anspruch genommen, in der Herausbildung der Nazi-Ideologie sicherlich größeren Einfluß gehabt hat als Nordau, schon weil dieser als bekannter jüdischer Autor und späterer Zionist für die Nazis nicht zitierbar war und ja gerade zwei Säulen ihrer Kunst-Ideologie, Nietzsche und Wagner, für entartet erklärt hatte.49 Dennoch sei bemerkt, daß der sozusagen ,negative' Kunstkanon der Ausstellung „Entartete Kunst" dem Entartungs-Kanon Nordaus ähnlicher ist als dem Kunstkanon Nietzsches. Aber das ist eine Nachgeschichte, auf die beide keinen Einfluß mehr nehmen konnten, wiewohl die Pathologisierung von Phänomenen der Kultur im theoretischen Diskurs generell und im Prinzip solchem praktischen Mißbrauch Tür und Tor öffnet.

III. Die Kritik, wie sie Nordau in Entartung gegen Nietzsche vorbringt, hätte ohne Zweifel auch von einem nichtjüdischen Autor gegen Nietzsche vorgebracht werden können. Tatsächlich hat Nordau sich in keiner seiner Schriften vor 1897, also vor seinem ersten öffentlichen Engagement für den Zionismus, als jüdischer Autor bekannt, im Gegenteil. Angefangen von der Wahl seines nom de plume Max Nordau schon in jugendlichem Alter, war er total assimiliert und 47 48

49

Entartung II 554 f. Zur Begriffsgeschichte·. Jens Malte Fischer, „Entartete Kunst", in: Merkur 38 (1984), 346-352. Zum Entartungsbegriff in der Eugenik und später der Nazi-Ideologie vgl. Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M., 1988. Aschheim, a. a. O., 650 f. Vgl. auch: St. E. Aschheim, The Nietzsche-Legacy in Germany 1890- 1990, Berkeley, 1992.

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wollte stets ausschließlich als deutscher Schriftsteller anerkannt werden. Auch Entartung ist das Werk eines deutschen Schriftstellers für das deutsche Publikum. Nordau kritisiert Nietzsche nicht als Jude und aus einer jüdischen Perspektive, sondern als europäischer Großkritiker und Intellektueller. Die jüdische Perspektive hätte seinem Selbstbild nicht entsprochen: Geboren 1849 als Sohn des Rav Gabriel Südfeld in Pest und als Maximilian Simcha Südfeld ins Register der Synagoge eingetragen, löst sich Simcha Südfeld als Jugendlicher von der jüdischen Religion und publiziert als 16-jähriger schon seine ersten Artikel unter dem Pseudonym Max Nordau. Tags studiert er Medizin, abends und nachts arbeitet er als Redakteur beim Pester Lloyd und ernährt so seine bitterarme Familie. Ab 1873, nach dem Mediziner-Examen an der Pester Universität, trägt er den Namen Max Nordau gesetzlich, tritt als Journalist eine zweijährige Bildungsreise quer durch Europa an und löst sich dadurch auch sozial aus dem jüdischen Kontext. Mit dem Erfolg seiner Reiseberichte gelingt es ihm, sich ab 1880 dauerhaft als Auslandskorrespondent in Paris zu etablieren, wo er, mit Ausnahme des Ersten Weltkriegs, bis zu seinem Tod 1923 wohnen wird. Bei Charcot promoviert er 1882 mit einer Arbeit über die Kastration der Frau zum Dr. med. und praktiziert an drei Nachmittagen der Woche, am Dienstag, Donnerstag und am Sabbat. In seinem erfolgreichsten Buch Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit behandelt er Religion als „Lüge", kurz: intellektuell, weltanschaulich und sozial will er mit Judentum nichts mehr zu tun haben und macht, wie er selbst schreibt, eine „Assimilationsphase" durch, die erst mit der Dreyfus-Affare endet.50 Bis dahin reüssiert Nordau als deutscher Schriftsteller und Auslandskorrespondent mit Wohnsitz in Paris und Ubersiedlungswünschen nach Berlin.51 Weder sein Name noch seine (antireligiösen) Schriften verraten etwas von seiner jüdischen Herkunft. Simcha ist er nur zu Hause bei Mutter und Schwester, die auch in Paris einen koscheren Haushalt führen. Nordau ißt deshalb häufig auswärts.52 Das ist der Stand, als Entartung erscheint: Nordau schreibt über Nietzsche nicht als Jude, sondern als weithin bekannter europäischer Intellektueller deutscher Zunge mit, was nur er und seine engen Freunde wissen, ungarischem 5n

51

52

Max Nordau, „Meine Selbstbiographie", in: Nordau, Zionistische Schriften, Köln/Leipzig, 2 1923, 484—486. Zur Kenntnis der Biographie Nordaus ist bis heute unentbehrlich die Biographie von Nordaus Ehefrau Anna: Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen erzählt von ihm selbst und von der Gefiihrtin seines Lehens, übers, v. S. O. Fangor, Leipzig/Wien, 1928. Beides geht aus Nordaus Korrespondenz mit Eugen von Jagow klar hervor. Vgl. bes. die Briefe Nordau-Jagow v. 7.3.1893 u. 22.9.1893, Zionistisches Zentralarchiv Jerusalem, A 119/283/114 u. 132. Zu entnehmen sind solche Details nicht der harmonisierenden Biographie von Anna Nordau, sondern dem fast lebenslangen (1866 — 1914!), unpublizierten Briefwechsel Nordaus mit seiner Schwester Charlotte Südfeld (1851 —1938), der sich ebenfalls im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem befindet, Signatur A 1 1 6 / 1 2 - 1 9 (Briefe Nordaus) und A 1 1 6 / 2 0 - 2 3 (Briefe Ch. Südfelds).

Nietzsches Entartung 1892

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Paß. Auch die explizite Korrektur von Nietzsches Auffassung des Judentums in Entartung hätte ja durchaus von einem Nichtjuden geschrieben werden können. Dennoch hat diese Nietzsche-Kritik und Entartung als ganzes Buch m. E. einen bisher in der Forschung nicht beachteten .jüdischen' Subtext. Nordau bezieht, genau betrachtet, implizit eine .jüdische' Position. Unübersehbar ist, daß es ihm um eine Umwertung des Entartungs-Diskurses geht. Er will mit diesem Buch und seinem wissenschaftlichen Anspruch bzw. Uberbau die Taxinomie des Entartungs-Diskurses übernehmen und für sich monopolisieren. Nicht zuletzt wird auch die sehr verschiedene Dekadenz- und Entartungs-Terminologie von Nietzsche damit umgewertet oder jedenfalls überboten. Aber die wahren Gegner Nordaus in diesem Punkt sind andere: Nordau ist Leser von Eugen Dührings Die Judenfrage (1880) und von Edouard Drumonts La France Juive (1886). In beiden Büchern gelten die Juden als entartete Rasse, die für die Entartungen der gegenwärtigen Epoche verantwortlich zu machen sei. Das ist der antisemitische Subtext des Entartungs-Diskurses, als Nordau schreibt, ohne diese Gegner je zu nennen. Dieser Subtext wird von Nordau explizit dadurch umgewertet, daß er den Antisemitismus selbst als entarteten Verfolgungswahn klassifiziert. „Die deutsche Hysterie gibt sich in Antisemitismus kund, dieser gefährlichsten Form des Verfolgungswahnsinns, in welcher der sich für verfolgt haltende zum wilden, jedes Verbrechens fähigen Verfolger wird." 53 Nicht das jüdische Volk ist entartet, sondern die Antisemiten. Die entsprechenden Passagen hat Nordau zwar gegen Wagner geschrieben, aber dies ist dem Leser von Entartung damit gesagt und bildet den Kontext der NietzscheKritik. Nun schreibt Nordau in Entartung auch über den entarteten Antisemitismus nicht als sich selbst bekennender Jude Max Nordau. Als Jude schreibt und redet er gegen den Antisemitismus erst nach seiner Wandlung zum Zionisten, erst mit seiner Rede auf dem ersten Zionistenkongreß 1897. Aber wiederum als Publizist und Intellektueller, nicht als Jude und Zionist, schreibt er nach Nietzsches Tod 1900 einen Nachruf in der Wiener Neuen Freien Presse mit dem Titel Individualismus, Solidarismus,54 Es ist Nordaus letzter längerer Text direkt gegen Nietzsche. Der dreiseitige Artikel, beginnend immerhin an prominenter Stelle auf Seite 1 einer der bedeutendsten deutschsprachigen Tageszeitungen der Zeit, weicht keinen Deut vom Urteil in Entartung ab. Nietzsche und seine Jünger werden vom Standpunkt des bürgerlichen europäischen Intellektuellen als gefahrliche, gesellschaftsfeindliche Individualisten abgestempelt, punktum.

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Entartung I 325. Neue Freie Presse v. 3.10.1900. Den Hinweis auf dieses Feuilleton verdanke ich Prof. Jacob Golomb, Jerusalem.

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Nordau hat zeitlebens, auch nach seiner Wandlung zum Zionisten, an der weltanschaulichen Position von Entartung festgehalten. 55 Gerade die unzähligen, jährlich bis zu 30 Feuilletons, die er zwischen 1895 und 1914 für die Neue Freie Presse über die kulturellen Ereignisse von Paris schrieb und die ihm den Hohn von Karl Kraus einbrachten, 56 legen davon Zeugnis ab. Das heißt konkret, daß auch Nordaus Fapon des Zionismus von dieser Weltanschauung zutiefst geprägt war. Noch genauer, und damit will ich schließen: Juden und auch Zionisten konnten für Nordau entartet sein. Besonders deutlich wird dies an der Polemik Nordaus gegen Bergson 57 und Achad Haam. Den von Nietzsche stark beeinflußten Kulturzionismus Achad Haams behandelt Nordau als entartet. Nordau ist, ganz ohne Ubertreibung, der bedeutendste Exponent eines zionistischen Anti-Nietzscheanismus, der angesichts des breiten zionistischen Nietzscheanismusses oft vergessen wird. Als Achad Haam im Jahr 1903 Herzls Altneuland kritisiert und sich über die Opernbesucher mit weißen Handschuhen mokiert hatte, antwortet Nordau auf Wunsch von Herzl, der sich nicht selbst verteidigen kann, mit einer vernichtenden Polemik in der Welt, dem Hausblatt Herzls und des zionistischen Aktionskomittees. Gegen den Grundgedanken einer eigenständigen, spezifisch jüdischen Kultur auf jüdischem Boden in Erez Israel verteidigt der Liberale Nordau den Vorrang der europäischen Kultur auch im zukünftigen Judenstaat. Sein Tenor ist: Eine jüdische Kultur, die nicht mit der bürgerlichen Kultur Europas mithält, degeneriert. Ich schließe mit diesem Nordau-Zitat 58 gegen Achad Haam und damit eine Form des jüdischen Nietzscheanismus: [...] „Altneuland" ist zu europäisch. Es gibt da Zeitungen, Theater, Opernhäuser; man zieht für diese sogar weisse Handschuhe an. Ueberall Europäer, europäische Sitten, europäische Erfindungen. Nirgends eine besondere jüdische Spur. In der Tat: „Altneuland" ist ein Stück Europa in Asien. Da hat Herzl genau das gezeigt, was wir wollen, worauf wir hinarbeiten. Wir wollen, dass das wiedergeeinte, befreite jüdische Volk ein Kulturvolk bleibt, so weit es dies schon jetzt ist, ein Kulturvolk wird, so weit es dies noch nicht ist. Wir ahmen dabei niemand nach, wir benützen und entwickeln nur unser Eigentum. Wir haben an der europäischen Kultur mitgearbeitet, mehr als an unserem Teil; sie ist unser in demselben Masse wie der Deutschen, Franzosen, Engländer. Wir gestatten nicht, dass man einen Gegensatz zwischen Jüdisch, unserem Jüdisch, und Europäisch konstruiere. Achad-Haam mag die europäische Kultur etwas

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Dies hat auf über 600 Seiten klar belegt: Moshe Halevi, Max Nordau. Haguto ha^ionit ufoalo batenua hayionit (hebr.; Μ. N., Seine zionistische Haltung und sein Wirken in der zionistischen Bewegung), Diss, phil. Tel Aviv, 1988. Vgl. bes. Die Fackel·\ Heft 3 (1899), 21; Heft 64 (1901), 15 f.; Heft 87 (1901), 20 f.; Heft 200 (1906), 14 f. Vgl. „Die Priesterweihe", in: Neue Freie Presse v. 10.1.1913, 1. „Achad Haam über Altneuland", in: Die Welt, 13. März 1903.

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Fremdes sein. Dann sei er uns dankbar dafür, dass wir sie ihm zugänglich machen. Wir aber werden nie zugeben, dass die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter ein Rückfall in Barbarei sei, wie unsere Feinde verleumderisch behaupten. Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber ausserhalb, in einem kulturfeindlichen, wilden Asiatentum, wie Achad-Haam es zu wünschen scheint. [...] Was aber Achad-Haam am grimmigsten rügt das ist die Toleranz, die in Altneuland herrscht. Christen, — sogar christliche Geistliche! — und Mohammedaner sind zu einem Seder geladen — fürchterlich! Am Ende gehen auch Juden zu einer christlichen Osterfeier? fragt er mit vernichtendem Hohn. Er gibt in wiederholten tückischen Anspielungen zu verstehen, dass die Einrichtungen und Zustände in Altneuland eigentlich zur Taufe hinüberleiten. Diese nichtswürdige Unterstellung ist nicht neu. [...] Achad-Haam will keine Toleranz. Fremde sollen vielleicht geschlachtet, wenigstens verjagt werden, wie in Sodom und Gomorrha. Der Gedanke der Toleranz erregt seinen Ekel. Nun, unseren Ekel erregt es, ein verkrüppeltes, geducktes Opfer der Intoleranz, einen verachteten Sklaven intoleranter Knutenschwinger in dieser Weise von Toleranz sprechen zu hören. Achad-Haam wirft Herzl vor, dass er die Sitten Europas nachahmt. Er gestattet nicht, dass man Europa seine Akademien, Opernhäuser und weissen Handschuhe endehne. Das einzige, was er aus Europa nach Altneuland mitnehmen möchte, das sind die Grundsätze der Inquisition, die Sitten der Antisemiten und die Judengesetze Russlands. Man würde vor einer derartigen Missbildung des Geistes Abscheu empfinden, wenn das Mideid nicht vorwöge. Das Mideid mit einem Manne, der sich aus dem Bann des Ghettogedankens nicht losringen kann. Die Vorstellung der Freiheit ist ihm unfassbar. [...] Dass wir die Freiheit anders denken, braucht einem Europäer nicht erst gesagt zu werden. Das Zukunfts-Palästina unserer Wünsche und Träume ist kein Ghetto, sondern eine Stätte der Freiheit für jedermann, der All-Freiheit. [...] Achad-Haam gehört zu den schlimmsten Feinden des Zionismus. [...] Denn er wagt, sich selbst für einen Zionisten auszugeben und vom wirklichen, vom einzig existierenden Zionismus mit wohlberechneten Verachtungsmienen als von „diesem", vom „politischen" Zionismus zu sprechen. [...] Achad-Haam ist ein weltlicher Protestrabbiner. [...] Er ist kein Zionist. [...] „Politischer" Zionismus ist eine Tautologie. Ein Zionismus, der nicht politisch wäre, dass heißt, der nicht die Schaffung einer Heimstätte für den nicht anpassungsfähigen oder nicht anpassungswilligen Teil des jüdischen Volkes anstrebte, wäre überhaupt kein Zionismus [...].

MANFRED VOIGTS

Jüdisches Denken im Frühexpressionismus. Oskar Goldberg und Erich Unger im Zeichen Friedrich Nietzsches Für Dr. Esther Ehrman, die Tochter Erich Ungers, die nach 1945 nie wieder deutschen Boden betreten hat. Weder Erich Unger noch Oskar Goldberg sind heute allgemein bekannt. Beide aber gehören in den Umkreis des frühexpressionistischen Neuen Club, der 1909 in Berlin gegründet wurde, das berühmte Neopathetische Cabarett veranstaltete, in dem Georg Heym und Jakob van Hoddis auftraten, und der sich 1914 bis zum Ausbruch des Weltkrieges auflöste. Die kaum zu unterschätzende Bedeutung der Nietzsche-Rezeption im Expressionismus allgemein und auch im Neuen Club ist vor allem von Gunter Martens dargelegt worden 1 , hier soll es nur um einen Sonderfall gehen, der aber doch für das geistige Profil der Weimarer Republik von Bedeutung war. Das unsere Thematik betreffende Szenarium jener Vorkriegsjahre sah folgendermaßen aus: 1909 gründete Kurt Hiller, nachdem es zu Problemen mit der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, einer nichtschlagenden vorwiegend jüdischen Studenten-Organisation, gekommen war, den Neuen Club. Hiller war das Zentrum des literarisch-politischen Aktivismus, der - tief von Nietzsche beeinflußt — eine geradezu antidemokratische Logokratie errichten wollte. Unter den Mitgliedern des Neuen Club befand sich Erich Unger; Hiller selbst fungierte hier als .Präsident'. Unger hatte Ostern 1907 sein Abitur-Examen bestanden, Goldberg ein Jahr zuvor. Beide kannten sich schon lange, denn Goldberg hatte schon in der Schule einige ,Clubs' gegründet, die auch nach dem Abitur fortbestanden, so daß 1909 ein Hiller-Kreis und ein Goldberg-Kreis existierten. Das Besondere war nun, daß ein großer Teil gerade der führenden Mitglieder beiden Clubs angehörte. Erich Unger hatte sogar noch 1908 in der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung einen Vortrag über Goldbergs erste 1908 erschienene Veröffentlichung Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude gehalten, Erwin Loewenson war 1

Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus, Stuttgart u. a., 1971.

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Korreferent. 1909 äußerte sich Kurt Hiller vernichtend über diese Zahlenspekulationen und fügte hinzu, daß er Goldberg für einen Paranoiker, einen von Wahnideen beherrschten Menschen halte2. Goldberg war zwar Mitglied des Neuen Club, seine Bedeutung im Verhältnis zu der Hillers muß aber wohl eher als gering eingeschätzt werden. Erst als der Club zu zerfallen begann, bekam Goldberg Einfluß, er wurde zum - wenn man es so ausdrücken darf — ,Liquidations-Vorsitzenden' gewählt und unterschrieb die Einladung zur letzten öffentlichen Veranstaltung des Neopathetischen Cabaretts. Während der Neue Club sich völlig auflöste, blieb der Goldberg-Kreis auch über den Weltkrieg hinaus bestehen, und Mitte der 20er Jahre, wahrscheinlich 1927, wurde die Philosophische Gruppe Berlin gegründet, ein offenes Diskussions forum von erheblicher Bedeutung, das Erich Unger leitete, der sich in jenen Jahren bis 1935 ausdrücklich als Schüler Goldbergs verstand, als Schüler mit — wie Gershom Scholem schrieb — „beträchtlicher philosophischer Begabung"3. 1933 emigrierte Unger über Prag nach Paris und von dort nach Oxford und später London, wo er Ende 1950 starb. Während Kurt Hiller Goldberg ablehnte, schätzte er Erich Unger hoch ein. Im Juli 1911 schrieb Hiller in der Heidelberger Zeitung über Die Jüngstberliner. [...] der am meisten Potente, wiewohl weniger zerebrale, der Hinhauer, der Rubens ist: Georg Heym; persönlich am nächsten steht mir: K u r t Hiller; beachtenswert finde ich auch: Ludwig Rubiner, Erich Unger. A n Namen wie Robert Jentzsch oder Wilhelm S. Ghuttmann oder G o l o Gangi [d. i. E. Loewenson] wird man sich gewöhnen müssen. 4

Diese Aufreihung Schloß wohl eine Wertschätzung ein: Erich Unger wurde von Hiller damals gleich neben Ludwig Rubiner gestellt. Diese Hochschätzung steht nicht allein. In seiner Weisheit der Langeweile zählte Hiller die wichtigsten Mitglieder des ,LitteraturVereins' Der Neue Club auf: Erich Unger, J. van Hoddis, Heym, Ernst Blaß. 5

Daß Erich Unger heute fast vergessen ist, liegt vor allem daran, daß er sich — dies unser Thema — vom Expressionismus getrennt hat und Schüler wurde von Oskar Goldberg. Dieser nämlich hatte in Gershom Scholem und Thomas Mann zwei übermächtige Feinde. Immerhin haben Thomas Anz und Michael Stark einen Text Ungers in ihre Expressionismus-Dokumentation6 aufgenom2 3 4

5 6

s. Manfred Voigts: Oskar Goldberg, Berlin, 1992, 25. Gershom Scholem: Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt am Main, 1975, 124. Kurt Hiller: „Die Jüngstberliner", in: Literatur und Wissenschaft, Monadiche Beilage der Heidelberger Zeitung, Nr. 7, Juli 1911. Kurt Hiller: Die Weisheit der Langeweile, Leipzig, 1913, 1. Bd., 235. Thomas Anz u. Michael Stark: Expressionismus, Manifeste und Dokumente %ur deutschen IJteratur 1910-1920, Stuttgart, 1987.

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men und Bruno Hillebrand zwei gekürzte Texte Ungers über Nietzsche in seine umfangreiche Dokumentation Nietzsche und die deutsche Literatur1, aber nirgends wurde darauf hingewiesen, daß Unger auch dichterische Texte verfaßt hat. In Ungers frühestem veröffentlichten Text vom März 1909 mit dem Titel Andeutungen %ur Kunst lautet der letzte Absatz: Und dann: Philosophie und Dichtung [...] Zarathustra wußte es, daß kein Unterschied ist zwischen Philosoph und Dichter. Und daß dies nicht zu Ungunsten des Philosophen ist, in dieser Einsicht liegt der Überblick über die tiefe Gemeinsamkeit aller Proteusgestalten des Denkens und über die unterirdische Identität von Kunst und Erkenntnis.8

1925 erschien im Felix Meiner Verlag, damals noch Leipzig, Ungers Buch mit dem programmatischen Titel Gegen die Dichtung. Dieses Buch, das Theodor W. Adorno als einen ,emphatischen Angriff auf die Kunst' bezeichnet hat 9 , sollte [...] den Nachweis [...] enthalten, daß die Existenz von Dichtung die Unmöglichkeit der Erkenntnis notwendig bedeutet, daß also eine Alternative besteht, innerhalb derer man sich entscheiden mag.10

Dabei ließ Unger keinerlei Zweifel daran, daß nur die Erkenntnis der durchaus widerspruchsvollen Dynamik der Realität angemessen sei. Er schrieb: Nicht „Wahrheit" im abstrakten Sinne, sondern eine Wirklichkeit ist das Ziel des philosophischen Weges.11

Was Unger als Schüler Goldbergs anstrebte, war eine neue, eine höhere Wirklichkeit als die positivistisch gegebene. An diesem Maßstab gemessen dekretierte er: Dichtung ist eine Ersatzhandlung.12

Das Buch Gegen die Dichtung besteht aus zwei Teilen, von denen der erste nicht zufallig einem platonischen Dialog nachgebildet ist. Diesem Teil nämlich hat Unger jenes bekannte Zitat aus Piatons Staat vorangestellt, in dem die Dichtkunst aus dem Gemeinwesen, der Stadt, gewiesen wurde. In Nietzsches Menschliches, All^umenschlicbes gibt es eine Passage, an der, gerade weil sie zunächst etwas ganz Ähnliches auszusagen scheint, die Abwendung Ungers von Nietzsche besonders klar erkennbar wird:

7 8

9 10 11 12

Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur, 2 Bde., Tübingen, 1978. Erich Unger: Vom Expressionismus yum Mythos des Hebräertums. Schriften 1909 bis 1931, Würzburg, 1992, 7. Theodor W Adorno: Einleitung in die Musikso^iologie, Frankfurt am Main, 1975, 170. Erich Unger: Gegen die Dichtung, Leipzig, 1925, V. Ebd., 494. Ebd., 98.

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Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach u n s e r e n Zeiten. 13

Was hier wie eine fast bruchlose Ubereinstimmung von Unger und Nietzsche aussieht, markiert tatsächlich jedoch den entscheidenden Bruch. Diesem für die Endzeit der Menschheit gedachten vollkommenen Staat gehört Nietzsches Sympathie gerade nicht: Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende.

Nietzsche sah hier die Menschheit in einer irreversibelen Entwicklung begriffen, in der sie verschiedene Eigenschaften und Fähigkeiten entwickelt, die sie später nicht wieder hervorbringen könne. So schrieb er über das religiöse Gefühl: Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. 14

Genau hier widersprach Unger aufs heftigste. Weder konnte er Nietzsche folgen in der Annahme, der Heilige könne nur bei einer .Befangenheit des Intellektes' möglich sein, noch teilte er die Auffassung, der religiös umgrenzte Horizont von Leben und Kultur sei unwiederbringlich vergangen. Genau an diesem Punkt nämlich setzte das große Vorhaben Goldbergs ein: Dieser wollte ein religiös umgrenztes Leben unter der Anleitung von heiligen Personen erst einmal denkbar und dann realisierbar machen. Goldberg hat mit Sicherheit in jenen Vorkriegs-Jahren Nietzsche rezipiert, Nietzsche ,lag in der Luft', er bestimmte das geistige Klima mit. Ich werde an einigen zentralen Punkten die Nähe Goldbergs zu Nietzsche darstellen, muß aber hinzufügen, daß ich keinerlei konkreten Hinweis auf diese Nietzsche-Rezeption kenne. Mir ist nur eine einzige Aussage Goldbergs zu Nietzsche von 1938 bekannt, und diese setzt sich mit antifaschistischer Richtung gegen den Pseudomythos einer bacchantischen Raserei der Massen zur Wehr. Man kann Goldberg und sein 1925 veröffentlichtes Hauptwerk Die Wirklichkeit der Hebräer — wie er es offensichtlich selbst wollte — verstehen im Rückgriff auf jüdische Quellen, besonders die Pentateuch-Exegese. Man kann ihn aber 13 14

Friedrich Nietzsche: ΜΑ I 234 (KSA 2.196). Ebd.

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auch verstehen im Rückgriff auf einen technikfeindlichen Vitalismus und auf die damals geläufige Rassebiologie und Völkerpsychologie. Ebenso wie Nietzsche aber hat Goldberg diese beiden gleichermaßen wissenschaftlichen wie weltanschaulichen Strömungen in entscheidenden Wendungen seines Denkens überschritten und kritisiert. Wir können also — wie das wohl bei jedem bedeutenden Denker der Fall ist — mehrere ,Quellen' der Erkenntnisse benennen, die sich in ihren weltanschaulichen Implikationen sogar widersprechen mögen. Dies soll an einem Beispiel demonstriert werden, das uns sofort ins Zentrum der Problematik führt. Im Zarathustra, der die frühexpressionistische Rezeption bestimmte wie wohl kein anderes Werk Nietzsches, lesen wir: Wer über alte Ursprünge weise wurde, siehe, der wird zuletzt nach Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Ursprüngen. Ο meine Brüder, es ist nicht über lange, da werden n e u e V ö l k e r entspringen und neue Quellen hinab in neue Tiefen rauschen. 15

Es war das Zentrum des Goldbergschen Denkens, den Ursprung des jüdischen Volkes zu untersuchen, seine Umstände und Techniken zu analysieren mit dem Ziel, ein neues Volk zu gründen, das die besonderen Fähigkeiten der UrHebräer besitzen sollte. Etwas später in demselben Abschnitt heißt es im Zarathustra: Und wer da ruft: „Siehe hier ein Brunnen für viele Durstige, Ein Herz für viele Sehnsüchtige, Ein Wille für viele Werkzeuge": — um den sammelt sich ein V o l k , das ist: viel Versuchende.

Es war in der Tat auch Goldbergs Vorstellung, daß ein Volk, das nicht biologisch am Anfang der Geschichte, sondern innerhalb der Geschichte gegründet werden sollte, einen ,Vater' haben müßte, der nun aber besondere Fähigkeiten aufweisen müßte. Weiter dort in Nietzsches Zarathustra: Wer befehlen kann, wer gehorchen muss — D a s w i r d da v e r s u c h t ! Ach, mit welch langem Suchen und Rathen und Missrathen und Lernen und Neu-Versuchen! Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehr ich's, — ein langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! —

Auch hier gibt es Parallelen zu Goldberg: Abraham oder Moses befiehlt, das Volk vollzieht. Auch damals, in der Ursprungs-Periode des hebräischen Volkes, mußten die Ur-Väter ihre Kräfte versuchen und demonstrieren. Der Versuch, das Experiment, muß bei einer neuzeitlichen Volksgründung, die das Ziel der 15

Za III, Von alten und neuen Tafeln 25 (KSA 4.265).

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Schaffung einer höheren und katastrophenlosen Realität hat, offensichtlich eine besondere Bedeutung haben. Erich Unger schrieb 1921 über dieses Experiment: Denn entweder gelingt der tieferen Systematisierung der Experimentalbeweis, oder sie ist keine. [...] Das Experiment muß dieser Perspektive rechtgeben: die leere Realität muß vor der erfüllteren zusammenbrechen.16

Ist der Gedanke des Experiments auf Nietzsche zurückzuführen oder auf die naturalistische Moderne? Diese sammelte sich nämlich — ich zitiere trotz allem einen Mann, der sich Hans Schwerte nannte — „um das vielschillernde, selten genau definierte, provozierende Stichwort .Experiment'" 17 . Auch dieser Begriff also ,lag in der Luft' und hatte viele Väter. Und Goldberg war, soweit mir bekannt ist, an zeitgenössischer Literatur durchaus interessiert. Aber noch einmal Nietzsche im o. g. Abschnitt: — ein Versuch, ο meine Brüder! und kein „Vertrag"! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!

Hier nun ist eine sicherlich entscheidende Differenz zu Nietzsche festzuhalten: Die Volksgründung, die Goldberg anstrebte, konnte nur durch einen Vertrag, einen Bund mit dem IHWH Elohim gelingen, einen Bund, den Goldberg ausdrücklich als gegenseitig und doppelseitig, also als einen echten Vertrag verstand. So, wie der Volksgründer und das Volk Gottes an Gott gebunden war, so war Gott an sein Volk gebunden und mußte mit ihm verhandeln, um seine Ziele zu erreichen. Soweit das Beispiel, in dem die Nähe, aber auch die Distanz Goldbergs zu Nietzsche angesprochen ist. Ich weiß, wie gesagt, nicht, ob Goldberg Nietzsche gelesen hat, nehme es aber an. Wir können diese Frage aber offenlassen, weil es in unserem Zusammenhang gerade um Probleme geht, bei denen sich Goldberg objektiv von Nietzsche unterscheidet und in denen sich Erich Unger ihm angeschlossen hat. Nun aber zu Oskar Goldberg selbst. 1885 wurde er in Berlin geboren. Von seinem Vater weiß ich nur, daß er Orientalist war und so früh starb, daß der Einfluß des wohl orthodox-jüdischen Großvaters auf Oskar Goldberg um so stärker war. Schon 1903 tagte sein Bibel-Club im jüdischen Gemeindehaus in der Gipsstraße. Nach seinem Abitur 1906 studierte er im Rabbiner-Seminar bei Joseph Wohlgemuth und am Beth Hamidrasch bei Abraham Biberfeld — beides herausragende Gelehrte ihrer Zeit. 1908 legte Goldberg die Rabbiner-Prüfung ab, strebte aber nie ein Rabbiner-Amt an, sondern studierte anschließend Medi16 17

Erich Unger: Politik und Metaphysik, Berlin, 1921, 32. Hans Schwerte: „Der Begriff des Experiments in der Dichtung", in: Literatur und Geistesgeschichte, Festgabe für Heinζ Otto Burger, Hrsg. v. Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann, Berlin, 1968, 397.

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zin in München und Berlin und promovierte 1915 mit der leider verlorenen Arbeit Die anormalen biologischen Vorgänge bei orientalischen Sekten. Sieben Jahre später, 1922, wollte er im Fach Anthropologie promovieren, was sich aber zerschlug. Ich erwähne dies, weil der ellenlange Titel der angestrebten Arbeit für unseren Zusammenhang Bedeutung hat: Die Verbindung physiologischer und soziologischer Methodik in der Anthropologie als heuristisches Prinzip %ur Aufklärung der anthropologischen Gruppenbildung. 1925 erschien dann sein Hauptwerk Die Wirklichkeit der Hebräer, das eine deutliche Wirkung entwickelte. Gershom Scholem, Goldbergs bedeutender Widersacher und persönlicher Kontrahent, schrieb in seinen Erinnerungen: Ich pflegte die drei Gruppen um die Bibliothek Warburg, um das Institut für Sozialforschung von Max Horkheimer und die metaphysischen Magier um Oskar Goldberg als die drei bemerkenswertesten „Jüdischen Sekten" zu definieren, die das deutsche Judentum hervorgebracht hat. 1 8

Der vor kurzem erschienenen erweiterten Fassung dieser Erinnerungen Scholems ist zu entnehmen: In den Kreisen der modernen und hypermodernen Schriftsteller und Künsder der Kaffeehäuser oder Klubs im Berliner Westen, in denen die expressionistische Bewegung entstand, war er der Jude schlechthin. Er kannte die Bibel, ja war sogar ein „Schriftgelehrter", wenn man denn seinen Stand bezeichnen soll, und er hielt die Gebote in einer Auswahl, die ihm anscheinend von oben diktiert worden war. Er übte fast magnetische Kraft auf eine kleine Gruppe jüdischer Intellektueller aus, die seine Anhänger waren und ihn im Besitz authentischer Offenbarungen wähnten. 1 9

Ziehen wir den Schuß Polemik ab, so hat Scholem zweifellos ein richtiges Bild gegeben. Polemisch aber bleibt der Hinweis auf eine authentische Offenbarung, was offensichtlich eine Art Privat-Offenbarung meint. Nein, Goldberg hatte kein separate Offenbarung, er wurde, um mit Nietzsche zu sprechen, ,über alte Ursprünge weise' — falls er weise wurde. Er hielt fest und nahm mit allen Konsequenzen ernst das Zentrum jüdischer Identität und jüdischen Denkens, daß nämlich der Pentateuch Gottes Wort und Offenbarung ist. Und nur dieser Uberzeugung galt seine frühe kleine Schrift Die fünf Bücher Mosis ein Zahlengebäude. Scholem gab Goldberg richtig wieder, wenn er behauptete, dieses Heft voller Zahlenkolonnen gehe auf Zahlenspekulationen zurück, „die an die kabbalistische Lehre anknüpften, nach der die ganze Tora am Ende aus den Namen Gottes gewebt sei." 20 Goldbergs Intention aber ging darüber hinaus: Er wollte nachweisen, daß die Zahlenwerte von einzelnen Wörtern, die Anzahl von Wor18 19 20

Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt am Main, 1977, 167. Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem, Erweiterte Fassung, Frankfurt am Main, 1994, 182. Ebd.

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ten, Wortgruppen und Satzfolgen so streng nach heiligen Zahlen geordnet seien, daß kein menschlicher Verstand diese Kombination hätte herstellen können unter der Maßgabe, daß der entstehende Text noch einen Sinn haben sollte. Ich habe dies so deutlich beschrieben, weil aus dieser Auffassung der Verbalinspiration das Grundanliegen Goldbergs verstanden werden muß: Die im Pentateuch detailliert beschriebenen Rituale und Gesetze sollten eine neue Volksrealität erst entstehen lassen und dann gegen Feinde schützen, in der sich der monotheistische Gott IHWH im Kampf gegen die vielen polytheistischen Götter und ihre Völker wirkungsvoller realisieren könne. In jener mythischen Zeit seien die Völkerkriege regelrechte Stellvertreter-Kriege für Götter-Kämpfe gewesen, diese Zeit aber sei längst vergangen, die Juden hätten ihren weltgeschichtlichen Auftrag nicht erfüllt, Völker und Rassen seien seit zweitausend Jahren keine metaphysischen Größen mehr. Er, Goldberg, wolle aber die letzten Reste jener Ur-Völker in Asien und Afrika aufsuchen und hebräisch missionieren, damit durch solch eine Volksgründung inmitten einer unmetaphysischen Umgebung die vor dem Untergang stehende technische Welt revolutioniert und dadurch gerettet werden könne. Die einzige Hoffnung, die die Menschheit habe, sei eben die Verbalinspiration des Pentateuch und ihrer Rituale und Gesetze zur Herbeiführung metaphysischer Vorgänge. Dieser fast sträflich verkürzende Überblick erlaubt keinen Einblick in die Vielzahl von etymologischen und interpretatorischen Einsichten, die Franz Rosenzweig gegen pauschale Angriffe verteidigte, erlaubt keinen Eindruck von der Einfühlung in alttestamentliche Religionserfahrung, die Thomas Mann bei der Abfassung seines Josephs-Romanes tief beeinflußte, erlaubt auch keinen Einblick in die enge Verbindung von anthropologischen und medizinisch-physiologischen Erkenntnissen seiner Zeit und ihrer Verbindung mit seinem Bild des Mythos des Hebräertums. Wir werden spater jene Einzelheiten genauer betrachten, die in unserem Zusammenhang wichtig sind. Hier noch die wichtigsten biographischen Daten zu Goldberg: Er war Privatgelehrter, siedelte 1931 aus gesundheitlichen Gründen nach Italien über, ging dann in die Schweiz, war Fachredakteur von Thomas Manns Exilzeitschrift Maß und Wert, wurde bei seiner Einreise nach Frankreich 1939 interniert, durchlief mehrere Lager, konnte aber schon 1941 auf einem von Varian Fry organisierten Schiff in die USA ausreisen, wo er noch einmal einige medizinische Examina ablegte und in einer medizinischen Organisation unterkam. Diese schickte ihn 1949 nach Genf zu einer von der WHO einberufenen internationalen Konferenz. Im August 1952 verstarb er in Nizza an seiner Herzschwäche. Nach dieser Vervollständigung von Goldbergs Biographie nun zurück zu den Jahren um den 1. Weltkrieg. Wir können davon ausgehen, daß der dargestellte Grundriß Goldbergscher Ideen zur Zeit des Neuen Club bekannt war und diskutiert wurde. Allgemein akzeptiert war Goldberg dort aber nicht. Probleme

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des Judentums spielten im Frühexpressionismus keine Rolle. Im Gegenteil. So hatte der Prager Max Brod im Neuen Club eine breite Resonanz, er trat im Neopathetischen Cabarett auf, vor allem sein Roman Schloß Nornepygge wurde auf das heftigste rezipiert. Die in diesem Roman mit und gegen Schopenhauer entwickelte Theorie des ,Indifferentismus' war — in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zum Vitalismus — die bedeutendste weltanschauliche Grundstimmung des Frühexpressionismus. Als sich Brod aber mit Jüdinnen 1911 und mit Arnold Beer 1912 jüdischen Themen und gar dem Zionismus näherte, wandte sich sein Fürsprecher Hiller von ihm ab21, und sein Einfluß sank beträchtlich. Im Dezember 1911, kurz nachdem seine intellektuelle Biographie über Friedrich Nietzsche erschienen war, trat Salomo Friedlaender/Mynona im Neopathetischen Cabarett auf und trug Grotesken vor22; am gleichen Abend hatte Unger seinen leider verlorenen Vortrag Von den obersten Zwecken gehalten. Als 1913 Mynonas Rosa die schöne Schut^mannsfrau erschien, schrieb Unger über diese Grotesken in der Aktion·. Wem es aber gelang, in die Anarchie der Unterschiede bändigend einzugreifen, der hatte auch das Lachen, das alle anderen in sich barg, das Lachen, das an dem Ausgangspunkte der Differenzen selber saß, gegen das keins aufstehn konnte, ohne sofort winziger zu erscheinen, dessen absolute Überlegenheit damit gegeben war, daß es auf jede Position (die es noch spüren ließ) verzichtete, und wie ein Wagenlenker rechts und links die Zügel anziehend, nein, alle Richtungen ständig im Spiel miteinander kompensierend zu einem „undurchdringlichen" Lachen wurde, sphinxartigen Gesichts.23

Was wollte Unger mit diesem ^Ausgangspunkt der Differenzen', der Indifferenz? Er wollte einen Punkt, einen Standort erreichen, der sich jenseits der Widersprüche, der Gegensätzlichkeiten der Realitäten befindet, jener Gegensätzlichkeiten, die die Expressionisten als völliges Chaos empfanden. Als Unger 1910 im Sturm über den George-Kreis schrieb, hatte er mit einem Nietzsche-Zitat begonnen: „Denken heißt, die Dinge einfacher zu nehmen als sie sind", sagt Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft", und wirklich — genau genommen ist jede Einteilung, jeder Standpunkt, jede Betrachtungsweise, jede Perspektive eine Fälschung — eine Unterschlagung an der ungeheuren Kompliziertheit, dem enormen Durch-einander der Dinge, das eigentlich alle jene Perspektiven auf einmal für sich verlangt.24

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22

23 24

s. Donald G. Daviau: „Max Brod und Berlin", in: Berlin und der Prager Kreis, Hrsg. v. Margarita Pazi u. Hans Dieter Zimmermann, Würzburg, 1991, 149. s. Richard Sheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908- 1914, Bd. 1, Hüdesheim, 1980, 523. Erich Unger: Vom Expressionismus ..., a. a. O., 38f. Ebd., 8.

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Der Indifferentismus war eine Antwort auf diese Problematik der durch das bloße Denken nicht erfaßbaren Widersprüchlichkeiten der Wirklichkeit. 1918 erschien dann Friedlaenders Schöpferische Indifferenz ein Buch, dessen Wirkung kaum überschätzt werden kann. Eine zweite Auflage erschien 1926, versehen mit einem mehr oder weniger distanzierenden Vorwort des Verfassers. 1931, zum 60. Geburtstag Friedlaenders, meldete sich Unger in der Uterarischen Welt zu Wort und griff dieses Vorwort scharf an, weil Friedlaender wesentliche Positionen revidiert hatte. Hier faßte Unger den Indifferentismus noch einmal zusammen: Der Schöpfer kann sich nicht äußern, es sei denn, daß er jede Äußerung durch eine Gegenäußerung gleichsam „zurücknimmt", seine Indifferenz so antithetisch dokumentierend. Polare, d. h. voneinander unabreißbare und doch ewig einander widerstrebende Gegensätze, machen das Getriebe der sichtbaren Welt aus, die auf ewigen Kämpfen, Niederlagen und Siegen beruht, in denen Unendlichkeit das Spiel mit sich selbst treibt. Aber der Angelpunkt der Welt liegt im Neutrum der Antithesen. An dem logischen Schema des Gegensatzes, das hier wie bei Hegel und Schelling ein Urbild der Welt abgibt, wird, anders als bei jenen Denkern, der Nullpunkt der antithetischen Extreme herausgehoben, — der Punkt, der Nichts ist und dennoch den Gegensatz zum Gegensatz macht, von dem aus er balanciert und beherrscht wird. Stellen die Scharen aller Gegensätze den Inhalt der objektiven Welt dar, so wird das Geistige, das Subjektive dem Nullpunkt aller Skalen und Gradationen zugeordnet. So kommt es zu einer Entwirrung aller Gegensatzverwirrung: Geist, Ich, Innen ist nicht der „Gegensatz" von Objekt und Körperwelt, sondern diese objektive materielle Außenwirklichkeit allein ist in sich in Gegensatzpaare aufgespalten — das Subjekt aber steht wesenhaft im Zentrums-, im Entstehungs-und Beherrschungspunkte des streitenden Getümmels.25 Vom ,Beherrschungspunkt', von der Unendlichkeit, die mit sich das Spiel der Welt treibt, war vor 1914 nicht die Rede, hier ging alles um das Subjekt und Individuum, aber die Funktion des Indifferentismus war dieselbe. Die Realität sollte auf Distanz gehalten werden, sie sollte in ihrer totalen Widersprüchlichkeit, in ihren Äußerungen und Gegenäußerungen in sich relativiert werden. In der Fröhlichen Wissenschaft, gleich zu Beginn des zweiten Buches, hatte Nietzsche geschrieben: Es giebt für uns keine „Wirklichkeit" -

26

1914 schrieb Unger in der Aktion·. Ja, was gibt es, was ist wirklich? Die Überlegung kann nicht in der Luft hängen! Wirklich?? Kann sie das nicht? Vielleicht kommt es gerade darauf an, daß sie erst einmal eine Weile in der Luft hängt [.,.] 2 7 25 2fi 27

Ebd., 144. Friedrich Nietzsche: F W II 57 ( K S A 3.422) Erich Unger: Vom Expressionismus . . . , a. a. O., 37.

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Eines jedenfalls stand für ihn fest: Zum „Erklärer" aber von bereits Gegebenem erniedrigt sich das wirkliche Denken nicht. 2 8

Dem unzureichenden Denken der Wirklichkeit ist hier das .wirkliche Denken' gegenübergestellt, das vom Indifferenzpunkt aus denkt. Wir haben mit dem Indifferentismus eine von jenen Ideen, eines jener Denkmodellen vor uns, die gerade wegen ihrer mangelnden Konkretheit eine umfassende Wirksamkeit entfalteten. Ganz nach den jeweiligen Zusammenhängen und Interessen wurde dieses Denkmodell substantiell gefüllt und konkretisiert. Mal wurde der Indifferenzpunkt mit dem Ich, mal mit dem Geist identifiziert — das Modell blieb das gleiche: Hinter und jenseits der als Chaos erfahrenen Welt muß ein Punkt festgestellt werden, der einerseits zwar den unentwirrbaren Widersprüchen der geschichtlichen Wirklichkeit enthoben ist, dem andererseits aber nicht die geschichtsohnmächtige Wirkungslosigkeit der klassischen Metaphysik eigen sein dürfte. Dies war der Hintergrund für die ungeheure Wirkung des Vitalismus, insbesondere in der Prägung, die Nietzsche ihm gegeben hat. In Vom Nutzen und Nachtbeil der Historie für das lieben hat Nietzsche die Relativierung der Geschichte deutlich gemacht: Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen [...] 2 9

Oder: Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht [...] 3 0

Erst einmal ganz in diesem Sinne beschrieb Unger 1915 in einem Brief an den dem George-Kreis nahestehenden Professor Kurt Breysig die Gefahren der geschichtlichen Kontinuität, die in ihrer Endlosigkeit und Lückenlosigkeit sich alles anverwandele: Es wird verschluckt, — schrieb er — ehe es jemandem zu Gesicht kommen konnte, ja, es geht so weit, daß überhaupt nur wenige zugeben, daß es an einem Geschehen etwas Nicht-Historisches geben könne und daß es eine Berechtigung zu einer Betrachtung gebe, die das Ereignis nur als es selbst sieht. 31

Die Geschichte und Geschichtlichkeit wird hier ähnlich wie bei Nietzsche relativiert, aber — und es wird sich sogleich zeigen, daß dieser Unterschied von großer Bedeutung ist — nicht relativiert zum ,Leben' hin, sondern zum einzelnen Ereignis der Geschichte selbst. Hier ist die Konsequenz gezogen aus seiner 28 29 30 31

Ebd. Friedrich Nietzsche: HL, Vorwort (KSA 1.245). HL 1 (KSA 1.257). Erich Unger: Vom Expressionismus ..., a. a. Ο., 41.

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frühen Nietzsche-Kritik von 1911, als er dessen Vorstellung von ,Leben' an das ,Erleben' gebunden sah und mit dem letzten Satz dieser subjektivistischen Tendenz Nietzsches entgegenhielt: Das ungeheuerste Erlebnis konnte falsch sein. Er — Nietzsche — zerbrach daran.32

Der Indifferenzpunkt sollte im Ereignis, in der geschichtlichen Wirklichkeit selbst gefunden werden. Dies trennte Unger von den ,Geistigen' um Hiller und Rubiner ebenso wie von Nietzsche. Da er aber nicht wieder in die chaotische und katastrophenhafte Geschichtlichkeit zurückfallen durfte, mußte ein geschichtliches Ereignis gefunden werden, das sozusagen die Struktur des Indifferentismus in sich trägt und dadurch die Sphäre der unentwirrbaren Widersprüche durchschlägt. Es mußte ein Ereignis in der Geschichte gefunden werden, das metaphysische Dignität besitzt. Da dies der entscheidende Dreh- und Angelpunkt im Ubergang Ungers von Nietzsche zu Goldberg war, muß er genauer beschrieben werden. In seinen philosophischen Notizen von 1915 untersucht Unger den problematischen Zusammenhang von Erfahrung und Metaphysik. Dies war genau jene Thematik, in der sich Unger 1921 mit Walter Benjamin traf. Gegen Ende dieser Notizen heißt es: Es handelt sich nun zunächst darum, einen Zustand zu setzen, in dem überhaupt noch nicht geurteilt wird und in dem das Denken in dem Zustand vor dem Akutwerden irgend einer seiner Funktionen, als indifferente Möglichkeit, besteht, um irgend einen Hinweis für eine notwendig erste Äußerung seiner zu gewinnen (Schwierigkeit des Anfangspunktes einer philosophisch unantastbaren Ausgangs-, nicht Voraussetzungslosigkeit sondern Einbeziehung aller möglichen anderen Anfangspunkte)33

Dieser hier noch einmal beschriebene Indifferenz-Punkt sollte nun sowohl metaphysisch als auch geschichtlich-real sein. In der von Walter Benjamin hoch geschätzten Schrift Politik und Metaphysik von 1921 können wir die beiden Schritte nachlesen, die ihn zu Goldberg führten. Dort heißt es Metaphysik [...] bedeutet also keine logische Nicht-Erfahrung, die Unmöglichkeit, auf metaphysischem Felde je etwas auszurichten, wird nicht schon in seine Definition gelegt als prinzipielle Nicht-Erfahrbarkeit — wobei man sich dann nicht wundern kann, wenn in der Tat nichts ausgerichtet und eine Unmöglichkeit bewiesen wird — Metaphysik bedeutet nicht logische, sondern nur gleichsam-historische Nicht-Erfahrung. Wir sagen ,^/«VAM/w-historisch", weil Metaphysik und Empirie [...] aufeinander folgen wie %wei Bewußtseins-Modi.34 32 33 34

Ebd, 25. Ebd., 51. Erich Unger: Politik und Metaphysik, a. a. O., 25.

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Hier ist also prinzipiell die Erfahrbarkeit von Metaphysik festgestellt, wenn sie auch der bloßen wissenschaftlichen Empirie nicht zugänglich ist. Metaphysik will das Ganze erfassen, und gerade deshalb ist sie heute normalerweise nicht erfahrbar. Die Ganzheit ist aus dem ganzen Umkreis der Teile nicht zu ermitteln, weil die Teile verselbständigte Teile sind.35

Der Indifferenzpunkt muß also so beschaffen sein, daß er als Ganzheit die Teile in sich birgt, eine — wie Unger hier schrieb — „Realität einer Vielheitsexistenz"36. Ausfuhrlicher: Die Existenz einer solchen Einheit einer bestimmten empirischen Vielheit ist das Grundelement und die Bedingung katastrophenloser soziologischer Ordnung.37

Hier nun bot Goldberg das Modell einer, wie er selbst sagte, ,paradigmatischen Geschichtsauffassung'38: Die großen Ur-Väter der hebräischen VolksStämme seien jene .Realität einer Vielheitsexistenz' gewesen, die eben metaphysisch bedeutsamer und wirksamer gewesen sei als die Summe der verselbständigten Teile. Diese Volksgründungs-Kraft hätten sie — nachprüfbar im Pentateuch — von ihrem Gott übertragen bekommen, einem Gott, der seinerseits in heftigem Kampf mit anderen, bodenständigen Göttern stand. Diese anderen, polytheistischen Götter seien rein biologische Götter, deren Macht in den Kreislauf von Geburt und Sterben gebannt sei. Nur der eine Gott der Hebräer, der Gott der Wüste, habe die Fähigkeit, diesen Kreislauf der ewigen Wiederkehr zu durchbrechen, habe jene vor-biologische Macht, die die biologischen, lebensgesetzlichen Kreisläufe hervorgebracht habe. Dieser eine Gott wurde El Schaddaj genannt. In einer längere Passage aus Goldbergs Wirklichkeit der Hebräer wird die Verbindung des Denk-Modells der Indifferenz mit der Goldbergschen Theorie der metaphysischen Völker erkennbar: Der El Schaddaj als der wirkungsfähige Indifferenzpunkt des gemeinsamen Ursprungsorts der Lebensgesetzlichkeit, des Zelem Elohim, hat eine universelle, d. h. über die „Biologie" hinausführende Bedeutung. Der Universalismus, der in der Einheit des Menschengeschlechts gegründet ist, ist oben so definiert worden, daß der Mensch die Möglichkeit zu allen Elohim, d. h. zur Ausbildung aller denkbaren biologischen Fähigkeiten in sich trägt. Während sich jedoch im Menschen, sofern er ein Produkt der anderen Elohim ist, stets nur eine ganz bestimmte, scharf umgrenzte biologische Teilßhigkeit herausbildet, enthält der Mensch, sofern er von dem Elohim IHWH hergestellt ist, ein Totalitätsorgan, 35 36 37

38

Ebd., 9. Ebd., 23. Ebd., 26.

Oskar Goldberg: Die Wirklichheit der Hebräer, a. a. O., 127.

Jüdisches Denken im Frühexpressionismus

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das ihn befähigt, über die Biologie hinauszugehen und zum biologiverbeugenden Prinzip vorzudringen. Deshalb wird von Abraham in den Einleitungssätzen zur Beschneidung, die ein gegen die anderen Elohim als die Einführer des „Kreislaufs" (Geburt, Tod etc.) gerichtetes, 5

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I. Die Gren^juden* Mit dem Begriff „Grenzjuden" meine ich etwas Spezifischeres als den problematischen Bereich, den nach Grunfeld „die meisten der Künstler und Intellektuellen bildeten, welche die aufregendste Periode in der deutschen Geistesgeschichte mitgestalteten"7. Grunfeld verwendet den Begriff in bezug auf so prominente jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller im deutschen Kulturbereich* wie Else Lasker-Schüler, Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Alfred Döblin, Franz Kafka, Franz Werfel, Kurt Tucholsky, Walter Benjamin, Carl Sternheim, Karl Kraus, Ernst Toller, Sigmund Freud und viele andere. Sie alle waren Gren^juderi* in dem Sinne, daß sie ihre Religion und Tradition verloren hatten, aber nicht voll in die säkulare deutsche oder österreichische Gemeinschaft integriert worden waren. Bei einigen führte der Haß auf die Wurzeln ihrer Herkunft zu Selbstzerstörung und Zusammenbruch.8 Diesen Individuen fehlte es auf tragische Weise an Identität: sie wiesen jede Affinität mit der jüdischen Gemeinschaft von sich, waren aber nichtsdestoweniger unter ihren nichtjüdischen Zeitgenossen unwillkommen.9 Nach Gershom Scholem gehörten diese Grenzjuden, „weil sie innerlich nichts mehr mit der jüdischen Tradition, geschweige mit dem jüdischen Volk verband", „zu den erschütterndsten Phänomenen dieses ganzen Entfremdungsprozesses".10 Doch trotz ihrer Versuche, von den Deutschen als Deutsche akzeptiert zu werden, erkannten die meisten die traumatische Wahrheit, daß es nicht möglich war, „insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war". 11 7

8 9

10

11

Frederic V. Grunfeld, Prophets without Honour. A Background to Freud, Kafka, Einstein and their World, New York 1979, 17. Vgl. Solomon Liptzin, Germany's Stepchildren, Philadelphia 1944, 195. Jakob Wassermann beschrieb sie daher als Leute, die „religiös und sozial in der Luft" hingen: „Den alten Glauben hatten sie nicht mehr, einen neuen, will heißen den christlichen, anzunehmen weigerten sie sich [...] das körperliche Ghetto ist zu einem seelischen und geistigen geworden." (Der Fall Mauritius, Berlin 1931, 329). In seiner erzählenden Autobiographie erklärt Wassermann: „Ich war gewissermaßen ein Moses, der vom Berge Sinai kommt, aber vergessen hat, was er dort erblickt, und was Gott mit ihm geredet hat." (Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1922, 22; im folgenden zitiert als Mein Weg). Wassermanns Identität als Jude war insofern negativ: „Genau betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt [...] Wozu war man also noch Jude, und was war der Sinn davon?" (Mein Weg, 15). Wassermanns Gefühl der Entfremdung war der Hintergrund für das Bestreben, „nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit gedulteter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht" (Mein Weg, 19). Gershom Scholem, „Juden und Deutsche", (November 1966), in: ders., Judaica 2, Frankfurt/M. 1970, 33. Arthur Schnitzler, Jugend in Wien, hrsg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Wien 1968, 328. Es nimmt kaum wunder, daß in Schnitzlers Augen seine wichtigste Schrift sein erstes,

Nietzsche und die „Grenzjuden"

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Die deutschen Juden im allgemeinen erprobten ein weites Spektrum von Lösungen dieses unerträglichen Zustands der Entwurzelung: von völliger Assimilation, ja Konversion zum Christentum bis hin zur Identifikation mit bestimmten ideologischen oder politischen Bewegungen wie dem Sozialismus (Ernst Bloch, Kurt Tucholsky und Ernst Toller) oder dem Zionismus (Martin Buber, Gershom Sholem, Max Nordau). Ich will mich hier jedoch auf eine Untergruppe von Gren^juden* beschränken: auf diejenigen, die daran litten, was man als ein Syndrom doppelter Marginalität bezeichnen könnte. Die doppelt marginalen Juden waren entfremdet von ihrer jüdisch-orthodoxen Gemeinde und von der deutschen Gesellschaft und blieben trotz des existentiellen Drucks in einem Zustand aufgehobener Identität, weil sie sich weder für Sozialismus oder Zionismus entschieden noch sich wie Alfred Döblin einer Form von Katholizismus zuwandten. Diese Grenzjuden wollten lieber auf eine Identiät verzichten als eine fix und fertige annehmen. Nietzsche lehrte sie, daß mit dem Tode Gottes alle ideologischen und politischen ,,-ismen", die im 19. Jahrhundert entstanden, nichts als zurückbleibende Schatten waren. Werfel brachte dieses Gefühl pointiert zum Ausdruck: Sozialismus und Nationalismus sind „politische Ersatzreligionen" 12 . Nietzsches Attraktivität für sie wurzelte in seinem inspirierenden Ruf, ein wahrhafter freier Geist zu werden und nach persönlicher Authentizität zu suchen. Nietzsche drängte seine Leser dazu, sich ihr eigenes Selbst und Leben zu schaffen, genau wie ein Künstler seine Kunstwerke schafft. 13 Und schöpferisch waren die Grenzjuden* sicherlich, da ihre Entscheidung, jede dogmatische Ideologie zu vermeiden, ihnen „unendliche Perspektiven" eröffnete; sie übernahmen Nietzsches Anti-Dogmatismus und sein Plädoyer für ein schöpferisches Leben selbst „am Rande eines Abgrunds". Da sie ihre Identitätsprobleme auf die eine oder andere Weise lösten, hörten die meisten Grenzjuden auf, sich auf Nietzsche zu beziehen, und befreiten sich von seinem Zauber. Aber am Beginn ihrer quälenden Suche nach persönlicher Authentizität wurden viele junge jüdische Intellektuelle von den Möglichkeiten erregt, die Nietzsche für sie bereithielt. Auf dem Gymnasium* oder auf der Universität nahmen diese Grenzjuden Nietzsche oft euphorisch auf, weil sie in ihm einen hilfreichen Gefährten auf ihrer existentiellen Suche sahen. Ein Beispiel ist Martin Buber, der, nachdem er eine Art von pazifistischem Zionismus und

12

13

unvollendetes und verlorengegangenes Drama „Der ewige Jude" war (Jugend in Wien, 74). Zum Antisemitismus in Schnitzlers Wien vgl. ebd., 78, 329. Franz Werfel, Zwischen oben und unten, aus d. Nachlaß hrsg. von Adolf D. KJarmann, München, Wien 1975, Vorrede (1944 verfaßt), 7. Zu Nietzsches ästhetischem Modell eines authentischen Lebens vgl. meinen Aufsatz „Nietzsche on Authenticity", in: Philosophy Today 34 (1990), 243-258, und mein Buch In Search of Authenticity from Kierkegaard to Camus, London 1995, 6 8 - 8 7 .

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existentiellem Judentum angenommen hatte, emsige Anstrengungen unternahm, um sich von dem Einfluß, den Nietzsche auf ihn in seinen jüngeren Jahren ausgeübt hatte, zu befreien, wie er in seinen Schriften und Briefen eingesteht. 14 Dasselbe trifft für Alfred Döblin zu, nachdem er katholisch wurde, und für Ernst Toller, nachdem er sich entschieden hatte, sich dem revolutionären Sozialismus anzuschließen. Nur Stefan Zweig und diejenigen, die sich wie er niemals einer endgültigen, bestimmten Identität verschrieben hatten, äußerten sich weiterhin enthusiastisch über Nietzsche und seine Ideen.

IL Die Rezeption Nietzsches durch die „Propheten, die ungern gehört wurden" Es hat unter den Juden verkannte Genies gegeben, Propheten, die ungern gehört wurden, Männer von Kopf, die [...] sich für große Geister unter den Deutschen eingesetzt haben [...] geradezu in erstaunlichem Maß. 1 5

Aus Platzgründen werde ich nicht einmal die charakteristischsten persönlichen Erwiderungen auf Nietzsche von einigen herausragenden jüdischen „Propheten" wiedergeben, die, unfähig oder unwillig, in der Annahme einer fix und fertigen Identität Anerkennung zu finden, viel zur Anerkennung Nietzsches beitrugen. Freilich verschlangen diese hochintellektuellen und hochgebildeten Juden faktisch alles von den Klassikern bis zu zeitgenössischen deutschen Texten, lasen europäische Literatur im allgemeinen und nicht bloß Nietzsche, wie Stefan Zweig in seiner Autobiographie Die Welt von Gestern bezeugt. Ihre Schriften nehmen häufig Bezug auf Spinoza, Goethe, Heine, Strindberg, Dostojewski, Rilke, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Schopenhauer u. a.; aber für gewöhnlich sind solche Bezüge weit weniger emotional und persönlich als die Bezüge auf Nietzsche. In der Tat ist die persönliche Art, in der die Gren^judetf* in ihren Schriften und ihren autobiographischen Berichten und Memoiren Nietzsche emphatisch begrüßen, ohne Parallele. Viele beschreiben ihre erste Begegnung mit Nietzsche 14

15

In einem autobiographischen Fragment schreibt Buber, daß er im Alter von 17 Jahren, zu einer Zeit, da er noch unschlüssig war über seinen Weg als Jude und als Zionist, so sehr von Nietzsches Also sprach Zarathustra begeistert war, daß er sich entschloß, den Zarathustra zu übersetzen: .Dieses Buch [...] hat auf mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Uberfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich loszumachen vermocht habe" (Martin Buber, Begegnung: autobiographische Fragmente, 3., verb. Auflage, Heidelberg 1978, 29 f.). In einer Anmerkung fügt er hinzu: „Ich war damals von dem Buch so eingenommen, daß ich es ins Polnische zu übersetzen beschloß und den ersten Teil auch übersetzt habe" (ebd., 91). Gershom Scholem, „Juden und Deutsche", a. a. O., 39. Es ist daher nicht überraschend, daß wir in den jüngst veröffendichten Tagebüchern Scholems viele lobende Anmerkungen zu Nietzsche und seinen Werken finden. Vgl. Gershom Scholem, Tagebücher., hrsg. von Karlfried Gründer und Friedrich Niewöhner, Frankfurt/M. 1995, bes. 46, 51 f., 65, 80.

Nietzsche und die „Grenzjuden"

233

als eine O f f e n b a r u n g , als einen „emotionalen Schock", als eine „durchschüttelnde" Erfahrung, die sie „atemlos" erleiden, oder als eine „Invasion". 1 6 Ich w e r d e en passant

nur ein paradigmatisches Beispiel herausheben: das Ste-

fan Zweigs, eines der vielseitigsten Repräsentanten der Exil-Literatur

* deutscher

Juden, die m a n g e z w u n g e n hatte, v o r den Nazis zu fliehen. Zweig g e h ö r t zu den Humanisten, die, nicht bereit, sich irgendeiner Ideologie hinzugeben, vollk o m m e n meiner D e f i n i t i o n des „doppelt marginalen J u d e n " entsprechen. Es ist daher nicht überraschend, daß Zweig sein ganzes Leben lang g r o ß e n Respekt, ja B e w u n d e r u n g f ü r Nietzsche e m p f a n d und o f t nietzscheanische G e f ü h l e und Ideen in seinen Schriften äußerte. Bereits 1 9 0 4 , in seiner Dissertation über Die

Philosophie

des Hippolyte

Taine,

bezieht er sich in affirmativer Weise auf Nietzsches Ideal authentischer Existenz, auf ein Ideal nämlich, das „Kunst Gestern

und Leben"*

h a r m o n i s i e r t . 1 7 In Die

Welt

von

v o n 1 9 4 2 erzählt Z w e i g v o n seiner Zeit auf d e m G y m n a s i u m , w o er

Nietzsche unter der Schulbank las, während sein Lehrer langweilige Vorträge hielt. Er beschreibt, wie er und seine Freunde in W i e n s K a f f e e h ä u s e r n hitzig und o h n e E n d e über Nietzsche diskutierten, der damals noch abgelehnt wurde. Zweigs Begeisterung f ü r Nietzsche steht außer Frage. E r hat nicht nur verschiedene Essays über Nietzsche geschrieben 1 8 , sondern auch o f t auf Nietzsches 16

17

18

Vgl. Anm. 14 zu Buber. Ein anderer enthusiastischer Anhänger, Arthur Schnitzler, verwendet häufig Superlative, wenn er auf Nietzsche und seine Werke zu sprechen kommt: „Nietzsche! Bei keinem hab ich noch so tief empfunden, daß es etwas gibt, was ich nicht werden kann." (Arthur Schnitzler, Tagebuch: 1879- 1892, Wien 1987, 342 [Eintrag vom 21. 7. 1891]). - In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 27. 7. 1891 schreibt Schnitzler: „Gelesen wird mancherlei Burckhardt, Cultur der Renaissance, Goethe [...] etc. Besonders Nietzsche — zuletzt hat mich sein Schlußcapitel und das Schlußgedicht zu Jenseits von Gut und Böse ergriffen. — Erinnern Sie sich? Nietz'sche Sentimentalität! — Weinender Marmor!" (Briefe 1875— 1912, hrsg. von Therese Nicki und Heinrich Schnitzler, Frankfurt/M. 1981, 120). - In einem Brief vom 21. 6. 1895 ruft er aus: „Ich kann mir selbst große Künstler denken, die Nietzsche nicht kennen, auch solche, die ihn kennen u. nicht lieben. Misverstehen Sie mich nicht: ich kenne ihn und liebe ihn. Daß er kein Philosoph, im Sinn der system. Philosophie ist, bringt ihn mir nur noch näher [...] Ich sehe heute alles Schöne und Große wie ich es vorher gesehn habe [...] Ich verehr ihn hoch — (in gewissen Abständen) neben Goethe, neben Beethoven, neben Ibsen, neben Maupassant — neben Michelangelo — ich habe einen Genuß mehr seit Nietzsche, aber ich habe keinen Genuß anders als ich ihn gehabt habe. — Es ist gewiß wahrscheinlich, daß die moderne Production auch in bedeutenderen Werken von einem so großen Geist nicht wird unbeeinflußt bleiben können" (ebd., 262). In Zweigs unveröffentlichter Dissertation, am 7. April 1904 der Universität Wien vorgelegt (eine Kopie von ihr befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar), heißt es: „Ihn [Taine] erfüllte, wie seinen Freund und Jünger Nietzsche, der Traum jener Griechentage, da Kunst und Leben Harmonie war" (107). Vgl. seinen Aufsatz „Friedrich Nietzsche", in: Der Kampf mit dem Dämon, Leipzig 1925, 231-322 (dies ist der zweite Band seines Buchs Die Baumeister der Welt)·, „Nietzsche und der Freund" [Franz Overbeck], in: Neue Freie Presse (Wien) vom 21. Dezember 1916, 1 — 5, wieder abgedruckt in: Insel-Almanach auf das Jahr 1919, Leipzig, 111—123, und in: Knut Beck (Hrsg.), Menschen und Schicksale, Frankfurt/M. 1981, 114-123. Siehe auch seinen 1932 gehaltenen Vortrag „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung", in: S. Zweig, Die Monotonisierung der

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Größe und Genie in seinen Briefen verwiesen19. Ja, was am bezeichnendsten ist, Zweigs Zuneigung zu Nietzsche ließ auch nach Hitlers Aufstieg zur Macht nicht nach — im Gegenteil, wie wir aus einem vor dem Krieg geschriebenen Aufsatz 20 , aus Briefen21 und aus seinem Roman Ungeduld des Hertens von 1939 ersehen können. In diesem Roman, in dem Zweig von Nietzsches Abneigung gegen das Mitleid spricht, ist er für ihn noch immer „der gescheiteste Mensch des letzten Jahrhunderts".22 In einem Brief an Romain Rolland zeichnet Zweig Nietzsche bewundernd als den unabhängigen „Prin% Vogelfrei"* und als „den ersten Europäer"*.23' Offensichtlich hat Nietzsches Begriff vom „guten Europäer" Zweig tief beeindruckt, für den, wie für Nietzsche, Europa eine geistige Heimat war. Als er sie verlor, setzte er seinem Leben ein Ende.24

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Welt, Frankfurt/M. 1976, 4 7 - 7 1 , und seinen 1909 erschienenen, stark von Nietzsche inspirierten Artikel „Das neue Pathos", in: Das litterarische Echo 11 (1909), 1701-1707. Vgl ζ. B. Romain Rolland - Stefan Zweig Briefwechsel 1910- 1940, Berlin 1987, der mindestens 18 bedeutsame Verweise auf Nietzsche vor 1933 enthält, deren allgemeiner Ton sich mit den Worten „der große Nietzsche" aus einem Brief vom 28. 3. 1930 (II 366) zusammenfassen läßt. Vgl. auch Zweigs Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitter, Frankfurt/M. 1987, und seine Briefe an Freunde, hrsg. von Richard Friedenthal, Frankfurt/M. 1978, wo er in einem Brief vom 12. 1. 1924 fleht: „Gotte schenke uns [...] einen neuen Nietzsche, einen einzigen großen Jasager zum Leben!" (149). Zweigs Briefwechsel mit dem NietzscheArchiv ist noch unveröffentlicht und befindet sich im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. Vgl. auch Stefan Zweig: An International Bibliography, zusammengestellt von J. Klawitter, Riverside (Cal.) 1991, 507. „Mater Dolorosa: Die Briefe von Nietzsches Mutter an Overbeck", in: Neues Wiener Tageblatt, 21. Dezember 1937, 2 - 3 , wieder abgedruckt in: Stefan Zweig, Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902- 1942, hrsg. von Knut Beck, Frankfurt/M. 1990, 317-324. Vgl. ζ. B. den 2. Band seines Briefwechsels mit Romain Rolland, insbesondere die Briefe von seinem Exil in London, etwa den Brief vom 10. 6. 1934, in dem er auf Nietzsche verweist und seine existentielle Formel vom „amor fati" zitiert (569) und den vom 4. 10. 1934, wo er sagt, daß „der geniale Nietzsche" das beginnende Ende des Christentums vorausgesehen habe (582). Vgl. auch seinen Brief vom 13. 1. 1936 (618). Stefan Zweig, Ungeduld des Hertens, Frankfurt/M. 1976, 188. Die englische Ubersetzung dieses Romans [nach der der Autor zitiert — d. Ubers.] Beware of Pity (von Phyllis und Trevor Blewitt, New York 1939) ist daher treffend gewählt. Vgl. Adrian Del Caro, „Stefan Zweig's Ungeduld des Hertens: A Nietzschean Interpretation", in: Modern Austrian Literature 14 (1981), 195 — 204. Vgl. den Brief vom 4. 5. 1925 an Romain Rolland, wo Zweig sich auf seinen Aufsatz über Nietzsche in Der Kampf mit dem Dämon bezieht und schreibt: „Mein ganzer Essay ist eine verborgene Polemik gegen den [...] Versuch, Nietzsche für Deutschland zu reklamieren, für den Krieg, für die ,gute deutsche Sache' — ihn, den ersten Europäer, unseren Vorfahren [...] den hochgemuten ,Vaterlandslosen'." (Briefe: Romain Rolland — Stefan Zweig, a. a. Ο., II 102 f. Vgl. Klaus Bohnen, „Europäisches Bewußtsein in der Krise. Unveröffentlichter Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Georg Brandes", in: Orbis Litterarum (Kopenhagen) 33 (1978), 220 — 237. Interessant genug, daß, obwohl Zweigs Beschäftigung mit Nietzsche so breit durch ihn selbst dokumentiert ist, diese noch nicht adäquat untersucht worden ist. Vgl. jedoch den oben aufgeführten Artikel von Adrian Del Caro, die Äußerungen von Hermann Bahr in „Der Kampf mit dem Dämon", in: Neue Freie Presse, 21. 5. 1925, und in: Ulrich Weinzierl (Hrsg.), Stefan Zweig — Triumph und Tragik, Frankfurt/M. 1992, 28 — 33. Vgl. auch einen Aufsatz von Leon Botstein, „Stefan Zweig and the Illusion of the Jewish European", in: Marion Sonnenfeld (Hrsg.), Stefan Zweig, Albany 1983, 82-110, bes. 89 f.

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Die lange Liste solcher früher jüdischer Bewunderer Nietzsches läßt sich natürlich auf Namen ausdehnen wie Jakob Wasserman25, Walter Benjamin26, Carl Sternheim27, Arnold Zweig28, Lion Feuchtwanger29, Franz Kafka 30 , Sig25

Der extensive Gebrauch Nietzschescher Begriffe in Wassermanns frühen Schriften läßt vermuten, daß Nietzsche auf ihn gewirkt hatte. So ζ. B. schreibt Wassermann 1907 in „Faustina: Ein Gespräch": „Der Liebende ist Augenmensch; seine Leiden sind wirklich, seine Freuden sind dionysisch; der andere, der die Liebe nur ahnt wie ein Nachtgänger das Morgenrot" (in: Imaginäre Brüchen: Studien und Aufsätze, München 1921, 55); und in seiner Rede an die Jugend über das Leben im Geiste (Berlin 1932), gehalten in der Universität Basel, wo Nietzsche einst lehrte, verweist Wassermann, wo er von der „europäischen Gestalt"* spricht, einmal mehr auf ihn (37). Zu Nietzsches Wirkung auf Wassermann vgl. Anne-Liese Seil, Das metaphysisch-realistische Weltbild Jakob Wassermanns, Marburg 1932, das Kapitel über Nietzsches Wirkung auf Wassermann in Walter Goldsteins Wassermann. Sein Kampfum die Wahrheit, Leipzig/Zürich 1929, 309 ff. und ders., Jakob Wassermann. Der Mann von sechzig Jahren, Berlin 1933, ein Buch, das viele nietzschesche Motive in Wassermanns Schriften erklärt; vgl. insbesondere 27 ff. Ironischer- oder tragischerweise enthält das Buch, das in dem Jahr von Hiders Machtantritt veröffentlicht worden ist, den folgenden Satz: „Der Weg der deutschen Juden von Heine zu Wassermann ist der Weg von der Unsicherheit zu neu errungener Sicherheit." (37).

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Es gibt mindestens 20 Verweise auf Nietzsche in Walter Benjamins von Gershom Scholem und Theodor W Adorno herausgegebenen Britfen (Frankfurt/M. 1966). Vgl. auch Benjamins „Nietzsche und das Archiv seiner Schwester" von 1932, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 323 — 326. Und vgl. Peter Pütz, „Nietzsche im Lichte der Kritischen Theorie", in: Nietzsche-Studien 3 (1974), 175-191, H. Pfotenhauer, „Benjamin und Nietzsche", in: B. Lindner (Hrsg.), Links hatte noch alles sich enträtseln ..Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt/M. 1978, 100-126, G. Franck, „Walter Benjamin e i paradossi di Zarathustra", in: F. Rella (Hrsg.), Critica e storia, Venedig 1980, 117-136. Vgl. ζ. B. seinen Brief vom November 1906 und andere Verweise auf Nietzsche in Carl Sternheims Gesamtwerk, hrsg. von Wilhelm Emrich, Bd. 7, Neuwied am Rhein 1967, 847 f., 854 f. und seine Essays „Morgenröte?" (1919), „Berlin oder Juste milieu" (1920), „Tasso oder die Kunst des Juste milieu" (1921), in: Bd. 6 (1966), 101-102; 105-171; 177-201 (bes. 125, 142, 159, 199). Vg. auch seine Essays „Das Arbeiter-ABC" (1922), 2 4 0 - 2 5 5 (bes. 248) und sein 1932 erschienenes autobiographisches Stück „Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens", in Bd. 10 (1976), bes. 189, 258 f. Vgl. Herbert W. Reichert, „Nietzsche und Carl Sternheim", in: Nietzsche-Studien I (1972), 334-352. Vgl. seine Bilanz der deutschen Judenheit Ein Versuch, Leipzig 1990 (Amsterdam 1934), 236-238, und Artikel in der Zeitschrift Orient, hrsg. u. veröffentlicht von Arnold Zweig und Wolfgang Yourgau in Haifa (Palästina) während der Zeit, als er dort lebte. Ein interessanter Artikel daraus ist z.B. der von Paul Riesenfeld, „Übermensch und Untermensch", Orient 12 (Juni 1942), II — 14. Vgl. Arnold Zweigs Aufsatz gelegentlich des 80. Geburtstags von Freud am 6. Mai 1936, der den Titel trägt „Apollon bewältigt Dionysos". Zweig erklärt darin, daß Freud der „größte Psychologe seit Nietzsche" war, in: Das neue Tagebuch (Paris und Amsterdam) 18 (1936), wieder abgedruckt in: Text und Kritik (München), Heft 104: Arnold Zweig, Oktober 1989, 3 — 8. Siehe auch seine Briefe an Freud, und zwar den vom 2.12.1930, in dem er über seinen Wunsch, einen Aufsatz über Freuds Verhältnis zu Nietzsche zu schreiben, spricht (Sigmund Freud — Arnold Zweig: Briefwechsel, Frankfurt/M. 1968, 35), den vom 28. 4. 1934, in dem er über seinen Plan, „den Roman von Nietzsches Umnachtung zu schreiben", spricht und in dem er sagt, daß Nietzsche der „Gott meiner Jugend" war: „Nun näherte ich mich seit Jahren ihm wieder, dadurch daß ich in Ihnen, Vater Freund, den Mann erkannte, der all das getan, was der Nietzschefritz nur malte" {ebd., 85), und den vom 6. 6. 1934, in dem er erneut behauptet: „Eine Jugendliebe ist mir dieser F. N. gewesen, bewundert als Prosaist einschließlich auch als Denker . . . " (ebd., 91; vgl. auch den Brief vom 8. 7. 1934, ebd., 9 3 - 9 5 ) . Vgl. dazu Freuds Brief an Arnold Zweig vom 11. und 12. 5. 1934, in dem Freud ihm rät, den Roman über Nietzsche nicht zu

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mund Freud 31 oder Karl Kraus, der - ein herausragendes Beispiel von Marginalität — 1911 zum Katholizismus übertrat und 1923 die Kirche verließ. 32 Es sollte jedoch genügen, darauf hinzuweisen, daß von den 480 Titeln, die Krümmel zusammengestellt hat 33 , ungefähr 70 von den von mir oben als „Grenzjuden" definierten Autoren verfaßt worden sind. Das Verhältnis ist fast dasselbe im ersten Band von Hillebrands „Nietzsche und die deutsche Literatur" in seiner

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schreiben {ebd., 87 — 89). Dieser Rat wirkte auf Zweig, der widerstrebend seinen Plan, über Nietzsche zu schreiben, aufgab, jedoch nicht ohne diesen „zarten sehnsüchtigen Werber" gelobt zu haben, den „das Bismarck- und das Nazi-Deutschland, alles, was er verachtet", „auffressen", wie er in einem Brief aus Haifa vom 12. 8. 1934 schreibt {ebd., 99). Nietzsche wird von Zweig verschiedentlich auch in seinem Briefwechsel mit einem anderen bekannten Grenzjuden, mit Lion Feuchtwanger, erwähnt. Vgl. Lion Feuchtwanger/Arnold Zweig Briefwechsel 1933— 1958, hrsg. von Harold von Hofe, Berlin und Weimar 1984, 2 Bde., insbesondere die Briefe, die Zweig aus Haifa am 7. 5. 1945 (I 336), aus Berlin am 11. 12. 1951 (II 150) und aus Berlin am 4. 2. 1957 (II 370) schrieb. In: Lion Feuchtwanger/Arnold Zweig Briefwechsel 1933— 1958, hrsg. von Harold von Hofe, Berlin und Weimar 1984, 2 Bde., siehe zwei Briefe von Feuchtwanger: den vom 30. 3. 1945 (I 323) und den vom 25. 9. 1951 (II 144). Vgl. Hamid Ongha, Geschichtsphilosophie und Theorie des historischen Romans bei Lion Feuchtwanger, Frankfurt/M. 1982, bes. den Abschnitt über „Nietzsche und Feuchtwanger", 129 — 132. Siehe auch Feuchtwangers „Über Jud Süß" in seinen Centum Opuscula, Rudolstadt 1956, 388 — 391, wo Feuchtwanger erklärt, daß Jud Süß den Weg des europäischen Menschen von Buddha zu Nietzsche zeigen sollte. Vgl. ζ. B. Ralf R. Nicolai, „Nietzschean Thought in Kafka's ,A Report to an Academy'", in: Uterary Review 26 (1983), 551 - 564, Wiebrecht Ries, „Kafka und Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 2 (1973), 258 — 275, Gerhard Kurz, Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, Patrik Bridgwater, Kafka und Nietzsche, Bonn 1974, Reinhold Grimm, „Comparing Kafka and Nietzsche", in: German Quarterly 52 (1979), 339-350, Stanley Corngold, „Nietzsche, Kafka and Literary Paternity", in: Nietzsche and Jewish Culture, a. a. Ο. (Anm. 2) und meinen Aufsatz „Kafka's Existential Metamorphosis: From Kierkegaard to Nietzsche", in: Clio 14 (1985), 271-286. Vgl. ζ. Β. Paul-Laurent Assoun, Freud et Nietzsche, Paris 1980, Bruce Mazlish, „Freud and Nietzsche", in: The Psychoanalytic Review 55 (1968), 360-375, Friedrich Tramer, „Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud", in: Jahrbuch fir Psychologie, Psychotherapie und Anthropologie 7 (1960), 325-350, Richard Waughman, „The Intellectual Relationship between Nietzsche and Freud", in: Psychiatrie 36 (1973), 458-467, Peter Heller, „Freud in his Relation to Nietzsche", in: Nietzsche and Jewish Culture (vgl. Anm. 2). Vgl. auch von mir: Nietzsche's Enticing Psychology oj Power, Ames 1989, „Freudian Uses and Misuses of Nietzsche", in: American Imago 37 (1980), 371—385, „Jaspers, Mann and the Nazis on Nietzsche and Freud", in: IsraelJournalfor Psychiatrie 18 (1981), 311-326. Vgl. Kraus' Artikel in seiner Zeitschrift Die Fackel, der Stellung nimmt zu Nietzsches Tod („Zu Friedrich Nietzsches Tod" 2. 51 [1900], 19 — 22), wo er Nietzsches schmerzliches Ringen um ein authentisches Leben mit den Worten vom „freiwilligen Leiden der Wahrhaftigkeit" (19) hervorhebt (wieder abgedruckt in Heinrich Fischer [Hrsg.], München 1968-1973, 39 Bde., Bd. 3). Vgl. von ihm auch andere Artikel aus Die Fackeil. 52 (1900), 1 4 - 1 6 und 23. 577/582 (1921), 6 1 - 6 6 , und Die dritte Walpurgisnacht (1933), hrsg. von Heinrich Fischer, München 1952, 59-65. An vergleichenden Untersuchungen zu Nietzsche und Kraus gibt es wenig: vgl. Joachim Stephan, Satire und Sprache, München 1964, bes. 137 f., Gerald Stieg, Der Brenner und die Fackel, Salzburg, William M. Johnston, The Austrian Mind: An Intellectual and Soäal History 1848— 1938, Berkeley 1972, 4, 206 (und auf S. 137 seinen Vergleich zwischen Nietzsche und Mahler). Richard Frank Krümmel, Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin 1974.

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Sammlung von Texten Nietzsche-Rezeption 1873— 1963. Dies ist sehr bezeichnend, weil die Juden weniger als ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert ausmachten. Die Beschäftigung der Gren%juden* mit Nietzsche wurde so intensiv, daß die antisemitischen Anhänger Nietzsches ihnen vorwarfen, Nietzsches Denken und Wirkung zu monopolisieren.34 Wie können wir die Begeisterung der Gren^juden* für Nietzsche erklären? Was war in seinen Schriften so anziehend, abgesehen von der Sympathie, die er, wie ich in verschiedenen Artikeln dargestellt habe 35 , hier und da für die Juden und die alten Hebräer bekundete?

III. Die Begeisterung fiir Nietzsche Nietzsches Denken stellte für die Grenzjuden eine Menge an Lebensfunktionen dar. Es wirkte unterschiedlich, als Katalysator und Antrieb, als Apologie und Rechtfertigung und als Erklärung. Es gab jüdischen Gelehrten wie Theodor Lessing Erklärungsmuster für das Verständnis von Antisemitismus und jüdischem Selbsthaß*. Aber vor allem verlockte sie Nietzsche dazu, sich auf die schwierige Aufgabe einzulassen, sich ihre Authentizität zu schaffen.

A. Authentizität Zwischen den entgegengesetzten Lösungskonzepten, sich durch Zuwendung entweder zum Christentum oder zum Zionismus aus der existentiellen Grenzsituation zu befreien, fanden die Grenzjuden, die ihre Marginalität bejahten, in Nietzsche eine inspirierende Führung; er eröffnete ihnen einen dritten Weg: den 34

Zu Hinweisen darauf vgl. Aschheim, „Nietzsche and the Nietzschean Moment" (a. a. O., Anm. 5), 191, Anm. 14. Ironischerweise wurde Nietzsche auch von den Deutschen zitiert — wenn auch selbstredend nicht monopolisiert - , die im Gegensatz zu diesen Kräften standen, und zwar in dem Werk zur politischen Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg: „Friedrich Nietzsche und die Juden", in: Die Umschau, Internationale Zeitschrift, 1. Bd., Mainz 1946, 317. Es handelt sich um den wohlbekannten Aphorismus ΜΑ I 475, wo Nietzsche von den Juden sagt, daß man ihnen „den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt". Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Doppelausgabe des Pariser Acephale vom Januar 1937, an dem so bedeutende französische Intellektuelle wie George Bataille, Pierre Klossowski, Jean Wahl usw. beteiligt waren und dem der Untertitel „Reparation ä Nietzsche" gegeben wurde; es ist ein Kampf gegen die Entstellung und Nazifizierung von Nietzsches Denken durch die „Intellektuellen" des Dritten Reichs.

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Vgl· v o n m ' r „Nietzsche on Jews and Judaism", in: Archiv fiir Geschichte der Philosophie 67 (1985), 1 3 9 - 1 6 1 und ausführlicher „Nietzsche's Judaism of Power", in: Revue des etudes juives 147 (1988), 353-385.

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der persönlichen Authentizität des „freien Geistes" in dem kulturellen Rahmen des „guten Europäers". Die Sehnsucht der Gren%juden* nach persönlicher Authentizität wurde unter anderem durch das Nietzschesche ästhetische Modell des aus eigener Kraft geschöpften Selbst und Lebens inspiriert. Was nun fanden die Grenzjuden in Nietzsche, das so sehr ein Widerhall ihrer Sehnsucht nach persönlicher Authentizität war? Nietzsche verwendete den Begriff „Authentizität" nicht ausdrücklich; aber man kann seine Gegenwart in den Unterscheidungen entdecken, die er zwischen Wahrheit* und Wahrhaftigkeit* macht. 36 Eine der Grundintuitionen von Nietzsches Denken ist der Begriff der vollständigen Immanenz, wie er in den Aphorismen 108—125 der Fröhlichen Wissenschaft formuliert ist. Es gibt keine transzendenten Entitäten oder übernatürlichen Mächte, es gibt keine „reine Vernunft", keine andere Welt, kein Reich anders oder höher als das unsere. Nach dem „Tod Gottes" hat man für sich selbst die gottgleiche Rolle des Schöpfers von Wahrheit und des eigenen Selbst zu übernehmen. Das Fehlen einer „prästabilierten Harmonie" zwischen unseren Vorstellungen und der Realität erlaubt uns, unsere Aufmerksamkeit auf die Schöpfung unseres wahrhaften Selbst zu lenken. Wir sind wahrhaft gegenüber dem Leben nur, wenn wir es in all seiner Strenge und in vollständiger Immanenz annehmen. Eines der Hauptziele der Philosophie Nietzsches ist, uns bei der Uberwindung der repressiven Momente von Kultur zu unterstützen und uns auf die Entdeckung und Reaktivierung unserer eigenen schöpferischen Kräfte hinzulenken. Nietzsche gebraucht die Metapher von Kunst und künstlerischem Schöpfertum. Der Einzelne ist dem Künstler verwandt, der frei sein Selbst als ein Kunstwerk gestaltet. Werden, was wir sind, heißt nicht nach unserer sogenannten „angeborenen metaphysischen Natur" leben, sondern vielmehr uns selbst frei schaffen. Dazu müssen wir uns selbst kennen, um zwischen dem zu unterscheiden, was wir in uns selbst und in den äußeren Umständen, die uns geformt haben, ändern können, und dem, was wir als unvermeidbar anzunehmen haben. Dies müssen wir tun in der heroischen Art des amorfati und der „Selbstüberwindung". Der Zweck dieser Selbstüberwindung ist die Erlangung von Reife, Authentizität und Macht. In diesem Sinne ist der Wille zur Macht zu einem Teil auch Streben nach Authentizität — es ist der Wille, der freie Schöpfer seines eigenen Selbst zu werden. Der optimale Wille zur Macht wird durch den ideal authentischen Übermenschen* ausgedrückt. Wenn der Wille qualitativ abnimmt, wird die Neigung zunehmen, vor der Aufgabe der Selbstschöpfung zurückzuweichen und sich mit der „Herde" zu identifizieren. Wer den Willen zur Macht in höherer Qualität und mit größerer Vitalität hat, manifestiert die „Herrenmoral" und 36

Μ 73, FW 357, JGB 1.

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Züge eines authentischen Lebens — im Gegensatz zur „Sklavenmoral", die typisch für die ist, die weniger Macht* besitzen. Die letzteren mögen gleichwohl mit größerer körperlicher Kraft* ausgestattet sein. Nietzsches Unterscheidung zwischen Kraft* und Macht*37 zeigt seine philosophische Betonung des Ubergangs von rein körperlicher Kraft und brutaler Gewalt* zur geistig-schöpferischen Macht, ein Übergang, der notwendig ist, wenn man Authentizität erlangen will. Nietzsche war sich des starken Drucks bewußt, der durch gesellschaftliche Konvention und Erziehung ausgeübt wird. Daher erfordert der Weg zu Authentizität und spontaner Kreativität die Entwicklungsstufen, die von Nietzsches Zarathustra beschrieben werden (in dem Kapitel „Von den drei Verwandlungen"). „Der Löwe" muß sich vom „Kamel" befreien, d. h. von den äußeren Gesetzen, die ihm durch kulturelle und institutionelle Bedingungen auferlegt sind. Erst wenn er den kindlichen Zustand der „ U n s c h u l d " * erlangt hat, kann er zu einer zweiten Stufe fortschreiten, auf der er bewußt moralische Normen annimmt und sich einverleibt. Diese Normen mögen die traditionellen Werte widerspiegeln, die auf der ersten Stufe abgestoßen worden sind; aber das Entscheidende ist nicht ihr Inhalt, sondern die zwanglose Art, in der sie angenommen werden. Diese Lehre machte Eindruck auf Grenz- und schöpferische Juden, die ihr traditionelles jüdisches Erbe abzuwerfen suchten, um Schöpfer ihres neuen Lebens zu werden. Sie wurden angezogen von Nietzsches Endvision eines schöpferischen und authentischen Lebens in einer Welt ohne dogmatische Glaubenssätze. Der Tod von Dogmen führt nicht zur Auflösung des Selbst, sondern legt vielmehr die schöpferischen Ressourcen des Einzelnen frei. Er öffnet neue Horizonte, die als lebenssteigernde „Perspektiven" fungieren. Die Grewgudett* sahen Nietzsches Philosophie, wie er selbst sie gesehen hat: als ein Mittel, sie zur Gestaltung ihrer Authentizität zu führen. Nietzsches verführerische Schriften wurden jedoch, da sie lediglich ein Weg waren, natürlicherweise von vielen der Grenzjuden wieder preisgegeben, hatten sie erst ihre Bestimmung erreicht. Nietzsches Philosophie wurde für sie zu einer Art von zeitweiligem Baugerüst oder provisorischer „Hypothese". Es war eine metaphorische Struktur im ursprünglichen Sinn von meta-phora, etwas, was fallengelassen werden kann, wenn es seinem Zwecke Genüge getan hat. Nietzsches Grundidee der „Umwertung aller Werte" verlangt keine radikale Aufgabe aller nichtauthentischen Lebensmuster, sondern eine graduelle Annnäherung an Authentizität. Dieser Prozeß vollzieht sich beständig „innerhalb Einer 37

Nach meiner Meinung ist die Unterscheidung zwischen Kraft* und Macht* wesentlich für das Verständnis von Nietzsches ausgereifter Lehre von der Macht; vgl. von mir Nietzsche's Enticing

Psychology of Power.; a. a. Ο., 179 — 221.

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Seele" 0 GB 260), die zwischen entgegengesetzten Arten zu leben schwankt. Nietzsche beschreibt auf diese Weise das innere Pathos der Grenvjuderi*, die solche wechselnden Gefühle erlebten.38 Als akut gefühltes inneres Erlebnis erfordern die Empfindungen, die emotionalen Zustände und Formen von Pathos der individuellen Persönlichkeit keine metaphysischen und ideologischen Verbindlichkeiten; sie sind auf diese Weise die Elemente im Leben der „Grenzjuden", welche durch Verwerfung jeglicher fertiger Identitäten es vorziehen, in ihrer Entwurzelung als authentische „freie Geister" zu verharren.

B. Atheismus Für die religiös entwurzelten Juden war, inmitten des Prozesses der Säkularisierung, das Problem des Glaubens und der Lenkung in Glaubensfragen akut. Die Einfachheit und Schwierigkeit von Nietzsches atheistischer Lösung faszinierte sie daher. Sein Plädoyer für die Idee vollständiger Immanenz und die Abschaffung aller Götter machte Eindruck auf Grenzjuden, die verzweifelt Unterstützung brauchten darin, sicher durchzukommen durch die ,Götzendämmerung", auf ihrer Reise weg von ihrer alten Tradition. Die Ohnmacht von Metaphysik und Religion, die jüdische Intellektuelle in der Jahrhundertwende so deutlich gefühlt hatten, band sie an Nietzsche, der gegen die religiösen Evangelien der Erlösung von der Mühsal des Lebens die Antithese setzte: Erlösung von den transzendenten Erlösungs-Lehren durch Ermunterung der Leser dazu, sich ein authentisches Selbst zu schaffen und ein gesund atheistisches Leben zu führen.

C. Die edle Mission Es reicht natürlich nicht hin, Gott abzuschaffen; denn man muß das Vakuum füllen, das durch diesen traumatischen Verlust entsteht. Dieses Bedürfnis kann nicht durch einen anderen Gott oder einen Schatten des früheren Gottes befriedigt werden; denn auch diese haben ihre Glaubwürdigkeit mit dem Tode des allmächtigen Gottes im Herzen verloren. Nietzsche versah die Grenzjuden mit der edlen Mission, eine höhere, verjüngte, europäische Humanität herbeizuführen. Nietzsche bestimmte die intellektuelle Elite der Grensguden* zu einer höheren Berufung und wies ihnen eine entscheidende Rolle im Europa der Zukunft zu. Die Prophetie des Alten Testaments im Hinblick auf Israels großar38

Vgl. ζ. B. FW 317 und JGB 257.

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tige Zukunft und dessen spektakuläre Erlösung wieder aufnehmend, erklärt Nietzsche, daß die Juden erneut die „Begründer und Schöpfer von Werten" würden. Die Schöpfung von Werten ist die bedeutsamste Aufgabe in Nietzsches Philosophie, die immer zur „Umwertung der Werte" und zur Umwertung des Wesens unserer Kultur zurückführt, in der die Juden eine bedeutende Rolle spielen und als Katalysatoren dienen sollen. Nietzsches Hoffnung, das europäische Judentum dazu zu mobilisieren, ihn bei dieser Umwertung der Werte zu unterstützen, ist der Hintergrund für seinen emotionalen Ausruf: „Welche Wohlthat ist ein Jude unter Deutschen!" 39 Diese Worte und die Mission, mit der Nietzsche die deutschen Gren^juderi* betraute, kamen zur rechten Zeit. In der Tat nahmen die jüdischen Intellektuellen begierig die Botschaft auf, dazu beitragend, was noch immer als eine der schöpferischsten Perioden in der deutschen Kultur betrachtet werden kann. Nietzsches Philosophie legitimierte die gotdosen Juden dazu, an dem umfangreichen Werk deutscher humanistischer Kultur teilzuhaben und ihren Beitrag dazu zu leisten. Wenn Nietzsche Gott tötete (er übernahm, nebenbei bemerkt, bekanntlich das Leitmotiv vom „Tod Gottes" von Heinrich Heine, einem der größten Grentquderi*) und den Übermenschen* großzuziehen versuchte, so suchten auch die GrensQuderi*, nachdem sie in ihren Herzen ihrer Religion ein Ende gesetzt hatten, in gewissem Sinne Uberjuderi* zu werden. Stefan Zweig ζ. B. übernahm bereitwillig die kulturelle Aufgabe, die Nietzsche den jüdischen Schriftstellern zugewiesen hatte, und sprach in seiner Autobiographie über die intellektuelle Vereinigung Europas. Sein Freitod im Jahre 1942 war das Ergebnis seiner verzweifelten Einsicht, daß „Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt, weit über unser eigenes Leben hinaus zerstört" war. 40 39

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Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, 15 [80]. [Der Autor zitiert nach dem „Willen zur Macht" in der Übersetzung von Walter Kaufmann, New York 1968 — d. Ubers.]. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Berlin/Weimar 1981, 460. Daß diese „Zerstörung" seiner europäischen „Heimat" tatsächlich Zweigs Leben ein Ende gesetzt hat, kann man direkt aus Zweigs letzter „Erklärung" ersehen, geschrieben in Petropolis (Brasilien) am 22. 2. 1942, wenige Stunden vor seinem und Lotte Zweigs Freitod: „Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedurfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimadosen Wanderns erschöpft ... Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus." (In: Donald A. Prater, Stefan Zrnig. Das Leben eines Ungeduldigen, München/Wien 1981, 456 f.). Der Brief befindet sich in der Manuskripten- und Archivabteilung der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem. Zweigs unerschütterlicher europäischer Humanismus ist schön beschrieben in Berthold Viertels „Abschied von Stefan Zweig" (in: Hanns Arens [Hrsg.]: Stefan Zweig: sein Leben, sein Werk, Esslingen 1949, 191 —199): „Aber wo hatte Stefan Zweig sein Europa? — Hier klingt ein Wort Peter Altenbergs in mir auf: ,Die Frau hat eine Welt: die Liebe. Der Mann hat eine Liebe: die Welt.' Lotte Zweig wollte das Erlöschen ihrer Welt nicht überleben, da Stefan Zweig den

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D. Selbsthaß und Antisemitismus Die Faszination, die Nietzsche auf die Grenzjuden ausübte, wurde auch durch die Hilfe gespeist, die er ihnen gab, um eine der verwirrendsten Erscheinungen zu verstehen, die sie in ihrem Alltagsleben erfuhren: ihren Selbsthaß* und den Haß der arischen Antisemiten. So schrieb ζ. B. Theodor Lessing (1872 — 1933), ein Schüler Nietzsches, der seiner Philosophie verschiedene Schriften widmete41, eine umfassende Abhandlung über den Jüdischen Selbsthaß, den er mit Nietzscheanischen Begriffen zu verstehen versuchte.42 In diesem Buch beschreibt Lessing die Juden in der Diaspora als Volk, das gezwungen wurde, ein unnatürliches Leben zu leben. Nach der Trennung von ihrem Land kehrten sie sich einem übermäßig geistigen Leben zu, das sie „gemeinsam mit ihren Toten" führten. Lessing behauptet — in einer Sprache, die eindeutig Nietzscheanisch ist —, daß die Juden in ihrem verinnerlichten Leben infolge des äußeren Drucks und aus Furcht vor ihrer feindlichen Umgebung begannen, ihre geistigen Ressourcen gegen sich selbst zu wenden, was in Selbst-Zweifel, Unsicherheit und Selbstquälerei zum Ausdruck kam. Dieser Zustand der Agonie war so unerträglich, daß sie sich von ihm dadurch zu befreien versuchten, daß sie alles verachteten, was mit Judentum und Jüdischkeit zu tun hatte, insbesondere sich selbst. Lessing beendet seinen Essay, indem er diesen Juden zuruft: „Sei, was immer du to/"!43 Erinnern wir uns, daß das existentielle Motto von Nietzsches Autobiographie Ecce homo, das im Untertitel erscheint, heißt: „Wie man wird, was man ist". In Nietzscheanischen Begriffen ruft Lessing diese Juden dazu auf, nicht ihr Schicksal zu verraten, sondern es in der Art des amorfati zu lieben, d. h. nicht im Untergang der seinigen nicht zu überleben vermochte. Denn seine Welt war Europa. Sein Land: wie er Europa in seinem würdevollen Abschiedsbrief nannte" (ebd., 193). Vgl. Zweigs Disput mit seinem Freund Abraham Schwadron, einem glühenden Zionisten, dem er, wahrscheinlich im Jahre 1917, seinen während des Ersten Weltkriegs verfaßten „Jeremiah" kommentierend, schreibt: „Für mich liegen Ruhm und Größe des jüdischen Volks darin, das einzige Volk mit einer geistigen Heimat zu werden, ein ewiges Jerusalem nur [...] statt nach einem realen Palästina zu streben" [Rückübersetzung eines vom Autor ins Englische übersetzten Briefes, der sich in der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem befindet — d. Ubers.] 41 Vgl. Theodor Lessing, Schopenhauer; Wagner, Nietzsche. Einführung in moderne deutsche Philosophie, München 1908, und seine „Anzeigen" dieses Werks in: Die Zukunft {Berlin) 15 (12. 1. 1907), 75; ders., Nietzsche, Berlin 1925 und München 1985 mit einem Epilog „Ein Doppel-Portrait" von Rita Bischof. Vgl. das von Nietzsche inspirierte Werk, das Lessing während des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Hamburg 1962, worin Nietzsche mehrfach zitiert wird. 42 Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthaß, Berlin 1930 (Neudruck München 1984 mit einer Einleitung von Boris Groys). Vgl. ders., Deutschland und seine Juden, Prag 1933. 4? Der jüdische Selbsthaß, 51. In einem anderen Essay ermuntert er die assimilierten Juden: „Werde, der du bist ... Deutscher, bleibe deutsch ... Und Jude, sei Jude!", Deutschland und seine Juden, a. a. O., 23.

Nietzsche und die „Grenzjuden"

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Sinne von Resignation und passiver Unterwerfung unter miserable Bedingungen, sondern durch Annahme ihres wahrhaften Selbst und durch Anerkennung ihrer organischen Wurzeln. Lessing ruft sie dazu auf, in couragierten Akten der Selbstüberwindung gegen das, was immer diese Identität und authentische Selbstheit bedroht, ihre geistigen Ressourcen zu reaktivieren. In einem Vortrag, den er drei Monate vor seiner Ermordung durch einen Nazi-Agenten gehalten hatte, im August 1933, appelliert Lessing an diese Juden, ihren ,rMachtwillen "* zu behaupten und zur „Natur und Erde"* zurückzukehren.44 Um Lessings rätselhafte Botschaft zu verstehen, muß man sich kurz den zweiten Teil von Nietzsches Genealogie der Moral in Erinnerung rufen, wo er von den Phänomenen des Ressentiments und der Verinnerlichung* handelt. Die mächtigen „Herren" sind verantwortlich für das Phänomen der „Verinnerlichung", in der die meisten Instinkte des Menschen „nach innen" gegen „den Menschen selbst" gekehrt sind. Als Folge davon wird das eingeschüchterte Individuum zu einer schizoiden Persönlichkeit in beständigem inneren Streit, die aus schierem Selbsthaß gegen sich selber kämpft und durch diesen Kampf daran gehindert wird, innere Harmonie zu erreichen. Diese Erklärung kann natürlich auch auf den Antisemiten übertragen werden, der ein schwaches und psychologisch instabiles Individuum ist, mit dem Charakter eines „Sklaven". Das Phänomen des Antisemitismus kann unter Verweis auf die psychologischen Muster einer schwachen und verarmten Persönlichkeit erklärt werden, die Nietzsche in seinen Hauptwerken, beginnend mit der Fröhlichen Wissenschaft, beschreibt.45 Durch Mangel an persönlicher Macht und infolge von Ressentiment und geistiger Verarmung ist der Antisemit abhängig von bestimmten äußeren Bedingungen für seine Selbstbestimmung. Er braucht Gewalthandlungen und grausame Ausbeutung anderer, um sein schwaches Machtgefühl zu steigern (FW 359). Er ist eine rachsüchtige und reaktive Person, die ihren Haß benutzt, um eine Art von Sicherheit und Selbstidentität zu erlangen. Daraus folgt, daß der Antisemit in Wirklichkeit der „Sklave" und nicht der „Herr" ist. Diese Einsicht, die für die Grenzjuden bitter notwendig war, ermutigte sie deutlich dazu, Nietzsches Haltung zu folgen. Richard Maximilian Cohen, der, unter dem Namen Richard Maximilian Lonsbach schreibend, 1939 in Stockholm Friedrich Nietzsche und die Juden veröffentlichte, gehörte zu denen, die von dieser Haltung ermutigt wurden. Er erklärte, warum Nietzsche die anschwellende Flut des Antisemitismus als eine neue Revolte des Sklavenmenschen betrachtete und ihn erbittert bekämpfte. 46 Antisemitismus war für Nietzsche nicht der Standpunkt eines Volkes oder einer 44 45 46

Deutschland und seine Juden, a. a. Ο., 14. Vgl. mein Nietzsche's Enticing Psychology of Power; a. a. O., Kap. 4 — 6. Richard Maximilian Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch, Stockholm 1939, wieder aufgel. und hrsg. von Heinz Robert Schlette, Bonn 1985.

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Klasse, sondern der von niedrigen und wertlosen Ein2elnen, die im Existenzkampf überwältigt wurden. Nietzsche prägte ein neues Wort, um sie zu bezeichnen: die Schlechtweggekommenett*. Antisemitismus war der Aufstand derer, die arm an geistigen Werten waren, und er war das Anzeichen für eine neidische und feige Persönlichkeit, gegen die Nietzsches Philosophie der Macht gerichtet war. Und so beschließt Lonsbach seine Betrachtungen mit einer der letzten Äußerungen Nietzsches: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen." 47 Wassermanns Beschreibung des Antisemitismus scheint gleichfalls aus Nietzsches Analyse zu entspringen: Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. (Mein Weg, 39).

Einige Grenzjuden erwiderten diesen „deutschen Haß" mit einem Haß auf die Deutschen, einem Haß, den direkt auszudrücken sie entweder den Mut oder den Wunsch nicht hatten. Statt dessen wandten sie sich wieder an Nietzsche.

E. Nietzsche über Deutsche Nietzsches scharfe Kritik an Deutschland und an dessen Willen zu politischer Kraft* war ein weiterer Grund für die Anziehung, die seine Schriften für die Grenzjuden hatten. Diese Juden, tief ambivalent in ihren Beziehungen zu Deutschland, wagten nicht, ihre Vorbehalte publik zu machen, die sie, was die damalige deutsche Szene betraf, offensichtlich hatten, trotz ihrer unermüdlichen Anstrengungen, sich der deutschen Gesellschaft zu assimilieren und zu deren legitimierten Mitgliedern zu zählen. Nietzsche, als einer der brilliantesten Repräsentanten dieser nichtjüdischen deutschen Gesellschaft, machte in seiner harschen Kritik an den Deutschen den Gefühlen der Bitterkeit und der Enttäuschung Luft, die die Grenzjuderi* gegenüber den Deutschen hatten. Diese Ambivalenz gegenüber den Deutschen war daher noch ein weiterer Faktor, der Nietzsche für die Grentguderi* anziehend machte. Ein schlagendes Beispiel soll genügen, um Nietzsches Kritik an den Deutschen zu verdeutlichen. Es findet sich in einem Abschnitt aus der Göthen-Dämmerung mit dem Titel „Was den Deutschen abgeht":

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Lonsbach a. a. Ο., 55. Er zitiert: „Ich will alle Antisemiten erschießen lassen." Dies ist [in der im Text zitierten Weise — d. Ubers.] der letzte Satz auf Nietzsches letzter Postkarte an seinen treuen Freund Franz Overbeck um den 4. Januar 1889 (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, KSB 8.575).

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Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die Macht verdummt... Die Deutschen — man hiess sie einst das Volk der Denker: denken sie heute überhaupt noch? — Die Deutschen langweilen sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste, die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge — „Deutschland, Deutschland über Alles", ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie . . . 4 8

Jüdische Intellektuelle, die immer gewaltsamer politischer Kraft* mißtrauten und Opfer von deren häßlicheren Äußerungen waren, sogen diese Worte in sich auf, ja sie waren, kann man sagen, berauscht von ihrem Geiste. Nach dem Erlaß der Nürnberger Rassengesetze im Jahre 1935 erlagen alle Anstrengungen, Deutsche und Juden geistig zu vereinen, einer scharfen Segregation der beiden Gruppen. Der Slogan „Deutscher und]\iAc" machte dem unversöhnlichen „Deutscher oder Jude" Platz. Die Taufe ließ Juden nicht mehr in den Reihen der Deutschen zu, und die Ehe zwischen Juden und Deutschen wurde als Rassenschande* gebrandmarkt. Trotz der Nazifizierung von Nietzsches Denken ließen sich die Gren^juderi* davon nicht einnehmen und blieben Nietzsche dankbar für sein naives Eintreten für eine Mischung preußischen Adels mit jüdischer Intelligenz als ein wünschenswertes Mittel, um die Züchtung eines höheren und authentischen Typs von Menschheit voranzutreiben.

Schluß Ich möchte in Form einer Zusammenfassung das Hauptelement rekapitulieren, das Nietzsches Denken zu einer magnetischen Quelle der Inspiration und der Ermutigung für die Grenquderi* machte. Die Grenzjuden spürten dringend das Bedürfnis, ihre unerträgliche Identitätskrise und den Konflikt zwischen ihrem Erbe und ihrer gegenwärtigen Kultur zu überwinden. Nietzsche ragte in der Beschreibung ihrer heiklen Lage heraus. Obgleich seine Analysen die westliche Ethik im allgemeinen berührten, hatten sie doch eine besondere Relevanz und Bedeutung für die Grensguderi*, welche die Hauptopfer der Kultur wurden, an deren Begründung und Pflege sie so großen Anteil hatten. Nietzsche behauptete, daß der Mensch traditionell, d. h. nach der allgemein geltenden Moral, sich „nicht als Individuum, sondern als dividuum" betrachte (ΜΑ I 57). Wenn die herrschenden ethischen Systeme innere Spaltung und Unterdrückung wichtiger Elemente des Selbst fordern, wird es unmöglich, innere Harmonie zu erlangen und seinen Charakter in seiner Ganzheit zum Ausdruck zu bringen. Daher lehnt Nietzsche solch repressive Moral 48

KSA 6.103 f.

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ab und versucht, jenseits von Gut und Böse"* zu gehen. Der innerlich zerrissene Jude war besonders empfanglich für das Nietzschesche Ideal der Selbstüberwindung und angezogen von Nietzsches „Umwertung aller Werte", dem Übergang, den er von der allgemeinen Moral der Tradition zu persönlicher Authentizität vollzog. Nietzsche ruft uns dazu auf, alle Elemente zu überwinden, die authentische Kreativität und starkes Selbstbewußtsein unmöglich machen. Die Gren^juden*, die sehr stark solche fremden Elemente in ihrem Dasein spürten, nahmen auf besondere Weise diesen Aufruf an; denn sie fühlten, daß dies ihnen ein Heilmittel geben könne für die unerträgliche Spannung, unter der sie lebten. Unter Nietzsches Führung versuchten sie, sowohl die Traditionen ihrer jüdischen Vorfahren als auch ihren Ultra-Germanismus und Selbsthaß zu überwinden. Sie strebten nach einer harmonischen Synthese zwischen Berlin und Jerusalem und vor allem danach, ihre Marginalität in der Weise eines amor fati nicht als ihr unvermeidliches Schicksal, sondern als ihre eigene authentische, schöpferische Vollendung zu akzeptieren. Wir alle wissen in schlimmer und sehr schmerzlicher Weise, was das Schicksal dieser Bestrebungen war.

Vom Verfasser autorisierte Ubersetzung von Wolfgang Schneider und Werner Stegmaier.

RENATE RESCHKE

Ecce Poeta. Nachdenken über den Künstler in der Moderne. Egon Friedells eigenwillige Nähe zu Friedrich Nietzsche* Vor-Sät^e

Im „Philo-Lexikon. Handbuch des Jüdischen Wissens" steht Egon Friedell (Friedmann) als vielseitiger Schriftsteller, als Verfasser einer Kulturgeschichte und als Autor einer Judastragödie 1 . Seine Lebensdaten (1878 — 1938) verraten seine jüdische Herkunft; Wien gilt als kulturelles Zentrum jüdischer intellektueller und künsderischer Avantgarde; mit seinem Selbstmord entzieht er sich den Verfolgungen im nazistisch gewordenen Osterreich. Kaum etwas allerdings weist in seinen Schriften expressis verbis auf jüdische Inhalte oder Tradition. Es scheint ihm nicht wichtig gewesen zu sein. Er ist der Enzyklopädist und Weltdenker par excellence, jenseits religiöser, nationaler, kultureller Grenzsteine. Er teilt diese Welthaltigkeit des Denkens mit vielen jüdischen Intellektuellen der Jahrhundertwende. Vielleicht ist es gerade dieser Blick auf die Zeit, seine immense Sensibilität für die kulturellen Umbrüche der (in die) Moderne, die eine ohnehin nur schwer zu identifizierende jüdische Dimension seiner Kulturkritik(en) einkreisen kann. Gottfried Benn hat angesichts der jüdischen Avantgarde in Berlin von ihrer „sensitiven Unruhe" und ihrem „todsicheren Instinkt für Qualität" 2 gesprochen. Vergleichbares könnte auf Friedell zutreffen und Nietzsches Ahnung unterstreichen, er werde vorzüglich von jüdischen Intellektuellen am ehesten verstanden. * Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Egon Friedell, Ecce Poeta, Zürich 1992 (photomechanischer Nachdruck der 1912 im S. Fischer Verlag Berlin erschienenen Originalausgabe) (EP). —, 1st die Erde bewohnt? Gesammelte Essays 1913—1931, hrsg. und mit einem Nachwort „Der ganze Friedell?" von Heribert Iiiig, Zürich 1985 (IEB). —, Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients, München 1986 (Erstveröffentlichung 1936) (KGÄO). Kulturgeschichte Griechenlands, München 1987 (Erstveröffentlichung 1940) (KGG). Kulturgeschichte der Neuheit, München 1987 (Erstveröffendichung 1927/1931) (KGN). 1 2

Philo-Lexikon. Handbuch des Jüdischen Wissens, Berlin/Amsterdam 1937, 215 Gottfried Benn Doppelleben, in: Gesammelte Werke IV (1961), 73

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I Jeder nach Nietzsche geborene Schriftsteller... steht ganz unentrinnbar unter dessen Einfluß ... (Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuheit)

In seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit" entwirft Egon Friedell den Schattenriß Nietzsches an den Grenzen eines bereits nachhaltig erodierten Philosophen- und Künstlerverständnisses. Mit auffalligen Anklängen an Nietzsches bekannte Selbstdarstellung in „Ecce homo" stellt er den Philosophen in die neuere europäische Kultur als ,,formidable(n) Schatten eines herkulischen Petardeurs und Petroleurs"; er ist ihm ein „Sprengmittel", in dem sich „elementare Naturkräfte mit siegreicher Technik zu rasanter Wirkung" vereinen; er ist ein Zerstörer, ein „tollkühner Avantageur, der Vollbringer eines gewaltigen Vorstoßes in fremdes Gebiet, der vorausgeeilt ist, zu weit voraus", den daher das Schicksal des Kundschafters ereilt, „zu fallen, ohne den Sieg zu schauen" (KGN 1402). Friedell potenziert die Metaphorik mit dem Wort vom ,,tellurische(n) Ereignis", das Nietzsche sei, das die Erde, die gesamte Kultur durch ein anhaltendes Beben beunruhigt und erschüttert habe. Solchen emphatischen Topoi folgt der Hinweis auf den tragischen Impetus seines Lebens und Denkens („Er sucht Tiefen auf, die ihn verschlingen, und mit dem Bewußtsein, daß sie ihn verschlingen werden", ebd.) und die Warnung vor diesem Denken, die Bestimmung seines „Oeuvre" als zugleich Vorspiel und Finale (KGN 1403) im Zentrum der europäischen Moderne. Die stärkste Faszination jedoch gründet für ihn darin, daß Nietzsche an seiner Philosophie zugrunde gegangen sei; dies ist kein Einwand gegen sie, sondern ihr höchster Beweis. Der Philosoph ist Paradigma des modernen Menschen, des modernen Genies und Künsders, des Literaten par excellence. Er gehört zu den ,,vulkanische(n) Naturen, die sich in gewaltigen Eruptionen aufbrauchen und keinen Herbst haben" (KGN 293); gleich einer Dampfmaschine, deren Druckmesser auf hundert stehe, habe Nietzsche seine höchsten Möglichkeiten ausgeschöpft, denkerisch und literarisch, war er von einer inneren Beschleunigung erfüllt, „in der Hälfte der normalen Zeit die ganze Strecke" (KGN 761) des Lebens und Schaffens zu konzentrieren. Dies stellt ihn in die Reihe großer Naturen wie Raffael, Kleist, Goethe und Beethoven, Alexander und die Cäsaren, in eine Ahnengalerie zu den künsderischen und politischen Universalisten der Renaissance: „Gewisse Menschen erscheinen uns massiver, beglaubigter, lebender als andere, weil sie einen größeren Bruchteil der Welt spiegeln, sozusagen einen stärkeren Tonnengehalt besitzen" (KGN 1443). Kraft dieser Potenz sind sie (im Bilde Friedells) eine „Art Fällungsmittel, das dem Leben zugesetzt wird" (KGN 1270). Sie halten ihre inneren Gegensätze in einem magischen Gleichgewicht, „das sie fördert und steigert" (KGN 1100), und

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tragen dadurch die Widersprüche und Konflikte des Daseins, der Wirklichkeit, der Kultur. Jede Zeit braucht solche großen Naturen; sie sind ihre Gegenspieler und ihre Protagonisten in einem. Eine Zeit, die sie nicht aus sich hervorbringt oder sie nicht toleriert, ist in ihrem Kern gefährdet. Aber sie sind auch selbst beständig gefährdet; ihre Kreativität macht sie anfällig gegen sich selbst. Nietzsches Selbstbeschreibung, er gehöre zu den „Maschinen, welche z e r s p r i n g e n können" (KGN 1405), ist Friedeil symptomatisch für die Befindlichkeiten großer Naturen. Sie stehen permanent in einem Krisenzustand, der Steigerung und Absturz bedeuten kann. Nietzsche gehört für ihn zu denen, die sich in ihren Kräften verrechnet haben. Diese „geheimnisvolle Verrechnung, die zwischen dem Genius und der Welt vor sich geht" (KGN 1406), manifestiert sich bei ihm in der Sublimierung der inneren Kräfte und Konflikte, in ihrer Endadung zum Künstlerischen hin. Die historischen Beispiele sprechen für sich: „Alle die Künsder und Gestalter: Dante und Michelangelo, Strindberg und Poe, Nietzsche und Dostojewski, was waren sie anderes als in die Kunst gerettete Menschenfresser? Und die ,Scheusale' der Weltgeschichte: Caligula und Tiberius, Danton und Robespierre, Cesare Borgia und Torquemada, was waren sie anderes als in die Realität verschlagene Künsder?" (KGN 81) In Nietzsches „freiem Geist" findet Friedell etwas von der „großartigen Gewissenlosigkeit, einer antiken Ruchlosigkeit, wie sie [...] in Gestalten wie Alkibiades und Lysander" (KGN 151) sich verkörpern. Und er besitzt virtü, jene omnipotente Fähigkeit vor allem in der Renaissance, den dezidierten individuellen Gegenpol zu jeder Art von Begrenzung und Kraftreduktion: „Nur in entarteten Kulturen taucht der Spezialist a u f (KGN 195). Virtü kommt dem Künsder zu: „daß er alles versteht, allen Eindrücken geöffnet ist, zu allen Daseinsformen Zugänge hat" (KGN 194). So ist auch Nietzsche immer mehr Künsder als Philosoph. In der Weltliteraturgeschichte ist er eine ihrer tragischsten Gestalten (KGN 1402); mit Lessing, Pascal, Montaigne, Lichtenberg und Schopenhauer ist er „viel mehr Künsder" als Philosoph (KGN 1019); wie Hugo, Wagner oder Carlyle wird ihm als großem Künsder das Recht auf Pathos zugesprochen (KGN 42). Die Frage, ob „Nietzsche unter die Dichter oder die Philosophen zu rechnen sei", (ist) bleibt „die große Verlegenheit der Professoren" (EP 68). Provoziert hatte Nietzsche die Frage selbst; das Wort vom Künsder-Philosophen, von der „Artisten-Metaphysik" (GT/VS 5, KSA 1, 17) hat die Grenzen fließend gemacht zwischen den tradierten Denk-, Gestaltund Reflexionsbereichen. Friedell macht an Nietzsche die Probe aufs Exempel. Mit dem Resultat der Grenzüberschreitung und ausdrücklichen Option für „Zwischenbereiche" (EP 68). Der Philosoph siedelt nicht mehr im Einzugsbereich rationaler Erkenntnis, ist nicht mehr im System der Begriffe heimisch, er kreist um die gleiche Sonne wie die Künsder, um „die Sonne der Kunst" (IEB 20).

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Impressionismus ist die Kulturformel für diesen Wandel, Vermischung ihr auffälligstes Phänomen, ein osmotischer Prozeß, den Nietzsche als Decadence bestimmt. Folgerichtig schließt Friedeil an Nietzsche an: Er ist ihm der „einzige Dekadent seines Zeitalters" (KGN 1407), der sich dessen bewußt war und der daraus seine Philosophie entwickelte. Mit allen Widersprüchen und Krankheitsattributen und der Vision, sie wenigstens in der Reflexion zu überlisten, d. h. hinter ihre geheime Wirkungsmacht zu kommen. Nur wer selbst so sehr ein Teil von ihr ist, kann die Distanz herstellen, die der Sphäre der Reflexion eignet. Des Philosophen ausgeprägte psychologische Fundierung seines Denkens („Man weiß in der Philosophie erst seit Nietzsche, was komplexe Psychologie ist: er hat das Stereoskop Flauberts, das Mikroskop der Goncourts, das Tiefseelot Dostojewskis auf das Gebiet des reinen Denkens angewendet", KGN 1406 f.) verrät ihm etwas von der morbiden und lasziven Produktivität der Moderne und ihrer Charaktere. Nicht zufällig fokussiert Nietzsche sein Denken am Kern von Innovationen durch Krankheit, eine Krankheit des Geistes und des Körpers. Und nicht zufallig folgt Friedeil auch an dieser Stelle dem Philosophen: er, „der sein ganzes Leben lang krank war, hat eine Philosophie geschaffen, die ein Hohelied auf die kraftvolle Vitalität ist" (IEB 102). Wie beeindruckend auch die historischen Gestalten seit der Antike sind, die Friedell in diesem Zusammenhang vorführt, das Thema gehört ins Kalkül der modernen Kultur und der sie definierenden Denkfiguren. Das hohe Maß an Reizbarkeit, als Reaktion auf die immense Reizüberflutung und den Psychodruck, auszuhalten, reizbar und lebensfähig, neurasthenisch und produktiv zu sein, zeichnet jedes Genie aus: „Genialität ist demnach nichts anderes als eine organisierte Neurose, eine intelligente Form des Irrsinns" (KGN 80). Die Denklinie Friedell-Nietzsche ist hier durch Friedells eigenwilligen Einsatz Nietzschescher Denkstrategie virulent: Genies leben vom Uberschuß, sie bewegen sich auf dem schwierigen Grat zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen; solange sie die Balance halten können, solange sich Dionysisches ins Apollinische sublimiert, solange beide Seiten um ihre gegenseitige Notwendigkeit nicht betrogen werden, profiliert sich Genialität zur ästhetischen Dimension der kulturellen Moderne, wird sie ihr Paradigma und Signum. Mit der Anverwandlung der Denkfiguren der „Geburt der Tragödie" durch ihren Bedeutungstransfer in die kulturellen Kontexte um 1900 öffnet Friedell ihnen einen Diskursraum, in dem sie zum Vehikel einer offensiven Kulturkritik werden, die die radikalisierten Konflikdagen des modernen Individuums, moderner Kunst und Künstler zu ihrem Thema macht. Das aufreizende Resümee in puncto Nietzsche: „Er wurde, so kann man wenigstens allenthalben vernehmen, von Größenwahn erfaßt. Er hielt sich nämlich für Friedrich Nietzsche" (KGN 1411) ist mehr als die geistreiche Verkehrung der Selbstbezichtigungen des Philosophen, sich für Dionysos oder den Gekreuzigten zu halten, es rekurriert auf die Phänomenalität des modernen Künsdertums

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schlechthin, darauf, daß einzig in ihm, in seinem Selbstbewußtsein, die gebündelte Formel des Zeitalters transparent wird: „Sein ganzes Zeitalter ist infiziert von ihm" (KGN 30). Er „ist so, wie alle sein sollten: [...] er erfüllt seine Bestimmung" (KGN 29) als Instrument mit empfindlichen Saiten, dessen Klang den inneren Kern der Epoche auszudrücken vermag. Nietzsche als Paradigma, als Synonym für das moderne Genie, für den Künsder in der Moderne. Person und Werk ruft Friedell auf zum modernen Selbstverständnis, zur Annäherung an den Typus des modernen Schriftstellers und der (fast) Grenzenlosigkeit seiner denkerischen und gestalterischen Möglichkeiten. Für die Topographie der modernen Kultur, für eine „Art Naturgeschichte des Menschen nach 1900" (EP 13), avanciert Friedells Nietzschebild zum Katalysator ihrer grundlegenden Prozesse; in seiner Rekonstruktion und Erfindung spiegelt sich die Moderne in ihren wesentlichen Momenten, kann sie sich spiegeln, weil Nietzsche als ihr Promotor und schärfster Kritiker in einem erkannt und durchschaut ist. Das Spektrum ihrer Spannungen versammelt sich in einer Ikonographie des Philosophen, die alle Konfliktfelder moderner Kunst, moderner Individualität und Kultur in sich konzentriert und sie zu einem kaleidoskopischen Panorama von außerordentlicher Intensität zusammenschließt. So sehr, daß, paradox gesprochen, jede Künsder-, Dichter- und Kulturgeschichte der Moderne eigentlich nur einen Namen wirklich ausschreibt, den Nietzsches. In diesem Sinne verrät Friedells zwischen 1910 und 1912 im Auftrag des S.Fischer-Verlages geschriebene Studie über Peter Altenberg eine extensive Präsenz Nietzsches, ist sie ein direkter Versuch eigenwilliger Annäherung an sein Denken.

II Genie — ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen

(Friedrich Nietzsche: Menschliches,

menschliches Γ)

ΑίΙχιι-

Friedell schreibt eine problemreiche „Bestandsaufnahme der seelischen und geistigen Verfassung des Menschen am Beginn des 20. Jahrhunderts" 3 . Altenbergs Person, Leben und Werk sind ihm für die Seelenverfaßtheit des modernen Menschen so symptomatisch, wie es das Wiener Fin de siecle für die Moderne insgesamt ist. Titel und Motto sind bewußt gewählt, als Fingerzeige betreffs Geistesverwandtschaft und Provokation. „Ecce Poeta", die Assoziation 3

Peter Lorenz, Bücher und Schicksale, in: EP, III.

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zur Selbstdarstellung Nietzsches liegt auf der Hand; wie diese soll auch Altenbergs Porträt eine kritische Zeitstudie sein, Gefahren und Gefahrdungen, denen der Autor ausgesetzt ist und die von seinem Werk ausgehen, transparent machen und zugleich überformen zum Indiz der Moderne. Wie bei Nietzsche soll das traditionsmächtige Wort die Verstrickungen, die geistigen, religiösen, mentalen und künstlerischen, aufreißen, die seit neutestamentlicher Festlegung seinen kulturellen Horizont umstellen. E s liegt keinerlei Ironie in dieser Wahl. Die stellt sich, wenn überhaupt, aus historischer Distanz her; die Wucht der Formel verkleinert den Dargestellten mehr, als es Vergessenheit je könnte. Das Motto, ein Satz Emersons: „Men walk as prophecies of the next age" (EP It), definiert die Schrift über Altenberg als eine Art Archäologie in die Zukunft hinein. Der Mensch von heute hat kein Präsens mehr, „er sei eine Mischung aus Perfektum und Futurum" (EP 97); jedes Diagramm der Kultur ist immer auch der Versuch, aus diesem Konglomerat eine Gegenwart zu konstruieren, die in die Zukunft sich fortsetzt. Geschichte und Gegenwart kennen immer schon ihre künftigen Zerstörungen. Die Kryptoanalyse kultureller Befindlichkeiten entlastet vom Druck des Vergangenen, vom Anachronismus wiederholender Reflexion: „ E s ist nichts als Zeitverschwendung, wenn man von historischen Phantomen wie ,Athen', .Florenz' oder ,Weimar' träumt [...] Heute sind sie tot und gehören bestenfalls ins Museum"; Friedell orientiert sich daher an der Frage, ob wir „heute schon eine Kultur (haben), die unserer Zeit entspricht"; sie zu beantworten, braucht es die kritische Sichtung der Gegenwart: „ E s gibt nur eine einzige Kultur, mit der wir rechnen dürfen: die um 1910" (EP 259). Ein Mosaik aus Antwortelementen breitet Friedell am Beispiel Peter Altenberg aus. Sein Blick auf den Literaten fällt auf eine seiner unwidersprochensten Bestimmungen: auf den Zusammenhang von Genie und Dichter, der seit der Aufklärung und Romantik bis zur wechselseitigen Identifikation festgeschrieben ist. Und läßt fragen nach den Gründen solcher Selbstgewißheiten und ihrer Zeugenschaft für die Moderne. Mit Nietzsche teilt Friedell die Skepsis, die Außerordentlichkeit solcher Menschen, ihre Originalität an der Meßlatte ihres vernunftzentrierten Kraftpotentials zu messen: „Ach, um den wohlfeilen Ruhm des ,Genie's'! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der K r a f t auf den Knieen [...] und doch ist, wenn der Grad von V e r e h r u n g s w ü r d i g k e i t festgestellt werden soll, nur der G r a d der V e r n u n f t in d e r K r a f t entscheidend", heißt es in der „Morgenröte"; aber es geht um „das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie n i c h t a u f Werke, sondern a u f s i c h als W e r k , verwendet" (M 548, K S A 3, 318 f.). Bei Friedell kehrt dieses Genie-Element wieder in den Beispielen großer Männer (Paulus, Augustinus, Luther, Mirabeau, Nietzsche, Marx), wenn diesen ein schöpferischer Haß gegen sich selbst, gegen ihre Herkunft und Lebensumstände

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zugesprochen wird, ein „immerwährender Kampf gegen sich selbst" (KGN 276), den zu bestehen ihre Größe kennzeichnet. Zwischen Polarität und Universalität konturiert sich die Existenzrealität der grossen Naturen; ein Genie „besteht aus lauter Gegensätzen, und in dem Spiel der Berührung und Entladung dieser Gegensätze entfaltet sich seine Produktivität" (KGG 51). Auf diese Weise ist es „ein Spiegel und Extrakt der ganzen Menschheit, so daß man mit geringer Ubertreibung sagen könnte: genial ist ein Mensch, der sämtliche Eigenschaften besitzt" (ebd.). Genies leben ganz in ihren Wirklichkeiten, sehen ihnen bis auf den Grund, machen den Kern der Dinge und Ereignisse sichtbar, leben aus der Totalität ihrer Anlagen und leben diese ganz, bis zum Ende. Altenberg rechnet diesbezüglich nach Friedell zu den Genies; ihm eignet als „Archetype dessen [...], was man als Fin de siecle zu bezeichnen pflegt", eine Vorliebe für das Tiefste und Wesentlichste, Wagemut und etwas deutlich „Ikarisches" (EP 170). Ein Genie der (in der) Moderne. An ihm zeigt sich, der archimedische Punkt, das Zentrum des Genies (ein herausragender Dissens zu tradierten Genie-Konzepten), kann nicht die Konzentration auf das Ich sein, sondern: „Der äußerste Gegensatz der Genialität ist die Subjektivität" (EP 136). Sie verhindert Genialität, blockiert ihre produktive Potenz: „Je subjektiver ein Mensch in die Welt blickt, desto weniger kann er Genie, das heißt Weltauge sein". Das Moment des Unpersönlichen definiert geradezu die Verkettung von Genie und Künsdertum. Je mehr er von sich zurückzunehmen in der Lage ist, „desto mehr ist er KünsÜer" (ebd.). Dieses Zurückschrauben des Genialen, des genialischen Künstlers auf die Funktionalität der ,,photographische(n) Platte", auf die Uneigennützigkeit als Medium, öffnet die moderne Dimension der Genialität: „Nichts Besonderes, Eigenes, nicht sich wollte der Dichter abbilden, sondern die Dinge; die Dinge, nicht wie er sie sah, sondern wie er sie sah"; der geniale Künsder arbeitet gleichsam „rein mechanisch, gleich dem Schreibhebel eines telegraphischen Apparats, der einfach niederschreibt, was ein geheimnisvoller elektrischer Strom ihm zuträgt" (EP 136 f.). So arbeitet das Genie im technischen Zeitalter unter den Bedingungen hochtechnisierter kultureller Kommunikation. Hatte Nietzsche es nicht gewagt, die Schlüsse aus den neuen Prämissen der Kultur zu ziehen, bzw. wollte er vorrangig auf die wertebedrohenden, ins Nihilistische abdriftenden Veränderungen aufmerksam machen, Friedell blickt in eine andere Richtung, er reflektiert die neue Kultursituation aus dem Blickwinkel ihrer konstruktiven Potentiale, ihrer Veränderungsimpulse für das moderne Genie, den modernen Künstler, die moderne Kunst, mit deutlich kritischer Sympathie und der Gewißheit ihrer neuen Möglichkeiten. Anders als für Nietzsche ist ihm die Gefährdung des Kulturellen durch seine Technisierung kein ausdrücklicher Anlaß zum philosophischen Niedergangspathos, sondern selbstverständliche Ausgangserfahrung für grundlegende kulturkritische und ästhetische Sichtwechsel.

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Jeder Aberglaube dem Genie gegenüber ist gefährlich. Von Nietzsche weiß Friedell um die mehrschichtigen Gefahren. Er thematisiert das Genie unter dem Zeichen des Mirakels und begibt sich der Möglichkeit auslotender Analyse, umgibt es mit dem Schleier des Undurchschaubaren; dieser Akt der Mystifikation ist anachronistisch und irreführend: „Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's: aber keine ist ein .Wunder'." (ΜΑ I 162, K S A 2, 152). Und er kann bei Nietzsche lesen, daß der Hang zur Genie-Verehrung mit großer Wahrscheinlichkeit dem Rechnung trägt, daß stets nur Resultate, Werke zu besichtigen sind, nicht das Werden, kein Eintritt erlaubt ist in die Werkstatt der Genialität. Dies treibt Friedell zur genauen Besichtigung künstlerischen Tuns, künstlerischer Mittel. Der Tyrannei durch Werkvollkommenheit will er sich nicht aussetzen; ihr gegenüber denkt er quer und bietet den reflektierenden Blick hinter die Mechanismen und Strukturen der Kreativität und Produktion. Und dies zum Schutz des Genialen, zur Sicherstellung von Kreativem. Denn die Anfälligkeit des Genies gegenüber seinem Kult ist destruktiv, die Anbetung genie-tödlich. Philister-Kultur zwischen Beweihräucherung und Verdammung ist untrügliches Zeichen solcherart kulturgefahrdender Moderne: „ E s ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, [...] dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt"; die nachhaltigste Folge ist der Verlust an Kreativität: „jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist" (ebd. 154 f.) Altenberg wird zum Gegenbeispiel. Dieser entgeht dem durch Anverwandlung an die Mediokrität der Moderne. Friedell rechnet es ihm als eine Außerordentlichkeit an, die ihn zu einem Modernen macht. Eigenwillig geht er damit auf Nietzsches Kritik-Wegen. Der hat angesichts rasanten Werteverfalls in der Vermittelmäßigung der Kultur deren Negativum und Positivum in einem gesehen; negativ lastet er die Willensschwäche denen an, die kulturelle Erneuerung inaugurieren könnten, der „ Z w i s c h e n - s p e c i e s " , den ,,Artist(en)", jener spezifischen Kulturpflanze, die sich als „Genie" zum Herold der Gefühle macht, „mit denen man Massen begeistert" und hoffnungslos sich dem Pöbel anbiedert; positiv fällt Mediokrität ins Gewicht, wo gegen die Extreme zukunftssichernde Zentren gesetzt werden; die Gegner des Pöbels und der Exzentriker entdecken, „die mediocritas ist auch aurea", das alte Ideal gewinnt neue Fürsprecherschaft: „die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie — sie wird unterhaltend, sie verführt" (KSA 13, 14 (182) 366 f.). Hier ist ein Punkt großer Nähe und großen Dissenses zwischen

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Nietzsche und Friedeil. Nähe bezüglich der Omnivalenz des Mittelmäßigen, das unter den Bedingungen der kulturellen Moderne zum Genialen avanciert, Dissens bezüglich der Wertschätzung für die moderne Kultur und Kunst. Friedell ist nicht willens, Nietzsche zu folgen und diesen Prozeß als Niedergang der Kultur zu werten; der Wert des Alltäglichen erhält bei ihm eine grundlegende Kulturbedeutung. Was Nietzsche nur den großen Naturen zugestehen wollte, daß es möglich sei, aus drei Anekdoten ihr Bild zu zeichnen, akzentuiert Friedell verschoben; für ihn trifft dies auch auf die Alltäglichkeiten des „gewöhnlichen" Genies zu: „Die großen Menschen sind gerade in ihren menschlichsten Augenblicken am allergrößten. Das Schönste und Unvergänglichste an ihnen werden immer ein paar Alltagsanekdoten bleiben" (KGAO 77). Er schreibt die Geschichte Altenbergs als eine anekdotische, ihre vielschichtigen Facetten werden zu einer Beschreibung der Moderne mit modernen Mitteln.

III ... die Frage nach den allgemeinen Artmerkmalen des Dichters mußte zu einem ständigen Thema der Untersuchungen werden. (Egon Friedell: Ecce Poeta)

Mit Nietzsche teilt Friedell die Auffassung, es sei Aufgabe der Philosophie, die partie honteuse der Menschheit zu beleuchten. „Ecce Poeta" ist in diesem Sinne Analyse der kulturellen Befindlichkeiten der modernen Individuen und ein Versuch, mittels einer Sonde in die Tiefenstruktur der Moderne einzudringen, um ihre Merkmale auszuloten. Diese Sonde ist der moderne Dichter; weil er ein „Paradigma der Menschheit" ist, nach dem alle Zeitgenossen geformt sind (IEB 101), weil er der „Innenarchitekt der Menschheit" (EP 220) ist, weil er der einzig wirklich Moderne ist. Altenbergs Leben ist dem aufmerksamen Kulturkritiker exemplarisch, er ist ihm der „Gipfel schwärzester Modernität" (EP 126). Von ihm intim zu reden, heißt, von seiner Zeit zu reden. Eine solche Dichter-Studie ist genuine Kulturkritik, eine andere Ästhetik: „Bisher war der Dichter ein Mensch, der die Wirklichkeit so lange zurechtbiegt, zurechdügt, bis sie ästhetisch wirkt. Er hielt es für seine Aufgabe, die Defekte der Realität zu korrigieren". Der Künsder, so Friedell, habe sich abgearbeitet, harmonische Kunstwerke zu produzieren, „ausgeglichene, abgewogene Werke" (EP 156); in die Harmonie seines Lebens blieb nichts zu investieren, er blieb auf der Strecke. Dies geht gegen tradiertes Künstlerverständnis. Gegen das Bild des Korrektors der Wirklichkeit setzt Friedell ein Bild des Künsders, der mit allen Attributen der Moderne ausgestattet ist. Historische Ausnahmen bezeugen

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die Regel (der Moderne): Sokrates, Dante, Shakespeare, Goethe. Der moderne Dichter bricht in ihre Reihen ein und gesellt sich als neue Figur gleichwertig zu ihnen. Die Moderne ist, was der Künstler ist. Die alten Gewißheiten reißen auf an der Realität und profilieren sich als Teil der Gattungsgeschichte des Poeten. Nietzsches kritische Würdigung der Moderne steht spiegelverkehrt Pate, wenn Friedeil Altenbergs Vorzügen Kontur gibt. Was Nietzsche der französischen Literatur im 19. Jahrhundert vorwirft (ihre zu große Nähe zur Realität, zur Kloake, ihr Hang zur Attitüde, ihre Begehrlichkeit, ihre Anbiederung an den öffentlichen Geschmack, ihre Originalitätssucht bis zur Selbstaufgabe, ihre Verquickung von Krankheit, Sinnlichkeit und Religiosität), gehört zum Merkmalskatalog moderner Kunst, der modernen Literatur bei Friedell. Er zeichnet ein Phantombild des Literaten in die zeitgenössischen Diskurse und weiß es zugleich als fremd in ihnen. Sein Befund ist ambivalent. Der Künsder fällt der Moderne als Beute zu, unbeschadet seiner Genealogie, allein aus Gründen seiner Anverwandelbarkeit an die Bedingungen seiner Existenz. Sein Leben ist die InsWerk-Setzung diffiziler Uberlebensstrategien und ein Stück der Verweigerung zugleich. Vor allem kennt er sich aus in den Varietäten der Moderne, gegen die er sich nur noch wehren kann, indem er selbst eine ihrer Varietäten wird, in der Maske auffallender Beliebigkeiten. Die banale Realität wird zum Lebenselixier des Künsders; in ihr, durch sie ist er Dichter und macht es Sinn, zu sagen: Ecce Poeta. Der moderne Dichter sublimiert die Banalität, indem er und sein Werk banal werden, als Akt der Bewahrung gegen das Selbstmörderische der Kultur und der tödlichen Sequenzen ihrer Lebensinhalte. Die Wahrheiten, die er verkündet, wenn er denn welche ausspricht, sind kalt, klar, unsentimental. Seine Rede- und Kunstfiguren besitzen etwas von der inneren Dramatik der Realität. Diese wird sich durch künstlerische Gestaltung ihrer Abgründe bewußt, auch dort, wo die Gefahr unsichtbar ist. Der Künsder schafft keine Illusionen mehr, er weiß sie (nach Nietzsche) als solche. Seine Scheinparadiese sind artifiziell und immer schon als solche gewußt. Friedells Wort von der exakten Mystik als dem Gebiet des Dichters, die Bestimmung poetischer Weisheit als Liebe zum Rätsel (EP 23), bündeln das Dichterbild für die Moderne: „Wir sehen im Dichter den Weisen, der die Sphinx erkennt, das heißt: der einsieht, daß sie Sphinx ist und Sphinx bleiben muß. Er wird sie nicht mehr in die Tiefe schleudern, denn er nimmt kein Ärgernis an Mysterien. Er wird sie nicht mehr entschleiern wollen: wo Schleier sind, wird er Schleier erblicken; aber er wird genau zeigen, wo sie sind und warum sie sind" (EP 22). Was zeidos-existenziell klingt, lebt von den Erfahrungen der Moderne, ist gegen jede instrumentalisierte Rationalität formuliert. Achsenverschoben zu Nietzsche. Dessen Invektiven gegen eine der Ratio sich ergebenden Kunst behaupten die Notwendigkeit des Schleiers, der Illusion als lebenserhaltend gegen das Grauen der Realität: „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnissvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese

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Hülle nimmt, [...] eine Kunst, ein Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren [...] nicht mehr wundern" (HL 7, KSA 1, 298); die Kunst als Schutz vor der Absurdität des Seienden, der Künstler, der den Schleier über das Unerträgliche legt: Für Nietzsche ist dies seine vornehmste Aufgabe, gesagt gegen die Begehrlichkeit der Moderne, den Schleier der Maja zu zerreißen. Nietzsche ist sicher, hinter dem Schleier sei nichts, der Schleier sei alles: Friedell weiß das Wissen der Kunst über ihre Gründe als ihre Legitimität für die Moderne. Die Frage nach dem Nutzwert des Dichters attackiert seine gewohnte Gloriole mit dem Vokabular der Ökonomie: „Welchen Zweck haben eigentlich jene abstrusen Organismen, die von Zeit zu Zeit in der Entwicklung unserer Spezies hervortreten, diese Dichter?"; da das ganze Leben eine große Ökonomie sei, falle auch der Dichter unter ihr Gesetz. Man müsse fragen: „Was ist sein praktischer, handlicher Nutzwert?" (EP 15). Die Antwort ist listig: Er sei das „Salz der Erde" (EP 17), ein Lockerungsmittel gegen die Verkrustungen der Kultur: „Er fragt, wo es sonst niemand tut. Er gräbt den ganzen Boden seines Zeitalters um, [...] bohrt Gänge, legt neue Erdschichten bloß [...] Er bringt Unterirdisches ans Licht, [...] hämmert an den festesten Dingen mit seinen Zweifeln" (EP 16). Er ist das subversive Element schlechthin; in der Moderne ist er zudem der Antipode des Optimismus, der Vernunftgläubigkeit: „Seine Mission ist: Unruhe und Mißtrauen zu verbreiten. Er macht das Leben, das man eben noch mittels Tabellen und Systemen eingefangen zu haben glaubte, neuerdings zu einer aufreizenden, unentwirrbaren, verhängnisvollen Angelegenheit" (EP 16 f.). Im Stoffwechsel der Kultur ist er das Ferment der Selbstreinigung und (im Sinne Nietzsches) ein Barbar, Eroberer, prometheischer Typ. Ohne ihn bliebe die Seele unterernährt, geriete die Blutzirkulation in Gefahr und durcheinander. Alles ist verzichtbar, aber „bei meinem Dichter habe ich keine Wahl, den muß ich unbedingt haben". Dichter sind geistige Energieträger, „Kraftzentren, winzige, minimale; aber eben Kraftzentren" (EP 16). Verräterisch scheint Nietzsche durch. Dessen Vorstellungen im Umfeld des Wille-zur-Macht-Gedankens klingen auf. Dem Künsder als Schaffendem eignet quasi per definitionem die Fähigkeit zur Machtsteigerung; er lebt (nach Friedell) aus erster Hand, er ist sich selbst Aufgabe (EP 26). Zwar kann der Kulturkritiker den lebensphilosophischen Begründungen Nietzsches wenig abgewinnen, die Kraftquanten aber als Zentren des Lebens faszinieren ihn und kommen seinem Künstlerverständnis entgegen. Der Wille zur Weltverwandlung wird von Nietzsche emphatisch als Künsderaufgabe gesehen; Friedell denkt in die gleiche Richtung, wenn er den Dichter als einen Don Juan des Lebens bezeichnet und seine Beziehung zur Wirklichkeit als eine eminent erotische herausstellt (EP 191 ff.). Das Prinzip des Wirken-Wollens ist auf originelle Weise ausgeschrieben. Bei Nietzsche steht zu lesen, der Künsder sei der große Vereinfacher der Welt; von

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Friedeil ist zu erfahren, er gehöre unter die problematischsten Naturen. Nietzsche hat Wagner vor Augen, Friedell blättert im Leben Altenbergs. Den Abstand ihrer Erfahrungen, die Differenz ihrer Künste eingerechnet, liegt widersprüchlich Gemeinsames in der Tiefenstruktur ihrer Ansichten. Problemintensität und Vereinfachung erweisen sich als komplementär. Dichtung ist für Friedell „abgekürzte Empirie" (EP 15), sie verfügt über ein „geistiges Energiekapital", das den „gesamten Kreislauf beschleunigt" (EP 19). Zeit und Künstler stehen in entgegengesetzten Zielen zueinander; Anverwandlung durch gegenseitige Auflösung. Der Dichter irrationalisiert sein Zeitalter und dieses rationalisiert seine Existenz. Nietzsche wollte im Künsder den sehen, der gegen die Lebensfeindlichkeit der theoretischen Kultur Entlastungsbilder aufstellt als Schild des Individuellen. Ohne sie wäre alle Kultur definiert einzig durch ihre selbstzerstörerische Potenz. Kunst allein vermag der Kultur, dem Menschen den archimedischen Punkt, die komplizierte Geometrie seines (Uber-)Lebens aufzuzeigen und (paradox) durch Verunsicherung zu großer Vertrautheiten) in die Realität zu sichern. Moderne Dichter leben in und von Enttäuschungen. Ihre größte ist die, daß die sogenannte Realität das eigentlich Unwirkliche ist. Diese ihre Enttäuschungen treiben sie in künsderische Gestalt(en). Ihre Optik bestimmt das Wirkliche, schafft es erst. Wie für Nietzsche gilt auch für Friedell das Kunstwerk mehr als dessen realer Untergrund: „es ist ein Irrtum, zu glauben, der Dichter sei von der Realität abhängig. Im Gegenteil: die Realität ist ein Werk des Dichters. So wie wir die Dinge sehen, so sind sie. Und die Dichter besitzen die Gabe, auch jeden anderen zu zwingen, daß er die Dinge ebenso sieht wie er" (EP 264). Im Kunstwerk findet der Zeitgenosse seine Zeitgenossenschaft dokumentiert; allerdings in einer Sprache und in Bildern, die befremden. Wie im Künsder selbst, so ist auch in ihnen alles vergrößert und verzerrt: „sie sind gewissermaßen Übertreibungen, Exaggerationen aller Fehler und Tugenden ihres Zeitalters" (EP 168). Dichter gelten Friedell in allen Epochen als die, die Sprachlosigkeiten durchbrechen. Ihre Sprache ist infiziert von den Gefährdungen der Kultur. Quasi kryptisch signalisiert die (Kunst-)Sprache die interne Spannung ihrer Signifikanz. Im Abdruck der Zeit, den sie vorstellt, sind die Nöte, die Größe und die Alltäglichkeit des Zeitalters eingeschrieben; sie sind lesbar, wenn man die Hieroglyphen des Ästhetischen zu entziffern vermag. Was am Beispiel Ibsens vorgeführt wird, trifft nach Friedell generell auf die Künstler der Moderne zu: daß sie eine „Landkarte der Seelenverfassung um die Jahrhundertwende" angelegt haben in ihren Werken, daß sie das „wertvollste Aktenmaterial" (EP 170 f.) für die Zeitgenossen und die Nachwelt versammeln. Stellt man diesen Ansichten Nietzsches Diagnose der modernen Sprachkrankheit zur Seite, ergibt sich ein bemerkenswerter Gleichklang. Was sich bei Nietzsche als Agonie der Konvention buchstabiert, als Unfähigkeit, sich mitzuteilen, wird bei Friedell zum Plädoyer für eine künsderische Sprache, die Offenbarung ist und Maske in einem,

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hinter der die Risse sichtbar werden am Grunde eines Bildes und die dennoch eines präsent halten: „eine rührende Verklärung eben dieser Welt" (EP 171). Durch alle Kälte, Präzision und Ambivalenz der Redefiguren hindurch, durch die die Ängste und Irritationen, Illusionen und Utopien Wordaut erhalten.

IV Er geht durch das Leben und betrachtet. Das ist seine ganze Leistung ... Er schreibt mit, als ein Kammerstenograph des Lebens, was ihm eben ins Diktat kommt" (Egon Friedeil: Ecce Poeta)

Die Moderne kennt ihren Kern, der moderne Mensch sein Wesen nicht. Ihn (es) aufzuspüren, ist Sache des Dichters. Was sich ihm zeigt, ist Oberfläche, schnell vergänglich, undeutlich, ohne Substanz. „Telephon und Setzmaschine, Kinematograph und Untergrundbahn" (Ep 33), das gesamte moderne Stadtund Lebensbild, vermitteln Trügerisches. Das Zeitalter ist „Ubergang vom Perfektum ins Futurum", ohne Präsens: „Wir leben in einem tempus inchoativum" (EP 45). Die kulturellen Koordinaten haben sich verschoben und driften vom Ich weg, das in Auflösung begriffen ist, nicht mehr Mittelpunkt und ohne Resistenz. Das Jahrhundertwende-Thema der Psychologie prägt auch Friedells Bild der Moderne: die Nervosität als Kulturphänomen, die Wahrnehmungs-Schocks und die gestörten Synästhesien besetzen alle Kulturkritik und Ästhetik. Wo aber Nietzsche negativ wertend argumentiert, geht Friedeil den Weg kritischer Position. Gleichartiger Deskription folgen differente Schlußfolgerungen. Keine vita contemplativa als Empfehlung, sondern: „Nervosität ist nichts anderes als erhöhte Produktivität und Leistungsfähigkeit, feinere Differenzierung eines bestimmten Organsystems unseres Körpers [...] Nichts verhindert uns, hierin ein Symptom gesteigerter Gesundheit und Lebenskraft zu erblicken" (EP 95). Dem modernen Menschen wird eine Strategie des Umgangs mit den neuen kulturellen Herausforderungen gelingen, es werden sich kompatible physiologische Möglichkeiten eröffnen. Was futuristisch klingt, besitzt realutopische Dimension. Die Künste werden davon profitieren. Wie immer man die physiologische Organisiertheit des modernen Menschen definiert: „Wir würden ... eine viel vollkommenere und nuanciertere Welt konzipieren können", weil die fremden Energien ein Organ hätten, durch das sie zu apperzipieren wären (EP 103). In der potenzierten Reizbarkeit liegt die kulturelle Perspektive der Moderne: „Der Mensch der nächsten Jahrzehnte wird eine organisierte Neurose sein" (EP 109). In ihm ist zugleich etwas Maschinenhaftes. Das verachtete Wesen Maschine erfährt eine

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Wertekorrektur sondergleichen. Was Nietzsche schon weiß, ohne es zu goutieren, wird für Friedell zur Gewißheit. Nicht nur, daß das Maschinenzeitalter irreversibel angebrochen ist, sondern: „Die Maschine ist die souveräne Beherrscherin unseres gegenwärtigen Lebens... unser Geschmack, unsere Ethik, unser Pathos, unsere ganze seelische und körperliche Haltung fängt an, sich am Vorbild der Maschine leise und halb unbewußt umzumodeln, und erstaunlicherweise: das Verhältnis kehrt sich um; wir glaubten, der Mensch habe die Maschine gemacht, aber ο nein: — die Maschine macht den Menschen" (EP 87). Nietzsche sieht in diesem Prozeß ein Indiz der Technikverfallenheit der Moderne, einen Aufweis ihres Niedergangs. Weil sich alles an der industrialisierten Kultur mißt, verwirft er mit Emphase ihren kulturstiftenden Kanon. Friedell hingegen erhebt ihn zum Kulturmerkmal modernen Lebens. Höchstmögliche Einfachheit, straffste Organisation, effektive Ausnutzung der Mittel als Maschinenprinzipien anverwandelt er künsderischen Wertfeldern, „dies ist ganz einfach die Definition des modernen Kunstwerks. Die Maschine ist ein ästhetischer Kanon". Das meint nicht mehr und nicht weniger, als daß die Maschine den Rhythmus der Kultur revolutioniert, ein neues Pathos des Ästhetischen hervorbringt: „das Maschinenpathos, das rhythmische, ratternde, knatternde Pathos eines Eisenwalzwerks, eines Schraubendampfers, eines Artilleriefeuers, einer Dynamohalle, in der Stempel, Räder, Treibriemen, Transmissionen, Ankerwerke, Turbinen ihren ungeheuren Chor anstimmen, erfüllt von einem neuen Pathos, ... das seine eigene Schönheit, seine eigene Musik hat" (EP 89). Dies ist kein engstirniger Optimismus, sondern der Realitätssinn des Kulturkritikers, der das ModerneProjekt nicht aufgeben kann. Die Straße (der Großstadt) hat diesen Lebensrhythmus für sich angenommen; sie ist sein kongenialer gebauter Ausdruck und das architektonische Impressum kultureller Alltäglichkeiten. Folgerichtig ist der Dichter der Moderne der Dichter der Straße. Ihre Kaffeehäuser und Geschäfte, ihre Fuß- und Fahrwege, ihre Hektik und Betriebsamkeit, ihre Monotonie und Langeweile sind sein Metier, sein Gegenstand. Den Menschen, denen er zufällig begegnet in der Menge, sieht er ihre Lebensinhalte ab, das ganze Puzzle ihrer tagtäglichen immer gleichen Besonderheiten: „Er geht über die Straße: dies ist eigentlich seine ganze dichterische Tätigkeit", er ist „der Schilderer und Verherrlicher des kleinen Lebens der Stunde" (EP 44). Altenberg verkörpert diesen modernen Literaten, von dem erst die Späteren wissen werden, wie sehr er Zeitgeist war. Friedell hat es geahnt, sein Name wurde ihm zu einem „Gattungsbegriff (EP 126). Das Fluidum des Exzessiven, der schlechten Eigenschaften ist Chiffre, besser: der „Wille zur Chiffre"; sie zu entschlüsseln, heißt, von ihm zu sagen: „Er ist, was man von ihm sagt" (EP 127 f.). In einer Zeit, in der die Schriftstellerei zum Beruf geworden ist, dichtet Altenberg, als ob sie noch immer keiner wäre. Er ist der Mann des Zufalls, der kleinen Belanglosigkeiten, die das Leben bedeuten.

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Dadurch macht er sichtbar, was sonst unsichtbar bliebe: „es ist von nun an gar nicht mehr möglich, diese Dinge nicht zu sehen" (EP 135). Er gibt dem Unbedeutenden die Würde des Besonderen, den Zusammenhanglosigkeiten Zusammenhang, den Miniaturwelten Größe und Konturen ohne subjektive Brechung. Seine Bilder fügen ein Gesamtbild, dessen Assoziationsketten zu immer anderen Bildern zusammenstürzen. Er objektiviert die Illusion des Tatsächlichen und kassiert dessen Anspruch auf Realität, macht den identifikationsheischenden Gestus zuschanden. Die Straßenerfahrung dringt in die Psychogramme der sie bevölkernden Menschen und (zer) stört den Rhythmus friedvoller Perspektiven. Altenberg imputiert seinen Gestalten ihr immer schon Artifizielles und entzaubert die scheinbare Rationalität ihrer Existenz. Friedells Projektion des modernen Dichters findet an ihm ihre Bestätigung. Der Sehnsucht jeder Kultur, sich in ihrer Kunst selbst abzubilden, sucht Altenberg gerecht zu werden, indem er den Bewegungen des Lebens minutiös folgt in allen „überraschenden Schwankungen und unlogischen Wendungen" (EP 137). Friedell sieht ihn als photographische Platte; er ist um den Preis Künstler, „Weltauge" (EP 136), um den er auf Subjektivität verzichtet. Beobachtung objektiviert sich in schnellen, knappen Sätzen. Die Geschwindigkeit des modernen Lebens schreibt sich pointillistisch in die Texte ein. Sie sind Poesie im technischen Zeitalter: „Wie ein Morsetaster: Punkt-Strich-Strich-Punkt, abgerissen, chiffriert, stenographisch, gehackt": so schreibt er; was er festhält, sind Extrakte, „immer nur das Allernötigste" (EP 137 f.), „Fünfminutenszenen" (EP 141 ff.). Langsamkeit und episches Verweilen sind anachronistisch in einer Zeit der „Blitzzüge und Automobildroschken" (EP 138); das Phänomen der Geschwindigkeit hat die Kunst eingeholt. Telegramm und Tageszeitung beherrschen die kulturelle Kommunikation und ihr Credo: „daß für fast jede Mitteilung ein Oktavblatt ein genügend großer Raum ist" (EP 139). Das prägt die Werkstruktur der Kunst und ihre Funktionalität: „Das Buch für den modernen Menschen darf daher nicht etwas Zeitraubendes sein, sondern es muß Zeit ersparen. Bücher sind Surrogate für Erlebnisse, Notbehelfe für Menschen, die keine Zeit haben" (EP 140). Friedells Beschreibungen des abgehetzten, ungeduldigen Menschen der Moderne, der Zerstreuung sucht und Ablenkung oder der in kurzer Zeit versucht, ein Buch zu lesen, gleichen denen Nietzsches zum Verwechseln; ihre Wertung differiert erwartungsgemäß. Bei Nietzsche ist es vernichtend für den modernen Menschen, von ihm sagen zu müssen: „Er redet wie ein Mensch, der täglich die Zeitung liest" (KSA 7, 27 (62) 605). Friedell sieht in Altenbergs Skizze „Lokale Chronik" ein „künstlerisches Programm: der Dichter und die Zeitungsnotiz" (EP 145). Seine Sprache gleicht der der Ausstellungskataloge und Preisverzeichnisse ohne jeden ästhetischen Anspruch, und bisweilen ist sie bloßer „Stil der Zeitungsannonce" (EP 163), ihre Form ist amorph, kristallinisch, der Stil plakativ und tapetenhaft. Darin besteht ihre Modernität. Nietzsche

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würde diesen Stil nicht ausgehalten haben, wiewohl auch er ihn als modern deklariert hätte. Friedeil betont die Kongenialität des Dichters und des Kunstwerks gegenüber den kulturellen Bedingungen ihrer Existenz. Die Wirkungspotenz moderner Dichtung liegt darin, „ein verkleinertes Bild des Lebens" (EP 145) zu entwerfen, Stichworte zu geben, Essenzen des Wirklichen. Ihr Essenzcharakter kommt den Erwartungen der Moderne an sie entgegen: „Es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß nur noch eine pointierte Kunst auf uns wirkt, daß wir nur noch pointierte Kunst ertragen. Wir brauchen diese stärkeren Reize" (EP 151). Friedell ist weit entfernt davon, dies als Negativfaktor zu werten. Es wäre fatal, den beobachteten Wirkungswandel mit den Attributen kultureller Negativität zu belegen. Die quasi physiologische Einstellung auf eine höhere Dosierung der Reize entspricht dem veränderten Wahrnehmungs- und Kulturumfeld des modernen Menschen. Er kann gar nicht anders. Das Interesse am psychophysischen Detail seitens des Künsders skandiert diese Veränderungen mit der Sichtbarmachung seelischer Vorgänge. Seine Sprache endädt aufgestaute seelische Energien, sie ist ihr Vehikel: Fragezeichen, Gedankenstriche, spationierte Worte sind ihre adäquaten typographischen Mittel. Sie potenzieren den Reiz und verlassen sich auf die Wirkungen ihrer Quantitäten als probate Wege für die Transparenz des ansonsten Unsagbaren, das dem Psychophysischen des Menschen zugrundeliegt. Phantasie hat dabei ihr geltendes künstlerisches Privileg verloren. Hoffnungslos an das „fade Ich" (EP 213) gebunden, wird sie als hinderlich für das Aufspüren der interessanten Seiten des Lebens angesehen. Interessant sind die Banalitäten, das Triviale, das unscheinbar Alltägliche: „Die Dichter werden nötiger und wichtiger sein als zuvor, nämlich als Entdecker dieser Dinge, für die nur sie Augen, Ohren und Nerven haben" (EP 215). Die Differenz zwischen Entdecker und Erfinder trennt nach Friedell die Dichter der Epochen.

Nach-Sät%e Friedells Artgeschichte des modernen Dichters blättert im Leben Altenbergs wie in einer aufgeschlagenen Kulturgeschichte, arbeitet sozusagen am geöffneten Kulturkörper. Daß dabei die Linien verschwimmen zwischen dem Dichter und seiner Zeit, ist gewolltes Konzept und beabsichtigte Provokation. Das Beispiel besitzt ironische Qualität; die Probleme der Moderne erhalten prägnante Kontur an Gestalten der Peripherie. Am Zweitklassigen entlarvt sich der Geist der Zeit. Man tut gut daran, sich bewußt zu halten, daß Friedells „Ecce Poeta" im Gleichklang zeitgenössischer Kulturkritiken jüdischer Intellektueller klingt. Seine Melodie präludiert die feinsinnigen Bilder der Moderne von Hermann Bahr und

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Theodor Lessing, Ludwig Rubiner und Gustav Landauer, Siegfried Kracauer und Georg Simmel. Wie sie sieht er die Moderne — mit dem diabolischen Blick Nietzsches — ohne Alternative. Wie sie verschreibt er sich dem ,,schwierigste(n) und gefährlichste(n) Geschäft" (EP 268), der Aufklärung durch Dichtung und Philosophie. Das Leben des jüdischen Literaten Altenberg (Richard Engländer) wird ihm zum Paradigma der kulturellen Moderne; daß dies problematisch ist, weiß Friedeil, wiewohl es symptomatisch scheint für die Klischeehaftigkeit moderner Selbstgewißheiten. Peter Gay hat es als immens deutsch qualifiziert, die jüdische Frage und die Bestimmung der Moderne einander zu amalgamieren 4 . Friedeil hat es vermieden, dies verbal auszuschreiben, wohl in dem Wissen, beiden Seiten so nicht gerecht zu werden. Seine Geistesverwandtschaft zu Nietzsche hat ihn vor solcher Verkleinerung des Denkens bewahrt.

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Peter Gay, Freud, Juden und andere Deutsche. Herren und Opfer in der modernen Kultur, Hamburg 1986.

V. Verdeckte jüdische Nietzscheanismen

PETER HELLER

Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche 1. Mein Widerstand gegen die Unterstellung eines „jüdischen Nietzscheanismus" rührt von meiner Einstellung — als „Rand-Jude" („marginal Jew") — zum Judentum her. Wenn Judentum Zugehörigkeit zu einem Glauben oder einer von religiöser Tradition bestimmten Lebensform bedeutete, wäre ein gemeinsamer Nenner vielleicht annehmbar, der aber schon bei Annahme einer bloß nationalen Zugehörigkeit fragwürdig wird. Es gab freilich einen deutschen, aggressiv nationalistischen Nietzscheanismus, der aber keineswegs für alle Deutschen und Deutschsprachigen verbindlich war — man denke etwa an Overbeck, Bernoulli, Thomas Mann, Lou Salome. Und wenn Jude-Sein nur ethnische — unter Hitler hieß es: rassische — Zugehörigkeit bedeutet, fragt es sich, ob Denkweisen sich derlei Zugehörigkeiten zuordnen lassen. War Spinoza — wie Nietzsche (NSW XI,319) meinte — ein typisch jüdischer Pantheist? Jesus von Nazareth ein typisch jüdischer Religionsstifter? Moses, den Freud 1 für einen Ägypter hielt, ein typisch jüdischer Führer und Gesetzgeber? Und wenn ja, in welchem Sinn? In seinem aggressiven Atheismus, seinem antinationalistischen Kosmopolitismus, seiner Wendung gegen beschönigende Konventionsgläubigkeit und seinem Glauben an eine objektive Wissenschaftlichkeit empfand Freud sich als moderner Fortsetzer einer — wie er meinte: Der — essentiellen jüdischen Tradition; in seinem letzten Buch wohl auch als Moses des 20. Jahrhunderts. In seinem, von ihm halb verleugneten, Verhältnis zu Nietzsche hielt er sich gewiß nicht für einen und war er gewiß kein Nietzscheaner, nämlich ein Jünger oder Anhänger Nietzsches, dem anzuhängen angesichts der Multiperspektivität seines Denkens übrigens so schwierig ist, daß die Nietzscheaner oder solche, die sich dafür hielten, immer eine ihrer eigenen Beschränkung gemäße Auswahl aus Nietzsche zu ihrem Leitbild erhoben. 1

(FGW XVI, 114ff.) - FGW = Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bde. I - X V I I I (London, 1942 ff.; Frankfurt/Main, verschiedene Daten). — PS I —IV = Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 1 9 0 6 - 1 9 1 8 , 4 Bde.; Frankfurt/Main, 1976 ff.). - Freuds Briefe an Wilhelm Fliess (Frankfurt/Main, 1986) und an Arnold Zweig (S. Freud / A. Zweig: Briefwechsel, Frankfurt/Main 1968) werden mit Angabe des jeweiligen Datums zitiert.

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Und doch muß man die Frage danach, wie sich Juden mit Nietzsche auseinandersetzten, wohl gelten lassen; und also auch den Gedanken, daß es für die vom Judentum wie auch immer Geprägten gemeinsame Nenner geben mag. Selbst wenn man sich — wie Freud — keiner jüdischen Nation oder Religionsgemeinschaft anschließt, mag man — im Gegensatz zu dem aufklärerischen Sultan Saladin in Lessings „Nathan" (Vers 1846) — den „Zufall der Geburt" nicht zu entwerten gesonnen sein ; wie denn auch Freud sich immer zu seinem Judentum bekannte, mit einem gewissen Stolz und ohne defensive Wehleidigkeit, die jede Selbstkritik der Juden sogleich als „jüdischen Selbsthaß" charakterisieren wollte, wie dies nach dem nazistischen Genozid bei manchen von uns üblich wurde. Für die für den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur des 18. bis 20. Jahrhunderts entscheidende Gruppe der jüdischen „Assimilanten" scheint es überdies eine dominante intellektuelle Tradition zu geben, da sie zumeist mit der die Juden aus dem Ghetto befreienden Aufklärung sympathisierten. Kommen wir Assimilanten oder vom Assimilantentum Geprägten der Ideologie nach im deutschsprachigen Bereich nicht allermeist aus dem „Nathan" der Lessing-Mendelssohnschen Epoche? Aber auch das gilt nicht so einfach für die romantische Phase, die späteren Mendelssohns und Veits oder den spätromantischen Aspekt von Heine oder im 20. Jahrhundert für Kafka oder gar für Buber. Die Verarbeitung insbesondere der Romantik ist ja gerade auch für Freud charakteristisch, da schließlich sein ganzes Entdeckerwerk und Metaphernsystem der Erkundung der „Nachtseiten" der menschlichen Natur dient, wobei der jüngere Freud seine rebellische Sympathie mit Amor-Lucifer (an Fliess, 7. Juli 1900) zugibt und in dem Motto zur „Traumdeutung" — Flectere si nequeo superos/acheronta movebo — zumindest andeutet; mag der spätere der „Neuen Vorlesungen" (FGW XV, 86) auch eine rationalistisch-realistische Stilisierung im Sinn des „Wo Es war, soll Ich werden" betonen. Und dieser Versuch, rationalistische und positivistisch anti-metaphysische Gesinnung mit romantischem Erbe — im Fall Freuds quasi Diderot und Helmholtz mit Ε. T. A. Hoffmann — zu verbinden und sie dergestalt zu transzendieren, charakterisiert ja auch Nietzsche, der sich ebensowenig auf eine spätromantische Auffassung des Dionysischen — wie sie noch in der GT vorherrscht — festlegen läßt, wie auf die skeptisch-kritische und quasi positivistisch rationale Dialektik, die in einer mittleren Phase seiner Denkbewegung vorherrscht, sondern, Aufklärung über die Aufklärung weiter verbreitend, diese samt Positivismus mit Perspektiven des Deutschen Idealismus, „romantischer" Dynamik, der Umwertung des triebhaften (Schopenhauerschen) „Willen" etc. kombinieren und ebendadurch zu einem neuen Leitbild des Menschen kommen will. Gewiß steht Freud der nüchternen, ernüchternden Seite — mithin Aufklärung und empiristischem Positivismus — näher als Nietzsche, der sich allerdings auf das eigentlich Triebhafte und „Irrationale" vornehmlich dort einläßt, wo es

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einen gesteigerten, „sublimierten" Ausdruck findet, kurz: als Kulturkritiker und Kulturphilosoph; hingegen Freud sich ja gerade Regungen zuwendet, die von der Kultur bzw. Zivilisation (Freud lehnt die Unterscheidung ab) unterdrückt worden sind. — Dennoch versteht sich, daß Freuds positives Verhältnis zu Nietzsche sich überwiegend auf nüchterne, psychologische, kritische Einsichten bezieht und nicht auf ekstatisch-dionysische oder auf den predigenden Zarathustra-Nietzsche, dem er vorwirft, ein illusionäres Soll verkündet zu haben, statt sich illusionslos an das, was „ist", zu halten; obschon Freud selbst, so sehr er dies leugnete, gerade auch mit dem Motto „Wo Es war, soll Ich werden" sowie im Namen der „Wissenschaft" und Nüchternheit fast ebenso wie Nietzsche eine — vorurteilsvolle — Heilslehre, ja eine Religion der Erde verkündete. Eine wichtige Begrenzung in Freuds Verhältnis zu Nietzsche enthält der Satz aus seiner Korrespondenz mit Arnold Zweig (11./12. Mai 1934), daß Nietzsche ihm in seiner Jugend ein ihm unerreichbares Ideal von Vornehmheit bedeutete. Man sollte diese Äußerung des alten Freud nicht einfach als Anerkennung des Nietzscheschen Ideals verstehen. Freud hielt sich für einen ethischen Menschen. Er war der — vor dem Zusammenbruch der elitären, bürgerlichen Kulturgesellschaft in die Barbarei — häufigen, etwas selbstgefälligen und unberechtigten Meinung, die ethische Forderung der Anständigkeit verstehe sich von selbst (was übrigens weder bei ihm noch bei Nietzsche — noch bei Menschen überhaupt - je so einfach der Fall war oder ist). Nietzsches Ideal der Vornehmheit aber, das ihm in seiner Jugend imponieren mochte, bejahte er später nicht. Der positive Nietzsche — zumal der Prophet des Herrenmenschentums und des Übermenschen — war ihm nicht nur nicht zugänglich, sondern sagte ihm, auch abgesehen von dem überschwenglichen Gebrauch, den die Nazis von derlei machten, nicht zu, mochte er auch das Konzept der Sublimierung, auf dem sein Glaube an Kultur und Zivilisation beruhte, bei Nietzsche vorgefunden haben. 2 Gewiß bestehen prinzipielle Ähnlichkeiten zwischen Marx, Nietzsche und Freud, den einflußreichsten religiösen Atheisten unserer Moderne. Nach der „positiven" Seite hin in dem emphatischen Atheismus selbst: dem Verzicht auf ein Jenseits, dem Glauben an eine dem Menschen übergeordnete, ihm nicht nur innewohnende leitende Macht und der ausschließlichen Konzentration jeglicher Hoffnung auf die Gestaltung des irdischen Daseins, eben einer Religion der Erde. Nach der negativen — kritischen — Seite: strukturell in der Mehrstöckigkeit ihres Denkens, nämlich der Betonung — trotz und im Rahmen ihres dezidierten Kulturideals - des „Unteren, Leitenden", das seinen Ausdruck — um 2

Der Ausdruck („Sublimierung", „sublimiert") und ein dem Freudschen analoger Begriff der Sublimierung finden sich in ΜΑ I 1 (KSA 2.23 — 24) (1878). Bei Freud mag der Ausdruck zum ersten Mal in einem Brief an Fliess vom 2. Mai 1897 vorkommen; in den Werken findet er sich 1905 in den Drei Abhandlungen %ur Sexualtheorie (FGW V, 55) sowie in der Fallgeschichte von Dora aus dem gleichen Jahr.

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den Marxschen Terminus in erweitertem Sinne zu gebrauchen — in einer umfassenden Ideologiekritik findet, sowie in einer Kritik des „Kulturmenschen" und seiner Gesellschaft. Nichts wird bloß hingenommen als das, als was es erscheint; alles ist Symptom eines tiefer- und zugrundeliegenden Bedürfnisses, Triebes, Konflikts, der sich in dem manifesten Gehalt zugleich verrät und verhüllt; und dabei wird implizit oder explizit auch anerkannt, daß diese Motivation durch ein Unteres, Leitendes unbewußt bleiben mag. Marx betont das weniger (obschon er ζ. B. in seiner Auffassung der Erklärung der Menschenrechte als ideologische Superstruktur der kapitalistischen „Freihandels-Mentalität" ja durchaus nicht behaupten will, die Ideologen der Französischen Revolution hätten bewußt nur den Handel angestrebt). Bei Nietzsche — sei es in der Kritik des Christentums oder Epikureertums oder des Idealismus — herrscht die Annahme unbewußter Motivation vor, die dann bei Freud programmatisch als nahezu unerhörtes Novum verkündet und vielschichtig verwendet wird: so etwa in der „Traumdeutung", wo zu dem unbewußten Denken im Sinn des Primärprozesses dann noch die ebenfalls nicht bewußte sekundäre Bearbeitung der latenten Traumgedanken hinzukommt, ferner „unbewußt" von „vorbewußt" unterschieden wird etc. Bei Marx sind es, statt der Uberwelten des Idealismus und in polemischem Gegensatz zu diesen, die sozio-ökonomischen Bedingungen und der von materiellen Interessen gespeiste Klassenkampf, die das Dasein und die Geschichte der Menschheit bestimmen. Bei Nietzsche sind es ebenfalls „vitale" Interessen, die sich einen mehr oder minder verhüllten oder sublimierten Ausdruck verschaffen, und so auch bei Freud, wenn auch Nietzsche sich vorwiegend auf die Aggression konzentriert, die zumal als Ressentiment seine umfassendste Kritik, nämlich die des Christentums, beherrscht. Freud faßt zunächst die Sexualität als das große von Anbeginn menschlicher Zivilisation zu einem Gutteil verdrängte, unterdrückte Agens auf, das freilich auch Nietzsche bis in die geistigsten Leistungen als mitbestimmend anerkennt, und erst der spätere Freud führt den Dualismus von Aggression und Sexualität, Eros und Thanatos als sein anti-metaphysisch/metaphysisches, pseudo-biologisches Schema ein. Im Vergleich zu Nietzsche bleibt Freud bei dem Befund der im Bewußtsein bestehenden Täuschung über die unbewußten Motivationen und bei der Kritik der Illusionen in einem psychologischen Bereich. Die Wissenschaft täuscht uns, Freuds Meinung nach, nicht. Positivistische Wissenschaftsgläubigkeit gehört zu der unerschütterlichen exoterischen Ideologie Freuds, mag er auch mitunter durchblicken lassen, daß die psychologischen Termini der „Tiefenpsychologie", ohne die man die ihr „entsprechenden Vorgänge überhaupt nicht beschreiben, ja [...] gar nicht wahrnehmen" hätte können, einer „Bildersprache" angehören, die ihrerseits verbessert würde, wenn man für sie „schon die physiologischen oder chemischen" Termini einsetzen könnte, welche ihrerseits „zwar auch nur einer Bildersprache" angehören, „aber einer uns seit längerer Zeit vertrauten

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und vielleicht auch einfacheren" (FGW XIII, 65). Hingegen verfolgt Nietzsche den analogen Befund der im Bewußtsein vorherrschenden Täuschung über die eigentlichen Motivationen radikal als Philosoph, indem er, übrigens u. a. auch ausgehend von der im Traum stattfindenden Täuschung über die den Traum auslösenden Momente, zu dem Schluß kommt, daß wir uns im Grunde immer über die uns bewegenden Impulse täuschen, immer einem Reiz, einer Empfindung im nachhinein interpretierend eine diesen Reiz, diese Empfindung auslösende Ursache zuschreiben, mithin das, was zuerst da war, nämlich den Reiz, die Empfindung zur Folge eines in Wahrheit erst nachträglich quasi hinzugedichteten (hinzu-interpretierten) Vorhergehenden, eben einer vermeintlichen Ursache machen 3 , wie wir uns ja, zumindest einer von Nietzsches perennierenden Thesen zufolge, immer und notwendig in Irrtümern, in Illusionen befinden, zu denen auch die - uns allerdings nötige - Wissenschaft und „Erkenntnis" gehören — eine Konsequenz, die Freud fernliegt, mag er auch manchmal gemeint haben, unsere ganze Welt sei nichts als ein Phänomen der Psyche, so daß er einem Panpsychismus zumindest in einem seiner späten Aphorismen nahestand 4 . Die Meinung seiner Tochter Anna Freud: „Alles Wirkliche geschieht doch innen" 5 , war ihm als Psychologen gewiß nicht fremd, wenn sie auch mit dem von ihm immer wieder gepredigten Realismus und Objektivismus in Konflikt geriet. Die Unterschiede sind bei alldem evident. Merklich verschiebt sich von Marx zu Nietzsche und Freud hin das Interesse von der Gesellschaft hin zum Individuum. Nietzsches Perspektivismus sieht alles vom Interesse am Indviduum aus; er anerkennt im Grunde kaum ein anderes Interesse. Freuds Psychologie bleibt insofern Individualpsychologie, als jede Erweiterung auf die Gesellschaft und die Geschichte der Menschheit, sei es in historischer oder „prä-historischer" Zeit, von einer genetischen Individualpsychologie her, interpretiert wird, wenn auch der Akzent bei Freud — anders als bei Nietzsche — auf der Familie als der Proto-Gemeinschaft liegt. Auch die zu Freuds Zeiten von Freud begründete psychoanalytische Bewegung mit ihren unzähligen, intimen, quasi inzestuösen Uberkreuzungen stellte eine Art von Super-Familie, eine Uber-Mischpoche, dar 6 , 3

4

5

6

Zu dieser Progression in Nietzsches Deutung des Traums — als archaisches Denken, Wunscherfüllung, etc. - siehe ΜΑ I 5 (KSA 2.27), 12 (KSA 2.31-32), 13 (KSA 2 . 3 2 - 3 5 ) und Μ 119 (KSA 3.111 — 114), wo ein weiterer Schritt unternommen wird zu der Meinung, „Erleben" sei „ein Erdichten", sowie in GD, Die vier großen Irrtümer 4 (KSA 6.92). Vgl. ferner Peter Heller: Von den ersten und letzten Dingen, Berlin, 1972, 111 - 1 1 5 , 1 4 8 - 1 5 2 , 1 5 3 - 1 6 2 . Siehe die Notiz vom 22.8.1938 (FGW XVII, 152): „Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein [...] Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon." „Alles Wirkliche geschieht doch innen" (Brief vom 6. Juli 1930) in: Anna Freud: Briefe an Eva Rosenfeld, Basel/Frankfurt, 1994, 162. Vgl. dazu die Genealogie der Freudianer bei Ernst Falzeder: „The threads of psychoanalytic filiations or Psychoanalysis taking effect" in: Haynal, Andre u. Falzeder, Ernst (Eds.): „100 Years of Psychoanalysis, Contributions to the History of Psychoanalysis", in: Cahiers Psjchiatnques Genevois, Special Issue, 1994, 1 6 9 - 1 9 4 .

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und in dieser Betonung der Familiengemeinschaft (bis zur „Sippe" hin) könnte man auch einen traditionell jüdischen Zug, zumindest einen der — für Jahrhunderte eigentlich staatenlosen, keiner größeren nationalen Gemeinschaft fraglos zugehörigen, daher auf Familie und Sippe angewiesenen — Juden der Diaspora sehen.

2.

Derlei vergleichende Überlegungen ließen sich noch viel weiter führen. Ehe ich kurz auf einige Versuche dieser Art eingehe, will ich aber noch einmal fragen, wie sich Freud denn explicite zu Nietzsche verhielt. 7 Der Index zu seinen „Gesammelten Werken" führt 15 Äußerungen über Nietzsche, 16 über Schopenhauer an. Freud gebraucht in der „Traumdeutung" den Ausdruck „Umwertung aller Werte" nämlich zwischen dem Traummaterial und dem manifesten Traum (FGW II/III, 335; vgl. auch 667: „Umwertung der psychischen Wertigkeiten"), aber in umgekehrtem Sinn als Nietzsche, der mit der Umwertung einen höheren Grad der Wahrhaftigkeit erreichen will, indes Freud meint, daß der manifeste Traum (der Umwerter) das latente Material entstellt, verdeckt, verhüllt. — Im Sinne Nietzsches ist hingegen das Zitat aus MA 13 bezüglich der aus dem Traum zu erschließenden „archaischen Erbschaft des Menschen" („wie treffend die Worte Friedrich Nietzsches sind, daß sich im Traum ,ein uraltes Stück Menschentum fortübt, zu dem man auf direktem Wege kaum mehr gelangen kann"' FGW II/III, 554). - Auch in der Abhandlung „Zur Psychopathologie des Alltagslebens" (FGW IV, 162) (und ebenso in den „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose", FGW VIII, 497) anerkennt Freud Nietzsches Einsicht in unbewußte Motivation, hier das Vergessen, motiviert durch „ein Abwehrbestreben gegen Unlust". Niemand habe das so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche in JGB 68: „ ,Das habe ich gethan', sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächtniss nach." Wenn Freud in der Interpretation von Schrebers Paranoia (FGW VIII, 290) Nietzsche-Zarathustras Hymnus „Vor Sonnenaufgang" (Za III) für seine Deutung Sonne = Vater anführt und bemerkt: „Auch Nietzsche hatte seinen Vater nur als Kind gekannt" und daher Sehnsucht nach ihm, so mag das Freuds Kenntnis von Nietzsches bekanntestem Werk belegen, nicht aber Nietzsches Einfluß auf Freud. 7

Siehe auch den umfassenden Versuch, Freud und Nietzsche zu vergleichen, in der gründlichen Studie von Paul-Laurent Assoun: Freud et Nietzsche, Paris, 1980, der im ersten Teil seines Buchs einen Großteil des in den hier folgenden Abschnitten besprochenen Materials — aus anderer Perspektive — ausführlich behandelt.

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D i e Frage eines solchen Einflusses, die sich i m m e r w i e d e r stellt, wird 1 9 1 4 v o n Freud in „ Z u r Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" ( F G W X , 53) summarisch abgetan: E r habe in „ f r ü h e r e n Jahren" wenig G e s c h m a c k an der Lektüre philosophischer A u t o r e n g e f u n d e n und sich „in späterer Zeit" „den h o h e n G e n u ß der W e r k e Nietzsches versagt" „mit der b e w u ß t e n Motivierung, daß ich in der Verarbeitung psychoanalytischer Eindrücke durch keinerlei E r w a r tungsvorstellung behindert sein wollte. D a f ü r mußte ich bereit sein — und ich bin es gerne —, auf alle Prioritätsansprüche in jenen häufigen Fällen zu verzichten, in denen die mühselige psychoanalytische Forschung die intuitiv g e w o n n e nen Einsichten des Philosophen n u r bestätigen kann". Diese B e m e r k u n g , die in Z u s a m m e n h a n g damit steht, daß andere, wie Schopenhauer und Nietzsche, die f ü r Freuds System so entscheidende „Verdrängung" schon v o r ihm erkannten und beschrieben, ist im Sinne der Politik der psychoanalytischen Bewegung, Psychoanalyse als legitime „Wissenschaft" zu etablieren. W i e Freud selbst a. a. O. berichtet, hatte er gerade in seinen f r ü h e r e n J a h r e n ein lebhaftes philosophisches Interesse, zu d e m er in späteren J a h r e n auch zurückkehrte, o h n e es je eigentlich aufgegeben zu haben 8 . Es ist wahrscheinlich, daß er Nietzsche schon in jungen Jahren las und gewiß, daß er eine Menge über Nietzsche hörte, zumal sein J u g e n d f r e u n d J o s e p h Paneth, der einen Abschnitt zur Nietzsche-Biographie der Schwester Nietzsches beitrug, Freud brieflich über Nietzsche berichtete, d e n Paneth in d e n 80er Jahren in Nizza (oder im Engadin) kennengelernt hatte 9 . — 8

Peter Gay: Freud. A Life for our Time. New York, 1988, 118 f., zitiert relevantes Material, um zu zeigen, daß „in reality .philosophical' questions were never far from [Freud's] awareness". Der Vierzigjährige schrieb (an Fliess, 2. April 1896) über seine Jugend: „Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt, als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe, sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke". In einem anderen Brief vom 1. Januar 1896 schreibt er an Fliess: „Ich sehe, wie Du auf dem Umwege über das Arztsein Dein erstes Ideal erreichst, den Menschen als Physiologe zu verstehen, wie ich im geheimsten die Hoffnung nähre, über dieselben Wege zu meinem Anfangsziel, der Philosophie, zu kommen". Siehe auch weitere Stellen, die sich auf Freuds frühes Interesse an Philosophie beziehen, bei Gay, 25, 28, 29, 31. Angesichts der offenbaren Widersprüche in Freuds Aussagen über sein Interesse an Philosophie meint Gay, 46, diese „inconsistency" sei „more apparent than real." „In true Enlightenment fashion [Freud] denigrated the philosophizing of metaphysicians as unhelpful abstractions. He was equally hostile to those philosophers who equate the reach of the mind with consciousness. His philosophy was scientific empiricism as embodied in a scientific theory of the mind". — Derlei Bemerkungen mögen Freuds Ideologie entsprechen. Es ist aber nicht gerade überzeugend, wenn Spekulationen wie Freuds Postulate eines Dualismus zwischen Eros und Thanatos bzw. Libido und Aggression oder sein therapeutisches Ethos „Wo Es war, soll Ich werden" als Aspekte eines „wissenschaftlichen Empirismus" bezeichnet werden. Was aber Freuds Ablehnung eines bloßen „wishful thinking" angeht, so würde diese gewiß von Idealisten ebenso wie Empiristen geteilt werden, indes andererseits das philosophische Bestreben nach umfassender intellektueller „Einheit", gegen das Freud Einspruch erhob (s. u.), sich mit Bestrebungen mancher Formen eines „wissenschafdichen Empirismus" wohl vertrüge. Etc.

9

Siehe Freud an Arnold Zweig (11./12. Mai 1934), zitiert bei Ernest Jones: The Ufe and Work of Sigmund Freud, III, New York, 1957, 460: „A friend of mine, Dr. Paneth, had got to know him in the Engadine and he used to write me a lot about him". Den Exzerpten aus Paneths Briefen

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In den Briefen an Fliess (1. Februar 1900) erwähnt Freud, daß er Nietzsches Werke erwarb, in denen er Worte für vieles, was in ihm stumm geblieben, zu finden hofft, allerdings bisher zu faul gewesen sei, darin zu lesen. Später erfuhr Freud von Nietzsche durch Lou Salome, die intime Freundin und Kennerin Nietzsches, die eine spätere, enge Freundschaft mit Freud verband. Das Nichterwähnen von Anregungen, die er von anderwärts erhielt, motiviert durch Vergessen oder bewußtes Verschweigen und Verleugnen, ist bei Freud ja häufig 10 . Auch ist die Stilisierung, derzufolge der oft mit kühnsten Hypothesen und „Intuitionen" arbeitende Freud sich als der mühsam vorgehende Wissenschaftler mit Nietzsche kontrastiert, wobei er den Philosophen, der auch systematisch zu denken imstande war, ganz zum „Intuitiven" und Dichter macht, eine grobe Vereinfachung. Selbst wenn Freud in „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit" (FGW X, 391) anerkennt, daß Nietzsche in Zarathustras Rede vom bleichen Verbrecher (Za I) den „Verbrecher aus Schuldgefühl", die PräExistenz des Schuldgefühls und die Verwendung der Tat zur Rationalisierung desselben, schon vor ihm beschrieben hatte, heißt es, ein Freund habe ihn darauf aufmerksam gemacht, um zu betonen, daß der mühsam arbeitende Wissenschafder seine Entdeckung dieses Mechanismus ohne Hilfe des intuitiven Nietzsche machte. Bei dem späteren Freud tritt dann die skeptische Absage an Nietzsches Ideal der Vornehmheit, des „Ubermenschen", hervor: So in „Jenseits des Lustprin-

10

in Elisabeth Förster-Nietzsche: Das Leben Friedrich Nietzsche's, 2. Band, 2. Abtheilung, Leipzig: C. G. Naumann, 1904, 479-493, zufolge begegnete Paneth Nietzsche nicht im Engadin, sondern in Nizza und auch nicht 1885, wie Jones annimmt, sondern zwischen Dezember 1883 und März 1884. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme des Gedankens der Bisexualität von Fliess, die dann in dem Streit mit Fliess — der Anklage des Plagiats via Swoboda und Weininger - eine wichtige Rolle spielte. (Siehe dazu die Einleitung von Ernst Kris zu der Erstausgabe der Briefe Freuds an Fliess (Aus den Anfängen der Psychoanalyse, London, 1950, 46) und Peter Heller: „A Quarrel over Bisexuality", in: G. Chappie & Η. Schulte (Eds.): The Turn of the Century; Bonn, 1981, 87-115. — Weitere Beispiele: Der Begriff eines kollektiven Unbewußten, den Jung vor Freud verwendet, wird ohne Anerkennung dieser Priorität von Freud in seinen späteren Schriften, insbes. in Beziehung auf das Verhältnis der Juden zu Moses, übernommen, ohne daß er die Priorität Jungs anerkennt. Ähnlich ergeht es auch der Priorität von Adler in Hinblick auf den Begriff einer primären Aggression. (Es fällt übrigens auf, daß der Generalindex von Freuds Gesammelten Werken, der sowohl direkte wie indirekte Hinweise auf Nietzsche enthält, die Erklärung Freuds in FGW X, 98, daß bei Adler der [Nietzschesche] „Wille zur Macht" als „männlicher Protest" erscheine, nicht anführt). Was die Parallelen zwischen Nietzsche und Freud angeht, so sind diese zu zahlreich, als daß sie hier alle besprochen oder auch nur angeführt werden könnten. Siehe zum Beispiel bei Jones (op. cit. III, 283 f.) den Hinweis auf die „truly remarkable correspondence between Freud's conception of the super-ego and Nietzsche's exposition of bad conscience [as internalized aggression]", insbes. in der GM. Eingehende, detailierte Diskussionen von Parallelen und Konvergenzen enthält der zweite Teil von Paul-Laurent Assoun: Freud et Nietzsche, 1980; ferner Jacob Golomb: Nietzsche's enticing Psychology of Power; Ames, 1989.

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zips" (FGW XIII, 44), wo er von dem „Glauben", „daß im Menschen selbst ein Trieb zur Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht hat, und von dem man erwarten darf, daß er seine Entwicklung zum Übermenschen besorgen wird", sagt, er sehe „keinen Weg, diese wohltuende Illusion zu schonen", wobei Freud übersieht, daß Nietzsche diese Vervollkommnungsmöglichkeit auch nur für die Allerwenigsten in Betracht zog. Auch in „Massenpsychologie und Ich-Analyse" (FGW XIII, 138), wo Freud von dem „Vater der Urhorde" als einer starken, unabhängigen Führerfigur sagt: „Zu Eingang der Menschheitsgeschichte war er der Ubermensch, den Nietzsche erst von der Zukunft erwartet", ist der Akzent kein positiver, geht es doch darum, daß „auch heute" „die Massenindividuen der Vorspiegelung" bedürfen, „daß sie in glücklicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer [...] niemand anderen zu lieben [braucht]", vielmehr „von Herrennatur sein" darf, „absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbständig." Eine wichtige positive Endehnung aus Nietzsche via Groddeck ist der Terminus „das Es", ( FGW X, 261) als der „ grammatikalische Ausdruck für das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in unserem Wesen", der, meint Freud, bei Nietzsche „durchaus gebräuchlich" sei, was übrigens nicht der Fall ist 11 . Auch geht der systematische Gebrauch, den Freud von dem Ausdruck und Konzept macht, weit über das von Nietzsche Intendierte hinaus 12 . Die „Selbstdarstellung" (FGW XIV, 86) wiederholt nur wieder die Halbwahrheit: Er, Freud, sei immer in so inniger Berührung mit analytischem Material geblieben, habe, auch wo er sich von der Beobachtung entfernte, „die Annäherung an die eigentliche Philosophie sorgfältig vermieden", wobei „konstitutionelle Unfähigkeit" ihm „solche Enthaltung sehr erleichtert" habe. Weitgehende Ubereinstimmungen mit Schopenhauer seien nicht auf Bekanntschaft mit dessen Lehre zurückzuführen. „Nietzsche, den andern Philosophen, dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in erstaunlichster Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit" 13 . 11

12

13

Ahnlich heißt es auch später in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" ( F G W XV, 7 8 f.): „In Anlehnung an den Sprachgebrauch bei Nietzsche und infolge einer Anregung v o n G. Groddeck heißen wir es [i. e.: ,das ich fremde Seelengebiet'] fortan das Es". Siehe Herbert Will: „Das Es bei Groddeck und Freud" in: Groddeck Almanach, Basel, 1 9 8 6 , 1 9 2 — 1 9 6 . Die (einzige) in diesem Kontext angeführte Stelle bei Nietzsche findet sich in J G B 17 (KSA 5 . 3 0 - 3 1 ) . Ein ähnliches Dementi seines philosophischen Interesses in einem Brief v o n Freud an Lothar Bickel (vom 28. Juni 1 9 3 1 ) führt G a y an (46): „.Lacking talent f o r philosophy by nature', he wrote in 1 9 3 1 , looking back, ,1 made a virtue o f necessity': He had trained himself ,to convert the facts that revealed themselves' to him in as .undisguised, unprejudiced, and unprepared' f o r m as possible. T h e study o f a philosopher would inevitably enforce an unacceptable predetermined point o f view. ,Hence I have rejected the study o f Nietzsche although - no, because —

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In „Die Zukunft einer Illusion" (FGW XIV, 338) vergleicht Freud die zu Göttern erhobenen, dadurch anthropomorphisierten und quasi ansprechbar gemachten Naturmächte mit „gewalttätigen Ubermenschen", die man versuchen kann „zu beschwören, beschwichtigen, bestechen" etc. Der Terminus wird wieder in negativer Bedeutung verwendet. Die letzte Äußerung steht im Nachruf auf Lou Andreas-Salome (FGW XVI, 270), deren „letzte 25 Lebensjahre [...] der Psychoanalyse" angehörten: „Man wußte von ihr, daß sie als junges Mädchen eine intensive Freundschaft mit Friedrich Nietzsche unterhalten hatte, gegründet auf ihr tiefes Verständnis für die kühnen Ideen des Philosophen. Das Verhältnis fand ein plötzliches Ende, als sie den Heiratsantrag ablehnte, den er ihr gemacht hatte."

3. Diese Ubersicht vermittelt den Eindruck, daß Nietzsche Freuds Arbeit nur am Rande begleitete. Hingegen geht aus Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung von 1906-1918 hervor, daß man sich in Freuds Kreis intensiv mit Nietzsche befaßte. Zwei Sitzungen im Jahr 1908 sind dem 3. Teil der GM (über asketische Ideale) und der Autobiographie EH gewidmet (siehe PS 1,334-339; PS. II, 22-29). Freud entwickelte dabei Hypothesen über Nietzsches Person und Biographie, die sich aneinanderreihen und kombinieren lassen. Nietzsche, meint er, habe den Vater zweimal getötet. Das zweite Mal in der Autobiographie (PS II, 27); das erste Mal offenbar - so Freuds Meinung - als Kind, nach dessen frühem Tod. Unter Frauen aufgewachsen (PS II, 27), findet der Knabe unter dem Druck seines Schuldgefühls gegenüber dem gestorbenen Vater früh — wie andere „Große" — sein Thema: den Ursprung des Bösen (PS I, 339; Freud bezieht sich hier auf die Abhandlung, die Nietzsche als 13jähriger Knabe verfaßte 14 , — das heißt: die Analyse der Moral). Nietzsches Persönlichkeit sei jedoch rätselhaft, eine Feststellung, die Freud Jahrzehnte später in einem Brief an Arnold Zweig vom 15. VIII. 1934 wiederholte. Denn man verstehe einen Menschen nur, wenn man einen Begriff von seiner psychosexuellen Konstitution habe. Diese sei bei Nietzsche ungewiß, wenn auch „eine gewisse sexuelle Abnormität" „sicher" sei (PS II, 27). Jung,

14

it was plain that I would find insights in him very similar to psychoanalytic ones."' — Auch finden sich im wesentlichen dieselben Bemerkungen in den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ( siehe PS I, 338; PS II, 28). Vgl. GM, Vorrede 3 (KSA 5 . 2 4 9 - 2 5 0 ) , J G B 129 (KSA 5.95) u. a.; Nachlaß Frühling - Sommer 1878, IV 28 [7] (KSA 8.505),: „Als Kind Gott im Glänze gesehn. - Erste philosophische Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch Vorstellung seines Gegensatzes)".

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dessen Onkel, der Psychiater Otto Binswanger, Nietzsche in einer Jenaer Klinik 1889 — 1890 als geistesgestörten Patienten behandelte 15 , glaubte, Freud zufolge, Nietzsche hätte sich „die Lues in einem homosexuellen Bordell geholt" (PS II, 27) 16 . In der Wiener Vereinigung herrscht die Meinung vor, Nietzsche sei homosexuell gewesen. Aber neben der Behauptung von Nietzsches Freund Deussen, daß Nietzsche nie eine Frau berührte („nullam feminam attigit"; PS II, 25) werden auch Gerüchte über Nietzsches gelegentliche (heterosexuelle) Bordellbesuche zitiert, sowie über den erotisch hochgespannten Flirt mit Lou Salome (PS,II,25), die von ihren Spaziergängen mit ihm im nächtlichen Rom schrieb, daß seine „Anwesenheit den Altertümern allerlei Abhaltung wurde" 17 . Wenn Freud auch im Alter gegenüber Arnold Zweig wieder das Gerücht der Infektion durch homosexuellen Geschlechtsverkehr erwähnt und zugleich Nietzsches Persönlichkeit als rätselhaft, als nicht erkennbar bezeichnet, so wohl auch, um Zweig von dem Projekt der Darstellung von Nietzsches Krankheit abzubringen 18 . Freuds Behauptung, Nietzsche — bei dem übrigens keine Spur von einem neurotischen Leiden zu finden sei (PS II, 27) — habe eine einzigartige Einsicht in sein Selbst, seine Psyche gehabt, wie eine solche wohl auch nie wieder Zustandekommen würde (PS, II, 28), ist offenbar mehrfach motiviert. Da sich für Freud Homosexualität - die Attraktion zum gleichen Geschlecht, einem alter ego, — mit Narzißmus verband, ist die Bemerkung verständlich: „Durch die Krankheit vollständig vom Leben abgeschnitten, wendet er [Nietzsche] sich auf das einzige Forschungsobjekt, das ihm geblieben ist, und das ihm als Homosexuellem ohnehin näherlag, an das Ich." (PS II, 27) „Und da beginnt er mit großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung, die Schichten seines Selbst zu erkennen. Er macht eine Reihe glänzender Entdeckungen an seiner

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The Freud/Jung Utters, Princeton, U. P., 1974, 24 (note 1). Der Zusatz: „Das spiele jedoch gar keine Rolle" (PS II, 27) — ob in Hinblick auf Nietzsches Homosexualität oder auf die angenommene Infektion — erscheint als unberechtigt, insofern Freuds Hypothesen über Nietzsche auf beiden Data beruhen. Vielleicht ist die Bemerkung nur als Abwehr einer etwaigen von moralischen Vorurteilen bedingten Herabsetzung von Nietzsches Leistung als Denker gemeint. Sigmund Freud / Lou Andreas Salome: Briefwechsel, Frankfurt/Main, 1980, 14. Arnold Zweig wollte Nietzsches Persönlichkeit und seine Krankheit aufgrund seiner Kindheit und seiner Rebellion gegen die Familie, insbesondere die Frauen, die ihn aufzogen und umgaben, erklären. In einem Brief vom 15. Juli 1934 schrieb Freud an Zweig (NB: mir derzeit nur in engl. Ubersetzung zugänglich): „It is impossible to understand anyone without knowing his sexual constitution, and Nietzsche's is a complete enigma. There is even a story that he was a passive homosexual and that he contracted syphilis in a male brothel in Italy. Whether this is true or not — quien sabe? Secondly, he had a serious illness and after a long period of warning symptoms, he suffered a general paralysis. Everyone has conflicts. With a general paralysis the conflicts recede into the background of the aetiology."

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Person. Aber nun kommt die Krankheit. Er begnügt sich nicht damit, diese Zuammenhänge richtig zu erraten, sondern er projiziert die Erkenntnis, die er an sich gemacht hat, als Lebensanforderung nach außen" (PS II, 27/28). (Eine Fußnote des Herausgebers erklärt dazu: „Beim Geisteskranken ist ja die Außenwelt ein Abbild seiner Innenwelt"). Freud fährt fort: „Das Lehrhafte, Pastorale, das in ihm von seinem [frühen] Christus-Ideal steckt [das er später, Freud zufolge, in ein Anti-Christ-Ideal umkehrt; cf. PS 11,27], kommt zu seiner psychologischen Einsicht hinzu. Auf diese Art entstehen die verwirrenden, im Grunde aber richtigen Resultate der Nietzscheschen Anschauungen. Diese Formel habe er (Freud) sich für Nietzsche zurechtgemacht. In ähnlicher Weise habe sich [...] die ganze Menschheit eine moralische Schattenwelt geschaffen, durch Projektion der endopsychisch wahrgenommenen Substanzen. Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden. Was uns stört ist, daß er das ,ist' in ein ,soll' verwandelt hat. Der Wissenschaft ist aber ein Soll fremd. Er ist da doch noch Moralist geblieben, ist den Theologen nicht losgeworden." (PS II, 28). Zu alledem sei aber noch das Wesentliche nachzutragen. Nicht nur seien in Nietzsches Spätphase die charakteristischen Symptome des Paralytikers deutlich festzustellen, wie die im EH offenbare ,schöne' Euphorie und der Größenwahn (PS II, 27). Was Nietzsche zu seiner „ganz ungewöhnlichen Leistung befähigt hat, durch alle Schichtungen hindurch die Triebe zu erkennen, ist der Auflockerungsprozeß durch die Paralyse. So hat er die paralytische Anlage in diesen wissenschaftlichen Dienst gestellt". Durch den für diese Krankheit charakteristischen Wegfall der Hemmungen konnte er die sonst verdeckten Schichten des eigenen Ichs durchschauen (PS II, 28). Ich fasse zusammen: Das Zusammentreffen des frühen, zur Moralanalyse hinführenden Schuldgefühls gegenüber dem frühverstorbenen Vater mit Krankheit und homosexuellem Narzißmus, der das eigene Ich zum einzigen Objekt macht (es allerdings dann in die Welt hinausprojiziert), sowie mit der paralytischen „Erhellung" durch Wegfall der Hemmungen habe Nietzsche zu seiner einzigartigen Selbsterkenntnis befähigt, nur daß er, da er den Theologen nicht abstreifen konnte, seine an sich richtige Einsicht in das, was ist, als ein Soll verkündete 19 . Zu diesen Erwägungen ist noch die prinzipielle Auffassung Freuds von der ihm „unsympathischen" „abstrakten Art" der Philosophie überhaupt (PS I, 338; PS 11,303) hinzuzufügen, die er auch Nietzsche gegenüber in Anwendung bringt: Was er ablehnt, ist nicht nur die Metaphysik, die er summarisch auf eine „Projek19

Die These steht in pointiertem — vielleicht beabsichtigtem — Gegensatz zu Nietzsche-Zarathustras Selbsteinschätzung, dessen grundlegende Rede „Von den drei Verwandlungen" (Za I; K S A 4.29 — 31) die Uberwindung des Drachen „Du sollst!" predigt.

Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche

279

tion endopsychischer Wahrnehmung" (PS I, 140) reduziert. Die Behauptung: „Jede Philosophie ist eine Paranoia" (PS II, 335), impliziert auch seine Ablehnung des hemmungslosen Einheitsstrebens der Philosophen, das, seiner Meinung nach, aus einem infantilen Narzißmus stammt, welcher die Realität zugunsten eines Wunschdenkens verfälscht 20 . Die Verbindung von Genie mit Abnormität, Krankheit, Wahnsinn sollte auch dem mit psychoanalytischen Ableitungen Unvertrauten zu geläufig sein, um in diesem hypothetischen und partiellen Erklärungsversuch von Nietzsches psychologischem „Genie" nur dessen Abwertung durch Freud zu sehen, der so primitiv nicht war. Er sagt ausdrücklich mit Bezug auf Nietzsche und Maupassant: „Wo die Paralyse große Geister befallen hat, sind außerordentliche Leistungen bis kurz vor der Krankheit zustande gebracht worden" (PS I, 27). Auch unternahm Freud ebenso an anderen „Großen" — wie Leonardo oder Dostojewski — ähnliche Erklärungsversuche. Dennoch wird in der Weise des Psychologen, sich Nietzsche zu erklären, seine Distanzierung von der ihm vorschwebenden Figur deutlich. Freuds Nietzsche ist schließlich ein in Abwehr des eigenen Schuldgefühls für den phantasierten Vatermord zur Uberwindung der Moral angetriebener Narzißt. Er ist dies nicht nur wie die typischerweise als Intellektuelle allesamt auf Varianten des

20

Im Zusammenhang mit den Bemerkungen über Freuds Einstellung zur Philosophie im 3. Abschnitt dieser Arbeit siehe auch FGW XIV, 123 (Philosophie als eine Art von Singen in der Dunkelheit, mit dem der Wanderer zwar seine Ängstlichkeit verleugnet, „aber er sieht darum nicht heller"), XIV, 217 (Verteidigung der stückweisen empirischen Arbeit der Psychoanalyse, deren System eben nicht „gleich als solches wie ein philosophisches System entstanden ist"); vor allem auch die XXXV. Vorlesung „Uber eine Weltanschauung" in den „Neuen Vorlesungen" (insbes. FGW XV, 189 — 191: Verwerfung der philosophischen Systeme, die „es gewagt haben, das Bild der Welt zu zeichnen, wie es sich im Geist des meist weitabgewandten Denkers spiegelte"; Ablehnung eines sophistischen Nihilismus oder Anarchismus, der „überhaupt keine Wahrheit, keine gesicherte Kenntnis der Außenwelt" anerkennen will; sowie auch des als „Niederschlag jener dunkeln Hegeischen Philosophie" aufgefaßten dialektischen Materialismus). Siehe in FGW XV, 173, auch ein Lieblingszitat Freuds aus Heine über den Philosophen: "Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen/ stopft er die Lücken des Weltenbaus". — Weniger pauschal, aber nicht weniger wichtig für Freuds Unbehagen in der Philosophie, wie er sie sieht, ist seine Gegnerschaft gegen jeden Monismus in PS IV, 129: „Den Gegensatz zwischen den Vorstellungen und ihren Gegenständen gleicht kein Monismus aus". In diesem Zusammenhang bekennt Freud dann auch: Wenn er „unter den Weltanschauungen der Philosophen wählen [sollte], so könnte er sich nur als Dualist bezeichnen". Da er — nach vergeblichen Versuchen mit einer physiologischen Ableitung — seine Psychologie auf die Irreduzibilität der psychischen (geistigen, mentalen) Phänomene auf Termini der Physiologie festgelegt hatte, meinte Freud anscheinend, daß er sich nicht mehr mit dem quantifizierenden Positivismus der HelmholtzBrücke-Schule identifizieren konnte, dem er in früheren Jahren weitgehend anhing, jedoch — selbstverständlich — auch nicht mit Systemen des Idealismus (wie jene der romantischen „Naturphilosophie" u. a.). Sein „Dualismus" ähnelt einer säkularisierten Version des Spinozismus, der den Intellekt (Geist) sowie Realität als „res extensa" als zwei aufeinander irreduzible Attribute anerkennt; nur daß im Fall von Freud die Attribution dieser Attribute an die eine und einzige spinozistische Substanz der Gottheit fehlt.

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Narzißmus - statt der wissenschaftlichen Realitätserkenntnis — beschränkten Philosophen überhaupt. Er ist es noch zusätzlich durch Krankheit, die ihn auf sich selber als einziges Objekt reduziert. Und wenn er zugleich als Paralytiker durch den in pathologischen Euphorien der Paralyse charakteristischen Wegfall aller Schranken zu einzigartiger intuitiver Hellsicht in seiner Introspektion befähigt ist, so wird er durch die Symptome der Paralyse auch wieder entscheidend beeinträchtigt, nämlich durch Größenwahn und fehlgehende Projektion endopsychischer Einsichten. Keineswegs, so gibt Freud zu verstehen, habe man ihn, Freud, zu verwechseln mit diesem vom Vaterkomplex motivierten, intellektuell in sich isolierten Narzißten, der — sei es als Homosexueller, Bordellbesucher, oder halber Asket — nie eine tiefere Bindung an ein Liebesobjekt einging und zu seiner erstaunlichen Einsicht durch eine hinzutretende physische, im Wahnsinn kulminierende Pathologie wesentlich mitbefähigt wurde. Hingegen kam er, Freud, selbst ja, jedenfalls nach der seinem Kreis vermittelten eigenen Meinung, zu seinen Einsichten, seiner Wissenschaft, eben nicht auf pathologischem, sondern legitimem, der Realität zugewandtem, quasi gesundem Wege. Bei aller sterilen Anerkennung, die Freud für Nietzsche an den Tag legt, kann man auch hier wiederum feststellen, wie entschieden er sich gegen die Meinung wehrt, seine eigene Forschung habe den Werken Nietzsches irgend Beträchtliches zu verdanken. Und ebenso entschieden wehrt er sich gegen die Vorstellung einer Affinität zwischen seiner und Nietzsches Persönlichkeit. Scharf lehnte er Arnold Zweigs Versuch, Freud als Vollender des von Nietzsche Initiierten und Intendierten aufzufassen, ab. Das einzig Gemeinsame zwischen ihm und Nietzsche, schreibt er an Zweig, sei Lou 21 .

4. Noch ein Wort zu Freuds ablehnender Ableitung der Philosophie aus einem infantilen (wunschgelenkten) Denken und daher auch eines zumindest von diesem Streben her bedingten denkerischen Optimismus. Lou Salome berichtet in ihrem (mir nur in englischer Übersetzung [The Freud Journal, NY: 1964] zugänglichen) Tagebuch von 1912/1913 (Eintragung vom 23. Februar 1913) ein Gespräch mit Freud über seinen Widerstand gegen die reine Philosophie als dem ihren Vertretern eigenen zutiefst anthropomorphen Bedürfnis nach einer letztlichen Einheit in allen Dingen. „Danach", heißt es, „sprachen wir über die Trauer, die mehr und mehr unser Leben und unsere Erfahrung begleitet, selbst wenn uns das Glück begünstigt, über die Minderung unserer Euphorie und über [Freuds] Horror über den ,Hymnus an das Leben' [ursprünglich ja von Lou 21

Brief an Arnold Zweig vom 11.11.1937, zitiert in Ernest Jones, op. cit., III, 213.

Freud in seinem Verhältnis zu Nietzsche

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Salome stammend], den er in Nietzsches Version gelesen haben muß. Sollte es nicht eine Verbindung geben zwischen diesen beiden Dingen, der verminderten Sehnsucht nach Einheit und der verminderten Euphorie? Freud anerkannte, daß das Streben nach Einheit letztlich seinen Ursprung im Narzißmus habe". Und nun stellt sie in einer späteren Eintragung vom 12. —14. März 1913 Bejahung des Lebens gegen die Banalität, die sich bei einer negativen Haltung zum Leben einstelle, und zitiert Nietzsche: Denn alle Lust will Ewigkeit. Dies ist aber, wenn man ihm nachdenkt, ein Argument von Lou gegen Freud im Sinne des von Freud abgelehnten — sei's auch ,tragisch' — „optimistischen" Hymnus auf das Leben, demnach Freud eigentlich als der Depressive erscheint, da, wie Lou meint, jede auf Vereinzelung abzielende Mentalität zur Banalität und zur Depression, das Einheitsstreben hingegen zu einem Trost führe. Diesem Gedankengang ist ein analoger bei Jung verwandt, der in seiner Kritik der Psychoanalyse und in seinen Memoiren 22 gegen Freud und Adler hervorhob, daß deren Psychologie nur einen — im Sinne des damaligen Positivismus naturwisssenschaftlich konzipierten — kausalistisch-deterministischen Reduktionismus anerkenne. Sie gelte zwar für Kranke, welche quasi in ihrer Vergangenheit steckengeblieben und von daher in ihrem Leiden determiniert seien, anerkenne aber keine auf Zukunft, auf ein Ziel gerichtete Orientierung, weshalb die Freudsche Psychoanalyse im Grunde eine depressive, desillusionierende Wirkung habe. Dieser reduktionistischen, im weiteren Sinne biologistischmaterialistischen (anti-idealistischen), im Grunde negativen und durch das deterministische Schema quasi passiven Psychologie stellt er nun die eigene entgegen, die, ohne das Freudsche auf eine pathologische Genese anwendbare Schema zu entwerten, dieses vielmehr miteinschließt, jedoch um die fehlende Hälfte bereichern will: nämlich um eine positive, teleologisch zielgerichtete, zukunfts- und schaffensfreudige, aktive, schöpferische, zumal auch mit transrationalen, mythopoetischen Symbolen wirkende Perspektive. Die Kontraposition von seelenlosem, materialistisch-deterministischem, alles Positive zersetzendem, dabei im Grunde nihilistischem Unglauben als dem rationalistisch negierenden jüdischen Geist im Gegensatz zu der positiv, d. h. aus „Idealismus" und/oder irrational oder transrational heldisch tragischen, jedenfalls aktiv schöpferischen arischen Gesinnung liegt hier nahe. Wer aber ist es, in dessen Namen Jung diese von Freud ignorierte bessere Hälfte der Jungschen Psychologie verkündet? Es ist Nietzsche, der im Leitbild des Übermenschen der Menschheit, eigentlich aber den aus den Herrenrassen zu so hohem Ziel Befähigten, eine positive, ideale, durch ihr Selbstschöpfertum anzustrebende Zielvor22

Zu dem Folgenden siehe ζ. B. C. G. Jung: Critique of Psychoanalysis, Princeton, 1975, insbes. 2 0 9 - 2 1 1 , 217, 221, 236, und Memoirs, Dreams, Reflections, recorded by Aniela Jaffe, New York, 1965.

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Stellung oder anzustrebendes Zielsymbol — als Über-Theologe — zu predigen unternahm, was denn auch dem, wie Freud betonte, theologisch-christlicher Tradition entstammenden Jung zusagte. Bemerkenswerterweise meint übrigens Freud gerade auch in Hinblick auf den Antichristen-Christen Nietzsche: „Wir werden uns überhaupt viel zu wenig des Unterschiedes bewußt, der zwischen unserem Gefühlsleben und dem eines Christen besteht" (PS 11,27). Diese Gedankenlinie verfolgend und bedenkend, daß schon in Nietzsches GT die aktiv auf Tat und Zukunft gerichtete Mentalität des „Ariers" gegen den passiv negierenden semitischen Geist steht (GT 9; KSA 1.69), gelte nun, daß Freud nur die pathologisch auf ein Trauma reagierende, reaktive Seite der Psyche kenne, mithin die Psychologie des Ressentiments, nicht aber die aus der Fülle, der positiven Macht stammende, bejahende. Und dies sei im Sinne Nietzsches auch ganz natürlich, der neben vielen positiven Äußerungen die Juden ja auch (vgl. GM I 16) als das Volk des Ressentiments schlechthin bezeichnete und als Anführer jeglicher Ressentimentbewegung, des „Sklavenaufstands in der Moral", inklusive Christentum (vgl. JGB 195) 23 . Es versteht sich, sage ich, diese Gedankenlinie verfolgend, daß der Jude Freud eben nur die reaktive, aus dem Ressentiment (der Verletzung, der Schwäche, der Krankheit, der Dekadenz) stammende Psychologie im Sinne der Sklavenmoral von Gut und Böse erkennend durchschaute, nicht aber die aus der Machtfülle der Herrenrassen entspringende, quasi amoralische Moral im Sinne von Gut und Schlecht. Die Psychologie des Ariers Nietzsche, der beide Moralen bzw. Psychologien erkannte und unter anderem zum Kampf von Rom gegen Judäa aufrief (GM I 16), verhält sich also zu der des Juden Freud wie das Ganze zu einem seiner Teile und zwar dem schlechteren. Ahnliche Erwägungen dürften es ja wohl auch gewesen sein, die Ludwig Klages veranlaßten, Freuds Psychoanalyse zu erklären aus verzerrender und übertreibender Vereinzelung von Nietzsches psychologischen Errungenschaften 24 . Verfolgt man diese vorurteilsvolle Gegenüberstellung von Herren- und Sklavenmoral und -psyche bei Nietzsche weiter, so mag man freilich auch zu ihrer Transzendenz kommen, da Nietzsche selbst den Gedanken nahelegt, der Widerstreit zwischen den zwei Moralen spiele sich in jedem Menschen ab, wie man andererseits auch bei Freud finden dürfte, daß er nicht nur die Reaktion auf Traumata, sondern auch positive Wandlungen der Libido oder des Eros aufspürt. Und ist andererseits nicht „der Geist" selbst bei Nietzsche schon oder jedenfalls unter anderem auch ein Produkt des „Ressentiments", der reaktiven 23

24

Für einen summarischen Überblick zu diesem Thema, siehe mein Essay „Nietzsche and the Jews" in: S. Bauschinger et al (Eds.): Nietzsche heute, Bern, 1988, 1 4 9 - 1 6 0 . Siehe Ludwig Klages: Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Leipzig, 1926, und Peter Heller: Von den ersten und letzten Dingen. Studien und Kommentar einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin, 1972, 159.

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Abwehr, der Verinnerlichung eines zum Masochismus invertierten Sadismus? Sind überdies nicht die halb- oder pseudo-wissenschaftlichen Phantasien über Ursprung von Moral, Zivilisation oder Kultur überhaupt bei Freud ebenso wie bei Nietzsche ähnlicher Art, zumindest in ihrer arbiträr-intuitiven Struktur und subjektiven Vehemenz? So kann man, wenn man nur den allzu guten Willen dazu hat, beide wieder einander annähern. Fragt sich nur, ob ihre Gedanken dadurch klarer oder überzeugender werden. Derlei Knäuel hier zu entwirren, ist freilich nicht meine Absicht. Ich kehre daher nochmals zu Kontrapositionen von Nietzsche und Freud betonenden Äußerungen zurück. Direkt auf dieses Thema bezogen ist die von dem Psychoanalytiker Didier Anzieu (Freud's Selfanalysis, London 1986, 581) vertretene Auffassung der Schöpfung der Psychoanalyse als Defensivmaßnahme gegen Depression. Dieser, der Freudschen Psychoanalyse durchaus nicht feindlich gesinnte Autor meint, Freud habe seine Selbst-Analyse (aus der bekanntlich die Psychoanalyse hervorging) unternommen, um seine eigenen depressiven Tendenzen zu bekämpfen und seine Theorien als „obsessive Abwehrmaßnahmen gegen depressive Angst" („obsessional defenses against depressive anxiety") entwickelt. Nebenbei stelle ich hier auch noch fest, daß ein unerledigter Vaterkomplex, wie er von Freud bei Nietzsche angenommen wird, zumindest seit dem etwas verstiegenen Buch des Nietzscheaners C. E. Maylan auch — stichhaltig — bei Freud diagnostiziert wird 25 . Wären wir nun also eindeutig bei Sichtweisen angelangt, die einen ins Manisch-Positive sich steigernden Nietzsche einem negierend depressiven Freud gegenüberstellen könnten? Offenbar doch nicht, denn — siehe da! — Anzieu zieht aus seinem Befund den umgekehrten Schluß, daß Freud der Überlegenheit der positiven Lebenstriebe über die Todestriebe vertrauend, sich eben darin von dem mit Aggression präokkupierten Nietzsche unterschied, bei dem die Selbstzerstörung sich sowohl in seinem Denken wie in seinem Leben als stärker erwies. Welchen Wert haben aber derlei einander spiegelverkehrt konfrontierende psychologische Spiegelschriften? Sie können uns, meine ich, sowohl an Versuche, Nietzsche und Freud gegeneinanderzustellen, erinnern, wie auch an die zur Zeit beliebteren Harmonisierungsversuche. Mag ihre „abstrakte" Art Freud noch so sehr widerstreben: Philosophen mögen doch vielleicht nicht nur die Neigung, sondern auch die Pflicht haben, 25

Siehe Charles E. Maylan: Freuds tragischer Komplex. Eine Analyse der Psychoanalyse, München, 1929, ein Werk, auf das sich C. G. Jung in seiner Critique of Psychoanalysis, a. a. Ο., 217 (Fußnote), bezieht; ferner den ausführlichen Versuch von Marianne Kruell: Freud and his Father. The Origins of Psychoanalysis and Freud's unresolved father-fixation, auf deutsch: Freud und sein Vater, München, 1979.

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danach zu trachten, alles auf möglichst wenige vereinheitlichende Nenner zu bringen. So mag man den Nietzscheschen expansiven Willen zur Macht mit dem, Freud zufolge, immer größere Fusionierungen anstrebenden Eros zusammenbringen, wobei dann das entgegengesetzte thanatistische Prinzip in Freuds dualistischer philosophischer Meta-bio-psychologie vernachläßigt wird; oder — wie Jung — den Willen zur Macht dem Eros entgegensetzen, wobei man wiederum mit Freuds dualistischem Schema in Widerspruch gerät, da der Wille zur Macht ja auch ein positiv vitaler und kein „Todestrieb" sein soll, usf. Man kann Gedankengebilde bekanntlich — wie wächserne Nasen — darunter auch jüdische und nicht-jüdische — so lange drehen und wenden, bis sie einander sehr ähnlich werden. Aber sind es dann noch dieselben Nasen, die man so auf eine Norm beschönigend geglättet hat, statt sie in dem Kontext ihres Gesichts stehen zu lassen? Man hat versucht (ζ. B. Daniel Chappelle: Nietzsche and Psychoanalysis, Albany 1993) die ewige Wiederkehr des Gleichen, die geradezu auf Nietzsches Hypothese beruht, daß nichts je als das Gleiche wiederkehrt, es sei denn eben alles: nämlich in seiner jeweiligen, unabänderlichen Einzigartigkeit, mit Freuds Hypothese des dem Thanatos dienenden Wiederholungszwangs zusammenzubringen. Dabei fällt der diesem Wiederholungszwang bei Freud entgegenarbeitende, immer neue Fusionen schaffende Eros in Freuds dualistischer Phantasie unter den Tisch. Möglich ist allerdings, daß die Nietzsche-Formel, die Freud in seiner Einführung des „jenseits des Lustprinzips" wirkenden Wiederholungszwangs zitiert, Freud beeinflußt hat, indem er sich die Nietzsche-Formel aus dem Bereich philosophischer Abstraktion in die Domäne seiner Psychologie rückübersetzte. Freud meinte ja, daß Nietzsches als endopsychische Wahrnehmungen berechtigte Intuitionen von ihm illegitimer Weise „projiziert" wurden - sei es auf Außenwelt oder als existenzielle Imperative. So ließe sich die als physisch-metaphysische These und existenzieller Imperativ auftretende Hypothese der ewigen Wiederkehr des Gleichen als eine psychologische Wahrnehmung des „konservativen" Charakters der Triebe auffassen, die Nietzsche nur irrtümlich und mit radikal übertreibender Abstraktion auf das Universum und den Menschen anwandte. Bei einer solchen „Übersetzung" ginge allerdings der spezifische Charakter von Nietzsches Hypothese verloren. Denn der Konservatismus der Triebe oder Wiederholungszwang hätten ideell mit dem von Nietzsche als schwerstem Gedanken bezeichneten Konzept kaum noch etwas zu tun, da, was sich da endlos wiederholte, nicht mehr die eigene Gesamtexistenz wäre, sondern bloß ähnliche Abläufe innerhalb einer Existenz oder bei ähnlichen Existenzen wären. Weder die Auffassung der ewigen Wiederkehr als existenzieller Imperativ noch die im Grunde bei Nietzsche von diesem Imperativ kaum abtrennbare Auffas-

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sung der ewigen Wiederkehr des Gleichen als kosmologische These 26 kämen in Betracht. Und doch ist denkbar, daß eine Ubersetzung ins Psychologische den Freud zufolge zwar in der Stille wirkenden Wiederholungszwang auch als „schwersten Gedanken" interpretieren könnte, da, wie schon Goethe betonte, nichts so niederdrückend sein mag als die Einsicht, daß man gewissen eigenen Tendenzen, ja dem unabänderlich eigenen Charakter nicht entkommt.

5.

Gewiß sind manche Versuche, Nietzsche und Freud zusammenzusehen, auch berechtigt, so ζ. B. der Jacob Golombs, der Nietzsche und Freud als Exponenten „psychologischer" Interpretation und Therapie für die Individuen und die Gesellschaft einer kranken Kultur auffaßt. Zwar verfahren offenbar die zwei Kulturtherapeuten auf verschiedene Weisen. Mit Ausnahme einer mitderen Phase seiner Denkbewegung polemisierte Nietzsche doch früh und spät gegen die „sokratische" Bemühung, die unbewußten Motivationen in das — permanente und hemmende — Tageslicht kritischer Bewußtmachung zu zerren 27 . Er hält diese Bemühung, die einer Unsicherheit und Desorientierung in Bezug auf die eigenen Instinkte und Impulse entspringt, für ein Symptom der Dekadenz, so daß er die Charakterisierung der sokratischen Psychoanalyse durch Karl Kraus vorwegnimmt, der sie als das Symptom jener Krankheit bezeichnet, die sie zu heilen vorgibt. Freuds Glauben an die ernüchternde „Weltanschauung der Wissenschaft" behandelt Nietzsche, der Leugner der „Wahrheit" schlechthin, mit Vorliebe als eine asketische Illusion, im Gegensatz zu jenen vitalen Illusionen, deren Bejahung ihm als Zeichen von Gesundheit gilt, mag er andererseits 26

Die alternative Auffassung der ewigen Wiederkehr des Gleichen als existenzieller Imperativ oder als kosmologische These ist kaum haltbar: Denn wenn der existenzielle Imperativ bloß als ein Als-ob oder eine mögliche Vorstellung unter andern ebenso möglichen gelten sollte, so wäre damit auch schon dem „schwersten Gedanken", der die meisten erdrücken und nur die wenigsten zu erheben imstande sein soll, die Schwere genommen. Ein Als-ob zu glauben wäre man ja keineswegs genötigt. Vielmehr könnte dies nur der Fall sein, wenn man die ewige Wiederkehr des Gleichen für wördich wahr hielte oder zumindest für höchst wahrscheinlich erachtete, daß man in diese einzelne eigene Existenz in alle Ewigkeit unabdinglich und ohne jede Änderung eingeschlossen sei (wobei übrigens dieser Gedanke manchen, die keineswegs Ubermenschen sind, sich aber in ihrer Existenz recht wohl fühlen, keine Schwierigkeiten bereiten würde). Die Vorstellung Nietzsches vom „schwersten Gedanken" steht übrigens, wie schon angedeutet, auch im Widerspruch zu dem Freudschen Befund, daß der Wiederholungszwang in der Stille wirkt, obgleich dieses In-der-Stille-Wirken zugleich zu dem Nietzsche-Konzept eine gewisse Affinität hat, wenn auch die ewige Wiederkehr nicht als Zwang wirkt, sondern als unabänderliches SoSein jeder in ihrer Einzigartigkeit immer wieder wiederkehrenden individuellen Konfiguration.

27

Zu Nietzsches And-Sokratismus — im Kontrast und in Konjunktion mit seiner von ihm selbst empfundenen und betonten Nähe zu Sokrates — vgl. G T und den Abschnitt über „Das Problem des Sokrates" in der GD.

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auch selbst ständig mit „somatischem" Aufdecken unbewußter Motivationen befaßt sein und behaupten, die Stärke eines Menschen sei daran zu messen, wieviel Wahrheit er erträgt (JGB 39; EH, Vorw. 3). Den zahlreichen bedeutenden Ubereinstimmungen und Überschneidungen zwischen Nietzsche und Freud, die Golomb aufweist, entsprechen ebensoviele entscheidende Differenzen. Überdies sind manche Motive und Gedanken, die Freud mit Nietzsche gemein hat, auch bei anderen seiner Vorgänger zu finden, wie ζ. B. die Auffassung des Traums als partielle, imaginäre Wunscherfüllung und Kompensierung eines am vorhergehenden Tag unerfüllten Begehrens, wie sie der von Freud anerkannte Scherner entwickelte, der auch schon Deutung von Traumsymbolen in diesem Sinne unternahm. Das Konzept des „Unbewußten" selbst, bis zurück zu Leibniz verfolgbar, ist, wie gesagt, ein Gemeinplatz der Romantik bis zu Wagners „Tristan" herab, wie auch die Vielfältigkeit des Selbst eines ihrer Lieblingsthemen ist (siehe etwa Tieck oder Ε. T. A. Hoffmann). Und was die verdächtigende Psychologie, die Ableitung der höheren Tugenden aus als niedrig bewerteten Impulsen angeht, so anerkannte ja Nietzsche selbst die Tradition der französischen Moralisten, vor allem der Ableitung aus dem Egoismus, den er allerdings einer Umwertung unterzog, wie sie aber ihrerseits auch schon etwa bei Stendhal auffindbar wäre. Ferner wären überhaupt, trotz Nietzsches Anspruch auf absolute Priorität in Sachen der Psychologie, die Entsprechungen zwischen Freud und Schopenhauer nicht weniger eindrucksvoll als die zwischen Nietzsche und Freud. Was aber Lebenslauf und Mentalität angeht, so sind die beiden ja recht unterschiedlich: Der einsame mit seiner Euphorie gegen Lebensüberdruß und Qual der Krankheit ankämpfende, den Leser ständig rhetorisch provozierende Dichter-Denker und der ständig von Familie und professionellem Klan, der sich unaufhörlich erweiternden, zankenden, verehrenden psychoanalytischen Sippe als deren Oberhaupt umgebene, wissenschaftsgläubige, seine kühnsten Einfalle und Erdichtungen als Empirie verkleidende Therapeut und in seiner Lebenshaltung stockbürgerliche Familien- und Hordenvater. Nur gehen solche Bedenken am Wesentlichen eines Versuchs vorbei, der Freud und Nietzsche aufgrund des ihnen gemeinsamen Ethos kulturell-produktiver Sublimierung unseres Trieb-Potentials — statt dessen Unterdrückung — für unser Zeitalter fruchtbar zu machen unternimmt. Allerdings: Wenn keine Einwirkung „von oben" anerkannt wird, da Gott samt idealistischer Metaphysik als abgetan gilt, bleibt dem Kulturgläubigen, sofern er noch in Termini des „Unten" und „Oben" denkt, nur die produktive, veredelnde Transformation des Triebpotentials, des gegebenen „Unteren", übrig. Aber das ist kein Einwand, sondern bestätigt nur die Freud und Nietzsche allerdings gemeinsame atheistische Kulturgläubigkeit.

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Thomas Mann 28 sprach in Hinblick auf Freud von „Bausteinen" — zu einer künftigen Anthropologie, einem künftigen Menschenbild. Das ist eine Ansicht, die, scheint mir, weniger auf Denk-Resultate als auf Denk-Weisen anwendbar, sowohl für Freuds in kühner Entdeckerarbeit scheuklappenartig systematisierendes wie für Nietzsches emotional experimentierendes Denken zutreffen mag. Beide sind bedenkenswert als Erweiterer des Menschenbildes, Befreier einer Fragelust auch am Fragwürdigsten, sowie einer neuen Wahrhaftigkeit — mögen sie, wie es zum Pathos der Wahrheitsapostel zu gehören pflegt, auch große Verschweiger, Verhüller, wenn nicht gar Lügner gewesen sein und mögen auch Freudianer (inklusive Freud selbst), den Beitrag Freuds zum Dogma verengend, sowie die eigentlichen Nietzscheaner diese Wahrhaftigkeit wieder einzuengen und rückgängig zu machen mit Erfolg bemüht gewesen sein. Man sollte, indem man den beiden nachdenkt, auch den Imperativ des „Folge mir nicht nach!" beherzigen. Von beiden gilt — in etwas anderem Sinne als dem von Goethe zu Ende des „Faust" Beabsichtigten —: „Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis!". Man bringt sie am Ende einander gerade dadurch nahe, daß man sie nicht als Heilslehrer, oder gerade auch als Heilslehrer, sowohl in ihrer Notwendigkeit wie in ihrer inspirierend inchoativen Unzulänglichkeit begreifen und schätzen lernt.

28

Thomas Mann: „Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte" in: Τ. M.: Das Essayistische Werk, Bd. 1, Frankfurt/Main, 1968, 385.

WOLF-DANIEL HARTWICH

Judentum als „Rasse" bei Nietzsche und Freud Zur Rezeption einer anthropologischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts I. Das Verhältnis Sigmund Freuds zu seinem Judentum war in letzter Zeit Gegenstand vieler Untersuchungen. Die Forschung konzentrierte sich dabei entweder auf Freuds kritische Haltung der Religion gegenüber oder auf strukturelle Analogien seiner Lehre zu literarischen Techniken der orthodoxen Tradition. Sander L. Gilman hat in seinem Buch Freud. Race and Gender (Berkeley 1993) einen neuen, provozierenden Akzent gesetzt, als er zeigte, wie Freud auf die Fremdwahrnehmung des Judentums innerhalb der Rassentheorien reagierte, die sich zu seiner Zeit großen wissenschaftlichen Ansehens erfreuten. Unter ,Rasse' verstand man damals den Bestand erblicher körperlicher und seelischer Eigenschaften, die eine Gruppe von Menschen von anderen unterscheidet und das Leben der Individuen determiniert. Auch Freuds Anthropologie teilt diesen naturwissenschaftlich-materialistischen Ansatz. Bereits Yosef Yerushalmi wies darauf hin, daß sich der Begriff der .Erinnerung' in Freuds kulturtheoretischen Schriften gegen das jüdische Konzept des kulturellen Gedächtnisses wendet. 1 An die Stelle der Weitergabe literarischen Wissens setzt Freud das unbewußte Nachleben der menschlichen Stammesgeschichte im einzelnen. Hier operiert er nach Gilman mit der zeitgenössischen Vorstellung eines erblichen ,Rassengedächtnisses'. 2 Auch sucht Freud im Vorwort zur hebräischen Ausgabe von Totem und Tabu seine jüdische „Eigenart" jenseits religiöser, kultureller und nationaler Bestimmungen. Das Judentum war aber für Freuds antisemitische Kollegen eine „Kategorie des Ausschließens", da sie den Juden im Gegensatz zum Arier definierten. 3 Die wissenschaftliche Gemeinschaft der Arier verstand sich dabei als vernünftig, 1 2 3

Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Mose. Endliches und Unendliches Judentum, Berlin, 1991, 59 f. Vgl. Sander L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt a.M., 1994, 49. Gilman: Freud, 28.

Judentum als „Rasse" bei Nietzsche und Freud

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gesund, heterosexuell und männlich. Dem Gegenbild des männlichen Juden wurde dagegen ein femininer Charakter zugeschrieben, der sich durch die Beschneidung herausgebildet habe. Aus diesem defizitären Status des Juden, der als erblich angesehen wurde, leitete man eine stärkere Disposition für bestimmte körperliche und geistige Krankheiten sowie sexuelle Devianzen her, die auch Freud zu seinen bevorzugten Untersuchungsgegenständen machte. Nach Gilman wendet sich Freud gegen diese rassistische Betrachtungsweise, verinnerlicht sie aber auch, um sich eine Identität als männlicher arischer Wissenschaftler zu konstruieren. Dazu wandele er „rassische Kategorien in Geschlechtskategorien" um. „Das Bild vom Juden, das selbst feminisiert ist, wird zum projizierten Bild der Frau. Damit wird das ausgeschlossene Andere (der Jude) zum einbezogenen Anderen (zur Frau)". 4 An die Stelle des unauslöschlichen Makels der Beschneidung des männlichen Juden tritt der weibliche Penisneid, der durch den Koitus überwunden wird. Andererseits verbindet die Kastrationsangst die arischen und die jüdischen Männer. Freuds Schriften Totem und Tabu sowie Der Mann Mose und die monotheistische Religion bestreiten grundsätzlich, daß die Beschneidung ein spezifisch jüdisches Merkmal darstellt, indem sie diese in die menschliche Prähistorie zurückprojizieren, wo der Vater der Urhorde seine Söhne zu kastrieren pflegte, oder den Brauch von dem angeblichen Ägypter Mose herleiten. Es lassen sich drei Modelle der Bewertung des Judentums im Kontext der Rassentheorien unterscheiden, auf die Freud Bezug nimmt. Das kontrastive Modell setzt Judentum und Ariertum exklusiv und feindlich entgegen. Das synthetische Modell betont ebenfalls die Unterschiede von Ariertum und Judentum, sieht in ihnen aber komplementäre Größen, die in einer höheren Einheit aufgehoben werden sollen. Das revisionistische Modell betont dagegen die Entsprechungen von Judentum und Ariertum, beschränkt diese aber auf eine rekonstruierte Urform der israelitischen Religion, die sich wesentlich vom orthodoxen Judentum unterscheidet. Diese Angleichung von Judentum und Ariertum kann dabei als Konkurrenz- oder als Ableitungsverhältnis gedacht werden. Der antisemitische Charakter aller drei Modelle zeigt sich darin, daß sie die jüdischen Kulturen, zumal das Ostjudentum, nicht in ihrer Fremdheit akzeptieren, sondern diese leugnen oder beseitigen wollen.

II. Die Rassenlehre des 19. Jahrhunderts hat zwei unterschiedliche Ursprünge. Die vergleichende Sprachwissenschaft unterschied die indogermanische Sprachfamilie von der semitischen, der das Hebräische zugeordnet wurde. Auf4

Ebd., 80.

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g r u n d der Vorstellung einer wesenhaften E n t s p r e c h u n g v o n Sprachgemeinschaft und ethnischer Identität postulierte m a n das prähistorische Urvolk der Arier, v o n d e m die Sprecher der indogermanischen Dialekte abstammen sollten. 5 D i e physische Anthropologie suchte die Menschenrassen durch die M e s s u n g ihrer äußeren Merkmale zu klassifizieren und aus diesen ihre Fähigkeiten abzuleiten. Alle Abweichungen von der N o r m des ,arischen' Europäers wurden als krankhafte E n t a r t u n g gedeutet. 6 D i e biologischen und linguistischen Konstruktionen wurden schon bald austauschbar. Als der angeblich naturwissenschaftlich-exakte Rassenbegriff auf die Geschichtswissenschaft übertragen wurde, mußte er mit bestimmten historischen P h ä n o m e n e n und ihrer Entwicklung identifiziert werden. D e r Leitbegriff der biologistischen Geschichtsdeutung wurde somit selbst kulturell definiert. D i e Naturalisierung der Geschichte und die Historisierung der Rasse führten zu einer zirkulären Argumentation, die das voraussetzt, was sie erklären will. Während sich Gilman auf Freuds Rezeption der physischen Anthropologie beschränkt, möchte ich im folgenden die Bedeutung der anderen Variante der Rassentheorie herausstellen, die sich als kulturalistisch und historistisch kennzeichnen läßt. D e r Orientalist und Schriftsteller Arthur de G o b i n e a u arbeitete diesen Ansatz in seinem Essai sur l'inegalite des races humaines (1853 — 55) umfassend aus, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche rezipierten ihn in gegensätzlicher Weise, und noch unter Freuds Zeitgenossen hatte er einflußreiche Vertreter. D i e Rassentheorien wurden in vielen geisteswissenschaftlichen Werken wie auch v o n einer uferlosen Populärliteratur aufgegriffen, s o daß der Nachweis direkter Abhängigkeit im Einzelfall schwierig ist. D a h e r erscheint es sinnvoller, die gedanklichen Grundstrukturen und Argumentationsstrategien dieses verwickelten Diskurses exemplarisch herauszuarbeiten und die Ideen Nietzsches und Freuds in diesem zu verorten. D i e Rassenlehre G o b i n e a u s will die Entstehung, die Entwicklung und den Untergang der Zivilisationen und Gesellschaften aus inneren G r ü n d e n erklären. G o b i n e a u unterscheidet drei anthropologische Grundtypen: die weiße, gelbe und schwarze Rasse, die aber nicht mehr in ihrer reinen F o r m vorkommen. D i e menschliche Geschichte beruhe nämlich auf der Mischung der Rassen, die den unterschiedlichen F o r m e n gesellschaftlichen L e b e n s zugrundeliegen soll. G o b i n e a u entwirft eine R a n g o r d n u n g der Rassen, wobei er nicht ihre äußeren natürlichen Merkmale, sondern ihre „Civilisation" z u m Maßstab macht, „ d e n n einzig nach d e m relativen Vorhandensein oder d e m gänzlichen Fehlen dieser Eigenthümlichkeit kann ich den bezüglichen Werth der Racen stufenweise

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6

Vgl. L e o n Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalsozialismus, H a m burg, 1993; G e o r g e L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M., 1990. Vgl. Sander L. Gilman: Rasse, Sexualität und Seuche, Reinbek bei Hamburg, 1992.

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festsetzen". 7 Die Rassentheorie Gobineaus ist also Soziologie in biologistischer Verkleidung. Die Rassen sind als Allegorien anzusehen, die Individualität und Differenz der Kulturen stilisieren. Wenn Gobineau von starken und schwachen Rassen spricht, meint er die historische Wirksamkeit ihrer .Zivilisation'. Nur der weißen Rasse, der sowohl Arier wie Semiten angehören, schreibt er eine solche Zivilisation' im europäischen Sinne zu, wobei er aber die Eigenart der anderen Kulturen anerkennt. Die Arier sieht Gobineau dabei als die stärkste Rasse an, da sie aufgrund ihres überlegenen Willens und Intellekts sich alle anderen Völker unterwarfen, sie biologisch durchdrangen und politisch formten. Auch die natürlichen Merkmale der Arier lassen sich nicht mehr direkt beschreiben. Die Arier sind fiir Gobineau vielmehr diejenigen, die von den anderen Rassen als schön und übermenschlich, ja göttlich wahrgenommen wurden. Während .Zivilisation' nach Gobineau von der überlegenen Rasse eines Bevölkerungsteiles ausgeht, beruht,Kultur' auf der Mischung der Rassen. Aus der paritätischen .Verschmelzung' der Rassen entstehen neue wertvolle Eigenschaften, solange der weiße Anteil überwiegt und die Verbindung strukturiert. „So ist die künsderische Begabung, den drei großen Rassen gleich fremd, erst aus der Ehe der Weißen mit den Negern erwachsen". 8 Die fordaufende Aufnahme neuer disparater Elemente in die Mischrasse führe aber zu ihrer Degeneration, womit Gobineau den Verlust ihrer Eigenart und gestaltenden Kraft meint. Die Juden bilden für Gobineau dagegen ein positives Exempel, da sie ihre typischen Eigenschaften bis heute erhalten konnten. Gobineau legt die biblische Theologie materialistisch aus und bezeichnet die Juden als „erwählte Race", als „ein freies, ein starkes, ein kluges Volk", das sich kriegerisch, politisch, philosophisch und ökonomisch hervortat. 9 Der Auszug der Juden aus Ägypten und die Landnahme in Kanaan bezeugen ihm ebenfalls ihre überlegene ,Rasse' gegenüber den teilweise kultivierteren Mischvölkern, die sie umgaben. Auch Intellektuelle jüdischer Abstammung wie Marcel Proust konnten sich daher zum Gobinismus hingezogen fühlen. Anders als die nazistische Rassenhygienik hält Gobineau den Untergang der arischen Rasse für notwendig und unabwendbar. Die Arier müssen sich mit den anderen Rassen mischen, damit Kultur und Geschichte überhaupt möglich werden. Die Eigenschaften der arischen Rasse können sich dabei aber aufgrund ihrer geringen Anzahl im Verhältnis zu den übrigen auf lange Sicht nicht durchsetzen. In Gobineaus pessimistischer Perspektive ist die völlige Entropie der 7

8 9

Joseph Arthur de Gobineau: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, übers, v. Ludwig Schemann, 4. Aufl., Stuttgart, 1922, Bd. 1, 100. Gobineau: Versuch, Bd. 1, 283. Ebd., 77.

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Rassen und Nivellierung der Kulturen absehbar und führt das Ende der Geschichte herbei. Neben der Hierarchisierung der Rassen verwendet Gobineau noch eine andere Typologie, die sich der Geschlechtsmetaphorik bedient. Die männlichen Rassen gelten ihm als praktisch veranlagt, und ihre Kultur ist auf materielle Güter ausgerichtet. Die weiblichen Rassen erscheinen dagegen als kontemplativ und musisch-spirituell begabt. Hier wird besonders deutlich, daß Gobineaus Rassenlehre kein zoologisches System darstellt, sondern eine idealtypische Betrachtung der Kulturen. Der Rassebegriff kann jeweils eine unterschiedliche Anzahl ethnischer Gruppen umfassen, und unterschiedliche Rassen können unter die gleiche Kategorie fallen. Auch Zwischenformen und Metamorphosen sind möglich. Die weiße und gelbe Rasse stellt Gobineau so zusammen als männlich der weiblichen schwarzen Rasse gegenüber. Innerhalb der weißen Rasse bilden die Arier das männliche Gegenstück zu den weiblichen Semiten. Und auch unter den Ariern und Semiten sind, wie wir noch sehen werden, weitere Differenzierungen möglich. Auf allen drei Ebenen wird aber von ,Rasse' gesprochen. Diese kulturelle Dimension des Rassenbegriffs hat besonders Friedrich Nietzsche herausgestellt. Dabei verwendet Nietzsche oft den französischen Terminus „race" oder spricht wie Gobineau gleichbedeutend von Art, Typus und Charakter. Elisabeth Förster-Nietzsche und Franz Overbeck bezeugten, daß Nietzsche mit Gobineaus Werk vertraut war. Nach Overbeck schätzte er es bereits in seiner Basler Zeit. 10 Und noch 1888 lobt Nietzsche in einem Brief an Peter Gast einen Artikel über seine Philosophie damit, daß „die Erinnerung an Graf Gobineau [...] ein Meistergriff' sei. 11 Wenn Nietzsche Gobineau — wie viele andere seiner Gewährsleute auch — nicht zitiert, erklärt sich das wohl aus der engen Freundschaft, die diesen mit Wagner verband. Auch Nietzsche analogisiert Biologie und Linguistik, wenn er in JGB 20 schreibt: „Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs [...] werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders ,in die Welt' blicken [...] als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile und Rasse-Bedingungen." 12 Häufig verwendet Nietzsche Gobineaus Metaphorik der Geschlechter und ihrer Vereinigung. Er ist der Auffassung, daß, „wo Rassen gemischt sind, der Quell großer Cultur" sei, womit er sich „gegen" eine polemische Konfrontation von „Arisch und Semitisch" wendet. 13 Als Vorbild einer ethnisch-kulturellen Synthese erscheinen ihm dabei vor allem die antiken Griechen. Nach Gobineau 10

11 12 13

Zu den Erkundungen Andlers und Kretzers vgl. Anacleto Verrecchia: Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin, Wien/Köln/Graz, 1986, 83 mit Anm. 36 u. 37. KSB 8.516. KSA 5.35. Nachlaß Herbst 1885 - Frühjahr 1986, 1 [153] (KSA 12.45).

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blühte die griechische Kunst erst, als sich die arischen Hellenen, die sich zuvor mit den Ureinwohnern gelber Rasse gemischt hatten, auch mit den Semiten verschmolzen. 14 Nietzsche setzt dabei biologischen und religiösen Synkretismus ineins: „Urbevölkerung griechischen Bodens: mongolischer Abkunft [...] Die Küste mit einem semitischen Streifen verbrämt [...] Die Griechen haben alle diese Bestandtheile in ihr Blut aufgenommen, auch alle Götter und Mythen mit". 15 Bereits in GT stilisiert Nietzsche die Genese der griechischen Kultur in Gobineaus Rassentypik. In Kapitel 9 zitiert Nietzsche drei Mythen, in denen die menschliche Naturbeherrschung als Übertretung eines göttlichen Gebots dargestellt wird. Nietzsche flankiert das ,Odipusschicksal', daß „derselbe, der das Räthsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx — löst, [...] auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen" 16 muß, durch den arischen Kulturstiftungsmythos des tragischen Prometheus und den semitischen des biblischen Sündenfalls. Der Vergleich der beiden Mythen bedient sich der Geschlechtermetaphorik. „So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird." 17 Nach Gobineau ist Prometheus der Stammvater des arischen Elements der Griechen und verkörpert dessen kriegerischen Geist, der nicht davor zurückschreckt, „die Götter selbst zu entthronen". 18 Der Ödipusmythos der arisch-semitischen Mischkultur der Griechen, wie ihn Nietzsche zu Beginn des Kapitels exponiert, erscheint als Kompromiß zwischen der militanten Hybris der männlichen und der theologischen Kontemplation der weiblichen Rasse, da er die Kulturstiftung als Schuld begreift, der Held aber schließlich von dieser gereinigt und vergöttlicht wird. Das Modell der Rassenmischung überträgt Nietzsche auch auf die modernen Verhältnisse, wobei er die Griechen in Μ 272 als „Muster" für die zukünftige „europäische Rasse und Cultur" hinstellt.19 Bereits in ΜΑ I 475 spricht Nietzsche von einer „kräftigen europäischen Mischrasse", in die auch „der Jude als Ingredienz" eingehen soll. 20 In JGB 251 propagiert er gar die „Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste" 21 , die aus der Verbindung der deutschen und jüdischen Aristokratie hervorgehen soll, wobei erstere die „Kunst des Be14

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19 20 21

Zu Gobineaus Griechenbild vgl. Martin Bernal: Schwarbe Athene. Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike, Bd. 1: Wie das klassische Griechenland,erfunden' wurde, München, 1992, 530—533. Nachlaß Frühling - Sommer 1875, 5 [198] (KSA 8.96). KSA 1.67. KSA 1.70. Gobineau: Versuch, Bd. 2, 195. Vgl. Barbara von Reibnitz: Ein Kommentar Friedrich Nietzsche, ,Die Geburt der Tragödie' (Kap. 1-12), Stuttgart, 1992, 249, 251. KSA 3.214. KSA 2.310. KSA 5.195.

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fehlens und Gehorchens", letztere das „Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit [...])" beisteuern soll. 22 Nietzsches Europa ist aber keinesfalls eines der multikulturellen Integration, in der die einzelnen Elemente ihre Eigenart bewahren können. Da Nietzsche den pessimistischen Historismus Gobineaus in eine positive Utopie transformiert, muß er ethnische und kulturelle Minderheiten wie das orthodoxe Ostjudentum als disparate Elemente ansehen, die aus der Rasse der Zukunft ausgeschlossen werden müssen. Bereits in Μ 272 entwirft Nietzsche das Ideal der „reingewordene(n) Rassen", das sich gegen die Vorstellung einer ursprünglichen Reinheit der Rassen wendet, an dem sich die physische Anthropologie orientierte. Es entspricht Gobineaus Konzept der Verschmelzung der Rassen, wenn hier „die Reinheit [...] das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen" ist. 23 Dabei war es bei Nietzsches Griechen, die er zum Prototyp Europas macht, ganz im Sinne Gobineaus die arische Zivilisation der Dorier, die das ekstatischsexuelle Element der Dionysoskulte bändigte, wie es in den „babylonischen Sakäen" 24 zum Ausdruck kam. Bereits nach Gobineau stammen die Grundlagen der griechischen Kunst und Gesellschaft aus Assyrien. Die Hellenen übernahmen auch die „heiligen Mysterien" von den Semiten, „wobei sie sich [...] darauf beschränkten, sie zu mildern". 25 Innerhalb der metaphorischen Opposition von männlichen und weiblichen Rassen bezwingt bei Nietzsche das „Kriegslager des Apollinischen", als das er sich „den dorischen Staat und die dorische Kunst" nur erklären kann, 26 die „Mischung von Wollust und Grausamkeit", die ihm „als der eigentliche ,Hexentrank'" erscheint. 27 Schon für Gobineau war die poetische Begabung der semitischen Völker ein „lyrischer Enthusiasmus ohne Schranken, eine Art von Vergiftung, die an Tollheit grenzt". 28 Freuds Konstruktionen männlicher Identität, die Gilman als Metaphern jüdischer Assimilation zu lesen lehrte, verweisen also nicht nur auf den zeitgenössischen medizinischen Diskurs über den jüdischen Körper, sondern greifen eine feste Metaphorik kulturtheoretischer Reflexion innerhalb der Rassentheorie auf.

III. Während Nietzsche die Frühgeschichte der Griechen als Synthese des Arischen und Semitischen sieht, zeichnet er ihre Kulturgeschichte seit Sokrates 22 23 24 25 26 27 28

K S A 5.194. K S A 3.213. G T 2 (KSA 1.32). Gobineau: Versuch, Bd. 3, 102. G T 4 (KSA 1.41). G T 2 (KSA 1.32). Gobineau: Versuch, Bd. 2, 167.

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unter dem Aspekt der Degeneration und stellt eine antithetische Struktur heraus. So nennt er Plato einen „Antihellenen und Semiten von Instinkt". 29 Diese Betrachtungsweise kennzeichnet auch die erste Abhandlung von Nietzsches GM. Nietzsche unterscheidet hier aristokratische Wertesysteme, die aus natürlichen Eigenschaften sozialen Rang ableiten, der sich nach „Gut und Schlecht" bemißt, von theologischen, die in den moralischen Kategorien „Gut und Böse" denken. Nach Nietzsches rassistischer Etymologie ist mit dem Begriff „schlecht" ursprünglich „der gemeine Mann als der Dunkelfarbige" gemeint, der sich von der „blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob". 30 Nietzsche nennt als Beispiele für diese aristokratischen Kulturen, die er unter dem Bild der „blonden Bestie" faßt, eben diejenigen, denen Gobineau einen hohen Anteil weißer Rasse zuschreibt, der sie zur Herrschaft befähigte: „römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger". 31 Nietzsches Antithese „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom" und seine Deutung der Juden als „das priesterliche Volk [...] par excellence" 32 verweisen wiederum auf Gobineaus Geschlechtertypologie. Die männlichen weißen Rassen bilden hier kriegerische Aristokratien, die weiblichen theokratische Regime aus. Gobineau unterscheidet in dieser Weise innerhalb der arischen Familie die männlichen iranischen Zarathustrier von den weiblichen indischen Brahmanen und unter den Semiten die männlichen arabischen Beduinen von den weiblichen mesopotamischen Stadtzivilisationen. Das Judentum geht zwar auf die letzteren zurück, da Abraham nach biblischem Bericht aus Ur in Chaldäa kam, nahm aber durch die Verbindung mit nomadischen Stämmen der arabischen Wüste auch ritterliche Züge an. Nach Nietzsche „ennobliren" sich die Semiten, „in dem Grade, in dem sie kriegerisch werden". 33 Die Idealisierung des kriegerischen Wesens der Semiten liegt auch der revisionistischen Konzeption der Geschichte Israels zugrunde, die Nietzsche in AC 25/26 im Anschluß an Julius Wellhausen entfaltet. Der ursprüngliche Jahwe war ein Kriegs- und Fruchtbarkeitsgott. Das spätere Judentum, aus dem die christliche Kirche hervorging, ist dagegen eine Fälschung der Priester. In Freuds Traumdeutung findet sich eine entsprechende polemische Konstruktion jüdischer Identität. Anhand der sog. Romträume analysiert Freud seine langjährige Hemmung, diese von ihm geliebte Stadt zu besuchen, wobei er seine

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32 33

Nachlaß November 1887 - März 1888, 11 [294] (KSA 13.114). GM I 5 (KSA 5.263). GM I 11 (KSA 5.275). Vgl. Detlef Brennecke: „Die blonde Bestie. Vom Mißverständnis eines Schlagworts", in: Nietzsche-Studien 5 (1976), 117 f. GM I 16 (KSA 5.286). Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [190] (KSA 13.378).

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Absichten durch die exemplarischen Handlungsweisen historischer Gestalten reflektiert. Wie der biblische Mose wird er im ersten Traum auf einen Berg geführt, von wo aus er „das gelobte Land von ferne sehen" 3 4 , aber nicht hineingelangen kann. Dem Klassizisten Winckelmann, der zum Katholizismus konvertierte, um in Rom arbeiten zu können, setzt Freud dann den Feldherrn Hannibal entgegen, der vor Rom umkehrte und auf dessen Spuren er selbst gewandelt sei. Freud schreibt, er habe sich in seiner Gymnasialzeit besonders mit der „Gestalt des semitischen Feldherrn" identifiziert, als bei ihm „das erste Verständnis für die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse erwuchs und die antisemitischen Regungen unter den Kameraden mahnten, Stellung zu nehmen [...] Hannibal und Rom symbolisierten dem Jüngling den Gegensatz zwischen der Zähigkeit des Judentums und der Organisation der katholischen Kirche." 3 5 Freud ersetzt in der Phantasie seinen eigenen Vater, den ein Christ ungestraft verunglimpfen konnte, durch Hannibals Vater Hamilkar Barkas, der „seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören läßt, an den Römern Rache zu nehmen". 3 6 Freud ordnet hier seine psychische Problematik in eine Kontinuität des Semitischen ein, die von dem jüdischen Volksführer Mose über den tragischen Herrscher Karthagos bis zu Napoleons jüdischem General Massena reicht, der Rom schließlich eroberte.

IV. Nietzsches Deutung der Arier und Semiten wendet sich gegen eine konträre Lektüre Gobineaus, die für Freuds Revision der jüdischen Geschichte gleichfalls von Bedeutung ist. Richard Wagner setzte sich in seinen sog. Regenerationsschriften (1880 — 1883) kritisch mit der Lehre seines Freundes Gobineau auseinander. Dabei bezieht er sich auf den Ursprungsmythos der Arier, den er in Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage (1848) entfaltet hatte. Nach Gobineau wanderten die Arier aus dem Kaukasus in das fruchtbare Industal ein. Die arische Gesellschaft wandelt sich dort von der Kriegeraristokratie zum theokratischen Regime der Brahmanen. Die neue Religion Zarathustras wendet sich gegen die Priesterherrschaft, so daß ein Religionskrieg ausbricht. Die Zarathustrier müssen schließlich auswandern, ziehen westwärts und gründen dort ihre großen Weltreiche. Gobineau glorifiziert die geschichtliche 34 35 36

Sigmund Freud: Studienausgabe, Frankfurt a.M., 1982, 205. Ebd., 207. Ebd., 208.

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Rolle der kriegerischen Arier, und auch Niet2sche verknüpft mit der Gestalt Zarathustras seine eigene agonale Weltsicht, die er gegen die platonisch-christliche Metaphysik setzt. Wagner idealisiert dagegen unter dem Einfluß Schopenhauers den Brahmanismus und deutet den Aufbruch der Arier als Sündenfall, durch den sie zum „Raubtier" degenerierten. Auch die semitischen Mythen des Alten Testaments und die griechischen Sagen liest er als Dokumente der „Kriegszivilisation", die aus dem Erwählungsglauben der weißen Rasse resultierte. In der Wibelungen-Schrift sieht Wagner den Ursprung der arischen Stammesaristokratien in einem „vatermörderischen K a m p f gegen das ursprüngliche patriarchalische Gottkönigtum. 37 Den abtrünnigen Stämmen mußte nämlich der „längst dahin geschiedene Stammvater [...] als ein Gott selbst erscheinen" 38 . Die „Erinnerung an einen göttlichen Urvater [...] aller aus der asiatischen Urheimat hervorgegangenen Völker" 3 9 zeigt sich darin, daß sich diese nach ihrer Trennung jeweils von einem mythischen Ahnherrn herleiteten. Nachdem Alexander und die Römer die Stammesherrschaften beseitigt hatten, erneuerten die Franken das universale Herrschertum der Urzeit, indem sie ihren Stammesheros Siegfried, der mit Christus identifiziert wurde, den anderen Stämmen aufzwangen. So wurde „Christus, als Gottes Sohn, der Vater (mindestens der geistige) aller Menschen" 40 und damit der urzeitliche Mord gesühnt. Die Siegfriedsage wiederholt das Geschick des Urvaters, wenn der Held zuerst den Nibelungenhort gewinnt, der absolute Macht verleiht, dann aber getötet wird. Die Ähnlichkeiten mit Freuds Totem und Tabu sind frappant, wo dieser die Schuld des Vatermordes an den Anfang der Kultur stellt. Freud verknüpft hier durch den griechischen Ödipusmythos, in dem er eine universelle neurotische Struktur sieht, Robertson Smiths Vorstellung der Totemmahlzeit der Semiten mit James Frazers Theorie der Opferung des Gottkönigs, die von der römischen Religion ausgeht. Auch Freud läßt die totemistische Verehrung des Ahnherrn aus dem Schuldbewußtsein der Söhne hervorgehen, die sich des allmächtigen Vaters der Urhorde endedigten. Das Christentum versucht, durch die Opferung Jesu das urzeitliche Verbrechen wiedergutzumachen und setzt dabei den Sohn Gottes an die Stelle des Vaters. In Der Mann Mose und die monotheistische Religion ordnet Freud das Judentum in dieses Geschichtsbild ein. Im Gottesbild der monotheistischen Religion kehre die stammesgeschichtliche Erinnerung an den allmächtigen Urvater wieder. Auch Mose selbst wird von den Hebräern als Vaterfigur verehrt, dann aber getötet. Das Judentum hält aber an der Vaterreligion fest. Die Christen beschul37 38 39 40

Richard Wagner: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Julius Kapp, Leipzig, oj., Bd. 6, 124. Ebd., 100. Ebd., 127. Ebd., 128.

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digen die Juden des Gottesmordes, da sie das Judentum so an ihre eigene verdrängte Schuld erinnert. Freuds anthropologische Deutung des Antisemitismus verweist wiederum auf Wagners Wibelungen-Mythos. Nach Wagner besteht die „entscheidende Ähnlichkeit" zwischen dem christlichen Erlöser und dem arischen Stammesgott Siegfried, „daß auch auch er gestorben war, beklagt und gerächt wurde, wie wir noch heute an den Juden Jesus Christus rächen". 41 Wagner deutet hier wie nach ihm Freud — allerdings aus der Perspektive des Antisemiten — den christlichen Erlösermythos und den Vorwurf des Gottesmordes als Projektion einer prähistorischen Schuld der Arier.

V. Als Freud im Jahre 1938 die These vertrat, daß Mose ein Ägypter und kein Hebräer war, wurde das von jüdischer Seite vielfach als Verrat empfunden. Handelt es sich doch hier um einen antisemitischen Topos, der sich von dem antiken Historiker Manetho, der den Exodus aus ägyptischer Perspektive beschreibt, über die Kritik der Aufklärung am Alten Testament bis zu Houston Stewart Chamberlains Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts verfolgen läßt. Die deistische Bibelkritik stellte Mose als Adepten der ägyptischen Mysterien dar, deren philosophischer Monotheismus in Widerspruch zur polytheistischen Staatsreligion stand und so nur der politischen Elite zugänglich war. Mose weihte die Hebräer in diese Geheimlehren ein und machte sie zur Grundlage seiner Gesetzgebung. Die hermetische Theologie Ägyptens stellte man als Naturreligion und Urevangelium der Orthodoxie der Kirche und des Judentums entgegen. Vor allem Friedrich Schillers Vorlesung Die Sendung Moses (1789) machte die Ableitung des Judentums aus den ägyptischen Mysterien bekannt. Die ägyptischen Geheimlehren wurden um die Jahrhundertwende in ihrer Popularität durch den religiösen Reformer Amenophis IV. Echnaton überholt, der vergeblich die monotheistische Religion des Sonnengottes Aton in Ägypten einführen wollte. Freud macht Mose zum Schüler des Pharaos, der diese Lehre an die Hebräer weitergab. Die Begeisterung für die Echnatonreligion ist wiederum eng mit der Ariermode verbunden. Die Genese des Monotheismus war auch ein Feld der rassentheoretischen Spekulationen. Bereits Gobineau führt die ägyptische Kultur auf Arier zurück, die aus Indien einwanderten und sich mit den schwarzen Ureinwohnern vermischten. Während die Arier „in der Religion vor Allem [...] meta41

Ebd., 128.

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physische Ideen, sittliche Vorschriften" suchten42, vollzieht die polytheistische Kultreligion Ägyptens eine Visibilisierung des Heiligen und trägt so den sinnlichen Bedürfnissen der schwarzen Bevölkerung Rechnung. Ernst Krause und Willy Pastor leiteten die Sonnenverehrung im Mittelmeerraum aus Nordeuropa her, das sie im Unterschied zu Gobineau auch als Urheimat der Arier ansahen. Nur in Skandinavien konnte das Erscheinen der Sonne nach den langen Winternächten als Heilsereignis erfahren werden, während sie im Süden ursprünglich eher als lebensfeindliches Gestirn galt, das Dürre, Seuchen und Hungersnot bringt.43 Otto Hauser verortete schließlich die Religion Echnatons und Israels innerhalb dieser Theorie. Hauser faßte die vielen Beiträge, die von ihm seit der Jahrhundertwende zu diesem Thema erschienen waren, in seiner Geschichte des Judentums von 1921 zusammen. Hauser nimmt im Judentum wie bei den anderen Völkern Syriens und Kanaans ein arisches Substrat an, das sich später mit schwarzen Elementen vermischt habe. Daher enthalte auch die Bibel den nordischen Sonnenmythos und den damit verknüpften Erlösermythos, der von Sterben und Auferstehung der Natur in der Gestalt des Gottes Adonis handelt. Auch Mose sei eine Verkörperung dieser Figur. Die biblische Kindheitsgeschichte Moses wird als naturmythologischer Ausdruck der Errettung des Erlösers aus dem Tode gedeutet. Die religiöse Reform des Echnaton erklärt Hauser aus dem Einfluß der arischen Hethiter. Angeblich waren Echnatons Mutter und seine Gattin hethitische Prinzessinnen, so daß der ,Ketzerkönig' „Amenophis IV. [...] den mitanisch-indogermanischen Sonnendienst in Ägypten einführte".44 Im Umfeld Hausers wurde sogar behauptet, die angebliche Mumie Echnatons habe blondes Haar, wie es dieser auch den ursprünglichen Juden zuschrieb.45 Auch die Jahwe-Religion ist nach Hauser arischen Ursprungs. Aber die Vermischung der Juden mit anderen, schwächeren Rassen habe zu einer ungünstigen Transformation des Monotheismus geführt. Das Judentum stelle eine nationale Verengung der arischen Naturreligion dar. Neben den „ethischen Zügen, die ihm von der prophetischen Spekulation gegeben wurden und die ihn dem ägyptischen Aton Amenophis' IV., dem persischen Ahura Mazda, dem Gottesbegriff Piatos nicht unwürdig an die Seite stellen", gebe es daher im Bilde Jahwes solche „von Blutdürstigkeit, Härte, Grausamkeit, geistiger Beschränktheit, Uberhebung".46 Die Religion Zarathustras und des alten Israel erscheint hier anders als bei Nietzsche als philosophisch-kontemplativ und wird mit dem von diesem 42 43 44 45 46

Gobineau: Versuch, Bd. 2, 197. Vgl. Willy Pastor: Der Zug vom Norden, Jena/Leipzig, 1906, 18. Otto Hauser: Geschichte des Judentums, Weimar, 1921, 22. Vgl. Erich Jung: Germanische Gitter und Helden in christlicher Zeit, München/Berlin, 1939, 87. Hauser: Judentum, 116.

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abgewerteten Piatonismus verglichen. Das kriegerische Element wird in der Nachfolge Wagners als Degenerationsphänomen gedeutet. Auch Freuds Deutung des Echnaton fügt sich in dieses antisemitische Stereotyp, das den toleranten ägyptischen Universalismus gegen das grausame jüdische Gottesbild stellt. Ein frühes Zeugnis bildet Karl Abrahams Aufsatz Amenhotep IV. (Echnaton). Psychoanalytische Beiträge Verständnis seiner Persönlichkeit und des monotheistischen Aton-Kults von 1912, den Freud anregte und dessen Charakterisierung des Pharaos er teilweise wörtlich, aber ohne zu zitieren, in seinen Mann Mose übernahm. Auch hier ist vom hethitischen Einfluß auf den ,Ketzerkönig' und seinen Vater die Rede. Aton wird von dem syrischen Adonis hergeleitet und ist „nicht ein Nationalgott, sondern als Universalgott, dem alle Wesen gleich nahe stehen [...] Echnatons Lehre enthält nicht nur wesentliche Bestandteile des alttestamentarischen jüdischen Monotheismus, sondern eilt ihm in mancher Beziehung voraus [...] Aton kennt nicht Haß, nicht Eifersucht noch Strafe wie der Gott des alten Testaments. Er ist der Herr des Friedens, nicht der des Krieges." 47 In Der Mann Mose sucht Freud die ägyptische Herkunft des jüdischen Religionsstifters zu erweisen, indem er seine Kindheitsgeschichte als Variation antiker Heldensagen deutet, wobei er besonders auf Romulus und den Zarathustrier Kyros hinweist. Nach dem Scheitern der Reformation Echnatons erwählte Mose die hebräischen Sklaven als neues Volk für seinen Gott Aton, aus dem der jüdische Adonai wurde. Durch den Ritus der Beschneidung, mit dem sich die Ägypter als Herrenvolk von den anderen abgrenzten, macht Mose seine Anhänger „gewissermaßen selbst zu Ägyptern". 48 Auch Gobineau deutete in dieser Weise die Beschneidung als die kulturelle Konstruktion einer Rasse. 49 Ein ähnliches Verfahren sieht er im hinduistischen Kastenwesen, an dessen Spitze sich die Brahmanen setzten, die den arischen Kriegern kulturell überlegen waren. Freud sieht im mosaischen Gottesbegriff, wie er im Bilderverbot zum Ausdruck kommt, einen zivilisatorischen Fortschritt, der noch über die Atonreligion hinausgeht. „Denn es bedeutete eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit".50 Wenn Freud schreibt, daß „das Judenvolk des Moses [...] ebensowenig imstande [war], eine so hoch vergeistigte Religion zu ertragen, in ihren Darbietungen eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu finden, wie

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48 49 50

Karl Abraham: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Johannes Cremerius, Frankfurt a.M., 1982, Bd. 2, 363 f. Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. 9, 478. Gobineau: Versuch, Bd. 2, 92, Anm. 1. Freud: Studienausgabe, Bd. 9, 559.

J u d e n t u m als „ R a s s e " bei Nietzsche und Freud

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die Ägypter der 18. Dynastie" 51 , erklärt sich das aus Gobineaus Konzept der Mischkultur, in der das sinnliche Element des Kults und der Kunst zentral ist. Dabei unterscheidet Freud „die zahmen Ägypter", die „warteten, bis das Schicksal die geheiligte Person des Pharao beseitigt hatte", von den „wilden Semiten", die „das Schicksal in ihre Hand" nahmen und „den Tyrannen aus dem Wege" räumten52, womit er nochmals die Unterscheidung aktivistischer männlicher Rassen und kontemplativer weiblicher bemüht, zu denen Gobineau das schwarze „eingeborene Volk" Ägyptens rechnete. „Dieses war unfähig, die Kinder Israel in ihrem Auszuge nachzuahmen, und als aus einer unendlich weniger edlen Race geboren, fühlte es auch sein Elend weit weniger." 53 Das Modell der Rassenmischung bleibt auch für Freuds Rekonstruktion der weiteren Religionsgeschichte Israels wichtig. Nach der Ermordung Moses vereinigten sich die Hebräer „zwischen Ägypten und Kanaan mit anderen, verwandten Stämmen, die dort seit längerer Zeit ansässig gewesen waren. Ausdruck dieser Vereinigung, aus der das Volk Israel hervorging, war die Annahme einer neuen, allen Stämmen gemeinsamen Religion, der des Jahve." 54 Als Konsequenz der ethnischen Vermischung konstatiert Freud wie Hauser eine nationalistische Verengung des universalistischen Monotheismus. „Der Gott Jahve [...] war wahrscheinlich in keiner Hinsicht ein hervorragendes Wesen. Ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutdürstig; er hatte seinen Anhängern versprochen, ihnen das Land zu geben, in dem ,Milch und Honig fließt', und forderte sie auf, dessen gegenwärtige Einwohner auszurotten ,mit der Schärfe des Schwertes'". 55 Das zivilisatorische Element der Anhänger Moses wirkte nach Freud aber diesem Degenerationsprozeß der jüdischen Rasse und des mosaischen Gottesbildes entgegen. Freud unterscheidet diese als ,Neu-Ägypter' von den Hebräern, die sie kulturell und biologisch durchdrangen. Wie die weißen Herrenrassen Gobineaus waren „die einstigen Ägypter [...] wahrscheinlich in ihrer Volkszahl geringer als die anderen, aber sie erwiesen sich als die kulturell Stärkeren [...] Sie vermehrten sich in den nächsten Generationen, verschmolzen mit dem Volke, in dem sie lebten, aber sie blieben ihrem Herrn treu, bewahrten das Andenken an ihn und pflegten die Tradition seiner Lehren. Zur Zeit der Vereinigung mit den Jahvegläubigen bildeten sie eine einflußreiche, den anderen kulturell überlegene Minorität." 56

51 52 53 54 55 56

E b d . , 496. Ebd., 496 f. Gobineau: Versuch, Bd. 2, 123. Freud: Studienausgabe, B d . 9, 487. E b d . , 499. Ebd., 488.

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Wolf-Daniel Hartwich

Für die Deformation der israelitischen Religion macht Freud wie Nietzsche die Priester verantwortlich, deren Haupdeistung es war, „das Ritual zu entwikkeln und zu überwachen, überdies die heiligen Niederschriften zu behüten und nach ihren Absichten zu bearbeiten". Dabei idealisiert Freud aber nicht die altisraelitische Natur- und Stammesreligion, sondern sieht in der Nachfolge Hausers den .jüdischen Kriegsgott' als Verfallsprodukt des arischen Philosophengottes an, den er zum Inhalt der prophetischen Religion macht. Die Kultlosigkeit dieser Religion verbindet die zivilisatorischen Eliten Israels und Ägyptens, die sich so von der Kultur der Massen ihres Volkes abgrenzten. Während die jüdische „Priesterschaft" das magische Ritual ausbaute, predigten die Propheten „unermüdlich die alte mosaische Lehre [...], die Gottheit verschmähe Opfer und Zeremoniell, sie fordere nur Glauben und ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit". 57 Indem Freud den Mann Mose wieder in sein Recht setzt, stellt er die Psychoanalyse in die Nachfolge der prophetischen Religion und widerlegt zugleich das orthodoxe Judentum. Während Freud in der Traumdeutung seine jüdische Identität rassentheoretisch zu begründen suchte, revoziert er im Mann Mose das Projekt Israel. An die Stelle der semitischen Frontstellung gegen Rom setzt Freud eine Revision des Exodus, in der die jüdische Kultur einem arischen Ägypten assimiliert wird. Zugleich entfernt er sich von Nietzsches Archäologie Israels und ethnokultureller Utopie Europas.

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Ebd., 500.

W E R N E R STEGMAIER

Levinas' Humanismus des anderen Menschen — ein Anti-Nietzscheanismus oder ein Nietzscheanismus? Emmanuel Levinas, 1906 geboren, ist Jude, ein Jude, der sich stets lebhaft zu seinem Judentum bekannt und für die Erneuerung des Judentums engagiert hat, aber sicher kein Nietzscheaner. Er hält zu Nietzsche betont Distanz. Er zählt heute zu den bedeutendsten Ethikern, und nicht nur das, er hat die Ethik zur Ersten Philosophie gemacht. Doch auch Nietzsche hat die Moral am Grund allen Denkens gesehen 1 und der Ethik dadurch ebenfalls den Rang einer Ersten Philosophie gegeben. So entsteht über Levinas' Distanz hinweg eine Nähe zu Nietzsche, die zu denken gibt. Seine Distanz ist in der Tat nicht ungebrochen. Sein gebrochener Bezug zu Nietzsche könnte tiefe Bedeutung nicht nur für die Ethik, sondern für die Philosophie im ganzen haben. Levinas hält Distanz jedoch nicht nur zu Nietzsche, sondern grenzt sich von der abendländischen Tradition der Philosophie im ganzen ab. Das griechischchristliche Denken schließt für ihn Gewalt ein, Gewalt, die darin liegt, alles andere auf Begriffe bringen zu wollen, die doch immer nur die eigenen sind. 2 Es ist für Levinas ein Denken, das auf festen, „wahr und falsch", „gut und böse", „recht und unrecht", „zugehörig und unzugehörig" streng abgrenzenden Institutionen besteht und anderes nicht als anderes gelten läßt. Am schwersten davon betroffen aber war das Judentum. Es wurde, über alle weiteren Gründe hinaus, die hier anzuführen wären — Levinas trägt nur den philosophischen Gesichtspunkt vor —, weil es dieses Denken nicht teilte, Jahrtausende hindurch von ihm ausgegrenzt und verfolgt. Die Gewalt des Begriffs ist nicht unausweichlich. Levinas erkennt die „jüdische Bestimmung" in der „Verpflichtung, die ganze Menschlichkeit des Menschen in der nach allen Winden offenen Laubhütte des Gewissens zu beherbergen." Daß die Menschheit „sich in keiner objektiven Ordnung mehr spiegelt oder bestätigt," ist für Levinas „das Risiko, von dem die Ehre der Menschheit 1

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Vgl. vom Verf.: Nietzsches .Genealogie der Moral'. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, 35 — 4 0 (im folgenden zitiert als Genealogie-Werkinterpretation). Vgl. vom Verf.: Die Zeit und die Schrift. Berührungen zwischen Levinas und Derrida, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21.1 (1996), 3-24.

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abhängt. Aber vielleicht ist die Bedeutung der Tatsache, daß es inmitten der Menschheit eine jüdische Bestimmung gibt, gerade in diesem Risiko ψ suchen. Das Judentum ist die Menschheit, die an der Schwelle einer Moral ohne Institutionen steht."3 Auch in seiner Herausforderung des griechisch-christlichen Denkens ging Nietzsche Levinas voran, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Nietzsche, der selbst in diesem Denken aufwuchs, hat seine Kritik als „Selbstaufhebung" verstanden, Levinas bestimmt seine Grenzen von der jüdischen Tradition her, die er ihrerseits neu und tiefer begreift. Er hat auch darin Vorgänger im 20. Jahrhundert, vor allem Franz Rosenzweig, geht jedoch, geschult durch Husserl und Heidegger, weit über ihn hinaus. Aber es war auch wiederum Nietzsche, der in seinem Bruch mit der griechisch-christlichen Tradition, inmitten des immer lauter werdenden Antisemitismus seiner Zeit, das Judentum neu sehen lernte, und dies auf eine Weise, die in die jüdische Erneuerungsbewegung eingreifen und einen Jüdischen Nietzscheanismus zur Folge haben konnte. Es ist in der Forschung ausführlich dargestellt und durch Beiträge dieses Bandes bekräftigt worden, wie gebrochen auch sein Bezug zum Judentum war; unbestritten ist, wie wenig er es wirklich kannte. Dennoch ist der Satz, daß sich in keiner objektiven Ordnung mehr zu spiegeln oder zu bestätigen das Risiko der Menschheit sei, von dem ihre Ehre abhänge, ein Satz auch Nietzsches (wenn auch nicht in dieser Formulierung). Die Selbstaufhebung des griechisch-christlichen Denkens bei Nietzsche und seine Kritik von der jüdischen Tradition her bei Levinas berühren sich so eng, daß wir ihrer Nähe trotz der erklärten Distanz Levinas' zu Nietzsche und trotz Nietzsches geringer Kenntnis des Judentums nachgehen sollten. Nach der Erfahrung der Shoah, die von der griechisch-christlichen Metaphysik und Moral nicht verhindert, vielleicht sogar ermöglicht wurde, wird es geradezu zur Aufgabe der europäischen Philosophie am Ende des 20. Jahrhunderts, zu versuchen, dem Judentum gerecht zu werden, wie einerseits Levinas, andererseits Nietzsche es verstehen. Sie kann jedoch nicht einfach aus ihrer Tradition heraustreten und zum Judentum übergehen. Sie kann sich nur von der „jüdischen Bestimmung" aus einer neuen Kritik unterwerfen und sich auf Linien hin befragen, die sie über sich selbst hinausführen könnten. Dies ist zunächst von Juden versucht worden, die gegen den Strom der Assimilation sich wieder auf ihr Judentum besannen, von Hermann Cohen im Blick auf Kant, von Rosenzweig im Blick auf Hegel. Es kann nun von Levinas aus auch im Blick auf Nietzsche geschehen.

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Emmanuel Levinas, Honneur sous drapeau, in: Les Nouveaux Cahiers 2 (1966), 177 — 182, wiederabgedruckt unter dem Titel: Sans nom, in: E. L., Noms propres, Montpellier 1976, 141 — 146, hier 145, deutsch: Namenlos, in: E. L., Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, Textauswahl und Nachwort von F. Ph. Ingold, aus dem Frz. übers, v. F. Miething, München/ Wien 1988, 105.

Levinas' Humanismus des anderen Menschen

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Nietzsche bei Levinas Levinas konnte sich als Sohn dieses Jahrhunderts kaum dessen bedeutendsten philosophischen Lehrern entziehen und mußte sich darum auch auf Nietzsche beziehen. Er tat das über Heidegger, der, kurz bevor er Nietzsche als den Vollender der Metaphysik darzustellen begann, selbst dem Nationalsozialismus verfallen war.4 Levinas war vorurteilslos genug, um von Heidegger auch noch zu lernen, als dessen Experiment mit dem Antihumanismus offenbar geworden war; Heidegger ist einer von denen, die in seinem Werk am häufigsten genannt werden. Nietzsche dagegen nicht, auch in den jüngeren Schriften nicht, die entstanden, als Heideggers Nietzsche-Deutung bereits von Grund auf überholt war. Nietzsche taucht, soweit ich sehe, mit einer großen Ausnahme nur am Rand von Levinas' Schriften auf. Machen wir zunächst eine kurze Bestandsaufnahme. Levinas zitiert Nietzsche wie ein Bildungsgut, das er nun einmal mitbekommen hat und gleichgültig mit allen andern teilt. Zwar scheint er ihn gut zu kennen,5 und gelegentlich benutzt er auch seine Sprache.6 In seiner autobiographischen Skizze,7 in der er sich zu seinen vielfältigen Verpflichtungen bekennt, taucht Nietzsche jedoch nicht auf. Lange wird Nietzsche kaum namentlich genannt und auch in den jüngeren Arbeiten nur gelegentlich und stereotyp: Nietzsche der Ideologiekritiker in einer Reihe mit Marx und Freud,8 Nietzsche, der das „Wort vom Tod Gottes" aufgebracht,9 Nietzsche, der „vor dem Geist der Rache" gewarnt hat. 10 Einmal, 1963, wiederholt Levinas ein Nietzsche-Zitat Leon Blums: „Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute."11 4

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Vgl. Emmanuel Levinas in: Elisabeth Weber, Jüdisches Denken in Frankreich. Gespräche, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1994, 120: „Ich denke an Heidegger selbst dann, wenn ich nicht will." - Heideggers Nietzsche-Bände (Pfullingen 1961) umfassen Vorlesungen und Abhandlungen aus den Jahren 1936 bis 1946. Vgl. Emmanuel Levinas, Totalite et Infini. Essai sur l'exteriorite (1961), The Hague/Boston/ Lancaster 4 1984, dtsch.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers, von W. N. Krewani, Freiburg/München 1987, xvii/31 Anm. Vgl. Levinas, Totalite et Infini, 177/292: „ . . . d'une fapon dionysiaque l'artiste devient, Selon l'expression de Nietzsche, ceuvre d'art"/,,... hier witd der Künsder, um mit Nietzsche zu sprechen, in dionysischer Weise zum Kunstwerk." Emmanuel Levinas, Signature (nouvelle version), in: E. L., Difficile liberte, Essais sur le judai'sme, Paris 2 1976, 4 0 3 - 4 1 2 , dtsch.: Unterschrift, in: E. L., Eigennamen, a. O., 1 0 7 - 1 1 6 . Emmanuel Levinas, Ideologie et Idealisme (1972/73), in: E. L., De Dieu qui vient ä l'idee, Paris 1982, dtsch.: Ideologie und Idealismus, in: E. L., Wenn Gott ins Denken einfallt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, übers, v. Th. Wiemer, Freiburg/München 1985, 18/23. Emmanuel Levinas, Transcendance et mal (1978), in: E. L., De Dieu qui vient ä l'idee, a. Ο., dtsch.: Die Transzendenz und das Übel, in: E. L., Wenn Gott ins Denken einfallt, a. O., 194/ 178, vgl. ders., De la deficience sans souci au sens nouveau (1976), a. O., dtsch.: Vom sorglosen Sagen zum neuen Sinn, a. O., 86/91; vgl. a. O. 143/168. Levinas, Transcendence et mal/Die Transzendenz und das Übel, a. O., 203/189. „Que l'avenir et les plus lointaines choses soient la regle de tous les jours presents." Emmanuel Levinas, La trace de l'autre (1963), in: E. L., En decouvrant l'existence avec Hussetl et Heidegger, Paris 3 1982, dtsch.: Die Spur des Anderen, in: E. L., Die Spur des Anderen. Untersuchungen

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In einer Doublette aus dem folgenden Jahr fügt er freilich hinzu: „Die Philosophie, mit der Leon Blum [sich] rechtfertigt, ist dabei nebensächlich." 12 Levinas scheint im Nietzscheanismus einen Zeitgeist zu sehen, dem er sich bewußt verweigert. Das „erneute Überdenken" des Ethischen wird ihm, schreibt er, schwer „in einer Welt, in der Nietzsche untreu zu werden — selbst wenn man frei von aller nationalsozialistischen Infizierung so denkt — als Blasphemie (dem ,Tode Gottes' zum Trotz) gilt." 13 Was Levinas von Nietzsche fernhält, scheinen nicht so sehr dessen antijüdische Vordergründe zu sein — Levinas weiß, daß es nur Vordergründe sind —, aber auch nicht nur Nietzsches Anschlußfähigkeit für die Nationalsozialisten. Nietzsche verkennt nach Levinas die Religion. Er habe die Religion als „grämliche Genüßlichkeit von Mißerfolg und Tröstungen" definiert 14 und das ius talionis der Thora, das auf gerechten Ausgleich unter allen angelegt sei, nach Machiavelli erneut aus dem Verlangen nach Rache an den Mächtigen gedeutet. 15 Wo Levinas Nietzsches Denken nahe ist, bemerkt oder sagt er es nicht: etwa dort, wo er von „Stärke, Stolz und Souveränität" und von der „stolzen, aristokratischen, genialen Einsamkeit" spricht, 16 von der Abkehr vom Platonismus, der „Teilhabe an einem dritten Bezugspunkt", 17 vom Begriff der Willens-

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zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hrsg. und eingel. v. W. N. Krewani, Freiburg/ München 1983, 192/217. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von der Nächstenliebe (KSA 4.78). Emmanuel Levinas, La signification et le sens (1964), in: E. L., Humanisme de l'autre homme, Montpellier 1972, dtsch.: Die Bedeutung und der Sinn, in: E. L., Humanismus des anderen Menschen, übers, und mit einer Einl. von L. Wenzler, Hamburg 1989, 43/36. „Reconsideration ä peine concevable dans un monde ou l'infidelite ä Nietzsche - meme pense en dehors de toute contamination national-socialiste — passe (malgre ,1a mort de Dieu") pour un blaspheme." Emmanuel Levinas, Autrement qu'etre ou au-delä de l'essence, La Haye 1974 (Phaenomenologica, Bd. 54), Neudruck Dordrecht/Boston/London 1978 u. ö., dtsch.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Frz. übers, v. Th. Wiemer, Freiburg/München 1992, 223/378. „delectation morose de l'echec et des consolations": Levinas, La trace de l'autre/Die Spur des Anderen, a. O., 191/216. Emmanuel Levinas, La loi du talion, in: Difficile liberte, a. O., 2 0 7 - 2 1 0 . „une virilite et une fierte et une souverainete" — „la solitude fiere, aristocratique, geniale": Emmanuel Levinas, Le temps et l'autre, dans: J. Wahl e.a., Le Choix — Le Monde — L'Existence (en collaboration: J. Wahl, A. de Waelhens, J. Hersch, E. Levinas), (Cahiers du College Philosophique), Grenoble/Paris 1947, 1 2 5 - 1 9 6 , Neudruck mit einem Vorwort Paris 1979, dtsch.: Die Zeit und der Andere, übers, und mit einem Nachwort versehen v. L. Wenzler, Hamburg 1984, 35/29. Vgl. Emmanuel Levinas, Dialog, in: F. Böckle u. a. (Hrsg.), Enzyklopädische Bibliothek in 30 Teilbänden, Teilband 1: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Freiburg/Basel/ Wien 1981, 75 (frz. Or.: Le dialogue. Conscience de soi et proximite du prochain, dans le receuil: Esistenza, mito, ermeneutica. Scritti per Enrico Castelli, Vol. II (Archivio di Filosofia), Padova 1980, 345 — 357). Levinas verweist an der angegebenen Stelle auf Rosenzweig, nicht auf Nietzsche. „participation ä un troisieme terme": Levinas, Le temps et l'autre/Die Zeit und der Andere, a. O., 89/64.

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freiheit als einem Ressentiment-Begriff,18 von Krieg und Abenteuer als positiven philosophischen Begriffen 19 und vom ethischen Widerstand, den die Machdosigkeit eines Andern gegen den Willen zur Macht ausübt und den Nietzsche am Typus Jesus erfährt (wir kommen darauf zurück).20 Auch das Verlangen, die angestammte philosophische Sprache des Lichts durch eine „Sprache der Liebe" zu überwinden, das Levinas' erstes Hauptwerk, Totalite et Infitii, beherrscht, konnte ihm schon bei Nietzsche, im „Nachtlied" aus Also sprach Zarathustra, begegnet sein. Am auffalligsten jedoch ist, daß Levinas auch Franz Rosenzweigs hohe Anerkennung für Nietzsche verschweigt. Levinas achtet Rosenzweigs Stern der Erlösung wie kein anderes Werk der Philosophie des Judentums; er hat es mehrfach öffentlich vorgestellt.22 Rosenzweig aber hebt seinerseits in der Einleitung seines Werkes Schopenhauer und Kierkegaard, besonders aber Nietzsche emphatisch als Anfang eines neuen Philosophierens hervor, in dem der Philosophierende maßgeblicher als die Philosophie, das Individuum bedeutsamer als die Lehre sei. Auch er hält Nietzsches Lehre für nebensächlich, für um so wichtiger dagegen sein Leben als Philosoph.23 Nietzsche ist für Rosenzweig der in keine Identität zu fassende Philosoph der Individualität und dadurch der Anstoß zu einer Revolution der Ethik, einer Revolution im Namen des Judentums: Das „von Nietz18

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Emmanuel Levinas, La philosophie et l'idee de l'infini (1957), dtsch.: Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: En decouvrant l'existence/Die Spur des Anderen, a. O., 168/191. a. Ο., 168 f./191. Vgl. jedoch Emmanuel Levinas, Langage et proximite (1967), dtsch.: Sprache und Nähe, in: En decouvrant l'existence/Die Spur des Anderen, a. O., 234/291: „Es ist nicht sicher, daß der Krieg am Anfang stand. Vor dem Krieg waren die Altäre." Levinas, La philosophie et l'idee de l'infini/Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, a. O., 173/199. Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (1921), Nachdruck der 4. Auflage 1976 mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1988. Emmanuel Levinas, ,Entre deux mondes' (Biographie spirituelle de Franz Rosenzweig) (1959), mit dem Untertitel: (La voie de F. R.), in: E. L., Difficile liberte, a. O., 2 5 3 - 2 8 1 , dtsch.: .Zwischen zwei Welten' (Der Weg von Franz Rosenzweig), in: E. L., Schwierige Freiheit, a. O., 129 — 154, und ders., Franz Rosenzweig, Une pensee juive moderne, in: Revue de Theologie et de Philosophie 98 (1965), 2 0 8 - 2 2 1 , dtsch.: Franz Rosenzweig. Ein modernes jüdisches Denken in: E. L., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, hrsg. und aus dem Frz. übers, v. F. Miething, München/Wien 1991, 99 — 122. — Zum Verhältnis von Levinas zu Rosenzweig vgl. jetzt Robert Gibbs, Correlations in Rosenzweig and Levinas, Princeton 1992. Rosenzweig, Stern der Erlösung, 9 f.: „Beinahe gleichgültig ist es schon heute, was er erphilosophierte. Das Dionysische und der Übermensch, die blonde Bestie, die ewige Wiederkunft - wo sind sie geblieben? Aber er selber, der in den Wandlungen seiner Gedankenbilder sich selber wandelte, er selber, dessen Seele keine Höhe scheute, sondern dem tollkühnen Kletterer Geist nachkletterte bis auf den steilen Gipfel des Wahnsinns, wo es kein Weiter mehr gab, er selber ist es, an dem nun keiner mehr von denen, die philosophieren müssen, vorbei kann. [...] Der Mensch in der schlechthinnigen Einzelheit seines Eigenwesens, in seinem durch Vor- und Zunamen festgelegten Sein, trat aus der Welt, die sich als die denkbare wußte, dem All der Philosophie heraus."

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sehe dem Denken erschlossene Neuland" sei die „Jenseitigkeit der neuen Frage allem gegenüber, was unter dem Begriff Ethik bisher allein verstanden war."24 Während Levinas aber Rosenzweigs Bezug auf Kierkegaard mehrfach erwähnt und auch hier wieder Heidegger nennt,25 verfinstert er Nietzsches Namen in seinen Darstellungen des Sterns der Erlösung oder tilgt ihn ganz.26 In einem Gespräch zu Ende des Jahres 1985, 27 nachdem er eben einen italienischen Nietzsche-Preis erhalten hat, bestimmt Levinas schließlich explizit sein Verhältnis zu Nietzsche. Er räumt hier Rosenzweigs Emphase für Nietzsche ein,28 distanziert sich selbst aber klar, wenn nun auch milder von Nietzsche: „Ich habe über Nietzsche nichts geschrieben und in meiner Antwort — ich wollte mich für den Preis bedanken — betont, daß die Ethik von Nietzsche nicht meine Ethik sei. Weiter habe ich gesagt: Aber er war derjenige, der am Ende des 19. Jahrhunderts, als alle Werte klassifiziert waren und an ihrem Orte standen, sicher vorausgesehen hat, was das 20. Jahrhundert daraus machen würde. Und dann habe ich die Sätze zitiert, wo er das Judentum anerkennt,"29 24 25 26

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a. O., 11 f. Levinas, Franz Rosenzweig, a. O., 111. Vgl. Levinas, ,Entre deux mondes'/'Zwischen zwei Welten', a. O., 135. Hier werden Kierkegaard und Nietzsche zusammen genannt: Der theoretische Mensch habe endgültig aufgehört zu herrschen (Kernstück, was Levinas beiseite läßt, von Nietzsches Sokrates-Kritik), doch: „Nach so viel Wissen ist einfache Spontaneität nicht mehr möglich, und die Anarchie der individuellen Proteste der subjektiven Denker, wie er [sc. Rosenzweig] sie nennt, Kierkegaard oder Nietzsche, droht mit allen Schwärmereien und allen Grausamkeiten der Welt", der „Anarchie der individuellen Begierden". Wo Rosenzweig Philosophen ohne Philosophie ankündigt, bleibt für Levinas nur eine wie leere Trümmer stehengebliebene „Philosophie ohne Philosophen". Im späteren Essay führt Levinas im Anschluß an die „Kategorien des Neuen Denkens", die er mit Rosenzweig und Rosenzweig mit Nietzsche teilt, statt Nietzsche Kierkegaard an: „Vom Zurückführen aufs Allgemeine zur Unrückführbarkeit geht der Weg des Neuen Denkens. Der Mensch ist kein Spezialfall des Ubergeordneten, des Genus >Menschlpseität