Jüdische Selbstwahrnehmung - La prise de conscience de l'identité juïve [Reprint 2012 ed.] 3484651199, 9783484651197

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf ein internationales und interdisziplinäres Symposion zurück, das im Oktober 1994 vo

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German Pages 308 Year 1997

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Jüdische Selbstwahrnehmung - La prise de conscience de l'identité juïve [Reprint 2012 ed.]
 3484651199, 9783484651197

Table of contents :
Vorwort
Conférence d’ouverture
Zum Problem der jüdischen Identität
Die Faszination des Hasses. Das Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland. Ein Versuch
Die jüdische Orthodoxie in Deutschland zwischen Westen und Osten
Dezisionismus – Zionismus – Thedaismus. Zum Potential eines genuin jüdischen Aufbruchs
Du refus au ressourcement. Problèmes identitaires juifs en France (1894–1939)
Varianten jüdischer Selbstwahrnehmung in Ungarn
Der Wandel weiblichen Selbstverständnisses in den Lebenszeugnissen jüdischer Frauen
Zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Diktatur
Jüdische Selbstwahrnehmung. Zum Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Großbürgertums
‘Between class and nation’. Jewish workers in Amsterdam, London and Paris, 1880–1914
Jewish Self-perception as shown in English Literature and Art
Proust et la judéité: les destins croisés de Swann et Bloch
Dreyfus in Deutschland. Zur Rezeption der Dreyfus-Affäre
Jüdische Expressionisten: Identität im Aufbruch – Leben “im Aufschub”
“Geborene Schauspieler” – Das jüdische Theater des Ostens und die Theaterdebatte im deutschen Judentum
Kantische Vernunft und Jüdisches Selbstbewußtsein
Edmond Fleg – témoin engagé de son temps
André Spire et la conscience juive
Joseph Bloch (1871–1936). Ein Vorkämpfer der deutsch-französischen Freundschaft im Zeitalter des Rationalismus
“Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht.” Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen
Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kafka, dem Juden
Personenregister

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Conditio Judaica

19

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Jüdische Selbstwahrnehmung La prise de conscience de l'identité juive Herausgegeben von Hans Otto Horch Charlotte Wardi

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jüdische Selbstwahrnehmung = La prise de conscience de l'identité juive / hrsg. von Hans Otto Horch ; Charlotte Wardi. - T ü b i n g e n : Niemeyer, 1997 (Conditio Judaica ; 19) ISBN 3-484-65119-9

ISSN 0941 -5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort Claude Vigée Conférence d'ouverture

IX

1

Heinrich Simon Zum Problem der jüdischen Identität

15

Hans Keilson Die Faszination des Hasses Das Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland Ein Versuch

27

Mordechai Breuer Die jüdische Orthodoxie in Deutschland zwischen Westen und Osten

45

Gerhard Biller Dezisionismus - Zionismus - Thedaismus Zum Potential eines genuin jüdischen Aufbruchs

55

Jacques Eladan Du refus au ressourcement Problèmes identitaires juifs en France (1894-1939)

77

Péter Varga Varianten jüdischer Selbstwahrnehmung in Ungarn

83

Monika Richarz Der Wandel weiblichen Selbstverständnisses in den Lebenszeugnissen jüdischer Frauen

99

Arnold Paucker Zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Diktatur

111

VI

Inhaltsverzeichnis

Werner E. Mosse Jüdische Selbstwahrnehmung Zum Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Großbürgertums

129

Karin Hofmeester 'Between class and nation' Jewish workers in Amsterdam, London and Paris, 1880-1914

137

Pauline Paucker Jewish Self-perception as shown in English Literature and Art

149

Henri Raczymow Proust et la judéité: les destins croisés de Swann et Bloch

161

Thomas Sparr Dreyfus in Deutschland Zur Rezeption der Dreyfus-Affare

169

Hanni Mittelmann Jüdische Expressionisten: Identität im Aufbruch - Leben "im Aufschub"

181

Hans-Peter Bayerdörfer "Geborene Schauspieler" - Das jüdische Theater des Ostens und die Theaterdebatte im deutschen Judentum

195

Christoph Miething Hermann Cohen Kantische Vernunft und Jüdisches Selbstbewußtsein

217

Emmanuel Bulz Edmond Fleg - témoin engagé de son temps

231

Marie-Brunette Spire André Spire et la conscience juive

239

Walter Grab Joseph Bloch (1871 - 1 9 3 6 ) Ein Vorkämpfer der deutsch-französischen Freundschaft im Zeitalter des Rationalismus

251

Norbert Oellers "Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht." Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen

263

VII

Tuvia Rübner Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kafka, dem Juden

275

Personenregister

285

Vorwort

Auf dem Weg von Jerusalem nach Galiläa unterhalten sich zwei gute Bekannte - der englische Geheimdienstbeamte Irmin und der aus Holland stammende streng religiöse Schriftsteller Dr. de Vriendt - über die Schönheit Palästinas und die Sehnsucht, die sich für Juden aus aller Welt mit Zion verbindet. Die Rede kommt auf die religiöse und politische "Zerspaltenheit" der Juden, die de Vriendt als ganz normalen Vorgang, sozusagen als "Stoffwechsel" jedes lebendigen Organismus empfindet: D i e Konservativen oder Agudisten und die Nationalen oder Zionisten, o b w o h l scharf gegeneinander, bildeten einen g e m e i n s a m e n Kern, verglichen mit den Organisatoren der Liberalen in allen Ländern, den locker in G e m e i n d e n verbundenen Familien-Juden und den ganz und gar abgesplitterten, zahllosen Individuen, die zu ihrer Herkunft überhaupt kein anderes Verhältnis hatten als das, für ihr Judentum zu leiden. [...] Und ununterbrochen, j e d e Stunde, bröckelten von dieser äußersten und sprödesten Schicht Scharen einzelner v o m Judentum überhaupt w e g . V i e l gute Jugend lief zu den Kommunisten, auch Amerika war ein böser S c h m e l z k e s sel, und neuerdings Mitteleuropa, besonders Deutschland.'

Das Zitat findet sich in Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim, 1932 nach einer Orientreise des Autors geschrieben und zweifellos einer der wenigen deutschsprachigen Romane, in dem eine kompetente Sicht der Conditio Judaica im allgemeinen, der Situation in Palästina im besonderen vermittelt wird. Mehr als zwei Jahrzehnte zuvor hatte Arthur Schnitzler in seinem Roman Der Weg ins Freie ähnlich unvoreingenommen über das Problem der jüdischen Existenz, der nebeneinander bestehenden Varianten jüdischer Identität gehandelt. Auch die Leitidee des vorliegenden Bandes ist die Frage nach den Facetten jüdischer 'Identität' - allerdings vorwiegend unter dem Aspekt jüdischer 'Selbstwahrnehmung'. Unter dem dreisprachigen Titel "La prise de conscience de l'identité juive", "Jüdische Selbstwahrnehmung", "Jewish self-perception" fand vom 2. bis 6. Oktober 1994 im Centre Européen (Kirchberg, Luxemburg) ein internationales und interdisziplinäres Symposion statt, das von der Biblio-

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Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim. Roman. [Bandbearbeitung: Julia Bernhard]. Berliner Ausgabe Romane/4. Berlin: Aufbau-Verlag 1996, S.103f.

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Vorwort

thèque Nationale Luxembourg organisiert wurde. Die wissenschaftliche Betreuung lag beim Lehr- und Forschungsgebiet Deutsch-jüdische Literaturgeschichte des Germanistischen Instituts der RWTH Aachen (Prof. Dr. Hans Otto Horch), beim Department für hebräische und vergleichende Literatur der Universität Haifa (Prof. Dr. Charlotte Wardi) und beim Leo Baeck Institute London (Prof. Dr. Werner Mosse, Dr. Arnold Paucker). Die Perspektivierung soll auf die Vielzahl von Weisen aufmerksam machen, sich individuell und kollektiv als Jude wahrzunehmen, wobei sich das wie auch immer realisierte Judesein selbst in einem dichten Geflecht weiterer sozialer Rollen und kultureller Identitäten vollzieht (grundlegender Beitrag zum Begriff der Identität von Heinrich Simon). Bei einer isolierenden Betrachtung des Sachverhalts durch die Forschung droht der Begriff der 'jüdischen Identität' gelegentlich eine Monumentalität zu gewinnen, die mit der Lebbarkeit menschlicher Existenz kaum noch etwas zu tun hat. Die Fragestellung wäre also dergestalt zu spezifizieren: Welche Varianten gab es in Mitteleuropa im Zeitraum zwischen etwa 1870 und dem Dritten Reich bzw. dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, sich persönlich wie kollektiv als Jude wahrzunehmen und ggf. zu definieren? Welche Unterschiede gibt es in verschiedenen Ländern Mitteleuropas einerseits, in sozialen Gruppierungen andererseits? Und schließlich: Welche Ausdrucksformen haben Dichter und Schriftsteller für diese facettenreiche Problematik gefunden? Die Beiträge des Bandes, die zum Teil in überarbeiteter Gestalt, zum Teil in der ursprünglichen Vortragsform vorgelegt werden, beziehen sich auf das jüdische Leben in Deutschland, Frankreich, England, den Niederlanden und Ungarn.2 Dabei treten charakteristische Unterschiede in der Selbstwahrnehmung der jeweiligen Judenheit zutage, die mit der differenten politisch-sozialen und kulturellen Situation der einzelnen Länder und Sprachräume zusammenhängen. In Frankreich z.B., wo im Zuge der Französischen Revolution 1791 die Juden zuerst prinzipiell die vollen Bürgerrechte erlängt hatten, wird die 'Affäre Dreyfus' zum zentralen Ausgangspunkt neuer jüdischer Selbstreflexion. Nicht von ungefähr sind es Schriftsteller wie Marcel Proust, Bernard Lazare, Edmond Fleg oder André Spire, die in ihrem Werk Facetten neuen jüdischen Selbstbewußtseins zum Ausdruck bringen (Beiträge von Claude Vigée, Jacques Eladan, Henri Raczymow, Emmanuel Bulz, Marie-Brunette Spire). Aber auch im deutschsprachigen Raum bewirkte die Affare ein Umdenken: Nicht nur war sie der unmittelbare Anstoß für Theodor Herzl zur Ausarbeitung seiner Idee eines jüdischen Staats; auch bei Hermann Cohen (Christoph Miething), Walther Rathenau, Franz Kafka, später dann - in der Fokussierung auf

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Margarita Pazi (Tel Aviv) hatte einen Beitrag über das jüdische Selbstverständnis tschechischer Autoren zugesagt, konnte diesen aber wegen einer schweren, schließlich im Februar 1997 zu ihrem Tod führenden Krankheit leider nicht mehr fertigstellen.

Vorwort

XI

das Problem jüdischer Intellektualität - bei Walter Benjamin oder Hannah Arendt ist ein deutliches Echo auf die Affare zu vernehmen (Thomas Sparr). Ungarn auf der anderen Seite ist geprägt durch die geographische Lage an der Nahtstelle zwischen West und Ost; so sind dort assimilatorische Prozesse ebenso wesentlich wie das Beharren auf traditioneller Religionsübung, insbesondere aber zeigt sich die Faszination chassidischer Frömmigkeit, wie sie in weiten Teilen Osteuropas bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus typisch gewesen ist (Péter Varga). Grundlegend für die Frage jüdischer Selbstwahrnehmung sind Religion und Philosophie, insofern Judentum ohne den Rekurs auf die religiöse Basis historisch gesehen nicht definierbar ist. Dabei kommt der Frage des Verhältnisses von Christen und Juden, die weithin von Haß bestimmt war, eine zentrale Bedeutung zu (Hans Keilsori). Der spezifische Ort der jüdischen Orthodoxie in Deutschland läßt sich zwischen 'Westen' und 'Osten' festlegen, d.h. als eine Art Synthese von 'westlich'-europäischer Akkulturation und 'östlichem' Festhalten an der religiösen Tradition (Mordechai Breuer). Ob und inwieweit etwas von dieser religiösen Substanz auch im Prozeß der Säkularisation noch spürbar ist, ist eine der zentralen Fragen in den meisten Beiträgen. Unmittelbar thematisch ist sie z.B. in der Konzeption des politischen Zionismus durch Theodor Herzl, die in ihrem nationalen 'Dezisionismus' verblüffende Analogien zum 'Thedaismus' aufweist, also zu Isaac Breuers Konzept "Thora im Derech Erez Jißrael" {Gerhard Biller). Signifikante Unterschiede jüdischer Selbstwahrnehmung lassen sich in unterschiedlichen sozialen Gruppierungen ausmachen. Sie sind in nicht unwesentlichem Ausmaß vom generellen Selbstverständnis dieser Gruppen abhängig, also vom Status als Großbürger ( Werner Mosse) oder vom Status als Arbeiter (Karin Hofmeester) bzw. von den länderübergreifenden Idealen der Arbeiterbewegung (Walter Grab über Charles Bloch). So haben auch die jüdischen Frauen Anteil an der bürgerlichen Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zu der sie einen wesentlichen Beitrag leisten (Monika Richarz). Und auch die verschiedenen jüdischen Jugendbünde zur Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reichs stehen zweifellos mehrheitlich in der Kontinuität der allgemeinen Jugendbewegung dieser Zeit; zugleich aber, häufig geleitet von charismatischen Persönlichkeiten, treten jüdische Fragen in den Vordergrund, etwa ein säkularjüdischer Nationalismus sozialistischer Prägung, ein auf Deutschland bezogener Antifaschismus und jüdisch-traditionelle Religiosität {Arnold Paucker). Medien jüdischer Selbstreflexion waren vor allem die Literatur, das Theater und die bildende Kunst. Über die bereits genannten Beiträge zu Proust, Fleg und Spire hinaus stehen in fünf weiteren Beiträgen poetisch-künstlerische Verarbeitungen jüdischer Selbstwahrnehmung im Mittelpunkt, wobei das Spektrum von einem allgemeineren Überblick über Literatur und Kunst in England

XII

Vorwort

(Pauline Paucker) über eine epochale Betrachtung jüdischer Expressionisten (Hanni Mittelmann) und eine Analyse der sich am jüdischen Theater des Ostens entzündenden Theaterdebatte im deutschen Judentum (Hans-Peter Bayerdörfer) bis zu Interpretationen einzelner Werke jüdischer Autoren wie Else LaskerSchüler und Franz Kafka reicht {Norbert Oellers und Tuvia Rübner). Eine das Symposion begleitende Ausstellung war unter dem einprägsamen Motto "Dem suchenden Leser unserer Tage" einem der wichtigsten jüdischen Verlage im Deutschland unmittelbar vor und während des Dritten Reiches gewidmet: dem Schocken Verlag Berlin. In seinem erstaunlich reichhaltigen Programm, dessen Realisierung unter schwierigsten Bedingungen in nur wenigen Jahren gelang, zeigen sich vielfaltige Facetten jüdischer Selbstwahrnehmung und jüdischer Selbstbehauptung; so bietet der separat erschienene Essayband zur Ausstellung eine Art Spiegelung der Gesamtthematik im Verlagsmedium.3 Hans Otto Horch

Le présent volume réunit les travaux présentés au Colloque international et interdisciplinaire organisé par Dr. Claude Weber (Bibliothèque Nationale du Luxembourg) et qui a eu lieu du 2 et 6 octobre 1994 au Centre Européen Kirchberg, Luxembourg, avec pour responsables scientifiques le Prof. Dr. Hans Otto Horch (Lehr- und Forschungsgebiet Deutsch-jüdische Literaturgeschichte des Germanistischen Instituts der RWTH Aachen), le Prof. Dr. Charlotte Wardi (Département de Littérature Hébraïque et de Littérature Comparée (Université de Haifa), le Prof. Dr. Werner Mosse et le Dr. Arnold Paucker (Institut Leo Baeck, Londres). L'interrogation des chercheurs porte sur la 'Prise de conscience juive' individuelle et collective en Europe entre 1870 et 1939. Les recherches étudient l'identité juive d'un point de vue historique, philosophique ou religieux ainsi que les relations entre Juifs et Chrétiens. On y trouve également d'analyses de l'évolution des perceptions de la 'judéïté' conséquente aux identifications sociales et culturelles dans les pays d'Europe. De 1789 à l'Affaire Dreyfus l'intégration de la majorité de la judaïcité française dans la société se poursuivait sans interruption malgré l'antisémitisme traditionnel et celui de la gauche rationaliste et anticléricale qui le prit en charge au milieu du XIXème siècle. Enthousiastes, sûrs des droits acquis, faisant confiance à la République les Juifs considéraient leur émancipation comme acquises, ils s'éloignaient de plus en plus de la foi de leur pères et seule la dis3

Der Schocken Verlag / Berlin. Jüdische Selbstbehauptung in Deutschland 1931-1938. Essayband zur Ausstellung "Dem suchenden Leser unserer Tage" der Nationalbibliothek Luxemburg. Hg. von Saskia Schreuder und Claude Weber in Verb, mit Silke Schaeper und Frank Grunert. Berlin: Akademie Verlag 1994.

Vorwort

XIII

parition des communautés juives de plus en plus désertées semblait à craindre. Toutes les carrières étaient ouvertes aux Juifs - du moins officiellement. Cependant ils s'éloignaient de plus en plus de leur foi et de leur tradition jugées désuètes. Aussi, l'Affaire Dreyfus qui remettait en question l'efficacité de l'assimilation les bouleversa-t-elle profondément et entraîna une réflexion sur le judaïsme, sur l'identité juive et la situation du Juif dans la cité. L'exemple de Bernard Lazare écrivain anarchiste est particulièrement signifiant. Avant l'Affaire il voyait dans le particularisme juif la cause de l'antisémitisme. La vague de haine qu'elle provoqua l'amena à revenir sur cette position et à s'engager corps et âme dans la défense de Dreyfus. Elle persuada aussi ce militant de l'internationalisme de la nécessité pour les Juifs de retrouver leur identité. Les écrivains juifs ou ceux qui se considèrent comme tels représentent ces problèmes dans leurs oeuvres qu'analysent Henri Raczymow, Marie-Brunette Spire, Jacques Eladan. Le poète Claude Vigée évoque son enfance au sein d'une famille juive d'Alsace et la quête d'une écriture poétique susceptible d'exprimer son être juif, français et alsacien. Cette quête qui fut aussi celle du poète André Spire demeure essentielle pour les grands écivains juifs jusqu'à nos jours. L'Affaire dépassée l'image mythique de la France engendrée par la reconnaissance, l'admiration pour sa culture et une certaine idée de la grandeur française se retrouvent identique à tel ou tel détail près aussi bien dans la plupart des oeuvres littéraires que dans les articles et déclarations des écrivains juifs français; identique aussi dans l'attachement aux valeurs républicaines, l'amour total et la fidélité inconditionnelle qu'ils vouent à la patrie. L'assimilation qui revêt des formes diverses se poursuit, elle aussi, pendant l'entre-deux-guerres même si, avec la recrudescence de l'antisémitisme et la montée des fascismes, l'interrogation sur la destinée spirituelle et politique des Juifs se fait plus intense et plus passionnée. Charlotte Wardi Daß das Symposion und die begleitende Ausstellung möglich wurden, ist der Generosität der Bibliothèque Nationale Luxembourg, vertreten durch ihren damaligen Leiter Dr. Jul Christophory, zu danken; auch die Drucklegung des vorliegenden Bandes wurde von der Bibliothèque Nationale finanziell unterstützt. Gedankt sei ferner dem Fonds culturel national und dem Ministère des Affaires Culturelles (Luxembourg) für die gewährte Unterstützung. Die Mühsal der Organisation des Symposions hat Dr. Claude Weber auf sich genommen; ihm sowie Saskia Schreuder, Frank Grunert und Silke Schaeper sei herzlich für ihre tatkräftige Unterstützung gedankt. Ohne die Hilfe des Aachener Teams, insbesondere von Till Schicketanz und Marc Houben, wäre der vorliegende Band nicht zur Druckreife gelangt; auch ihnen gilt unser Dank. Aachen und Haifa, im Juni 1997

Die Herausgeber

Claude Vigée

Conférence d'ouverture

Ce soir, nous allons inaugurer un colloque très savant, très sérieux, mais plutôt que d'ajouter à ces communications universitaires, je vais vous raconter des histoires. En guise de prélude à nos travaux, je voudrais vous proposer de revivre ensemble ce soir quelques épisodes de mon passé, quelques expériences-clefs de l'histoire d'un jeune Juif d'Alsace que j'étais autrefois, il y a soixante cinq ans, histoires vécues à la campagne, dans les années vingt à trente de notre siècle. Par le détour de mon récit tout personnel, certains thèmes généraux de notre colloque seront mis en relief qui, je l'espère du moins, nourriront plus amplement notre réflexion au cours des journées qui vont suivre. Je suis issu d'une famille juive alsacienne de la classe moyenne et très assimilée, du moins du côté de mon père. Les parents de ma mère étaient d'origine plus modeste, en fait des villageois. Il est intéressant de constater combien les villageois juifs d'Alsace, les "Dorfjuden", se sentaient peu concernés par le sionisme, bien que leurs ancêtres, vu l'éducation qu'ils avaient reçue, eussent été, jusqu'au début du siècle, si profondément juifs. Ils restaient naïvement campagnards dans leurs coutumes. Quant à la famille de mon père, elle avait quitté vers 1790 déjà le milieu rural, d'où mon grand-père maternel était directement issu. Ma mère se rappelait très bien sa propre enfance villageoise. Les souvenirs citadins, transmis par mes aïeux paternels, remontaient au milieu du XVIII e siècle. Ils s'étaient installés un peu plus tard dans ma petite ville natale, Bischwiller, en Basse-Alsace, et là, ils étaient devenus des bourgeois respectés et aisés, après la chute de Napoléon 1er, pendant la Restauration, et surtout, sous le règne de Louis-Philippe. Les sentiments religieux primitifs avaient disparu à l'époque où j'étais enfant - j e suis né en 1921. Ils ne furent pas remplacés par le sionisme. Cependant les membres de ma famille demeuraient conscients d'être juifs. Ce souvenir s'était quelque peu émoussé, mais il survivait de façon étrange dans les moeurs familiales qui nous rendaient différents des Gentils de notre entourage. Nous étions, je pense, juifs, parce que nous n'étions ni catholiques, ni protestants, dans un milieu entièrement catholique ou protestant. A demi émancipés déjà de la synagogue, nous restions surtout (je parle de mes parents) agnosti-

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Claude Vigée

ques et perplexes, plutôt que relégués à vie dans une zone bien précise du monde social ou professionnel extrêmement cloisonné qui nous entourait. Le souvenir du ghetto primitif s'était estompé tout de même, cent trente ans après la Révolution française. Dans les petites villes, pour autant que je m'en souvienne, certaines personnes remplissaient les boîtes bleues du Keren Kayemethle-Israël. Cependant ces troncs de quête ne possédaient à nos yeux aucune signification idéologique véritable. Dans ma maison paternelle par exemple, il n'y avait jamais eu de boîte bleue. On pouvait en trouver dans d'autres familles juives qui étaient moins assimilées au milieu laïque dominant que la nôtre, et qui observaient les mitsvoth, les commandements, plus scrupuleusement que nous. Alors chaque année, garçons et filles, nous étions dépêchés à travers les rues de Bischwiller par le rabbin Lyon qui, soit dit en passant, était très antisioniste. Et pourquoi nous expédiait-il dans les maisons? C'était pour vider ces boîtes bleues au domicile de leurs possesseurs. Cela se faisait d'habitude à Pourim, en l'honneur de la reine Esther et du loyal Mardochée. Nous allions donc, par groupes de deux ou trois gosses, de maison en maison, razzier en grande cérémonie les tirelires du Keren Kayemeth-le-Israël, le fonds de développement pour Israël. Et pour notre peine, car c'était là le motif profond de nos activités, on nous offrait partout des beignets de Pourim, "Pourim-Kichelich", ces minuscules boules dorées et croustillantes enneigées de sucre en poudre. La vie de la plupart des familles juives était très pittoresque. Pour moi, c'était l'occasion, vers huit ans, dix ans, douze ans, de jeter un coup d'oeil à l'intérieur de chacun de ces foyers juifs où l'on vivait encore au rythme des temps anciens. Je me souviens de l'un d'entre eux avec une affection toute particulière. À cette époque, j'appelais "tante" toutes les vieilles dames juives de Bischwiller. Tante Hermanee n'était ni très propre, ni très ordonnée. Au dire des mauvaises langues, il y avait toujours du fouillis dans sa maison, ce qui la rendait scandaleusement célèbre dans toute la ville. Je me rappelle à quel point j'étais fasciné lorsqu'elle tirait soudain un énorme panier à linge plein de "Pourim-Kichelich" de dessous de son lit de vieille veuve, en faisant voler au passage des troupeaux entiers de moutons de laine frisés tissés de poussière épaisse. Sans l'ombre d'un doute, ces Juifs qui, comme les membres de ma famille, avaient vécu en Alsace pendant douze ou quinze générations au moins, dont trois siècles ou presque sous domination française, avec des aléas bien sûr, tous ceux-là se croyaient intégrés et confortablement assimilés, malgré l'affaire Dreyfus. Chose étrange, la plupart d'entre eux demeurèrent dans ce sentiment optimiste même après le règne hitlérien. Comme on peut le voir par là, les leçons contradictoires de l'histoire européenne s'oublient et s'apprennent avec une égale difficulté. Marie, la vieille servante attitrée de ma grand-mère paternelle Coralie m'avait traîné à l'église en cachette, quand j'étais petit. J'y ai perçu, de façon très ambiguë il est vrai, l'ostentation naïve du culte catholique qui s'exhibait encore innocem-

Conférence d'ouverture

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ment dans ces années-là. Les cloches, les choeurs, l'orgue, l'encens, le chant latin, les images, les cierges, les statues peintes et bariolées. Il n'y avait guère alors de télévision. Le cinéma n'était pas pour nous, les petits enfants, le théâtre restait fort rare à la campagne. Quand Marie m'emmenait clandestinement à l'église pour la messe dominicale, j'assistais là-bas à un spectacle doré qui me venait d'une autre planète et qui me distrayait grandement. Le revers orthodoxe juif de cette pieuse mais très hérétique médaille chrétienne, c'était pour moi l'office à la synagogue. J'y étais conduit aux grands jours de fête par mes parents, par mes grands-parents, et là, j'assistais à une représentation d'un ordre très différent. Dans un espace nu, éclairé par des rangées de lustres cristallins, dominés par les tables de la Loi portant le Décalogue en pierre, gravé en hébreu, et les deux lions de Juda, sculptés, à la belle crinière bouclée, aux gros yeux ronds, à la fois redoutables et débonnaires, couronnant les deux colonnes torses de chêne massif qui gardaient l'Arche sainte - au milieu de tout cela résonnaient de longues psalmodies nasillardes, des cantilènes reprises par les fidèles sans accompagnement d'orgue, ni de choeurs. Sur l'estrade, sur l'almemor, officiait le vieux hazane, le chantre Abraham Lévi, soutenu par toute la communauté qui chantait à tue-tête, comme il se doit, dans une langue stridente, étrange, l'hébreu biblique ancestral, rudement articulé et malmené par des Juifs alsaciens de la campagne, qui d'ailleurs, pour la plupart, n'en comprenaient pas un traître mot, tout en sachant le siddour par coeur. Un peu comme le latin dans l'église, c'était là encore un langage clos, un idiome exotique et intime à la fois. Les hymnes de notre synagogue ashkénaze étaient pour la plupart fortement rythmés, semblables, je crois, à des marches militaires prussiennes ou bavaroises du temps de Bismarck. Fût-ce dans la confession collective des péchés d'Israël, le matin de Yom Kippour, "al 'heth she 'hatanu", l'influence culturelle germanique avait corrompu jusqu'au nigoun venu d'Orient, dans la vieille et bonne tradition juive ashkénaze qu'était la nôtre. A Roch Ha-chanah et à Kippour, je raffolais de la sonnerie rauque et haletante de la corne de bélier, le chofar. Je me délectais de la quadruple prosternation de l'assemblée des hommes d'Israël, tombant à plat ventre, le front dans la poussière, sur les dalles du grès rouge usé, enveloppés dans leurs grands châles de prière frangés en laine noire et blanche, aux moments les plus dramatiques de la liturgie du Grand Pardon. À la fois saugrenues et terrifiantes, ce sont là des impressions d'enfance ineffaçables où la grandeur et la drôlerie se mêlent inextricablement. Pour exprimer l'âme profonde de leur véritable milieu naturel et social, les jeunes Alsaciens ruraux d'aujourd'hui, surtout dans les couches populaires chrétiennes, ne sont plus servis que par une langue dialectale très fragmentée, très appauvrie. Ce sont de vagues échos d'un monde englouti déjà corps et âmes, les rappels du drame, qui a frappé mes parents, dépossédés de la langue véhiculaire ancestrale authentique. Pour manifester des nuances de pensée et de sentiment autrement inexprimables, je me sers encore parfois de tournures de

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Claude Vigée

phrases entières de ce yiddish-daitsch, de ce dialecte juif, à peu près complètement perdu aujourd'hui, avec l'exode de nos Juifs hors de nos campagnes et les effets de la Choah. Autrefois, dans l'Alsace de mon enfance, on voyait de nombreux calvaires dressés en rase campagne, à la croisée des chemins. Les croix de pierre étaient souvent très belles, ornées de sculptures qui dataient de deux ou trois siècles. J'avais envie de les contempler quand j'étais gosse. Leur étrangeté me plaisait. Mais mon grand-père maternel, Léopold, celui de Seebach, le Juif paysan, m'ordonnait de ne jamais m'arrêter devant ces croix, aux carrefours des sentiers. Je devais passer outre, en détournant rapidement la tête, même si je leur lançais à la dérobée un petit coup d'oeil inquiet et ravi. Non, il ne fallait surtout pas y attacher mon regard, disait-il. C'était la peur d'être fasciné par cette chose qui n'avait pas de nom, cette chose inerte, haute et immobile, comme un spectre apparu en plein air, à quelque distance de la terre, au milieu des récoltes de houblon, de blé, d'orge ou de colza, et qui se découpait là-haut, dans le ciel, à contre-jour, en le barrant d'un X funèbre, comme une brisure dans l'unité lumineuse du monde créé. C'est ainsi que mon grand-père maternel voyait la chose. '"Chass ve 'halila", s'écriait alors mon grand-père. Pour exorciser cette menace latente, il jetait les bras en avant, les paumes grandes ouvertes, en invoquant les bienfaits réunis de la grâce, '"chass" en hébreu, et de la distance divine, '"halila", qui seule nous en protégerait. Il avait donc très peur de ces Christs baroques cloués sur les calvaires en grès rouge des Vosges. On avait coutume, entre Juifs, d'appeler cette apparition inquiétante en pleins champs: "e gemolter daule". C'est du judéo-alsacien. Le premier mot est d'origine germanique, "gemolt" vient de "gemalt", "peint", "colorié". L'autre, "daule", vient d'un mot hébreu corrompu qui signifie pendu, "talui". Instruits par l'expérience bimillénaire des persécutions et des brimades subies en terres de diaspora chrétienne, dans notre douce Alsace comme ailleurs, mes aïeux se gardaient bien de mentionner nommément Jésus le Nazaréen sur la croix. Au contraire, ils disaient '"chass ve 'halila", ça veut dire "Dieu nous en préserve!" Ils avaient peur. Et nous, nous désignions toujours cette figure étrange par une litote prudente. On l'appelait "l'homme qui est suspendu", celui qui n'appartient ni à la terre, ni au ciel. Comme la peinture populaire accentuait souvent les traits magnifiquement sculptés, profondément creusés, du visage du Christ, soulignant tantôt son aspect cadavérique, funéraire, ou au contraire sa beauté tout angélique et céleste, on l'appelait tout simplement "le pendu peint". Dans cette expression curieuse se manifestait aussi, je crois, la réprobation juive devant l'idole de pierre bariolée qui violait l'interdit biblique dans l'Exode, chapitre 20, versets 4 et 5 "Tu ne te feras pas d'image taillée ni de représentation quelconque des choses qui sont en bas sur la terre, qui sont en haut dans le ciel." Mais il y avait encore autre chose, je crois, dans la peur de mon grand-père. Pour comble de scandale, ce personnage crucifié, suspendu et peint, représen-

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tait non seulement une idole archaïque, mais un jeune Juif mort. Ça, mon grand-père le savait. Un jeune Juif mort. C'était à ses yeux un double mal. Car il levait aussi vers lui des yeux compatissants, il le plaignait d'être accroché làhaut. Et pourtant, dans la tradition juive, selon le livre des Nombres, chap. 19, "Celui qui touchera un mort, un corps humain quelconque, sera impur". Cela aussi jouait dans la terreur de mon grand-père. Mon aïeul ne plaisantait pas avec les aléas de l'existence juive. Or dans la tradition juive, met a distance ce qui touche à la mort et aux choses de la mort. Si je puis dire, la mort n'est pas "casher". Elle s'allie à une orientation d'être exclusivement mauvaise, elle trahit un égarement condamnable. Tout contact avec la mort ne peut que rendre impur selon la tradition un enfant d'Israël plein de vie, de joie et de santé, comme je l'étais à sept ou huit ans. Bref, ce qui a trait à l'anéantissement doit être soigneusement évité et fui. Il ne faut surtout pas lui vouer un culte, ne jamais se laisser gagner par la nostalgie de la mort. On trouve quelque chose de cela dans la forte parole de Jésus dans l'Évangile: "Laissez les morts enterrer les morts". Voilà ce que m'enseignait aussi à sa façon mon grand-père Léopold de Seebach. Or ce n'était pas un homme très lettré. Il faisait penser à un Hercule de foire plutôt qu'à un docteur de la Loi. Mais ce colosse hébreu, un peu primitif, plein de naïveté, de tendresse humaine, m'apprenait également - et c'était la seconde partie de sa théologie - que je ne devais jamais me coucher par terre dans la cuisine, ni me rouler sur la table de la salle à manger. Pourquoi n'avaisje pas le droit de me vautrer librement comme le font tous les autres garçons de mon âge, sur le plancher de chêne bien ciré et sur les vieux meubles en noyer massif de la maison paternelle? Parce qu'on rejoint le premier interdit. Parce que dans le rite funéraire d'Israël ce sont les morts que l'on étend au ras du sol, dans leur cercueil fait de simple bois de pin, taillé en losange. On dépose par terre les cadavres enroulés dans le tallith après lui avoir coupé les franges, les tsitsiyyot, et après les avoir lavés à grande eau et revêtus de leur tunique de lin blanc, sur une planche posée entre deux chevalets. Et les pauvres morts attendent là, après l'unique veillée funèbre, l'heure hâtive, jamais assez prompte dans la tradition juive, des obsèques. Alors, tant qu'on n'est pas mort, opinait mon aïeul, à la suite de tous les sages du Talmud de Babylone qu'il n'avait jamais lu, alors tant qu'on n'est pas mort, il ne faut ni se coucher par terre, ni s'allonger sur une table. Léopold ne pouvait m'expliquer exactement les motifs théologiques ou métaphysiques de ce tabou, mais nous en devinions fort bien dans le non-dit la nature profonde. Lui non plus, Léopold, à quatre-vingts ans sonnés, ne tenait à se coucher par terre trop tôt, pour y passer sa dernière nuit mortuaire parmi les vivants de ce monde. En tout cas, il en parlait le moins possible. La pensée de ce qui allait se produire, une fois réduit à l'état de gisant privé de souffle et de langage, bref le contraire du vivant qui parle, "ha-'haï hamedaber" de l'Écriture, tout ça déclenchait en lui le réflexe du silence. Tout au

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plus s'exclamait-il: "Futsi geborès" - c'est du judéo-alsacien, et cela veut dire "immonde", - quand on causait devant lui de maladés mortelles ou de cadavres en décomposition. Il ne voulait pas en entendre parler. Que celui qui sait, comprenne! Moins on en dira, et mieux cela vaudra. Voilà l'éducation juive que j'ai reçue à la maison. Mais j'avais aussi une éducation juive à l'école, même dans les écoles. Notre rabbin Lyon était un petit homme bedonnant, au visage osseux, que terminait une barbiche poivre et sel clairsemée et taillée en pointe. Il portait un faux col raide, un pince-nez d'acier luisant, des chaussures noires ferrées à l'ancienne mode, surmontées d'une tige à gros lacets de coton brun croisés. Il se rendait au collège classique en redingote à basques flottantes qu'il boutonnait jusqu'au cou. C'était pour nous initier aux principaux épisodes de la Bible, ce qu'on appelait l'histoire sainte, et nous apprendre à compter le temps de l'Omer en hébreu, entre la fin de la Pâque et la veille de la Pentecôte juive. Nous n'étions qu'une douzaine d'enfants d'Israël, filles et garçons mêlés, égarés parmi cent trente élèves chrétiens du collège, en majorité protestants. L'enseignement sec et ennuyeux du rabbin comptait hélas pour peu de choses aux yeux des enfants juifs et de la plupart de leurs parents. La religion ancestrale n'était déjà plus un sujet d'études sérieux. Incapable d'imposer la moindre discipline en classe, notre pauvre rabbin nous menaçait comiquement du bout de sa longue canne en acajou brandie sur nos têtes rebelles comme le bâton de commandement de Moïse, notre maître, et il nous lançait des cris répétés: "'Hamor, mamser", ça ne servait à rien. De temps en temps, il réussissait à attraper l'un d'entre nous afin de lui faire réciter sur place l'aventure de Samson et des petits renards, dont ce héros biblique alluma les queues rousses avec les torches flamboyantes. Le reste du temps, caressant sa petite barbe triangulaire avec un geste navrant d'impuissance, le rabbin Lyon subissait docilement nos inventions diaboliques avec, une patience infinie. Dans ses leçons, il n'était question ni du Talmud, ni du Midrash, bien moins encore de la kabbale. Quant à Flavius Josèphe, Yéhoudah Ha-Lévi, Maïmonide, le hassidisme, Herzl, le mouvement sioniste, jamais ces mots-là ne furent même prononcés par notre guide spirituel, pendant toutes les années où nous suivîmes au collège classique ses austères cours d'initiation au judaïsme. La notion même d'une histoire nationale ou mondiale du peuple juif après l'exil de l'an 70 de notre ère, après la ruine du Temple par Titus, tout cela était anathème, semble-t-il, aux yeux du Consistoire israélite de France, entièrement soumis à l'idéologie jacobine depuis l'émancipation de 1791 et les décrets de Napoléon 1er. Pendant la récréation de dix heures au collège, on pouvait voir le rabbin, trapu, pansu, le pasteur, efflanqué, long comme un jour sans pain, et le curé, ensoutané, chargé d'embonpoint, aux joues rubicondes veinées de couperose, faire les cent pas côte à côte dans la cour du collège, en discutant un point délicat de théologie négative ou d'exégèse scripturaire. La scène sortait tout droit

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d'une page de L'Ami Fritz d'Erckmann-Chatrian, écrit plus d'un siècle auparavant. Mais le pittoresque ne pallie guère l'inculture en matière d'éducation religieuse. Sans les deux volumes brochés de l'Anthologie juive d'Edmond Fleg que je recevais rituellement tous les ans au Quatorze Juillet, à la distribution solennelle des prix, pour récompenser mes efforts douteux en matière religieuse juive, sans ces deux volumes de l'Anthologie juive, je n'aurais jamais soupçonné tout seul que la nation juive universelle partageait une histoire commune, possédait une culture immense, un héritage cultuel, littéraire et philosophique prodigieux qui s'étendait sans interruption sur trois millénaires. Un autre élément important dans mon initiation, dans mon entrée dans les arcanes du Temple, c'est évidemment la bar-mitsva. Il y a soixante-deux ans maintenant, notre bon melamed Abraham Lévi, le dernier 'hazane de Bischwiller, m'a initié au mystère du nigoun, de la mélodie immémoriale dans laquelle se cantilaient selon notre rite les versets de la Tora. C'était pour me préparer à gravir les degrés de l'estrade sainte afin d'y chanter à mon tour, à la suite de cent cinquante générations d'aïeux, la section hebdomadaire de la Loi, la paracha, qui marquait la date la plus proche de mes treize ans. Auparavant, en sa qualité de maître d'hébreu, il avait tenté de nous inculquer les rudiments de l'alphabet, en nous faisant ânonner tous les dimanches matins dans une salle de classe de l'école protestante des filles une demi-douzaine de bénédictions usuelles. Il nous donnait des petits coups de sa règle de fer peinte en rouge sur le bout des doigts, jusqu'à ce que nous récitions sans faute les berachoth, les bénédictions sur le pain, le vin, le tonnerre, les éclairs, les nains, les géants, et pour l'ablution rituelle des mains avant les repas. Notre melamed, notre maître d'hébreu, n'était pas très versé en philologie sémitique. Ses leçons d'hébreu tournaient régulièrement au cirque, comme celles que nous donnait au collège le rabbin Lyon chargé de l'histoire sainte. Le 'hazane non plus n'était pas très doué pour la pédagogie! Alors, au lieu d'écouter ce qu'il nous disait, nous préparions clandestinement nos leçons de géographie, nous rattrapions nos devoirs de calcul. Au lieu de nous ramener à l'obéissance, les vociférations de notre maître se terminaient en général par une cavalcade généralisée. Le maître courroucé poursuivait ses disciples à travers la salle de classe. Cela nous tenait lieu, semble-t-il, de transe mystique. A l'école du dimanche, le ministre officiant nous faisait simplement déchiffrer les lettres carrées. Jamais au 'hèder il ne fut question de grammaire, de vocabulaire, d'orthographe hébraïques, jamais la moindre approche du sens des mots, des phrases, de ces portions d'Écriture sainte, de ces prières anciennes apprises par coeur, puis débitées de façon mécanique comme des formules magiques. La ruine du judaïsme dans toute l'Europe occidentale d'avant-guerre, c'est dans la banqueroute suicidaire de l'enseignement juif qu'il convient d'en chercher la cause principale. Il ne fallut guère moins que la Choah pour réveiller quelques âmes singulières de leur sommeil séculaire et pour ramener le coeur des pères vers les fils et le

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coeur des fils vers les pères, selon la grande prophétie de Malachie. Pourtant la bar-mitsvah, c'était du sérieux. La célébration d'une majorité religieuse constituait déjà un événement rare dans notre petite communauté rurale dépeuplée par l'exode dans les grandes villes. Notre bon 'hazane n'épargna aucun effort pour la préparation de la bar mitsvah. Début 1934, j'ai dû être l'un des derniers bar-mitsvé-yinglisch de Bischwiller avant la seconde Guerre mondiale. Pendant le trimestre d'automne qui précéda la bar-mitsvah, j'allais étudier trois fois par semaine chez mon maître Abraham la paracha qui introduit le chapitre six du livre de l'Exode. "Et j'apparus à Abraham, à Isaac et à Jacob" (Vaerà). Il me l'a si bien apprise queje peux encore en psalmodier aujourd'hui les premiers et les derniers versets. Ils comptent parmi les plus profonds, les plus mystérieux, les plus riches de sens de la Bible entière. Car c'est là que le Seigneur se manifeste pour la première fois à Moïse sous sa face cachée, le visage de l'amour et de la miséricorde inscrit dans le tétragramme lod He Vav He, le nom ineffable sous lequel il ne s'était pas encore révélé auparavant aux Patriarches hébreux. Cette paracha inaugurale, n'a cessé d'exercer sur mon être profond une influence déterminante. Dans son nigoun, dans sa mélodie intime, je reconnais l'ébauche de mon destin terrestre. J'arrivais chez mon cher 'hazane vers six heures du soir, après le collège. Je montais quatre à quatre l'escalier de bois étroit, à peine éclairé qui menait à la résidence du ministre officiant au fond d'une cour, dans un vieil immeuble bourgeois assez délabré. Brusquement je passais de l'air humide d'un corridor obscur à la chaleur de la chambrette vivement illuminée où s'entassait par les grands froids d'automne l'hospitalière famille Lévi au grand complet. Le feu pétillait dans le petit poêle de fonte rougi à blanc sur lequel bouillait déjà la soupe aux poireaux odorante ou la soupe aux lentilles du soir. La suspension à larges volants verts brodés de perles roses était tirée sur la table où les enfants du 'hazane faisaient sagement leurs devoirs. Au milieu d'un canapé majestueux adossé au mur, près du poêle, siégeait en permanence l'aïeule. C'était une petite vieille très sourde, au visage rond, débonnaire, à l'arrière-train épaissi par les ans. Elle portait encore perruque, "Scheitel", selon l'usage des Juives pieuses d'autrefois. Le petit chien criard et les deux chats noirs très amis se livraient à une corrida nocturne entre les pieds des chaises et ceux de la table. Pour m'obtenir un peu de place sur le sofa, le ministre du culte Lévi intimait gentiment à sa belle-mère qui trônait au centre de ce divan: "Eh, pousse-toi un peu de là, mémère, pour que le bar-mitsvéyinglé s'installe et nous chante sa parché!" (parachah). Dans la petite salle de séjour surchauffée régnait à cette heure déjà tardive une ambiance chaleureuse, rustique et bon-enfant. L'aïeule, la mémère, complaisante, lourdement déplacée, le 'hazane s'asseyait à ma droite, une grande bible hébraïque ouverte sur la toile cirée de la table à carreaux rouges et blancs. Alors il me chantait d'affilée mon long passage de l'Exode 6, puis me le faisait répéter vingt fois, mot par mot, verset par verset avec la cantilation d'usa-

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ge, imposée par les ta'amim, les neumes pointés placés tantôt au-dessus, tantôt au bas des gros caractères carrés hébreux. Sur ses indications patientes, je modulais chaque syllabe, imitant fidèlement les moindres inflexions de voix, les arrêts et les reprises de la psalmodie biblique millénaire. Et c'est ainsi que mon maître Abraham m'apprit à cantiler à la perfection la superbe péricope sabbatique "Vaera": Et j'apparus. Sans me vanter, je crois que je ne lui ai apporté aucun déshonneur lorsque j'ai entonné ma portion du Pentateuque au Temple, comme on disait, le matin tant craint et tant espéré de ma majorité religieuse. Je l'ai psalmodiée devant ma famille, la communauté juive locale au grand complet et de nombreux amis chrétiens dans cette vieille synagogue gaiement fleurie de la rue des Menuisiers que les nazis brûlèrent et rasèrent jusqu'au sol en 1941, sept ans plus tard. Notre 'hazane ne possédait pas seulement une voix juste et belle, il savait aussi se servir de sa langue acerbe, afin de remettre à leur place les gens qui se prenaient pour quelqu'un parce qu'ils avaient enfoui un peu plus d'argent que lui dans leur bas de laine. Célèbre pour ses reparties drôles plus encore que pour sa piété à éclipses, le 'hazane sut tenir activement son rang dans notre petite société juive campagnarde jusqu'à l'âge le plus avancé. Combien de fois l'ai-je vu rouler à bicyclette d'un bout à l'autre de la ville, prenant les commandes des fidèles, puis distribuant lui-même les paquets de matsoth, le pain azyme, à chaque famille, avant la fête de la Pâque imminente. C'était encore à cette époque-là des matsoth faites à la main, pas comme aujourd'hui. Elles étaient exquises, rondes, croustillantes, préparées avec toute la rigueur imposée par le rituel pascal, par le boulanger israélite Neimann de Wasselonne. Le 'hazane les distribuait dans toute la communauté, sur son vélo, et dans chaque foyer il recevait pour sa peine un bout de gâteau losangé, parfumé à la cannelle, qu'on appelait Zimmetküche, avec un petit verre de kirsch. Aussi était-il un peu éméché, quand il tanguait sur son vélo rouillé, en rentrant déjeuner chez lui vers midi, sa besogne de distribution de matsoth achevée. A mon avis personne n'a jamais témoigné d'un pareil dévouement à la religion de ses pères. Le 'hazane avait beaucoup de fonctions. Par exemple, il collectait de maison en maison les cotisations annuelles des membres de notre communauté, croyants et impies confondus. Il en profitait bien sûr pour s'enquérir des uns et des autres, mettant son grand nez dans les affaires de tout le monde, colportant les nouvelles passionnantes du petit univers juif, qui lui arrivaient de la Haute comme de la Basse Alsace. Notre 'hazane était pour ses ouailles un véritable bureau de presse, un journal vivant, en chair et en os, sans lequel nul n'aurait appris ce qui se passe en vérité dans les douze tribus d'Israël dispersées par la volonté de l'Éternel, entre Bâle et Wissembourg: mariages, divorces, triomphes scolaires ou financiers, échecs, scandales et catastrophes, banqueroutes, aucun secret ne résistait aux investigations de Maître Lévi. Né à la fin de l'autre siècle et élevé modestement dans un hameau voisin de Bischwiller, grande capitale

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juive qui s'appelait Schirhoffen, il se piquait de parler la langue française dont il n'avait acquis sur le tard que des notions plutôt vagues, avec l'aisance d'un authentique Parisien, ou même d'un Tourangeau. Avant de revenir à Bischwiller en 1924, n'avait-il pas, lui, le 'hazane, exercé avec succès ses fonctions de ministre officiant durant une bonne dizaine d'années dans les Vosges, de l'autre côté de la frontière linguistique alsacienne? "Dans ma jeunesse" m'affirmait-il souvent d'un air convaincu, "dans ma jeunesse, je barlais le franzais gomme une bohème." C'était ainsi! A mes yeux amusés, une seule chose était sûre: sa maîtrise du yiddish-daitsch, du patois judéo-alsacien, de la région de Schirhoffen ne souffrait aucune concurrence. Pour lui, comme pour moi, c'est cela qui comptait vraiment dans la vie d'un homme de mérite. Mais pendant ce temps-là l'histoire avançait - elle avançait à grands pas. Et avec l'histoire, la catastrophe européenne. Nous n'avions qu'à ouvrir la radio de Stuttgart. Nous pouvions entendre les émissions en allemand, et parmi elles, dans les années trente, la voix enrouée du "Führer" qui hurlait dans nos maisons. Les insultes, la moquerie, la haine se déversaient sur les Juifs d'Europe occidentale. Cela me fit prendre conscience plus que toute autre chose, dans mon petit domaine préservé, protégé, du terrible destin d'Israël dans l'histoire. Puis les réfugiés juifs affluèrent d'Allemagne. Nous les vîmes de nos propres yeux passer chez nous, arriver dans nos villes, dans nos villages, chassés, ruinés, spoliés, dépouillés de tout. Nous entendîmes ce qu'ils racontaient. Il fallait être sourd et aveugle ou se cacher la tête dans le sable comme l'autruche, pour ne pas comprendre, pour ne rien savoir. Eh bien, beaucoup de nos compatriotes juifs se comportaient précisément ainsi. Leur attitude s'expliquait en un sens. Tous ces récits étaient trop tristes, trop pénibles à écouter. On préférait donc se boucher pieusement les oreilles, en attendant de voir repartir ces réfugiés juifs allemands vers des cieux plus cléments. Vers l'Amérique par exemple, ou même, qui sait, en Palestine, pour les plus fous d'entre eux. Au printemps 1936 éclatèrent partout en France les grèves sur le tas, fomentées, encouragées, soutenues par le gouvernement de front populaire. A Bischwiller, petite ville industrielle, également, les troubles sociaux furent très violents. Des ouvriers en grève, furieux de la résistance que les patrons opposaient à leurs revendications syndicales, la plupart fort justifiées, assiégèrent les villas des propriétaires des usines textiles. Ils pensaient les faire céder en les réduisant aux abois. Les propriétaires des usines horrifiés par ce qui leur arrivait, et qui n'avaient été capables ni de prévoir, ni de prévenir ces conflicts, cherchèrent sur le champ un bon bouc émissaire pour lui faire porter le poids de leur mal. Il était tout trouvé, puisque le chef du nouveau gouvernement de front populaire, Léon Blum, avait l'avantage inespéré de joindre sa qualité de rouge, de socialiste, ou, comme disait la presse bien-pensante de l'époque, de bolchevique enragé, à celle d'un Juif libre-penseur, honni par cent générations de bons et honnêtes chrétiens de France. Dans les milieux des gens comme il faut on

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cria vite haro sur le baudet. Les Juifs en général, Blum en particulier, furent blâmés par les patrons, déstabilisés pour les choses terribles qui se passaient à Bischwiller comme ailleurs dans le monde, sous leurs yeux impuissants et indignés. Mais ce qu'on nous reprocha surtout, c'est que désormais la petite vie pépère et tranquille ne pouvait plus continuer comme devant. A en croire les invectives de certaines chattemites en rabat qui tonnaient même du haut de la chaire, c'étaient eux les vrais fauteurs de troubles, ces Juifs déicides et incroyants, ces mauvais esprits, ces penseurs remuants et séditieux, d'où venait tout le malheur du pauvre monde. En plein Front populaire, les principaux parlementaires et élus alsaciens-lorrains, réunis en conclave à Strasbourg, lancèrent un appel solennel au peuple français "contre ce gouvernement qui n'est pas la France", selon les termes de leur porte-parole, le député catholique, du parti UPR de Haguenau-Bischwiller, Michel Walter. Cela se passait en 1937. En juin 1940, le maréchal Pétain ne fit que reprendre ces formules vénéneuses. Pour qui savait lire le sens de ces paroles et de ces sentiments, l'ère nazie était déjà à nos portes. L'été venu, les conflits aigus finirent par s'apaiser en surface, car tout le monde partit, pour la première fois dans l'histoire de France, en vacances payées des vacances payées proposées au parlement par le gouvernement Blum, ce gouvernement de fainéants, comme on disait. Cependant, quelques mois plus tard - j'avais quinze ans - j'accompagnai ma mère à la pâtisserie Zimmermann à Bischwiller pour y acheter, dans la rue des Apothicaires, le Kugelhopf dominical, ou bien le Ropfküche à la cannelle que l'on trempe dans le café au lait les matins de fête. Dans la pâtisserie, dont nous étions clients depuis des générations, nous rencontrons une vieille amie de la famille, madame X, l'épouse du directeur d'une des principales manufactures de textile de la ville. Au lieu de répondre comme toujours à notre salut amical, cette dame se tourne du côté des autres chalands et leur tient à notre intention, tout en nous tournant le dos, le discours suivant: "Si un Juif affamé venait mendier chez moi, je ne lui donnerais même pas une miette de pain. Hitler a bien raison de les mettre à la porte de l'Allemagne. C'est une honte de les laisser entrer en France, même à titre de réfugiés temporaires, car ils constituent un danger public pour les honnêtes gens, qu'ils soient protestants ou catholiques." Le discours finissait par ces paroles: "Plutôt Hitler que Blum!" Sur cette déclaration mémorable que je n'ai point oubliée jusqu'à ce jour, la dame sortit de la pâtisserie sans nous accorder un regard, portant avec précaution un magnifique vacherin aux amandes pour le dessert du dimanche. À ce moment-là le siège de sa villa était terminé depuis longtemps, mais le fiel et la colère accumulés pendant les semaines d'épreuves printanières du Front populaire commençaient à s'écouler des lèvres pincées de cette dame. C'est ainsi que les choses se sont mises en place chez nous. La France bien-pensante était prête pour les accords capitulards de Munich l'année d'après, en 1938, la drôle de guerre en 1939/40, la débâcle de juin

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1940, le règne honteux et criminel de Laval et de Pétain. La France bienpensante était prête pour la collaboration avec les assassins nazis, prête enfin pour la déportation des Juifs d'Alsace ou les Juifs d'ailleurs qui seraient bientôt livrés par l'État français légal aux chambres à gaz d'Auschwitz, aux fours crématoires de Treblinka. Près de cinquante membres de ma propre famille, du côté du père et de la mère, ont connu cette fin tragique. Et c'était tous des Juifs alsaciens comme nous. "Plutôt Hitler que Blum!", nous annonçait fièrement madame X à la pâtisserie Zimmermann, en automne 1936. Malheureusement pour nous, nous ne sûmes pas prendre au sérieux l'avertissement de la bonne dame, ni en tirer à temps les conséquences ultimes. Après la guerre, grâce à Dieu, dès 1945, tout est vite rentré dans l'ordre en Alsace. Madame a récupéré sa villa intacte, et son mari a repris, pour quelques années encore, la direction de son usine, jusqu'à la faillite finale. Que dire pour conclure ce périple à travers le temps? Eh bien, je saute par dessus plusieurs décennies. Quand mon père mourut subitement d'une crise cardiaque à Nice, fin janvier 1958, j'étais professeur de littérature comparée aux États-Unis, près de Boston. L'enterrement précipité à Bischwiller selon la coutume juive locale dut avoir lieu en mon absence, en janvier. À ce momentlà, on ne sautait pas encore dans les avions comme aujourd'hui. Mais je revins en Alsace en septembre de la même année 1958, pour assister à la pose rituelle de la pierre tombale, de la matsévah. Et c'était notre vieux 'hazane de toujours, Reb' Abraham Lévi, qui célébra l'office fiinèbre au cimetière juif devant la stèle de mon père et de mes grand-parents réunis dans la mort. Comme midi était proche, le 'hazane psalmodia les prières à fond de train. Il me fit vite réciter un dernier Qaddish. En sortant à la hâte du champ du repos éternel, il me dit, avant de remonter à quatre-vingts ans sur son inséparable bicyclette modèle 1900, à frein arrière automatique: "Tu sais, mon garçon, j'ai devant moi tout le temps du monde. Je ne suis pas pressé de descendre au fond de ce trou glacé, pour y nourrir les vers de terre, les taupes et les rats. Ton pauvre père n'a qu'à s'y débrouiller tout seul désormais. Moi je rentre chez moi. Au déjeuner m'attend un bon pot-au-feu fumant où nagent les quenelles de farine azyme, les matse-knepfele à la moelle de boeuf, sans parler des restes du kougel aux pruneaux d'avant-hier, celui que nous avions dégusté de si bon appétit aux trois repas du sabbat. Amen". Sur ces fortes et édifiantes paroles qui faisaient de lui l'émule du sage Hillel l'Ancien, mon 'hazane acheva son oraison funèbre devant la matsévah en granit noir de mon père. Il me rappelait ainsi dans son langage inimitable la leçon ultime de la Tora qui affirme la primauté de la vie sur la mort, face au destin obscur ou hostile, selon le verset 19 au chapitre 30 du Deutéronome: "J'ai mis devant toi la vie et la mort, la bénédiction et la malédiction. Et tu choisiras la vie, afin que tu vives, toi et ta semence." Une fois encore, la leçon d'existence de mon vieux maître Abraham allait bientôt porter ses fruits. J'étais prêt à faire justement le choix de la vie. J'étais

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presque mûr déjà pour monter en Israël. Et deux années plus tard, jour pour jour, fin septembre 1960, je débarquai du paquebot Jérusalem à Haifa, avec ma famille, armes, sacs et bagages. Et nous entrâmes dans Jérusalem la veille du Yom Kippour 1960, juste avant la tombée de la nuit. Trente-cinq ans après, nous y sommes toujours. Et tu choisiras la vie, afin que tu vives, toi et ta semence. Je vous remercie.

Heinrich Simon

Zum Problem der jüdischen Identität

Nicht unreflektiert habe ich bei der Formulierung meines Themas das Wort 'Identität' gewählt. Es wird in den letzten Jahren - freilich in der aus dem kleinen Kontext eines unvollständigen Satzes durch das Adjektiv 'jüdisch' ersichtlichen Bedeutung - in steigender Häufigkeit gebraucht; ja, ohne Übertreibung können wir 'Identität' als Modewort bezeichnen. Diese Tatsache beansprucht unsere Aufmerksamkeit, und wenn wir das Phänomen kurz betrachten, gewinnen wir vielleicht Anregungen, die das gestellte Problem selbst betreffen. Wir müssen, wenn wir von jüdischer Identität sprechen, uns darüber klar werden, was unter Identität verstanden werden soll, und auch darüber, was jüdisch ist, denn auch das muß begrifflich geklärt werden, weil, wie sich zeigt, im Laufe der Geschichte jeweils anderes unter Juden und Judentum verstanden wurde. Zunächst zu demjenigen, was gemeint ist, wenn die Formulierung 'jüdische Identität' überhaupt sinnvoll sein soll. Wir können davon ausgehen, daß Identität hier nicht im Sinne der Logik zu verstehen ist. Das ontologische Fundament der Logik ist der Satz der Identität, der A = A lautet. Das heißt, jedes Seiende ist mit sich selbst identisch. Und dieses Grundgesetz der Identität jedes Seienden mit sich selbst verliert auch seine Gültigkeit nicht, wenn wir uns mit der Realität des Menschen in seiner genetischen oder historischen Entwicklung befassen. Diese Entwicklung ist durchaus widerspruchsvoll, voller Konflikte, die der Mensch meistern muß. Wenn man den Prozeß des Werdens am Menschen exemplifiziert, so heißt das, daß der neugeborene Säugling A im Laufe einer Reihe von Entwicklungsstufen zum Greis A wird, sich also entscheidend wandelt. Aber trotzdem bleibt dieser Mensch immer dieselbe Person. Auch wenn der Mensch 'ein anderer' wird, wie man einen Prozeß nennt, in dem sich der Mensch beispielsweise moralisch bessert oder überhaupt andere Verhaltensnormen für sein Leben befolgt als vordem, ändert das nichts an der unumstößlichen Tatsache, daß er stets sein eigenes Ich bewahrt. Der Begriff der Identität, der verwandt wird, wenn wir heute von der Identität eines Menschen sprechen, entstammt der modernen Sozialpsychologie und faßt das Individuum in seinen gesellschaftlichen Bezügen, in der Rolle, die es in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen spielt. Der Mensch strebt danach, einen Rahmen zu finden, in dem er sich zufrieden fühlt, einen Kreis, in

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dem er als Person anerkannt wird, mit dem er sich identifizieren kann. Und die moderne Gesellschaft ist, wenngleich nicht überall, so doch jedenfalls in den entwickelten Ländern eine pluralistische Gesellschaft, in der dem Menschen ein gewisses Maß an Wahlfreiheit hinsichtlich seiner sozialen Bindungen zugebilligt wird. Jeder Mensch ist frei, im Gegensatz etwa zu Antike und Mittelalter, wo es Hierachien gab, die ein für allemal feststanden und dem Menschen - sofern er überhaupt als Mensch angesehen wurde - einen festen Platz und eine bestimmte Rolle im sozialen Gefuge anwiesen. Daß die Chancengleichheit und die Wahlfreiheit innerhalb der modernen Gesellschaft weitgehend nur auf dem Papier stehen, ist eine Tatsache, aber immerhin gilt die Gleichberechtigung als Prinzip, während sie in früheren Gesellschaften selbst als Postulat nicht oder kaum existierte. Der moderne Mensch unterscheidet sich vom antiken und mittelalterlichen dadurch, daß er sich den Rahmen, in dem er sein Menschsein realisieren will, in einem gewissen Maße aussuchen kann, daß die Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, ihm nicht vorgegeben ist, sondern von ihm durch seinen Willen akzeptiert wird, indem er 'wir' sagt, wenn er von ihr spricht. Das Individuum identifiziert sich mit dieser Gruppe. Es wäre daher genauer, sprächen wir nicht von Identität, sondern von Identifizierung, denn das ist es, was eigentlich gemeint ist. Es hieße aber das Problem simplifizieren, wenn wir dabei stehenblieben, denn es kommt nun erst auf; wer sich in eine Wir-Gemeinschaft einbezogen fühlt, in ihr verbleiben, ihr die Treue halten will, fragt nun: Womit identifiziere ich mich, indem ich mich mit einer bestimmten Gemeinschaft identifiziere? Diese Frage wird dann - und nur dann - gestellt (als individuelles und als historisches Phänomen), wenn die Definition problematisch geworden ist. Das Selbstverständliche wird nicht reflektiert. Und weil eben das Selbstverständnis des Menschen in moderner Gesellschaft, in noch stärkerem Maße in der sogenannten Postmoderne, als Problematik bewußt wurde, kam auch das Bedürfnis nach einem treffenden Wort auf, und das Substantiv 'Identität' erhielt die neue sozialphilosophische Bedeutung. Nun kommen wir zur Frage: Was ist jüdisch, was ist Judentum, was sind Juden? Erst wenn wir wissen, was darunter zu verstehen ist, können wir über jüdische Identität sprechen. In einer Zeit, als Juden mit aller Selbstverständlichkeit nichts als Juden waren und eine Problematisieryng dieser Tatsache nicht denkbar war, finden wir eine prägnante Selbstdefinition eines Juden: Beim Propheten Jona heißt es im 9. Vers des 1. Kapitels: "Ein Hebräer bin ich, und den Ewigen, den Gott des Himmels fürchte ich, der das Meer und das Trockene gemacht hat." Damit ist zweierlei ausgesagt, nämlich eine Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe und die Beziehung zu einer eigenen Gottheit. Und durch diese zwei Charakteristika sind Juden sowohl in der Antike als auch im Mittelalter gekennzeichnet. Allerdings wandelt sich die Wertigkeit dieser beiden Faktoren. Innerhalb der antiken Welt verstanden sich die Juden als ein Volk, das ebenso wie alle anderen Völker eine eigene Religion hat. Und

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dem entsprach nicht nur die Selbstdefinition, sondern auch die Fremddefinition. Anders gesagt: Die Bezeichnung 'Juden' steht für die Antike parallel zu anderen Völkernamen, wie etwa Babylonier, Ägypter, Griechen usw. In der Welt des Mittelalters waren die entscheidenden Kriterien andere. Die Menschen wurden nach religiösen Gesichtspunkten voneinander unterschieden, d.h. Juden waren im Verständnis ihrer Umwelt dadurch charakterisiert, daß sie Nichtchristen bzw. Nichtmuslime waren. Damit hörten sie natürlich nicht auf, auch eine ethnische Gruppe zu sein. Jedoch fiir ihre Stellung in der Gesellschaft, für ihre meist negative Privilegierung war entscheidend, daß sie sich nicht zur herrschenden Religion bekannten, die zugleich die Religion der Herrschenden war. Jude ist also in der mittelalterlichen Welt ein Korrelatbegriff zu Christ oder Muslim. Für die Neuzeit, die für die Juden erst mit der Emanzipation beginnt, nachdem sie in europäischen Ländern volle Bürgerrechte und -pflichten bekommen hatten, wenngleich hier Theorie und Praxis oft weit auseinanderklafften, gilt der Grundsatz, daß Juden sich entweder in religiöser oder in nationaler Hinsicht und auch unter beiden Aspekten als Juden begreifen konnten und daß auch für die Umwelt einer dieser beiden Aspekte genügte, eine Person als Juden anzusehen. Ich übergehe hier die nationalsozialistische Ausgrenzung von Personen aus Gründen angeblicher jüdischer Rassezugehörigkeit, denn diese Problematik liegt außerhalb meines Themas. Natürlich waren die durch 'Rassegesetzgebung' Stigmatisierten existentiell und essentiell betroffen, und oft erhob sich für sie auch die Frage 'wer bin ich?', 'wohin gehöre ich?'. Sofern sich Menschen unter derartigem äußeren Druck zum Judentum bekannten, sie die Fremddefinition zur Selbstdefinition machten, stellen sie in unserem Zusammenhang kein gesondertes Problem dar. Sofern sie das jedoch nicht taten, ist ihre Identifikation keine jüdische. Wenngleich der Terminus 'jüdische Identität' modern ist, so ist daraus nicht zu folgern, daß es entsprechende Probleme in früheren Menschheitsepochen nicht gegeben hätte. Zuerst wird diese Problematik in der Zeit des Hellenismus manifest, als die Juden in enge Berührung mit der griechischen Kultur kamen. Das gilt sowohl fur Judaea als auch in noch stärkerem Maße fur Alexandria, wo sich ein griechischsprachiges Judentum entwickelte und wo es viele Juden gab, die im griechischen Sinne gebildet waren, Juden, die mit griechischer Literatur und vor allem mit griechischer Philosophie vertraut waren. Alexandria, eine Gründung Alexanders des Großen, war eine Großstadt, in der als einer zunächst traditionslosen Ansiedlung der Charakter des Hellenismus, dieser synkretistischen Kultur, die Griechisches und Orientalisches miteinander verschmolz, besonders deutlich manifest wurde. Während andere Volksgruppen, die dort lebten, völlig in dieser Mischkultur aufgingen, gab es fiir die Juden Grenzen, die sie nicht überschreiten konnten, sofern sie Juden bleiben wollten; denn ihre religiösen Vorstellungen waren von denen ihrer Umwelt

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prinzipiell verschieden. Jüdischer Monotheismus war mit der kultischen Verehrung griechischer Gottheiten unvereinbar. Vor dieser Schwierigkeit standen andere Volksgruppen nicht, die neben den Griechen in Alexandria lebten, denn es war ihnen unschwer möglich, ihre Götter dem griechischen Pantheon hinzuzufügen, sie als dieselben, wenngleich anders benannten Götter zu verstehen, wie andererseits auch die Griechen durchaus in der Lage waren, fremde Götter neben den ihren zu akzeptieren. Die Juden hingegen gerieten, da ihre religiösen Überzeugungen einen Kompromiß ausschlossen, in die gesellschaftliche Rolle einer Minderheit, die sich der Mehrheit nicht vollständig anpaßte und infolgedessen auch Anfeindungen ausgesetzt war. In der hellenistischen Welt finden wir also nicht nur zum erstenmal die Juden als eine Separatgruppe, die sich von ihrer Umwelt, in die sie kulturell integriert war, distanzierte, sondern es entstand auch auf Grund dieser kompromißlosen Haltung das Phänomen des Antijudaismus. In Alexandria ist jüdische Identität zum Problem geworden. Die Frage nach der jüdischen Identität, wie sie sich im Hellenismus erstmalig stellt, betrifft nicht nur den einzelnen, der entscheiden muß, in welchem Rahmen er sein Selbst verwirklichen will, sondern sie ist auch für die Gruppe von wesentlicher Bedeutung; denn sie muß einen Weg finden, wie die jüdische Gemeinschaft jeweils aufrechterhalten werden kann, wie kulturelle Einflüsse, die von außen kommen, aufgenommen und dem Eigenen angepaßt werden können, um so der Gefahr zu entgehen, sich dem Fremden zu assimilieren und damit das Eigene aufzugeben. Was also ist der unverlierbare Kern, der nicht angetastet werden darf, weil andernfalls die Gruppe in ihrer Besonderheit zugrunde ginge, und wie läßt sich auf der Basis der Kultur der Umwelt, die zugleich auch zur eigenen Kultur geworden ist, vor allem auch mit den Mitteln der Wissenschaft der Zeit das Bekenntnis zum Judentum sowohl nach innen als auch nach außen rechtfertigen? Für das alexandrinische Judentum bedeutete dies unter anderem nachzuweisen, daß die Tora, und zwar nicht nur der hebräische Text, sondern auch die allen zugängliche griechische Fassung, göttlich inspiriert sei, daß sie bereits die griechische Wissenschaft enthalte, daß sich im Grunde die jüdische Gottesvorstellung besser mit der griechischen Philosophie in Einklang bringen lasse als der offiziell noch vertretene Polytheismus. Die jüdisch-alexandrinische Literatur ist apologetisch und missionarisch zugleich, und nach innen war sie geeignet, den Bekennern des Judentums Argumente zu liefern, durch die der Stolz auf ihr Bekenntnis geweckt oder gestärkt werden konnte. Seit dem ausgehenden Altertum haben sich fuhrende Geister des Judentums immer wieder der Aufgabe unterzogen, Wege zu zeigen, wie unter sich stets wandelnden Verhältnissen und kulturellen Beeinflussungen Judentum aufrechterhalten werden kann, so daß der einzelne befähigt wird, sich mit Stolz als Jude zu bekennen. In der mittelalterlichen Welt waren die Menschen von ihrer Geburt her Angehörige einer bestimmten Religionsgemeinschaft, und alle ihre sozialen Be-

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Ziehungen waren durch diese grundlegende Bindung bestimmt; innerhalb des Rahmens einer festgefugten Ordnung waren die Menschen genötigt, nach Selbstverwirklichung zu streben. Das Besondere jüdischer Existenz sowohl in den islamischen Staaten als auch in den christlichen bestand darin, daß die Juden jeweils eine Minderheit darstellten, die - selbst wenn sie nicht unter akuten Verfolgungen litten - stets mindere Rechte und höhere Pflichten als die Angehörigen der herrschenden Religion hatten. Und welcher Mensch ist eigentlich bereit, eine inferiore Rolle in der Gesellschaft zu spielen, sofern er nicht die Überzeugung haben kann, sich an Werten zu orientieren, die denen seiner Umwelt überlegen sind? War doch fur Juden aufgrund ihrer Minderheitsrolle die Situation anders als für die Angehörigen der jeweils herrschenden Religion. Sie hatten nicht nur die Freiheit, aus der eigenen Gruppe auszuscheiden, sondern sie hatten von einem solchen Schritt noch dazu meist einen momentanen Vorteil. Es bestand also die Möglichkeit, die bestehende religiöse Bindung aufzugeben und in die Reihen der voll Berechtigten überzuwechseln. Die Juden befanden sich in einer Sonderstellung, so daß von der Gruppe und ihren führenden intellektuellen Vertretern her gesehen das Bedürfnis bestand, Wege zur Bewahrung und Erhaltung der eigenen Gruppe, des Judentums, der jüdischen Identität zu suchen und zu finden. Wir müssen allerdings bedenken, daß das Ausscheiden aus der jüdischen Gruppe zugleich bedeutete, den bisherigen sozialen Rahmen aufzugeben. Dadurch schränkt sich die theoretisch gegebene Möglichkeit des Religionswechsels in der Praxis stark ein. Ohnehin setzt die Unzufriedenheit mit der eigenen Rolle in der Gesellschaft voraus, daß der Mensch über seine Situation nachdenkt, und das vermag eigentlich nur der im Sinne seiner Zeit und seines Ortes Gebildete. Sehen wir von den sowohl im Islam wie auch im christlichen Bereich vorkommenden Zwangsbekehrungen ab, so sind in der mittelalterlichen Welt Konversionen von Juden relativ selten gewesen, und es dürfte nicht nur auf den Mangel an diesbezüglichen Quellen zurückzufuhren sein, daß uns relativ wenige Fälle dieser Art bekannt sind. Und diese Fälle von Übertritten zur herrschenden Religion beschränken sich im wesentlichen auf Personen, die in intellektuellen Berufen tätig waren. Wie sollte denn auch beispielsweise ein Handwerker weiter existieren können, der seinen bisherigen Kundenkreis verliert, wie ein Großhändler, der seine auswärtigen Geschäftspartner nun nicht mehr als Kontaktpersonen hat, wie in den christlichen Staaten ein im Kreditgeschäft Tätiger, wenn er als neuer Christ dieses Gewerbe wegen des kanonischen Zinsverbots nicht mehr ausüben kann? Die geistige Auseinandersetzung mit dem Problem der jüdischen Separatexistenz und die Bemühung, durch die Rechtfertigung des Judentums das Selbstbewußtsein dieser Gesellschaftsgruppe zu stärken, zeigte sich zunächst mit besonderer Deutlichkeit in der islamischen Welt, weil in ihr die Juden stärker integriert waren als in den christlichen Ländern. Das liegt sicher nicht daran, daß der Islam Andersgläubigen gegenüber toleranter gewesen wäre als

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das Christentum. Beide waren an der Ausbreitung der jeweils fur allein wahr erachteten Religion interessiert, beide waren also missionarische Religionen. Übrigens gilt das auch fur das Judentum, wenngleich ihm die Möglichkeit, Angehörige der herrschenden Religion zu bekehren, offiziell verwehrt war. Ein wesentlicher Grund, warum gerade im islamischen Raum sich das Judentum so entfaltet hat, daß es hier - zunächst in Mesopotamien, dann in Nordafrika und besonders in Spanien - zu einer kulturellen Blütezeit der jüdischen Gemeinschaft kam, ist die Tatsache, daß in der islamischen Welt die Juden die Möglichkeit hatten, gebildet zu sein im Sinne des Bildungsbegriffs der Umwelt. Die Juden waren kulturell völlig integriert; wie ihre Umwelt benutzten sie das Arabische als Umgangssprache, aber diese Umgangssprache war auch zugleich die Sprache der Wissenschaft. In den christlichen Ländern hingegen waren Umgangssprache, d.h. die jeweilige Landessprache, und Bildungssprache, die Sprache der Wissenschaft nicht miteinander identisch. Bildungssprache war das Lateinische, und dessen Kenntnis war im wesentlichen auf die Angehörigen des Klerus beschränkt. Den jüdischen Philosophen des Mittelalters ging es vor allem darum, die Lehren des Judentums rational darzustellen und deren Überlegenheit über die anderen Religionen deutlich zu machen, so daß sich die Juden als diejenigen fühlen konnten, die allein im Besitz der Wahrheit waren. Wenn sich ein solches Bewußtsein festigte, dann konnte das dazu fuhren, daß man die tatsächlich inferiore Position innerhalb der Gesellschaft nicht nur leichter ertrug, sondern sogar auf die eigene Sonderstellung stolz war. Wesentliche Anstrengungen wurden auch unternommen, die herrschenden philosophischen Ansichten mit dem Judentum in Einklang zu bringen, denn auch diese konnten dem Bestand der Gruppe gefährlich werden. In diesem Zusammenhang spielt das Problem der Newuchim eine besondere Rolle. Die Newuchim sind vor allem dadurch zu einem Begriff geworden, daß Maimonides sein philosophisches Hauptwerk More Newuchim, Führer der Unschlüssigen, genannt hat. Ein Nawoch, der Singular von Newuchim, ist ein Mensch, dessen Unschlüssigkeit darin besteht, daß er nicht weiß, ob er den Lehren der Philosophie, die in ihrer neuplatonisch-aristotelischen Ausformung nicht nur exakt Bewiesenes oder Beweisbares enthielt, sondern darüber hinaus auch eine Weltanschauung darstellte, folgen solle oder seiner angestammten Religion. Diese Unschlüssigen sind nicht nur die Zielpersonen für den Versuch des Maimonides, hier eine Lösung zu finden, sondern schon vor Maimonides und auch nach seiner Zeit sind die Newuchim verbal oder mindestens der Sache nach der Personenkreis, an den sich jüdische Philosophie vornehmlich richtet. Der Nawoch war also in einer Konfliktsituation, in die er durch seine Beschäftigung mit Fragen der Wissenschaft geraten war. Die Lehren der Philosophie erschienen ihm als weitgehend einleuchtend, doch sie schienen ihm dem Judentum zu widersprechen. Wo lag die Wahrheit? Der Nawoch fand keine Ant-

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wort; er befand sich im Zwiespalt, in einem Zustand, den man heute als Identitätskrise bezeichnen würde. Die jüdischen Philosophen wollten - bei aller Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Lehren - solchen Newuchim einen Weg zeigen, wie sich jüdische Religion mit wissenschaftlicher Erkenntnis vereinen lasse. Wenngleich es sich bei den Newuchim um eine kleine Gruppe, um eine geistige Elite handelte, liegt hier doch ein Problem von erheblicher Tragweite vor. Was konnte denn das Ergebnis dieses Zwiespalts sein? Der Unschlüssige mußte ja Teil der religiösen Gruppe bleiben, selbst wenn er persönlich deren Wertvorstellungen nicht teilte, denn jeder Mensch der mittelalterlichen Gesellschaft war durch die Religionszugehörigkeit definiert. Der Nawoch konnte also im Judentum verbleiben und seine religiösen Pflichten als konventionelle Üblichkeiten erfüllen. Intellektuelle Gründe für einen Religionswechsel gab es für ihn nicht, weil er als Konvertit vor denselben Schwierigkeiten gestanden hätte; die Diskrepanz zwischen religionsgebundener Lebensführung und Zweifel an der religiösen Weltsicht, die nicht auf Vernunft, sondern auf Offenbarung gründete, blieb fur den Nawoch unüberbrückbar. Trotzdem war er ein potentieller Apostat, weil er durch einen Übertritt zur herrschenden Religion wenigstens aufhören würde, zu einer negativ privilegierten Gruppe zu gehören. Wenn sich der Nawoch zu diesem Schritt entschloß, hatte er im Regelfall auch die Möglichkeit, eine Tätigkeit aufzunehmen, deren Ausübung im Interesse der staatlichen Macht oder der herrschenden Religion lag; oft konnte er auch seine bisherige Tätigkeit ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Die Kreise, an die ich denke und aus denen sich die Unschlüssigen vornehmlich rekrutierten, waren etwa Ärzte und Naturwissenschaftler, Übersetzer, Staatsbeamte. Die Gefahr, die der jüdischen Gruppe erwuchs, wenn solche Newuchim aus dem Judentum ausschieden, bestand nicht nur in der Schwächung des Judentums, sondern vor allem darin, daß Renegaten ihre intellektuellen Potenzen im Interesse der herrschenden Religion gegen ihre bisherige Gruppe einsetzen und so eine Situation der physischen Verfolgung der jüdischen Minderheit herbeiführen konnten. So konnte der Nawoch der jüdischen Gruppe gefahrlich werden, wenn es nicht gelang, ihn davon zu überzeugen, daß Wissenschaft und jüdische Religion konfliktlos miteinander vereinbar seien. Was nun die nachemanzipatorische Zeit betrifft, so wurden die Juden in Europa, wenn man von Osteuropa absieht, Staatsbürger von Nationalstaaten, wobei sie die Bürgerpflichten uneingeschränkt übernahmen, während die Gewährung der vollen Bürgerrechte meist viel zögerlicher erfolgte. Ich will die Entwicklung, wie sie sich mir darstellt, an Hand einiger weniger Bemerkungen zum deutschen Judentum erläutern. Dazu besteht auch eine sachliche Berechtigung, weil das deutsche Judentum bis ins 20. Jahrhundert hinein eine geistig führende Position mit starker Ausstrahlung auf die jüdische Welt hatte. Ausgehend von Moses Mendelssohn, der zwar die juristische Gleichberechtigung

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der Juden nicht mehr erlebt hat, aber doch als Symbolfigur der Emanzipation gelten kann, wurde Judentum in seiner Geltung reduziert und auf den privaten Bereich beschränkt. Mendelssohn erachtete das Judentum als Zeremonialgesetz, das die praktische Lebensführung reglementieren sollte. Die geistigen Werte hingegen sollten für alle Menschen unterschiedslos in der Vernunft begründet sein. Mendelssohn ist der Prototyp eines im europäischen, speziell deutschen Sinne gebildeten Aufklärers bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer spezifisch jüdischen, sich von der Umwelt unterscheidenden Lebensweise. Mit der Emanzipation wurde rechtlich das Judentum zu einer Konfession, die in Kultusgemeinden organisiert war. Es entstand in der Folgezeit der Typus des deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens, somit eine neue Definition jüdischer Identität, die analog auch für andere Staaten galt bzw. gilt. Um beim deutschen Beispiel zu bleiben, wird mit dieser Formulierung der Tatsache Rechnung getragen, daß die in Deutschland lebenden Juden sich sprachlich und kulturell völlig an die deutsche Umwelt assimilierten, sofern dieser Prozeß nicht schon vor der Emanzipation stattgefunden hatte, daß sie aber auf der anderen Seite in der privaten häuslichen Sphäre Judentum aufrechterhielten. Das geschah allerdings in unterschiedlicher Weise. Nur eine Minderheit derer, die durch eine Emanzipation von Juden in Deutschland zu deutschen Juden wurden und zu jüdischen Deutschen werden wollten, folgten Mendelssohn in der Hinsicht, daß sie das Zeremonialgesetz in vollem Maße befolgten. Das war der Weg der sogenannten Neuorthodoxie, die wie Mendelssohn die aufklärerische Position der Gleichheit der Menschen als Gleichwertigkeit der Individuen verstand und daraus deren Gleichberechtigung herleitete. Die Mehrheit verstand allerdings nach der Emanzipation unter Gleichheit eher die Gleichartigkeit und bemühte sich folglich, diese auf dem Wege der Angleichung herzustellen. Das Judentum mußte daher, wenn es bei diesem Angleichungsprozeß erhalten bleiben sollte, verinnerlicht werden; nicht mehr in den Lebensformen sollte es seinen Ausdruck finden, sondern im Bereich geistiger Orientierung. So kam es im Judentum zu Bemühungen um eine Reform und im Zusammenhang mit ihr zu den Versuchen, die religiösen Inhalte des Judentums zu bestimmen, die bei aller Angleichung erhalten bleiben sollten. Wir finden als geistigen Ausdruck der Reform im Judentum sowohl das Entstehen der Wissenschaft des Judentums, die wissenschaftliche Aufarbeitung der jüdischen Geschichte und Kultur, als auch die jüdische Religionsphilosophie, das Bekenntnis zu den geistigen jüdischen Werten und die theoretische Rechtfertigung dieser Werte mit dem Ziel, jüdische Identität unter der Voraussetzung zu bewahren, daß die Besonderheit jüdischen Lebens, die Befolgung des Gesetzes, immer mehr zurückgeht. Die deutschen Juden empfanden sich durchaus als Deutsche und erachteten ihre Zugehörigkeit zum Judentum, wie immer sie es verstanden, für keinen Hinderungsgrund, Deutsche zu sein; jedoch wurde diese Position von der

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Umwelt nicht im vollen Maße akzeptiert. Dabei ist nicht zu übersehen, daß das Fremdverständnis nicht ohne Einfluß auf das Selbstverständnis bleibt. Die Hoffnungen auf eine generell anerkannte Gleichberechtigung erfüllte sich nicht, und unter dem Eindruck eines latent vorhandenen und teils auch manifest werdenden Antisemitismus kam es am Ende des 19. Jahrhunderts im Judentum bekanntlich zur Suche nach anderen Lösungen der jüdischen Problematik, und zwar zur Entstehung des Zionismus, des Versuchs einer nationalen jüdischen Renaissance. Diese Idee fand in Deutschland zunächst relativ wenige Anhänger, und selbst diejenigen, die sich zu ihr bekannten, zogen aus ihrer theoretischen Position zunächst nur selten praktische Konsequenzen. Das erfolgte erst nach 1933, als es sich abzeichnete, daß die Errungenschaften der Emanzipation nicht von Dauer waren. Im Rückblick muß festgestellt werden, daß der Versuch, als Jude und Deutscher zu leben, ein tragisches Ende gefunden hat. Für diejenigen, die dem faschistischen Massenmord zum Opfer fielen, bedeutete diese Entwicklung, die sich in dieser Form niemand hatte vorstellen können, eine tödliche Katastrophe, für die, die ihr Leben retten konnten, und für jene, die das Glück hatten, überhaupt nicht im Bereich konkreter Bedrohung zu leben, eine traumatische Erfahrung. Das Leben aller derer, die sich - in welcher Weise auch immer zum Judentum bekennen und über ihre Situation nachdenken, ist heute, fünfzig Jahre nach dem Ende des bisher letzten Weltkriegs, geprägt durch die Erfahrungen des Massenmords an Juden einerseits und durch das Entstehen des Staates Israel andererseits. Aber welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Man mag meinen, Juden könnten in Hinkunft und auf Dauer nicht mehr in Deutschland als Juden und gleichzeitig als Deutsche leben. Doch wenn wir erfahren mußten, daß in der bürgerlichen Gesellschaft ein mitteleuropäisches Kulturvolk wie das deutsche in die Barbarei zurückfiel, dann lassen sich solche Entwicklungen nicht mehr im Prinzip ausschließen und sind in Zukunft auch in anderen hochentwickelten Kulturvölkern nicht mehr undenkbar. Umgekehrt jedoch ist der Unsicherheitsfaktor fur Juden in Deutschland nicht größer als in jedem anderen demokratischen Land der Diaspora. Allerdings muß man einräumen, daß in Deutschland das Verhältnis von Juden zu ihrer Umwelt durch die Vergangenheit immer noch in besonderem Maße belastet ist. Während in der alten Bundesrepublik die psychische Unsicherheit besonders der jüngeren jüdischen Generation, ob man einen Neuanfang wagen könne oder lieber das Land verlassen solle, häufig zu einem Zustand der Heimatlosigkeit führte, wurde im östlichen Teil Deutschlands die jüdische Problematik offiziell kaum beachtet. Die kleinen jüdischen Gemeinden wären damit überfordert gewesen, und für den Staat, der nicht Rechtsnachfolger des alten Deutschen Reiches sein wollte, sondern sich als etwas prinzipiell Neues erachtete, waren alle Individuen in gleicher Weise nichts als Staatsbürger. Man sollte allerdings betonen, daß der Staat - aus welchen Erwägungen auch im-

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mer - an der Existenz jüdischer Gemeinden interessiert war und sie darum finanziell unterstützte. Es sind nun - und das ist für unser Thema von Interesse - in den letzten Jahren zwei Bücher erschienen, die von Ostberliner Autoren herausgegeben wurden und in denen Probleme der Identitätssuche jüngerer Juden behandelt werden. Beide Bände enthalten Interviews, die mit Personen geführt wurden, die nach Nazikriterien Juden bzw. Mischlinge sind. Der eine Band ist von Wolfgang Herzberg unter dem Titel Überleben heißt Erinnern im Jahre 1990 publiziert worden; er behandelt Erfahrungen von Personen, die die Nazizeit bewußt erlebt haben, und betrifft Lebensläufe, die in den Zeitraum fallen, dem diese Tagung gewidmet ist. Die Interviews wurden 1988 und 1989 durchgeführt. In unserem Zusammenhang sind vor allem die Bemerkungen interessant, die der Interviewer zu seiner eigenen Person macht: Er, der 1944 in der Emigration geboren wurde und gleich nach dem Krieg mit seinen Eltern, die überzeugte Kommunisten waren, nach Berlin kam, schildert, daß er von seiner jüdischen Herkunft nichts wußte und während seiner Schulzeit mehr oder minder zufällig davon erfuhr. Eine jüdische Erziehung und Bildung hat er nicht genossen, und er erachtet sich auch heute als Atheisten. Trotzdem hat er sich für seine jüdischen Wurzeln interessiert und hat sich etwa Mitte der achtziger Jahre mit einer Anzahl Gleichaltriger oder Jüngerer, alle Nachkommen von Opfern, zusammengefunden, die sich unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde trafen und auch an kulturellen Veranstaltungen der Gemeinde teilnahmen. In dem zweiten Band von Interviews, den 1993 Vincent von Wroblewsky unter dem Titel Zwischen Thora und Trabant publizierte, handelt sich bei den Befragten um Kinder von Opfern, die Nachfolgegeneration, zu der auch die Herausgeber beider Bände gehören. Die Befragten dieser jüngeren Generation gehören alle zu der erwähnten Gruppe, die sich mit der Frage beschäftigte, ob und wie weit die Mitglieder zu einer Identifizierung mit dem Judentum kommen könnten jund sollten. Aus dieser lockeren Gruppe ist Ende 1989 eine Organisation namens "Jüdischer Kulturverein" geworden, der von der Jüdischen Gemeinde unabhängig ist, wiewohl einige der Vereinsmitglieder auch der Jüdischen Gemeinde beigetreten sind. Wo das nicht erfolgte, sind sie bislang eine Gruppe von Suchenden geblieben, die sich mit jüdischer Problematik auseinandersetzen und auch die dazu nötigen Kenntnisse erwerben will. Nun soll man zwei Bände, die zusammen sechzehn Lebensschicksale enthalten, nicht als repräsentativ verallgemeinern. Trotzdem ist es interessant, daß sich dieser Jüdische Kulturverein gebildet hat, dessen Mitglieder in der Mehrzahl Judentum als eine historische Schicksalsgemeinschaft verstehen und sich in dieser Hinsicht zu ihrer Herkunft bekennen. Sofern sie daraus die Konsequenz ziehen, jüdisches Wissen zu erwerben und dieses in geeigneter Form ihren Kindern weiterzugeben, was ihre Eltern meist versäumten, können solche Menschen, die sich als DDR-Bürger fühlten, sich mit jüdischen Werten identifizieren und so eine neue Identität finden. Wenngleich sie sich nach wie

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vor meist als Atheisten betrachten und auch an einem nationalen Judentum uninteressiert sind, wollen sie Judentum aufrechterhalten und sich zu ihm aus dem Bewußtsein einer historischen Zugehörigkeit bekennen. Das Judentum in der Diaspora ist bedroht, aber der jüdische Staat Israel ist es nicht minder. Ist es im einen Fall die latente Bedrohung durch die, in deren Mitte Juden als Bürger leben, so ist es in dem anderen Fall vornehmlich die Gefahr, die von umliegenden Staaten ausgeht. Weder ein patriotischer Israeli bzw. ein außerhalb Israels lebender dezidierter Zionist noch ein religiös gebundener Jude - sei er orthodox, liberal oder einer noch anderen Richtung verbunden - noch ein religiöser Zionist, der sowohl die nationale als auch die religiöse Seite des Judentums bejaht, wird in der Regel sein Judesein als Problem empfinden. Das Faszinierende besteht darin, daß - und zwar in steigendem Maße - auch Menschen, die weder im religiösen noch im zionistischen Sinne Juden sind, das Judentum bejahen, sich ihm zugehörig fühlen und darin zugleich ein Problem sehen. Eben wegen der Aussagekraft für dieses Phänomen habe ich auf die beiden kürzlich erschienenen Bücher von Herzberg und Wroblewsky hingewiesen. Für weite Kreise scheint sich das Problem dahingehend zuzuspitzen, wie die Identifizierung mit Judentum für atheistische Nichtzionisten als unverlierbarer Aspekt ihres Selbstverständnisses bestimmt werden kann. Ich habe versucht, im Überblick zu zeigen, wie sich jüdisches Selbstverständnis im Lauf der Geschichte gewandelt hat, damit der auf dieser Tagung zu behandelnde Zeitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft eingeordnet ist.

Hans Keilson

Die Faszination des Hasses Das Verhältnis von Juden und Christen in Deutschland Ein Versuch

Die Liebe ist, will man der Operette, die das verkündet, Glauben schenken, eine Himmelsmacht, unwiderruflich. Welche Macht, möchte man dann fragen, verdichtet das Faszinosum des Hasses? Die Hölle etwa? Der Himmel liegt, oder ist, wie allgemein bekannt, oben. Die Liebe kommt demnach, wie der Segen also, von oben. Sie 'erhebt' den Menschen, sowohl den, der liebt, wie auch den, der sich geliebt weiß. Dies 'Sich-in-Liebe-vereintWissen', aktiv oder passiv, schafft Sicherheit, Vertrauen, Wärme, Frieden. Alles in allem: Liebe fühlt erhebend, erbauend, aufbauend. - Wenn die Hölle, ausgestattet mit einem Schlund, aus dem giftige, tödliche Gase aufsteigen, unten liegt, folgt daraus, daß auch der Haß, das Hassen mit den Dämpfen von unten aufsteigt? In welche Richtung zielt am Ende sein Wirken, das, analog den Liebesgefuhlen, 'Sich-im-Hassen-vereint-Wissen' (wenn es so etwas in den Gefilden des Hasses überhaupt gibt), worauf zielt es, nach unten, in die Hölle, den Abgrund? Ist das Faszinosum des Hasses der Abgrund, was in ihm versinkt, zugrunde geht, zerstört am Boden liegt oder bereits vergangen ist? Oder verspürt ein Mensch erst beim Erklimmen eines Berges, wenn er hoch oben angelangt ist und in die Tiefe hinabschaut, im Schwindel der Höhenangst zugleich den Sog des Abgrundes, das Schweben zwischen oben und unten, hoch und tief, den Odem der Hölle etwa? Es nimmt immer wieder Wunder, in welchem Maße sich primäre Kategorien eines verstohlen, magisch-archaischen Weltbildes - in ihm sind die Freund-, aber in noch vehementerem Grade die Feindbilder der nicht-jüdischen Umwelt von der Existenz des Juden angesiedelt - mit den polaren Einstellungen Himmel - Hölle, Liebe - Hass, oben - unten, Tod und Leben wie von selbst einstellen, wenn man die verschiedenen Elemente überdenkt, die zu den Inhalten des eigenen 'Selbst' beigetragen haben, dessen Wahrnehmung zur Diskussion steht. Bereits Alexander Mitscherlich hat nach den in der Weihnachtsnacht 1959 begonnenen antisemitischen Ausschreitungen im damaligen West-Deutschland in seiner vor der BBC gehaltenen Rede formuliert: However civilised it may pretend to be, antisemitism is an archaic form o f social behaviour. Whatever may cause it in a single instance, it is always based on magical thinking.

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Wer sich als Jude, der viele Dezennia deutscher und europäischer Geschichte bewußt erfahren hat, mit dem Problem der Judenfeindschaft zwischen Juden und Christen befaßt, sieht sich nicht nur der paradoxen, aber gleichwohl heilsamen Aufgabe gegenüber, zwei psychologische Phänomene: 'Vorurteil' und 'Haß' ohne Vorurteil und Haß zu reflektieren, soweit dies überhaupt menschenmöglich ist. Er wird sich außerdem mit den Fragen der Selbstwahrnehmung und des Selbstverständnisses des jüdischen Individuums im deutschen und europäischen Raum auseinandersetzen müssen, seine Rolle als 'Sündenbock' betreffend, wie sie ihm durch seine Umwelt vorurteilsbedingt vordefiniert und aufgezwungen wurde. Man wird dann auch gewahr, wie die christianisierten europäischen Völker diesem manifest oder latent in ihnen lebenden Vorurteil im Verlauf ihrer Geschichte in stets anderer und auch unterschiedlicher Form Ausdruck verliehen haben und wie leicht das diskriminierende Vorurteil in Haß, Verfolgung und Vernichtung umschlägt, ein psychologisch simples deutbares Phänomen, das in seiner Vehemenz bekannt ist und oft unterschätzt wird. Eine Bemerkung zuvor. Wir haben bewußt den 1879 von Wilhelm Marr geschaffenen Begriff 'Antisemitismus' nicht gebraucht. Er erscheint uns pseudowissenschaftlich, verharmlosend und deckt bei weitem nicht mehr die Ladung, was 'Judenhaß' durch die Jahrhunderte zu Wege gebracht hat. Er erweckt den Eindruck, als sei Judenhaß ein Phänomen der Moderne, entstanden aus den gesellschaftlichen Strömungen des letzten Jahrhunderts. Diesem Mißverständnis kann nicht deutlich genug entgegengetreten werden. Hinzu kommt die unleugbare Tatsache, daß das vorliegende Unternehmen retrospektiver Natur ist. Das geschichtliche Endergebnis steht fest: die Vernichtung der jüdischen Minderheitsgruppen in Deutschland und mit ihnen, was die jüdische Gemeinschaft in den verflossenen Jahrhunderten trotz allem in guten und bösen Tagen an ideellen und materiellen Gütern individuell und kollektiv im deutschen Raum hervorgebracht hat. Man kann darüber mit Gefühlen von Trauer berichten, oder voller Wut und Haß, mit Ressentiments, in der vielleicht unbewußten Zielsetzung, Geschehnisse korrigieren zu wollen. Es wird nichts nützen. Das jüdische Selbstverständnis hat alle diese Modalitäten in seine Erwägungen einzubeziehen, auch die Vernichtung der jüdischen Gemeinschaften in den von den deutschen Truppen besetzten Ländern. Die Geschichte der Juden in deutschen Landen ist, oder korrekter: war zwar nur ein unbedeutender Faktor in der Geschichte des deutschen Volkes und war hierin dem zahlenmäßigen Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ähnlich. Er betrug 1935 ungefähr 0,75%, während indessen neun Zehntel aller Juden in der Welt des Deutschen mächtig waren - darum nannte man sie auch 'aschkenasische' - meistens in seiner damaligen mittelalterlichen Form. Der Einfluß der Umwelt auf die Entwicklung und Gestaltung des 'Selbst' eines Menschen durch die Sprache und was sie vermittelt, kann schwerlich überschätzt werden.

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Auch dies gilt für die jüdische Gruppe als Ganzes und für den jüdischen Einzelnen. Die verschiedenen Zeitalter der deutschen Geschichte haben, wie im Wüstensand, auch in der Geschichte der Juden ihre Spuren hinterlassen. Desto größer die Notwendigkeit, nicht nur die grausamen Fakten der Geschichte aufzulisten, sondern sich auch auf die hinter ihnen wirksamen Triebfedern zu besinnen, auch bietet eine Deutung noch keinen Trost. Im Gegenteil, selbst die Erinnerung an Kooperationen in der Vergangenheit, an Bündnisse, Freundschaften und Errungenschaften ist geätzt mit den Schwaden der Vernichtung. Was sind das für Zeiten, könnte man mit Bert Brecht sagen, daß man nicht mehr fragen kann, ob Sigmund Freud sein Werk auch in einem anderen Sprachraum hätte schaffen können, da dem Schweigen der Ermordeten keine Antwort zu entnehmen ist? In psycho-soziologischen Handbüchern wird zu Recht ausgeführt, daß das Vorurteil auch das Verhältnis von anderen Gruppen zueinander bestimmen kann, wie etwa die Beziehungen zwischen weiß - farbig, protestantisch - katholisch, arm - reich, und daß dieses Verhalten eng zusammenhängt mit dem Auftreten von Minderheiten in bestimmten kulturhistorischen und Krisensituationen. Wenn man sich einmal näher mit der Rolle befaßt, die das Vorurteil im Leben des Einzelnen wie auch in dem von Gemeinschaften spielt, dann bemerkt man erst die Schwierigkeiten, die einer psychologischen Definition des Judenhasses im Wege stehen, zumal man sich auch vorstellen kann, daß bereits die Anwesenheit einer jüdischen Minderheit, die sich selbst als 'das auserwählte Volk' verstanden hat, in den christianisierten, europäischen Völkern von jeher ein etwas verwirrendes, anmaßendes Bild gestiftet hat. Zugleich erkennt man jedoch die Virulenz einer menschlichen Haltung, die seit den Kreuzzügen, kirchlichen Segregations-Entschließungen mit Ghettoisierungen und 'gelbem Fleck' auf Kleidungsstücken, über spanische Schmerzbänke, Luthers Brief Über die Sabbatäer an einen guten Freund, einem gehässig halbleisen Geflüster im Salon und die Protokolle der Weisen von Zion bis zum Stürmer und der 'Juden- und Rassengesetzgebung' schließlich zu dem allen führt, wofür 'Auschwitz' steht. Für den Historiker und den Soziologen ist diese nackte Aufzählung von historischen, judenfeindlichen Manifestationen gewiß unannehmbar. Sie können darauf hinweisen, daß bestimmte judenfeindliche Manifestationen, etwa die des Mittelalters, nicht ohne ihren sozio-kulturellen Hintergrund betrachtet werden dürfen, weil eine Epoche, in der bereits einfacher Diebstahl mit 'Rad und Galgen' bestraft werden konnte, krankhaften Vorstellungen von Dämonenfurcht, Hexenwahn, Angst vor ansteckenden Krankheiten und ähnlichem leichter anheimfiel. Gewiß, wenn man die Geschichte des Judenhasses studiert, kann man verschiedene Grundmotive unterscheiden, das religiöse, das ökonomische und das politische. Dabei muß man betonen, daß schon im Ausgangspunkt ein Unterschied besteht zwischen Judenverfolgung, um 'Christi Blut zu rächen', und

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Verfolgungen aus biologisch-rassischen Scheinlehren, in denen sich, zu spät von den Kirchen erkannt, ein neues Heidentum zu konstituieren versuchte. Den Psychologen jedoch interessiert in erster Linie der feindliche Unterton und die Kreation eines Sündenbockes, die alle bisher erwähnten Geschehnisse miteinander verbinden. Das Studium der Geschichte des Judenhasses lehrt, daß die erwähnten Formen, Motive und Aspekte nur als Kulissen gesehen werden können, zwischen denen, bei einer mit jedem Bild sich verändernden Umgebung, immer wieder dasselbe Stück aufgeführt wird, nämlich das Drama des menschlichen Vorurteiles und Hasses. Dieser feindliche Unterton klingt bereits bei der ersten Konfrontation beider Parteien, und zwar im religiösen Umfeld, mit und bestimmt auch weiterhin ihr Verhältnis. Schon im alltäglichen Leben wird uns das Phänomen des Sündenbockes in verschiedenen Entwicklungsstadien vorgeführt. Das kleine Kind, das sich bei seinen Versuchen, die Außenwelt zu erkunden, zu erobern, zu kontrollieren, an einem Tische stößt, erlebt den Tisch als den Schuldigen für seine motorische Unvollkommenheit. Seine Wut und sein Haß richten sich in erster Instanz auf den Sündenbock Tisch. In einem anderen Entwicklungsstadium wird ein Kind, das an enuresis nocturna leidet, seinen Bär, der bei ihm schläft, als den Schuldigen anweisen und bestrafen. Die psychotherapeutische Praxis bestätigt, daß jeder Mensch dazu neigt, die Schuld für seine Konflikte, Fehler und Versäumnisse bei anderen zu suchen. Auf diese Weise befreit er sich von eigenen Schuldgefühlen und von Gewissensfragen nach seiner eigenen Beschaffenheit, seinen eigenen Schwächen. Warum, so lautet dann die Frage, sind das Vorurteil und der Haß gegen die Juden in der Geschichte so konstant geblieben? Lassen Sie mich dieses wichtige Problem nur kurz streifen, ohne auf die alttestamentarisch-religiösen Wurzeln, die Funktion des Sündenbockes betreffend, der mit den Sünden der Gemeinschaft beladen, in die Wüste geschickt wird, näher einzugehen. Der Opfertod des Sündenbockes tilgt eigene Schuld. Von welcher Seite man sich diesem Problem auch nähern will, von der religiösen, ökonomischen oder politischen, die Juden haben in allen Zeiten die Rolle des Sündenbockes spielen müssen. Das Mittelalter sah sie als Hexen, Mörder, Kannibalen, sie hatten alle nur denkbaren Abnormitäten, sie repräsentierten den Teufel, den Widersacher der Schöpfung. In seinem ABC of Scapegoating hat G. W. Allport (Chicago 1944) vier Gesichtspunkte als Bedingungen für das Schaffen eines Sündenbockes herausgestellt: 1. der Sündenbock muß leicht zu unterscheiden sein, 2. er muß leicht erreichbar sein, 3. er darf nicht zurückschlagen können, 4. er muß bereits früher Sündenbock gewesen sein, so daß schon ein kleiner Vorfall den feindlichen Unterton zur heftigen Aggression anschwellen lassen kann.

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Alle diese vier Punkte wurden von den Juden erfüllt. Die Bedeutung der Errichtung des Staates Israel fallt außerhalb dieses Referates. Neulich fragte ich eine Bekannte, ob sie mir eine Definition des Begriffes 'Haß' geben könne. Ohne Zögern antwortete sie: "Haß, das ist Un-Liebe." Als ich sie darauf fragte, was denn dann 'Liebe' sei, sagte sie etwas zurückhaltender: "Aber das weiß doch jedes Kind." In Meyers Lexikon aus dem Jahre 1901 fand ich unter dem Stichwort "Haß" folgende Beschreibung: Haß, als Gegensatz der Liebe (s.d.) die zum Affekt bez. zur Leidenschaft gesteigerte Abneigung, welche, wie alle Affekte, bei genügender Stärke auch äußerlich (in Haltung und Miene) zum Ausdruck kommt. Dem Hassenden ist der Anblick, ja oft schon der Gedanke an die Existenz des Gehaßten unerträglich, er sähe denselben am liebsten völlig vernichtet, und dieser Wunsch setzt sich bei gebotener Gelegenheit leicht in Taten um. Der höchste Grad des Hasses wird dabei "tödlicher" Haß genannt, und sehr treffend hat Darwin den Ausdruck des Hassens in Parallele gestellt mit der Haltung eines zum Angriffbereiten Tieres. Ist dabei das Gefühl des Widerwillens bis zum physischen Ekel gesteigert, so wird der Haß zum Abscheu. Der Haß als Leidenschaft kann sich aus einfacher, auf der Kollision oder dem Gegensatz bestimmter Interessen beruhender Gegnerschaft entwikkeln, indem das Bewußtsein der Veranlassug allmählich verschwindet und nur der angeregte Affekt zurückbleibt (so enden Rechts- und andere Streitigkeiten mit grimmigen Haß), die aus einer ursprünglichen, dem Hassenden selbst unerklärlichen Antipathie (s.d.) hervorgehen. Welche Funktion, individuell oder kollektiv, besitzt dann der Haß in der Existenz des Judenhassers? Bereits in dieser Formel liegt die Schwierigkeit beschlossen, der sich der Untersuchende gegenüber sieht. Denn sein präwissenschaftlicher Ausgangspunkt ist, daß es sich beim Judenhaß um eine Wechselbeziehung handelt, um ein spezifisches Verhältnis zwischen Juden und Christen, bei dem beide Parteien, und nicht nur in Deutschland, durch die Jahrhunderte hin, als Individuen und als Kollektive einander zugeordnet waren. Es läßt sich demnach nicht vermeiden, daß, wenn man über dieses Verhältnis spricht, man einen Diskurs auf zwei Ebenen führt: auf der kognitiven Ebene realer, rechtlicher, sozialer, politischer Ereignisse und auf der Ebene psychologischer, vorbewußter und unbewußter Einstellungen, Vorurteile, Symbolformungen, Phantasien und Wahnideen. Die Spannung zwischen diesen beiden Niveaus findet ihren Niederschlag in der Darstellung realer, d.h. in der Realität abgelaufener Aktionen und Reaktionen in Verbindung mit der Interpretation psychologischer Haltungen zum Teil magischen Inhaltes und archaischer Denkmuster. Es wird schwierig sein, den Zusammenhang zwischen diesen beiden Ebenen einsichtsvoll aufzuspüren, ohne das Kausaldenken nicht übermäßig zu strapazieren. Das Thema des vorliegenden Referates gewährt demnach in der Vielschichtigkeit seiner Fragestellungen auf verschiedenen Ebenen und seiner heutigen

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zeitgeschichtlichen Gebundenheit zugleich Hypothesen, Spekulationen und Fehleinschätzungen reichlich Spielraum, und zwar nicht nur hinsichtlich der Deutung von Interaktionsprozessen zwischen beiden Parteien im allgemeinen, sondern auch im besonderen in deutschen Landen. Die Entwicklung des Christentums aus dem Judentum - die ersten Christen waren Juden - machte ihr Verhältnis in psychologischer Hinsicht so verwikkelt, wie es oft der Fall ist bei einer zu großen Affinität in einer Ausgangssituation. Die Bekehrung des europäischen Kontinentes zum Christentum hat jedes Individuum und jede Nation mit dieser Affinität in Berührung gebracht und mit der an sie gebundenen diskriminierenden Beurteilung der Rolle der Juden. Die oberflächlich interpretierte Funktion der Juden als Verräter und Mörder hat ebenso oberflächlich den Weg gebahnt zur Errichtung eines Vorurteils, das von Geschlecht zu Geschlecht durch Tradition und Unterricht überliefert wird und das unabhängig neben dem Erleben der eigenen Religion bestehen konnte. Außerdem konnte mit diesem Vorurteil ein Stück Aggression instrumentalisiert werden, eine psychologische Prämisse für das Funktionieren jedweder Gruppe, jedoch insbesondere der einen, in der das Gebot, die Nächsten und selbst die Feinde zu lieben, zentral gestellt wurde. Man darf dieses Gebot in seinen psychologischen Konsequenzen und in seinem moralischen Appell nicht geringschätzen. Der holländische, katholische Dichter und Philosoph Anton van Duinkerken sprach von dem "Gebot zur Nächstenliebe in der Ordnung der Feindschaft". Nietzsche von einem "SklavenAufstand der Moral", von einer "Umkehrung aller Werte". Dieses Gebot wendet sich in erster Instanz gegen die aggressiven Triebäußerungen - homo homini lupus est - und vor allem gegen ihr ungehemmtes Ausleben gegenüber Schwächeren, wie es in der Mentalität des Dschungels zutage tritt. Es hängt eng zusammen mit der primären Feindseligkeit der Menschen untereinander, mit der Bedrohung durch den Untergang, die zu allen Zeiten über der Menschheit hing. Ihre Beherrschung ist ein Opfer, das der Mensch für den Aufbau der Kultur bringen muß. Kann der Haß, und hierin den Gefühlen der Liebe ähnlich, nicht auch vom Hasser erhebend, erbauend erfahren werden? Ist Heinrich von Kleists poetischer Appell "Schlagt ihn tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht" nicht auch zugleich der Ausdruck eines Gefühles von Erhabenheit, Souveränität, eines Gefühles, das Kleist in seinem eigenen und privaten Leben nur schwerlich besessen hat? Dabei entstehen viele Fragen, die man triebpsychologisch als das polare Verhältnis von aggressiven zu zärtlichen Gefühlen auffassen kann. Diese Formel läßt sich auf beinahe jedes Verhältnis von Individuen und Gruppen zueinander anwenden. Mit der Notwendigkeit, Aggressionen zu ventilieren, verbindet sich die Forderung, ein passendes Objekt zu finden, das als Zielscheibe dienen kann. An diesem Punkt wird man unwillkürlich an den Aus-

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spruch von Sigmund Freud erinnert: "Man fragt sich nur besorgt ab, was die Sowjets anfangen, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben." Hier erhebt sich die Frage, ob Freuds Aussage nicht auch die Konsequenzen, die das Verhältnis von Verfolgern und Verfolgten bestimmt, in einer neuen Form erscheinen läßt, nämlich von Auf-einander-angewiesen-sein, Einander-nötig-haben. Das Thema ist in seinen Variationen unerschöpflich. Der fatalen Rolle nachzuspüren, die der Haß in den Gefilden des Vorurteils im 'Heiligen römischen Reich deutscher Nation' seit ungefähr 1096, dem ersten Auftreten der Kreuzritter, durch die Jahrhunderte in wechselnder Gestalt spielt, und den Niederschlag in den Erinnerungsspuren der jüdischen Individuen und der jüdischen Gruppe zu erwägen, gelten die folgenden Ausfuhrungen. Aber diese werden in ihrer Eindeutigkeit durch geschichtliche Tatsachen differenziert und dadurch kompliziert. Es gab - sei es auch vereinzelt - bereits in dem oben erwähnten, frühen Verhältnis auch 'Schutzsituationen', 'Privilegien', 'Toleranzedikte 1 . Rüdiger, Bischof von Speyer (1073-1090), siedelte beispielsweise nach dem Brand des Mainzer Judenviertels 1084 einen Teil der Mainzer Juden in Speyer an, "um das Ansehen unserer Stadt tausendfach zu vermehren", verlieh ihnen Rechte und Privilegien, die Kaiser Heinrich IV. später bestätigte. In Rothenburg und Nürnberg versuchten um 1300 Teile der Bürgerschaft die Juden der Stadt, wenn auch erfolglos, gegen die von Rindfleisch initiierten Massaker zu beschützen. Dem Rat der Stadt Regensburg gelang es damals "die Judenverfolgungen abzuwehren". Nach seiner Krönung in Aachen legte König Albrecht einigen Städten hohe Bußen auf, der Rat der Stadt Nürnberg verbannte einige Aufrührer. Was sagen uns, ohne ihre Bedeutung übertreiben zu wollen, im Rahmen unseres Themas diese einzelnen Beispiele aus dem Mittelalter heute, nach den Erfahrungen im 20. Jahrhundert? Aus der Sicht der Anzahl der damaligen Opfer betrachtet erscheint ihre Aussagekraft äußerst gering. Es besteht kein Zweifel: auch damals stand die Anzahl der überlebenden Juden in keinem Verhältnis zu der Zahl der Opfer. Aber im Spektrum des Beziehungsrahmens beider Gruppen - Verfolger und Verfolgte - bietet sich ein Phänomen an, das außer der Frage nach dem Stellenwert des Vorurteiles und Hasses im Umfeld ihres Wirkens auch die Frage nach der Faszination des Hasses genauer stellt. Die Streitgespräche zwischen Kirche und Synagoge, die zahlreichen Publikationen, die durch die Zeitläufte hin über das Thema erschienen sind, lassen uns die Spannungen ahnen, die immer in diesen Konfrontationen verborgen lagen. Es handelt sich für den Judenfeind, so paradox es auch klingen möge, gar nicht um die Juden als eine in der Diaspora lebende Gruppe, gegen die er sich richtet. "Die Judenfeinde kennen die Juden nicht", sagt Charles Peguy, der Judenfeind habe ein abstraktes Bild des Juden, destilliert aus der prälogischen Existenz seines Vorurteils, in dem die allgemeinmenschlichen Neigungen, zu

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generalisieren, zu simplifizieren und Naturkräfte oder ganze Nationen zu personifizieren, sich ausleben. Für den Gläubigen bestand innerhalb der christlichen Kirche die Möglickeit, seine verbotene Aggressivität auf einem anderen, tolerierten Niveau zu äußern, beispielsweise im Bekehrungseifer gegen die Ungläubigen, die Abtrünnigen und den Sündenbock. Für die Kirche mit ihrem zentralen Gebot der Liebe erhebt sich die spezielle Frage, wie sie dieses Gebot in Übereinstimmung bringen kann mit den notwendig sublimierten oder nackten Taten von Aggression, ohne in Konflikt zu kommen mit ihren eigenen Prämissen. Die Entlastung aggressiver Neigungen spielt im seelischen Haushalt eine nicht zu verharmlosende Rolle. Sigmund Freud meinte, daß "gerade benachbarte und einander auch sonst nahe stehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten" und auf diese Weise zweierlei Ziele erreichen: einmal eine relativ harmlose Befriedigung ihrer Aggressionsneigung und zweitens eine größere Kohäsion ihrer eigenen Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang erwähnt er die Rolle des "überallhin versprengten" Volkes der Juden, das sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben hat, indem es die ihm auferzwungene Rolle des 'Sündenbockes1 übernahm. Leider, so fahrt er fort, hätten die Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußere Intoleranz des Christentums gegen die draußen verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden. Aber die Frage bleibt, wie in Menschen, individuell oder in der Masse, so starke Haßgefühle erweckt werden können, daß sie sogar unter der Losung der 'Liebe' zu kriminellen Taten fähig zu sein scheinen, wie sie in den Judenverfolgungen durch die Jahrhunderte hin und in der neueren säkularisierten Geschichte in Rußland, Polen und Deutschland geschehen sind. Daß die alten religiösen Vorurteile auch noch in modernen judenfeindlichen Tendenzen und Strategien am Werke sind, wird auch durch Shulamit Volkov in ihrer Publikation Die Juden in Deutschland 1780-1918 angenommen. Das Problem ist jedoch differenzierter. R. M. Loewenstein hat in seiner Studie Christen und Juden die virulente Macht des Vorurteils und seine Projektion auf einen Sündenbock beschrieben, wie es durch Tradition und Unterricht von Jesu Leben und Sterben seit der Christianisierung des Abendlandes in Erscheinung getreten ist. Er hat gezeigt, daß es nicht die feindliche Haltung, der Haß allein ist, der die Unsicherheit schuf, sondern die ambivalente Gefuhlseinstellung der Kirchen, die wiederum ihren Ursprung hat im Entstehen des Christentums selber als "einem Zweig aus dem Stamme Juda". Sierksma hat in seiner Untersuchung Die religiöse Projektion nachgewiesen, daß diese beiden Mechanismen signifikant sind für die heidnischen Gottesdienste mit ihrer stark

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ambivalenten Gefiihlshaltung den Gottheiten gegenüber und ihrem stark projektiven Charakter im Hinblick auf Mensch und Naturerscheinungen, die sich in Furcht, unerklärlichen Ängsten, Paranoidie und Zwangshandlungen äußert. Alexander Mitscherlichs bereits am Anfang zitierte Äußerung wird hiermit vervollständigt. Die katholische Kirche in ihren höchsten Amtsträgern, den Päpsten, hat dies immer begriffen, auch wenn sie in ihren offiziellen Verlautbarungen und in ihrer Haltung schwankend blieb. Aber sie waren sich dieser ambivalenten Inhalte bis zu einem gewissen Grade wohl bewußt, und sie gebrauchten die aggressiven Strebungen, um ihre Macht zu instrumentalisieren, die Kohäsion ihrer eigenen Gruppe zu stärken und durch die Kreation eines Feindbildes zu gewährleisten. Während die Evangelien den Beweis fiir die wahre Existenz der Juden lieferten, war der Untergang der Juden der Beweis des Triumphs der Kirche. Zugleich aber waren die Juden die Hüter der heiligen Bücher, und der Prophétie aus dem Buch Jesaja zufolge und nach dem Zeugnis von Paulus wird ein Rest von Israel erhalten bleiben, und das zweite Erscheinen des Messias wird von der Bekehrung dieser Überlebenden abhängen. Diese Ambivalenz schuf von Anfang an eine Spannung die, wenn man sie mit der Methode der Psychoanalyse definiert, nur aus psychischen Prozessen zu erfassen ist, die angedeutet werden mit den Begriffen der ödipalen Situation, Gewissensformung, Übernahme der väterlichen Gebote und Aufrichtung der väterlichen Autorität. Solche Prozesse gehen immer gleichzeitig mit einer Verdrängung der aggressiven und sexuellen Triebe einher, die jedoch im Ganzen der psychischen Struktur bestehen bleiben. Sie sind der 'innere Feind', der 'Widersacher' jedes Menschen, sie sind die Unruhestifter, die in psychologischen Krisenzeiten im Projektionsmechanismus zum Durchbruch kommen. Sie bilden die Reserve, die man immer wieder gebrauchen kann, wenn es gilt, einen Aufstand gegen den Vater oder seinen Stellvertreter anzuzetteln, individuell oder kollektiv. Der Projektionsmechanismus ist ein allgemein-menschlicher Abwehrmechanismus. Die Projektion ermöglicht es dem Menschen, seine verdrängten Impulse in die Außenwelt zu werfen und sie dadurch an einer anderen Person kritisch zu erleben. Hierdurch erspart er sich das Unbehagen und die Last, die ihm seine eigenen Schuldgefühle verursachen könnten, wenn er die Kritik gegen sich selbst richten würde. Während in der Projektion die kritisierenden Instanzen der eigenen Gewissensfunktion gegenwärtig sind, schirmt sich das 'Ich' gleichzeitig ab gegen ihr intra-psychisches Funktionieren. Der Mensch, der sein inneres Gleichgewicht verloren hat, verliert nicht nur die Kontrolle über seine Innenwelt, sondern auch über die Außenwelt. Seine psychischen Inhalte kann er unbewußt abtrennen. Durch die Projektion ist es ihm möglich, diese Inhalte und sich selbst in der Außenwelt zu 'objektivieren'. Die Außenwelt wird der Spiegel dessen, was das Individuum unbewußt an Wünschen und Wollen ausstrahlt.

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Es kommt hinzu, daß im Christentum das Verhältnis Vater-Sohn einen zentralen Platz einnimmt. Auf diese Weise werden die Juden, indem sie Christus nicht anerkennen und ihn verleugnen, zu Repräsentanten des 'inneren Feindes', der abgewehrten Triebwünsche in der Außenwelt, auf die man sein Unbehagen loslassen kann. Bei einer Analyse dieser Prozesse kann man die überraschende Entdeckung machen, daß der clichéartige Gebrauch eines Vorurteils mehr über den Projektor als über das diskriminierte Objekt, den Sündenbock, aussagt. In diesen Bezügen sieht R. M. Loewenstein eine der Wurzeln für die ambivalente Haltung des Judenhasses. Sie knüpft an die religiöse Problemstellung an, wie sie sich in dem Verhältnis Christen-Juden in der Geschichte manifestiert hat. Sie gibt weiterhin eine Erklärung für einen der charakteristischen Züge der nationalsozialistischen Bewegung Hitlers, die die Kirchen zu spät als einen Aufstand gegen das Christentum und die in ihm enthaltenen Gebote Gott-Vaters erkannt haben. Aber auch die Losung 'Für Gott mit König und Vaterland' hatte schon im protestantischen Preußen einen stark aggressiven Unterton, in dem zugleich heftige antijüdische Sentimente mitschwangen. Dieser vorbewußte und präkausale Mechanismus der Verschiebung eines affizierten Verhältnisses, einhergehend mit dem Projektionsmechanismus auf einen Sündenbock, spielt im Leben von Individuen und Gemeinschaften eine entscheidende Rolle. Virulent erweist sich diese Einstellung in all den Fällen, in denen die Kategorien 'gläubig - ungläubig', 'fremd' und 'feindlich' den tief eingewurzelten Aggressions- und Vorurteilstendenzen - homo homini lupus est eine makabre Existenzberechtigung zu verleihen scheinen. Daß diese Thematik z.B. im religiösen Bereich unter Vermeidung von aggressiven Projektionsmechanismen nach außen auch andere religiöse und rechtliche Lösungen ermöglicht und diese Möglichkeit vielleicht das Faszinosum im Verhältnis von in-group zu out-group darstellt, sei hier eben am Rande vermerkt. Diese antinomische Konstellation brauchte an sich nicht zu Katastrophen und Desastern zu fuhren, wenn in ihnen nicht in fundamentalen Krisenzeiten, d.h. bei der Auflösung bisher gültiger Wertstrukturen und in ihrem Kielsog ein richtungsloses Chaos fluktuierender Energien frei käme, die sich an die primäre Feindlichkeit der menschlichen Natur binden und ihr destruktives Verhalten verstärken. Judenhaß ist ubiquitär, überall wo der Opfertod von Jesus und die Rolle der Juden als Mörder das Zentrum der christlichen Glaubenslehre bilden. Jedoch muß man hier ergänzend hinzufügen, daß die Erscheinungsform des Hasses wechselt mit der jeweiligen Landesart, ihren tradierten, spezifischen, staatlichen Organisationsstrukturen und den dadurch inhärenten rechtlich-kodifizierten Verhaltensmustern. In ihnen haben die betreffenden Völker einen Schutzwall aufgerichtet nicht nur zum Schutz der unter und mit ihnen lebenden jüdi-

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sehen Gruppe, sondern zur Abwehr der in ihrer Gemeinschaft wirksamen eigenen destruktiven Tendenzen. Der Anstoß zu diesen Betrachtungen entstand aus der Wiederaufnahme der Lektüre Geschichte der Juden in Deutschland von Ismar Elbogen, 1935 im Erich Lichtenstein Verlag Berlin erschienen. Ich war damals Lehrer an den Schulen der Jüdischen Gemeinde Berlin, bevor ich in die Niederlande emigrierte. Aber ich las das Buch in den Jahren nach 1945 anders, als ich es j e zuvor gelesen hatte. Die Vernichtung der mittelalterlichen Siedlungen der Juden in Deutschland - mehr als 350 blühende Gemeinden, "Zehntausende erschlagen, ertränkt, verbrannt, gerädert, gehenkt, vertilgt, erdrosselt, lebendig begraben und mit allen Todesarten gefoltert wegen der Heiligung des göttlichen Namens", und mit dem Menschenleben die Zerstörung ihrer Kultur - war dies nicht die erste Shoa? Die zwiespältige Haltung der Kirchen, verstärkt durch die Auseinandersetzung mit Luther, schuf damals in dem tief zerteilten Land eine ebenso tiefe Unsicherheit, nicht nur für die jüdische Gruppe. Machtkämpfe überall zerschnitten das in Kleinstaaten aufgeteilte Land. Der von "Geldgier geschürte soziale Kampf und der religiöse Haß" entluden sich in den Judengemetzeln. Die Fehden der damaligen weltlichen und kirchlichen Mächte untereinander und gegeneinander manifestierten sich nicht zuletzt in den zwiespältigen, kontroversiellen Schutz-, Vertreibungsund Vernichtungsmaßnahmen jener Tage den Juden gegenüber. In Elbogens Darstellung versetzte mich die Beschreibung, wie 100 bis 200 Jahre später den Juden nachgetrauert wurde und man sie wieder zurückrief, in ein gewisses Erstaunen. Und die Juden kamen, siedelten sich wieder an und blieben. Man kann das schicksalhafte Wechselspiel nachlesen in den Historien der Städte Mainz, Köln, Regensburg, Speyer, Nürnberg. Warum rief man sie wieder zurück, warum kamen sie wieder, was zog sie an, was bewegte sie, sich dort wieder niederzulassen, wo einst...? Elbogens Bemerkung, daß im Gegensatz zu Spanien, Frankreich und England es nie eine generelle Ausweisung der Juden gegeben hat, machte mich ebenfalls stutzig. Aber die altbekannte zwiespältige Einstellung der Kirchen und der Öffentlichkeit blieb, wenn auch im Laufe der Jahre einige Städte und Fürsten, weltlicher und kirchlicher Signatur, aus welchen Gründen auch immer, humanitären oder merkantilen, die gesetzlichen Bestimmungen lockerten und die religiösen Rasereien ausblieben. Aber das Erstaunen bleibt: warum wurden sie zurückgerufen und warum kamen sie und blieben sie, bis...? Sie haben gute und böse Tage durchgemacht, eine lange Wanderung, schreibt Elbogen 1935. Wenn Simon Dubnow in Die Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Band VII: Allgemeine Übersicht. Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit von der langsam fortschreitenden politischen und wirtschaftlichen Evolution der Judenheit Westeuropas sagt:

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Hans Keilson Zwar bleibt der Jude doch immer aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen, zwar hat er nach wie vor unter dem drohenden Joche der Entrechtung zu leiden, doch läßt er sich die Unterjochung durchaus nicht mehr mit der gleichen Demut wie bisher gefallen,

so wird mit dem Gebrauch der religiösen Formel 'Demut' ein Zustandsbild im Verhältnis der beiden Kontrahenten gezeichnet, das für beide Teile enthüllend genannt werden kann. Und zwar enthüllend, wenn man die Zeiten um 1085, als auch die Perioden der Aufklärung und der Emanzipation reflektiert. Die Zustimmung und Ablehnung dieser emanzipatorischen Entwicklungen auf beiden Seiten, Entwicklungen, die letzthin wohl nicht aufzuhalten waren, haben Hannah Arendt zu der Überlegung von der "frohen Botschaft der Emanzipation" geführt, "die die Juden so ernst nahmen, wie sie nie gemeint gewesen war". Hier ist gewiß der Zeitpunkt gekommen, daß auch der Referent, ein ehemaliger deutscher Jude, der die Shoa in den Niederlanden überlebt hat und noch immer ein gewisses Einverständnis mit der deutschen Sprache pflegt, die Wurzeln seines Selbstverständnisses und dessen Relation zu seiner Selbstwahrnehmung überdenkt. Wenn wir hier mit Hilfe psychologischer, soziologischer und historischer Redensarten einen Beitrag zum Diskurs zu liefern gedenken, bedeutet dieser Einstieg nur einen Versuch, im Gestrüpp der Daten und Fakten eine Lichtung zu schlagen, um dem Wesen des Judenhasses auf die Spur zu kommen. Die Frage bleibt offen, ob es eine richtige Spur ist. Vielleicht sollte man jedoch lieber nach dem blinden Flecken seiner Selbstwahrnehmung fragen, nach dem, was man nicht sehen wollte, oder wenn man es wahrnahm, mit anderen Akzenten belegte. Welche Spannung ertrug man nicht, oder vielleicht umgekehrt: welche Spannung ertrug man zu gut? Aber vielleicht war es auch die besänftigende Haltung einiger nichtjüdischer Freunde? Es ist eine Erkenntnis meines Faches, daß sich mit der Veränderung der Persönlichkeit auch die Qualität der Erinnerung wandelt. Die Rezeption von Texten und Fakten unterliegt ebenfalls einer Veränderung. Die Frage nach dem, was man einstmals wahrgenommen hat oder nicht, ist die Frage nach den Erinnerungsspuren in der biographischen Historie eines Menschen im Kontext seiner Gruppenzugehörigkeit und nur in diesem Zusammenhang vielleicht von irgendeinem Interesse. Was nun die jüdische Selbstwahrnehmung nicht nur in deutschen Landen betrifft, so geht eine Analyse eines jüdischen Individuums zugleich auch mit der Analyse der gesellschaftlichen Prozesse der Assimilation und Emanzipation der jüdischen Minderheit in all diesen Ländern einher. Diese Zuordnungen bestimmen und erschweren zugleich die analytischen Erwägungen. Mit der Aufgabe ihrer eigenständigen, rabbinischen Gerichtsbarkeit im Zuge der Emanzipationsgesetzgebung im europäischen Raum (der Einfluß

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der emanzipatorischen Bewegungen der amerikanischen Staaten soll hier nicht eingebracht werden) verlor sie ihren eigenständigen 'nationalen' Status und damit auch das einheitliche Gepräge als religiöse Gruppe. Aus 'Fremden' sollten Bürger werden. Hierdurch wurde eine neue Konfliktlage geschaffen. Inwiefern akzeptierte die nichtjüdische, christliche in-group in den deutschen Ländern, später mit einer mächtigen Staatskirche, die ehemals 'fremde' outgroup als zugehörig? Um mich nicht in komparatistischen Spekulationen zu verlieren, will ich eine andere Stellung ponieren. Es geht auch um die Assimilations- und Emanzipationsprozesse der christlich-signierten Mehrheitsgruppe an die jüdische Minderheitsgruppe, eine Frage von besonderer Bedeutung, wenn man die nie geleugnete ursprüngliche religiöse Verflechtung beider Gruppen betrachtet und die inhärente Spannung zwischen ihnen beiden. Auf eine simple Formel gebracht: es geht jetzt um die Frage der Feindschaft in der Ordnung der Nächstenliebe. Und auf welche Weise haben die verschiedenen christlichen Länder in ihrer Gesetzgebung diesem Problem Rechnung getragen? Aber in wieweit konnten und/oder wollten die 'Fremden' sich ohne Selbstaufgabe 'zuhause' fühlen? Daß sich viele 'zuhause' fühlten, ist gewiß. Daß zu Anfang des Jahrhunderts daneben die zionistische Ideenwelt vor allem unter den jüngeren Juden viele Anhänger gewann, ist ebenfalls gewiß. Hier liegt meiner Meinung nach einer der zentralen Punkte der Selbstwahrnehmung und des Selbstverständnisses. Die reiche Streuung der verschiedenen Identitätsmöglichkeiten für das jüdische Individuum in diesem Spannungsfeld im Laufe der Emanzipation wurde durch die politischen und nationalstaatlichen Entwicklungstendenzen ihres deutschen 'Wirtsvolkes' - einer 'verspäteten Nation' - mit allen inhärenten Ängsten und Überkompensationen noch angereichert. Das Verhältnis von 'Selbstverständnis' und 'Wahrnehmung' des jüdischen 'Bürgers' spitzte sich zu. Es sind nicht, wie man vielfach annimmt, die Identitätsprobleme, die hier den Ausschlag geben. Sie sind sekundärer Natur und hängen, soweit ich es sehe, von der Loyalitätsproblematik ab, die, von der ingroup weitgehend definiert, der out-group auferlegt wird und, was Deutschland mit seinem Geburts- und Gesinnungsnationalismus der Vergangenheit betrifft, irrationaler Natur ist. Dieser irrationalen Wurzel scheint auch die Frage nach dem Faszinosum des Hasses zu entspringen. Schon der Begriff des 'Faszinosum' enthält magische Elemente, wie aus den Berichten über Hexenprozesse und Verfolgungen deutlich hervorgeht. Stellt man sie jedoch in den Kontext eines ab origine ambivalenten Verhältnisses, erhält sie eine eigene Bewandtnis, auch wenn eine Beantwortung gewissen Restriktionen unterworfen bleibt. Alle diese Erklärungen bleiben rein deskriptiv und an der generalisierenden Oberfläche menschlicher Verhaltensweisen. Wenn man sie jedoch z.B. auf die Beziehungen zwischen Verfolgern und Verfolgten bezieht, wie es das nun zu

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Ende gehende Jahrhundert in der spezifischen Beziehung Christen - Juden dargeboten hat, bieten sich auch andere Einsichten an. Vielleicht wird so mancher die Frage nach dem Faszinosum des Hasses, was an fesselnden Impacts im Haß, in ihren Relationen, den Hasser an den Gehaßten/Verhaßten bindet und vielleicht auch den Verhaßten an den Hasser eingedenk der Unzähligen, die diesem ebenfalls ambivalenten Faszinosum zum Opfer gefallen sind, als eine ungeheure Herausforderung, vielleicht sogar als eine Schändung der Erinnerung an die Opfer empfinden. Piatos Gastmahl berichtet vom Faszinosum der Liebe in der Legende von dem ursprünglich einsseienden Liebespaar, das, durch das Leben getrennt, in seinem Verlangen einander sucht und weiß, wann es die verlorengegangene Hälfte wiedergeftmden hat. Es bleibt merkwürdig, daß Leon Pinsker, der Autor der 1882 erschienenen Publikation Auto-Emanzipation, worin er die "Judäopathie" als eine Art "Dämonopathie" definierte, in dieser eine Art "platonischen Haß" zu erkennen glaubte, der es zu verdanken wäre, daß das jüdische Kollektiv verantwortlich gemacht wird fur die eventuell verübten Missetaten von Individuen. Pinsker war übrigens der erste, noch vor Theodor Herzl, der für die Juden eine eigene Heimstätte forderte. Könnte man diesen 'platonischen Haß' mit der Frage nach dem 'Faszinosum des Hasses' erweitern? Leidenschaft kann sich mit Gefühlen der Liebe verbinden, aber auch mit Regungen des tiefsten Hasses. Wer die Haßtiraden gewisser ehemaliger Zeitgenossen angehört hat, wird sich der Leidenschaft - auch wenn sie kalt erscheint - beim Vortragen dieser Haßgesänge erinnern, dieser Abgesänge des Hasses, der Vernichtung, des Tötens - Leidenschaften würdig eines höheren Zieles, wie man meinen sollte. In dieser Leidenschaft mit ihrer bewußt suggestiv gemeinten Ausstrahlung offenbart sich, jedoch zugleich die - anscheinend - unauflösbare Bindung des Hassers an das Objekt seines Hasses, seinen Widersacher, offenbart sich zugleich seine verlorengegangene oder nie besessene Souveränität über seine eigene Existenz. Ein Liebender kann nicht mit noch heftigerer Leidenschaft von seiner Liebe Zeugnis ablegen, als der vom Haß erfüllte. Er sieht in seinem Widersacher all das, was er in sich selbst nicht sehen und wahrhaben will. Er erträgt 'seine' Wahrheit nicht, und er erträgt auch die Spiegelung in dem 'Anderen' nicht, in ihm, dem 'Anderen' muß er sich selbst vernichten, um den Wahn seiner eigenen Grandiosität zu retten. Seine Haltung ähnelt der Verwirrung eines Friedhofschänders, der meint, sein eigenes Leben zu erhöhen, wenn er Gräber plündert, in dem Wahn, den Tod zu töten. Zur Exemplifizierung dieser Gedanken sei ein Gedicht mit dem Titel Bildnis eines Feindes, das ich 1937 schrieb, angefügt. Es wurde 1938 unter Pseudonym durch die katholische, literarische Zeitschrift De Gemeenschap in den Niederlanden veröffentlicht:

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Bildnis eines Feindes In deinem Angesicht bin ich die Falte eingekerbt um deinen Mund, wenn er spricht: du Judenhund. Und du spuckst durch deiner Vorderzähne schwarze Spalte. In deiner Stimme, wenn sie brüllt, bin ich das Zittern Ängste vor Weltenungewittern, die vom Grund wegreißen und zerstreuen. Deine Hände würgen. Deine Enkel werden es bereuen. Im Schnitt der Augen, wie deine Haare fallen, erkenn ich mich, seh ich die Krallen des Unheils wieder, das ich überwand. Du Tor, du hast dich nicht erkannt. Vom Menschen bist du nur ein Scherben und malst mich groß als wütenden Moloch, um dich dahinter rasend zu verbergen. Was bleibt dir eigenes noch? Denn deine Stirn ist stets zu klein, um je zu fassen: ... ein Tropfen Liebe würzt das Hassen.

In diesem Gedicht geht es um die reziproke Spiegelung beider Widersacher innerhalb der Modalität des Hasses, das 'Sich-Erkennen' innerhalb der Grenzen, die ihm der andere anweist. Zeigt sich das Faszinosum des Hasses im 'Zittern' der Stimme, 'wenn sie brüllt', im Moment des nichtbewußten Sich-erkennens, der Spiegelung im !Anderen'? Oder liegt es im panischen Moment der schreckhaften Entdeckung einer 'grandiosen Nichtigkeit', der condition humaine? Kann sie beides bedeuten: den Weg in die Destruktion oder den Anfang eines neuen Lebens? Ist dieses 'Zittern' vor der schrecklichen Entdeckung vielleicht das 'tremendum', das Rudolf Otto in Das Heilige beschreibt, das aber auch Verbindlichkeit besitzt für das 'Unheilige', 'Abstoßende', für das 'Gift' und das 'Gegengift', wie es Birgit R. Erdle in ihrer Arbeit über Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas (in Anlehnung an die Studie über den 'Sündenbock' von René Girard) an einem Prosa-Gedicht von Gertrud Kolmar formulierte. Sie entdeckt in diesem Gedicht die "unheimliche Faszination des Opferrituals", gewiß gültig in archaischen Mustern einer magischen Denkwelt, in der vorurteilsgebundenen Projektion unbewußter Inhalte auf einen 'Anderen1. In dieser Regression wird jedoch zugleich auch der Bruch im Kontinuum der Humanisierung dargestellt. Dieser archaischen Mythe steht in dem verhinderten Opfertod Isaacs durch die Stimme Gottes, der 'Akeda', eine andere, moderne Mythe gegenüber. Rembrandt hat dieses 'Tremendum' gemalt. Gunnar Heinsohn hat es 1987 beschrieben. Liegt das Faszinosum des Hasses in der zitternden Erwartung der im Haß miteinander Verbundenen vor dem Ausschlag der Nadel, nach welcher Seite sie ausschlägt? Für den Hasser nach der Seite der Lösung seiner unbeherrschbaren aggressiven Spannungen auf einen Sündenbock oder...?

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Für den Gehaßten, den Sündenbock, in der gleichen zitternden Erwartung, aber zugleich, im leidgeprüften Wissen der Vermeidung des Opfertodes, vielleicht in der zu täuschenden Hoffnung, der Georg Büchner in seinem Danton Ausdruck verliehen hat, als er seinen Protagonisten bei seiner Einlieferung in das Gefängnis 'Luxembourg' die Worte sagen läßt: "Ich habe geglaubt, sie werden es nicht wagen." Wäre dies nicht der Anfang eines neuen Lebens, wie ihn R. M. Loewenstein am Ende seiner Untersuchung in der Formel vom "kulturellen Paar" geprägt hat, entstanden aus dem Bewußtsein der stetigen Bedrohung jedweder menschlichen Existenz? Wie bereits angedeutet, bräuchte die Faszination des Hasses nicht zu einer menschlichen Katastrophe zu fuhren. Jedoch Haß, gelöst aus seinem ursprünglich ambivalenten Kontext, verselbständigt und isoliert im grandiosen Wahn eines 'Selbst', erweist sich nicht nur als mörderisch, er ist auch 'selbst'mörderisch. "Man haßt nicht, solang man noch gering schätzt, sondern erst wenn man größer und höher schätzt." Man irre sich nicht, Max Rychner hat es treffend formuliert, als er jedes von einer Obrigkeit organisierte Pogrom als ein "urtümliches Harakiri" bezeichnete. Das Faszinosum des Hasses liegt in der dynamischen Spannung des Ambivalenzkonfliktes, und hierin ähnlich dem Faszinosum der Liebe, in der Erwartung, nach welcher Seite die Nadel ausschlägt. Gilt die Erwägung auch für das Verhältnis von Juden und Christen, ist auch im Judenhaß, ursprünglich christlicher Prägung und auch im säkularisierten Gewände erkennbar, die Möglichkeit humaner Lösungen denkbar? Als Beispiel hierfür ein Gedicht in Sonett-Form des niederländischen Dichters Jan Revius (1586-1688), eines Zeitgenossen von Vondel, Hooft, Huygens, Luyken, der Höhepunkte der niederländischen Literatur im 'Gouden Eeuw', dem 'Goldenen Zeitalter'. Jan Revius, dessen Geburtsname Jacob Reefsen war, wuchs in einem orthodox-reformierten, streng calvinistischen Milieu auf, studierte Theologie in Leiden, wo er später als Professor lehrte. In den leidenschaftlichen theologischen Disputen seiner Zeit stritt er für die Reinheit der christlichen Lehre, die Freiheit der Kirche, die Verbreitung des Evangeliums und die Größe der Niederlande. Diese vier Elemente bestimmten sein wissenschaftliches und poetisches Werk. Das Gedicht trägt den Titel Hij droeg onze smarten, in deutscher Übertragung "Er trug unsere Schmerzen"; dem holländischen Text folgend, werde ich Ihnen eine prätentionslose Übersetzung in deutsche Sprache vermitteln. Ich bitte um ihre verständnisvolle Nachsicht.

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Hij droeg onze smarten P e n zijn de Joden niet, Heer Jesu, die u kruysten, Nog die verraderlijk u togen voort gericht, Nog die versmadelijk u spogen int gesicht, Nog die u knevelden en stieten u vol puysten. T e n sijn de crijchs-luy niet die met haar feile vuysten Den rietstock hebben of den hamer opgelicht, Of het vervloecte hout op Golgotha gesticht, Of over uwen rock tsaem dobbelden en tuyschten: Ick bent, o Heer, ick bent die u dit heb gedaan, Ick ben den zwaren boon die u had overlaen, Ick ben de taeye streng daermee ghy ginct gebonden, De nagel, en de speer, e geessei die u sloech, De bloet-bedropen ceoon die uwen schedel droech: Want dit is al geschiet, eylaes! om mijne sonden.

Er trug unsere

Schmerzen

Die Juden sind es nicht, Herr Jesus, die Dich kreuzigten, Noch Dich verächtlich schleppten vor's Gericht, Noch die Dir schmählich spieen in's Gesicht, Noch die Dich knebelten und schlugen voller Puysten [Schwären]. Die Kriegsleut sind es nicht, die mit den harten Fäusten zum Schlag den Rietstock oder Hammer aufgelicht Und das verfluchte Holz auf Golgotha erricht Und über Deinen Rock hin würfelten und täuschten. Ich bin's, o Herr, ich bin's, der dies Dir angetan, Ich bin der schwere Baum, womit Du warst belan, Ich bin der zähe Strang, womit Du warst gebunden, der Nagel und der Speer, die Geißel, die Dich schlug, Die blutbetropfte Krön, die Dein Schädel trug: Denn alles dies geschah, helaas, aus meinen Sünden. In diesem Text ist das zentrale Geschehen im christlichen Glauben, der Opfertod von Jesus, in seinem vollen symbolischen Gehalt konkret dargestellt. Das Faszinosum des Hasses klingt noch in der Benennung und der Konfrontation mit den Juden und den römischen Kriegleuten nach und in der Bestätigung: sie sind es nicht. In der letzten Zeile "Denn alles dies geschah..." wird die Möglichkeit der Externalisierung der Schuldfrage noch kurz erwogen, aber sie ist bereits verwandelt im Faszinosum der Selbstwahrnehmung und des Selbstverständnisses der eigenen condition humaine. Das virulente Problem der ambivalenten Projektion und Externalisierung auf einen Sündenbock ist hier gelöst mittels der Introjektion der aggressiven Tendenzen im Aufbau der Gewissensfunktion, und somit wurde ein religiöses Ereignis in seiner paradoxalen Wahrheit aufs neue verinnerlicht.

Mordechai Breuer

Die jüdische Orthodoxie in Deutschland zwischen Westen und Osten

Im Jahre 1873 fand in Berlin eine für die Geschichte der neuzeitlichen jüdischen Orthodoxie denkwürdige Begegnung statt. Damals weilte in der Hauptstadt Rabbiner Israel Lipkin (1810-1883) aus Salant (daher gewöhnlich Salanter genannt), der Initiator der sogenannten Mussar-Bewegung unter den Juden Litauens, die eine Erneuerung und Vertiefung des traditionellen Judentums, vor allem durch Betonung seiner sozialen Ethik anstrebte. Als er erfuhr, daß der geistige Führer der jüdischen Orthodoxie, Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808-1888), aus Frankfurt nach Berlin gekommen sei, um in den Kreisen der preußischen Regierung Verständnis für den Drang seiner Gemeinde nach Unabhängigkeit von der Ortsgemeinde zu gewinnen, in der die Kreise der Reform herrschten, bat er um eine Unterredung. Diese fand statt, und bei der Besprechung der Frage, wie im russischen Judentum am besten Tradition und Orthodoxie gestärkt werden könnten, stellte sich eine weitgehende Übereinstimmung der Ansichten der beiden Rabbiner heraus.1 Obgleich beide Persönlichkeiten der geistigen Oberschicht der jüdischen Orthodoxie angehörten, war eine Kongruenz ihrer Ansichten über aktuelle Themen durchaus keine Selbstverständlichkeit. Seit dem Aufstieg des polnisch-litauischen Judentums im 16. Jahrhundert hatten sich Divergenzen herausgebildet, die trotz der überaus vielen religiösen Gemeinsamkeiten ein Gefühl der Fremdartigkeit zwischen dem 'deutschen' Stammjudentum und seinem östlichen 'Ableger' aufkommen ließ. Rabbi Chajim ben Bezalel, der Friedberger Rabbiner (gest. 1588), war wohl der erste, der in einer seiner Schriften zwischen dem 'deutschen' und dem 'polnischen' Ritus eine Trennungslinie zog, wobei er dem älteren den Vorzug gab, denn er sei authentischer und gewissenhafter.2 Trotz der Verschiedenartigkeit des westeuropäischen und osteuropäischen Judentums bestand bis Mitte des 18. Jahrhunderts kein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden.3 Dann aber, mit steigender Aufklärung, Reform, Emanzipation und Assimilation im Westen, gingen sie immer mehr auseinan' 2 3

Der Bericht über diese Begegnung stammt aus der Feder von Rabbiner Herz Ehrmann, der an der Besprechung teilnahm, und ist veröffentlicht in: Der Israelit 1883, Nr 22-23. Rabbi Chajim ben Bezalel: Wikkuach Majim Chajjim. Amsterdam 1712, Einleitung. Über dieses Thema vgl. Jacob Katz: Vom Ghetto zum Zionismus. Gegenseitige Beeinflussung von Ost und West. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts, Jg 64 (1983), S. 3-14.

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der. Selbst die Neo-Orthodoxie in Deutschland unterschied sich, bei all ihrer peinlichen Beobachtung aller religiösen Gesetze und Bräuche, in wesentlichen Dingen von der östlichen Orthodoxie. Die Koexistenz von jüdischer Tradition und westlicher Kultur in Schule und Haus, wie sie in Deutschland gepflegt wurde, war in Rußland undenkbar. Ebenso unvorstellbar war dort die grundsätzlich positive Einstellung zur sozialen Emanzipation, die in allen jüdischen Kreisen Deutschlands eine Selbstverständlichkeit war. Um die Jahrhundertwende wurden im Westen Anzeichen einer gewissen Wandlung bemerkbar. In der europäischen Gesellschaft, insbesondere auch in der deutschen, war viel die Rede von einer Umwertung aller Werte. Zweifel wurden laut an den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts in Kultur, Wissenschaft und Staatskunst. Ein Sehnen nach einer neuen Welt erklang in Literatur und Philosophie, und vielfach wurde eine Neigung zu irrationalen Dimensionen und zur Mystik bemerkbar. Eine ziemlich ähnliche Situation war innerhalb der zahlenmäßig nicht sehr bedeutenden jüdischen Orthodoxie in Deutschland, vor allem bei der Jugend, zu erkennen. Die neo-orthodoxe Vorstellung von der Vereinbarkeit der Toragesetze mit der modernen Welt, die für die ältere Generation ein Postulat gewesen war, wurde der jüngeren zum Problem. Die überaus klugen und fast ausschließlich an den Intellekt gerichteten Gesetzesauslegungen und Religionsbetrachtungen eines Samson Raphael Hirsch reichten vielen nicht mehr aus, um ihnen über die Glaubensklippen neuerer materialistischer Philosophien und wissenschaftlicher Hypothesen hinwegzuhelfen. Da mußte eine geschickte Apologetik herhalten, die zu einer Lieblingsbeschäftigung einer großen Zahl orthodoxer Akademiker wurde, die jedoch einen gewissen Mangel innerer Sicherheit nicht verhüllen konnte. Ein Gefühl der Frustration bemächtigte sich vieler junger Herzen, wenn es auch nur selten an die Öffentlichkeit kam. Dort schien alles in bester Ordnung zu sein. Doch der Ruf nach 'innerer Erneuerung' des Judentums, der im Ersten Weltkrieg in verschiedenen Varianten mächtig zum Ausdruck kam, wurde bereits um die Jahrhundertwende hörbar. Dieser Ruf war eng verknüpft mit der Frage nach der Wertung des Ostjudentums. Dabei handelte es sich in erster Linie nicht um persönliche und gesellschaftliche Beziehungen (daran änderte sich kaum etwas), sondern um die Stellung zum Ostjudentum als Träger spezifischer jüdischer Werte. Unter diesen ragten heraus das Talmudstudium und sein hoher Stellenwert in den Schulen und Akademien und, im allgemeinen, die Durchsetzung aller, auch der profanen Lebenssphären mit den Postulaten und Leitsätzen des Judentums, mit anderen Worten: lebendiges Judentum. Angesichts des reichlich unsicheren Fundaments, auf dem der Traditionalismus so mancher ihrer Glieder ruhte, richtete die Orthodoxie im Westen ihre Augen mehr und mehr nach dem Osten. Dennoch muß man sich fragen, ob es ein Wunschbild war oder eine realistische Schilderung, als Der Israelii, die verbreiteste orthodoxe Wochenzeitung, im Jahre 1893 schrieb: "Es ist gar kein Zweifel, daß dem gesetzestreuen West-

Die jüdische Orthodoxie in Deutschland

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juden der unmodische Kaftanrabbi im Fernsten Osten und der an seinem Folianten am Boden kauernde jemenitische Jude im Orient ungleich näher steht als der neologe Konfessionsgenosse."4 "Ungleich näher"? War das wirklich so? Immerhin: die Orthodoxie war stolz auf das, was sie erreicht hatte, vor allem in der Erziehung und der Gemeindeorganisation. Sie war überdies zutiefst überzeugt, daß einzig und allein sie den Schlüssel besaß zur Lösung des Problems des Überlebens des Torajudentums in einer Zeit des säkularen Modernismus, der für religiöse Traditionen wenig übrig hatte. Joseph Wohlgemuth, der Dozent fur jüdische Philosophie am Berliner orthodoxen Rabbinerseminar, schrieb in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Jeschurun im Jahre 1918: Die Kritiker der 'Neuorthodoxie' sollten nicht vergessen, was es bedeutet, daß in dem Zentralpunkt der Weltkultur, in dem Lande, das doch die Geburts- oder zum mindesten Hauptentfaltungsstätte aller jener philosophischen, naturwissenschaftlichen, geschichtlichen Theorien ist, die sich zur Grundidee des Judentums in Widerspruch setzen, in dem Lande, in dem das niedere und höhere Schulwesen einen so alles nivellierenden Einfluß ausübt, daß in diesem Lande sich ein, wenn auch kleiner Rest der Gesetzestreuen erhalten hat, die für die Gesamtentwicklung des Judentums noch immer von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. 5

Die deutsch-jüdische Orthodoxie war sicher, und gab dieser Sicherheit oft beredten Ausdruck, daß auch die ostjüdische Orthodoxie, bei aller Authentizität und Lebensfrische ihrer Religiosität, nur dann den Gefahren des Modernismus trotzen könne wenn sie den Weg der westlichen Orthodoxie einschlagen würde. Besorgniserregende Berichte kamen nämlich damals aus Rußland, die von einer massenhaften Abkehr der Jugend vom traditionellen Judentum sprachen. Selbst bis in die innersten Kreise der Jeschiwot hinein war diese Bewegung gedrungen, und ein verzweifelter Kampf spielte sich um die Seele eines jeden jungen Mannes ab. Die Mädchen, die vielfach sowohl in jüdischer als auch in allgemeiner Bildung ungeschult waren, fielen den revolutionären Bünden noch leichter zum Opfer. Sogar angesehene russische Rabbiner erklärten öffentlich, daß nur die Orthodoxie in Deutschland, mit ihrem Ausgleich zwischen Tradition und Moderne, imstande und daher auch verpflichtet sei, die jüdische Jugend in Rußland für die Tora zu retten.6 Bei all dem waren sich die fuhrenden Kreise in Deutschland ihrer Unzulänglichkeiten auf den Gebieten bewußt, wo das Judentum im Osten ihr über4 5

6

Der Israelit, Jg 34 (1893), S.773f. Jeschurun, Jg 5 (1918), S. 164. Dieses Zitat sowie einige der folgenden sind der Dissertation von Matthias Morgenstern (Von Frankfurt nach Jerusalem. Isaac Breuer und die Geschichte des "Austrittsstreits" in der deutsch-jüdischen Orthodoxie. Tübingen: J.C.B. Mohr [Paul Siebeck] 1995) entnommen. Siehe z.B. den Ruf des prominenten russischen Rabbiners Elijahu Klatzkin, Der Israelit, Jg 4 7 ( 1 9 0 6 ) , Nr 20, S. 2-4.

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Mordechai Breuer

legen war. In wachsendem Maß wandte man sich in wichtigen halachischen Angelegenheiten an osteuropäische Gelehrte, und Jugendliche aus Deutschland besuchten wieder die Jeschiwot im Osten. Die frühere entschiedene Ablehnung des Chassidismus und seiner Großen wurde nun abgelöst von einer durchaus wohlwollenden, sogar ehrfurchtsvollen Behandlung. Deutsche Rabbiner sprachen regelmäßig bei Rabbinern aus Rußland vor, die alljährlich im Sommer deutsche Kurorte aufsuchten.7 Diese Wendung in der Einstellung zum Ostjudentum hatte nicht nur geistesgeschichtliche Wurzeln; sie hatte auch einen bedeutsamen jüdisch-politischen Aspekt. Die Orthodoxie stand einer überwiegenden Mehrzahl von Juden gegenüber, für die die Tradition ihre überragende Bedeutung verloren hatte. Die Mehrheitsgruppen betrachteten die Orthodoxie als eine im Verschwinden begriffene, unbedeutende Splittergruppe und behandelten sie demgemäß. In Erwiderung darauf schoben orthodoxe Sprecher gerne die orthodoxen Massen des Ostens zur Bekräftigung ihres Anspruchs vor, die Orthodoxie in Deutschland sei Teil einer jüdischen Weltorthodoxie, die immer noch eine Mehrheit im jüdischen Volk bildete. Die Sicht einer weltjüdischen Orthodoxie als eines intern-jüdisch-politischen Faktors gewann eine gesteigerte Aktualität durch die inzwischen erfolgte Gründung der zionistischen Weltorganisation, die in orthodoxen Kreisen in Deutschland nicht ohne Resonanz blieb. Die Begriffe des jüdischen Volkstums und des jüdischen Gemeinsinns jenseits der lokalen Religionsgemeinde (kelall jisrael), die unter den Schlagworten der zionistischen Bewegung herausragten, machten einen bemerkenswerten Eindruck auf Teile der orthodoxen Öffentlichkeit und ihrer Sprecher. Die Bildung von orthodoxen Separatgemeinden entsprechend dem von den Rabbinern Samson Raphael Hirsch und Esriel Hildesheimer vertretenen Austrittsprinzip hatte in diesen Kreisen den Sinn für die Einheit und Solidarität der Juden geschwächt. Die zionistischen Schlagwörter, die man neuerdings vielfach dort vernahm, bezeugten eine gewisse Wandlung, wenn nicht in der Gesinnung, so allenfalls in der Taktik. Tatsache ist es, daß sich gerade in Frankfurt am Main, der Hochburg der militanten Orthodoxie, fuhrende Mitglieder der Austrittsgemeinde fanden, die bereit waren, dort die Weltzentrale der religiös-zionistischen Organisation 'Misrachi' zu eröffnen und ihr Zeit und Kraft zu widmen. Der Wunsch nach einer weltweiten Organisierung des orthodoxen Judentums verband Ost und West in eine Interessengemeinschaft. Die Bildung einer orthodoxen Landesorganisation war bisher in Rußland unterblieben, nicht nur weil die russische Regierung alle solche Bestrebungen im Keime erstickte,

7

Weiteres zu diesem Thema siehe: Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, S. 322ff.

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sondern auch wegen der Uneinigkeit des orthodoxen Judentums in Rußland, zersplittert in Chassidim und Mitnagdim und in Dutzende von chassidischen Dynastien, die sich zum Teil bitter bekämpften. Doch, wie gesagt, unter dem Druck der Befürchtungen für ihre Zukunft wurden sie immer mehr zu einem losen Zusammenschluß bereit. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich in der deutsch-jüdischen Orthodoxie verfolgen. Sie war bisher in der Austrittsfrage auseinandergegangen, und sie blieb auch weiter in dieser Frage uneinig. Jedoch unter dem Druck der ständigen Majorisierung durch das liberale Mehrheitsjudentum fand man sich auch hier zu einem erweiterten Organisationsbestreben zusammen. Im Jahre 1912 trat in Kattowitz an der deutsch-russischen Grenze unter dem Namen Agudas Jisroel eine orthodoxe Weltorganisation ins Leben. Dieser Gründung waren Verhandlungen zwischen Ost und West vorausgegangen, die mehr als einmal zu scheitern drohten. Bei aller Achtung, die die West-Orthodoxen den Rabbinern aus dem Osten erwiesen, mußten diese befürchten, daß das Gewicht ihrer westlichen Gesinnungsgenossen in der zu gründenden Organisation durch deren Bildung und Erfahrung in weltlichen Dingen ihnen eine Vormachtstellung einräumen würde. Noch bedrohlicher war die Wahrscheinlichkeit, daß die West-Orthodoxen danach streben würden, ihre in ihren eigenen Gemeinden so erfolgreichen Erziehungsmethoden nun vermittels der neuen Weltorganisation auch nach Osteuropa zu verpflanzen. Der Frankfurter Jacob Rosenheim, die treibende Kraft bei den Vorbereitungen zur Gründung der Agudas Jisroel, schrieb damals: Die im "harten Ringen mit dem Geiste des Abfalls und der Assimilation" bewährten Westeuropäer sollen den "Millionen jüdischer Seelen" im Osten "den Anschluß an eine neue Zeit bringen" 8 . Ein weiterer Vorteil der westlichen Orthodoxie gegenüber der östlichen bestand in ihrer Erfahrung und Einsicht im Organisieren, in der Vorbereitung und Leitung von Konferenzen und im Führen von Verhandlungen. Noch über zehn Jahre nach der Gründung konnte man im Jeschurun lesen: Das Element der abendländischen Kultur, das die Grundlage [der neuorthodoxen jüdischen Erziehung und Geistesstruktur in Deutschland] bildet, gibt [den deutsch-jüdischen Orthodoxen] eine vorläufig unerreichte Überlegenheit [gegenüber ihren ostjüdischen Gesinnungsgenossen], sie sind diejenigen, die mit dem Begriff Agudas Jisroel etwas mehr verbinden als einen großen [Verein zum Schutz des Sabbat] oder eine internationale Gesellschaft zur Förderung des Thorastudiums, sie erst gaben dem Begriff einen festen ideologischen Unterbau, sie haben ihn in den weiten welthistorischen Rahmen gespannt, der der Agudabewegung erst Sinn und Weite gibt. 9

Der Gründung der Agudas Jisroel ging also eine Art Kulturkampf voraus. Man einigte sich nach der Devise: 'Getrennt marschieren, vereint schlagen'. Man 8

9

Jacob Rosenheim: Ohole Jakob. Ausgewählte Aufsätze und Ansprachen. Frankfurt a.M.: J. Kauffmann 1930, Bd II, S. 161. Maximilian] Landau: Die Knessia Gdola. In: Jeschurun, Jg 10 (1923), S. 342.

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schuf einen sogenannten Rabbinischen Rat, in dem alle beteiligten Länder durch prominente Rabbiner vertreten waren. Dieser Rat war für alle Kulturfragen maßgebend, und jedes Land war bezüglich seiner Einstellung zu Erziehung und Bildung autonom. Außerdem wirkten einige herausragende Persönlichkeiten vermittelnd und erreichten das notwendige Minimum an Verständigung. Auf deutscher Seite kommt hier die Sprache auf den Ansbacher Rabbiner Dr. Pinchas Kohn, der wohl am besten das geschilderte schwankende Bewußtsein zwischen Ost und West verkörperte. Pinchas Kohn, geboren 1867 in dem bayerischen Dörfchen Klein-Erdlingen, gestorben in Jerusalem 1942, stammte aus einer Rabbinerfamilie, die seit Hunderten von Jahren in Süddeutschland ansässig war. Er war hochgebildet, war ein jüdischer Gelehrter, ein Schüler Hildesheimers und Verehrer S. R. Hirschs, doch blieb er zeit seines Lebens ein bewußt 'alter deutscher Jude', der bei aller Verehrung fur Hirsch die Neo-Orthodoxie kritisch beurteilte. Der Unterschied zwischen alter und neuer Orthodoxie wurde von Kohn wiederholt unterstrichen. 10 Er bestand hauptsächlich darin, daß die 'Neo-Orthodoxie' sich einen ideologischen Unterbau schaffte, während die alte Orthodoxie, die noch vor allem im Landjudentum lebendig war, im Primär-Existenziellen verwurzelt blieb. Kohn neigte zur Mystik und machte sich zum Sprecher all derer, für die der rationalistische Geist von Hirschs Religionslehre zu kühl geworden war, um ihr religiöses Gefühl daran zu erwärmen. Deshalb wünschte er ein Wiederaufleben gewisser in der Kabbala verwurzelter altorthodoxer Sitten, die im vergangenen Jahrhundert außer Brauch gekommen waren. Kohn betrachtete sich insgeheim als letzter Überlebender der 'Chasside Aschkenas', jenes Kreises mystisch-frommer Juden im Deutschland des 13. Jahrhunderts, deren religiöse und soziale Idealvorstellungen im Sefer Chassidim, dem "Buch der Frommen" verewigt sind. So bewegten sich Kohns Gedankengänge zwischen Kabbala und moderner Philosophie, zwischen altjüdischen Sittenbüchern und Hirschs Neunzehn Briefen, zwischen westlicher 'Gesetzestreue' und östlichem Chassidismus. Kohns 'altjüdische' Orthodoxie war mit ein Grund, warum er sich erst spät der Hirsch'schen Austrittsorthodoxie anschloß. Wie andere 'gemeinde-orthodoxe' Rabbiner gründete Kohn in Ansbach einen Verein für jüdische Geschichte und Literatur und fungierte sogar zeitweise als Sekretär des Allgemeinen Rabbinerverbands, in dem orthodoxe und liberale Rabbiner einträchtig miteinander verkehrten und der von Austrittsrabbinern peinlich gemieden wurde. Kohns jüdisch-politische Einstellung scheint sich zum Teil unter dem Eindruck der Entwicklungen im jüdischen Rußland gewandelt zu haben. Als er 1912 in Nürnberg einen Vortrag über den Chassidismus hielt, wurde über das Ereignis in drei orthodoxen Zeitungen berichtet. 10

Siehe: Jüdische Monatshefte, Jg 1 (1914), S. 90.

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Kohns Ambivalenz zeigte sich auch in der Frage seiner nationalen Identität und seines Deutschtums und war fur die innere Haltung vieler orthodoxer Juden bezeichnend. In seiner Antrittsrede in Ansbach (1895) stellte er sich die Frage "Wessen Volkes bist du?" Seine Antwort war: "Ich bin ein Mensch." Das entsprang zu einem Teil seiner Überzeugung, daß die Juden kein Volk, sondern 'nur' eine Religionsgemeinschaft bildeten. Zum anderen Teil half es ihm aus der Verlegenheit: er war nur mit knapper Mehrheit gewählt worden, und seine liberal-gesinnten Zuhörer hätten ihm ein schlichtes Bekenntnis zum jüdischen Volkstum sehr übel genommen. Weniger allgemein-typisch war die Art, wie er sich innigst mit dem deutschen Vaterland verbunden fühlte. In einer Erzählung aus dem Jahr 1912 (er schrieb Romane und Novellen) ließ er einen altjüdischen Vater vor seinem Tod seinen letzten Wunsch von seinen Kindern in folgenden Worten ausdrücken: "Versprecht mir nur eins: wenn es euch möglich ist, bleibt in eurer Heimat." Über den Held der Erzählung lesen wir: "Das religiöse Pflichtgefühl schuf aus ihm einen glühend begeisterten Patrioten", und dieser sonst sehr ängstliche junge Mann zieht freiwillig in den Krieg 1870/71". Als ich Anfang der dreißiger Jahren bei Rabbiner Kohn in Ansbach mehrere Tage zu Besuch weilen durfte (er war mit meinem Vater eng befreundet), entdeckte ich im Wohnzimmer am Fenster eine Truhe, die mit vaterländischen Bildern, Flugblättern und Emblemen aus dem Krieg 1870/71 angefüllt war. Er war ein unerbittlicher Gegner des Zionismus, der, als der jüdisch-arabische Konflikt in Palästina sich immer mehr verschärfte, in Erwägung zog, ob es nicht besser sei, von jüdischer Seite auf die Balfour-Erklärung zu verzichten. 12 Als er schließlich Deutschland fluchtartig verlassen mußte, nahm er eine Wohnung im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt, die im 19. Jahrhundert in der vorzionistischen Zeit als eine von vielen sogenannten Pilgerwohnungen erbaut worden war. Im Ersten Weltkrieg weilte Rabbiner Kohn in Warschau, wo er, zusammen mit Emanuel Carlebach, dem Rabbiner der Kölner Austrittsgemeinde, die orthodox-jüdischen Interessen vor den deutschen Militärbehörden vertrat. Für diese Aufgabe war er der rechte Mann. Er pflegte gleich gute Beziehungen zum 'Gerrer Rebbe', dem Oberhaupt der zahlreichen chassidischen Gruppen in Polen, zu Ludwig Haas, dem liberalen jüdischen Reichstagsabgeordneten aus Baden, der für die jüdischen Angelegenheiten im Generalgouvernement verantwortlich war, und zum Generalgouverneur Hans von Beseler. Zwischen Kohn und Haas, dem Orthodoxen und dem Assimilanten, bahnten sich Freundschaftsbande an, und den deutschen General erwärmte Kohn für den Chassi-

11 12

Kopi [P. Kohn]: Joël Gern. Frankfurt a. M.: J. Kauffmann 1912, S. 7, 54, 63. Siehe: Menachem Friedman [Hebr.]: Society and Religion. The Non-Zionist Orthodox in Eretz-lsrael 1918-1936. Jerusalem: Yad Izhak Ben-Zvi Publications 1977, S. 321.

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dismus. 13 Jedoch, wie mir von vertrauenswürdigen Zeugen berichtet wurde, flüsterte er in das Ohr des Gerrer Rebben: "Amalek - das sind die Deutschen." Der eklatante Widerspruch, den dieser Ausspruch enthält, gleicht sich mühelos aus, wenn wir bedenken, daß Kohn durch und durch ein Bajuware war. Sein deutscher Patriotismus war in Wirklichkeit ein bayerischer, und als solcher haßte er die Preußen. Mit den 'deutschen' Amalekitern meinte er die Preußen. Die eigenartige Mischung von Politik und Mystik, die ihn kennzeichnete, versprach ihm Erfolg bei den Chassidim und bei den Deutschen. Den vorsichtigen Initiativen Carlebachs, neuorthodoxe Erziehungsmethoden bei den chassidischen Kinderlehrern einzuführen, war wenig dauernder Erfolg beschieden. Dafür sorgte der kluge und umsichtige Gerrer Rebbe. Doch Kohn konnte sich rückblickend mit Recht brüsten: "Die orthodoxen Massen Polens wurden durch mich politisiert."14 Zionisten und jüdische Sozialisten, die immer noch eine kleine Minderheit im polnischen Judentum bildeten, hatten gehofft, die chassidischen Massen würden sich so wie bisher auch weiterhin politisch passiv verhalten und im öffentlichen Leben keine Rolle spielen. Selbst als man in chassidischen Kreisen daran ging, Politik zu machen, forderte Jabotinsky, der spätere Führer der zionistisch-revisionistischen Partei, den Orthodoxen in Polen das Wahlrecht abzusprechen, weil ihnen jede bürgerliche Erfahrung fehle. 15 Hier war Kohn einer der Hauptfaktoren einer völlig neuen Situation, gefiel er sich doch am besten in der Rolle des Politikers. Er gab den Chassidim eine politische Organisation, einen Rabbinerverband und eine Tageszeitung. Damit nicht genug, verlieh er ihnen auch eine geistige Errungenschaft die sie nie besessen hatten, nämlich eine Ideologie. Im Gegensatz zu dem nationalen Autonomismus der Zionisten setzte er den Begriff der politisch aktiven Religionsgesellschaft, aufgrund dessen er die "Verordnung, die Organisation der jüdischen Religionsgesellschaft im Generalgouvernement Warschau betreffend" entwarf, die Ende 1916 von der deutschen Verwaltung erlassen wurde. In den Augen der Zionisten war Kohn ein Verräter. Selbst ihm nahestehende Orthodoxe waren mit seiner Politik nicht einverstanden.16 Das Fazit der Kohn-Carlebachschen Mission auf dem Gebiet der Kultur und Erziehung war im Grunde alles andere als positiv; die Kinderschulen blieben mehr oder weniger genau so bildungsfeindlich wie sie vor dem Krieg gewesen waren. Jedoch hinterließen die beiden deutschen Rabbiner vor allem bei der chassidischen Jugend politisches Verständnis und politischen Tätigkeitsdrang, eine tatkräftige Organisation und auch - sehr bedeutungsvoll - die ersten An13

14 15

Einzelheiten siehe in meinem hebräischen Aufsatz: Orthodoxe Rabbiner aus Deuschland in Polen und Litauen während der deutschen Besetzung 1914-1918. In: Bar-Ilan. Annual of Bar-Ilan University XXIV-XXV (1989), S. 117-153, hier S. 125. Ebd., S. 139. Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem (wie Anm. 5), S. 51. Über all dies siehe in meinem in Anm. 13 zitierten Aufsatz.

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sätze zu einer modern-orthodoxen Mädchenerziehung und Frauenbewegung. Bei ihrer Heimkehr am Kriegsende fanden sie eine westliche Orthodoxie, die mehr denn je dem östlichen Einfluß aufgeschlossen war. Auch war ihr inzwischen eine Persönlichkeit erstanden, die, vom Nationaljudentum kommend, den Weg zur Toratreue gefunden hatte und nun das propagierte, was sie als die kulturellen und sozialen Werte des Ostjudentums erkannt hatte. Gemeint ist Nathan Birnbaum, geboren 1864 in Wien, gestorben 1937 in Scheveningen. Schon im Jahre 1905, als er noch weit entfernt war von Orthodoxie, sagte er in einem Vortrag: Es ist ganz unzulässig, [das Kulturleben der Ostjuden] in den Begriff religiöser Orthodoxie einschachteln zu wollen [...]. Der gläubige Jude im Osten und der voremanzipatorischen Zeit im Westen ist niemals als orthodoxer, als Kirchenmensch zu erklären, immer nur als Volksjude, als Glied einer Volksgemeinschaft, die in einem religiösen System ihr Vaterland und den Ausdruck eines nationalen Wesens gefunden hat. 1 7

Die west-orthodoxe Politisierung der frommen ostjüdischen Massen erweckte auch bei dem 'rückgekehrten' Birnbaum nur Ärgernis. Er schrieb: Die Orthodoxie des Westens, die "ob ihrer Tapferkeit gewiß Achtung verdient", verkennt "neuerdings, daß sie, aus dem Lebenszusammenhang mit dem jüdischen Glaubensvolke gerissen, nicht den Beruf hat, dieses zu bevormunden und ihm die eigene Armut an Volkslebendigkeit mitzuteilen"18. Die Entgegnung, die Jacob Rosenheim an Birnbaums Adresse richtete, spiegelt die in den fuhrenden Kreisen der Orthodoxie in Deutschland vorherrschende Meinung über die Beziehung zwischen Ost und West wider: Ost- und westjüdische Orthodoxie vereinigt bilden eine Macht oder besser gesagt eine Kraft, die in fruchtbarster Wechselwirkung Israel zur wahrhaftigen Gottesvolkheit zu erheben vermag. Getrennt von einander, getrennt durch Mißtrauen oder Selbstüberschätzung, geht die westjüdische Schicht an ihrem 'Mangel an Volkslebendigkeit', die ostjüdische an ihrer technischen 'Hilflosigkeit' unrettbar zugrunde. 1 9

Damals schrieb ein anderes Glied der orthodoxen Führerschaft, Isaac Breuer, die weitsichtigen Worte: "Das Schicksal der deutschen Orthodoxie wird im Osten besiegelt."20 Er meinte damit nicht nur den politischen Aspekt, bezüg-

17

18

19 20

Samuel Rappaport: Der Gottsucher. In: Vom Sinn des Judentums. Ein Sammelbuch zu Ehren Nathan Birnbaums. Hg. von Α. E. Kaplan u. a. Frankfurt a. M.: Hermon-Verlag 1925, S. 34-43, hier S. 39. Nathan Birnbaum: Gottes Volk. Wien, Berlin: Löwit 1918; zitiert in: Rosenheim: Ohole Jakob (wie Anm. 8), Bd II, S. 200. Ebd. Siehe meinen hebräischen Vortrag: Wandlungen der Einstellung des orthodoxen Judentums in Deutschland zur Nationalbewegung im Ersten Weltkrieg. In: Proceedings of the Se-

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Mordechai

Breuer

lieh dessen er mit seinem Freund Pinchas Kohn einer Meinung war, sondern auch den fur die westliche Orthodoxie lebensnotwendigen religiös-kulturellen Einfluß, den er von dem durch den Weltkrieg herbeigeführten engen Anschluß von Ost und West erwartete. Was er damit nicht meinen konnte, das war das inneqüdische Geschehen der letzten fünfzig Jahre, in deren Verlauf das geistige Vermächtnis der deutsch-jüdischen Orthodoxie zu kaum mehr als einem Thema für historische Studien geschrumpft ist, fast gänzlich überwältigt von der mehr als je bildungsfeindlichen Tradition der osteuropäischen Orthodoxie, die heute in allen traditionell-jüdischen Zentren der Welt vorherrschend ist. Auch von dem Erzvater Jakob sagen die Weisen: "Er weissagte, ohne die tiefere Bedeutung seiner Voraussage zu erkennen."21

21

venth World Congress of Jewish Studies, History of the Jews in Europe, Part 4. Jerusalem: World Union of Jewish Studies 1981, S. 167-177, hier S. 170, Anm. 14. Raschi zu Genesis 45,18.

Gerhard Biller

Dezisionismus - Zionismus - Thedaismus Zum Potential eines genuin jüdischen Aufbruchs

Die Geschichte von Religionen und Schulen, von Parteien, Revolutionen und Bewegungen hat gelehrt, "daß der Preis furs Überleben das praktische Mitmachen, die Verwandlung der Idee in Herrschaft ist"1. Das gilt in besonderem Maße für den politisch-säkularisierten Zionismus Theodor Herzls, der eine Weltbewegung wurde. Es gilt aber auch mit weitaus engerer Wirkung fur Isaac Breuers (1883-1946) orthodox-jüdisches Ideal des Thedaismus. 2 Beide - Herzl, den Wiener Feuilletonisten und Schriftsteller mit juristischer Ausbildung, und Breuer, den Philosophen des Judentums und Rechtsphilosophen aus Frankfurt am Main und seit 1936 Jerusalem3 - treibt die Sorge um Juden und Judentum, und beide wollen von unterschiedlicher Warte aus die Akzeptanz nationaler Emanzipation erreichen. Ihr Aufruf zur Tat ist in jedem Falle das Ergebnis schmerzhaft erfahrener jüdischer Selbstwahrnehmung als einer Wahrnehmung auch der eigenen seelischen Zustände, "deren 1

2

3

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, S. 224. Der Begriff Thedaismus bildet sich aus den Anfangsbuchstaben des programmatischen "Thora im Derech Erez Jißrael", d. i. Israels von der Thora gestaltete Lebensart und sittliches Betragen. Zu Breuer, der in Deutschland bisher keineswegs ausreichend gewürdigt worden ist, gibt es eine umfassende Darstellung von Jacob S. Levinger: Isaac Breuer. Concepts of Judaism. Jerusalem 1974 (mit Auswahlbibliographie). Besonders hinzuweisen ist auf die Ausführungen von Friedrich Niewöhner: Isaac Breuer und Kant. Ein Beitrag zum T h e m a Kant und das Judentum. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, Jg 17(1975), S. 142-150; und ebd., Jg 19(1977), S. 172-185: Isaac Breuer und Kant II. Isaac Breuer "Mein Weg" V. Kap. Philosophie. - Vgl. neuerdings Matthias Morgenstern: Von Frankfurt nach Jerusalem. Isaac Breuer und die Geschichte des "Austrittsstreits" in der deutsch-jüdischen Orthodoxie. Tübingen: J. C. B. Mohr/Paul Siebeck 1995 (Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 52). - Unverzichtbar ist das Opus magnum des Sohnes von Isaac Breuer, Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Die Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Eine Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986. Es ist eine Quellenstudie ersten Ranges auch zu Isaac Breuer im Kontext der Beschreibung der Lebensweise der Juden im Deutschen Reich zwischen Akkommodation und gänzlicher Abkapselung. Neben den Arbeiten von Matthias Morgenstern und Friedrich Niewöhner vgl. (im Druck): Josef R. Lawitschka: Metageschichte. Jüdische Geschichtskonzeption im frühen 20. Jahrhundert. Franz Rosenzweig, Isaac Breuer und das Echo. (Diss.) Berlin 1996 [Microfiche, mit vollständiger Bibliographie].

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Gefühle und Begehrungen", wie Julius Hermann von Kirchmann die Selbstwahrnehmung ausdrücklich in Abhebung vom weiten Bedeutungsfeld von Wahrnehmung überhaupt definiert 4 . Sollen nun die Erkenntnisse aus solcher Selbstwahrnehmung, die auch Erkenntnisse politischer, sozialer, kultureller oder religiöser Befindlichkeit einschließen können, nicht im übertragenen Sinne quietistisch-kontemplativ sein, müssen sie zu Aktivitäten führen, die eine Änderung der erkannten und beklagten Zustände herbeiführen können. Individuelles Wollen und Verantwortung werden die Fundamente von Programmen, die verwirklicht werden müssen. Dazu bedarf es klarer Entscheidungen. Die Verwirklichung der Idee des Zionismus, insbesondere durch Theodor Herzl, und des ideellen Programms Thora im Derech Erez Jißrael Isaac Breuers können als Beispiele dafür dienen, wie durch Aktivierung schon lange mehr oder weniger unterschwellig vorhandener Vorstellungen praktische Herrschaft erreicht werden kann wie im Falle des Zionismus, oder wie im Falle des Thedaismus durch den ausdrücklich gewünschten Erwerb aller kulturellen Werte der nicht-jüdischen Welt besonders durch die modernen emanziperten Juden 'die Souveränität der Thora' innerhalb der jeweiligen Kultur verteidigt wird als Beginn nationaler jüdischer Emanzipation zur Rettung des Judentums und damit einer jüdischen Nation, die dem Gottesgesetz der Thora verpflichtet ist5.

Konstituentien des Dezisionismus Eine inhaltliche Nähe von Zionismus und Dezisionismus zu behaupten, bedarf der begrifflichen Klärung. Ursprünglich stammt der Terminus Dezisionismus aus dem Bereich des römischen Rechts.6 Zunächst in der deutschen Rechtssprache unbekannt, führte ihn schließlich Carl Schmitt definitiv ein.7 Schmitt wollte gegenüber dem juristischen Positivismus, der gerne behauptete, daß mit den juristischen Erkenntnismitteln jede notwendige Rechtsentscheidung aus dem vorgegebenen Rechtsstoff deduzierbar sei, ein normativ nicht ableitbares, voluntatives Entscheidungsmoment herausstellen, wobei der Wille Hauptträger dieses Entscheidungsprozesses ist. 4

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7

Julius Hermann von Kirchmann: Katechismus der Philosophie. 2. durchges. Aufl., Leipzig: Weber 1881 (Weber's illustrierte Katechismen, 84), S. 23. Große Gestalten des Judentums. Hg. von Simon Noveck. Zürich: Benziger 1972, Bd 2, S. 52f. Vgl. Hasso Hofmann: Dezision, Dezisionismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd 2. Hg. von Joachim Ritter. Basel/Stuttgart: Schwabe 1972, Sp. 159-161. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 2. Aufl. München: Duncker & Humblot 1934; ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1934 (Schriften der Akademie für deutsches Recht).

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Schmitt sagt: Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist. [...] Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet, ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat der Begründung.8 Es gibt also Entscheidungen, die nicht weiter hinterfragt werden können, d. h. der Dezisionismus tritt als Element normativ nicht informierter, bloß entschlossener Aktion in den Vordergrund, besonders im Ausnahmefall, wenn eine souveräne Entscheidung überhaupt erst die Situation fur die Geltung von Rechtssätzen schafft. Dezisionismus stellt eine Ordnung im Sinne faktischer Normalität her. Hier klingt der Satz von der normativen Kraft des Faktischen an, der besagt, daß politische und soziale Gegebenheiten rechtswandelnde Wirkung haben können. Das Faktische überstülpt hier das Normative. Einer der Urväter des Dezisionismus, Thomas Hobbes, sagt: "Autoritas, non Veritas fecit legem"9, und findet damit eine der prägnantesten Formulierungen für Dezisionismus. Dezisionismus also ist Entscheidungsdenken und kennzeichnet im Unterschied zum Normativismus oder Gesetzesdenken eine Vorgehensweise, bei der "als die letzte rechtswissenschaftlich gefaßte Vorstellung nicht eine Norm, sondern eine Dezision erscheint"10. Schmitts Auffassung vom Dezisionismus wurde später verallgemeinert und damit auch für die Philosophie von Bedeutung. Im Rahmen der Diskussion über die methodische Begründung von Handlungen wird unter Dezisionismus allgemein die Weigerung gesehen, bestimmte, für unser Handeln erforderliche Entscheidungen zu begründen [dies wäre die praktische Seite] oder aber die Behauptung aufzustellen, daß eine solche Begründung wegen der Unüberschaubarkeit der Handlungsbedingungen oder wegen der Unbegründbarkeit der obersten Normen, Zwecke oder Werte nicht möglich ist [dies wäre die theoretische Seite]." Ein Leitmotiv Herzischen Handelns klingt hier an: Für das jüdische Volk in seiner Gesamtheit waren solche Handlungsbedingungen, die es aus seiner Misere hätten fuhren können, nicht überschaubar.

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Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (wie Anm. 7), S. 41. Thomas Hobbes: Leviathan sive de materia, forme, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis. Pars secunda, de civitate, cap. XXVI. In: ders., Opera philosophica quae Latine scripsit omnia. In unum corpus nunc primum collecta. Aalen: Scientia Verlag 1961 [Reprint d. Ausg. London 1839-1845], Bd 3, S. 202. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (wie Anm. 7), S. 7. Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1965.

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Es war wohl Karl Löwith, der als erster den Dezisionismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt als geistesgeschichtliche Kategorie eingeführt hat im Sinne einer Philosophie der entschlossenen Existenz.*2 Man kann sagen, daß der Dezisionismus heute eine philosophische Lehre ist, die der menschlichen Entscheidung besondere Bedeutung beimißt. Im Dezisionismus wird einerseits der nahezu absolute Eigenwert der Entscheidung behauptet, andererseits zugleich deren Notwendigkeit. Eine Theorie des menschlichen Handelns, insbesondere des politischen Handelns, kann nicht ohne den Begriff der Entscheidung auskommen. Hermann Lübbe, der Hauptvertreter der Praktischen Philosophie und der Dezisionismustheorie in Deutschland, definiert Dezision wie folgt: Dezision heißt eine Entscheidung dann, wenn sie in einer Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang fällt, bevor noch die Gründe, d. h. Zweck-Mittel-Relationskenntnisse beieinander waren, die sie im materiellen Sinne zur richtigen, erfolgssicheren Entscheidung hätten machen können. 13

Vonnöten ist ein Ausnahmezustand, der dann herrscht, wenn die Orientierung an Normen und Regeln, am Herkömmlichen und Gewohnten nicht mehr weiterhilft. In einer solchen Ausnahmesituation gewinnt die Aktion Entscheidungscharakter. Das Subjekt des Handelns setzt die alten Normen für sich außer Kraft und entscheidet in der Freiheit einer quasi-absoluten Situation. 14

Eine solche Entscheidung kann auch für andere gelten. Die Funktion der Entscheidung im Extremfall besteht darin, daß in einer Situation, in der, obwohl sie ungeklärt ist, das Handeln keinen Aufschub duldet, der Hiatus fehlender Gründe überbrückt und ohne diese festgelegt wird, was zu tun sei. 1 5

Zu einer Phänomenologie der Entscheidung gehört als philosophisches Wesensmerkmal vor allem die Zeitlichkeitsstruktur der Entscheidungssituation. Entscheidung heißt nicht ohne weiteres der Akt, sich auf eine unter sich ausschließenden Möglichkeiten, deren Vorzüge und Nachteile nicht völlig durchschaubar sind, festzulegen; ein solcher Akt hieße eher eine Wahl. Zur Entschei-

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Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt. In: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz. Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 93126. Vgl. Hasso Hofmann: Dezision, Dezisionismus (wie Anm. 6), Sp. 160-161. Hermann Lübbe: Dezisionismus in der Moral-Theorie Kants. In: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Hg. von Hans Barion u. a. Berlin: Duncker & Humblot 1968, Teilband 2, S. 567-578, h i e r S . 576. Hermann Lübbe: Zur Theorie der Entscheidung. In: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Hg. von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Basel/Stuttgart: Schwabe 1965, S. 118-143, hier S. 127. Ebd.

Dezisionismus

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Thedaismus

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dung wird die Wahl erst unter den Wirkungen eines Z w a n g s , der sie unumgänglich macht. D i e Entscheidungssituation hat ihre Schärfe darin, daß in ihr die Entscheidung nur für eine g e w i s s e Zeit hinausgeschoben werden kann: die Entscheidungssituation ist befristet. 1 6

Darin, daß der Mensch sich überhaupt entscheiden kann, liegt seine Würde, denn Entscheidung korrespondiert mit Verantwortung. Ein Mensch mit Entscheidung wird nicht so leicht das Werkzeug anderer, über ihn hinweggreifender Mächte. Daß solche Mächte, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt einer latenten Diskursabstinenz des Dezisionismus vorhanden sind, ist offensichtlich. Habermas habe darauf aufmerksam gemacht, daß nach dezisionistischer Lehre politische Entscheidungen im Kampf zwischen Alternativen fallen, die zwingender Argumente entraten und einer verbindlichen Diskussion unzugänglich bleiben. Der Sinn der Entscheidung läge - im Gegensatz dazu schlicht in der verbindlichen Diskussion. Politische Entscheidungen als Ergebnis verbindlicher Diskussionen schließen aus Achtung vor getroffenen Entscheidungen die Zustimmung zur diskursiv ermittelten Wahrheit ein. Andererseits jedoch gibt es eine solche politische Achtung nicht, "solange die Wahrheit, auf deren Anspruch die Legitimität der Entscheidung beruht, sich einem noch nicht erschlossen hat" 17 . Welche wesentlichen Komponenten konstituieren also den Dezisionismus? Es liegt in der Regel ein Ausnahmefall vor, der eine souveräne Entscheidung verlangt (autoritas, non Veritas). Diese Entscheidung muß in der Praxis nicht begründet werden, weil die Unüberschaubarkeit der Handlungsbedingungen dies nicht zuläßt und Normen für das Handeln nicht erst begründet werden können, denn: Dezision erfolgt unter Zeitdruck in einer Situation vermeintlicher Ausweglosigkeit. Der Handlungszwang unter Zeitdruck kann einen Diskurs ausschließen (Diskursabstinenz), denn die Entscheidungssituation ist befristet. Die faktische Normalität überstülpt die normative. Es muß jetzt gehandelt werden.

War Herzls politischer Zionismus ein Dezisionismus? 18 Der ursprüngliche, radikale Zionismus - mit dem Ziel der Wiedervereinigung der über die Länder zerstreuten Juden in Palästina und der Gründung eines jüdischen Staates dort - ist eine nicht weniger genial-enthusiastische wie dok16 17

18

Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung (wie Anm. 14), S. 130. Hermann Lübbe: Dezisionismus - eine kompromittierte politische Theorie. In: Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft. Hg. von H. Lübbe. Düsseldorf/Wien: Econ-Verlag 1980, S. 161-177. hierS. 162. Auf den naheliegenden Versprecher Zionismus-Dezionismus statt Dezisionismus sei am Rande hingewiesen. Gäbe es einen Dezionismus, Herzls Zionismus hätte sich bestimmt nicht als solcher erwiesen.

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trinär-rationalistische Idee, die die alte, schwierige Judenfrage auf eine einfache Formel brachte und einen einleuchtenden Syllogismus konstruierte: Den Juden geht es schlecht, weil sie ein zerstreutes Volk ohne Land und ohne Staat (ein Golusvolk) sind; die Not der Juden wird beseitigt, wenn sie sich in ihrem alten Land, in Palästina, wieder vereinigen und dort einen Judenstaat errichten. 19

Eine ebenso rationalistische wie enthusiastische Idee darf man auch bei Theodor Herzl annehmen, der 1896 die Broschüre Der Judenstaat veröffentlichte und damit bereits im Titel zwei gänzlich entgegengesetzte Elemente auf einen Begriff brachte, zu einer Zeit, als er selbst noch, wie Amos Elon schreibt, ein Führer ohne Volk und ein Staatsgründer ohne Land war. 20 Zwei Einsichten bestärkten Herzl bei der Vorstellung seines Konzeptes: die Vergeblichkeit assimilatorischer Bemühungen und die offensichtliche Unmöglichkeit, dem Antisemitismus beizukommen. Herzl hat hierzu bekanntlich bittere, persönliche Erfahrungen gemacht. Herzl glaubte zwar an ein stetiges Aufsteigen der Menschheit zu immer höherer Gesittung. Dieser Prozeß gelinge aber nur verzweifelt langsam. So sieht er auch in der Judennot - seinem entscheidenden Ansatzpunkt - ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute nicht fertig würden. Die Judennot sei zudem ein Anachronismus21, gegen den auch Juden unter den gegebenen Bedingungen nichts ausrichten können. Selbst glühender jüdischer Patriotismus und alle Beiträge zur Mehrung der Künste und Wissenschaften, zur Mehrung auch des Reichtums der Vaterländer durch Handel und Wandel 22 konnten diese Not nicht mindern. Gleichwohl ist die Judenfrage für Herzl bekanntlich keine soziale oder religiöse, sondern vielmehr eine nationale Frage. Um sie zu lösen, müsse sie zu einer politischen Weltfrage gemacht werden, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein werde. Herzl trat mit dieser Ansicht in klaren Widerspruch zur herrschenden Meinung, die man mit Henrik M. Broder in dem Satz zusammenfassen kann: "Wären die Juden etwas weniger jüdisch und die Nichtjuden ein wenig duldsamer, wäre das ganze Problem vom Tisch."23 Herzls These von der Judenfrage als nationaler Frage weist auf eine völlig andere Ebene, in der es nicht mehr um Anpassung, Toleranz und Verständnis ging. 19

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Sigbert Feuchtwanger: Die Judenfrage als wissenschaftliches und politisches Problem. Berlin: Heymann 1916, S. 29. Amos Elon: Herzl. London: Weidenfeld and Nicholson 1975, S. 6 (Deutsch u. d. T.: Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl. Sein Leben und sein Werk, Wien/München/Zürich 1974). Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage [Nachdruck d. Ausg. Leipzig/Wien 1896]. Osnabrück: Zeller 1968 (Milliaria, 12), S. 10. Ebd., S. 11. Henrik M. Broder: Die Geburt einer Utopie. Theodor Herzls Judenstaat. Der Weg von der Idee zur Wirklichkeit. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 222 (27,/28. September 1986), S. 11. Broders Untertitel stützt die These der Transposition von Idee in Herrschaft.

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Wir sind ein Volk - der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das imm e r in der Geschichte so war. In der Bedrängniss stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden [...]. 2 4

In diesem eigenen Staat nur könne das jüdische Volk gedeihen, weil es nur dort zu sich und seinen Prinzipien zurückfinden kann. Indirekt entgegnet Herzl, wenn auch hundert Jahre später, der Ansicht des Grafen Clermont-Tonnère, der 1791 vor der Pariser Nationalversammlung den kennzeichnenden Satz ausgesprochen hat: "den Juden als Nation ist allerdings alles zu verweigern, den Juden als Individuen ist alles zu gewähren: sie sollen Bürger werden!" 25 Daß es mit der Einräumung der vollen Menschenrechte niemals glattging, daß auch dies allenfalls eine nur logische Konsequenz einer neuen Weltanschauung sei und nicht konsequent auch materiell gewollt, wurde schon immer behauptet. Wir wissen zwar, daß Herzl als Begründer des politischen Zionismus weder diesen Begriff eingeführt hat noch der erste war, der die Vorstellung einer jüdischen Nation mit nationaler Souveränität auf eigenem Boden geäußert hat.26 Schon 1882 tat das Leon Pinsker als Aizt mit dem Versuch, der von ihm diagnostizierten Judophobie, der Angst vor den Juden als Gespenst, beizukommen mit seiner Autoemanzipation - Ein Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Später bedauerte es Herzl, diese Schrift nicht eher kennengelemt zu haben, selbst auf die Gefahr hin, er habe dann vielleicht sein eigenes Werk unterlassen können. Jedenfalls wurde von der Schrift Pinskers ebensowenig Notiz genommen wie 1893 von Nathan Birnbaums Büchlein Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem eigenem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an alle hochgesinnten Menschen guten Willens. Zu Birnbaum, der auch die Zweiwochenschrift Selbstemancipation herausgab und der der Schöpfer des Wortes Zionismus war27, findet sich übrigens unter dem 1. März 1896 ein Tagebucheintrag bei Herzl: "Birnbaum ist unverkennbar eifersüchtig auf

24

Herzl, Der Judenstaat (wie Anm. 21), S. 26. Clermont-Tonnère. In: Julius Höxter: Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur, Bd. 5: Neueste Zeit: 1789 bis zur Gegenwart (1935). Frankfurt: J. Kaufmann, S. 8. Vgl. Rudolf Kallner: Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett 1976, S. 17. 26 Wegweisend zur "Judenfrage": Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. 2 Bde, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1980; zur Definition von Zionismus: ebd., Bd. 1, S. 273f.; Bd. 2, S. 268 f. Zum Themenkreis Frühzionismus und Judentum s. besonders: Thomas Rahe: Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897. Frankfurt a. M./Bem/New York/Paris: Lang 1988 (Judentum und Umwelt, 21). 27 "Selbstemancipation", Januar 1892. Die erste Verwendung des Wortes Zionismus datiert Bein auf Anfang 1890; die erste ausführliche Definition durch Nathan Birnbaum auf den 1. Februar 1892; vgl. Bein, Die Judenfrage (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 273. 25

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mich."28 Herzl jedenfalls geriet mit seiner Schrift rasch an das Licht der großen Öffentlichkeit. Die Gründe dafür mögen in Herzls Persönlichkeit zu suchen sein, vielleicht auch im Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches und an dessen provokativem Titel - oder war es, wie Broder fragt29, nur eine Laune der Geschichte? Immerhin sah sich Herzl vielerlei Schmähungen ausgesetzt. Man erinnert sich an den aus den Wiener Kaffeehäusern kolportierten Satz: "Ich bin ganz einverstanden mit einem jüdischen Staat, wenn man mich nur zum Botschafter in Wien ernennt."30 Gibt es eine prägnantere Einschätzung der Lage durch einen assimilierten Juden? Herzl wurde beispielsweise auch als jüdischer Jules Verne tituliert31 oder als verkaterter Feuilletonist, der mit seinem "Judenstaat" einen Faschingstraum träume. Der Zionismus wurde als verzweiflungsvoller Wahnsinn bezeichnet: hinweg mit solchen Chimären!32 J. L. Landau, Rabbiner in Johannesburg, überliefert eine andere, abwertende Stellungnahme zu Herzls Aktivitäten: Alexander Scharf, ein Wiener Journalist, habe auf die Frage, ob er nicht auch etwas für die zionistische Sache tun wolle, geantwortet, "daß er bereit sei, seinen Wagen zur Verfügung zu stellen, sobald Herzls Freunde die Notwendigkeit einsehen würden, diesen ins Narrenhaus zu bringen." 33 Amos Elon zitiert in seiner Herzl-Biographie eine ernster zu nehmende jüdische Stimme, die des österreichischen Sozialisten Julius Braunthal, die als repräsentativ für die Mehrheit der Juden in Deutschland und Österreich gelten mag: Sicher wird das jüdische V o l k eines Tages nach Palästina zurückkehren. Aber die Gnade Gottes und der M e s s i a s werden e s zurückführen und nicht ein Herr Dr. Herzl v o n der N e u e n Freien Presse. 3 4

Die zionistische Bewegung wird als utopisch-antijüdisch kritisiert, die nicht in Betracht ziehe, daß orthodoxe Juden selbständig nichts für die Wiederherstellung der jüdischen Nationalität tun dürfen, weil sie auf den Messias warten müssen: man darf dem lieben Gott nicht ins Handwerk pfuschen. Die Reformjuden wiederum strebten nicht die Wiederherstellung der Nationalität an, sondern hofften auf die prophetischen Verheißungen einer Zeit der Veredelung des ganzen Menschengeschlechts. Sabbatai Zwi wird warnend gegen Herzl 28

29 30 31 32 33

34

Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Zionistisches Tagebuch 1895-1899. Hg. von Alex Bein u. a. Berlin: Propyläen 1983, Bd 2, S. 307. Broder, Die Geburt einer Utopie (wie Anm. 23), S. 11. Elon, Herzl (wie Anm. 20), S. 165 Herzl, Briefe und Tagebücher (wie Anm. 28), Bd 2, S. 290. Ebd., S. 307. J. L. Landau: Herzls innerer Ruf. In: Zeitgenossen Uber Herzl. Hg. von Tulo Nussenblatt. Brünn: Jüdischer Buch- und Kunstverlag 1929, S. 117-123, hier S. 119; vgl. auch Elon, Herzl (wie Anm. 20), S. 177. Elon, Herzl (wie Anm. 20), S. 179; vgl. auch Alex Bein: Theodor Herzl. Biographie. Wien: Fiba-Verlag 1934, S. 281 f.

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beschworen und der Zionismus als Miniaturausgabe des mittelalterlichen Messianismus dargestellt.35 War die Resonanz aus den Reihen des desillusionierten Ostjudentums (Rußland, Galizien, Rumänien, Bulgarien) gänzlich anders und positiv, so sah sich Herzl im Westen doch massiven Anfeindungen gegenüber. Mit der Assimilation ließ es sich doch recht bequem leben, und eine materielle wie auch physische Notsituation wurde hier vielfach nicht empfunden. In seinem Kampf jedoch gegen Judennot und darum, aus Judenjungen wieder junge Juden zu machen,36 bietet uns Herzl, der gelernte Jurist, eine Rechtsfigur aus dem Römischen Recht an, die gleichsam als legitimationsstiftende Theorie vom Rechtsgrunde des Staates gelten soll, derer er für seine Pläne bedarf: die negotiorum gestio. Diese Geschäftsführung ohne Auftrag ist die Besorgung der Angelegenheiten eines anderen für dessen Interesse und Rechnung, ohne von ihm dazu beauftragt zu sein oder sonst ein Recht dazu zu haben. Das Geschäft ist zu fuhren, wie es dem Interesse des Geschäftsherrn und seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen entspricht. Für einen Schaden, der durch Handlung entgegen diesem Willen entsteht, ist der Geschäftsführer im allgemeinen ersatzpflichtig, wenn er diese Verschiedenheit des Willens erkennen mußte.37 Entspricht die Geschäftsführung dem Interesse und dem Willen des Geschäftsherm, so kann der Geschäftsführer Ersatz seiner Aufwendungen verlangen. Allerdings kann der negotiorum gestor nur die Auslagen ersetzt verlangen, die er utiliter gemacht hat,38 die nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv im Interesse des Geschäftsherm angemessen sind. Es genügt, daß negotium utiliter captum est, das Geschäft also auf nutzbringende Weise betrieben wurde. Es ist dabei nicht notwendig, daß die Auslagen den gewünschten Erfolg gehabt haben. Der Knecht des Geschäftsherrn, für den der Geschäftsführer z. B. ein Arzneimittel besorgt hat, muß nicht genesen.39 Kritiker des spezifisch politisch-säkularisierten Herzischen Zionismus werden sicher behaupten, daß die 'Medikation' durch Herzl nicht entscheidend gewirkt habe. Wenn also das Gut eines in seinen Aktivitäten Behinderten in Gefahr ist, darf Jedermann hinzutreten und es zu retten versuchen. Dieser Retter ist als Führer fremder Geschäfte der gestor. Sein Auftrag ist 35

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Z u m Messianismus vgl. Gerhard Biller/Ulrich Dierse: Messianismus, messianisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 12), Bd 5 (1980), Sp. 1163-1166. Bein, Theodor Herzl (wie Anm. 34), S. 698: "Das höchste, was er [Herzl] erstrebte, war nicht der Staat. Er sah ihn nur als Mittel an, nicht als Selbstzweck. Das hat er oft ausgesprochen, [...] zuletzt in den schlichten Versen, die er [...] einem Kischinewer Waisenknaben ins Stammbuch schrieb: Wann erscheint mir als gelungen / Mein Bemiih'n auf dieser Erden? / Wenn aus armen Judenjungen / Stolze j u n g e Juden werden." Digesten III, Titel 5, lex 2, heute § 677 f. BGB. Ebd., lex 10. Rudolph Sohm: Institutionen. Geschichte und System des Römischen Privatrechts. Bearb. von Ludwig Mitteis. Hg. von Leopold Wenger. 14. u. 15. Tsd d. 17. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1949, § 72. Die Quasi-Kontrakte, S. 444f.

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ihm von einer höheren Notwendigkeit erteilt, die ich hier als die Rechtsfigur der Nächstenliebe kennzeichnen möchte. Das Handeln des gestors ist auf das Wohl des dominus (Geschäftsherrn) gerichtet, für Herzl das Judenvolk. Dieses Volk ist "gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu fuhren" 40 . Nun ist es im Verlaufe des Daseinskampfes, durch den ein Staat entsteht, kaum möglich, "erst auf umständliche Weise einen Auftrag ordentlich einzuholen oder überhaupt einen Mehrheitsbeschluß"41. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äußeren Notstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen Hut zu bringen. "Darum setzt der gestor einfach den Hut auf und geht voran."42 Herzl, wir wissen es, wird dieser Gestor sein. Entscheidend für den gestor ist dabei aber immer der mutmaßliche Wille des dominus (Geschäftsherrn), der verhindert ist, sich selbst zu helfen. Durch Genehmigung nun wird die Geschäftsführung ohne Auftrag für den Geschäftsherrn in gleicher Art wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäß geschehen wäre. Herzl lehnt übrigens verschiedene, zu seiner Zeit vorherrschende Theorien für eine Legitimation der Staatsentstehung, derer er für sein Vorgehen bedarf, ab. Es mag in diesem Zusammenhang nicht nur ein marginaler Hinweis sein, daß Herzl laut Matrikel der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien bei Georg Jellinek (1851-1911) studiert hat. So hörte er im Wintersemester 1879/80 bei ihm "Geschichte der philosophischen Lehren von Recht, Staat und Gesellschaft", im Sommersemester 1882 "Rechtsphilosophie" und im Wintersemester 1883/84 "Allgemeines Staatsrecht". Ein anderer, Herzl prägender Lehrer in Wien war Lorenz von Stein (1815-1890), der in der Auseinandersetzung mit Fichte, Hegel und Marx zur sozialen Frage - für Herzl zentral bei der modernen Lösung der Judenfrage - in der neuen, industriellen Gesellschaft Stellung bezog. Bei Lorenz von Stein hatte Herzl im Wintersemester 1878/79 "Nationalökonomie" und "Verwaltungslehre", im Sommersemester 1882 und 1883 Rechtsphilosophie belegt. Besonders über Lorenz von Stein dürfte Herzl auch mit Hegels Rechtsphilosophie in Berührung gekommen sein, denn er lehnt ausdrücklich die in der "Wissenschaft vom Staate gegenwärtig herrschende Theorie der Vernunftnotwendigkeit" ab43. Für die Rechtfertigung der Entstehung eines Staates allenfalls ausreichend, weiche sie jedoch "dem Rechtsgrunde des Staates aus"44. Hier klingt Hegels Vorstellung vom Vernunftstaat an als eines Gemeinwesens, in das "die Individuen ihren Willen nach sittlicher Einsicht in die Besonderheit einbrachten"45. Gerade diese "soziale Komponente des hegelschen Liberalis-

40 41 42 43 44 45

Herzl, Der Judenstaat (wie Anm. 21), S. 69. Ebd. Ebd. Ebd., S. 68. Ebd. Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart. Hg. von Hans Fenske u. a. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1987 (Fischer Taschenbuch, 4367), S. 402f.

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mus" 46 , die nicht unbedingt eine Theorie größter individueller Freiheit war, wirkte über Lorenz von Stein auf die Ansätze bürgerlicher Reform. 47 Vor allem aber verwirft Herzl die Theorie vom Gesellschaftsvertrag nach Jean Jacques Rousseau, die er historisch und praktisch im Zusammenhang mit der Gründung eines Judenstaates widerlegt sieht, ja widerlegt sehen muß, 48 zumal es politisch mündige Bürger sind, die gemäß dem contrat social durch willentliche Abtretung ihrer Naturfreiheit an einen Kollektivwillen den idealen Staat schaffen. 49 Die Lehre vom Vertrage gilt dabei nicht einem wirklichen Staat. Sie will nicht behaupten, daß die wirklichen Staaten im Wege des Vertrags geschaffen seien, vielmehr nur, daß ein richtiger Staat sich als durch einen Vertrag seiner Mitglieder entstanden denken lassen muß. "Der Vertrag ist keineswegs als Faktum vorauszusetzen nötig" 50 , vertragstheoretische Konzeptionen in diesem Sinne hat es nie empirisch gegeben. Sie sind im kantischen Sinne allenfalls regulativ, nicht konstitutiv-bindend. Der Vertrag ist somit eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte [praktische] Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er einem solchen Willen zusammen zugestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. 51

Die Vertragstheorie erklärt also den Staat für gerechtfertigt, nicht weil, sondern wenn er sich als durch Vertrag entstanden denken läßt, weil er nämlich nur dann als im Interesse jedes einzelnen seiner Mitglieder gelegen angesehen werden kann. Man muß deshalb überall, wo die Vertragstheorie den Ausdruck Wille gebraucht, den dadurch verbildlichten Ausdruck Interesse einsetzen, wenn man die Vertragstheorie richtig verstehen will. 5 2

Gustav Radbruch ist wohl der einzige deutsche Rechtsphilosoph, der auf Herzls Legitimationstheorie einer Staatsgründung eingeht, wenn er feststellt: Deshalb ist es nicht eine Verbesserung, sondern nur ein anderer Ausdruck des Grundgedankens der Vertragslehre, wenn Theodor Herzl den Staat statt auf Vertrag auf negotiorum gestio gründen will. 5 3

46 47 48 49 50 51

52

Geschichte der politischen Ideen (wie Anm. 45), S. 402. Ebd. Herzl, Der Judenstaat (wie Anm. 21), S. 67f. Herzl, Briefe und Tagebücher (wie Anm. 28), Bd 2, S. 76. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. 4. Aufl., Stuttgart: Köhler 1950, S. 152. Immanuel Kant: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Vorländer. 1. Aufl., Leipzig: Meiner 1913 (Philosophische Bibliothek 47/1), Bd 6: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, S. 94f. Radbruch, Rechtsphilosophie (wie Anm. 50), S. 152.

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Wenngleich Herzl auch als gestor die Society of Jews als moralische Person und als den neuen Moses der Juden54 für die anstehenden politischen und wissenschaftlichen Aufgaben einsetzen will, so ist doch klar erkennbar, daß der erste Akteur Herzl selber ist. Die Realisierung des praktischen Willens liegt also bei Herzl und nicht beim jüdischen Volk, das sich nicht selbst artikulieren kann. "In Basel habe ich den Judenstaat gegründet", schreibt er am 3. September 1897 in sein Tagebuch.55 Um die besondere Dynamik des Zionismus in Gang zu setzen, bedurfte es eines Führers, der das jüdische Volk unterwegs begleitet, und der dafür steht, daß der Beschluß auch zur Tat wird und daß das jüdische Volk sich gleichsam vom Schreibtisch fort und aus den Studierstuben hinaus zur Tat und zur Wirklichkeit begibt - zur Tat und Wirklichkeit natürlich, wie Herzl sie sieht. Herzls Aktivismus erinnert an den Versuch einer praktisch-tätigen Vereinigung von Vernunft und Wirklichkeit durch eine Philosophie der Tat der Junghegelianer kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts während der Krise der Philosophie des Vormärz. 56 Das selbstbestimmte Schicksal ist das Ziel in dieser ersten Phase des Zionismus, wie es Max Brod 57 einmal ausgedrückt hat. Sie wird charakterisiert durch den Aufruf zur Selbstbesinnung, durch vor allem organisatorische und politisch-diplomatische Arbeit. Die Idee verwandelt sich dann in praktische Politik. Herzl setzte Prioritäten und folgte ganz offensichtlich dem westeuropäisch-machtpolitischen Paradigma seiner Zeit.

Dezisionistische Strukturen im Handeln Herzls Was berechtigt uns nun dazu, Theodor Herzl mit seinem politischen Zionismus aufgrund der aufgezeigten Charakteristika gleichsam als Vorläufer des Dezisionismus zu kennzeichnen? "Flectere superos si nequeo, Acheronta movebo."58 Diesem Motto Herzls aus einer Tagebucheintragung vom 8. Juli 1896 kann man eine Reihe weiterer HerzlWorte hinzufügen, die belegen, daß er das unbeugsame Bewußtsein des Führers, eine für Herzl durchaus gebräuchliche Titulierung, seiner Bewegung hatte. Eini53

Radbruch, Rechtsphilosophie (wie Anm. 50), S. 152. Herzl, Der Judenstaat (wie Anm. 21), S. 70. 55 Herzl, Briefe und Tagebücher (wie Anm. 28), Bd. 2, S. 538. 56 Vgl. Horst Stuke: Philosophie der Tat. Studien zur 'Verwirklichung der Philosophie' bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten. Stuttgart: Klett 1963 (Industrielle Welt, 3), S. 31. 57 Max Brod: Die dritte Phase des Zionismus. Berlin: Verlag der Zukunft 1917 (Sonderdruck aus "Die Zukunft", Nr 16, 1917), S. 2. 58 Vergil: Aeneis, VII, 312, dort: "Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo." - Herzl, Briefe und Tagebücher (wie Anm. 28), Bd 2, S. 397, dort fälschlich als Vergil, Aeneis, VIII, 560 angegeben. 54

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ge wenige Beispiele, die Felix Aron Theilhaber, Arzt, Soziologe und Schriftsteller, Sohn Adolf Theilhabers, zusammengestellt hat, mögen dafür Zeugnis ablegen. 59 "Mit Einfachem und Phantastischem fuhrt man die Menschen", nur das Phantastische ergreift die Menschen. Und wer damit nichts anzufangen w e i ß , der m a g ein vortrefflicher, braver und nüchterner Mann sein und selbst Wohltäter im großen Stil. Führen wird er die M e n s c h e n nicht, und e s wird keine Spur v o n ihm b l e i b e n . 6 0

Herzl aber ist der entscheidungsbereite Führer, der sogar von sich sagen kann, er brauche keine Majorität, weil er kein Majoritätsbedürfnis habe. W a s ich brauche, ist nur, daß ich mit meiner eigenen U e b e r z e u g u n g im Reinen bin. Dann bin ich zufrieden, selbst w e n n kein Hund v o n mir ein Stück Brot nimmt.61

Weil er sich zudem stärker fühle als seine Gegner, könne er versöhnlich sein eine Versöhnlichkeit in klarer Überzeugung seines Sieges. "Ich habe das Judenproblem gelöst"62, sagt Herzl 1895 zu Arthur Schnitzler, noch vor der Abfassung des Judenstaates, begeistert und überzeugt von der Realisierbarkeit seines Plans eines großen Exodus der Juden in ein noch nicht feststehendes Land. Seine Selbsteinschätzung ging so weit, daß er Schnitzler sogar das Direktorat des zukünftigen jüdischen Nationaltheaters zudachte63, zu einem Zeitpunkt also, als er noch auf dem Wege vom ästhetisierenden zum politisierenden Zionisten war. Herzls Ziel war politisch, aber der Rechtsanspruch moralisch und historisch. Es war mehr der moralische als der politische Furor, der ihn trieb, ein urjüdisches prophetisches Erbgut. Dadurch erscheint Herzl nicht nur als der Bahnbrecher des Zionismus, sondern als erster moderner Politiker, der, ohne j e d e politische Macht hinter sich, allein a u f die Idee des Rechtes pochend, eine ihrer inneren Beschaffenheit nach politische Forderung erhebt, seiner Zeit weit vorauseilend. 6 4

Diesen 'Rechtsanspruch' wollte Herzl mit visionärem Sehen, prophetischem Blick, ungeheurem Führerbewußtsein, adeligem Stolz verwirklichen, wenn auch oft .unter völligem Verkennen der realen politischen Kräfte. 65 59 60 61 62 63 64

65

Felix Aron Theilhaber: Herzl-Worte. Berlin: Welt-Verlag 1921, S. 34-38. Ebd., S. 35. Ebd., S. 37. Elon, Herzl (wie Anm. 20), S. 165. Ebd. Adolf Böhm: Die Persönlichkeit Herzls als Kraftquelle des Zionismus. In: Zeitgenossen über Herzl (wie Anm. 33), S. 263-266, hier S. 265. Adolf Böhm ist der Verfasser einer immer noch wegweisenden Geschichte des Zionismus: Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges. Berlin 1935. Böhm, Die Persönlichkeit Herzls (wie Anm. 64), S. 263.

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Isaac Breuer und der Thedaismus: Antizionistischer Zionismus In seiner Kritik des Zionismus betont Isaac Breuer, daß ebenso wie Moses Mendelssohn die soziale, Herzl die nationale Emanzipation der Juden eingeleitet habe. Der Ruf nach nationaler Emanzipation jedoch entsprang golusentfremdeter Kehle. Herzl hatte nicht mehr jene innere Sehnsucht in sich, die im Hoffen auf das Nahen des großen Gottestages besteht, der allein die Rückführung in das unvergessene Land der Väter realisieren kann. Herzl hat, so Breuer, den tollkühnen Sprung mitten unter die Großmächte g e w a g t und hat, v o n ihnen w i e ein Narr angestarrt, den politischen Anspruch auf das Erbe der Väter e r h o b e n . 6 6

Diese Wahnsinnstat sei allerdings, besonders durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges, geschichtlich bestätigt worden. Die nationale wie auch die soziale Emanzipation sei über die jüdischen Massen buchstäblich hereingebrochen. D i e Wortführer der nationalen Emanzipation sind v o n weitesten Kreisen der jüdischen M a s s e n g e n a u s o abgelehnt worden w i e die Wortführer der sozialen Emanzipation. Aber die Vorsehung hat beide in ihren Dienst g e n o m m e n . D i e soziale Emanzipation w i e die nationale Emanzipation bilden in der jüdischen Geschichte - EPOCHE!67

Die 'ungeheure Schuld' der zionistischen Führer bestand darin, ihre Parteiideologie über das jüdische Gesamtinteresse gestellt zu haben. Die Großmächte reagierten nur auf den nach außen gerichteten Zionismus, der "lediglich die Schaffung eines nationalen Heims für eine heimatlose Nation" verlangte 68 . Der nach außen gerichtete Zionismus wollte die Krankheitssymptome des jüdischen Volkes beseitigen, die durch ein Hervorkehren der Unterschiede zu den anderen Mächten in Erscheinung getreten waren. Angleichung war das Ziel, Heilung der inneren Schäden wurde nicht angestrebt. Die nationale Reformbewegung oder Ideologie, wie Breuer den politischen Zionismus auch bezeichnet, hat sich gegen das nationale Gottesrecht der Thora gewandt, weil es die jüdische Nation zu sehr entnationalisierte. Breuer erklärt dies so: Für die Thora hat Gott die jüdische Nation geschaffen, auf daß sie die Thora als ihr nationales Recht aus Gottes Händen e m p f a n g e und in der Thora Sinn und Z w e c k ihres nationalen w i e ihres individuellen Seins erblicke. Gott und Gottes Thora ist dieser Nation schlechterdings alles. Wie sie für Gottes Thora erstanden, s o empfängt sie ihr Land für Gottes Thora und leidet ihr Schicksal um Gottes Thora.69 66 67 68 69

Isaac Ebd., Ebd., Ebd.,

Breuer: Das jüdische Nationalheim. Frankfurt a. M.: Kauffmann 1925, S. 19. S. 21. S. 27. S. 29.

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So ist auch der Wille Gottes der einzige Souverän für die jüdische Nation, und der Verrat an ihr durch den Zionismus Herzls besteht in dem Streben einer völligen Säkularisation dieser jüdischen Nation. D i e j ü d i s c h e Nation überläßt Gottes Recht den Juristen, Gott selber den Rabbinern und schenkt förderhin sich keinem mehr. Sich nur gehört sie, s i c h ! 7 0

Emanzipation hieß Emanzipation der Nation von Gott und Gottes Thora, die Rufe nach Befreiung schlossen auch die Befreiung hiervon ein. Die thoratreue Nation jedoch steht auf der Seite des göttlichen Geistes, nicht auf der Seite von Macht und Gewalt. Die jüdische Nation ist eine Gottesnation und keine selbstherrliche Nation. Den politisch-zionistischen Säkularisationsbestrebungen stellten Breuer und Teile der Orthodoxie ein eigenes Ideal entgegen, das dem Gedankengut der Agudat Israel entsprang, die der "Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums" und deren Schöpfer, Samson Raphael Hirsch, übrigens der Großvater mütterlicherseits Isaac Breuers, nahestand. Über ihre Vorgeschichte, Gründung und erste Entwicklung berichtet Jacob Rosenheim. 71 Auf die Gründungsvoraussetzungen einer orthodox-jüdischen Weltbewegung und die Schwierigkeiten, den Chassidismus mit Schwerpunkt in Polen, die traditionell rabbinische Gegenbewegung gegen den Chassidismus mit Schwerpunkt in Litauen, die radikale Orthodoxie in Ungarn sowie die deutschjüdische "Kulturorthodoxie" organisatorisch zusammenzufassen hat jüngst Matthias Morgenstern in einem glänzenden Artikel hingewiesen. 72 Dabei war vor allem eine gewisse Modernisierung der Orthodoxie und ein demokratisches Vorgehen bei der Abfassung der Organisationsstatuten im Sinne Isaac Breuers, dem später der gelegentliche Klerikalismus-Vorwurf nicht erspart blieb. 73 Ein frühes Arbeitsprogramm der Agudat Israel sah, so Rosenheim, im Umriß vor: -

die großzügige Förderung des Thorastudiums und der jüdischen Erziehung; die Sicherung der materiellen Seite der jüdischen Existenz; die Schaffung einer wahrhaft jüdischen öffentlichen Meinung in Presse und Literatur;

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Breuer, Das jüdische Nationalheim (wie Anm. 66), S. 31. Jacob Rosenheim: Erinnerungen 1870-1921. Hg. von Heinrich Eisenmann und Herbert N. Kruskat. Frankfurt a. M.: Kramer 1970, S. 109-125. Matthias Morgenstern: Ein Kontrastprogramm zum Zionismus. Das verlorene Erbe der deutsch-jüdischen Orthodoxie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 3 (4. Januar 1997), S. 5. Friedrich Niewöhner: Rückkehr der Söhne. Soma Morgenstern und die wiederentdeckte Orthodoxie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr 30 (5. Februar 1997), S. N5.

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- die Einsicht darein, daß es eine Ehrenpflicht sei, für das wahre Thorajudentum einzutreten. Die Organisation sollte daher volkstümlich und thoratreu sein mit einem Areopag der besten Thoragelehrten. Als weiteres organisatorisches Hilfsmittel galt das Prinzip der Dezentralisation.74 Die Organisation sollte den vor einhundert Jahren seiner Seele beraubten Organismus der jüdischen Gesamtheit wieder zum Leben erwecken, ihm die Seele wiedergeben und alle seine Glieder zu funktionsfähigen Organen der Seele machen.75 Ähnlich klingt die Präambel, die Isaac Breuer einem Gesetzesentwurf für die jüdische Volksgemeinschaft in Erez Jissrael vorschlägt: Die Juden Palästinas, geeint durch den Willen, auf heimatlichem, heiligen Boden das dem jüdischen Volk von Gott offenbarte, von den Vätern überlieferte Gesetz der Thora, wie es in schriftlicher und mündlicher Lehre vorliegt und fur die Zeit der Zerstreuung im 'Schulchan Aruch' 76 vorbildlich zusammengefaßt ist, als unverbrüchliche Grundlage ihres Gemeinschaftslebens anzuerkennen und im Rahmen der allgemeinen Staatsgesetze zu verwirklichen, treten zur jüdischen Volksgemeinschaft zusammen, die vom Staat als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt wird. Zweck der jüdischen Volksgemeinschaft ist die Förderung des Wohles des jüdischen Volkes in Palästina und des Wohles des ganzen Landes im Rahmen der allgemeinen Staatsgesetze auf dem Boden der Thora. Es sind also die allgemeinen Staatsgesetze und die Gesetze der Thora maßgebend. 77

Den Kampf um die nationale Emanzipation bestreitet Isaac Breuer nicht im Sinne des zionistischen Verrats an Gott, sondern im Sinne des von ihm gefundenen und auch ausgefüllten Begriffs des Thedaismus. Mit diesem Kunstwort, das, wie angedeutet, aus den hebräischen Anfangsbuchstaben des Breuerschen Programms Thora im Derech Erez Jisrael gebildet wurde, möchte er den vielfach mißverstandenen Begriff Thora im Derech Erez präzisieren, besser gesagt: neu fassen. Thora im Derech Erez, Bildung vereint mit der Thora, war ein von Samson Raphael Hirsch ausgegebenes Losungswort 78 , das die Integration weltlicher Bildung und Pflege der Zeitkultur in die jüdische Welt und Lebensanschaunng propagierte. "Schön ist das Studium der Väter, verbunden mit weltlicher Beschäftigung."79 "Nicht die Thora

74

Jacob Rosenheim: Was will Agudas Jisroel. Referat erstattet der Konferenz zu Kattowitz am 12. Siwan 5672 (12. Mai 1912). In: ders., Ausgewählte Aufsätze und Ansprachen. Frankfort a. M. 1930, Bd 2, S. 164-173, bes. S. 169-171.

75

Ebd., S. 166. Schulchan Aruch: Kompendium des jüdischen Ritualgesetzes und Rechts in systematischer Zuordnung. Breuer, Das jüdische Nationalheim (wie Anm. 66), S. 106-116, bes. S. 106f. Vgl. Mordechai Breuer: The "Thorah-Im-Derekh-Eretz" of Samson Raphael Hirsch. Jerusalem/New York: State University of N e w York Press 1970. Rosenheim, Erinnerungen (wie Anm. 71), S. 23, mit dem Hinweis: Mischna, Sprüche der Väter, 2 , 2 a .

76

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lebensfähig, sondern das Leben thorafähig zu machen, ist das Ziel" 80 , das Isaac Breuer in seinem Buch Der neue Kusari entwickelt. Wir kennen Scholems scharfe Kritik an diesem Programm: 81 -

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nicht der Aufweis des Weges zum Judentum, sondern die Verzweiflungstat um die Selbsterhaltung einer Variante des Judentums werde durch Breuer postuliert; das Programm Thora im Derech Erez Israel korrigiere nur das alte Schlagwort Thora im Derech Erez: der nationale Sozialismus des Gottesstaates im Heiligen Lande solle den Parolen, die den Abfall vom wahren Judentum propagieren, entgegengestellt werden; Hirschs Welt sei aber längst zusammengebrochen. Sie sei mit ihren Überzeugungen in einer vergangenen Zeit bürgerlicher Akkomodation von Bedeutung gewesen. Breuer verfalle, so Scholem, mit seiner Erneuerungsidee in einen separatistischen, mystischen Traum von Macht und Herrschaft, wobei Thora im Derech Erez zu einem Vehikel der Assimilation geworden sei: statt das orthodoxe Rückgrat zu stärken, sei es vielmehr gebrochen worden. Der Thedaismus habe als akkommodativ-exegetisches Hilfsmittel versagt, der Zionismus habe sich dagegen zu einer Weltlichkeit 'ohne viele Mätzchen' bekannt; die Rettung erfolge nach Breuer lediglich in einem Symbol, der Kenesseth Israel, dem Reich der Metageschichte.

Hier klingt das Breuersche Credo eminent philosophisch, wenn er sagt: Kenesseth Israel ist das a priori des jüdischen Volkes, die erkenntnistheoretische Voraussetzung fur die Begreifbarkeit seiner einzigartigen Geschichte. Erst die 'Geschichte an sich' verleiht der uns erkennbaren Geschichte Sinn und Bedeutung. 82 In seiner Differenzierung der Welt als Schöpfung, dem Soll-Zustand, und der Natur, dem Ist-Zustand, stellt uns Breuer die Thora als das offenbarte Verfassungsrecht des Gottesreiches der Schöpfung dar. Sie ist 'älter' als die Schöpfung und 'älter' als die Natur. D i e Z i e l e d e r T h o r a z u v e r w i r k l i c h e n , hat G o t t d i e S c h ö p f u n g u n t e r n o m m e n . D i e Z i e l e d e r T h o r a d u r c h d e n M e n s c h e n z u v e r w i r k l i c h e n , hat G o t t d i e S c h ö p f u n g in das G e w a n d der Natur gehüllt.83

80

Isaac Breuer: Der N e u e Kusari. Ein W e g zum Judentum. Frankfurt am Main 1934, S. 4 3 6 . Der Titel ist Jehuda Halevis philosophischem Dialogwerk ( z w i s c h e m einem jüdischen Gelehrten und dem Chasarenkönig), "Kusari", entlehnt.

81

Gerhard Scholem: Politik der Mystik. Zu Isaac Breuers "Neuem Kusari". In: Jüdische Rundschau, Jg 39, N r 5 7 (17. Juli 1934). S c h o l e m hielt diese Kritik, mit der er mehr Hirsch als Breuer trifft, für s o wichtig, daß er sie viel später n o c h m a l s veröffentlichte: The Politics o f Mysticism: Isaac Breuer's N e w Kuzari, in: G. Scholem: The Messianic Idea in Judaism. London: George Allenand U n w i n 1971, S. 3 2 5 - 3 3 4 .

82

Breuer, Der N e u e Kusari ( w i e A n m . 80), S. 341.

83

Isaac Breuer: Die Welt als Schöpfung und Natur. Frankfurt a. M.: J. Kaufmann 1926, S. 75.

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Zwischen Sein und Sollen steht das Werden. Wir befinden uns in diesem historischen Prozeß im Zustand des Seins, das bisher geworden ist. Das Sollende soll noch werden. Breuers Definition von Geschichte ist eigenwillig hegelianisch: die Welt als Schöpfung (das Ziel) und die Welt als Natur (der gegenwärtige Zustand) "verhalten sich zueinander wie These und Antithese. Aber Geschichte bildet die Synthese. Die Welt als Natur soll in geschichtlichem Prozeß zur Welt als Schöpfung werden."84 Deshalb darf die Geschichte wegen ihrer unverzichtbaren Funktion nicht versagen. Die Geschichte gewordene Welt als Schöpfung als Ziel und Dingan-sich-der-Geschichte muß schließlich stärker sein als die Welt als Natur, die im Gegensatz dazu im historischen Prozeß die Welt der Erscheinungen ist. Abrahams Söhne haben vierzig Jahre als Schöpfungsnation in Schöpfungsatmosphäre unter Schöpfungsgesetzen gelebt. 85 Dort, in der Wüste, erlebten sie Schöpfungsgeschichte. Die Erwählung Israels beruht auf der Hoffnung, daß die Welt einst als Welt der Schöpfung besteht. Nur dies ist das Manifest jüdischer Besonderheit! Diese spezifische Hoffnung können wir auch als den metahistorischen Raum bezeichnen, "den das jüdische Volk sich zu erhalten wußte" 86 , und der geschichtsphilosophische Systeme, wie z. B. das Hegeische, sprengt, in dessen triadisches Konzept der Fortbestand des jüdischen Volkes nicht paßt. Wenn wir uns entschließen, in diesem Sinne eine substantiell-jüdische Identität anzunehmen, befinden wir uns im metahistorischen Bereich. Metahistorie ist in unserem Zusammenhang nicht als Versuch zu sehen, den Sinn, den Zeit und Wirklichkeit haben, zu deuten, wie es etwa Max Müller als Existenzphilosoph prägnant tat, um nur am Rande auf das Werk eines der wichtigsten philosophischen 'Metahistoriker' hinzuweisen. Metahistorie könnte dann auch definiert werden als eine Suche nach zyklischen oder linearen Gesetzmäßigkeiten oder wiederkehrenden Mustern in der Geschichte. 87 Metahistorisch, verstanden als tiefenpsychologische Erzählstruktur mit einem vorkritisch-paradigmatischen Gehalt, wie nämlich eine spezifisch historische Erklärung auszusehen hat, ist demgegenüber lediglich als methodologisches Prinzip zu beurteilen und gehört in ein anderes Gebiet. 88 84 85 86

87

88

Breuer, Die Welt als Schöpfiing und Natur (wie Anm. 83), S. 118. Ebd., S. 115 f. Vgl. Stéphane Mosès: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 65. Vgl. die frühe Diskussion zu "History and Metahistory" zwischen Allan Bullock, Christopher Dawson, G. J. Renier und Max Beloff in: History today. An illustrated monthly magazine edited by Peter Quennell and Allan Hodge, February 1951, S. 5-11; June 1951, S. 9-12; July 1951, S. 69; September 1951, S. 57. Hayden White: Metahistory: The historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1973; dt. Ausgabe Frankfurt a.M.: FischerTaschenbuch Verlag 1994, S. 9.

Dezisionismus - Zionismus - Thedaismus

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Die an Isaac Breuer geübte harsche Kritik Scholems, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg als agudistischer Schüler bei Heinrich Ehrentreu, "einem ganz ausgezeichneten Talmudisten und geradezu alt-jüdischen Weisen"89, ein orthodoxes Jahr durchlebte90, kann nicht heißen, daß das Programm des Thedaismus eine Stellungnahme gegen den Zionismus oder gar eine Absage an ihn gewesen ist. Breuers Forderung war im Gegenteil die Forderung eines orthodoxen Juden, eines 'zionistischen Antizionisten', die einen kraftvollen Ruf zur Tat beinhaltete und die damit ein Schritt hin zum Zionismus war. Auch Herzls fundamentalste Ideologie bestand in seiner Aufforderung zum Handeln. Das jüdische Volk sollte zurückgeführt werden in die Geschichte und aus dem Bereich, der Umklammerung seiner Metageschichte herausreifen, die allein im Golus herrschte und während derer das jüdische Volk nicht historisch tätig war. Die Aktivierung eines solchen Geschichtswillens bedeutet für den Juden dann die Selbstbindung des Menschen an ein transzendentes, an ein göttliches Prinzip und von da aus - und nicht von einem billigen Rationalismus aus - die Gestaltung einer menschenwürdigen, gerechten und befriedeten Gemeinschaft. 9 1

Der Sinn jüdischer Geschichte wandelt sich damit, fort von einer Existenz als einer "in die Zukunft projizierten Vergangenheit"92, und versucht die Kluft zu schließen zwischen der fremden, nationalen Gegenwart und der eigenen, religiösen Vergangenheit, die das jüdische Leben so lange bedingten. 'Judesein' sollte nicht mehr identisch sein mit der Feststellung 'Jude im Golus sein'. Das jüdische Volk sollte in die Lage versetzt werden, sich aus dem circulus vitiosus des leidenden Volkes zu befreien, und zwar selbst zu befreien. In dieser Rolle des leidenden, da im Golus weilenden Volkes sah es schließlich auch kein geringerer als Hermann Cohen, "dieser fritzisch-kantische Cohen" 93 , der zu Franz Rosenzweig über den Zionismus gesagt hat: "Die Kerls wollen glücklich sein." In der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums erwähnt Cohen den Zionismus nur einmal beiläufig als Episode. "Wie er das meinte", schreibt Rosenzweig94, 89

90

91 92 93

94

Gershom Scholem: Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975 (Bibliothek Suhrkamp, 467), S. 144. Ders., Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (Bibliothek Suhrkamp, 555), S. 75-79. Josef Kastein: Das Geschichtserlebnis des Juden. Wien/Jerusalem: R. Löwit 1936, S. 23. Ebd., S. 17. Karlfried Gründer: Erfahrung der Geschichte. In: Gedenkschrift Joachim Ritter. Münster: Aschendorff 1978 (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen WilhelmsUniversität, 65), S. 21-58, bes. S. 51-53. Hermann Cohen: Jüdische Schriften. Hg. von Bruno Strauß. 3 Bde, Berlin: Schwetschke 1924 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums), Bd 1, S. LX; vgl. Gründer, Erfahrung der Geschichte (wie Anm. 93).

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kann ein Ausdruck verdeutlichen, den er mir gegenüber tat, als er mir mein allzu tolerantes Verhältnis zum Zionismus vorwarf und ich es zu verteidigen suchte. Da unterbrach er meine Worte, schob seinen ungeheuren Kopf, den die zartesten Locken umgaben, dicht und drohend an mich heran und sprach: "Ich will Ihnen etwas sagen", und dann - die Stimme zu einem donnernden Flüstern dämpfend: "die Kerls wollen glücklich sein". Die Zukunft des Zionismus ist darin beschlossen, ob diese Worte gegen ihn oder für ihn gesagt sind. 9 5

Sicher klingt hier die Eudämonismus-Kritik Kants mit, man fühlt sich auch an das friderizianische "Kerls, wollt ihr denn ewig leben" erinnert. Das jüdische Volk aber, das Herz der Menschheit, das immer von jeder Krankheit und von jedem Leid zuerst ergriffen wird, bleibt, wenn es nicht glücklich sein soll, in seiner metahistorischen Leidensgeschichte als ein historisches hapax legomenon gefangen. Nicht allein der Breuersche Gedanke des jüdischen Nationalheims, sondern die Akzeptanz und das positive Ergreifen dieser Vorstellung, wie es Isaac Breuer sieht, müssen eine neue Bewußtseinslage schaffen. Beide bedeuten nichts anderes als den Staat als Aufgabe Gottes an das jüdische Volk zu begreifen. Der 16. der Neunzehn Briefe über das Judentum96 Samson Raphael Hirschs bietet hierzu eine Grundlage. Seine soziale Emanzipation wird durch Breuers nationale Emanzipation entscheidend erweitert. Der Thedaismus als Ruf zum Handeln weist einen realen Weg zur Erlösung. Die nationale Akzeptanz auf thedaistischer Grundlage ist eine göttliche Aufgabe auf dem Wege zum Glück. So ist auch der Thedaismus nicht, wie Scholem meint, eine nachdrückliche Akkommodation, sondern eine ausdrückliche Wendung hin zum national-jüdischen Handeln in dem Bewußtsein, daß die Erlösung durch Gott nur kommt, wenn sie von unten begonnen wird. Die Erhebung von unten muß der Erhebung von oben vorangehen. Isaac Breuer provozierte, wie grundsätzlich niemand auf Seiten der jüdischen Orthodoxie, mit seinem Aufruf zum historischen Handeln keinen jüdischen Identitätswechsel. Die Juden sollten die Thora als Juden lesen und nicht mit den Augen fremder Wissenschaft. 97 Dennoch erfüllt sich die Thora nicht allein in der Synagoge. Das Bewährungsfeld des spezifisch jüdischen Gestus ist das volle Leben. Dazu gehört auch das Bewußtsein von der Umdeutung des Begriffs 'Nation' für die Juden, deren Nation bis zu den Napoleonischen Kriegen eine ausgesprochene Religions-Nation war. Die Begründung der neuen, politischen Nationen im 19. Jahrhundert erzwang auch hier eine neue Stellungnahme hierzu. 95 96

Cohen, Jüdische Schriften (wie A n m . 94), Bd 1, S. LX. S a m s o n Raphael Hirsch: N e u n z e h n Briefe über das Judentum. Berlin: Welt-Verlag 1919, S. 9 3 - 9 7 . D i e Neunzehn

Briefe wurden zuerst 1838 unter dem Pseudonym Ben Usiel veröf-

fentlicht. 97

Vgl. hierzu Mordechai Breuers Kritik an der Bildungsideologie v o n Hirsch: Jüdische Ort h o d o x i e im Deutschen Reich ( w i e A n m . 3), bes. S. 7 4 f.

Dezisionismus - Zionismus - Thedaismus

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Breuer hat Herzl wiederholt gewürdigt 98 und dabei seinen Aufruf zum Handeln bewundert. "Dulden ist groß, Handeln ist größer" ruft Herzl seinem gedemütigten Volk entgegen und weist es auf die "Sinnwidrigkeit einer nationalen Existenz zwischen Himmel und Erde hin", die er mit "qualvoller Klarheit" erkennt und aus Liebe zu den jüdischen Menschen überwinden will". Er wendet sich an die anderen Nationen und spricht zu ihnen in einer neuen, kraftvollen Sprache, die ihn als Gleichberechtigten sagen läßt: "wir nehmen keine Almosen mehr", auch nicht in der Form falscher Emanzipation. Gebt uns das Land wieder, das ihr uns geraubt, weil ihr stärker wäret als wir! Lasset uns ziehen, und, heute noch lästige Parasiten, grüßt euch schon morgen von Zions Höhen eine freie und dankbare Nation! 1 0 0

Also sprach, also schrieb Theodor Herzl. Wie der König der Juden schritt er über die Erde dahin. 101 Das weist den Weg zurück zur Geschichte als der Mittlerin zwischen Sein und Sollen. Die jüdische Nation aber darf niemals das eigentliche Ziel aus dem Auge verlieren, daß nämlich fur alle Zeiten Zweck und Ziel ihres Daseins die Verwirklichung des göttlichen Nationalgesetzes ist und nicht, wie das bei den anderen Nationen der Fall ist, die Mehrung nationaler Macht und nationalen Ruhmes. 102 "Die Krone des Königs der Juden aber ist immer noch eine Krone von Dornen." 103 Dies ist mehr als nur die Quintessenz Breuerscher Replik auf Herzl: es verweist auf die genuine Schwäche des nur politischen Zionismus und indirekt auch auf Herzls Areligiosität. Im Aufruf zur Tat, zum Handeln, begegnen sich politisch-praktischer Zionismus und orthodox gespeister Thedaismus in ihren Programmen, wobei die Vorgehensweise des säkularisiert-politischen Zionismus insbesondere Herzls sich dezidiert als dezisionistisch darstellen läßt. Das Ziel fur beide ist eindeutig: Rettung und Festigung des Judentums und des jüdischen Volkes auch in einer veränderten, nicht-jüdischen Welt. Für den Zionismus steht dabei im Vordergrund das 'Sein', für die Orthodoxie das 'Sollen' als Ziel der Verwirklichung des Gottesstaates. Die Orthodoxie baut auf eine substantiell-jüdische Identität mit metageschichtlichem Hintergrund, die sich in der Auseinandersetzung mit allen nicht-jüdischen Elementen ohne eigenen Identitätsverlust 98

99 100 101 102 103

Epilog zum Tode Dr. Herzls'. In: Der Israelit, Jg 45 (1904), S. 1295f.; Auf der Heimfahrt ins Philisterland. In: ebd., Jg 48 (1907), Nr 13, S. 6; und vor allem in: Judenproblem. Halle/Saale: Otto Hendel 1918, Kap. 6: Theodor Herzl, S. 43-51. Den Hinweis vor allem auf die Stellen im Israelit und auf eine Erwähnung Herzls in Isaac Breuers Autobiographie Mein Weg (Jerusalem/Zürich: Morascha-Verlag 1988, S. 45-49) verdanke ich Prof. Dr. Mordechai Breuer (Jerusalem). Breuer, Judenproblem (wie Anm. 98), S. 49. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd., S. 51.

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immer wieder stärken muß. Die zionistische Bewegung ist Teil der Geschichte aller und erstrebt einen Sozialstaat. Die Orthodoxie hingegen wirkt im und für den Thorastaat. Der Zionismus sieht die Welt als Natur, die Orthodoxie als Schöpfung. Der orthodoxen eher synthetischen Gottesnation steht der zionistische, eher analytische Politizismus gegenüber. Es ist sicher nicht falsch festzustellen, daß der Thedaismus Breuers ein Versuch war, das Judentum aus sich selbst heraus und für sich selbst zu retten, und daß dieser Versuch im ganzen folgenlos geblieben ist. Gleichwohl bot sich mit dem Thedaismus die Chance zum Aktivwerden, zur befreienden Tat - ebenso wie im Falle des Zionismus. Dessen mittlerweile vielfältige Verästelungen und Wirkungen sind nachhaltig spürbar. Mordechai Breuers Motto in seiner Jüdischen Orthodoxie mag beiden Richtungen ein übergreifendes Lemma sein: Man hat sich törichterweise daran gewöhnt, von der Orthodoxie als von etwas Schwerfälligem, Ödem, Geisttötendem zu sprechen. Nie hat es etwas Gewagteres noch Leidenschaftlicheres gegeben als die Orthodoxie. 1 0 4

Wagnis, Leidenschaft, dazu ganz sicher Liebe waren die Motive für beide: den Zionismus und den Thedaismus, für Theodor Herzl und Isaac Breuer.

104

Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. München: Hyperion-Verlag 1909, S. 134. Zitiert nach: Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich (wie Anm. 3), Motto auf dem Vorsatzblatt.

Jacques Eladan

Du refus au ressourcement Problèmes identitaires juifs en France (1894-1939)

Le choc suscité par l'Affaire Dreyfus et les violences verbales qu'elle a déchaînées contre les juifs, au sein de l'intelligentsia de droite comme dans d'autres couches de la société française, ont amené un certain nombre d'intellectuels juifs assimilés tels: Bernard Lazare, André Spire, Edmond Fleg et Henri Hertz à prendre conscience de leur judéité et à devenir des militants fervents de la cause juive. Cette prise de conscience a été aussi le résultat d'autres facteurs, dont certains liés à l'Affaire comme: l'apparition du sionisme politique concu à Paris par Herzl, la traduction de la nouvelle Chad Gadia d'Israël Zangwill, parue le 27 octobre 1904 dans les "Cahiers de la Quinzaine" de Charles Péguy, l'influence paradoxale des deux grands écrivains non-juifs de l'epoque, totalement opposés: Maurice Barrés et Charles Péguy, puisque Barrés était chauvin, antisémite et antidreyfusard alors que Péguy était philosémite et dreyfusard, et un peu plus tard enfin, l'oeuvre du philosophe juif d'origine russe Leon Chestov réfugié en France en 1917. Mais pour mieux saisir la portée de ces prises de conscience qui ont déterminé des itinéraires très différents, il convient d'évoquer brièvement le genre d'intellectuels juifs qu'il y avait en France avant l'Affaire et qu'on peut répartir en trois catégories: les idéologues consistoriaux, les universitaires célèbres assimilés et des auteurs marginaux par rapport à la communauté structurée et qui ont créé une oeuvre juive universaliste. Dans la première catégorie, il faut ranger les deux éminents érudits, professeurs au Collège de France: Salomon Münk et Adolphe Franck, qui, à côté de leurs travaux spécialisés sur la philosophie médiévale ou sur la Kabbale, ont publié dans les "Archives Israélites", des articles de vulgarisation dans lesquels, ils ont exposé leur vision du judaïsme qui est devenue l'idéologie du Consistoire jusqu'en 1939. Pour eux, le judaïsme était un monothéisme éthique qui devait être un jour adopté par toute l'humanité débarrassée de toutes les idoles, de tous les mystères absurdes et des dogmes étriqués. Dans cette optique, le messianisme devenait un missionarisme moral vidé de toute connotation nationaliste car le juif français na pouvait avoir qu'une seule patrie, la France et l'espoir de la renaissance de Jérusalem devait se limiter à la dimension purement spirituelle. - Parmi les universitaires assimilés, citons le fondateur de la sociologie: Emile Durkheim, l'anthropologue: Levy-Bruhl, le linguiste Michel Bréal, les philosophes: Frédéric Rauh, Léon Brunschvicg et Henri Bergson.

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Quant aux marginaux originaux, les plus célèbres furent Joseph Salvador et James Darmesteter. Salvador a passé toute sa vie à réhabiliter la tradition d'Israël contre ses détracteurs catholiques ou voltairiens et en 1859, il publia son ouvrage prophétique: Paris, Rome et Jérusalem, dans lequel il annonça la restauration de Jérusalem comme cité de la paix et de l'harmonie universelles. Dans son sillage, James Darmesteter publia en 1892, un beau recueil d'essais: Les Prophètes d'Israël, dans lequel il montra que seul le prophétisme biblique méritait de devenir la religion universelle du XXème siècle. Tous ces auteurs avaient une foi inébranlable dans l'émancipation et c'est cette foi qui fut ébranlée par l'Affaire.

L'Affaire Dreyfus Contrairement à ce qu'on pourrait penser, l'Affaire ne bouleversa nullement les juifs de France qui restèrent à l'écart de toutes les positions partisanes. Le judaïsme officiel adopta l'attitude suivante: ou bien Dreyfus était coupable et sa condamnation était juste, ou bien il était innocent et on faisait confiance à la justice républicaine pour le reconnaître. Seuls quelques intellectuels marginaux prirent la défense de Dreyfus et le premier fut Bernard Lazare qui fut "le prophète en cette grande crise d'Israël et du monde" 1 comme l'écrit Charles Péguy dans Notre Jeunesse. Né à Nîmes en 1865, assimilé, Lazare était avant l'Affaire, engagé dans une brillante carrière d'écrivain anarchiste et symboliste. En octobre 1890, il publia dans la revue "Entretiens politiques et littéraires" un article sur La solidarité juive dans lequel il traitait les juifs de l'Est de barbares: Que m'importent à moi, israélite de France, des usuriers russes, des cabaretiers galiciens, des revendeurs de Prague et des changeurs de Francfort? Qu'aije de commun avec des descendants de Huns? 2 Dans son livre L'antisémitisme, son histoire et ses causes, publié en 1894, qui suscita l'admiration de l'antisémite Edouard Drumont, Lazare avait expliqué la judéophobie par le caractère asocial des juifs. Contacté par Mathieu le frère d'Alfred Dreyfus, Lazare fut convaincu d'emblée de l'innocence du capitaine et il publia en 1895 sa brochure Une erreur judiciaire, la vérité sur l'Affaire Dreyfus, qui fit de lui le "premier des dreyfusards" selon le mot de Léon Blum. A l'occasion de l'Affaire, Lazare remit en question, d'une manière radicale, sa foi dans l'assimilation et a décidé d'assumer avec fierté son identité juive. Dans son livre Le fumier de Job il écrit: "J'ai pensé, j'ai médité; j'ai vu; je suis juif; j'ai refait mon âme". 3 Le même itinéraire a été suivi par André Spire, Henri Hertz et Edmond Fleg. En ce qui concerne Spire, je signalerai seulement deux faits: le 9 janvier 1 2 3

Charles Péguy: Notre jeunesse. Paris: Coll. Idées-Gallimard 1957, p. 86. Bernard Lazare: Entretiens politiques et littéraires. No 7, Octobre 1890, p. 230. Bernare Lazare: Le fumier de Job. Paris: Ed. Circé 1990, p. 23.

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1895, "La libre parole" de Drumont, accusa de prévarication, David Raynal, Ministre de l'Intérieur du Cabinet Casimir Périer et de forfaiture les membres juifs de Conseil d'Etat auquel appartenait Spire. Celui-ci réagit par une lettre dans laquelle il accusait l'auteur de l'article, de menteur. Sommé de présenter des excuses au journaliste qui s'appelait Nangis, Spire refusa et il s'ensuivit un duel au cours duquel il fut légèrement blessé à l'avant bras. Le deuxième fait est que vers 1908, excédé par la recrudescence de la judéophobie, Spire forma un groupe d'intellectuels juifs dont firent partie: Edmond Fleg, JeanRichard Bloch, des médecins, des éditeurs et des étudiants, et le dimanche matin, il les réunissait dans son jardin de Neuilly, pour apprendre à manière l'épée et le pistolet. De son côte, Fleg a raconté dans son autobiographie Pourquoi je suis juif? comment l'Affaire était devenue une "épreuve personnelle" au point de hanter son sommeil au cours duquel il croyait entendre le "cri de l'innocence torturée" 4 . Enfin, Henri Hertz, bouleversé par l'Affaire, en a parlé longuement dans ses lettres à sa fiancée Emma. Au lendemain de la condamnation du capitaine, il lui a écrit ceci: "La coupure est faire maintenant: il y a deux France en une France et la bataille commence" 5 . Lazare, Spire, Fleg et Hertz ont été les premiers partisans du nationalisme juif et du sionisme alors que le judaïsme officiel est resté hostile au sionisme jusqu'à l'avènement d'Hitler au pouvoir.

Le Sionisme L'État juif de Herzl, inspiré par l'Affaire, a paru en traduction française au début de 1896 dans "La Nouvelle Revue Internationale". Sa lecture enthousiasma Bernard Lazare qui, chercha à rencontrer son auteur. Le rencontre eut lieu et Lazare adhéra aux théories de Herzl, il assista au 1er Congrès sioniste de Bâle mais il fut déçu par les méthodes des dirigeants sionistes qui ne parlaient que de diplomatie et de capitaux. Demeuré anarchiste, Lazare restait réticent à l'idée d'un État juif et réclamait plutôt une autonomie culturelle pour les minorités juives dans chacun de leurs pays de résidence. C'est pour des considérations humanitaires, que Spire et Hertz, ont adhéré au sionisme car la seule solution pour résoudre le problème des juifs persécutés de l'Europe de l'Est, leur paraissait être la création d'un foyer national. Quant à Fleg, il adopta plutôt un sionisme affectif et messianique qui ramenait les juifs à leurs sources. Ce retour aux sources a été mis à la mode par la nouvelle Chad Gadya de Zangwill. 4 5

Edmond Fleg: Pourquoi je suis juif? Paris: Ed. de France 1928, p. 45. Hommage à Henri Hertz. Paris: Ed. le Pont de l'épée 1983, p. 64.

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Chad Gadya Cette nouvelle raconte le retour d'un intellectuel juif assimilé après une longue absence, à Venice sa ville natale, le premier soir de la fête de Pessah. A la fin du repas, il entend son vieux père réciter le chant en araméen Chad Gadya et cela le bouleverse. Il compare alors sa vie dissolue et mouvementée à l'existence sereine de son père, resté toujours fidèle à la tradition et il en conclut qu'il a tout raté. Il quitte alors discrètement la maison paternelle, se jette dans le canal et les derniers mots qu'il entend avant son dernier souffle, sont ceux du refrain Chad Gadya. Dans l'avant-propos du 1er tome de son livre Quelques juifs et demi-juifs Spire a écrit à propos de la résonance profonde qu'a eue ce récit sur lui et sur quelques autres intellectuels juifs: "Chad Gadya joua le rôle d'un cristal dans un liquide sursaturé, et, sur certains esprits sensibles agit à la manière d'un retour, d'une conversion: bouleversement, crise de larmes, conversion durable, direction de vie soudainement changée, naissance d'une vocation."6 Cette vocation d'écrivain juif fut encouragée paradoxalement par l'antijuif Barrés et le philosemite Péguy.

Influence de Barrés et de Péguy Lorrain comme Spire, Barrés a exercé par son charisme et son style littéraire, une fascination extraordinaire sur la jeunesse de son époque, les juifs y compris. Dans sa préface de 1959 à ses Poèmes juifs Spire écrit à propos de Barrés en évoquant l'année 1886 à Nancy: "Barrés que j'admirais lance sa clique, contre les amis de mon père, contre mon père lui-même."7 Barrés avait accusé le père de Spire de faire partie des barons de l'Industrie qui sucent le sang de leurs ouvriers. Mais Barrés était aussi un régionaliste individualiste, théoricien des cultures minoritaires qui conseillait aux écrivains juifs de "fixer l'âme juive dans une oeuvre d'imagination, comme lui-même s'efforçait de fixer l'âme lorraine" et qui disait aux jeunes gens: "Vous êtes faits pour sentir en Lorrains, en Alsaciens, en Bretons [...] en juifs" comme il l'écrit dans son livre Un homme libre* Quant à Péguy, on sait que sa boutique des "Cahiers de la Quinzaine" était fréquentée par de nombreux intellectuels juifs: B. Lazare, A. Spire, E. Fleg, D. Halévy, J. Isaac. Péguy a tenu à rappeler souvent que la France est issue de quatre disciplines, hébraïque, hellénique, chrétienne et française. Malheureusement, l'équilibre entre le legs gréco-latin et de legs judéo-chrétien n'a jamais 6 7

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André Spire: Quelques juifs et demi-juifs. Paris: Ed. Grasset, T. I 1928, p. VII. André Spire: Poèmes juifs. Paris: Albin Michel 1959, p. 11. Cité par Spire, Quelques juifs (note 6), p. VII.

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été respecté car l'Occident a systématiquement occulté l'héritage juif au profit de l'Hellénisme comme si la philosophie avait été le monopole d'une "confrérie de philosophes de l'Ionie à léna" selon l'expression de Franz Rosenzweig. Il a fallu l'obstination de Léon Chestov pour détruire le mythe du Miracle grec et rappeler aux européens la part biblique de leur culture.

L'oeuvre de Chestov Dans toute son oeuvre et particulièrement dans Sur la lalance de Job (1929) et Athènes et Jérusalem (1938), Chestov n'a cessé de mettre en lumière la véracité de la pensée existentielle de la Bible contre les égarements de la philosophie grecque. Pour lui, l'Occident s'était fourvoyé en suivant servilement Athènes qui incarnait les vérités générales impersonnelles, le culte de la raison abstraite, la soumission à la nécessité et au Fatum, alors que Jérusalem représentait au contraire: la primauté de l'individu, le refus du système et l'émergence de la liberté. C'est grâce à Chestov, que le poète et philosophe Benjamin Fondane a pris conscience de son identité juive. Fondane a consacré ses dernières années à défendre l'esprit de Jérusalem contre le Logos grec, avant d'être déporté à Birkenau où il fut gazé le 3 octobre 1944. Pour conclure, il faut signaler que tous le auteurs présentés dans cette étude n'ont jamais conçu leur prise de conscience, comme un ressourcement dans une tradition religieuse particulariste entraînant une rupture avec la culture française ou avec la modernité car ils ont compris, que pour éviter le judéocentrisme ghéttoïque, l'idendité juive doit toujours rester ouverte à l'universel.

Péter Varga

Varianten jüdischer Selbstwahrnehmung in Ungarn

Der Titel könnte vielleicht die falsche Vorstellung wecken, daß es sich in diesem Aufsatz um typisch ungarisch-jüdische Schicksale handeln wird, also um Modelle von Identifikationsmöglichkeiten der ungarischen Juden, die sowohl geographisch als auch soziohistorisch eine besondere Stellung in der Kulturund Geistesgeschichte des europäischen Judentums einnehmen. Man würde vielleicht erwarten, daß hier durch ein literarisches Portrait, ein phänomenologisches Ermitteln einer Epoche oder durch Erschließung einer zeittypischen Bewegung der charakteristisch ungarische Weg dargestellt wird. Ich möchte deshalb zunächst kurz auf die Schwierigkeiten verweisen, ein typisch ungarisches Identifikationsbild zu entwerfen; diese machen es unmöglich, eine einzige umfassende Typologie des ungarischen Judentums zu bieten. Das historische Ungarn Hegt bekanntlich im Grenzgebiet zweier verschiedener Kulturkreise, politischer Machtstrukturen, gesellschaftlicher Institutionen und geschichtlicher Entwicklungsmodelle. Das Karpatenbecken, einst das von der Gebirgskette der Karpaten als natürlicher Grenze umgebene historische Gebiet Ungarns, war bis in die jüngste Geschichte Schauplatz freiwilliger oder eben unfreiwilliger Migration der verschiedenen Völkergruppen, die sich mit der Zeit entweder in das ungarische Volk integrierten oder, im selteneren Falle, weiterzogen. Die Zugehörigkeit zu Ungarn seitens der Zurückbleibenden war nie umstritten.1 Daß sich die vorüberziehenden bzw. aus den Nachbarländern einsickernden Völkergruppen in Ungarn wohlfühlten, beweist eine Statistik aus dem Jahr 1910, in der außer der ungarischen sechs verschiedene Nationalitäten aufgeführt wurden. Wenn auch die Juden in dieser Statistik nicht als Nationalität vorkommen, sind sie im Versiehe dazu den sog. "Húngaras" Gedanken, u. a. von Móritz Csáky in seinem Artikel: Die Bedeutung der deutschsprachigen Zeitschriften Ungarns für die österreichische Literatur des Vormärz. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert. (1830-1880) Hg. von Herbert Zeman. Graz: Akademische Druck- und Verlags-Anstalt 1982. S. 91-107. Anhand der in Ungarn erschienen deutschsprachigen Zeitungen schreibt Csáky Folgendes: "Man könnte und müßte eigentlich der Vollständigkeit halber die angeführte Liste von deutschen Zeitungen und Zeitschriften, für die österreichische Autoren Beiträge aus Ungarn schickten, noch ausweiten und ergänzen. Es wäre, neben einer Aufzählung von deutschsprachigen Almanachen, die in erster Linie von 'Hungari' - Ungarn, Deutschen und Slawen aus Ungarn beliefert wurden, vor allem der deutschen Zeitungen des Landes gedenken [...]." (S. 102).

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zeichnis der Religionen mit 5 % vertreten, was 911.227 Einwohner bedeutet. 2 Nicht unversehrt von den turbulenten historischen Ereignissen blieb auch der jüdische Bevölkerungsteil der ungarischen Nation. Ohne den historischen Hintergrund ausführlich erklären zu wollen, versuche ich mich auf den Übergangs· oder Grenzfallcharakter der ungarischen Juden zu konzentrieren, und um meinen Untersuchungsgegenstand noch mehr einzuengen, möchte ich nur im Rahmen der Geistes- bzw. der Literaturgeschichte einige Beobachtungen mitteilen. Wollte man die Stellung des ungarischen Judentums allgemein charakterisieren, so ist zuerst wichtig, daß es sich an der Trennungslinie zwischen den zwei großen traditionellen Siedlungsblöcken des europäischen Judentums, denen der Westjuden und der Ostjuden, befindet. Nach einer in Ungarn geläufigen anekdotischen Definition heißt es, daß sich diese Trennungslinie mitten in Budapest, zwischen den zwei bekanntesten Synagogen der Stadt entlangzieht. Es handelt sich um die große reformierte Synagoge (übrigens die zweitgrößte Synagoge Europas) in der Dohäny-Straße und die kleine orthodoxe Synagoge in der Kazinczy-Straße, etwa zweihundert Meter östlich von der anderen entfernt in einer kleinen Seitengasse. Abgesehen vom anekdotischen Charakter dieser Definition finde ich diese Pointierung in ihrer Symbolhaftigkeit doch aufschlußreich. Die Entstehung beider Synagogen ist tief in der Geschichte der ungarischen Juden verankert. Das zwar nicht immer friedliche gleichzeitige Zusammenleben von äußerlich assimilierten reformierten Juden und von orthodoxen oder chassidischen Juden innerhalb der Stadt-, aber auch der Landesgrenzen war ein wichtiger Wesenszug der jüdischen Bevölkerung. Dank diesem Mischcharakter gab es in der Geschichte des ungarischen Judentums immer wieder Entwicklungen, die mit dem westlichen Aufklärungs- und Assimilationsprozeß im Dialog standen, aber auch solche, die aus der Frische der chassidischen Erneuerungsbewegungen schöpften. Daß die assimilatorischen Bestrebungen und das Festhalten an der orthodoxen Tradition einander nicht immer tolerierten, drückte sich in der Zeit des Absolutismus nach der Revolution von 1848, in den 1850er und 1860er Jahren in dem erneuerten Kampf zwischen beiden Parteien aus. Die zentralistische Bestrebung zur Assimilation des Judentums bedeutete zugleich die starke Förderung des deutschsprachigen Schulwesens und der Modernisierung der jüdischen Gemeindeverwaltungen sowie die Aufhebung der Diskrimination zwischen Juden und Christen in der Wirtschaft. Die erste öffentliche Kollision zwischen Orthodoxen und Neologen ereignete sich im Bereich des Schulwesens, der Ordnung der Liturgie, der Gestaltung der Synagoge sowie der Bildung der Rabbiner. Auf eine Umfrage im Februar 2

Vgl. Új idök lexikona. Budapest 1940. S. 4 3 3 7 .

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1850 über die Schulreformen kamen zwei nennenswerte, aber völlig gegensätzliche Vorstellungen zutage: die der Gemeinde von Nagyvárad (Großwardein, Oradea/Rumänien) und die des Rabbiners Meir Eisenstadt aus Ungvár (Uzhgorod/Ukraine). Die neologe Várader Gemeinde plädierte für die Einrichtung von öffentlichen jüdischen Schulen, Rabbiner- und Lehrerbildungsanstalten und für eine jüdische Bezirksverwaltung mit dem Landessitz in Pest, die aus Rabbinern und Laien bestehen sollte. Rabbi Meir Eisenstadt formulierte dagegen die Meinung der Orthodoxen, die die Einrichtung öffentlicher jüdischer Schulen strikt ablehnten und sich den Religionsunterricht nur als Privatunterricht vorstellen konnten. Dabei ging es natürlich um die Angst, daß durch die Auflockerung der traditionellen schulischen Einrichtungen wie Cheder und Jeschiwa die Weitergabe der - im Auge der Orthodoxie - wichtigsten Glaubensinhalte gefährdet würden. Deshalb waren die Ungvárer auch für eine strengere jüdische Selbstverwaltung in den Gemeinden mit einem konservativen Rabbi an der Spitze, der bevollmächtigt wäre, auch in Angelegenheiten von religiöser Gesetzwidrigkeit zu urteilen. Die Petition, die sich eindeutig gegen die progressive Gesinnung der Pester Gemeinde richtete, wurde von zahlreichen Nord-Ostungarischen Gemeinden unterstützt, die das ungarische Judentum als mehrheitlich (7/8) konservativ sehen wollten. Den Petitionen folgte eine Sitzung unter der Teilnahme von überwiegend reformierten Rabbinern, die das jüdische Verwaltungssystem ausarbeiten sollten. Aus dem geplanten kaiserlichen Patent wurde nichts, der Kampf unter den Gemeinden wurde aber weitergeführt. Der Schwerpunkt des Kampfes verlagerte sich auf die Ordnung der Liturgie. In vielen Städten kam es zu Auseinandersetzungen über den Platz des Almemors (Torapult), die Einrichtung einer Frauengalerie, die Einsetzung von Orgel und Chor im Gottesdienst. In den 1860er Jahren wurde der Streit immer offener ausgetragen, wobei die orthodoxe Seite eine deutliche Abgrenzung von den reformierten Gemeinden forderte. Im Januar 1864 veröffentlichte der Eisenstädter Rabbi Israel Hildesheimer ein Memorandum, in dem er die Wesenszüge der Orthodoxie festlegte. Ihm zufolge bildet der jüdische Glaube eine Komplexität der geschriebenen und tradierten Lehre der göttlichen Offenbarung. Infolgedessen stellt jemand, der nur an einem einzigen Gesetz dieses Systems zweifelt, den ganzen jüdischen Glauben in Frage. Das Memorandum von Israel Hildesheimer wurde von 85 der 300 ungarischen Rabbiner unterschrieben sowie von weiteren 36 ausländischen Rabbinern unterstützt. Eines der konkreten Ziele der konservativen Kräfte war die Vereitelung der Einrichtung einer modernen Rabbinerschule, die nicht nur rabbinisches Wissen, sondern auch zeitgenössische Bildung hätte vermitteln sollen. Mit einer Petition an den Wiener Kultusminister wurde dies nicht nur verhindert, sondern sie erreichte sogar die Verleihung des öffentlichen Rechtes an die Preßburger Jeschiwa. Ein nächster Schritt in Sachen Rabbinerschule war die Petition der Neologen

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an die Hofkanzlei im Jahre 1862, die die Etablierung eines Ausschusses forderte. Dieser wurde auch im Frühjahr 1864 zusammengerufen: als Erfolg seiner Arbeit entstand ein Entwurf mit zwei Bildungsstufen: in einem - der Mittelschule entsprechenden - Kurs von fünf Jahren würden neben den obligatorischen Fächern der öffentlichen Schulen Tora, Talmud und jüdische Geschichte unterrichtet, darauf würde dann ein Kurs von drei Jahren aufbauen, in dem ausschließlich religiöse Gegenstände gelehrt würden. Ein wichtiges Zeugnis der Zweisprachigkeit der ungarischen reformierten jüdischen Gemeinde ist, daß als Unterrichtssprachen das Ungarische und das Deutsche festgelegt wurden. Fast gleichzeitig mit den Vorarbeiten dieses Ausschusses wurde eine Delegation nach Wien geschickt unter der Leitung von Jeremias Low, der eine Protestschrift mit 91 Unterschriften dem Kaiser überreichte. Diesmal gewann die Orthodoxie die Oberhand, und die Debatte über die Einrichtung des Rabbinerseminars wurde zurückgestellt. Dieses wurde erst 1877 realisiert, nachdem der Kongreß von 1868-69 positiv darüber entschieden hatte. In den 1860er Jahren verstärkten sich die extremen Kräfte innerhalb des konservativen Flügels immer mehr. Der Vertreter dieser Strebungen war Rabbi Hillel Lichtenstein, dessen Konservatismus sich stark auf chassidische Inhalte stützte und sich gegen jede Form von Reformen auflehnte. Er verbreitete seine Thesen unermüdlich im ganzen Land in Form von Flugblättern, erschien aber auch von Zeit zu Zeit persönlich in verschiedenen Synagogen. Lichtenstein lehnte streng die reformierten Synagogen, die Annahme von europäischen Namen, die weltliche Kleidung ab und forderte dagegen das Jiddische als Umgangssprache. Es ist auch in diesem Fall bezeichnend, wie sehr die gewählte oder geforderte Umgangssprache relevant für die gewählte und geforderte Identität ist. Reb Hillel warnte auch die Rabbiner vor der Beschäftigung mit weltlichen Wissenschaften und dem Gebrauch der jeweiligen Literatursprache. In der Liturgie und der Gestaltung der Synagoge schrieb er den alten Ritus vor, die kleinsten Neuerungen hielt er für sündhafte Verletzungen der Tradition und billige Nachahmungen westlicher Moden. Reb Hillel war der Initiator jener Rabbinerversammlung im Herbst 1865 im nord-ostungarischen Nagymihály, in der die extrem orthodoxen Rabbiner zusammentrafen, um die Richtlinien der ungarischen Orthodoxie festzulegen. Über diese Zusammenkunft schrieb Leopold Low, der bekannte Anfuhrer der Neologen, in einem Brief an Ignaz Hirschler: "Es kann Ihnen noch so unglaublich vorkommen, aber es ist sicher, daß sich die Orthodoxen in NagyMihály über ihre Handlungsstrategie beraten, wie sie die Emanzipation verhindern könnten."3 Die Rabbinerversammlung zu Nagymihály definierte sich als legitimer Vertreter des gesamten ungarischen Judentums und faßte ihre 3

Zit. nach László Gonda: A zsidóság Magyarországon 1526-1945. Budapest: Századvég 1992, S. 108.

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konziliarischen Anordnungen in acht Punkten als maßgebende und zwingende Richtlinien. Dieses Memorandum ist im Kampf der Neologen und Orthodoxen ein wichtiger Meilenstein, und die Realität dieser Forderungen spiegelt auch den Stellenwert der Orthodoxen zu dieser Zeit wider. Neun Punkte werden hervorgehoben: Es ist verboten, eine Predigt anzuhören, die in fremder Sprache abgehalten wird. D e r Gläubige m u ß solche S y n a g o g e n sofort verlassen. D i e Rabbiner sollen a u f Jiddisch sprechen, das von den Chassiden d e s Landes geredet wird. Es ist verboten, in einer S y n a g o g e zu beten, in der das Thorapult ( B i m a ) nicht in der Mitte steht. Es ist verboten, einen Turm auf die S y n a g o g e zu bauen. Es ist dem Kantor und dem Vorbeter verboten, den heiligen Dienst im Ornat ( G e w a n d ) zu verrichten. D i e Frauengalerie muß mit dichtem Gitter abgeriegelt werden. Es ist verboten, den G e s a n g des Chors anzuhören, mit ihm z u s a m m e n zu beten und a u f ein s o l c h e s Gebet "Amen" zu sagen. Es ist verboten, eine Tempelkirche (Synagoge der N e o l o g e n ) zu betreten, denn solche Kirchen sind Tempel der Häresie und schlimmer als die Tempel der Heiden. N u r unter freiem H i m m e l darf ein j u n g e s Paar getraut werden. Es ist verboten, auch nur einen einzigen jüdischen Brauch oder das v o n den A h nen geerbte G e s e t z zu verändern. 4

Das Flugblatt wurde von 71 Rabbinern unterschrieben, ein Jahr später in Buda gedruckt und an jede jüdische Gemeinde verschickt. Die Gemeinden sollten sich dann ihren eigenen Ansichten gemäß nach den Anordnungen richten. Im Protokoll der Pester Gemeinde steht folgende Randbemerkung über die Flugschrift der Orthodoxen: Es wird eine, in Mihály, angeblich von mehreren versammelten Rabbinern auf Hebräisch verfertigte Urkunde bekanntgegeben, in der j e d e in den S y n a g o g e n jüngster Zeit v o r g e n o m m e n e Ordnung und Veredelung verbannt wird. 5

All dies ist unter anderem der Grund, warum es nicht möglich ist, einen einzigen Typus jüdischer Identität zu präsentieren und als Vertreter eines repräsentativen ungarischen Weges vorzustellen. Als Kompromiß stelle ich drei Möglichkeiten jüdischer Identität kurz dar, die meiner Meinung nach modellhaft fur die mindestens drei möglichen ungarischen Wege stehen. Es geht um drei Personen, die zu verschiedenen Zeiten versucht haben, sich als ungarische Juden zu erleben; es geht letztendlich um drei Antworten auf die ihnen vom Leben gestellte herausfordernde Frage: was heißt fur sie Jude und zugleich in der ungarischen Nation beheimatet zu sein. Die drei Personen sind Moritz Gottlieb Saphir, Josef Kiss und Josef Holder. Was sie verbindet, ist, daß sie innerhalb 4 5

Gonda, A zsidóság Magyarországon (wie Anm. 3), S. 109. Ebd. - Über die inneren Streitigkeiten der jüdischen Gemeinden siehe noch: Groszmann: A hitkôzségek belviszályairól. Budapest 1917.

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der jeweiligen ungarischen Staatsgrenzen geboren wurden und ihre Zugehörigkeit zum Judentum (bei Saphir trotz der Taufe) nie leugneten. Alle drei könnten isoliert gesehen modellhaft für einen Juden aus einem anderen Land stehen, daß sie aber aus Ungarn stammen, belegt den Mischcharakter des ungarischen Judentums noch ausdrücklicher. Moritz Gottlieb Saphir wurde kürzlich von Maria Klañska Klañska in ihren Untersuchungen über jüdische Autobiographien als eine Ausnahme unter den Juden eines 'westeuropäischen' Typs in den Ländern Böhmen, Mähren, Ungarn, der rumänischen Walachei und Teilen Lettlands eingeordnet, also als ein Jude, "der in der von ihm dargestellten Zeit vor den Napoleonischen Kriegen noch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft 'osteuropäischen' Typus aufweist"6. Sein Fall ist aber etwas problematischer. Sein Geburtsort Lovasberény, wo er am 8. Februar 1795 geboren wurde, liegt westlich von Budapest in der Nähe der heutigen Bezirkshauptstadt Székesfehérvár/StuhlweiBenburg, deren Judenschaft genuin zu der westeuropäischen jüdischen Kulturgemeinschaft gehört. Seine im Jahre 1855 entstandene Autobiographie unter dem Titel Meine Memoiren behandelt die Jahre zwischen 1795 und 1814, eine Zeitspanne also, in der ostjüdische und westjüdische Lebensart noch nicht so weit voneinander entfernt waren. Um diese Zeit war im westlichen Teil des ungarischen Sprachraumes das Westjiddische die Umgangssprache der Juden, wie das kurz davor auch noch in Deutschland allgemein der Fall war. Auch sein Lebensweg entspricht dem Lebensweg eines jüdischen Intellektuellen im Mendelssohnschen Zeitalter, gleichzeitig aber auch etwa dem Lebensweg eines Salomon Maimón. Der junge Moritz-Moses zeigte schon als kleines Kind eine außergewöhnliche Erinnerungsfähigkeit und eine besondere Fertigkeit im traditionellen Talmudstudium, so wurde er von den Eltern mit elf Jahren in eine berühmte Prager Jeschiwa geschickt in der Hoffnung, daß der Junge einmal Rabbiner wird. "In Prag lebte er im westlicheren jüdischen Milieu."7 Sein Leben verlief im weiteren genau so, wie es im Drehbuch der deutsch-jüdischen Schicksale beschrieben wird: Saphir erzählt, er begegnete in Prag, w o er eine Jeschiwah besuchte, einem Piaristenpater, der im Ghetto Buchhalterprüfungen abhielt. Der Geistliche wurde aufmerksam auf den aufgeweckten Jungen und wirkte bestimmend auf seinen Lebensweg, indem er zu ihm sagte: 'Gescheiter Kerl, lern' was!' Er schenkte ihm dabei halb im Scherz eine deutsche Chrestomatie und eine lateinische Grammatik. Der Junge begann gleich mit Begeisterung den fremden Stoff auswendig zu lernen - wahrscheinlich war auch in ihm die Sehnsucht, endlich mal etwas anderes als den Talmud kennenzulernen, gewachsen. Überrascht von seinen spektakulären Fortschritten nahm sich der Pater vor, sich um die Bildung des Jungen zu kümmern. Er bot ihm an, ihn dreimal wöchentlich zu unterrichten und ihm Bücher zu 6

7

Vgl. Maria Klañska: Aus dem Schtetl in die Welt. 1772-1938. Ostjüdische Autobiographien deutscher Sprache. Wien u. a.: Böhlau 1994 (Literatur und Leben, 45), S. 18. Ebd., S. 75f.

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leihen. Saphir schaffte sich bald noch selbst eine französische Grammatik an und begann Selbstunterricht in allen möglichen Bildungsfachern zu betreiben. Die anregende Rolle des Mönchs beim Erwachen seines Wissensdurstes faßte er in den Worten zusammen, daß er damals vom Baume der Erkenntnis gekostet hatte. Auch wenn die Beschreibung des Autobiographen stark nach einer privaten M y thologie klingt und wohl eher metaphorisch als wörtlich zu nehmen ist, vergegenwärtigt sie anschaulich die Tatsache, daß für den Bildungshungrigen keine Rückkehr mehr in die umzäunte Welt des talmudischen Wissens möglich war. 8

Dennoch machte er auch auf dem Gebiet des Talmudstudiums gute Fortschritte und erwarb mit 18 Jahren das Rabbinerdiplom, das ihn dazu berechtigte, in allen talmudischen Streitfragen zu richten. Bald erlernte er auch noch außer dem Französischen andere Fremdsprachen, wie englisch und italienisch, und erschloß sich damit die ganze Weltliteratur. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Saphir sein dramatisches Erstlingswerk, eine Komödie unter dem Titel Der falsche Kaschtan, auf Jiddisch verfaßte, obwohl er zu jener Zeit (1820) mit der Sprachfertigkeit eines Muttersprachlers Deutsch konnte.9 Sollte es sich also nicht um die Sprachbarriere des Autors handeln, dann mußte ein jiddischsprechendes Lesepublikum existieren, das Saphir vor Augen hatte. Saphir schrieb dieses Werk für einen genau bestimmbaren Leserkreis, nämlich f ü r die Budapester Juden seiner Zeit, und sein Ziel war nicht mehr, als eine Art lokalpolitisches Pamphlet zu verfassen, und dies in einer unterhaltenden Form zu tun. Das kurze Stück verdankte seinen zeitgenössischen Erfolg in erster Linie der gut gelungenen satirisch-karikaturistischen Darstellung der damaligen Umstände und aktuellen Geschehnisse in der Altofner (ung. Obuda) jüdischen Gemeinde. Die in der Komödie auftretenden Figuren sind alle direkte Anspielungen auf lebende Personen, in manchen Fällen ließ Saphir sogar den N a m e n des betroffenen Mitglieds der G e m e i n d e unverändert. 1 0

Die Umstände der Entstehung des Werkes lassen vermuten, daß im Budapest der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts noch eine beträchtliche Westjiddisch sprechende Gemeinde existierte. Wenn sich aber Anton Rèe im Jahre 1844 darüber beklagt, daß der besondere jüdische Dialekt noch nicht ganz aus dem Gebrauch der deutschen Juden verdrängt wurde, dann ist es kein Wunder, daß außerhalb Deutschlands, so namentlich auch in Ungarn, dieser Dialekt noch stärker verbreitet war. Die ungarischen Juden hatten aber nicht nur das Modell der Germanisierung vor sich, sondern sie konnten und wollten sich auch ihrer ungarischen Heimat assimilieren. Leopold Low, der bekannte jüdische Gelehrte, weist darauf hin, daß viele Eltern ihre Kinder noch immer lieber 8 9

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Klanska, Aus dem Schtetl in die Welt (wie Anm. 6), S. 187. Zu den Lebensdaten und zur Komödie Der falsche Kaschtan habe ich folgende Arbeit verwendet: Tamás Tóth: Gottlieb Moritz Saphir und seine jiddische Komödie. Diplomarbeit, Budapest 1993. Ebd., S. VII.

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in den Cheder als Hort der jiddischen Sprache schicken, um ihre eigene Sprache auf sie zu vererben. Deutsch wurde vor allem in einigen größeren Städten gesprochen, ungarisch dagegen in allen ungarischen Gegenden. Low schreibt: A b e r wie sich gebildete ungarisch redende Juden gleich den gebildeten christlichen U n g a r n die deutsche Sprache aneignen, so versäumen auch die deutsch redenden Juden nicht, sich selbst oder doch ihren Kindern eine möglichst gründlic h e Kenntnis der ungarischen Sprache zu verschaffen. W i e sollte auch ein vernünftiger V a t e r seine Kinder nicht zur Erlernung der Sprache anleiten lassen, welc h e r sich im Sinne des Gesetzes der höhere Unterricht, die Verwaltung und G e rechtigkeitspflege bedient, und die im socialen Leben unentbehrlich i s t ? 1 1

Saphirs Vater versäumte allerdings, seinem Sohn das Ungarische beizubringen, angeblich erlernte er nie die ungarische Sprache. Das mag aber nicht unbedingt nur an der 'unvernünftigen' Entscheidung des Vaters liegen; wahrscheinlich war das eine bewußte Entscheidung für das erstere Modell, d.h. für die Germanisierung. Wenn wir uns den späteren Werdegang Saphirs betrachten, stellt sich heraus, daß er die ungarische Umgangsprache nie zu gebrauchen hatte. Wenige Jahre nach seiner Rückkehr in sein Heimatdorf im Jahre 1814 begann er nämlich 1819 seine Laufbahn als Zeitschriftenredakteur und Humorist in Budapest bei der deutschsprachigen Zeitung "Pannonia, ein vaterländisches Erholungsblatt für Freunde des Schönen, Guten und Wahren". Sein Engagement für die deutschsprachigen Zeitungen vertiefte sich erst recht in den Wiener und Berliner Jahren. Ab 1823 verpflichtete er sich für mehrere Zeitschriften zugleich, hauptsächlich aber für die von Adolf Bäuerle redigierte "Theaterzeitung". Wegen seiner ätzenden Theaterkritiken und satirisch-skandalöser Angriffe mußte er Wien fluchtartig verlassen, er zog 1825 nach Berlin weiter, wo er dann vier Jahre verweilte. Sein größtes Verdienst war in diesen Jahren, daß er die ersten Berliner Tageszeitungen ins Leben rief: die "Berliner Schnellpost" und den "Berliner Courier", die bald die zwei populärsten Zeitungen der Stadt wurden. Seine nächsten Stationen waren München, Paris, dann wieder München, schließlich bis zu seinem Lebensende Wien. Dieses so typische Wanderleben charakterisiert Maria Klañska Klañska folgendermaßen: E i n e Flucht in mehreren Etappen wurde das Schicksal mehrerer Gettoflüchtlinge. D a s gleiche Muster finden wir im Leben derjenigen Ghettojuden, die das Z u h a u s e verließen, um Jeschiwaschüler zu werden, wobei es durchaus möglich war, daß ihnen selbst v o r allem die Wanderlust und das Interesse an weltlichen W i s s e n schaften v o r s c h w e b t e . 1 2

Ohne seine literarische Tätigkeit ausführlich würdigen zu wollen, möchte ich nur darauf hinweisen, daß der Lebensgang von Moritz Gottlieb Saphir eines der alternativen Modelle der Selbstwahrnehmungsmöglichkeiten der ungari11

Leopold Low: Gesammelte Schriften. Szeged: Baba 1889,1. Bd, S. 4 6 6 .

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Klañska, Aus dem Schtetl in die Welt (wie Anm. 6), S. 2 4 6 .

Varianten jüdischer

Selbstwahrnehmung

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sehen jüdischen Intelligenz verwirklicht. Der Germanisierungsprozeß und damit die Assimilation ergriffen Saphir tief, bis in die Wurzeln. 1832 gab er seine jüdische Religion auf und wurde zum evangelischen Christen. Ob dieser Schritt mit voller Überzeugung getan wurde oder nur zu den Requisiten seiner bürgerlichen Stellung gehörte, stellt sich aus seinem mit viel Selbstironie geschriebenen Geständnis über seine Taufe nicht heraus: Ich wurde v o m Schicksal zum Juden bestimmt, von meinen Eltern zum Handelsmann, v o n meiner Erziehung zum Dorfrabbiner, v o n den Verhältnissen zum armen Teufel, v o n dem Zufall zu seinem Fangball, und trotz diesen B e s t i m m u n g e n bin ich jetzt s o ein ehrlicher und aufrichtiger Christ, w i e nur ein ehrlicher und aufrichtiger Christ sein kann. 1 3

Unwillkürlich kommt mir die Assoziation auf Kurt Tucholsky, der 1935, kurz vor seinem Selbstmord, in einem Brief an Arnold Zweig bekannte: "Ich bin im Jahre 1911 'aus dem Judentum ausgetreten', und ich weiß, daß man das gar nicht kann." 14 Sowohl im Religiösen als auch in der nationalen Gesinnung bot sich für die ungarische Juden gleichzeitig eine andere Alternative, die eine Assimilation bis zur äußersten Grenze, d.h. zur Taufe nicht voraussetzte. Zum Teil parallel mit beziehungsweise nach einem Germanisierungsprozeß wandten sich viele junge ungarische Juden der ungarischsprachigen Öffentlichkeit zu. Damit wollten die Juden Ungarns einer oft laut formulierten Erwartung der ungarischen Nation entsprechen, um den Anschluß an das heranwachsende ungarische Bürgertum nicht zu versäumen. 1844 bildeten jüdische Medizinstudenten einen "Verein für die Verbreitung der ungarischen Sprache unter den heimischen Israeliten" (kurz: Madjarisierungsverein), dessen ausdrückliche Zielsetzung war, "die unbedingt eintretende Verbürgerlichung nicht als Almose hinnehmen zu müssen, sondern als wohlverdienten Lohn zu bekommen", sowie den Beweis zu geben, "daß der Ungar-Jude keine Chimära ist" 15 . Einen erneuten Aufschwung der Madjarisierung brachten die sechziger Jahre, nachdem die stark zentralisierende, die Germanisierung fördernde Politik des Wiener Hofes etwas nachgelassen hatte. Im Prozeß der Madjarisierung spielte der Nachfolger des Madjarisierungvereins, der neugegründete "Verein Israelitischer Ungarn" (Izraelita Magyar Egylet) eine wichtige Rolle, dessen Mitgliedschaft neben den früheren Teilnehmern aus Vertretern der neuen Generation bestand. Bald zählte dieser Verein mehr als 600 Mitglieder und be13

14

15

Moritz Gottlieb Saphir: Lebende Bilder aus meiner Selbstbiographie. In: Saphir's humoristische Schriften in vier Bänden. Augewählt und hg. von Karl Meyerstein. 2. Aufl., Berlin: Fried 1889, S. 119. Zit. nach Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München: Piper 1973 (Serie Piper, 48), S. 23. Vgl. Lajos Venetianer: A magyar zsidóság törtenete [Geschichte des ungarischen Judentums]. Budapest 1986, S. 140.

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trieb eine intensive Aufklärungs- und Bildungstätigkeit in ungarischer Sprache. Zu den ständigen Programmen gehörten wöchentliche Vorlesungen, die sich zu einer Art Volksakademie entfalteten und sich neben der Propagierung der ungarischen Sprache auch die Verbreitung allgemeinen Wissens zum Ziel setzten. Themen dieser ungarischsprachigen Vorlesungen stammten überwiegend aus den Bereichen der Pädagogie, Anthropologie, Medizin, jüdischen Literatur, ungarischen Sprache und Literatur.16 Sie setzten auch die im Jahre 1844 angefangene Verlagstätigkeit fort, indem sie schon im Jahr der Neugründung einen Kalender und ein Jahrbuch veröffentlichten. Ein ungarischer Sprachkurs wurde organisiert, und ein Büchlein unter dem Titel Das erste ungarisch-hebrüisch-deutsche Lesebuch sollte den Unterricht unterstützen. Das lebendige Miteinander der drei Sprachen war eines der deutlichsten Merkmale des Übergangscharakters dieser Zeit, wobei der Anteil des Ungarischen seit Anfang der sechziger Jahre immer größer wurde. Eine statistisch genauere Übersicht bietet Venetianer mittels seiner Auflistung aller Veröffentlichungen jüdischer Thematik in seiner Geschichte des ungarischen Judentums17. Besonders deutlich werden diese Proportionen im Zeitungswesen: am Ende der fünfziger Jahre begann eine entsprechend intensive Publikationstätigkeit auf religiöser Basis. Leopold Low gibt 1858 eine hebräischsprachige Zeitschrift "Ben Chananja" in Szeged heraus, im Jahre 1860 wurden die Periodika "Allgemeine Illustrierte Zeitung" und "Carmel" gegründet, bald meldete sich aber ein immer größerer Anspruch auf ungarischsprachige Zeitschriften. Als Sprachrohr des Vereins Isralitischer Ungarn wurde ein Jahr später die erste ungarisch-jüdische Wochenzeitung unter dem Titel "Magyar Izraelita" (Ungarischer Israelii) herausgegeben, bald folgten ihr andere.18 Anführer der Madjarisierungstendenzen war zweifellos die Pester Jüdische Gemeinde, die eine bedeutungsvolle Ausstrahlung für die Gemeinden auf dem Lande hatte. 1860 wendete sie sich mit einem Aufruf an alle jüdische Gemeinden Ungarns, die Jugend zum Erlernen der ungarischen Sprache zu ermuntern. In Pest wurde im Jahre 1860 der Unterricht der ungarischen Sprache wieder eingeführt, aber auch in die Synagoge fand das Ungarische bald Eingang, nachdem über die Anstellung eines ungarischsprachigen Redners beschlossen worden war. 1866 trat auf Empfehlung von Oberrabbiner Meisel der Redner und Rabbiner Samuel Kohn sein Amt an, um in der Zukunft ausschließlich ungarisch zu predigen. Die fortschrittlichsten Gemeinden außerhalb von Pest waren die von Szeged und Arad (heute Rumänien). Warum die Anstellung eines ungarischsprachigen Rabbiners einen so wichtigen Schritt in der damaligen - überwiegend deutsch16 17 18

Venetianer, A magyar zsidóság tôrténete (wie Anm. 15), S. 114. Ebd., S. 118-132, 174-186,217-233. Zsidó Magyar Közlöny (Jüdisch-ungarische Mitteilungen, 1861 - drei Monate lang); Izraelita Közlöny (Israelitische Mitteilungen, ab 1864); die Orthodoxie wurde auch durch eine Zeitschrift vertreten: Magyar Zsidó (Ungarischer Jude, 1867-70)

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sprachigen - Hauptstadt Ungarns bedeutet, sehen wir im Vergleich mit anderen Konfessionen der Stadt. Der Dechant der innerstädtischen Pfarrkirche in Pest wandte sich erst 1875 mit einer Bittschrift an den Primas mit dem Ersuchen, die Predigten in der Fastenzeit auf ungarisch halten zu dürfen. Da sonst in allen anderen katholischen Kirchen der Stadt auf Deutsch gepredigt wurde, gab der Primas die Erlaubnis, die Fastenpredigten in der innerstädtischen Pfarrkirche abwechselnd deutsch und ungarisch halten zu dürfen.19 Ein köstliches Beispiel für die oft schicksalhafte Weichenstellung in der Sprachenwahl jüdischer Kinder bietet das Bekenntnis des schließlich zum ungarischsprachigen Schriftsteller gewordenen Autors Lajos Dóczi: Es gibt was Gutes im Antisemitismus; ich verdanke zumindest dem Antisemitismus eines Priesters, daß ich ungarischer Schriftsteller geworden bin, und sogar das, daß ich überhaupt ungarisch kann. Ich wurde 1845 in Sopron geboren, als dort noch kaum welche ungarisch sprachen. Schon 1848 brach dort die Judenverfolgung aus (damals war das nur in den deutschsprachigen Städten üblich), so flohen meine Eltern nach Deutschkreuz (Német-Keresztúr). Die eine Hälfte der Bevölkerung dieser Stadt sprach das Deutsche im jüdischen Jargon, die andere Hälfte im Hienz-Dialekt. Ungarisch konnte niemand. Notabene blühte die Bach-Regierung. Im Alter von zehn Jahren kam ich zu Verwandten in Kanizsa, in die dortige Mittelschule der Juden. Ewig werde ich diese von der Gemeinde getragene Schule rühmen, daß dort in der Bach-Zeit zwei Gegenstände ungarisch unterrichtet wurden. Diese zwei waren Geschichte und Religion. Da ich aber kein Brocken ungarisch verstand, nahm ich weder an den Religions- noch an den Geschichtsstunden teil. Ich taugte auch als Handelslehrling nicht; so nahm mich mein Vater an einem Oktober-Tag im Jahre 1857 in das Gymnasium von Sopron mit. Der Direktor, ein Benediktiner mit strengen Mienen, hörte erstaunt dem Wunsch meines Vaters zu. "Jetzt erst - fragte er - wo der Unterricht schon vor drei Wochen begonnen hat?" Darin hatte der hochwürdige Herr recht. Aber darin hatte er nicht mehr recht, was er noch hinzufugte, daß nämlich "Sie Juden sind alle so unordentlich". Mein Vater wußte nämlich einfach nicht, daß das Schuljahr einen Anfang und ein Ende hat, da es bei uns in Deutschkreuz kein Vacatio gab. Darauf zog mein Vater zitternd mein Zeugnis aus Kanizsa hervor. Er schöpfte Mut, daß es vielleicht den kühnen Herrn Lehrer sänftigen wird, denn es waren da nur "ausgezeichnet" eingetragen. Der Direktor in Kutte kümmerte sich aber nicht so sehr um die Meinung der Lehrer von Kanizsa. "Eine jüdische Schule - sagte er - die Juden geben ja alle 'ausgezeichnet' füreinander." Zu gestehen, daß er nach dieser Bemerkung sein Buch öffnete und nach der Feder griff, um mich in die Reihe der geistigen Kostschüler einzutragen. Für mein zwölfjähriges Kinderherz war aber diese grausame Behandlung des frommen Paters zu viel. Ich zupfte am Mantel meines Vaters und flüsterte in sein Ohr: "Gehen wir! Hier will ich nicht lernen." Wir gingen auch - und am nächsten Tag wurde ich unter den Schülern des evangelischen Gymnasiums immatrikuliert. Denn im Benediktinergymnasium unter Bach war deutsch die Unterrichtssprache. Wenn ich also dort eingetreten wäre und nach der Abiturprüfung - wie es auch geschah - mich nach Wien zwecks Jurastudium begebe, dann hätte ich wahrscheinlich nie ungarisch gelernt. 19

Vgl. Venetianer, A magyar zsidóság tôrténete (wie Anm. 15), S. 254.

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Das protestantische Gymnasium war autonom; die Unterrichtssprache blieb auch während der Bach-Periode ungarisch. Da wurde ich herzlich aufgenommen, vielleicht gerade weil ich Jude war und kein Wort ungarisch konnte: man konnte also eine Seele retten, wenn auch nicht fur das Christentum, sondern für das Ungarntum. Und das war eine große Sache damals. Ich bin auch beiden dankbar; dem Direktor der Benediktiner, daß er mich ablehnte, und dem seligen József Pál Király, daß er mich aufnahm. 20

Der Erfolg der fortschreitenden Madjarisierung des ungarischen Judentums blieb auch nicht aus. Die Anstrengungen des immer stärker werdenden ungarischen Judentums hinsichtlich seiner Emanzipation und Assimilation sowie das Entgegenkommen der ungarischen Gesellschaft auf der Ebene der Staatsfuhrung trafen auf dem Sitz des Parlaments am 25. November 1867 zusammen. Der Ministerpräsident Graf Gyula Andrássy legte den Gesetzentwurf über die jüdische Emanzipation der Abgeordnetenversammlung vor. Das Gesetz hat folgende Bestimmungen: 1. §. Die israelitischen Einwohner des Landes sind gleich mit den christlichen Einwohnern hinsichtlich der Praktizierung von allen bürgerlichen und politischen Rechten für berechtigt erklärt. 2. §. Alle gegensätzliche Gesetze, Gebräuche oder Verordnungen werden dadurch annulliert.21

Das Gesetz wurde ohne Diskussion mit 4 Gegenstimmen unter den 68 Abgeordneten angenommen. Das Ereignis wurde in vielen jüdischen Gemeinden mit Freude und Euphorie aufgenommen und als Meilenstein in der Geschichte der ungarischen Juden interpretiert. In der Geschichte Ungarns wurde erst mit diesem Gesetz die konstitutionelle Gewährung der jüdischen Emanzipation gesichert und die Grundlagen zur Integration der jüdischen Einwohner in die ungarische Gesellschaft gelegt. Wie tief die jüdischen Bürger die Gleichwertigkeit mit den ungarischen Einwohnern empfunden haben, wird auch in den begrüßenden Worten des Rabbiners Samuel Kohn ausgedrückt: Unsere Rechte wurden nicht unter Druck der Umstände, nicht auf Befehl irgendeiner Obrigkeit, nicht bei lautem Widersprechen und Protest einer Minderheit uns zurückgegeben, sondern es vollzog eine große und edle Nation von selbst. 22

Besonders früh wurden mit diesem nationalen Gedanken sowie der ungarischen Sprache auch jene Juden vertraut, die außerhalb von Großstädten in Iänd20

Lajos Dóczi: Hogy' tanultam magyarúl [Wie hab' ich ungarisch gelernt]. In: Magyar szelIemi élet. Elbeszélések és rajzok a magyar írók és müvészek életébôl. Hg.von Mihály Igmándi. Budapest 1892, S. 8f.

21

1965. decz. lO.-i Országgyúlés képviseloházának naplója. XVII. tôrvény-czikk az izraeliták egyenjogúsításáról polgári és politikai jogok tekintetében [Protokoll der Abgeordnetenversammlung vom 10. Dez. 1865] Pest 1868.

22

Vgl. Gonda, A zsidóság Magyarországon (wie Anm. 3), S. 118.

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licher Umgebung unter einer mehrheitlichen ungarischen Bevölkerung lebten. Diese waren von Kindheit an ungarisch aufgewachsen, sie besuchten meistens ungarischsprachige Schulen, in denen sie frühzeitig der ungarischen Literatur begegneten. Die Gleichwertigkeit des Ungarischen mit dem Deutschen fur die Juden Ungarns fand auch darin ihren Niederschlag, daß schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive publizistische Tätigkeit zum Teil in der Organisation des "Vereins fur die Verbreitung der ungarischen Sprache" auf Ungarisch stattfand. Mit dem Fortschreiten der Assimilation verloren aber viele Zeitschriften den speziell jüdischen Charakter, die Autoren wurden in das ungarische Pressewesen integriert, wie auch bei den meisten Schriftstellern schöngeistiger Literatur die jüdische Thematik in den Hintergrund trat. In diese Kulturtradition ist - mein zweites Beispiel - Josef Kiss (Kisch) hineingeboren und hineingewachsen. Dieser hervorragende Vertreter der ungarischen Lyrik des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte väterlicherseits arme Trödler, mütterlicherseits eine aus Litauen geflüchtete Kantorenfamilie als Vorfahren. Als Kind verbrachte Josef Kiss die meiste Zeit in kleinen Ortschaften in Ostungarn, wo immer der Vater ein Geschäft oder eine Schenke aufmachen konnte. In diesen Gegenden lernte er nicht nur die Seele des ungarischen Volkes, sondern auch seine schönsten Lieder und Balladen kennen. In einem kleinen nordost-ungarischen Nest entdeckte ihn ein christlicher reformierter Geistlicher und - wie oft wiederholte sich das in den jüdischen Lebensgeschichten! - machte ihn mit den Schönheiten der ungarischen Literatur vertraut. Auch er war von seinen Eltern zum Rabbiner bestimmt, aber - er wie wir das von anderen Fällen schon kennen - er wehrte sich gegen die Entscheidung der Eltern und flüchtete mit dreizehn Jahren nach Wien. Als er nach einigen Jahren wieder zurückkam, setzte er seine Ausbildung in den besten ungarischen Gymnasien fort, deren wichtigste Merkmale waren, daß Ungarisch die Unterrichtssprache war und sie nichtjüdisch waren. Schon als Schulknabe entschloß sich Kiss, in die Fußstapfen seines großen Vorbildes János Arany zu treten, und widmete sich ausschließlich dem Schreiben. Die ungarische Literaturgeschichte behandelte ihn mit Vorliebe als Arany-Epigonen, wobei ihm gerade in seiner Frühphase durch die Thematisierung seiner jüdischen Herkunft eine gewisse Originalität eignete. Auch wenn es sich in diesen Gedichten um Landjuden handelt, schreibt er über sie aus der Perspektive des städtischen, aufgeklärten Juden - aber ständig mit einer romantisch-liebevollen Fürsorge. Die Literaturgeschichte hatte vielleicht recht, wenn sie ihn als Lyriker nicht aufs Piedestal der ungarischen Literatur stellte, es wurde ihm aber nie abgestritten, daß er als Begründer und Chefredakteur der Zeitschrift "Die Woche" (A Hét) seinen Namen für ewig berühmt machte. "Die Woche" war im literarischen Leben der Jahrhundertwende zwischen 1890 und 1908 maßgebend, um sie gruppierten sich die begabtesten jungen Lyriker verschiedener Provenienz. Auch wenn viele jüdische Autoren in der Zeitschrift schrieben, hatte "Die Wo-

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che" keinen ausgeprägt jüdischen Charakter, sie wollte einfach das aufgeklärte, nach Europa hin orientierte Bürgertum der Großstädte ansprechen. Ebenso stand das Judentum von Kiss, das er nie leugnete, völlig in Einklang mit seiner national gesinnten literarischen Tätigkeit. Er blieb bis zu seinem Lebensende der jüdischen Religion treu, wenn auch diese Tatsache kaum Eingang in seine späteren Schriften fand. Auch die Zeitgenossen sahen in ihm in erster Linie den ungarischen Literaten und Zeitschriftenredakteur und nicht den jüdischen Schriftsteller.23 Nur in einigen wenigen Schriften seiner Freunde wird seine jüdische Herkunft angesprochen, wie zum Beispiel in den Erinnerungen des Zeitgenossen Gyula Donáth, der ihn mit Petöfi gleichsetzt und folgendes schreibt: "Alexander von Humboldt sagte über Petöfi: 'Das ist eine orientalische Prachtblume.' Im Blumengarten der ungarischen Dichtkunst blüht auch eine Blume Israels, diese ist die Poesie von Josef Kiss."24 Schließlich möchte ich kurz einen dritten möglichen Weg darstellen, der eigentlich von den wenigsten der ungarischen Juden gewählt wurde, wenn dieser auch eine reale Alternative hätte sein können. Es handelt sich um den einzigen jiddischsprachigen Dichter Josef Holder, der im letzten Jahrzehnt des historischen Ungarn im östlichsten Grenzgebiet geboren wurde und die Hälfte seines Leben dort, die andere Hälfte in Budapest verbrachte und nicht nur am jüdischen Glauben, sondern auch an der jiddischen Muttersprache festhielt. Es ist merkwürdig, daß das ungarische jiddischsprechende Judentum im Verhältnis zu seiner relativ großen Zahl keinen bedeutenden in dieser Sprache schreibenden Dichter hervorgebracht hat. Darüber beklagt sich auch Ber Borokhov, der bekannte Literaturhistoriker und Sprachwissenschaftler, in seiner Rezension über das 1914 erschienene Literaturlexikon von Zalmen Reyzen: Sehr traurig ist es, daß von dem eine Million zählenden jiddischsprachigen ungarischen Judentum kein einziger moderner jiddischer Literat oder Journalist hinaufgekommen ist. Die Intelligenz ist madjarisiert, die Massen sind finster oder hassidisch fanatisch - das ist also das Ergebnis der Assimilation. 2 5

Die aufgeklärten, assimilierten Juden bedienten sich der ungarischen Sprache, sie gaben sogar die Sprache der Liturgie, das Hebräische, auf, beteten auf ungarisch. Unter dem 'Jiddischen' verstand man in Ungarn das sogenannte 'daytshmerishe' (auch jüdisch-deutsch genannt), das sich eigentlich vom Deutschen nur darin unterschied, daß es mit hebräischen Buchstaben geschrieben wurde und einige hebräische Worte aufwies. Die wenigen jiddischen Zeitungen erschienen nach dem Friedensvertrag von Trianon nur noch in den ehemaligen Ostgebieten. Daß Ber Borokhov die 23

24 25

Vgl. das posthum erschienene Werk aus seinen Prosawerken und Erinnerungen der Zeitgenossen: Kiss József és kerek asztala [Josef Kiss und sein runder Tisch], Budapest 1934. Ebd., S. 229. Ber Borokhov: Sprakhforshung un literaturgeshikhte. Tel Aviv 1966, S. 167f.

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jiddischen Dichter aus Ungarn in der ersten Ausgabe des Literaturlexikons von Reyzen vermißt, scheint also berechtigt zu sein. Er konnte ja kaum davon Kenntnis nehmen, daß im Sommer 1911 ein junger Siebenbürger Literat in der Maramaroscher örtlichen Zeitung debütierte. Holders äußerer Lebensweg ist gleich dem aller anderen jüdischen Mitmenschen dieser Zeit. Er entkommt zeimlich früh dem engen chassidischen Milieu, begegnet bald aufklärerischen Ideen, erlernt einen weltlichen Beruf in der Großstadt. Er war anständiger Büroangestellter, von Beruf Buchhalter, der am Tag in einem eleganten Anzug seiner Arbeit in einer Textilfabrik nachging. Neben seiner Arbeit war er gleichzeitig Korrespondent von sieben jiddischen Zeitungen, seine Gedichte, Erzählungen, Reportagen erschienen in den größten jiddischsprachigen Zeitungen der Welt, zum Beispiel in dem New Yorker "yidishes folk, yidisches tagblat", in der Wiener "yidishe morgenpost", in der Krakauer "di tsayt", im Lemberger "tagblat", im "vilner tog". In einer von Tsvi Spirn redigierten Antologie erschienen auch einige Gedichte von ihm.26 Er war aber ebenso in der ungarischen Literatur gut beheimatet. Er hatte vor allem Endre Ady zu verdanken, daß er ihm den Weg zu der ungarischen Literatur ebnete. Ady kümmerte sich fast väterlich um den jungen Dichter, er sorgte noch kurz vor seinem Tode fur die Veröffentlichung von zwei Holder-Übersetzungen in der Budapester Zeitung "Pesti Futár" (Pester Bote). Er selbst veröffentlichte nur einen einzigen selbständigen Band mit melodischen, technisch geschliffenen jiddischen Gedichten unter dem Titel Oft singt sich, erschienen in Wilna 1928. Mit der Übersetzung zeitgenössischer ungarischer Dichter nahm er eine bescheidene, aber feste Position unter den ungarischen Literaten ein. Man sah ihn oft an den Stammtischen der größten ungarischen literarischen Zeitschriften wie "A Hét" (Die Woche) oder "Nyugat" vorbeikommen. Der Zeitgenosse Elemér Boross berichtet darüber, daß er dort mit Schriftstellern, Dichtern, Schauspielern bekanntgemacht wurde, sogar selber Freundschaften Schloß, er bewahrte aber noch nach jahrzehntelangem Budapester Aufenthalt etwas von der Bescheidenheit und vom Respekt des jüdischen Burschen aus der Provinz.27 Er bewegte sich in seinem ganzen Leben zwischen jüdischem Kosmopolitismus und ungarischem Patriotismus. Das Jüdisch-jiddische war seine ererbte Heimat, Ungarn war schon wegen seiner ungarischen Frau aus dem Seklerland seine gewählte Heimat. Trotz der engen Verbindung zu Ady und zahlreichen zeitgenössischen ungarischen Dichtern blieb er ein Sonderling und Einzelgänger, sowohl im Leben als auch in seiner Dichtung. Als einziger Vertreter der modernen ungarischen jiddischsprachigen Lyrik wurde er in der ganzen Welt, wo nur jiddisch gesprochen wurde, gefeiert. Die Kischinewer Zeitung "unzer tsayt" würdigte seinen Gedichtband in ihrer Nummer vom 14. Mai 1929. Die Vilner Zeitung

26 27

Yom-tov bikher. Hg. von Tsvi Spirn. Brünn 1917 (yidishe zamelbikher). Elemér Boross: Velük voltam. Budapest 1969, S. I83f.

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"der tog" öffnete einen Sonderteil fur ihn unter dem Titel: "naye ungerishe lirik", in dem er Übersetzungen ungarischer Lyrik publizieren konnte. Seine größte Leistung als Übersetzer erschien jedoch weder zu seinen Lebzeiten noch danach - es ist das bekannte ungarische Nationaldrama von Imre Madách: Tragödie des Menschen. Das Stück stand schon auf dem Spielplan der New Yorker und Warschauer jiddischen Theater, die Aufführung scheiterte jedoch beide Male. Josef Holders ganzes Leben bewegte sich zwischen Anerkannt· und Ausgegrenztsein, genauso wie das Leben so vieler seiner Zeitgenossen in und außerhalb von Ungarn. Moritz Gottlieb Saphir, Josef Kiss und Josef Holder bilden gemeinsam ein relevantes Modell des ungarischen Judentums. Sie lebten zwar zeitlich nicht unmittelbar nebeneinander, doch verkörpern sie alle Möglichkeiten, die für die ungarischen Juden, wenn auch in zeitlicher und/oder räumlicher Abstufung, offen standen: die Germanisierung, die Assimilation in das Ungarntum, das Festhalten am Jiddischen, wobei es in allen Fällen nicht nur um das Festhalten an einer Sprache ging. Das Deutsche, das Ungarische und das Jiddische sind einzelne Möglichkeiten jüdischen Selbstverständnisses, die nicht nur seit der Geburt ererbt sind, sondern für die sich jeder einzelne der drei Autoren selbst entschied. An dieser Stelle könnte die weiterführende Frage gestellt werden, in welchem Maße die gewählte Umgangssprache beziehungsweise Literatursprache die Identität seines Trägers beeinflußt hat. Auf jeden Fall hat die Sprache meist den äußeren Lebensweg prädestiniert, abgesehen davon inwieweit diese Tatsache als eine von außen aufgetragene Last oder als eine frei gewählte Alternative empfunden wurde. Zahlreiche deutsche Juden formulierten zum Beispiel ihre Treue und Zugehörigkeit zur deutschen Sprache, und solche Bekenntnisse könnten hier zu allen drei Sprachen beigebracht werden. Die schönen, aber beinahe schmerzlich-krampfhaften Worte von Jakob Wassermann drücken dieses Gefühl besonders authentisch aus: In aller Unschuld war ich bisher überzeugt gewesen, ich sei deutschem Leben, deutscher Menschheit nicht bloß zugehörig, sondern zugeboren. Ich atme in der Sprache. Sie ist mir weit mehr als das Mittel, mich zu verständigen, und mehr als das Nutzprinzip des äußeren Lebens, mehr als zufallig Gelerntes, zufällig Angewandtes. [...] Ist das nicht gültiger, als die Matrikel, als schematisches Bekenntnis, als eingefleischtes Vorurteil, als eine Fremdlingsrolle, die durch Furcht und Stolz auf der einen Seite, auf der anderen durch Aberglauben, Bosheit und Trägheit besteht? 28

Eine poetische Frage, die eigentlich bis heute nicht abschließend beantwortet wurde.

28

Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin: Nishen 1987 (Literarische Tradition), S. 50.

Monika Richarz

Der Wandel weiblichen Selbstverständnisses in den Lebenszeugnissen jüdischer Frauen

Wir haben j a nichts als Krieg, Inflation und Revolution erlebt. Und doch erinnere ich mich noch gern an meine Kinderjahre vor 1914 ohne 'Weltgeschehen', die mir jetzt [...] wie ein Märchen, wie etwas ganz Unwirkliches erscheinen. 1

Diese Sätze, die eine jüdische Frau 1939 nach ihrer Flucht aus Nazideutschland in ihrem Lebensbericht schrieb, enthalten wichtige Grundprobleme jeder Autobiographie. Das eigene Leben, im Rückblick wahrgenommen, wird vom Gedächtnis gefiltert und interpretiert, geformt und bewertet aus der jeweiligen Gegenwart und gesehen im Kontext des in der Zwischenzeit Erlebten und Erfahrenen. Jetzt, da die Autorin nach Krieg und Inflation Vertreibung und Flucht erleben mußte, erscheint ihr die Zeit vor 1914 als eine Zeit der später nicht mehr gekannten Sicherheit und damit als irreal wie ein Märchen. Weltgeschehen hat es für sie in diesem vermeintlich goldenen Zeitalter der Kindheit noch nicht gegeben. Die großen Katastrophen in ihrem Leben Krieg, Verfolgung, Flucht - nimmt sie wahr als Einbruch der Weltgeschichte in ihren privaten Raum. Sie empfindet nach der Flucht eine tiefe Entwurzelung und Entfremdung von ihrem Ursprung. Gerade dies wird ihr zum Motiv des Schreibens, als des Versuchs der Selbstvergewisserung über die Kontinuität des Ich. Diese Selbstvergewisserung wurde fur viele Juden nach den Erfahrungen der Vertreibung und des Verlustes ihrer früheren Lebenswelt ein starkes Bedürfnis. Einen noch intensiveren Drang, Erlebtes aufzuschreiben - oder aber vollständig zu verschweigen - , empfanden die Überlebenden der Konzentrationslager. Sie wollten durch Schreiben Zeugnis ablegen über ein ungeheures historisches Verbrechen und zugleich den Versuch machen, sich von der Last der Erinnerung durch Schreiben etwas zu erleichtern. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Juden niemals so viele Autobiographien verfaßt haben wie in den letzten sechzig Jahren. Die ungeheuren Brüche und Diskontinuitäten im Leben der Schreibenden machten die Selbstvergewisserung zwingend. Darüberhinaus war jedes einzelne jüdische Leben durch Verfolgung und Flucht

Hettie Shiller: My Life in Germany before and after January 30, 1933 (Harvard essay competition 1940), S. 1 (zit. nach: Sibylle Quack: Zuflucht Amerika. Zur Sozialgeschichte der Emigration deutsch-jüdischer Frauen in die USA 1933-1945. Bonn: Dietz 1995, S. 19).

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Monika Richarz

oder durch Deportation und Überleben Teil einer weltgeschichtlichen Katastrophe geworden und damit seine Bezeugung von grundlegender Bedeutung. Autobiographien sind subjektive Quellen - es gibt keine objektive Erinnerung. Das Gedächtnis wählt aus und verändert, und beim Niederschreiben wird nochmals bewußt geformt. Die Autobiographie ist also ein Konstrukt in doppelter Hinsicht. Aber was ist die Basis der Auswahl? Die soziale Perspektive des Erinnernden ist dabei ebenso von Bedeutung wie das Motiv seines Erinnerns und die Personen, für die erinnert wird. Die seit dem erinnerten Ereignis verflossene Zeit und die dazwischenliegenden Erfahrungen schlagen sich in der Erinnerung nieder. Sie lassen beispielsweise manchmal die Kindheit und Jugend in einem verklärten Licht erscheinen. Sich erinnern heißt also interpretieren. Die Interpretation, abhängig von der sozialen Sichtweise des Einzelnen, fuhrt verschiedene Personen zu ganz unterschiedlichen Erinnerungen an dasselbe Ereignis. Männer und Frauen erinnern sich fast immer geschlechtsspezifisch verschieden, das heißt, sie erinnern in unterschiedlicher Form verschiedene Lebenswelten. Frauen stellen sich und ihr Leben nach anderen Kriterien dar als Männer. Diese erleben und präsentieren sich eher als handelnde Subjekte ihres Lebens, Frauen verstehen sich aufgrund ihrer Sozialisation eher aus sozialen Beziehungen. Dies gilt für die bürgerliche Lebensform, doch unterliegen auch innerhalb dieser die sozialen Geschlechtsrollen Wandlungen und damit auch die Formen der weiblichen Autobiographie. Erinnerungen zu schreiben, war historisch gesehen ganz überwiegend eine männliche Domäne - auch dies ein Ausdruck der jeweiligen sozialen Geschlechtsrollen. Erst mit der Entstehung des Bürgertums nahmen die weiblichen Autobiographien deutlich zu. Bessere Bildung, vermehrte Muße, wachsendes Selbstwertgefühl und gesteigerte weibliche Aktivität in der Öffentlichkeit sind Voraussetzungen für diese Tatsache gewesen. Die Bewußtseinsveränderungen der Frau, wie sie die bürgerliche Frauenbewegung ausdrückte, förderten die Bereitschaft zur Autobiographie, die so den Wandel des weiblichen Selbstverständnisses dokumentiert. Die deutschen Juden gehörten im Kaiserreich überwiegend dem Bürgertum an, oder besser gesagt, sie bildeten ein spezifisches jüdisches Bürgertum mit eigener deutsch-jüdischer Kultur. Bürgerliche jüdische Frauen haben wie andere bürgerliche Frauen Erinnerungen niedergeschrieben, doch waren diese bis in die Weimarer Zeit ganz überwiegend privater Natur und nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern Teil der Familienkultur. Es handelt sich bei diesen Texten in erster Linie um Lebensberichte, die von den Müttern für die Kinder und Enkel verfaßt wurden, also um Aufzeichnungen, die primär der Verbindung der Generationen dienten und der Stärkung des Familiengefühls. Diese Berichte aus der Familie für die Familie gaben oft intime Einblicke in die häusliche Kultur und damit auch in das Judentum einer Familie. Schon

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deshalb waren sie wohl noch weniger für die Veröffentlichung bestimmt als die Lebensberichte von Frauen aus dem christlichen Bürgertum. Der private Charakter vieler Aufzeichnungen jüdischer Frauen fand sein Ende oft erst durch die furchtbaren Ereignisse der Verfolgung und Vertreibung der Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Fast alle überlebenden deutschen Juden waren später im Ausland ansässig, hatten Kinder und Enkel, die in einer anderen Kultur aufwuchsen. Viele Memoirenschreiber empfanden das Bedürfnis, ihren Nachkommen in einem anderen Land eine Vorstellung zu geben von den Wurzeln der Familie in Mitteleuropa und von den traumatischen Ereignissen der Vertreibung. In der Autobiographie versicherten sie sich ebenso der eigenen Kontinuität wie der der Familie und verbanden so die Generationen im Sinne der Familiengeschichte. Diese Aufgabe haben sich nicht nur Männer gestellt, sondern in großem Umfang auch jüdische Frauen. Allein seit 1970 sind über 120 Autobiographien deutsch-jüdischer Frauen im Druck erschienen. 2 Im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York befinden sich heute etwa 200 meist ungedruckte Lebenserinnerungen jüdischer Frauen, die überwiegend nach 1945 verfaßt wurden. Sicherlich werden auch heute weit mehr von jüdischen Männern als von Frauen geschriebene Erinnerungen publiziert, doch ist die Zahl der Autobiographien jüdischer Frauen niemals so hoch gewesen wie in der Folge des Holocaust. Die eklatante Zunahme weiblicher Erinnerungen fuhrt uns zu der Frage zurück, ob und wie sich trotz oft ähnlicher Schreibmotivation die Erinnerungen jüdischer Männer und Frauen in Inhalt und Perspektive unterscheiden. In den Erinnerungen an das Kaiserreich zeigt sich eine deutlich geschlechtsbezogene Wahrnehmung der Umwelt, die durch die unterschiedliche Erziehung und Lebensstellung beider Geschlechter geprägt ist. Eine Frau, die ihre Lebenserfahrung gewonnen hat als Ehefrau und Mutter und als Mittelpunkt einer Großfamilie, macht andere Wahrnehmungen als ein Mann, der sich primär über seinen Beruf als Kaufmann oder Akademiker definiert. Andererseits ist es interessant zu beobachten, wie die zunehmende außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen ihre Wahrnehmung und ihr Selbstverständnis verändert und damit auch ihre Selbstpräsentation. Die meisten jüdischen Frauen, die nach der Emigration ihre Erinnerungen aufzeichneten, verlebten ihre Kindheit noch im Kaiserreich. Im Bürgertum des Kaiserreichs wurden Frauen dazu erzogen, primär die Bedürfnisse anderer zu erkennen und zu befriedigen, und wurden von einer eigenständigen Berufstätigkeit nach Möglichkeit ferngehalten, da dies ihre Heiratsaussichten schmälerte. 3 Sie schreiben daher mehr über Kindererziehung, das Familienleben und 2

3

Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900-1990. Hg. von Andreas Lixl-Purcell. Leipzig: Reclam 1992, S. 13 Zu Sozialgeschichte und Selbstverständnis deutsch-jüdischer Frauen im Kaiserreich vgl. v. a.: Marion Kaplan: Jüdisches Bürgertum - Frau, Familie und Identität im Kaiserreich.

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jüdische Geselligkeit als über Beruf, Gemeinde und Politik. Ihre Selbstwahrnehmung wurde in dieser Epoche bestimmt durch ihre Familienrolle als Tochter oder als Ehefrau und Mutter. Doch ist ihre Selbstpräsentation in den Memoiren eine typisch bildungsbürgerliche, denn sie sehen ihre eigene Lebensgeschichte im Rückblick als Geschichte der Persönlichkeitsentfaltung. Dies erlaubt ihnen auch die Integration von großen Veränderungen und Brüchen, die sie später erfahren mußten. Männer nutzen das gleiche Konzept der Selbstentfaltung, doch beziehen sie es vor allem auf beruflichen Erfolg, weil sie hier wesentlich höherem Erwartungsdruck ausgesetzt waren als Frauen. Bildung war ein wesentliches Element der bürgerlichen jüdischen Kultur. Sie diente dem sozialen Aufstieg und dem Versuch der Integration ins Bürgertum ebenso wie der Selbstdarstellung als jüdische Bürger. Bildung war für Männer und Frauen gleichermaßen wichtig, wurde aber als geschlechtsspezifisch verschieden begriffen. Während Männer in erster Linie Bildung als Basis für einen akademischen Beruf ansahen, überließen sie Bildung im Sinne von häuslicher Kultur und Bildungskonsum weitgehend den Frauen. Zahlreiche jüdische Frauen strebten jedoch spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls nach beruflicher Bildung, nachdem die bürgerliche Frauenbewegung dies seit Jahrzehnten propagiert hatte. Der Zugang zu Ausbildung und Beruf war die erste große Veränderung im Leben vieler dieser jüdischen Frauen, die ihre Perspektive deutlich wandelte. Da sie überwiegend dem Bürgertum angehörten und daher hochqualifizierte Ausbildungsberufe anstrebten, unterschied sie dies vom Durchschnitt der christlichen Frauen. Der höhere Bildungsgrad trug dazu bei, daß jüdische Frauen weit überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil als Verfasserinnen von Memoiren hervortraten. In ihren Erinnerungen sind durch die Erweiterung ihrer Bildungsmöglichkeiten Wandlungen in ihren Vorstellungen von Weiblichkeit und in ihrer Selbstwahrnehmung als Frauen zu erkennen. Die Selbstideale der Frauen sind historischen Veränderungen unterworfen, so daß später erworbene Erfahrungen und Überzeugungen zu einer durchaus kritischen Darstellung der eigenen Jugend fuhren konnten. Wenn beispielsweise eine berufstätige und politisch aktive Frau wie Hedwig Wachenheim auf ihre Jugend im Großbürgertum des Kaiserreich zurückblickt, so geschieht dies mit Distanz und Kritik an der damaligen Beschränkung weiblicher Entfaltungsmöglichkeiten.4 Da sich die männlichen Bildungsmöglichkeiten nicht generell veränderten, sind solche Perspektivwechsel in den Autobiographien von Männern nicht anzutreffen. Das bisher Gesagte gilt in gewissem Umfang für alle Autobiographien bürgerlicher Frauen im 20. Jahrhundert. Was aber ist inhaltlich das Jüdische an den hier zu betrachtenden Erinnerungen? Die Selbstdarstellung als Jüdin ge-

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Hamburg: Dölling und Galitz 1997. - Autobiographien sind die wichtigsten Quellen dieser Darstellung. Vgl. Hedwig Wachenheim: Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin. Berlin: Colloquium 1973.

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schieht zumeist sehr pragmatisch durch die Schilderung religiöser Praxis im Haus, anknüpfend an die Familientradition oder sich von ihr abhebend. Männer dagegen definieren sich oft als liberal oder orthodox und schildern, wenn gegeben, ihre Aktivitäten in Synagoge und Gemeinde, von denen Frauen aufgrund ihrer Geschlechtsrolle weitgehend ausgeschlossen waren. Weibliche Religiosität war überwiegend auf das Haus verwiesen, so daß Frauen in erster Linie von der religiösen Praxis des Alltags berichten, und das oft für zahlreiche Familienmitglieder aus mehreren Generationen. So entsteht beim Lesen ein ganzes Panorama möglicher religiöser Verhaltensweisen zwischen Orthodoxie und Indifferenz. Ihre eigene Religiosität verstehen Frauen ebenfalls nicht abstrakt, sondern erörtern die Frage, ob sie koscher kochten, wie sie den Sabbat begingen und ob man die jüdischen Feste in der Familie feierte. Sie charakterisieren den eigenen religiösen Status durch den Vergleich ihres Haushaltes mit dem der Eltern und Schwiegereltern oder dem der eigenen Kinder. Judentum erschöpft sich für die Memoirenschreiberinnen keineswegs in Religion, sondern umgreift auch viele soziale Aktivitäten. Dazu gehört vor allem, den Zusammenhalt der Großfamilie oft über weite Entfernungen zu fördern, jüdische Geselligkeit zu pflegen und jüdische Ehen zu stiften. Außerdem gewann die moderne Sozialarbeit für jüdische Frauen eine immer stärkere Bedeutung, da sie durch diese ehrenamtliche Tätigkeit nicht nur das Gebot der Zedaka erfüllten, sondern auch in der jüdischen Gemeinde eine wichtige Aufgabe übernahmen und so ihre Forderung nach mehr Gleichberechtigung in der Gemeinde unterstrichen. In der Darstellung dieser unterschiedlichen Bereiche jüdischer Aktivität zeigt sich bewußt und manchmal auch unbewußt die jüdische Identität der Autorinnen. Zum jüdischen Leben gehört fast immer die Begegnung mit Antisemitismus, und auch hier machten Frauen andere Erfahrungen als Männer. Zumindest im Kaiserreich waren sie weniger antisemitischen Erlebnissen ausgesetzt als Männer, da sie im Durchschnitt mehr in Haus und Familie als in der nichtjüdischen Außenwelt lebten. Doch in der Schule machten auch Töchter einzelne antisemitische Erfahrungen, und jüdische Mütter sorgten sich deshalb um ihre Kinder und suchten sehr sorgfaltig für sie nach Schulen mit liberalem Klima oder wählten Privatschulen. Nach dem Ersten Weltkrieg, als Frauen weniger behütet wurden und mehr am öffentlichen Leben teilnahmen, sahen sie den wachsenden Antisemitismus deutlicher. In der Zeit des Nationalsozialismus litten jüdische Frauen dann besonders unter der sozialen Segregation, das heißt unter der Isolierung der Juden, der Abwendung der Freunde und Nachbarn - obgleich es hier Ausnahmen gab - und stärker noch unter der Bedrückung und Diskriminierung ihrer wehrlosen Kinder in den Schulen. Diese Verfolgung der Schulkinder hat bei vielen Müttern den Entschluß zur Auswanderung reifen lassen. Jüdische Frauen thematisieren in den Erinnerungen also vor allem die zwischenmenschlichen und familiären Auswirkungen des Antisemitismus.

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Nach diesen mehr generellen Beobachtungen zur Autobiographik und Selbstdarstellung deutsch-jüdischer Frauen soll der Wandel des weiblichen Selbstverständnisses anhand von zwei Themenbereichen in den Erinnerungen jüdischer Frauen dargestellt werden, die hierfür von zentraler Bedeutung waren, nämlich die Erweiterung der weiblichen Bildung und die Veränderungen bei der Wahl des Ehepartners. In beiden Bereichen standen jüdische Frauen im Kaiserreich in einem Spannungsverhältnis zu traditionellen bürgerlichen wie auch jüdischen Normen, die jedoch begonnen hatten, sich zu wandeln. Diese Themen müssen daher im Zusammenhang der Verbürgerlichung der deutschen Juden gesehen werden, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung oder Veränderung spezifisch jüdischer Traditionen. Der Wandel des weiblichen Selbstverständnisses machte sich in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs am Beispiel des veränderten Bildungsstrebens und Heiratsverhaltens jüdischer Frauen immer stärker bemerkbar. Gerade die aktivsten unter ihnen strebten intensiv nach der Verbesserung ihrer Bildungsmöglichkeiten und nach einer individuellen Partnerwahl. Dies betraf zunächst nur eine kleine Avantgarde von Frauen, die aber durch ihr neues Selbstverständnis einen wichtigen Einfluß auf die nachfolgende Generation hatte. Diese Avantgarde schuf den Typus der Zukunft und arbeitete mit an der Entstehung der nach 1918 scheinbar so plötzlich auftretenden 'neuen Frau'. Die Forderung nach Verbesserung der weiblichen Bildung hatte in der bürgerlichen Frauenbewegung bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts Tradition, erreichte aber erst seit der Jahrhundertwende ihre größten Erfolge durch die beginnende Öffnung der Gymnasien und Universitäten fur Frauen. Es war sicher kein Zufall, daß jüdische Frauen dann zu den ersten Frauen gehörten, die diese neuen Möglichkeiten intensiver nutzten als jede andere Bevölkerungsgruppe. Im Mittelpunkt männlicher Autobiographien standen gewöhnlich Karriere, Leistung und .Status des Autors. Bei Frauen wurde im Bürgertum der Status durch Herkunft und Heirat bestimmt. Da sie im Kaiserreich zumeist noch keinen Beruf ergreifen konnten, war ihre wichtigste Aufgabe die Statuspflege der Familie durch die richtige Erfüllung ihrer Plichten als Ehefrau und Mutter. Ihr Bereich war die Kultivierung der Familie entsprechend bürgerlichen Normen und deren angemessene Selbstdarstellung.5 Die hierzu notwendige Bildung in Geschmack, Kunst, Musik und Literatur erwarb sie gewöhnlich in recht oberflächlicher Weise auf der höheren Töchterschule oder in einem Mädchenpensionat. Der hohen formalen Bildung der Söhne stand die eher amateurhafte der Mädchen gegenüber, die sie auf ihre gesellschaftliche Rolle vorbereiten sollte, nicht aber auf einen Beruf. In den Erinnerungen jüdischer Frauen, die später in der Emigration oft die alleinigen Ernährerinnen der Familie waren, galt dem Curriculum der Mäd5

Vgl. Kaplan, Jüdisches Bürgertum (wie Anm. 3), Kapitel 1, S. 42-86.

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chenschulen im Rückblick nicht selten Kritik. Hedwig Wachenheim stellte fest, daß sie im Großherzoglichen Institut in Mannheim zwar den Hofknicks erlernte, aber nicht die Beherrschung der Grundrechenarten. Sie fiihr fort: S o l a n g e die Mädchen nicht zu ernsthafter Erfüllung von A u f g a b e n entweder in der e i g e n e n Familie oder im Beruf erzogen wurden, blieb die A l l g e m e i n b i l d u n g , die sie erhielten, nur ein Schmuck, der ihnen angeheftet wurde, der aber w e d e r zur Entwicklung bestimmter verwendbarer Fähigkeiten, noch zur Entfaltung der Persönlichkeit beitrug. 6

Trotz dieser grundsätzlichen Mängel, bot die höhere Töchterschule die beste Schulbildung, die Mädchen bis zum Ende des Jahrhunderts überhaupt erhalten konnten, und war beim bildungsbewußten jüdischen Bürgertum entsprechend beliebt. In Berlin machten um die Jahrhundertwende jüdische Mädchen zwanzig Prozent aller Schülerinnen dieser Bildungseinrichtungen aus, während Juden etwa vier Prozent der Berliner Bevölkerung bildeten. 7 Hatten die Mädchen die Töchterschule mit 16 Jahren abgeschlossen, so verblieben ihnen im Durchschnitt noch sechs bis acht Jahre bis zur Heirat, in denen sie, als sogenannte 'höhere Töchter', abgesehen von Klavierunterricht, zumeist keine weitere formale Bildung mehr erhielten. Häufig beklagen die Memoirenschreiberinnen in der Rückschau die Verschwendung ihrer Jugendzeit im bloßen Warten auf die Ehe. Sie verbrachten die Wartezeit in der Familie, unausgefüllt und oberflächlich beschäftigt mit Klavierspielen, Handarbeiten und Geselligkeit. Weder das Erlernen eines Berufes noch die wirkliche Mithilfe im Haushalt galten als standesgemäß, und beides hätte die Heiratsaussichten von Mädchen geschmälert. Die höhere Tochter war ein Statussymbol der christlichen und der jüdischen bürgerlichen Familie. Sich gegen diese Institution aufzulehnen bedeutete fast immer den offenen Konflikt mit den Eltern, den wenige riskierten. Bevor Gymnasium und Universität fur Frauen zugänglich wurden, gab es als Ausweg neben der Lehrerinnenausbildung nur die heimliche Mitarbeit im Geschäft, das heißt an unsichtbarer Stelle, ehrenamtliche soziale Tätigkeit oder den Aufenthalt der Tochter in einem Verwandtenhaushalt, wo sie Erfahrungen sammelte und Heiratskandidaten kennenlernte. Eine der wenigen, die den bewußten Bruch mit der Institution der höheren Tochter riskierte, war wiederum Hedwig Wachenheim, die später aus dem jüdischen Großbürgertum in die Sozialdemokratie fand. Sie scheibt in ihren Erinnerungen:

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Wachenheim, Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 15. Im Jahr 1905 besuchten in Berlin 53 % der jüdischen und 10 % der christlichen Mädchen höhere Mädchenschulen. Siehe: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Berlin, April 1907, S. 141 f.

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N a c h der Schulzeit bestand mein Leben großteils im Anfertigen v o n Handarbeiten, im Besuch bei meinen Großmüttern, Kaffeevisiten, Besuchen von Theateraufführungen und Bällen, Schlittschuhlaufen und den sechswöchigen Sommerferien. 8

Als Hedwig Wachenheim 1912 volljährig wurde, entfloh sie diesem Leben nach Berlin und besuchte hier die von Alice Salomon gegründete Soziale Frauenschule. Alice Salomon selbst und auch Bertha Pappenheim, die Begründerin des Jüdischen Frauenbundes, kritisierten als Pionierinnen der Frauenbewegung, immer wieder die Tatsache, daß bürgerliche Frauen nicht zu einer sinnvollen Tätigkeit ausgebildet wurden. Sie propagierten bürgerliche Frauenberufe und freiwillige Sozialarbeit und hatten selbst den Weg der Sozialarbeit eingeschlagen als Weg zur weiblichen Selbstverwirklichung. 9 Die Ansicht, daß auch bürgerliche Frauen sich auf einen Beruf vorbereiten könnten, war bis zu jüdischen Mädchen in den Kleinstädten und Dörfern gedrungen, doch änderten sich hier die bürgerlichen Lebensmuster langsamer als in den Großstädten. Mally Hirsch war die Tochter eines wohlhabenden Kaufmannes in einem sehr kleinen Grenzort zu Polen. Im Jahr 1900 schickten ihre Eltern sie in ein Mädchenpensionat in Berlin, wo sie begann, sich schwärmerisch mit Literatur zu beschäftigen. Sie schrieb darüber später: Es war alles nicht so sehr in die Tiefe gehend, vieles mehr gefühlt als durchdacht. Aber beschäftigungslos, w i e ich j u n g e s berufsloses Mädchen war, war e s immerhin noch nicht die schlechteste Ausfüllung einer zu großen Muße, unter der ich doch sehr litt. D i e Frauenbewegung hatte damals den Zugang zu vielen Berufen g e ö f f n e t , und ich fühlte schon deutlich, w i e gut mir eine ernsthafte B e s c h ä f t i g u n g getan hätte. Jedoch, w a s sollte man in dieser Kleinstadt tun; der Gedanke, die Tochter fortzugeben, damit sie einen Beruf erlerne und ausübe, lag meinen Eltern zu f e r n . 1 0

Auch die ersten Möglichkeiten zur gymnasialen Ausbildung für Mädchen eröffneten sich diesen in Großstädten. Erstmals wurden 1893 in Karlsruhe Gymnasialkurse für Mädchen eingerichtet, die auch in humanistischen Fächern unterrichtet wurden und dann mit dem Abitur die Hochschulreife erlangten. Als in Karlsruhe 1899 die erste weibliche Abiturklasse in Deutschland die Reifeprüfung ablegte, war es die spätere Ärztin Rahel Strauss, die Tochter des Karlsruher Rabbiners Goitein, die die Abiturrede hielt. Sie erklärte die Motive der Mädchen für ihr Gymnasialstudium:

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Wachenheim, Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 20. Bertha Pappenheim und Alice Salomon (diese ließ sich im Ersten Weltkrieg taufen) hatten sich beide in ihrer Jugend überflüssig gefühlt, bis sie sich der freiwilligen Sozialarbeit widmeten (vgl. Marion Kaplan: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938. Hamburg: Hans Christians 1981 [Hamburger Beiträge zur Geschichte der Deutschen Juden. Bd VII], S. 64). Zitiert nach: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich. Hg. von Monika Richarz. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979, S. 233.

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Wir wollten lernen, wie man lernt, wie man durch Wissen selbständig wird und innerlich frei [...]. Der zweite und stärkere Grund aber war der Gedanke: Wir wollen einen Beruf haben, wir wollen einen Platz im Leben ausfüllen [...]."

Bildung wird hier als Voraussetzung gesehen für Emanzipation oder besser Selbstemanzipation - ganz so wie viele Juden den Eintritt in die Bildung ihrer Umgebung als Vorstufe zur Judenemanzipation erfahren hatten. Als Platz im Leben genügt nicht mehr allein die Rolle der Hausfrau und Mutter, angestrebt wird ein Platz im Beruf und damit im öffentlichen Leben von dieser jungen Frau, die aus einer orthodoxen Rabbinerfamilie stammte. In Berlin besuchte Else Flato seit 1905/06 die Privatkurse von Dr. Siegmund Auerbach zur Vorbereitung von Mädchen auf das Abitur, das sie vor den Lehrern eines Knabengymnasium ablegen mußte. "Es war der 18. März 1910, als ich mein Abiturium bestand. Wie stolz mein Vater war! Im selben Jahr wurde ich eine der ersten Studentinnen an der Berliner Universität." 12 Im bildungsfreundlichen Klima der jüdischen Familien wurden auch die Mädchengymnasien schneller akzeptiert als im übrigen Bürgertum. Dies zeigte sich darin, daß 1911 im Reichsdurchschnitt zwölf Prozent der Abiturientinnen jüdische Mädchen waren, bei einem Bevölkerungsanteil der Juden von etwa einem Prozent. 13 Stark überrepräsentiert waren jüdische junge Frauen auch an den Lehrerinnenseminaren, obgleich sie im öffentlichen Schuldienst kaum eine Aussicht auf Anstellung hatten. Die Abiturientinnen und die Absolventinnen der Lehrerinnenseminare wurden schließlich zwischen 1900 und 1909 von den einzelnen deutschen Universitäten schrittweise als ordentliche Studierende zugelassen. Gerade unter diesen ersten Studentinnen waren es wiederum jüdische junge Frauen, die einen beachtlichen Teil der Immatrikulierten stellten, nämlich vierzehn Prozent aller weiblichen Studierenden in Preußen im Jahr 1911 l 4 . Zahlreicher noch waren sie in dem von ihnen bevorzugten Studienfach Medizin, das auch viele der russisch-jüdischen Studentinnen aus dem Zarenreich belegten. In den Erinnerungen wird sichtbar, daß viele dieser Studentinnen vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Studium noch nicht unbedingt eine Berufsausbildung anstrebten, sondern die Universität zur Selbstbildung besuchten und für den Fall, daß sie nicht heiraten würden. Sobald sie eine Ehe eingingen, brachen sie das Studium gewöhnlich ab, was sie meist später bedauerten. Anders war dies bei den jüdischen Medizinstudentinnen, von denen ein großer Teil in die berufliche Praxis ging. Eine von diesen war Rahel Strauss, die Karlsruher Abiturientin. Sie heiratete sofort nach ihrem Examen 1905 einen Anwalt, arbeitete in einer Poliklinik und eröffnete 1908 als dritte Ärztin in München eine 11 12

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Abiturrede Rahel Goitein, Karlsruhe 1899, Stadtarchiv Karlsruhe Ak 8 - STS 13-344. Zitiert nach: Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen (wie Anm. 2), S. 44. Vgl. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Februar 1914, S. 31. Unter den 266 jüdischen Studentinnen in Preußen waren allerdings 77 ausländische Staatsbürgerinnen. Vgl. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Juli-Sept. 1915, S. 83.

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eigene Praxis, die sie bis zu ihrer Emigration aus Deutschland fortführte, obgleich sie vier Kinder bekam. Sie ist wahrscheinlich die erste jüdische Frau in Deutschland gewesen, die nicht nur eine akademische Berufsausbildung abschloß, sondern diesen Beruf auch ausübte und mit einem vollen Familienleben zu vereinbaren suchte. In ihren Erinnerungen reflektiert sie die fast unlösbare Aufgabe, Beruf und Mutterschaft zu verbinden: Es sind dazu v i e l e Vorbedingungen nötig. In erster Linie m u ß der Ehemann in der Frau die gleichberechtigte Gefahrtin sehen, die nicht in erster Linie fur ihn dazusein hat, sondern das Recht auf Eigenleben und Eigenentwicklung hat. Z w e i t e n s gehört eine pekuniäre Grundlage dazu, die e s der Frau ermöglicht, in Haus und K ü c h e [...] bezahlte Kräfte anzustellen. 1 5

Aus diesen Worten ist ersichtlich, daß Rahel Strauss die 'Doppelbelastung' der Frau akzeptierte, das heißt die Verantwortung für Kinder und Haushalt neben dem Beruf allein übernahm, diese Arbeit aber weitgehend bezahlte Hilfskräfte ausführen lassen mußte. Rahel Strauss stellte also nicht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung infrage, was auch die damalige Frauenbewegung nie tat, doch sie forderte vom Ehepartner die Anerkennung des Rechtes der Frau auf ihre eigene Entfaltung und auf Gleichberechtigung im Beruf. Dies war 1905 eine revolutionäre Haltung, die signalisierte, daß sich auch in der Auffassung der Ehe Bewußtseinsveränderungen vollzogen - beim Bürgertum generell und speziell beim jüdischen Bürgertum. Es ist kaum zu übersehen, daß die Veränderungen in den Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen von einer veränderten Auffassung der Ehe und damit auch der Partnerwahl begleitet werden mußte. Eine Tochter, die sich selbständig für einen Beruf entschied, würde kaum die Wahl des Ehepartners allein den Eltern überlassen. Doch erfolgte der Wandel zur individuellen Partnerwahl nur sehr langsam, ging es doch hier um jüdisch-bürgerliche Ehen, bei denen es ebenso wichtig war, innerhalb des Judentums wie innerhalb des Bürgertums zu heiraten. Diese doppelte Erwartung erforderte mehr Hilfestellung als eine nichtjüdische Ehe. Jahrhundertelang hatten die Eltern den Ehemann für die Tochter gewählt oft unterstützt durch Vermittler. Die Tochter sah den Bewerber einmal und hatte auch das Recht, ihn abzulehnen, was aber selten geschah. Nicht Zwang, aber Sitte, sozialer Druck und familiäre Überredungskunst brachten auch im Kaiserreich noch die meisten Mädchen dazu, ihnen fast Unbekannte zu heiraten, die die Familie als passend betrachtete. Die Familien wählten sehr sorgfältig, denn die Ehe war keine individuelle Angelegenheit, sondern eine Verbindung zweier Familien. Bildung, Religiosität und Ansehen waren dabei ebenso von Bedeutung wie Besitz und Mitgift. Leidenschaft galt nicht als gute 15

Rahel Strauss: Wir lebten in Deutschland. Erinnerungen einer deutschen Jüdin. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1961, S. 141.

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Voraussetzung für eine Ehe, und Liebe war etwas, was sich nach der Eheschließung entwickeln sollte. Die Vermittlungsehe wurde im Kaiserreich von jungen Frauen allmählich nicht mehr als selbstverständlich angesehen. Mädchen, die größere individuelle Entfaltungsmöglichkeiten errungen hatten, wollten auch bei der Eheschließung eine persönliche Wahl treffen, wenn auch innerhalb der 'richtigen' bürgerlichen Kreise. Die Probleme der sich wandelnden Partnerwahl werden in Memoiren von Frauen häufig thematisiert. Rahel Strauss wunderte sich schon als junges Mädchen darüber, daß manche ihrer Freundinnen binnen ein oder zwei Tagen plötzlich eine Verlobung mit einem ihnen Unbekannten eingingen: "Man hatte uns hundertmal erzählt, daß diese Form des Sichfindens die richtige sei, dem klaren Blick der Eltern sich fugend und nicht irgendeiner Leidenschaft folgend. Ich hatte nie daran geglaubt."16 Rahel traf ihre Wahl selbst, doch fiel sie selbstverständlich auf einen Mann aus orthodoxer Familie wie die ihre, der ihr aber freie Hand ließ in ihrem Bestreben, Beruf und Ehe zu verbinden. Aus vielen Memoiren wird ersichtlich, daß Liebesehen persönlicher Wahl und sogenannte Vermittlungsehen keine kategorischen Gegensätze bildeten. Auch bei den sogenannten 'Liebesehen' regierte die Leidenschaft nicht blindlings, sondern die Jugend verkehrte in den 'richtigen Kreisen', und ihre soziale Konditionierung lenkte sie meistens zu den angemessenen Partnern, die aus verwandtem jüdischen Milieu stammten. So manche Liebesehe war allerdings nur fingiert, denn sie beruhte nicht selten darauf, daß zwei Partner einander vermittelt worden waren, dann aber diesen nicht mehr modernen Tatbestand romantisch verschleierten. Anders war die Situation, wenn die junge Frau einen christlichen Ehepartner wählte. Die Binnenheirat bildete länger noch als die Religion die festeste Bastion der jüdischen Identität, so daß selbst unreligiöse Eltern eine Verheiratung ihrer Tochter mit einem Christen fast immer mißbilligten. Es waren vor allem beruflich selbständige junge Frauen aus dem Kleinbürgertum, die zunehmend solche Ehen eingingen, weniger die bürgerlichen Töchter, die materiell stärker von ihren Eltern abhängig waren. Die gemischten Ehen nahmen im späten Kaiserreich allgemein zu. Im Jahr 1904 heirateten knapp acht Prozent aller jüdischen Frauen Christen, im Ersten Weltkrieg waren es schon 21 Prozent. 17 Auch dieser Anstieg zeigt, daß die Partnerwahl zunehmend individuell und unabhängiger von traditionellen jüdischen Normen getroffen wurde. Zusammenfassend ist zu betonen, daß das Streben der jüdischen Frauen nach verbesserter Bildung, nach beruflicher Tätigkeit und persönlicher Partnerwahl nicht erst im autobiographischen Rückblick für sie relevant wurde, wenngleich sie im nachhinein die Veränderungen deutlicher erkannten. Das 16 17

Strauss, Wir lebten in Deutschland (wie Anm. 15), S. 104. Vgl. Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Oktober 1906, S. 159 und Januar/Februar 1924, S. 25.

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Verhalten und die lebensgeschichtlichen Entscheidungen der jungen Frauen bei Berufs- und Partnerwahl bezeugen, daß sie den Wandel des weiblichen Selbstverständnisses auch in ihrer Jugend wahrnahmen und vielfach als den eigenen begriffen. Dieser Wandel war zugleich der aller Frauen wie der der jüdischen Frauen im besonderen, die an diesen konzeptionellen und realen Veränderungen in ganz auffallend starkem Maße beteiligt waren. War doch Emanzipation durch Bildung ein allen Juden vertrautes Konzept, das der Akkulturation und Verbürgerlichung der deutschen Juden zugrunde gelegen hatte. Jüdische Frauen besaßen gewissermaßen historische Erfahrung darin, daß Bildung Selbstemanzipation ermöglichte und damit ein neues Selbstverständnis, das der rechtlichen und sozialen Emanzipation vorauseilte.

Arnold Paucker

Zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Diktatur

Über Fragen des jüdischen Selbstverständnisses und der jüdischen Identität gibt es, selbst wenn wir die Thematik auf jüdische Jugendliche einschränken, bereits eine derartige Flut von Veröffentlichungen, daß es einem wirklich Sorge bereitet. Daß in ihnen Untersuchungen über die Verhaltensweisen und die Reaktionen von jungen jüdischen Menschen auf ihre Umwelt oft ein zentrales Element bilden, ist ganz einfach selbstverständlich. Schon allgemein gesprochen ist - bevor die Behäbigkeit einsetzt, oder gar die Verkalkung - die Beschäftigung mit der eigenen Persönlichkeit reger. Und daß Persönlichkeitsformungen bei ohnehin frühreifen jungen Juden, oft schon in der Schule angefeindeten Minderheitsgruppen, in früher Jugend einsetzen können, ist eine Binsenweisheit. Die Absicht meiner knappen Ausführungen ist, lediglich aus eigenem Wissen die Thematik ein wenig anzureichern und einige Gedanken in die Selbstverständnis- und Identitätsdebatte dieser Tagung zu werfen, die mir gerade in der letzten Zeit gekommen sind. Ich werde dabei auch ein wenig ketzerisch verfahren, denn ich hege gewisse Zweifel, was diese Überbeschäftigung mit Identitätsfragen angeht. Soziologische und psychologische Studien mit einer Begriffswelt, die von Selbstwahrnehmung und Selbstidentität bis zu Selbstnegierung, Selbstzerfleischung, Ekel und Abscheu reicht, sind in der Mode. Ohne leugnen zu wollen, daß Erkenntnisse gerade hinsichtlich nationaler Verhaltensweisen gewonnen werden können, kann man zuviel des Guten tun. Es erscheint mir, daß wir Zeugen einer fast krankhaften Übertreibung sind und daß uns zuweilen statt tiefschürfender Analysen eine gewisse Pragmatik weiterzubringen vermag. Den unmittelbaren Anstoß zu diesen Überlegungen gab mir eine außergewöhnliche und auch persönlich aufreibende Ausstellung über jüdischen Widerstand in Deutschland oder: jüdische Jugend im deutschen Widerstand gegen die NS-Diktatur, die im vergangenen Frühjahr drei Monate lang in Berlin gezeigt wurde.1 Ich durfte diese mit einer Rede eröffnen 2 und dann mit einem

Siehe hierzu den Katalogband der Ausstellung: Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion Berlin 1939-1945. Hg. von Wilfried Löhken und Werner Vathke. Berlin: Edition Hentrich 1993.

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Seminar abschließen; in diesem wurden auch Fragen erörtert, die zum Themenkreis unserer Konferenz gehören. Zunächst etwas über den Charakter dieser Ausstellung. Es handelte sich dabei vornehmlich um drei jüdische Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion, und zwar - abgesehen von ihrer Vorgeschichte - vom Kriegsausbruch in Berlin bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches und der Befreiung der Juden dieser Gruppen, denen es gelungen war, ihren Henkern und Verfolgern zu entkommen, durch die Rote Armee im April 1945. Nun ließe sich sofort mit einem gewissen Recht einwerfen, daß junge Juden, die in den antifaschistischen Widerstand verwickelt waren, nicht gerade als typisch für die jüdische Glaubensgemeinschaft gelten können, und auch kaum für die jüdische Jugend in Deutschland, von der nach 1933 nicht einmal 1% aktiv politisch gegen den Nationalsozialismus tätig waren oder sich sporadisch an illegaler Arbeit beteiligten.3 Nun war aber der Bogen dieser Ausstellung sehr weit gespannt. Es handelte sich zum ersten um die Herbert Baum-Gruppe, bei der ein antifaschistisches Selbstverständnis viel ausgeprägter war als ein jüdisches.4 Jedoch komplizierte sich hier die Fragestellung nach Identität dadurch, daß sich ihre kommunistische Leitung vielleicht mit dem Schlagwort von der "Roten Assimilation" abtun ließe, daß aber zu der zusammengeschmolzenen Kerngruppe Jugendliche aus den verschiedensten verbotenen jüdischen Jugendgruppen gestoßen waren, die in ihrem Selbstverständnis graduelle oder sogar markante Unterschiede aufwiesen. Die zweite Gruppe - die Gemeinschaft für Frieden und Auflau5 rekrutierte sich teilweise auch aus Nichtjuden und befaßte sich außer mit Antikriegspropaganda mit der Rettung untergetauchter Juden - Motive und Selbstverständnis waren gemischt. Die dritte Gruppe - der Chug Chaluzi6 2 3

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Vgl. Juden im Widerstand (wie Anm. 1), S. 206-208. Vgl. Arnold Paucker: Jüdischer Widerstand in Deutschland, Tatsachen und Problematik. Berlin 1989, 2 1995 (Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Beiträge zum Widerstand 19331945; 37) [erw. englische Version, Berlin 1991]; ders., Resistance of German and Austrian Jews to the Nazi Regime, 1933-1945. In: Leo Baeck Institute Year Book XL (1995), S. 320; ders., Standhalten und Widerstehen. Der Widerstand deutscher und österreichischer Juden gegen die nationalsozialistische Diktatur. Essen: Klartext Verlag 1995 (Stuttgarter Vorträge zur Zeitgeschichte, 4). Siehe jetzt die ausgezeichnete Darstellung von Michael Kreutzer: 'Die Suche nach einem Ausweg, der es ermöglicht, in Deutschland als Mensch zu leben.' Zur Geschichte der Widerstandsgruppen um Herbert Baum. In: Juden im Widerstand (wie Anm. 1), S. 95-158. Die Literatur über die Baum-Gruppen ist sehr angewachsen. Vgl. die Bibliographien im Leo Baeck Institute Year Book XV-XL (1970-1995). Barbara Schieb-Samizadek: Die Gemeinschaft für Frieden und Aufbau. In: Juden im Widerstand (wie Anm. 1), S. 37-81, und die dort aufgeführte Literatur; ebenfalls Arnold Paucker und Lucien Steinberg: Some Notes on Resistance. In: Leo Baeck Institute Year Book XVI (1971), S. 239-248. Christine Zahn: Nicht mitgehen, sondern weggehen! Chug Chaluzi - eine jüdische Jugendgruppe im Untergrund. In: Juden im Widerstand (wie Anm. 1), S. 159-205, und die dort

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war überhaupt keine antifaschistische Widerstandsgruppe im politischen Sinne, sondern befleißigte sich einer eindeutig sozialistisch-nationaljüdischen Zielsetzung. Man trotzte den Nationalsozialisten im Überlebenskampf, um dann Deutschland den Rücken zu kehren und in die jüdische Heimat zu gehen. Aber auch hier waren die Dinge nicht immer eindeutig. Dies alles ist mein Ausgangspunkt, und zu diesen illegalen Jugendgruppen möchte ich am Ende meines Referates noch einmal zurückkommen. Sodann etwas zu den Veranstaltern dieser Widerstands-Ausstellung. Es handelte sich dabei um junge Studenten und ältere Schüler der gleichen Altersgruppe, die das Thema der Ausstellung war und deren Mitglieder vor einem halben Jahrhundert ermordet wurden oder gelitten und überlebt hatten. Bei der Beschäftigung mit dieser - nennen wir sie ruhig "Gedenkstätte" entwickelten diese jungen Deutschen neben einer zu erwartenden Hingabe an das Ausstellungsprojekt ein so erstaunliches Einfühlungsvermögen in das oft sehr unterschiedliche Selbstverständnis der jungen Juden, die sie darstellen und ehren wollten, daß es einer völligen Identifizierung gleichkam. In meinen Gesprächen mit ihnen fühlte ich mich in meine eigene Jugendzeit versetzt; es war fast so, als ob wir wieder eine Gruppe bildeten und ich somit die damalige Zeit wiedererlebte. Und das hat mir in Fragen des Selbstverständnisses, des deutschen wie des jüdischen, sowie generell zum deutsch-jüdischen Verhältnis doch einiges zu denken gegeben. Im Rahmenprogramm der Ausstellung tauchten übrigens Fragen der merkwürdigsten Natur auf. Ein Berliner Lehrer erkundigte sich zum Beispiel ganz ernsthaft, in welcher Beziehung jüdischer Selbsthaß zu jüdischem Antifaschismus stehe. Ganz offensichtlich war der betreffende Pädagoge der Meinung, daß junge jüdische Antifaschisten, die eine völlige Solidarität mit der deutschen Arbeiterklasse empfanden, eine haßerfüllte Abwendung vom Judentum durchgemacht hatten, die einer Selbstverleugnung gleichzusetzen war. Nun wird meines Erachtens mit dem Begriff des jüdischen Selbsthasses oft ein geradezu neurotischer Unfug getrieben. Daß es hier um zuweilen komplexe Bewußtseinsfragen geht, bei denen sich auch das Judesein antifaschistischer jüdischer Widerstandskämpfer auf verschiedene Weise interpretieren läßt, möchte ich an anderer Stelle noch aufzeigen. Es ist ferner doch wohl unleugbar, daß ich bewußt auch als Zeitzeuge fungiere, da ich zu der langsam verschwindenden Gruppe derer gehöre, die noch Pimpfe in der Weimarer Republik waren, und zwar in meinem Falle - wie recht oft - in der deutschen und nicht in der jüdischen Jugendbewegung, und die sich dann

a n g e f ü h r t e Literatur. S i e h e a u c h i n s b e s o n d e r e J i z c h a k S c h w e r s e n z u n d Edith W o l f f : J ü d i s c h e J u g e n d im U n t e r g r u n d . E i n e z i o n i s t i s c h e G r u p p e w ä h r e n d des Z w e i t e n W e l t k r i e g e s . In: Bulletin d e s L e o B a e c k Instituts, Jg. XII, Nr. 4 5 ( 1 9 6 9 ) , S. 5 - 1 0 0 .

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nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in die jüdischen Jugendorganisationen eingliederten. Bei mir waren es die Werkleute, ein Jugendbund, der, gerade wenn es um zwiespältige Verhaltensweisen geht, ein recht interessantes Studienobjekt ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es so etwas wie ein Fluktuieren des Bewußtseins geben kann und daß man in einem einzigen Jahr drei Phasen eines Selbstverständnisses durchlaufen kann, ohne aus seinem Jugendbund auszuscheiden: einen säkulaijüdischen Nationalismus sozialistischer Prägung, einen deutsch ausgerichteten Antifaschismus und eine jüdische Religiosität. Diese Phasen waren jeweils abhängig von den wechselnden Einflüssen ideologischer Vaterfiguren, manipulativer Führer oder charismatischer Moderabbiner.7 Um das Persönliche hier aber nicht zu sehr zuzuspitzen, habe ich auch eine ganze Reihe ehemaliger Kameraden aus den Werkleuten befragt, um mich bei diesem wechselvollen Bild, das ich gerade für meinen eigenen Jugendbund aufzeigen kann, nicht nur auf eigene Aussagen zu stützen.8 Sodann habe ich auch Interviews mit Mitgliedern anderer Gruppen, Führern und Gefolgschaft, durchgeführt, darunter mit drei überlebenden Bundesfuhrern jüdischer Jugendorganisationen. Das kann recht aufschlußreich sein, solange man die Skepsis nicht ausschaltet - Erinnerung ist selektiv, Abstriche muß man machen. Da ich mich vornehmlich mit der jüdischen Jugendbewegung zu befassen habe, sei hier gleich bemerkt, daß sich jeder Interessierte vor allem auf die hervorragende Arbeit von Hermann Meyer-Cronemeyer9 und die weitgespannten Studien von Chaim Schatzker10 stützen muß, und sodann auf die vielen Aufsätze, die in den Jahrbüchern des Leo Baeck-Instituts erschienen sind - und andere Arbeiten mehr. 11 Hier ist viel geleistet worden, und die Verdienste der Auto-

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Hier verdienen vor allem die Rabbiner Max Nussbaum und Joachim Prinz in Erinnerung gerufen zu werden. Sie waren tatsächlich 'in Mode'. Aber ihr mutiges Auftreten gegen das NS-Regime von der Kanzel wurde allgemein bewundert und brachte so manchen Jugendlichen zu Religiosität und Zionismus. Meine Überlegungen sind in den letzten Jahren von den folgenden ehemaligen Werkleuten meiner Berliner und Ben Schemener Gruppen durch Auskünfte, Erinnerungen und Materialien unterstützt worden: Uriel Aryon (Emst Ehrlich), Tel Aviv; Etan Hakerem (Felix Katz), Haifa/Freiburg - beide inzwischen verstorben; sowie von Günter Engel, Wittlich; Herbert Goodman, New Jersey; Chanan Lehmann, Tel Aviv; Franz Levi, London; Richard Lewinsohn, Rischon LeZion; Günter Schwarz, New York; Kurt Singer, Detroit sowie Jecheskiel Goldman, Sao Paolo (Habonim). Wichtige Einsichten vermittelte mir auch der mit uns verbundene Efraim F. Wagner, Jerusalem (der ebenfalls aus dem Habonim kam). Hermann Meier-Cronemeyer: Jüdische Jugendbewegung. In: Germania Judaica, Teil 1 : Jg VIII, H. 1/2; Teil 2: Jg VIII, H. 3/4, Köln 1969, S. 1-122. Chaim Schatzker: Martin Buber's Influence on the Jewish Youth Movement. In: Leo Baeck Institute Year Book XXXIII (1978), S. 151-171; ders., The Jewish Youth Movement in Germany in the Holocaust Period (I) & (II). In: Leo Baeck Institute Year Book XXXII (1987), S. 157-181 und XXXIII (1988), S. 301-325; sowie andere Arbeiten in englischer und deutscher Sprache. Einige Studien werden weiter unten gesondert aufgeführt. Sonst sei auf die Bibliographien des Leo Baeck Institute Year Book I-XL (1956-1995), sowie auf die Autoren-Register der

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ren werden nicht geschmälert, wenn wir sagen, daß man manchmal den Eindruck erhält: hier wird eine offizielle Vereins- und Geistesgeschichte geschrieben, und zwar eine Art Rahmengeschichte, die nicht immer ohne Gemeinplätze abläuft. Die Beschreibungen sind oft vorzüglich, sogar tiefgründig, aber die Dinge werden, wie man auf Englisch sagt, zu sehr "at face value" genommen. Die Entwicklung - jedenfalls in gewissen Bünden - war differenzierter, es lassen sich nicht immer gerade Linien aufzeichnen, das Bild schwankt zuweilen. Zum einen gab es eine plötzliche Anpassung an sich rapide wandelnde Situationen, zum anderen gab es auch so etwas wie Absichten und geschickte Leitung von oben; ein geradezu künstlich gezüchtetes Kollektiv-Selbstverständnis. Das sei hier nur angedeutet und ausdrücklich auf die grundlegenden Arbeiten verwiesen. Ich ergänze diese aufgrund eigener Erfahrungen und bemühe mich, einige unorthodoxe Bedenken einzuflechten. Auch beschränke ich mich bewußt vor allem auf die wenigen Jugendbünde, mit denen ich vertraut bin, und auf Untergrunddasein und politischen Widerstand. Wir reden immer vom großen Aufbruch der Jugend in der Wilhelminischen Zeit, von der Rebellion gegen Elternhaus und Spießertum. Jedoch selbst in den Krisenjahren der Weimarer Republik und unter dem sich ständig verschärfenden Druck der NS-Diktatur waren es - so jedenfalls lautet meine These - nur Minderheiten, die sich mit sich selbst und ihrem Judesein beschäftigten, oder eben auch mit einem weniger "jüdischen" Ringen um ihre Funktion in der deutschen Gesellschaft. Vor 1933 waren es die Jungen und Mädchen in der deutschen oder der jüdischen Jugendbewegung oder den politischen, linken Jugendorganisationen, die sich entweder mit der Bedeutung ihres Judeseins resp. Nicht-Judeseins oder ihren politischen Aufgaben in der modernen Gesellschaft befaßten. Nach der Gleichschaltung, nachdem wir ausgestoßen wurden, ging all das, gewiß nicht ausschließlich, aber vornehmlich in den jüdischen Jugendbünden vor sich. Dabei muß man sich wiederum vor Augen halten, daß vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nur etwa ein Viertel der jüdischen Jugend organisatorisch erfaßt war und danach kaum mehr als die Hälfte (wobei in vielen Fällen die Mitgliedschaft eine eher "formelle" war). 12 Ich würde die Aussage wagen, daß auch dann die Mehrheit der Jugendlichen eher am Tanzen und am anderen Geschlecht interessiert war, sowie daß sich

Year βοοΛ-Registerbände I-XX (1956-1975) und X X I - X X X I X (1976-1994), London 1982 und 1995, verwiesen. 12

Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Dritten Reich. Hamburg: Hans Christians 1985, S. 27, gestützt auf Hilde Landenberger, "Die soziale Funktion der jüdischen Jugendbewegung", in: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Jg VI (1936), schätzt die Zahl der organisierten jüdischen Jugendlichen auf 2530 % (1932) und bis zu 60 % (1936) der Gesamtzahl. Das Buch von Angress ist sehr aufschlußreich fur die Lage der jüdischen Jugendlichen unter dem NS-Regime.

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daran bis zum Ausbruch der Endkatastrophe wenig änderte. Mit Selbstanalyse befaßten sich einzelne, kleine Gruppen, eine bündische Gemeinschaft, oft geschickt gelenkt von Führer-Figuren - nicht die große Masse, was vielleicht auch nicht unbedingt so ungesund ist. Da ich mich hauptsächlich mit dem Selbstverständnis der nicht-religiösen jüdischen Jugendbewegung befasse, dürfen ein paar Worte zur Terminologie nicht fehlen. Die ganze Begriffswelt, in der man sich bewegte, war urdeutsch. Der Wortschatz und manche Formulierungen muten einen geradezu teutonisch an. Alles, was mit "Selbst" anfängt, von der Selbsterkenntnis bis zur Selbstzerfleischung, ist fatal deutsch. Man sollte einmal die Entwicklung und den Wandel bestimmter Begriffe im jüdischen Bereich philologisch untersuchen. Die Entstehungsgeschichte und die allmähliche Übertragung dieses Vokabulars in die gesamte jüdische Welt ist eine eigene Erforschung wert. Fast die gesamte organisierte jüdische Jugend war elitär ausgerichtet. Hier sprachen Eliten zu Eliten; und die Werkleute, wie ich selbst nur zu gut weiß, betrachten sich im Rückblick noch heute, mit angemessener Bescheidenheit, als die Elite der Eliten. Die jüdische Jugend strebte deutschen Vorbildern nach, und so huldigte sie leider auch dem Führerprinzip. Die Führer befahlen oder gaben jedenfalls den Ton an - und man marschierte hinterher. Rebellen gab es nur zuweilen. Und es waren sehr deutsche Männerideale, die der jüdischen Jugend vorschwebten. Wie die deutsche, so war auch fast die gesamte jüdische Jugendbewegung mannbetont 13 - Mädchengruppen wurden nur langsam integriert, in gewissem Sinne assimiliert. Lange Zeit war es mit der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes in der Jugendbewegung sicher nicht weit her, obwohl zu nächtlicher Stunde - in allen Ehren - mit den Mädchen zuweilen nackt gebadet wurde. Wie steht es mit dem berüchtigten Selbsthaß bei jungen Juden? Mit Vergnügen schlucken jetzt auch wohl wollende deutsche Autoren den Gemeinplatz von der krankhaften Selbstverleugnung einer auf ein Aufgehen in die deutsche Gesellschaft bedachten, auf Anpassung versessenen Mehrheit der jüdischen Jugend. So einfach ist das aber alles nicht. Wer vermag es zu leugnen - von Paulus über Otto Weininger bis zu den jüdischen Häuptlingen der Ezra-PoundGesellschaften zieht sich eine lange Kette des pathologischen jüdischen Selbsthasses. Aber - man muß es auch verstehen - junge Menschen entwikkeln eben die Sehnsucht, sich einer Zielgruppe anzuschließen, die allgemein bewundert wird. Gehört man zu einer 'outgroup1, angeprangert und mit Herabschätzung angesehen, so ist es etwas ganz Natürliches, dem Vorbild nachzuei13

Ein g e w i s s e r Grad von Homoerotik läßt sich ohne Z w e i f e l - w i e bei den deutschen Jugendbünden - nachweisen, aber man sollte diesen Aspekt auch nicht zu sehr aufbauschen.

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fern und es sogar nachzuäffen. Ein gewisser Grad von Nachahmung, verständlich und ganz legitim, charakterisiert jedenfalls die Geschichte fast der ganzen jüdischen Jugendbewegung in Deutschland. Ein deutscher Jugendbund, der die Verhaltensweisen junger Juden in der Weimarer Republik gut veranschaulicht, ist der heute völlig vergessene Deutsch-Republikanische Pfadfinderbund (DRPB).14 In den meisten deutschen Jugendbünden waren Juden zumeist unerwünscht oder nur geduldet. Andere, wie etwa die Reichspfadfinder, hatten eben ihre "Renommierjuden". Der DRPB aber war mehr als judenfreundlich, er war geradezu jüdisch "durchsetzt". Vor allem in den Großstädten muß jedes dritte Mitglied jüdisch gewesen sein. Er war durchaus bündisch, aber republiktreu und ausgesprochen gutbürgerlich, wenn nicht sogar großbürgerlich: von den Gruppenführern bis zu den Pimpfen stammte sein jüdisches Kontingent vor allem aus wohlsituierten und hochassimilierten jüdischen Familien. Wenn Judesein oder jüdisches Bewußtsein dort überhaupt eine Rolle spielte, war es eher negativ in dem Sinne, daß man ein gewisses Außenseitertum als Tatsache hinnahm, sich aber im DRPB in bester christlicher Gesellschaft befand. Der DRPB war schon wegen seiner betont demokratisch-republikanischen Gesinnung unter den ersten Bünden, die von den braunen Machthabern verboten wurden. Er fristete noch einige Monate sein Dasein unter der sonderbaren Tarnkappe Jungenschaft St. Georg, was man wohl in bezug auf die zahlreiche jüdische Gefolgschaft als "jüdischen Selbsthaß" interpretieren könnte - wenn man eben keinen Sinn fur Humor hat. Der DRPB teilte sodann das Schicksal der gesamten deutschen Pfadfinderbewegung: seine "arischen" Bestände wurden von der Hitlerjugend aufgesogen, die jüdischen Mitglieder saßen nun sozusagen auf der Straße. Jedoch nicht für lange: denn fur sie war das Bündische geradezu eine Naturnotwendigkeit geworden. Wohin also? Für viele war das als "assimilatorisch" geltende und weiterhin deutschbewußte Schwarze Fähnlein das gegebene. Andere republikanische Pfadfinder rangen sich jetzt zu einem etwas lauwarmen Zionismus durch. Und fur diese waren gerade die Werkleute eine genehme Option. Zionistisch-sozialistisch mögen sie gewesen sein, aber empfunden wurden sie als sehr deutsch - und ein deutscher Sprachschöpfer war schließlich auch ihr geistiger Vater: der Religionsphilosoph Martin Buber. Es kam hinzu - und das galt auch für viele andere, die nun notgedrungen zur jüdischen Jugendbewegung stießen: Werkleute, das war ein schöner deutscher Name - Habonim (was zurückübersetzt ebenfalls Bauleute oder Werkleute bedeutet) oder gar Haschomer Hazair (zu ostjüdisch, zu links - linker wurde man erst später), das war ein zu großer "hebräischer" Sprung. 14

Erinnerungen an den DRPB verdanke ich auch zwei Mitgliedern, die wie ich Pimpfe in diesem Bund waren: Heinz Eberhard, Hamburg (verstorben) und Thomas Peyser, Bundanoon/Australien.

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Aber Werkleute - sagte nicht schon der in den Jugendbünden schwärmerisch verehrte große deutsche Dichter15: Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, Und bauen dich, du hohes Mittelschiff. Und manchmal kommt ein ernster Hergereister...

Nur bastelte man jetzt an einem anderen Mittelschiff; aber von weitem "Hergereiste" waren die Neuankömmlinge gewiß. Ein anderer deutscher Jugendbund muß kurz erwähnt werden, da er eines der Vorbilder des Schwarzen Fähnleins, aber auch anderer ehemaliger Kameraden war: die Deutsche Jungenschaft 1. November oder D.J. 1/11. Auch sie zählte jüdische Mitglieder, allerdings keineswegs dem jüdischen Prozentsatz im DRPB entsprechend; andererseits war sie aber bedeutend linker.16 Viele blieben überzeugte Gegner des NS-Regimes, einige ließen ihr Leben im deutschen Widerstand, andere desertierten zum Maquis. Das gilt übrigens auch für eine Linksgruppe im DRPB, die sich bei einer Spaltung 1932 den Jungkommunisten angeschlossen hatte. Viele im DRPB und in der D.J. 1/11 hielten später ihren jüdischen Kameraden die Treue. Hier gibt es Beziehungen zu den jüdischen Jugendbünden der Hitlerzeit, die keiner ignorieren kann, der sich mit jüdischer Selbstwahrnehmung, jüdischer Selbsterhaltung und jüdischem Widerstand im Dritten Reich befaßt. Ein wegweisendes Ereignis im jüdischen Selbstverständnis war bekanntlich die Spaltung der Kameraden, deren Geschichte ich hier im einzelnen nicht wiedergeben kann. Die in Kassel Pfingsten 1932 erfolgte Dreiteilung in nationaljüdische Werkleute, deutschbetontes Schwarzes Fähnlein und verschiedene rote Ableger, die teilweise in den deutschen Widerstand mündeten (Rotes Fähnlein, Schwarzer Haufen, Grauwölfe, Braune Füchse und wie sie alle hießen), kann man bequem bei befugten Historikern wie Meier-Cronemeyer nachlesen.17 Hier geht es mir nur um die Feststellung, daß die Scheidung keine so reine und reinliche war. Von tiefer Überzeugung konnte bei den Alleijüngsten ohnehin nicht die Rede sein; die Pimpfe folgten brav und gehorsam den jeweiligen verehrten Gruppenführern. Die alten intimen Beziehungen zwischen früheren Kameraden 15

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Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, Erstes Buch (1899). Wiesbaden: Insel-Verlag 1953, S. 20. Werner Lehndorff ("Traun") von der D.J. 1/11 schätzt seine ehemaligen Kameraden hingegen in der Mehrheit als eher unpolitisch ein und betont, daß Freundschaft und Kameradschaft im Mittelpunkt standen. Dies hätte die Beziehung zu den früheren jüdischen Mitgliedern auch nach 1933 bestimmt. Treffend sagt er: "Wir haben unsere Juden nicht gezählt." Brief an den Verfasser vom 8. August 1994. Meyer-Cronemeyer, Jüdische Jugendbewegung (wie Anm. 9), S. 78-86.

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blieben bestehen, während sich die unterschiedlichen Tendenzen und gerade die markante Linkswendung der Weimarer Zeit in allen drei "Spaltpilzen" fortsetzten. Ohne die vielen verbleibenden Querverbindungen und das gegenseitige "Keilen" läßt sich vieles nicht deuten - und dazu gehören auch die AntiNazi-Aktivitäten von kleinen Minderheiten, die es im Dritten Reich in vielen jüdischen Jugendbünden gab. Es wurde schon angedeutet, wer sich schließlich zu den Werkleuten gesellte. Ich habe ihnen selbst fünf Jahre angehört und möchte die Aussage wagen, daß man fast einen Riß feststellen kann zwischen den "Gerson-Gründervätern" 18 und den etwas jüngeren Formationen. In der Endphase der Weimarer Republik trafen viele die klare, freiwillige Entscheidung für Buber und/oder das Nationaljudentum. Die unfreiwilligen "Ex-Assimilanten", die vielen neuen Werkleute, huldigten hingegen oft einem sehr seichten Zionismus. Die Form der Erziehung, die wir genossen, hing stark von den jeweiligen Gruppenführern ab. Es gab alles, von der jüdisch-ethisch-kulturellen Schulung und einem Sich-Vertiefen in die jüdische Geschichte bis zur marxistischen Indoktrinierung à la Haschomer Hazair oder Borochow-Jugend. Gewiß galt Buber als die überragende philosophische Vaterfigur. Aber es gab auch den hämischen Reim, von den Anti-Buberianern schon in den Kameraden geprägt: Von der Pubertät In die Bubertät.

Ich habe ihn zuerst als Pimpf bei den Werkleuten gehört. Zu dieser ablehnenden Haltung noch später mehr. Daß man lange Landknechts- und Bauernlieder vorzog, statt sich an hebräischen Klängen zu erbauen, muß ich ebenfalls ganz energisch behaupten. Schließlich entsprach es auch durchaus dem Wesen der Werkleute, daß so viele von ihnen die Heimreise in die alte jüdische Heimat verpaßten. Die beschränkten Einwanderungsmöglichkeiten nach Palästina in der Vorkriegszeit bieten dafür nur eine ungenügende Erklärung, denn viele nahmen nur den Umweg über Palästina/Israel auf der Suche nach einer ständigen Bleibe. Wenn ich heute die Mitglieder der beiden Gruppen aufsuchen will, mit denen ich selbst verbunden war, meine Berliner Werkleute-Gruppe oder diejenige, mit der ich Ende 1936 nach Ben Schemen auswanderte und der eine weitere Werkleute-Gruppe 1938 folgte, so muß ich nach Detroit, New Orleans, New York, Philadelphia und Washington reisen, wenn nicht gar nach Südamerika. Ich kann aber auch das Londoner Telephonbuch zur Hilfe nehmen. Die einen

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Mit Gewinn noch heute zu lesen ist die 1934 bereits in Palästina im Kibbuz Chedera teilweise neu verfaßte Schrift des Bundesführers Hermann Gerson: Werkleute. Ein Weg jüdischer Jugend. Berlin: Kommissionsverlag 1935; generell hierzu: Eliyahu Maoz (Mosbacher): The Werkleute. In: Leo Baeck Institute Year Book IV (1959), S. 165-182.

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sind jüdische Aktivisten in der Diaspora geworden, die anderen dem Judentum völlig verloren gegangen. Eine weitere, buchstäblich in der Versenkung verschwundene Jugendgruppe sei hier eingefugt, nämlich die Breslauer Greifend Obwohl sie fast 100 Mitglieder zählten, ignorieren die Chronisten der jüdischen Jugendbewegung einfach ihre Existenz. Die Greifen waren eine Art fünfter, schlesischer Zweig der Kameraden (ein vierter, die Freie Deutsch-Jüdische Jugend, landete im Widerstand der KPO, der anti-stalinistischen kommunistischen Parteiopposition). 20 Die Greifen führten seit etwa 1927, also schon lange vor der großen Spaltung, eine Separatexistenz. Keiner der mehr ideologisch orientierten "Spaltpilze" von 1932 wurde ihnen je genehm, und so wurden hier die Boy Scowi-Baden Powell-Tradition und die hergebrachte Auflehnung gegen das Elternhaus fortgeführt, ohne philosophisch verbrämten Ballast. Versucht man, eine jüdische Note bei diesen hochassimilierten, aus guten Familien stammenden Jugendlichen zu definieren, kann man nur konstatieren, daß ihre Gruppenführer sie dazu erzogen, daß junge Juden, notgedrungen außerhalb der deutschen Jugendbünde verharrend, es mit den deutschen Pfadfindern sehr gut aufnehmen konnten. Sie stellten unter Beweis, daß sie mehr als ebenbürtig waren - und das war eben ihr jüdisches Selbstbekenntnis, die übliche Antwort auf die Anfeindung. Diese knappen Bemerkungen werden der Gruppe, einer in vielem kuriosen Erscheinung, nicht wirklich gerecht. Das Anti-Bubertum und der AntiZionismus ihrer tonangebenden Spitze erscheint einem geradezu fanatisch. Die Auflösung erfolgte bereits Anfang 1933, da der Bundesfuhrer schnell Deutschland verließ. Viele der in der ganzen Welt verstreuten Greifen wurden später bedeutende internationale Kapazitäten in vielen Wissenschaften. Aber das Intermezzo zwischen 1933 und 1939 ist weniger durchsichtig. Der noch lebende Bundesführer stellt eine Wendung zum Zionismus fast völlig in Abrede, aber mir allein sind sechs ehemalige Greifen bei den Werkleuten bekannt. Und natürlich waren es hier wieder die Werkleute, die man wählte.

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Der Verfasser ist dem ehemaligen Bundesftlhrer der Greifen für seine lebendige Darstellung sehr verpflichtet. Gespräch mit Dr. Alfred Laurence, Isle of Wight, Mai 1994. Seine unveröffentlichte Studie The Last Years of the Gryphons befindet sich im Archiv des Leo Baeck Institute, London. Antje Dertiger: Weiße Möwe, Gelber Stem. Das kurze Leben der Helga Beyer. Ein Bericht. Berlin-Bonn: Dietz 1987; Paucker, Jüdischer Widerstand (wie Anm. 3), S. 13-14. Dies gilt nicht nur für Breslau; auch in Hamburg war die Freie Deutsch-Jüdische Jugend im Untergrund aktiv (Brief des Mitglieds Kurt Wolfgang van der Walde an den Verfasser vom 25. Oktober 1994).

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Die Geschichte der Werkleute und des Kibbuz Hasorea in Palästina/Israel ist aufgearbeitet und zur Genüge bekannt. Es gibt aber Episoden, die verschleiert oder ganz einfach aus der offiziellen Geschichte ausgelassen werden. So gab es zum Beispiel bei den ins Jugenddorf Ben Schemen verpflanzten Werkleute-Gruppen neben fleißigem Buber-Studium auch, wie schon oben angesprochen, eine ausgesprochene Abwendung vom Bubertum, einen Bibel-Überdruß, der bis zur Verspottung und Parodie führte.21 Dazu lassen sich ebenfalls gewisse Parallelen in der Entwicklung im Kibbuz Hasorea aufzeigen. Zwei Jahre lang, 1937 bis 1939, gab es in Ben Schemen auch eine deutsche Schülerzeitung, die Volksstimme, später von der Schulleitung untersagt weil deutschsprachig.22 Hier betrieben ehemalige Werkleute deutsche, mit Hebraismen durchsetzte Satire. Ein zweites deutsches Journal, eher philosophisch-politisch, nämlich den Abraxas, bewerkstelligten sie auch.23 Es sind bleibende Zeugnisse deutschjüdischer Dualität. Ab 1939 gab es gerade unter den nunmehr 18-19jährigen Werkleuten, die sich bereits auf dem Weg zum Kibbuz Arzi befanden, eine vorübergehende Hinwendung zum Kommunismus, die keineswegs nur auf die Ben Schemener Gruppen beschränkt war. Auf diesen Weg gerieten nun, und das ist bezeichnend, nicht nur ehemalige Mitglieder des DRPB und der Greifen, sowie diejenigen, die über den Haschomer Hazair dorthin gelangten - wobei nur die Hürde der Judenpolitik der Komintern zu nehmen war - , sondern auch Jungveteranen des Bubertums. Es war eine recht beträchtliche Anzahl, und das Phänomen verdient auch eine Spezialuntersuchung. Die Wurzeln zu diesem Schritt der neuen Genossen lagen eindeutig noch in der deutschen Vergangenheit; er steht aber nicht ganz ohne Beziehung zu der von Buber und dem Ben Schemener Schuldirektor Siegfried Lehmann betriebenen, jüdisch-arabischen Verständigungspolitik. Über Anti-Zionismus in Palästina hört keiner gerne, der dortige Komzomol, oder Brith Hanoar Hakomunisti, erfreut sich nun gerade nicht der Beliebtheit bei jüdischen Historikern. Und daher verdient die jüdische Note dieser Wendung herausgestrichen zu werden. Viele waren der ehrli-

21 22

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Zahlreiche Beispiele hierfür im Privatarchiv des Verfassers. Volkssstimme. Ben Schemener Neueste Nachrichten, Zehn Nummern, zunächst von Amon Toupix (Arnold Paucker) und Kurt Singer herausgegeben, sodann vorzüglich von Ricardo Ricardono (Richard Lewinsohn), der später sein ganzes Berufsleben in Ben Schemen als Lehrer/Madrich verbrachte. Ein vollständiges, 1940 gebundenes Exemplar der Volksstimme befindet sich im Privatarchiv des Verfassers. Das einzige andere vollständige Exemplar der Volksstimme ist im Besitz von Richard Lewinsohn, Rischon LeZion. Bei ihm auch das Redaktionsarchiv mit dem unveröffentlichten Material. Es befindet sich in seiner umfangreichen Dokumentationssammlung, die für eine zukünftige Geschichte Ben Schemens ausgewertet werden soll. Abraxas. Blätter für Freunde, herausgegeben von Günter Schwarz. Die beiden einzigen erhaltenen Exemplare befinden sich in den Archiven von Arnold Paucker und Richard Lewinsohn.

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chen Überzeugung, daß die Judenfrage nur zu lösen war, das jüdische Volk nur gerettet werden konnte, durch die Weltrevolution und die Solidarität mit den arbeitenden Massen. Von dieser Illusion wurden die Betreffenden schnell geheilt. Als sich die Shoah in ihrer ganzen Furchtbarkeit zu enthüllen begann, stießen die meisten wieder zum Zionismus - und dienten nach der Entlassung aus dem Britischen Militär, zu dem sie sich fast geschlossen nach dem Angriff auf die Sowjetunion freiwillig gemeldet hatten, oft auf vorbildliche Weise dem Staate Israel. Aber als Endetappe eines der Wege, den die jüdische Jugend aus Deutschland ging, muß auch diese Episode verzeichnet werden. Das aus den Kameraden hervorgegangene Schwarze Fähnlein wird zuweilen, ungeschickt und verzerrt, als politisch deutsch-national angesehen - und nicht selten ist ihm eine übertriebene Deutschtümelei angekreidet worden. Tatsächlich bietet sich auch hier ein vielseitiges Bild - man kann buchstäblich alles feststellen. 24 Die deutsche Jugendbewegung blieb das Ideal, und eine Methode der Stärkung des jüdischen Selbstbewußtseins war eben wiederum, den Nichtjuden den Beweis zu erbringen, daß man sich auf demselben Niveau der Kultur und Disziplin bewegte wie die besten der nunmehr verbotenen deutschen Jugendbünde. Bei den NS-Behörden galt das Schwarze Fähnlein als lebender Protest; der Betar etwa, streng jüdisch-national, war genehmer und durfte auch länger operieren als das früh seiner Kluft beraubte und verbotene Schwarze Fähnlein. Und wiederum hingen politische und jüdische Ausrichtungen von bewunderten Gruppenführern ab und waren regional sehr unterschiedlich. Der Frankengau zum Beispiel war sehr jüdisch orientiert, wie es überhaupt im Süddeutschen Raum zur Orthodoxie tendierende Elemente gab. In Breslau dagegen ging die Entfernung vom Judentum fast bis zur Propagierung des Austritts. Im Berliner Westen war man bürgerlich, im Berliner Osten proletarischer und ostjüdischer. Der mit Recht geschmähte Verband nationaldeutscher Juden hatte seine Anhänger, aber es lassen sich auch antifaschistische Zellen nachweisen, von Kommunisten gesteuert und mit Propagandamaterial versehen. Es gab viel "Kiplingtum", man trieb weiter Sport mit Speer und Ball, während anderer - Makkabi - Sport als bürgerlich verpönt war. Und man blieb zunächst weiter in Deutschland. 25 Aber gerade das Schwarze Fähnlein verdient einen Nachruf für die Kriegsjahre. Zögernd in Deutschland verblieben, oft erst in letzter Stunde emigriert, steuerten sie in den Armeen der Alliierten ihr Scherflein bei zum Sieg über das NS-Regime. Nicht nur im Geheimdienst, sondern besonders bei den hinter den

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25

Dem ehemaligen Bundesfuhrer des Schwarzen Fähnleins. Paul Yogi Mayer, verdankt der Verfasser viele frappierende Details über diesen Bund. Gespräche vom Juli 1994. Allgemein zum Schwarzen Fähnlein, siehe Carl J. Rheins: The Schwarzes Fähnlein, Jungenschaft, 1932-1934. In: Leo Baeck Institute Year Book XXIII (1978), S. 173-197.

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deutschen Linien kämpfenden Kommandos war das Schwarze Fähnlein stark vertreten. 26 In den Kriegserinnerungen dieser Freiwilligen lebt zuweilen das alte Boy Scout-Spiei wieder auf. Nur waren es nicht mehr die wilden Kriegsspiele auf großer Fahrt, jetzt war es blutiger Ernst im Kampf gegen das Land, das sie vertrieben hatte. Und zuweilen wurden sie gefaßt und hingerichtet. Überhaupt steht fest, daß die ehemaligen Mitglieder der jüdischen Jugendbewegung - in Palästina waren es diejenigen, die aus den zionistisch-sozialistischen Bünden stammten - geradezu in die Heere der antifaschistischen Allianz strömten, vorbildliche und hochmotivierte Soldaten wurden, die aus der Schulung der deutschen und jüdischen Jugendbewegung hervorgegangen waren. 27 Deutsches und jüdisches Bekenntnis! Jüdisches Selbstverständnis? Einige Hinweise auf die Ausrichtung der jüdischen Rechten in der Jugendbewegung kann man nicht unterlassen. "Die Rechte" nenne ich Vortrupp und Belar, ich bündele sie zusammen, obwohl der eine urdeutsch und der andere ultrazionistisch war - Gemeinsamkeiten gab es doch. Der Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden, geführt von Hans Joachim Schoeps, war stolz deutsch-national; der Betar, staatszionistisch, stolz jüdischnational. Allerdings hatte der Vortrupp, völlig unter der Fuchtel seines Führers, auch eine starke Note jüdisch-religiösen Bewußtseins, welches in manchen zionistischen und jüdisch-liberalen Bünden entweder völlig fehlte oder viel weniger ausgeprägt war. Nichts ist eben eindeutig! Der Vortrupp wäre ohne weiteres auf den Triumphwagen der "Nationalen Revolution" geklettert, hätten die Nationalsozialisten auf ihren Antisemitismus verzichtet 28 - der Betar gehörte zu den glühenden Bewunderern von Mussolini in dessen vorantisemitischer Phase. 29 Dies waren in meiner Sicht besorgniserregende Liebäugeleien mit dem Faschismus von Seiten kleiner, unrepräsentativer jüdischer Jugendgruppen, die viel schwerer wiegen als die so häufig verteufelten Verirrungen sogenannter Assimilanten. Wir haben bisher vornehmlich über die organisierte jüdische Jugend gesprochen, und einige Worte über das Erlebnis der Verfolgung, und die Reaktionen jüdischer Jugendlicher im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt, sind absolut notwendig. Mein Beitrag beruht eben in vielem auf eigenem Erleben und dem meiner Freunde, Mitschüler und Mitglieder verschiedener mir nahe26 27

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29

Siehe z. B. Stephen Dale: Spanglet or By Any Other Name. London: Eigenverlag 1993. Siehe ζ. Β. die fünf Aufsätze von John P. Fox, Yoav Gelber und Guy Stern im Leo Baeck Institute Year Book XXXV, XXXVI! und XL (1990, 1992 und 1995). Es gilt aber anzumerken, daß Schoeps später in Verbindung mit dem konservativen Widerstand stand. In der Nazi-Zeit lieferte der linke Haschomer Hazair dem Betar auch einige "Saalschlachten".

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stehender Jugendgruppen - und er befaßt sich vor allem mit bündischer und Großstadtjugend in der Zeit vor der "Kristallnacht". Als Zeitzeuge wie als Historiker ist man sich natürlich darüber im klaren, daß Selbstwahrnehmung und Selbstverständnis nicht auf einen Nenner zu bringen sind und schon allein regional und chronologisch unterschiedlich sein mußten. Ein einziger, isolierter jüdischer Schüler in einem Kleinstadtgymnasium etwa, dem man dort sofort nach der Machtübernahme Hitlers das Leben zur Hölle machte, erlebte den nationalsozialistischen Staatsantisemitismus viel schärfer und litt an ihm von der allerersten Stunde an. In der Anonymität der Großstädte, in der Solidarität der Jugendbünde, in der Geborgenheit jüdischer Schulen war man gewiß viel widerstandsfähiger. Selbstverständlich muß man alle Reaktionen und Einstellungen stets vor dem Hintergrund der sich ständig verstärkenden Entrechtung, Ausgrenzung und Brutalität sehen, die keinen Moment vergessen werden darf. Die Enormität des Geschehens wurde damals auch von sehr jungen Menschen durchaus gespürt. Schließlich wurden wir aus den Schulen entfernt, segregiert, von so manchen engen christlichen Freunden plötzlich gemieden, wenn nicht gar beleidigt oder angepöbelt; und eine Zukunft in Deutschland sahen die meisten von uns gewiß nicht mehr. Für manche Jugendliche war die Auswanderung sogar ein Weg, der wirtschaftlichen Misere des Elternhauses zu entrinnen. Der schwindende Status des Vaters wirkte auf viele von ihnen deprimierend. Aber man verzerrt die Geschichte, wenn man heute alles durch die Brille der "Endlösung" sieht und die Normalität jugendlicher Haltungen unterschätzt. Gerade deshalb habe ich mich bemüht, hier zu zeigen, daß es trotzdem auch in schwersten Zeiten in Deutschland Lebenswillen und Lebenslust, Leichtsinn und Humor gerade bei jüdischen Jungen und Mädchen geben konnte, die eben das Leben ganz anders sahen - und ganz anders nahmen - als die Älteren. 30 Die Selbstbehauptung jüdischer Jugend unter der NS-Diktatur konnte viele Formen annehmen. Neben einer gewissen Gleichgültigkeit und den vielen, die sich nur oberflächlich mit sich selbst befaßten, gab es jede Art der Reaktion: von der Trauer einiger weniger über das Ausgeschlossensein vom gepriesenen "Aufbruch der Nation" bis zu extremen Äußerungen jüdischer Überheblichkeit. Zum Beispiel entwickelten frühreife jüdische Schüler oft ein feineres Gespür als manche Erwachsene für die groteske Note des abscheulichen deutschen Faschismus und waren so gegen den ganzen Irrsinn von der "Nationalen Erhebung" gefeit. Über die vielen Varianten, die die Verulkung und Ironisierung unseres Feindes annehmen konnte, ist an anderer Stelle bereits berichtet 30

Über den erstaunlichen Lebenswillen und die Selbstbehauptung der jüdischen Kinder und Jugendlichen in Theresienstadt/Terezin unter schwersten Bedingungen berichten verschiedene Beiträge in: Theresienstadt in der Endlösung der Judenfrage. Hg. von Miroslav Kámy, Vojtech Blodig und Margita Kámá. Prag: Nadace Terezinská Iniciativa 1992.

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Jugend

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worden.31 Man sollte diese Form des jüdischen Selbsterhaltungstriebs nicht unterschätzen. Verspottung ist sehr dienlich als Entladung des Gefühls von erlittenem Unrecht. Es gab unter uns auch ein ausgesprochenes Überlegenheitsgefuhl über die braunen Kohorten, sei es ein antifaschistisches, ein intellektuellironisches oder ein religiös-ethisches. Diese Stärkung jüdischen Selbstbewußtseins in der Zeit der Entrechtung darf man keineswegs ignorieren. Es war eine Form jüdischen Aushaltens, eine Auflehnung und ein Trotzen. Da wurden jüdische Reaktionen geboren, die manche später in ernstere und riskantere Aktionen gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat verstricken sollten. Spricht man über das Selbstverständnis jüdischer Jugend im Dritten Reich, so ist auch nicht zu vergessen, daß man sich nicht selten über die ideologischen Verrenkungen und politischen Entgleisungen der Vätergeneration hoch erhaben dünkte, vor allem, wenn man sie - zumeist zu Unrecht - verdächtigte, sich bei den braunen Machthabem einschmeicheln zu wollen. Dies lag natürlich auf der Linie des Generationenkonfliktes und galt auch nur für einen Teil der Jugend. Ein Beispiel, das mir selbst in reger Erinnerung ist: Als der greise Reichspräsident von Hindenburg im Sommer 1934 in die ewigen Jagdgründe einging, schwelgte die gesamte jüdische Presse in einer einzigen Trauerhymne. Man saß buchstäblich in Sack und Asche, wetteiferte geradezu miteinander, und die zionistischen Blätter standen keineswegs zurück. Der Schild, das Organ des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF), entblödete sich nicht davon zu sprechen, daß Deutschlands erster Soldat zur Großen Armee einberufen worden sei. 32 Wir Jugendlichen hingegen amüsierten uns damals köstlichst über das ganze patriotische Hindenburg-Theater. Verständnis dafür, daß sich die jüdische Gemeinschaft beim Hinscheiden des nicht-nationalsozialistischen Staatsoberhauptes in einer diplomatischen Klemme befand, hatte kaum einer von uns. Eine Verantwortung für die ständig gefährdete Gemeinschaft trugen wir nicht. Viele huldigten bereits einem neuen Nationalismus (in der zionistischen Jugend pflegte man beim RjF von "völlig vernagelten Frontsoldaten" zu sprechen), andere verstanden sich als Antifaschisten, wieder andere waren einfach nur jung und geißelten die Torheiten der vaterländisch gesinnten jüdischen Spießer. Auch all das gehört zum Komplex einer jung-jüdischen Selbstwahrnehmung.

31

32

Amold Paucker: Anmerkungen zum Verhalten jüdischer Jugendlicher unter der NS-Diktatur. In: Ausstellungszeitung Juden im Widerstand, Berlin 1993. Geniale Parodien von Hitler und Goebbels wurden in meiner Berliner Schule zur allgemeinen Erheiterung geboten. Ähnliches wurde auch Barbara Suchy, der Historikerin des Düsseldorfer Judentums, von Zeitzeugen berichtet. Trude Maurer: Variations on the Theme Einigkeit und Recht und Freiheit. Jewish Obituaries of German Heads of State 1888-1925-1934. In: Leo Baeck Institute Year Book XXXV (1990), S. 175-180, liefert weitere Stilblüten.

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Ich mußte hier ganz kursorisch verfahren und eine Auslese treffen - meiner zahlreichen Unterlassungssünden bin ich mir durchaus bewußt. "Muskeljudentum" und sportliche Ertüchtigung der turnenden jüdischen Jugend, oft als kräftigende jüdische Selbstwehr angesehen, habe ich ausgeklammert.33 Die meisten jüdischen Jugendbewegungen konnte ich schon aus Zeitmangel nicht erwähnen; so zum Beispiel die größte, den nichtzionistischen Ring. Bund Deutsch-Jüdischer Jugend, anhand dessen sich ein Kaleidoskop jüdischer Selbstbewertung entwerfen ließe. 34 Über die religiösen Jugendorganisationen bin ich nicht befugt zu referieren. Jeder, der sich mit Torah we' Awodah, Esra, Zeiri Misrachfl5 und anderen gesetzestreuen Jugendbünden befaßt, kann nur zu dem Schluß kommen, daß dort das jüdische Bewußtsein unproblematischer gewesen sein mußte und ihr religiöses Judentum sie in den Zeiten der Not eindeutiger stärkte. Wir anderen hatten eben zuviele Seelen in der Brust. Die zionistischen Jugendbünde habe ich vielleicht besonders vernachlässigt, aber das ist nicht absichtlich geschehen. Der nationaljüdische Blau-Weiß36, der fast nationaljüdische Kadimah37, der Habonim, die kleine Borochow-Jugend38, verdienen alle eigene Abhandlungen. Wie ein Kadimah-Führer mir kürzlich in Erinnerung rief: "Wir beschäftigten uns mit buchstäblich allem, von Kant bis Kropotkin, von Buber bis Birobidjan." Dies belegt gut die Mannigfaltigkeit jüdischer Selbsteinschätzung. Das zionistische und marxistische Selbstverständnis des Haschomer Hazair hat Jehuda Reinharz herausgearbeitet.39 Auch

33

34

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39

Siehe insbesondere Paul Yogi Mayer: Equality - Egality. Jews and Sport in Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book XXV (1980), S. 221-241. Henry J. Kellermann: From Imperial Germany to National-Socialist Germany. Recollections of a German-Jewish Youth Leader. In: Leo Baeck Institute Year Book XXXIX (1994), S. 305-330. Der Verfasser hatte zwischen 1988 und 1990 eine freundschaftliche Auseinandersetzung mit Dr. Kellermann, dem Bundesfuhrer des Rings, über die Beteiligung von Mitgliedern des Bundes am deutschen Widerstand, die von ihm stark angezweifelt wird. Die Historiker des jüdischen Widerstandes schätzen diese hingegen als sehr hoch ein stärker als in irgendeinem anderen jüdischen Jugendbund. Joseph Walk: The Torah va'Avodah Movement in Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book VI (1961), S. 236-256, bleibt weiter wichtig für jede Betrachtung der religiösen zionistischen Jugend. Helmut Hirsch: Quellenkundliches und Autobiographisches zum jüdischen Wanderbund Blau-Weiß in Elberfeld. Aus eigenen Erinnerungen und Beziehungen. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, Nr. 95, S. 145-176, liefert ein äußerst aufschlußreiches und intimes Bild für diesem Bund. Gespräch mit einem ehemaligen Gruppenführer des Kadimah, Juli 1994. Über die Borochow-Jugend im Widerstand siehe Israel Getzler: Der Antistürmer: Kampfblatt gegen Antisemitismus und Rassenhaß. In: Jüdischer Almanach 1994 des Leo Baeck Instituts. Hg. von Jakob Hessing. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1993, S. 44-48. Jehuda Reinharz: Haschomer Hazair in Germany (1.) 1928-1933. In: Leo Baeck Institute Year Book XXXI (1986), S. 173-208; (II.) Under the Shadow of the Swastika, 19331938". In: ebd., XXXII (1987), S. 183-229.

Zum Selbstverständnis

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Jugend

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gebührt der Selbsteinschätzung und Problematik des jüdischen Mädchens unter der nationalsozialistischen Diktatur ganz gewiß eine besondere Studie. Um es noch einmal zu betonen: ich wollte dort etwas beitragen, wo meine eigene Erfahrung ein wenig helfen kann, gewisse Lücken zu schließen. Nach den Novemberpogromen gab es keine Jugendbewegung mehr, aber trotz der Verbote setzten sich viele Kontakte auf andere Weise fort. Und so kehre ich am Ende zu den Jugendlichen zurück, die in den Kriegsjahren unter dem Nationalsozialismus im Untergrund oder im Widerstand ihr Leben fristeten und verschiedene Formen des Widerstehens gegen ihre Verfolger übten. Die Parole des zionistischen Chug Chaluzi als militante Antwort auf die Deportationen, "Nicht mitgehen, sondern weggehen!", war die letzte und mutige Konsequenz eines Bekenntnisses zum jüdischen Volk. Man war kein Deutscher mehr - und wie man uns in der zionistischen Jugendbewegung linkerer Schattierung ja schon immer eingebleut hatte: bei aller Sympathie für den antifaschistischen Kampf der deutschen Arbeiterklasse, es war nicht mehr unser Widerstand, wir gehörten nicht mehr dazu. Unsere Aufgabe war es, auszuwandern und ein sozialistisches Erez Israel zu schaffen. Und in der Mitte des Krieges bedeutete dies überleben, untertauchen. Die Aussagen der Jugendlichen, die es geschafft hatten, sind da ganz eindeutig. Hitler hatte geschworen, das jüdische Volk zu vernichten. Jeder, der sich dem aktiv widersetzte, half mit, diesen Plan zu vereiteln - jeder Jugendliche, der der befohlenen Ermordung entkam, hatte jüdischen Widerstand geübt. "Mit jedem Leben, das wir retten, bekämpfen wir Hitler!".40 Illusionen über eine deutsche Arbeiterklasse, die sich schließlich gegen Hitler erheben würde, teilten sie nicht. Aber sie sind sich stets darüber im klaren gewesen: wenn nicht jedem von ihnen etwa zehn Deutsche zur Seite gestanden hätten, so wären sie ihrem Schicksal nicht entronnen. Den antifaschistischen Kampf bis zum Ende zu fuhren war eine andere, letzte und mutige Konsequenz junger jüdischer Sozialisten und Kommunisten. Ohne Zweifel waren sie in einer Utopie befangen, wenn sie bis zum bitteren Ende an die antifaschistische Volkserhebung glaubten - aber die Verbrüderung mit dem Proletariat war eine ehrenvolle und altehrwürdige jüdische Tradition. Der These, daß man seinem Judentum hierdurch völlig verloren ging, vermag ich nicht beizupflichten. Die Selbsteinschätzung dieser Jugendlichen war ohnehin recht differenziert und obendrein nicht allein ausschlaggebend. Die Option fur die Arbeiterbewegung, also die Solidarität mit den Unterdrückten, entsprang auch jüdischen Motiven - und selbst bei eingefleischten Atheisten begegnet man einem starken jüdischen Unterbewußtsein. Jeder von uns, der das Leben dieser Jugendlichen in den Kriegsjahren studiert hat und die hinter40

Zahn, Nicht mitgehen, sondern weggehen! (wie Anm. 6), S. 184, 202.

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Arnold Paucker

lassenen Zeugnisse kennt, weiß, daß sie ihrem jüdischen Schicksal weder entrinnen konnten noch wollten. Daß sie die Beseitigung der nationalsozialistischen Diktatur als ihre Hauptaufgabe ansahen und daß sie bis zur letzten Stunde an diesem gemeinsamen Freiheitskampf von Deutschen und Juden hingen, unterliegt keinem Zweifel. Daß ihre Aktivität aber auch jüdische Ziele und Beweggründe hatte - oft untergeordnet - , ist ebenfalls belegt. Die nationalsozialistische "Lustgarten-Ausstellung" über das Sowjetparadies im Jahre 1942 hatte auch eine eindeutig antisemitische Propagandalinie. Die Baum-Gruppe versuchte vergeblich, sie zu sabotieren, und wurde dabei gefaßt.41 Es ist uns durch politische Gefangene in Berlin-Plötzensee überliefert, daß die Jungen und Mädchen des jüdischen Widerstands vor ihrer Hinrichtung gesungen haben. Angesichts des Todes sangen sie die Lieder der deutschen Arbeiterbewegung und die Lieder des jüdischen Volkes.42 Soviel zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in den Tagen des Untergangs des deutschen Judentums.

41 42

Zur Literatur Uber die Baum-Gruppen siehe Anm. 4. Mitteilungen ehemaliger in Plötzensee inhaftierter Sozialdemokraten und Kommunisten an Helmut Eschwege und den Verfasser, Berlin 1963/1965.

Werner E. Mosse

Jüdische Selbstwahrnehmung Zum Selbstverständnis des deutsch-jüdischen Großbürgertums

I. In seinem Referat "On the Social Psychology o f the Jews im Germany: 19001933"' charakterisiert Gershom Scholem unter anderm eine soziale Kategorie, die er als 'wealthy Jews' - reiche Juden -bezeichnet. Er definiert ihre Stellung z u m Judentum folgendermaßen: The transitional stage [...] was constituted by the wealthy Jews: for surely there existed a profound difference between the upper class and the great mass of German Jews. Above all, this elite was extremely conspicuous [...] with only few exceptions, they were completely assimilated, a considerable number of them were already on their way to baptism and, in any case, their Jewish ties were reduced to a minimum [...]. They got their uplift from social ostentation and ambition, a distinct striving for social intercourse with non-Jewish members of the upper class, non-Jewish culture bearers and intellectuals [...] they saw to it that their children received a good patriotic education [...]. Später allerdings relativiert Scholem diese Verallgemeinerungen: A small number of orthodox religious families, perhaps twenty or thirty in all, who according to their financial status would have belonged to this class, and a similar number of families who, though having no strong religious ties, nevertheless adopted a demonstrative Jewish stance, would not take part in the social antics of this group and continued educating their children for an active participation in Jewish life. The remainder [...] deliberately ignored all this. Except for some philanthropic activities, they generally refrained from taking a direct stand in Jewish affairs, unless it was a matter of staging protest actions against Zionism, when suddenly they came very much to the forefront. Ehe ich m i c h mit Scholems Analyse im einzelnen auseinandersetze zunächst eine einfuhrende B e m e r k u n g : Scholem beziffert die Zahl der Ausnahmen von seinen Verallgemeinerungen - notwendig willkürlich - auf etwa 50 Familien. Wenigstens eine Schätzung für die Gesamtzahl der Familien in seiner Kategorie 'reiche Juden' hat er nicht anzubieten. Setzt man deren Untergrenze am

In: Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis. Ed. by David Bronsen. Heidelberg: Winter 1979 (Reihe Siegen, 9), S. 14ff.

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Werner E. Mosse

Vorabend des Ersten Weltkrieges bei einem Vermögen von ca. 5 Millionen Mark an, so gehörten in diese Kategorie 98 Familien.2 Demnach träfe zunächst einmal Scholems Beschreibung nur auf etwa die Hälfte seiner 'reichen Juden' zu. Allerdings sieht auch Scholem, wenn auch nur dunkel, die Existenz eines Kontinuums von Selbsteinschätzungen und Verhaltensweisen, jedoch ohne jegliche Nuancierung. Wie stand es nun wirklich mit den 'reichen Juden', der jüdischen Großbourgeoisie und ihrer Stellung zum und im Judentum?

II. Es ist nicht möglich, die Frage hier ausfuhrlich zu behandeln. Unter anderm muß das wichtige Generationenproblem mit seinen biologischen, chronologischen und geschäftlichen Aspekten und seinem Einfluß auf die Identitätsbestimmung ausgeklammert werden. Daraus folgen notwendig unvermeidliche Verallgemeinerungen. Auf alle feineren Nuancen muß verzichtet werden. Was sich bieten läßt, sind ein verallgemeinernder Überblick, einige willkürliche, jedoch aufschlußreiche Einzelaussagen und schließlich einige kurze Schlußbemerkungen.

III. Das Grundthema, das auch schon bei Scholem im Vordergrund steht ist das Problem des Identitätswechsels, des Übergangs von jüdischer zu vorwiegend nichtjüdischer Selbstbestimmung, des Identitätswechsels als Möglichkeit und als Versuchung. Zumindest potentiell boten sich 'reichen Juden' größere Möglichkeiten zur Aufgabe ihrer jüdischen Identität als denjenigen anderer Gesellschaftsschichten mit Ausnahme vielleicht von Intellektuellen und Künstlern. Wirtschaftlicher Erfolg und Reichtum kompensierten, mindestens teilweise, das unvermeidliche 'Manko' des Judentums in den Augen von Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung. So war Konnubium mit Nichtjuden, wenn auch bei sozialem 'Gefalle', für reiche jüdische Männer möglich, für Mädchen, nicht immer aus romantischen Gründen, auch bei gesellschaftlichem Aufstieg. Auch waren durch Reichtum und wirtschaftlichen Einfluß periphere Kontakte zu Mitgliedern der 'guten Gesellschaft' erreichbar. Aus Nützlichkeitsgründen hofierten manche öffentliche Persönlichkeiten, angefangen bei Kaisern und Ministern, vereinzelt reiche jüdische Notabein. Dasselbe taten übrigens auch bescheidenere Mitglieder von jüdischen Gemeinden. Schließlich erleichterte Reichtum 2

Werner E. Mosse: Jews in the German Economy 1820-1935. Oxford: Clarendon Press 1987, S. 216.

Zum Selbstverständnis des deutsch-jüdischen

Großbürgertums

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Zugang zu 'guten' Schulen und somit Bildung wie auch, allerdings beschränkt, gesellschaftlichen Verbindungen. Die Versuchung in Richtung auf Identitätswechsel war verschiedener Art. Dem neuen oder relativ neuen Reichtum folgte häufig ein (verständliches) Bedürfnis nach gesellschaftlicher Legitimierung. Diese war durch Zugang zu 'höheren' nichtjüdischen Gesellschaftskreisen erreichbar. Hinzu kam bei manchen - man denke etwa an Walther Rathenau - eine Form von charakteristischem jüdischem 'Selbsthaß'. Man wäre so gern den 'alten Juden' losgeworden. Auch meinten manche durch größtmögliche Aufgabe der jüdischen Identität Unannehmlichkeiten besonders in Hinblick auf wachsenden Antisemitismus zu vermeiden. Eine häufige 'Rechtfertigung' war die vermeintliche Verbesserung der 'Lebenschancen' der Kinder. Vereinzelt erschien Identitätswechsel auch als Höhepunkt von Akkulturation und bürgerlicher Integration. Die relativ seltene Versuchung zum 'Glaubenswechsel' allerdings war gewöhnlich weniger von religiöser Überzeugung als von dem Wunsch nach Karrieren im Staatsdienst getragen. Die Gründe für angestrebten 'Identitätswechsel' waren je nach 'gender' graduell verschieden, wobei die Versuchung fiir Frauen - insbesondere für unverheiratete Töchter - wohl die größere war. Männlichen Großbürgern - selbst bei gesellschaftlichen Ambitionen - bot sich eine Ersatzbefriedigung in Gestalt von wirtschaftlichem Erfolg und Einfluß. Für Töchter und Ehefrauen bestand dieser 'Ersatz' nur in geringem Maße. Gleichzeitig erfreuten sich Mädchen bekanntlich besserer Chancen zu 'prestigeträchtigen', d.h. adligen Beamten- oder Militärheiraten. Auch steuerten häufig Mütter ihre Töchter in diese Richtung. Auf Söhne hingegen bestand der Druck, wenn auch häufig unenthusiastisch, in das väterliche Geschäft einzutreten, was die Chance von Prestigeehen eher verminderte. Auch lag Frauen jedenfalls ein Identitätswechsel näher, da sie ja auf jeden Fall bei der Ehe Namen und gewissermaßen auch Familie verloren. Der sogenannte 'Glaubenswechsel' blieb immer problematisch. Das schlechte Gewissen gegenüber Vor- wie 'Nach'fahren (d.h. den getauften Kindern) geht aus manchen Rechtfertigungen hervor. Aus Versuchung einerseits, aus inneren Hemmungen andererseits entstand ein Spektrum von 'Selbsteinschätzungen' - auf gut deutsch Einstellungen zum Judentum - von positiver Bejahung bis zu größtmöglicher Negierung aller jüdischen Bindungen. Auch änderte sich die 'Selbsteinschätzung' nicht selten mit den Jahren. Ein kurzer Überblick über die häufigeren Formen: bewußtes Judentum bei orthodoxer oder liberal-konservativer Orientierung; Zugehörigkeit zu liberalen Synagogenverbänden; aggressiv-defensiv jüdischer Aktivismus, etwa im sogenannten Kartell-Convent; Jüdisch-nationale Strömungen; Indifferentismus; Täuflinge, eingebunden in eine 'MarannengesellschafV (etwa die Nachkommen Moses Mendelssohns). So war die 'Einstellungspalette' wesentlich breiter und auch nuancierter als Scholems einseitig-polemische Be-

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Werner E. Mosse

Schreibung. Alle Varianten enthielten, wenn auch in sehr unterschiedlichem Grade, Elemente jüdischen Identitätsbewußtseins. Unter den Gradmessern jüdischer Identität unter 'reichen Juden' seien etwa gesellschaftlicher Verkehr und Zugehörigkeit zu informellen networks, Heiratsstrategien, Mäzenat und Stiftungen (jüdisch, paritätisch, vereinzelt christlich) sowie Rolle als Notabein in jüdischen Gemeinden genannt. (Noch in den dreißiger Jahren bot man dem Hamburger jüdischen Bankier Max Warburg den Vorsitz in der neugegründeten Reichsvertretung der Deutschen Juden an, deren Vorsitz nach seiner Ablehnung Rabbiner Leo Baeck übernahm.)

IV. Nun einige Einzelzeugnisse in zwangloser Reihenfolge: Hermann Wallich (Bankdirektor) Ich war zu der Erkenntnis gekommen, daß das Judentum sich Uberlebt, daß die Sucht nach materiellen Gütern längst die religiösen Ideen untergraben, daß es demnach töricht wäre, Märtyrer einer Sache zu sein, für die man nicht mehr das volle Gefühl hatte [...]. Wenn ich auch persönlich, aus Achtung vor dem Andenken meiner Vorfahren an einen Glaubenswechsel nicht denken konnte, so hatte ich doch kein Recht, Kinder ohne Glauben in die Welt zu setzen. Statt schlechte Gläubige des Judentums wollte ich aus meinen Kindern gute Christen machen [...]. Nicht äußerer Vorteil hat mich zu diesem Schritt geleitet, sondern der Gedanke, meinen Kindern eine wirkliche Religion zu geben, sie von der Ausnahmestellung zu befreien und sie aufgehen zu lassen in der Allgemeinheit des Landes,

in dem sie geboren waren. 3

Hermann

Wallich

Es blieb nur der Wunsch beider Eltern, die Kinder gut zu erziehen, um sie zu brauchbaren und nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Durchdrungen von diesem Gefühl ließen wir unsere Kinder taufen und in der christlichen Religion erziehen, und es wird hoffentlich der Erfolg zeigen, daß wir das Richtige getroffen haben. 4

Georg Tietz (Warenhausbesitzer) Ich begriff schon damals, daß ich in religiös-ethischem Sinne Jude bin [...], daß ich in politischer und kultureller Beziehung aber Deutscher war, wobei es kein protestantisches, katholisches oder jüdisches Deutschtum geben konnte. Mit ande-

ren Worten, man habe dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was

3 4

Yearbook of the Leo Baeck Institute, Vol. XXXIII (1988), S. 133f. Ebd., S. 132.

Zum Selbstverständnis des deutsch-jüdischen

Großbürgertums

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Gottes ist. So meinte ich es wenigstens damals und betete, niemals vor die Frage, ob ich Deutscher oder Jude sein wolle, gestellt zu werden.5 Adolf Salomonsohn

(Bankdirektor)

Vaters Einstellung zum Judentum war sehr einfach und klar. Er pflegte seinem Sohn zu sagen: "Das Judentum hat der Welt bereits den Monotheismus gegeben, es wird die Welt auch die Toleranz lehren. Die sich daraus fur jeden kultivierten Juden ergebende Belastung seines Lebens ist eine gute Schule für das Vorwärtskommen." So war für Kindheit und Jugend den Kindern der Gedanke eines Glaubenswechsels völlig ausgeschlossen. Die Kampfzeit mußte überstanden werden. [...] Trotz dieses Festhaltens an dem Überkommenen waren beide Eltern nichts weniger als orthodox und besonders hellhörig und hellsichtig fiir alle Fehler der Juden. Als der Sohn nach längerem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten heimkehrte, erzählte er Vater von dem amerikanischen Antisemitismus und bezeichnete ihn als Beweis der Unverdaubarkeit des Judentums durch die sonst alle einwandernden Nationen amalgamierende amerikanische Volksmühle. Er ziehe aus dieser Beobachtung den Schluß, daß es für den Juden nur die Wahl zwischen Zionismus und völligem Aufgehen in seinem Vaterlande mit allen Konsequenzen der Glaubens- und Namensänderung gebe. Er fragte, was der Vater sagen würde, wenn er selbst die letztere Konsequenz ziehe. Vaters Antwort lautete, er habe gegen ein völliges Untergehen im Deutschtum, das sich auch äußerlich dokumentiere, nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß es nicht aus Feigheit geschehe. Der Sohn erwiderte, daß er dafür sorgen werde, daß dieser Verdacht nie entstehen könne. Dementsprechend hat der Sohn den Namens- und Glaubenswechsel erst vollzogen, nachdem er das die Ergebnisse seiner amerikanischen Studien zusammenfassende, seinen Eltern gewidmete Werk [...] unter dem Namen Salomonsohn publiziert hatte.6 Baron Moritz Cohn (Bankier) "Der glaube meiner Väter wäre mir nicht feil fiir alle meine Ehren", so hat er sich einmal unumwunden und bezeichnend genug für die Treue seiner Gesinnung ausgespochen.7 Rudolf Mosse (Verleger) Als ich Sie, hochverehrter Herr Mosse, beim Jubiläumsbankett des Vereins "Berliner Presse" auf Ihre Frische hin ansprach und sie auf die rastlose Kulturarbeit ihres Lebens zurückführte, die Sie jung erhalten hat, da entgegneten Sie mir: "Die tiefste Quelle meiner Freude am Leben und meiner Erfolge ist der liebe Gott. " Das klang so schlicht und echt, wie Ihr Bild vom ersten Tage an vor mir stand.8

5 6

7

Yearbook of the Leo Baeck Institute, Vol. XXXIV ( 1989), p. 143. Gedenkblatt fiir Adolf und Sara Salomonsohn zum 19. März 1931 von Georg Solmssen, S. 20ff. From funeral oration by Rabbi Dr.Freudenthal 5. Mai 1900. Ref.AR-C.386 1121 II (?LBI N.Y.).

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Theodor Kappstein, theologian and journalist in: RM 8 Mai 1913 (70th birthday), S. 44.

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Werner E. Mosse

Benjamin Hirsch (Industrieller) Vogelstein ist kein Hirsch. Er wird von mir, wie er und Ihr wißt, in Tüchtigkeit und als Mann geschätzt: Aber eben 'kein Hirsch' und seit unberufen 1837 [...] waren nur Hirsche Inhaber. - Aber dann ist L.V. schließlich der Sohn des Reformrabbiners Heinemann Vogelstein in Stettin, des Hauptkämpfers für die Reform der Orthodoxie. Nein und abermals Nein! Mit ihm würde die Reform der alten Tradition von AH & S. in vielem beginnen. Wo würde sie 'Gott soll hüten' enden?9 Jakob Riesser (Bankier) Wenn man sich die Gesellschaft ansieht, die sonach "unter sich" bleiben will, so wird man den Juden nur raten können, sich darüber zu freuen, daß sie ausgeschlossen sind, den Juden, die neben recht vielen abstoßenden und äußerlich und innerlich widerlichen Elementen, eine Fülle von ethisch und geistig hochstehenden Elementen enthalten, von denen man nur lernen kann. Der alte Reichsgerichtspräsident von Simson hat mir einmal erzählt [...], daß der nachmalige Kaiser Friedrich ihm als Kronprinz gesagt habe: "Die vornehmsten Charaktere, die ich in meinem Leben kennen gelernt habe, sind Juden gewesen. " [...] Sie sollten sich, wo man sie nicht will, ruhig und stolz auf sich selbst zurückziehen und suchen, ihrerseits eine auserlesene Gesellschaft zu werden, dann werden sie nicht allzuviel verlieren und einmal wird man doch noch zu ihnen kommen müssen. 10

V. Wie auch immer ihre Selbsteinschätzung, so konnte jedenfalls bei der überwiegenden Mehrheit von 'reichen Juden' von Identitätswechsel nicht die Rede sein. Auch für solche mit stark gelockerten jüdischen Bindungen blieb immer 'ein Rest zu tragen peinlich'. Alle waren sich ihrer Ursprünge wohl bewußt. Die wenigsten - obwohl man es konnte - waren bereit, den alten, gewöhnlich als jüdisch erkennbaren Familiennamen - sei es aus Pietäts- sei es aus Geschäftsgründen - abzulegen. Viele waren zu stolz zur 'Apostasie' und hielten sie, soweit materielle Interessen ins Spiel kamen, für würdelos. Auf Grund jahrhundertelanger Erfahrung fand das Christentum allgemeine Ablehnung. In den Augen der Umwelt - auch der eher neutralen oder selbst wohlgesinnten blieb 'der Jude' überdies immer Jude. Man schätzte auch nicht selten den 'treuen' Juden höher als den 'Renegaten'. Hinzu kam bei allen Juden angesichts weitverbreiteter Verunglimpfungen das Gefühl einer vielleicht defensiven oder auch eher passiven jüdischen Solidarität. Schließlich kamen manche Juden dem gängigen antisemitischen Stereotyp doch bedenklich nahe, fur die Umwelt durchaus erkennbar. Wie von Bruno Walter erzählt wird, soll er einer 9 10

Year Book of the Leo Baeck Institute, Vol. XXXV (1990), S. 141. An seinen Sohn Hans, Wildbad 12.8.1922, Staatsarchiv Koblenz, Kleine Erwerbungen Nr 549, Bd 2.

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alten Tante nach der Taufe beteuert haben, er habe sich "[...] innerlich natürlich in keiner Weise geändert", worauf die Tante schlagfertig erwiderte: "[...] na und äußerlich?" Tatsächlich gelingen konnte ein Identitätswechsel nur in den allerseltensten Fällen.

Karin Hofmeester

'Between class and nation' Jewish workers in Amsterdam, London and Paris, 1880-1914

During the last quarter of the nineteenth century a considerable number of Jewish workers in Europe and the United States got organised in workers' organisations. For many of these Jewish workers the main motivation to join the labour movement was the improvement of working and living conditions. The labour movement however turned out to be an emancipatory movement that stimulated Jewish workers to integrate into society and, as it did so, it changed more than just the working conditions. Before these changes took place, religion, religious laws, customs and traditions had determined the daily life and identity of the Jewish workers. As Jewish workers tried to get more integrated, religion and tradition became less important. In some cases the ideology of the labour movement could even take over the role that Jewish religion had always played. As a result of that, joining the labour movement could change the selfimage of the Jewish workers. Whereas traditionally being Jewish had determined the identity of the Jewish worker, now, being a worker seemed to determine his identity. In this article the Jewish workers in Amsterdam, London and Paris are chosen as an example to show the consequences that joining the labour movement could have for the self-image of the Jewish workers.

At work Most Jewish workers in London and Paris were immigrants from Eastern Europe. Among the native Jewish communities of both these cities there were hardly any workers. The East European Jews had fled their fatherland to escape pogroms and repression, and most of them chose the United States as their destination, but some landed up in West European cities. About 120.000 Jewish immigrants came to London in the period leading up to 1914, and about 35.000 had arrived in Paris before the outbreak of the first World War. Most of them found work in the clothing, footwear and furniture industry.1 For more statistics see: Lloyd P. Gartner: Notes on the statistics of Jewish immigration to England 1870-1914. In: Jewish Social Studies XXII (April 1960), p. 97-102, here

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Karin

Hofmeester

In both London and Paris the Jewish immigrants, who mostly could speak no other language than Yiddish, lived together in one or more of the older quarters of the city and often also worked together. Very often an immigrant would set up his own workshop by installing a number of machines, usually in a cellar or attic. The owner of the workshop would then function as a middleman: he contracted the work from a larger firm, a warehouse for instance, and distributed it amongst his workers. In this system, usually called 'sweating system', both the middleman and the ultimate customer had to make a profit from the work, which meant extremely low wages for the labourers. Wages were paid by the piece and to earn some money the workers had to make long working days. The situation of the Jewish workers in Amsterdam was in many respects different. Amsterdam was the only West European town with a substantial native Jewish working-class. The Jewish workers referred to here were all descendants of families that had lived in Holland for centuries. In Amsterdam there were about 65.000 Jews in 1914, of which about 40 % worked in trade and 30 % to 40 % in the diamond industry. About 10 % worked in other branches of industry, mainly food and clothing. 2 Only a small part worked as civil servant or in a liberal profession. The diamond industry had traditionally been a Jewish trade but during a short period of enormous prosperity in the industry in the early seventies of the nineteenth century also many Gentile diamondworkers entered the industry. They were mostly found in the polishing trade, and within that section they mostly polished the smallest stones. Tradition and family protection gave the Jewish diamondworkers the power to keep the Gentile newcomers in the lowest crafts. Tradition also determined that the Jewish workers got fixed wages, whereas the Gentile workers got piece wages. Although there were mixed polishing factories, most of the Jewish workers worked in Jewish factories, owned by Jewish businessmen. These factories were closed on Saturday, and open on Sundays. Most of the gentile workers worked in gentile factories, where the situation was precisely the reverse. Traditions such as passing on the best stones to each other and paying weekly wages instead of piece rates, meant that Jewish diamond workers were in a better position than the Gentile workers. That does not mean that working conditions in the diamond industry were good: here too, long working days p. 99 and Nancy L. Green: The Pletzl of Paris. Jewish immigrant workers in the Belle Epoque. New York: Holmes & Meier 1986, appendix A. - For more details on the occupational structure of the Jewish immigrants see: V. D. Lipman: Social History of the Jews in England. London: Watts 1954, p. 107 and Green, Pletzl of Paris (note 1), appendix D. For demographical statistics and details on the occupational structure see: E. Boekman: Demografie van de Joden in Nederland. Amsterdam 1936, p. 17 and J. H. van Zanten: Eenige demografische gegevens over de Joden te Amsterdam. In: Mensch en Maatschappij II (January 1926), p. 1-24, here p. 9.

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were the rule. Furthermore, since the diamond industry produced luxury goods, it was particularly sensitive to the economic fluctuations. Therefore there were often periods in which little money was made. Because of the large concentration of Jewish workers in the diamondindustry, hereafter the attention will be focused on the diamondworkers.

Getting organised In Amsterdam Jewish and Gentile diamond workers together organised the first modern trade union in Holland. In 1894 they formed the General Dutch Diamond Workers Union. The leader of this union, Henri Polak, not only initiated many economic and socio-cultural activities, but was also one of the founding members of the Social Democratic Labour Party, set up in the same year. Through this dual role and the fact that he was a role model for many diamondworkers, he managed to persuade a large part of the Jewish diamond workers in Amsterdam to either join or vote for the Social Democratic Labour Party. Before the founding of the Diamond Workers Union and the Social Democratic Labour Party a specifically Jewish socialist propaganda club had existed, which had made Jewish workers ready to accept the idea of joining the general labour movement. 3 In London and Paris Jewish workers set up their own political and trade organisations, sometimes as Jewish sections of general organisations. The motive for founding separate Jewish organisations was often a purely practical one: the question of language (because Jewish workers usually only spoke Yiddish), problems of adjustment and the specific working conditions of Jewish workers working for Jewish bosses under exceptionally bad conditions. These organisations did not want to present themselves as specifically Jewish, as is shown by the names they chose for themselves. The word 'International' occurs more frequently in these names than the word 'Jewish'. The term 'International' referred to the foreign origin of the members. In this way the Jewish descent of the members was not made explicit. The Jewish workers' organisations in London and Paris were often small, certainly when compared to the general workers' organisations in these cities, and often the organisations were short-lived. The leaders of the organisations more than once went on to America, and the members frequently changed their vocation or had to work so hard for their living that they had neither time nor money to organise. The workers who actually joined a workers' organisation and remained a member for a longer period,

This Jewish socialist propaganda club was called 'Het Centrum'. For more information see: Salvador Bloemgarten: De vlegeljaren van de Amsterdamse joodse socialisten: 1890-1894. In: Achtenzeventigste Jaarboek Genootschap Amstelodamum. Amsterdam 1986.

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were an exception. For these workers being organised, meant being introduced into a new realm of thought and this strongly influenced their self-image. The Jewish workers who joined a political or trade organisation in Amsterdam, London or Paris regarded themselves in the first place as part of the working class. This viewpoint fitted into the contemporary 'accepted' socialist views on international solidarity and the necessity for a class struggle that would ultimately end all conflicts based on national, ethnic and religious differences. The logical consequence of this position was the idea, widely held in socialist circles that an improvement of the living conditions of the Jewish workers could only take place if the entire working class could improve its lot.4 Comments supporting this idea were made in all three cities in Jewish socialist circles. Hence Aaron Lieberman stated at the founding meeting of the Hebrew Socialist Union in London in 1876: "because we Jews are part of humanity, we can only be liberated when all off humanity is liberated."5 More than fifteen years later one of the leaders of a Jewish workers' organisation in Paris stated the following: 'the Jewish question is part of the general social question, and can only be solved in a new social order'.6 In the Amsterdam branches of the Social Democratic Labour Party such opinions were also expressed, as we shall notice later on. The aim of the organised Jewish workers was to join the general labour movement and the general class struggle. As a result, their organisations were first and foremost assimilatory movements. According to themselves, Jewish members of the labour organisations were part of the working class, that much is clear, but did they also see themselves as part of the Jewish nation, and if so, what did that mean? Could both identities be combined? Let us first examine the situation in London and Paris.

Jews or workers? Jewish workers in London and Paris were immigrants from Eastern Europe, where religion and Jewish traditions still played a large role in daily life. To prepare these workers for joining the labour movement, many Jewish socialist leaders believed it necessary to make a rigorous break with the past. For that reason the leaders of the Jewish workers' organisations in London and Paris were often intensely antireligious. To emphasise this, large banquets and balls 4

5

6

See Robert S. Wistrich: Revolutionary Jews from Marx to Trotsky. London: Harrap 1976, p. 1-22. These minutes, "Pinkas Agudath ha Sozialistim ha' Iwrim" are included in an article from E. Tscherikower: Der onhoyb fun der yidisher sotzialistisher bawegung. In: Yivo Historishe Shriften. Ed. by E. Tscherikower. Warsaw 1929, Vol. I, p. 469-594, this particular quote can be found on page 542. David Gordon: Der Yidishe Arbayter Farayn. In: Arbayter Fraynd, 12 June 1891.

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were organised on Yom Kippur, the holi-day on which religious Jews are supposed to pray and to fast. Jewish Socialist leaders were also intensely opposed to the proto-Zionist Choveive-Zion movement, which had been set up in Russia after the pogroms of 1881. Young Russian Jewish intellectuals attempted to found colonies on what was then Turkish soil. These Palestine migrants were repeatedly attacked in the periodicals of the Jewish labour movement. This did not mean that the Jewish workers who were members of the labour movement, had stopped being Jewish and no longer felt themselves to be a part of the Jewish nation. The antireligious aspect did not find favour among many members, as was shown by the protests from workers against the banquets and balls or, for instance, from a letter sent by a Jewish worker to the Arbayter Fraynd (Workers' Friend), the periodical of a Jewish workers' organisation in London. The letter writer stated: "the Arbayter Fraynd writes badly about god, but the writing about the workers should be read by everyone and taken to heart."7 In other words, this worker disapproved of the antireligious element of the paper, but he accepted it because he was a warm supporter of the socialist ideals. He was not the only one who looked at it this way. The leaders had to accept that they could not drive their anti-religiousness to extremes. They also saw that they could use the Jewish tradition to explain their socialist position to their members. Hence in this same Arbayter Fraynd in an article opposing proto-Zionism, the supporters of Zionism were compared to the worshippers of the Golden Calf. According to the socialist leaders in both cases a false trail was being followed. 8 In the one case shortsighted nationalism prevented the Jews from finding the proper solution, the class struggle, in the other the Jews were kept from the true religion by worshipping an idol. Besides making use of this frame of reference based on Biblestories that was shared by most Jews, the close ties of the members and leaders of the Jewish workers' organisations to their Jewish background, opened up other possibilities. Repeated reference was made to the common tradition that made Jews in particular so well suited for joining the labour movement. In 1886 for example, a socialist leader in London used the argument of the 'natural internationalism' of the Jews. 9 Because of their being scattered over the world Jews were not considered to have ties to any particular country and were therefore especially receptive to the international nature of the socialist movement. One of the leaders of the Jewish socialist movement in Paris, too, tried to clarify his position in this way. He praised the determination, the will to survive and the 7

8 9

Arbayter Fraynd, 30 December 1887. For protest demonstrations against the Yom Kippur banquets, see: Arbayter Fraynd, 21 September 1888. Morris Winchevsky: Palestinimus un Sozialismus. In: Arbayter Fraynd, August 1886. Ibid.

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steadiness that had sustained the Jewish people for many centuries of exile. 10 Precisely these characteristics would make Jews good socialists. Until now, only the implicit sense of nationhood of the leaders and members of the Jewish workers' organisations in London and Paris has been discussed. When the Jewish workers were attacked, this feeling also came explicitly to the fore. What happened when the Jewish workers were attacked from within the group - the working class, the socialist movement - of which they considered themselves to be a part? In such cases, Jewish workers who first and foremost saw themselves as part of the working class, were confronted with the fact that they were in the first place regarded by their Gentile colleagues as Jews. In such cases the self-image of the Jewish workers clashed with the image that the Gentile workers had of them. What happened to this selfimage during these clashes?

Jews and workers There are several examples of situations in which Jewish workers, who considered themselves to be workers in the first place, were looked upon as Jews in the first place by their colleagues. In England the general trade union federation, the Trades Union Congress (TUC), asked Parliament in 1892, 1894 and again in 1895 to accept a law to restrict the number of immigrants coming into England. In the debate these immigrants were always referred to as indefinable 'Aliens', but the fact is that the immigrants that entered the country and aroused such emotions, were almost exclusively East European Jews. The Jewish workers reacted to this in 1895 in a pamphlet entitled The Voice of the Aliens. The opening sentence of this pamphlet was as follows: W e , the organised Jewish workers o f England, taking into consideration the AntiA l i e n Resolution, and the uncomplimentary remarks o f certain delegates about the Jewish workers specially, issue this leaflet, wherewith w e hope to c o n v i n c e our English f e l l o w workers o f the untruthfulness, unreasonableness, and want o f logic contained in the cry against the foreign worker in general, and against the Jewish worker in particular."

Karl Lieberman, not to be confused with Aaron Lieberman, was in this period secretary of a Jewish trade union and connected to the Jewish social-democratic paper Di Fraye Veit (The Free World). In reaction to the first time the English trade union federation made the request, he stated that 10

'1

E. Tscherikower: Peter Lavrov and the Jewish Socialist Emigrés. In: Yivo Annual of Jewish Social Science. New York 1952, Vol. II, p. 132-145, here p. 139. Joseph Finn: A Voice from the Aliens. About the Anti-Alien Resolution of the Cardiff Trade Union Congress. London 1895, p. 1.

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one must be a Jew and not be ashamed of it. One must be a nationalist, a Jewish patriot, not a Palestine patriot, of course. One must be one with all those socialists who express internationalist ideas and at the same remain national (not nationalist). Have you ever heard of an English union calling itself 'international'? For Jews it is customary to refer to all unions as international, as if that could change their long noses or Minsk manners. 12

In Paris the attitude of the French socialists during the Dreyfus affair led to a similar protest. For a long time the French socialists agreed with the antiSemite position that all Jews were capitalists and Shylocks. Despite the fact that Jewish workers were also victimised by the anti-Semite campaigns during the Dreyfus affair, the French socialists at first did not think it necessary to interfere in the affair. 13 After all, Dreyfus was a bourgeois who did not deserve their support. Besides, the anticapitalist element in the anti-Semitic campaign could prove useful in socialist propaganda. In 1898 the Jewish workers of Paris wrote an open letter to the French socialists in which they accused them of a lax attitude and pointing out that Jewish workers, too, were the victims of the anti-Semite campaign. The authors stated: Le mot Juif est dès lors, synonyme de classe: "une partie seulement de la classe bourgeoise, dit une fraction des socialistes". Et, pourtant, nous sommes hélas le peuple le plus prolétaire du monde. Nous le sommes doublement, comme classe et comme nation; car nous sommes à la fois les parias de classes et les parias des nations. 14

It is noteworthy that in both protests by the Jewish workers there is a consciousness of the combination of identities. This can be seen most strongly in the words 'comme classe et comme nation' in the Parisian pamphlet. Something similar may be seen in the reaction of the Jewish socialists in London after the legislation on Aliens was passed in 1905. After 10 years the English trade union federation had finally had its way. In 1906 a new paper, Di Naye Tzayt (The New Times) was published, in which much attention was given to the specific problems of Jewish workers who, according to an editor, were not only being persecuted as a class, but also as a people. "We must take into account pogroms in Russia, the Aliens Act in England and anti-Semitic, shameful [...] and wicked people in other countries", according to Di Naye Tzayt'5.

12

14

15

Di Fraye Veit, 4 September 1892. See: Ν. L. Green: Socialist anti-semitism, defence of a bourgeois jew and discovery of the jewish proletariat. Changing attitudes of french socialist before 1914. In: International Review of Social History, Vol. X X X (1985), p. 374-399. Le prolétariat juif, Lettre des ouvries juifs de Paris au Parti socialiste français. Paris 1898, p. 8. The authors of this letter were probably inspired by the work of Bernard Lazare when they wrote this. Di Naye Tzayt, 6 April 1906.

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In these extreme cases of self-defence it becomes clear that the Jewish workers in London and Paris who had been won over to socialism, felt themselves to be a part of the working class, as well as the Jewish nation. How was this question taken up in Amsterdam?

Emancipated both as Jews and as workers The Jewish workers in Amsterdam were natives of that city, who spoke Dutch and who lived in a society in which, unlike in Eastern Europe, an emancipation process had taken place. This is not to say that around 1880 this poorest part of the Jewish community formed a truly integrated part of society. The majority of the Jewish workers lived together in the old Jewish quarter and as we have seen, there was a very uneven distribution of professions amongst them. Close contact between Jewish workers and the other inhabitants of Amsterdam were scarce. It was precisely the Diamond Workers' Union and the Social Democratic Labour Party that changed this. Not only by improving the economic position of all the workers and therefore also that of the Jewish workers, but also by 'civilising' them. This concept of'civilising' should be taken very broadly. It ranged from convincing the workers of the need to wash one's hands before dinner, to raising interest for politics, arts and sciences and culture. Inside the Diamond Workers' Union and the Amsterdam section of the Social Democratic Labour Party there were hardly any real clashes between the workers' identity and the Jewish identity of the Jewish members. Members of the older Jewish socialist propaganda club had stated once that they had stopped being Jews and instead had become socialists16, but after the founding of the Diamond Workers' Union and the Social Democratic Labour Party most Jewish workers no longer needed to make such a strict choice. All this does not mean to say that there were no clashes at all between Jewish and Gentile workers in the Diamond Workers' Union and the Social Democratic Labour Party. These conflicts most certainly existed, especially at the beginning. Although organised together, the divisions between Jewish and Gentile workers remained and it took several struggles to overcome them. The fact that Jewish diamondworkers traditionally got fixed wages, whereas the Gentile workers got piece wages made it very difficult for both groups to bargain about higher wages simultaneously. Very often these negotiations led to conflicts, during which prejudices and antisemitism came to the fore. In September 1895, during a very severe conflict between Jewish and Gentile workers, the leaders of the Diamond Workers' Union got tired of the non cooperative attitude and the prejudices from both sides, and decided to resign. Henri Polak motivated his deci16

Ons Blad. Socialistisch Orgaan voorde Israëlieten, 1 January 1894.

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sion like this: "We cannot stand by and watch two rival camps arise in our union, or rather, watch our union turn into a hotbed of race hatred." 17 The diamondworkers, both Jewish and Gentile, were frightened and pleaded the leaders to return. They did so on condition that cooperation and solidarity would be the general goal in the future 18 . Because the leaders of the organisation resolutely acted against conflict between Jews and Gentiles such conflicts gradually disappeared as the mutual relations between Jewish and Gentile workers in the trade normalised, for instance through agreements about minimum wages for both Jewish and Gentile workers. The workers' leader Henri Polak was well able to unite both identities in himself while his Gentile colleague, executive member Jan van Zutphen, also contributed to a climate in which it was possible for an orthodox Jewish diamond worker to be on the executive of the diamond workers union. Even so it was 1902, eight years after the founding, before the union, which described itself as strictly neutral, was prepared to act on behalf of those Jewish workers who did not want to work on Saturday but on Sunday. Until then such a position had always been rejected, but by 1902 the relations were apparently such that the nonreligious and Gentile members of the union were no longer opposed. The year 1902 was also the year in which the Amsterdam electoral district III, which had an electorate made up of mostly Jewish workers, voted a socialist into parliament for the first time. This was a fairly clear sign of the quiet blending of the two identities. As far as Polak was concerned, his socialist beliefs were closely connected with his Jewish background. When asked, he once said: The feeling of race and perhaps also my feelings for justice and community that are so strongly developed amongst the Jews, ties me to the Jewish people. The triumph o f socialism will in any case put an end to the economic struggle o f the people and make it possible for them to respect each other. 19

In taking this position Polak clearly belongs to the group of Jewish socialist leaders quoted earlier, who thought that an improvement of the living conditions of the Jewish workers could only take place if the entire working class could improve its lot. At the same time Polak explicitly called himself a Jew, who was aware of his background. This is why Henri Polak's biographer sta17

18

19

Wij kunnen niet lijdelijk aanzien dat er in onze bond twee kampen komen, of liever, dat de bond een broeinest wordt van rassenhaat. In: Henri Polak: 'Bij het scheiden'. In: Weekblad van den Algemeenen Nederlandschen Diamantbewerkersbond, 27 September 1895. For more details see: Karin Hofmeester: Van Talmoed tot Statuut. Joodse arbeiders en arbeidersbewegingen in Amsterdam, Londen en Parijs, 1880-1914. Amsterdam 1990, p. 94-96. Salvador Bloemgarten: Henri Polak: jood en Nederlander. In: Groniek Historisch tijdschrift, Vol. XXV, No. 115, p. 37-48, here p. 37.

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tes: "By emancipating the diamond workers of Amsterdam both as Jews and as workers Henri Polak made them feel fully accepted Dutchmen."20

Conclusion In conclusion we may say that basically the Jewish workers in Amsterdam, London and Paris took the position that they were workers in the first place and Jews in the second. In some cases their Jewishness was even denied or loathed. The Jewish identity of leaders and members was often not made explicit, but on closer study nevertheless does come to the fore. For Jewish workers in London and Paris this meant that, when attacked by parts of the new community to which they felt they belonged, namely the labour movement, they were forced to take a new position and to redefine their own identity. The desire for social integration remained, as well as the wish to integrate in the general labour movement, but in this the Jewish identity was no longer denied. For the organised Jewish workers in Amsterdam it was easier right from the start to take part in the struggle for a better living both as Jew and as worker. The workers' organisations that were set up by Jewish workers or which they joined, whether they were Jewish or mixed, took care of the assimilation of Jewish workers. Through these organisations Jewish workers started participating in the general struggle for the improvement of the position of all workers. In this way, too, Jewish workers integrated in a specific part of society. This integrated position made it possible for the Jewish workers to identify themselves openly as such. A special type of Jewishness was created: without religion or territory but with a common identity based on old traditions and new party cultures. In London and Paris, for example, this identity was projected in political Yiddish theatre, while in Amsterdam something similar took place. There 'socialism got a Jewish touch', as one author described it 21 . Especially in the electoral districts in Amsterdam where Jewish voters formed the majority, Jewish jokes and Yiddish proverbs were heard at the meetings of the Social Democratic Labour Party. The Jewish tradition of 'lernen' was transplanted to the labour movement and led to the instalment of a large library in the office of the General Diamond Workers' Union. According to some authors, Henri Polak was the rabbi of the Jewish workers22. Though this remark is some20

21

22

Salvador Bloemgarten: Henri Polak sociaal democraat 1868-1943. The Hague 1993; Proposition No. 6. Selma Leydesdorff: Maakten zij de wereld leefbaar? In: Voor buurt en beweging. Negentig jaar sociaal-democratie tussen 1J en Amstel. Ed. by Martin van Ameringen. Amsterdam 1984, p. 160-197, here p. 164. H. Daalder: Dutch Jews in a Segmented Society. In: Acta Historiae Neerlandicae. Studies on the History of the Netherlands, Vol. X (The Hague 1978), p. 190.

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what speculative, it is a fact that, like a rabbi, Polak functioned as a counsellor where people in need turned to. Deserted wives of diamondworkers for example came to his office. In a period of economic downfall and unemployment there were diamondworkers that went abroad, to Antwerp for example, to try their luck there. They left their wives and families behind, planning to return when things were changed for the better in Amsterdam. Every now and then, one of these diamondworkers found himself a mistress and did not return. The deserted wife - who very often had no income to live on - would then turn to Henri Polak. He would contact his colleagues abroad and ask them to try to find the unfaithful husband and send him back (which very often succeeded)23. Strictly spoken, this had nothing to do with modern trade union policy, but in the Diamond Workers' Union, no one was surprised. Old traditions and new party cultures where combined, and through this combination Jewish workers found their way into society, as Jews and as workers.

Bloemgarten, Henri Polak (note 20), p. 114.

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Jewish Self-perception as shown in English Literature and Art

After the Napoleonic Wars, the small Jewish community in Britain, quite wellestablished and steadily growing, could look forward to the eventual removal of those few disabilities which they shared with Catholics and Dissenters though the reform of outdated laws had many opponents. In the aftermath of war and revolution there was in Europe a looking back to feudal times to justify the continued existence of shaky monarchies and their appendages. Many of the British new rich of the Industrial Revolution sought feudal ancestry and genealogists obliged with Norman knights and Saxon thanes. For Jews, it was difficult to find a satisfactory niche in the fake mediaevalism propagated by writers, artists and architects. The most brilliant of the writers was Walter Scott who not only re-shaped Scotland's image and identity by interpreting its history as fiction for a popular readership, he founded the Scottish tourist industry. Turning to feudal England in his novel Ivanhoe, published in 1819, he attempted to show the origin of an English national identity in the fusing of Norman and Saxon. For contrast he chose to introduce, as heroine, a beautiful Jewess, Rebecca, and, breaking with previous stereotypes, Scott, a Christian, shows her as a proud and intelligent adherent of her faith, a confident and self-aware Jewess. As with Scott's other novels, there were immediate translations and many imitations; without Scott, no Manzoni, no Dumas ... For Jewish women readers Scott had supplied a heroine with whom they could empathise and for Christian men, a lovely Jewess to fantasise over. - Somewhat later in the century, two very different Jewish novelists sought to provide a picturesque past with which Jewish readers both male and female could identify: Grace Aguilar and Benjamin Disraeli, who have in common otherwise only their Sephardi ancestry. Born 1816 (she died in 1847) if Grace Aguilar had not been Jewish she might now be forgotten like so many other housebound Victorian women who wrote moralising fiction. In those of her books with a Jewish theme, Aguilar is addressing a non-Jewish audience too, and presents herself as an explainer of the Jewish religion so that, as she writes: "vulgar errors concerning Jewish feelings, faith and character may, in some measure, be corrected".1 A firm, didactic tone Grace Aguilar: Records of Israel. London 1846, Preface p. X. See also the preface to: Home Influence. London 1847, which is addressed to her Christian readers.

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here. In one such tale: The Perez Family,2 she deals with the everyday life of a family of Jewish provincial shopkeepers - one notes the Sephardi name - and shows her readers that their lives and virtues are no different from the Victorian Christian ideal: hard work, honesty, firm family bonds and piety. One notes too that she also puts in a strong plea for tolerance on both sides in the question of intermarriage. In order to propagate a desirable Jewish image she tends to stress the more easily romanticised Sephardi origins of the community, ignoring the long-established families of Dutch, German and Polish descent. Aguilar's historical novel The Vale of Cedars or, The Martyr3 is set in Spain and strongly influenced by Walter Scott's Ivanhoe to the extent of repeating Scott's set of characters: a noble and beautiful Jewess, here Maria Henriques, loved by an English Christian knight and lusted after by a Spanish Grand Inquisitor. But she adds a further twist in the character of the noble Spanish knight Don Ferdinand Morales, a favourite at the court of Ferdinand and Isabella, who lives and dies in the code of Christian chivalry with his great secret undiscovered; for he is a Jew, a Marrano! At once translated into German as: Maria Henriques Morales it later re-appeared as Die Jüdin and, as late as 1903, as Das Cedernthal, it still found a readership in Germany4 as well as re-publication in England, despite its stilted style and far-fetched plot. It is obvious that for her Jewish readers this and similar stories by Aguilar fulfilled a need to identify with ancestors who had once played an active part in a romantic and warlike period nearer in time than that of the Old Testament. One wonders how far the use of Jewish themes is for some writers and artists a matter of personal choice and of Jewish self-expression or how far a response to a market, a desire to stand out with something different to say or to show, an exotic-seeming group to be revealed, explained and normalised. Benjamin Disraeli, born 1804, began writing novels as a young man, to make a name and to make money. Later he used his fiction to put forward his political and philosophical ideas. His astonishing career as society dandy, wit, author, politician and, ultimately, Prime Minister of Great Britain at the height of its power made him, for Jews world-wide, an example of how far someone born a Jew could advance in a liberal society. 2

3

4

Grace Aguilar: The Perez Family. In: Home Scenes and Heart Studies. London 1858, p. 194, written in 1843. The collection of stories was compiled by her mother, Sarah Aguilar, after her daughter's death. Grace Aguilar: The Vale of Cedars or The Martyr. London 1856. The novel was written 1831-1835. See Florian Krobb: "Mach die Augen zu, schöne Sara". Zur Gestaltung der jüdischen Assmiliationsproblematik in Heines "Der Rabbi von Bacherach". In: German Life and Letters 42 (April 1994), No. 2, in which he also discusses the likely readership for Aguilar in Germany. The German versions of The Vale of Cedars are: Marie Henriques Morales. Oldenberg 1856; Die Jüdin. Leipzig 1860; Das Cedernthal. Prague 1900 (Jüdische Universalbibliothek, 81/82).

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He did not have Heine's need to apply for the then still-necessary entré billet to political life; his father had done that for him, baptising his two children when they were still at school, after a quarrel with his synagogue. Isaac D'Israeli, born in 1776, was a scholar and a gentleman living on inherited money, whose merchant father had come to England from Venice. Working in his fine library, he produced the compilation books on English literary history for which he is still well known. 5 His friends he found in English literary circles. It would seem that Jewish identity was for him a matter of indifference. In his rambling and argumentative book, The Genius of Judaism, published in 1833, he addresses the Jews as though he himself is an outsider, asking, at the end, for a modernised Judaism with the Talmud "removed to an elevated shelf, to be consulted as a curiosity of antiquity" and a "civil and political fusion with their fellow citizens". But baptism made Isaac's son, Benjamin, a romantic Jewish Christian. That is how he defined himself. How others defined him is a different matter. In a novel of 1847, Tancred, he seeks to make plain the Jewish origins of Christianity to readers who, as George Eliot said when writing her Jewish novel, Daniel Deronda, were "often unaware that Jesus himself was a Jew". Disraeli wanted to put this right, for him the church was the only Jewish institution that remained. 6 He sends his young nobleman hero, Tancred, to Jerusalem in search of the roots of Christianity. There he is involved with a tribe of warlike Jews (this in the 1840s) and with the regulation beautiful Jewess, here very didactic indeed. Seeking, like Aguilar, to provide Jews with a chivalrous past in keeping with the antiquarian enthusiasms of the day, he had set Alroy, an early novel of 1833, in 13th century Azerbaijan. This is a wild adventure story with Jewish warriors on galloping steeds, luscious Jewish maidens in peril, cruel Turks and cabbalistic magic. However, when he wrote novels of contemporary life which introduced a Jewish character, since he could not vaunt his faith as a Jew, he vaunted his race, to unfortunate effect. His wildly exaggerated claims of Jewish influence and power were dangerous fantasies foreshadowing the nonsense of The Protocols of the Elders of Zion. In Coningsby, published in 1844, which contains many shrewd portraits of real-life political figures, he introduces the preposterous Sidonia, who also appears in Tancred. "I am of that faith the Apostles professed before they followed their Master" 7 he says, before vaulting onto the saddle of an Arab mare, both scenting, as it were "the desert", as Disraeli puts it. He is a Jewish financier, welcomed in the highest society and would seem to be in charge of affairs in Europe and the Middle East. The wickedly funny

5 6 7

A.o. are Curiosities of Literature, 1823 ; Amenities of Literature, 1841. See the preface to the fifth edition of Coningsby, 1849. Benjamin Disraeli: Coningsby or The New Generation. London 1868, p. 91.

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parody by Thackeray: Codlingsby, was certainly deserved and explodes the whole notion of Jewish power with healthy laughter.8 Disraeli died in 1881. He had lived long enough to see the steady influx of thousands of powerless Jews fleeing Eastern Europe who were to change the character of the Jewish community of his youth. There was little possibility of romanticising the origins of these huddled masses fleeing economic misery and, later, the violence of the pogroms. A somewhat disturbed Anglo-Jewish community, as is the case with an olderestablished immigrant group, saw the arrival of thousands of wretchedly poor Jews with dismay. Often they had been stripped of what little they had on their journey, and were dumped on the London dockside, some thinking it New York. They settled in the nearby streets of the East End or in similar quarters of the industrial cities, forming self-imposed ghettos. Most quickly found badly-paid work in the clothing, footwear and furniture trades, the self-employed exploiting themselves and their fellow-Jews in the fight for bread. After the initial shock, which affected their carefully-acquired image, AngloJewry moved in briskly to assist, the main aim that of assimilation to English life and economic self-sufficiency. Something too much of the hauteur of the stereotypical English Lady Bountiful-type charity marred their efforts - it is not easy to give with grace - and they were chary of the traditional "Schnorrer" of Jewish folklore whose impudence is so well described in Israel Zangwill's novel: King of the Schnorrers, set in 18th century London. Much of the practical, often bitter, experience of those on the receiving end of charity is shown in Zangwill's famous novel of 1892 The Children of the Ghetto which begins with a scene of the London soup-kitchen on its very first day of opening, with beautifully-dressed Jewish patronesses in attendance, outside, the hungry crowd, barely controllable. But basic needs were met, not only soupkitchens but hostels, money for small business ventures, tools of trade; above all, schooling. Education was to be the means of turning Yiddish-speaking children into English boys and girls. The Jews' Free School, founded in 1817, was already full to bursting - Zangwill himself had been a pupil, then a teacher there and wrote of "the bell of the great Ghetto school, summoning its pupils from the reeking courts and alleys [...] calling them to come and be Anglicised".9 In London the Elementary Education Act of 1870 was liberally interpreted to allow a state primary school a Jewish headmaster and a percentage of Jewish teachers if the number of Jewish pupils exceeded 50%. Religious instruction for a minimum of 5 hours weekly was paid for by a Jewish charity to allay the fears of the immigrants that secular education was the first step to conver-

8

9

William Makepeace Thackeray: Codlingsby by D. Shewsberry Esq. from Novels by Eminent Hands. In: Punch, 1847. Disraeli did not forgive Thackeray for this mockery. Israel Zangwill: Children of the Ghetto. London 1893, p. 30.

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sion. In the background was the threat of Christian missions active in the East End with the lure of financial aid. The pious religious fervour of the Russian and Polish Jews touched the Anglicised community. V. D. Lipman, the historian of Anglo-Jewry, says that in view of Zangwill's own background it was natural for him to explain and defend the East End Jews not only to the non-Jewish world but also to the more assimilated English Jews.10 Their deeply-felt religion and their strong family values saved them from the even more terrible squalor of their neighbours in the late 19th century city slums of Britain, who so often drowned their wretchedness in drink. There was little temptation to move sideways out of the ghetto but upwards and out, yes, and, as Zangwill shows in his novel, it was at this point that some began to question their faith and re-define their Jewishness. Zangwill, born in 1864, was a 28-year-old journalist and author when he was commissioned by the American judge, Meyer Sulzberger, to write a novel of Jewish contemporary life for the Jewish Publication Society of America, the idea being that Jewish immigrant life in London differed little from that of New York. Subtitled: "A Study of a Peculiar People", The Children of the Ghetto is a late-Victorian portmanteau novel with all the flaws of the journalistic style of the period, overloaded, often facetious, not always easy for a modem reader. Bursting with character and anecdote just as the houses of Whitechapel and Stepney were bursting with people, he showed whole families living in one room which served as sleeping, eating and workplace, yet managing to keep up basic decencies. As his heroine he chose a 13-year-old motherless girl, burdened with family cares of a kind not imposed on a young boy, yet it is through Esther's eyes that we see Zangwill's own childhood. What Zangwill had learned at the Jews' Free School, she learned. "Esther led a double life" he writes. [...] she was a Jewish child whose people had a special history [...] but far more vividly did she realise that she was an English girl, far keener than her pride in Judas Maccabeus was her pride in Nelson and Wellington; she rejoiced to find that her ancestors had always beaten the French [...] that the English language was the noblest in the world [...] Esther absorbed these ideas from the school reading books. The experience of a month will overlay the hereditary bequest of a century.11 Plainly the Board Schools did their given job well and within its narrow limits the education they gave was certainly sound. Beyond that, keen teachers - often those who were non-Jewish, struck by their pupils' eagerness to leam - picked out and nurtured talented children; free libraries, local reading rooms and Adult 10

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V. D. Lipman: Introduction to the Victorian Library reprint of Children of the Ghetto, Leicester 1977, pp. 15-16. Lipman also thought that the positive values of the immigrants checked the progress towards total assimilation. Zangwill, Children of the Ghetto (note 9), p. 83.

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Education Institutes were there for the more studious, and wealthy Jews gave support to those considered deserving. In the weaker, final third of the book, Grandchildren of the Ghetto, the selfdoubting, questioning Esther is plucked from poverty and sent to University by a Jewish Lady Bountiful who adopts her, and here Zangwill shows the wealthier, anglicised Jews. Esther, like the real-life Jewish authors Amy Levy or Mrs Frankau, writes a novel critical of wealthy middle-class Jewish life which gives great offence to her patrons. This was not unlike the attitude of a number of middleclass Jews in America as well as in Britain to Zangwill's novel. They complained that it showed the world an image they did not wish to project, nor did they wish to define themselves in this way. However, it was the very honesty of Zangwill's descriptions which - even while they ruefully laughed - so disturbed and embarrassed some Jewish readers, that impressed the many nonJewish readers of the book. Because he showed ignorance, superstition, stupidity and bigotry among the poor, and snobbery and self-regard among the rich, they could believe in the piety, charity, altruism, family unity - the virtues of the group which were impressive; the latent talents and the will to succeed by hard physical work or arduous study. Non-Jewish readers especially appreciated the rich range of eccentrics tolerated, even encouraged, within the hard-pressed immigrant community, many based on real-life characters (such as Imber, poet of the Hatikvah). One problem for Jewish readers was that the self-mockery, sharp wit and humour of daily life was pointed up by Zangwill's use of Yiddish. It was the Yiddish content which Lord Rothschild, as patron of the Jews' Free School, had found so very reprehensible in the young teacher, Zangwill's, early published sketches of Jewish East End life.12 Zangwill defensively pointed to the popular Scottish dialect novels of the "Kailyard" school such as James Barrie's A Window in Thrums. In what way, he asked, was his book different? It too was a dialect novel. He declared himself a Cockney Jew, born within the sound of the bells of Bow Church, as tradition defined. The immigrants, he said, were part of British society. They did not see themselves as rootless. They earned their bread in the place where it pleased God to send them. As for those who sought social justice as well as bread, the Yiddish trade-unionists and socialists, Zangwill in his book shows himself markedly unsympathetic and even mocking as in the chapter: "With the Strikers"13. He was unable to empathise with those who had to labour more than twelve hours a day at a treadle sewing-machine, or with a heavy pressing-iron. 12

13

Zangwill, Children of the Ghetto (note 9), p. 29. "Yiddish, the most hopelessly corrupt and hybrid jargon ever evolved". Joseph Leftwich in his discursive biography, Israel Zangwill, London 1959, says that Zangwill later changed his mind and recognised Yiddish as a living language. Zangwill, Children of the Ghetto (note 9), Ch. XIX, p. 179-189.

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Zangwill wrote other novels, not all with a Jewish theme, but Children of the Ghetto is a one-off, a classic unique of its kind in English. The world he described was already changing as he wrote, as the native-born generations grew up and moved on. Other Jewish writers before and since deal with much narrower slices of Jewish life; there is nothing else of this range. The resounding success of this novel turned Zangwill into a public representative British Jew for all occasions, despite his own uncertainties and his marriage out of the faith. So much so that Theodor Herzl came straight to him in London saying: "Help me build the Jewish state!" For Zangwill, anywhere, it seemed. Most of Zangwill's life from then on was one of committees and public platforms. He died, worn out, in 1926, never having quite fulfilled the promise of his early talent. For today's descendants of those immigrants of three or four generations back, Zangwill's book - for those who read it - underlines a Jewishness marked by observance of holy days and festivals but defined also by shared family memories and anecdotes of poverty, hard labour, overcrowding and mutual aid, of scraps of remembered Yiddish and of jokes, and of the small pleasures of the poor, the savoury foods of Jewish Eastern Europe: the salt beef, fried fish, pickled cucumbers, ladkes, gribines - a Jewishness which today has been scathingly described as 'mere gefilte fish judaism' but no less real for all that. "Fried fish", said Zangwill, "binds Anglo-Judea" 14 . In Zangwill's novel, Esther's brilliant brother who dies young, had wanted to become a great English writer, like Dickens, he says, like Thackeray (but not, one notes, like Disraeli; Zangwill disliked the man and his novels). What the ghetto's children did produce in the early years of the century was a group of surprisingly original artists such as Alfred Wolmark, Bernard Meninski Meninski, Jacob Kramer Kramer, Mark Gertler Gertler, David Bomberg Bomberg and the artist-poet Isaac Rosenberg, killed in action in April 1918. There had been Jewish artists working in Britain before: Solomon Alexander Hart (1806-1888) was the first Jew to be elected to the Royal Academy, in 1840. He gratified the Victorian public's antiquarian taste with solidly painted British historical and Christian set-pieces, but he interspersed these with Manasseh Ben Israel and Cromwell or The Synagogue at Livorno, no doubt also expected of him by a public that knew him to be Jewish. Here the artist underlines his Jewishness from time to time and the public graciously accepts it. Outside official art was Simeon Solomon (born 1840, died wretchedly 1915) a talented minor Pre-Raphaelite painter. His brother Abraham was a conventional and popular painter of scenes of everyday life but Simeon and his gifted artist sister Rebecca were eventually considered quite beyond the pale of Victorian respectability due to what was politely called their decadent way of life. Some of his, and of her work, has a Jewish theme, with an appeal to present day 14

Zangwill, Children o f the Ghetto (note 9), p. 4 8 .

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collectors, scenes of Festivals and the like. The West London synagogue owns one of Simeon Solomon's paintings. It shows the swooningly beautiful, rather ambiguous figure of a young Jewish priest passionately embracing the Scrolls of the Law (surely not how a Jewish Minister would wish to be presented). Infinitely respectable was Solomon J. Solomon, the J. added to avoid confusion with the disreputable Simeon. The Second Commandment notwithstanding, Solomon was proud to be an observant Orthodox Jew - which was no bar to his smooth upward career within the art establishment as member of the Royal Academy, the Athenaeum Club and, in the First World War, head of army camouflage, with the rank of Colonel. He became president of the Royal Society of British Artists, a post he felt he ought to accept just because he was a Jew. He produced large, flesh-revealing figure compositions depicting not only Biblical but also classical and British historical subjects, but his real métier was the mere lucrative one of portrait-painting. Well-connected within the Jewish élite, from a prosperous South London family, he provides a workmanlike if boring record of the Jewish wealthy and notabilities, including a portrait of Zangwill. 15 A pragmatic man: in his view there was no such thing as Jewish art, only Jewish artists. Perhaps Jewish art could be defined as a Jewish artist, however tenuous the link to Judaism, working on a Jewish theme? The Bradford-born artist William Rothenstein came from a German-Jewish family and, though gracefully outside Judaism, had kept in touch with Jewish cultural and educational organisations. About 1902, a chance visit to an East End synagogue, suggested by a brother of Solomon J. Solomon, gave him a new subject. It was for him, he wrote, an extraordinary scene, with wonderful Rembrandtesque possibilities. "I was regarded as a stranger" he goes on to say "[...] among the despised race from which I too had sprung".16 Rothenstein rented a room nearby, coaxed some bearded minyan men to sit for him as models (no easy task) and produced a series of sound paintings of the Brick Street synagogue congregation, Machzike Hadath, at prayer. It was still the world of Zangwill's Children of the Ghetto, a social record of a kind very different from his usual range, a sort of excursion into Judaism which ended with his becoming tired, as he wrote: "of painting the greasy clothes and shawls of East End Jews", and thereafter he returned to painting winsome portraits of his wife and children. He was particularly helpful to young artists and was much impressed by the beauty as well as the outstanding talent of the very young Mark Gertler who had toiled across London to Hampstead from Whitechapel to show him his 15

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Olga Jomech Phillips: Solomon J Solomon. A Memoir of Peace and War. London 1933, gives a bland account of his career. The list of portrait-sitters includes a good cross-section of the Jewish elite of his time. William Rothenstein: Men and Memories 1900-1922. Vol. 2, London 1932, p. 55-56 and p. 97-98.

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work. He immediately recommended him for a scholarship to the Slade. Gertler, as he later told a friend, bitterly felt the distance between his background of poverty and hard labour and the gracious world of ease and plenty, and was unimpressed by Rothenstein's own work. 17 These older artists were from well-established Jewish families able to finance lengthy study in London and Paris, and their work was conventional and acceptable to the buying public. The last two enjoyed private means and had all the trappings of Edwardian artistic success; imposing studios, fine houses, handsome wives and cossetted children. The group of poor young first generation immigrant artists had grown up in the wretched circumstances Zangwill describes. They had many obstacles to overcome on their way to study at the Slade School of Art, then at the height of its reputation. Somehow they scraped along on the meagre scholarships provided by the Jewish Education Aid Society (for which Solomon and Rothenstein acted as referees). They were never in all their lives to be free of poverty, or sure of patrons; despite marked initial success and recognition by their peers in the few years before the War in 1914, their fate was to be ignored, almost forgotten, along with one or two non-Jewish fellow-students loosely linked with them, such as William Roberts. Now they are all dead, Jacob Kramer, Mark Gertler, and above all David Bömberg, are recognised as among the most gifted and original artists of their generation and Isaac Rosenberg's reputation as a poet grows year by year; he is, together with Siegfried Sassoon, Robert Graves and Wilfred Owen, one of the acknowledged poets of the First World War. A modern critic says of David Bömberg18 something that would apply to them all: "He managed to fuse the Jewish culture of his impoverished East End childhood with an alert understanding of the international avant-garde" - this was at a time when the French post-impressionists disturbing new work was first shown in London and Cubism, Fauvism, challenged the public. As Jewish artists they had hoped to find Jewish patrons to support them, especially as their range of subjects was initially drawn from Jewish life, but this is difficult if one's work is in advance of public taste - Jews are no more discerning than any other group. Jacob Kramer's background differs from the others since his father was himself an artist who had studied in St. Petersburg. But on arrival in Leeds with his family, he could only find work in a photographer's studio. He died early. Jacob was picked out by a sympathetic schoolmaster, was sent to Leeds Art School and thence to the Slade School in London on a Jewish Education 17

18

See: Gilbert Cannon: Mendel. A Story of Youth. London 1916, a novel based on the author's friendship with Gertler. Richard Cork: David Bomberg. Newhaven and London 1987, Introduction, p. 1. This is the authoritative biography of the artist.

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Aid Society Scholarship - at £10 for a half-year, pitifully small. 19 Kramer soon showed his worth and the formalised paintings of Jewish subjects: Day of Atonement, Death of my Father and others are one of the prides of Leeds Art Gallery - though initially their purchase and donation by a group of Leeds Jews met with objections from Jew and non-Jew in a confusion of antisemitism and anti-modernism. This group of artists owed much to their mothers' early support and strength. These were not the cruelly caricatured Jewish mothers of second generation American writers' fiction, but women whose sacrifice of self and passionate care for their children was of the kind remarked upon by Christian social workers in the East End. We see Cecilia Kramer, Golda Gertler, Rebecca Bömberg and Hannah Rosenberg in the portraits painted by their artist sons. This strong bond held them to their fading Jewish background; when Gertler's mother died, his memory of Yiddish died too. "I shall be neither Jew nor Christian and belong to no class",20 he had said when leaving home and Whitechapel. Mark Gertler, whose remarkable good looks21 and charm had led to his being taken up by the Bloomsbury Group, and so becoming part of that mythology, found support dwindling as he moved from the realism of his powerful portraits of his work-weary mother to what was seen as experimental distortion in fine paintings such as Rabbi and Rebbitzim, Jewish Family, The Rabbi and his Grandchild. Active hostility22 was shown to his pacifist painting of 1916: The Merry Go Round, in which civilians and soldiers were shown as puppets riding a relentless carousel. Ill-health, ill-fortune and lack of support dogged his career; in June 1939 he committed suicide - he was 48. Quentin Bell thought his death "one of the great tragedies of British art".23 Bömberg, the most gifted of the group, retained more of Jewish tradition (his first wife converted to Judaism to please him). When still a student at the Slade, he moved rapidly towards exciting futurist compositions: Ezekiel; In the Hold; Ju jitsu, The Mud Baths. He wanted Jewish artists to stick together, to make a market for themselves24 - he even explained his work in a Jewish Chronicle article - to little avail. He met with a severe setback when commissioned as a 19

20 21

22

23 24

John D. Roberts: The Kramer Documents. Valencia 1983, p. 9. This is a collection of letters, documents and newspaper cuttings outlining Kramer's life. Mark Gertler: Selected Letters. Ed. by Noel Carrington, London 1965, p. 81. Ibid., p. 34. Letter from Edward Marsh to Rupert Brooke: "a beautiful little Jew, like a Lippo Lippi cherub". Ibid., Introduction by Quentin Bell, p. 10. "How easily he could have played their game [...]. In 1911 Gertler had everything that an artist needs to gain him a baronetcy and a dignified mansion in the Home Counties". Ibid., p. 12. Roberts, The Kramer Documents (note 19), p. 145. Letter from Bömberg to Jacob Kramer, Jan 18, 1938, "The Jewish artists are starving, none of us can work, most of us receive one form of charity or another - we can make a market for ourselves if we organise".

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war artist by the Canadians to paint Sappers at Work (Bomberg was himself in the Royal Engineers). The original version, a splendidly vigorous semi-abstract, was rejected and he had to replace it with a more realistic composition. After World War I his career was one of bewildering neglect, his superb paintings of Palestine, of bombed London, of Spanish landscapes, ignored by critics and public; only in the year after his death did a retrospective at the Tate gallery give him his rightful place, in 1958. Almost amongst his last works is the moving: Hear oh Israel, with himself as the brooding tragic figure, wrapped in a prayer-shawl. Isaac Rosenberg, a shy, frail man usually described as stereotypically Jewish as to looks, stands at the edge of a group photograph of his year at the Slade School which includes the more flamboyant Bömberg and Gertler. After leaving, Rosenberg sold a few paintings, had some poems printed, found some supporters, the generous Edward Marsh above all (Gertler's patron too) but 1915 found him penniless and, though anti-war, he joined the army to provide an allowance for his mother. (This was before conscription was introduced in 1916; he joined as a private). Marsh, and others, found his poetry difficult, its heavy, rich texture has been described as Biblical, sensuous, and sculptural, but repays careful reading.25 He was small, lacking in stamina, absent-minded, a hopeless soldier. He was unhappy in the ranks but nonetheless he, a Jew, is the poet who speaks for the private soldier. Other war poets wrote of "the men" as though of another race, from the point of view of an officer with a servant to polish your boots but Rosenberg, a voice from the ranks, wrote vividly of soldiers hunting for lice in their shirts, of twisted, uneasy sleep on troopship decks, of the flash of red necks of the men on the march ahead of him. Here is a poet with an artist's eye. Images of biblical war colour poems of 1918: The Burning of the Temple, The Destruction of Jerusalem. In The Jew he hits back at the antisemitic jibes of his stupid fellow soldiers. In Break of Day in the Trenches he sees the cosmopolitan rat which crosses the lines while his "English hand' reaches out for a poppy flower to put in his cap. As the German spring offensive moved forward in 1918, Rosenberg's badlyhit unit, at rest behind the lines, was asked for volunteers to go back to the front trenches; he was killed in the fighting.26 Maybe something impelled him to offer himself - to show that a Jew has courage. He lies in a military cemetery in France, his monument the standard British War Graves Commission "Star of David" headstone designed for the Jewish dead in place of a cross. On it, his name, rank, dates - and the words: ARTIST AND POET, an extra paid for by his family, price three shillings and threepence. He may or may not rest under 25

26

The Collected Works of Isaac Rosenberg. Ed. by Ian Parsons, London 1984. Introduction, p. xvii and see Foreword by Siegfried Sassoon, p. ix. See: Joseph Cohen: Journey to the Trenches. The Life of Isaac Rosenberg 1890-1918. London 1975, p. 200, n. 2.

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this stone, finally erected in 1928, but there he is, defined as British, a soldier, a Jew, an artist and a poet; it is as a poet that he is remembered in the country of his birth. Like other Jewish writers and artists in 19th century Britain, Rosenberg and his fellow-artists were able to balance, unneurotically and pragmatically, the differing inheritances of country, faith, origin and calling. But they chose to remain true to their vision of an innovatory art in painting and poetry. Their very personal definitions of their Jewishness in their work found, with few exceptions, no response or support from the Jewish community in their lifetimes although now, in Britain and the United States they are acclaimed as Jewish artists. Their fame is posthumous.

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Proust et la judéité: les destins croisés de Swann et de Bloch

Il est toujours gênant de réduire une oeuvre littéraire à un pur document, à une simple source d'information. L'oeuvre est alors un simple support d'ordre psychologique, d'ordre sociologique, et l'on rate sa spécificité proprement esthétique. Pourtant l'oeuvre n'est pas détachée du réel, n'est pas abstraite d'un regard, d'une sensibilité. Il est clair que l'auteur de la Recherche ne nous communique pas le résultat de ses réflexions sur les Juifs, sur leur destin et leur avenir. Et surtout pas sur la nature pour le moins ambiguë de sa propre judéité. Comme on le sait, le narrateur n'est pas juif, il n'est pas homosexuel non plus. Il est neutre. Même lorsqu'il évoque l'affaire Dreyfus, il ne se départit pas de sa neutralité. Si l'on vient à parler de l'affaire en sa présence, il se détourne ou s'efforce de faire dévier la conversation, au contraire de ce que fut Proust dans la réalité, qui s'engagea courageusement. Prudence, voire lâcheté de la part du narrateur? C'est plus subtil. Il fallait à Proust cette neutralité affichée pour son personnage, afin de mieux dire les choses, faire en sorte que l'affaire soit le simple révélateur, au sens chimique du terme, du caractère de chacun. Cela précisé, je voudrais tenter de jeter quelques lumières sur deux figures romanesques sur lesquelles des milliers de pages dans toutes les langues du monde ont déjà été écrites: les personnages de Charles Swann et d'Albert Bloch. Personnages centraux, puisqu'on les retrouve d'un bout à l'autre de la Recherche. C'est un premier point commun. Un deuxième, c'est la trajectoire de leur destin respectif en regard de leur appartenance juive. Le premier, Swann, comme on sait, est converti. Ce sont du reste ses parents, voire ses grands-parents qui déjà le furent. Or, à la faveur de l'affaire Dreyfus, mais aussi à cause d'autres paramètres, la maladie, la vieillesse, Swann, comme l'écrit Proust, "rentrait au bercail religieux de ses pères". Il redevint juif. Un Bloch, au contraire, décrit le parcours inverse. Lui qui est tout au long de la Recherche le type même du Juif, sinon sa caricature, n'aura de cesse qu'il ne se déprenne de son identité, à commencer par son nom. Swann et Bloch, c'est le carrefour de l'assimilation et de la désassimilation. Destins croisés, donc, chiasme, que figurent les vies de Swann et de Bloch. L'analyse de ce curieux dispositif identitaire nous apprendra beaucoup sur la situation des Juifs en France, depuis le Second Empire jusqu'à Vichy, voire jusqu'à la guerre des Six jours.

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Swann, au moment où nous le rencontrons, le personnage de n'est presque plus juif. Sa judéité est quasi révolue. Par ce "presque" et ce "quasi", je veux indiquer que subsistent chez lui des traces résiduelles, parfois latentes et infinitésimales, parfois au contraire manifestes de judéité. Dans ce dernier cas son comportement se fait grossier. Être juif alors, c'est comme une maladie mal soignée, parce qu'incurable. Cette maladie connaît des rémissions, mais les symptômes, tôt ou tard, resurgissent comme le retour du refoulé. Swann a passé sa vie à se soigner, souvent avec succès. Son ascension à l'aristocratique Jockey-Club, dont il est si fier, pouvait être un remède définitif. Mais il tomba vraiment malade. Alors, curieusement, il redevint juif, "une bête harassée", dit Proust. Mais même dans le cours prestigieux de sa vie mondaine, des traits juifs apparaissent en de certaines circonstances. Car il y a plusieurs Swann. Il y a chez lui le mufle et le clubman raffiné. Ces deux faces de Janus cohabitent chez lui alternativement. En gros, plus il est juif, plus il est à la fois snob, naïf et socialement mal dégrossi, semblable alors à Bloch. Moins il est juif, plus il est fin. La dernière phrase, si célèbre d'Un amour de Swann, "Dire que j'ai gâché des années de ma vie pour une femme qui ne me plaisait pas, qui n'était pas mon genre", est un des signes de ce que Proust appelle "une muflerie intermittente". Le manque de finesse chez Swann se manifeste aussi quand il risque un trait d'humour, ce qu'on appellerait aujourd'hui un Witz. Proust ne dit pas Witz, il dit curieusement "la gaieté juive". Et il commente: "Elle était moins fine chez Swann que les plaisanteries de l'homme du monde". Chez Proust on ne saurait être juif et homme du monde. C'est incompatible. Swann s'est assimilé par le haut, plus précisément, il s'est assimilé aux Guermantes, jusque dans sa façon de parler. Ce n'est pas l'argent qui l'a conduit à cette hauteur, à ce statut. La fortune dont dispose un Juif ne le rend prestigieux qu'aux yeux des seuls autres Juifs. Un Juif fortuné et même anobli est par définition aux yeux des Guermantes un parvenu. Rien de plus méprisable. Abordons à présent la question du nom de Swann. On le sait depuis toujours, le modèle du personnage de Swann est une personne réelle qui s'appelait Charles Haas, dont le père est né dans la Judengasse de Francfort sur le Main, tout comme les Rothschild. Or arrivant à Paris, Jacob Rothschild se fait appeler James de Rothschild et c'est par un semblable processus que Proust, du trop germanique Haas, fait le très british Swann. Proust britannise Haas pour le dégermaniser, c'est-à-dire le déjudaïser et le franciser, ce qui est apparemment paradoxal. Mais il ne fallait pas que la francisation fût trop directe. Passer par l'anglais était une solution élégante sur le double plan identitaire et esthétique. Ne pas masquer l'étrangeté de la personne, mais la déplacer d'un espace péjoratif, juif et 'boche', à une aire non seulement acceptable, mais prestigieuse, l'Angleterre. L'antisémite, c'est celui que son inconscient ou sa perfidie pousse à ne pas prononcer Souann, mais Swann, c'est-à-dire à regermaniser le nom, à le renvoyer au ghetto. On verra la même chose se produire avec le nom de

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Bloch. Certains jugent plus savoureux ou plus juste de prononcer Bloc/2 à l'allemande, mais c'est par pure et simple malignité. A présent l'affaire. Lorsque le très militant Bloch le sollicite, Swann refuse de donner son nom à la liste des signatures en faveur de Picard. Pourtant Swann est dreyfusard. Proust avance deux raisons qui expliquent cette réticence. La première laisse rêveur: Swann trouve son nom trop hébraïque pour ne pas faire mauvais effet. La seconde est plus plausible. Il ne veut être mêlé en rien à la campagne antimilitariste. Examinons ces points. Dreyfusard, Swann l'est avec passion. Il en perd toute lucidité dans ses jugements sur les gens, dans ses goûts littéraires. Barrés ne vaut plus rien, Clemenceau devient au contraire un écrivain de premier plan. De même, et inversement, du côté des antidreyfusards, si l'on prend la défense du capitaine, c'est fatalement qu'on est d'origine juive. Ce sera le cas de Bloch. Dreyfusard non par rationalité politique, mais par le déterminisme de ce que l'on appelait à l'époque la 'race', notion alors exempte de connotations racistes. Et c'est précisément pour ne pas prêter le flanc à une telle critique que Swann refuse son nom "trop hébraïque" à la pétition de Bloch. Mais un détail saute aux yeux: le nom de Swann n'est en rien hébraïque. Il n'est même pas allemand. Il est anglais. C'est que Proust visiblement confond Charles Haas et Charles Swann. Cette façon en tout cas de ne pas apporter de l'eau au moulin des antisémites, voire de pratiquer la politique de l'autruche, est significative des israélites de ce temps. Il y a toujours dans la Recherche, à un moment donné, une révélation qui vient confirmer tel personnage dans son identité secrète. Un homosexuel, un écrivain, un Juif, comme c'est le cas de Swann. Chez l'israélite le plus assimilé, ayant gravi tous les échelons de l'ascension sociale, Proust voit encore un reste incompressible, une réserve, une poche de judéité. Il le dit à propos de Swann: "Étaient restés chez lui deux traits juifs, dans la coulisse, afin de faire leur entrée à une heure donnée de sa vie, comme dans une pièce, un mufle et un prophète". Le mufle réapparaît en Swann à certains moments de sa vie psychologique, quand il n'est pas amoureux, c'est-à-dire quand il ne souffre pas. Alors il est luimême, snob et grossier. Ses traits raffinés d'homme du monde se sont effondrés. En revanche, son ascension à la stature d'un prophète se fait, elle, tardivement. Il rentre "au bercail religieux de ses pères", écrit Proust. Ce retour, qui en réalité n'a rien de religieux chez lui (ses obsèques seront catholiques!), repose sur trois paramètres que Proust nous livre "greffées les unes sur les autres: la maladie mortelle, l'affaire Dreyfus, la propagande antisémite". Au fond il redevient juif parce que les autres l'y contraignent. C'est toute l'analyse de Sartre, aujourd'hui caduque, qui fonctionne ici à plein. L'identité du Juif inauthentique se forge par le regard de l'autre, c'est-à-dire de l'antisémite, et, ajoute Proust, une certaine faiblesse du corps, une moindre résistance physique qui agit comme ce qui permet une régression. Car le retour de Swann à la judéité - et non, encore une fois, au

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judaïsme - est bien une régression, et de l'ordre d'une faiblesse, bien que nous lisions bizarrement qu'il était arrivé à l'âge du prophète. Or rien dans la Recherche ne vient donner un contenu positif à ce terme. Bloch, bien plus engagé que Swann dans le camps dreyfusiste, eût mieux mérité ce titre. Le seul aspect de prophète chez Swann, c'est de façon dérisoire et cruelle, son nez juif, qui alors apparaît et ressort, comme si lui aussi, ce nez, était une réserve juive restée en coulisse, prête à entrer en scène, et c'est à cause de la maladie qui a creusé ses joues. Le prophétisme dont Proust pare son personnage est lié dans la Recherche au thème de la maladie. Au détour d'une phrase, Proust nous apprend que Swann souffre d"'eczéma ethnique" et de la "constipation des prophètes". Par ces deux traits bassement physiologiques, Proust prend ses distances par rapport à ce personnage par ailleurs prestigieux. Il l'enlaidit, le salit. C'est lorsqu'il sera un vieillard malade que ressortira sa judéité. Cet acharnement à l'enlaidissement, je l'interprète non pas comme de la haine de soi ou de l'auto-antisémitisme, mais comme une revanche de la part de Proust. Charles Haas, modèle de Swann, d'un strict point de vue mondain, a mieux réussi que Proust. En redevenant juif, Swann retourne à la case départ, la nonexistence. Il y a cependant une parenté entre Swann et le prophète juif par excellence, Moïse, et cela pour deux raisons. D'abord il est amoureux d'Odette quand celle-ci lui rappelle la figure de Zéphora, fille de Jétro, telle qu'elle apparaît dans le tableau de Botticelli. Or selon le Midrash, Moïse se présente lui-même lors de cet épisode comme un Égyptien, et c'est pour cette raison, d'avoir fui un temps son identité juive, que plus tard il ne pourra pas être enseveli en terre sainte. Or, si Odette est Zéphora, ainsi que Swann la fantasme, on peut songer que Swann est Moïse lui-même. Swann, comme Moïse, qui n'entrera pas dans la terre promise, restera en l'occurrence en-deçà de l'art et de la création, terre promise pour Proust. Swann mourra au seuil de Canaan, Proust seul franchira le Jourdain. Passons à Bloch. C'est apparemment l'inverse symétrique de Swann. Sa judéité est très marquée, exhibée, qu'il le veuille ou non. En fait, il est plutôt la face opposée de l'autre ami du narrateur, le marquis de Saint-Loup. Saint-Loup dans la Recherche est une figure divinisée, angélique, celle de la pure francité qui fascine Proust. Car Bloch, selon la formule de Jean Récanati dans Profils juifs de Marcel Proust, est le Juif que Proust n'aurait pas voulu être. Il a tous les traits d'un Juif caricatural en qui viendraient s'abîmer tous les aspects négatifs des autres Juifs. Un Juif tel qu'il est perçu par un antisémite. C'est bien un antimodèle, une sorte de personnage à la Albert Cohen, mais décrit sans tendresse. D'abord il apparaît comme un "oriental", barbe et cheveux crépus et noirs, nez très busqué. Swann remarque aussitôt sa ressemblance avec Mohamet II, tel qu'il est peint dans le portrait de Bellini. "Il porte son gant, écrit Proust, comme un rouleau de papyrus à la main". Proust se complaît à le caricaturer.

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On le voit entrer dans un salon et on songe irrésistiblement à la silhouette de Groucho Marx "comme s'il sortait du fond du désert, le corps penché comme une hyène, la nuque obliquement inclinée et se répandant en grands salams". Il est alors à la fois étrange et savoureux à regarder. Mais tout dépend de qui regarde. Quelque chose en lui peut provoquer le dégoût quasi physique. C'est le cas d'Albertine, dont l'antipathie d'ordre antisémite est spontanée. "Je reconnais qu'il est assez joli garçon, dit-elle, mais ce qu'il me dégoûte". Pourquoi ce dégoût? Mystère. Mais quand plus tard elle apprend son nom, le mystère s'évacue. "Je l'aurais parié que c'était un youpin". Dans d'autres cas Bloch provoque au contraire l'attirance qu'induit la fascination d'un exotisme à connotation érotique. C'est le cas de Charlus, qui félicite le narrateur d'avoir parmi ses amis quelques étrangers. Le narrateur lui répond alors que Bloch est français. Etonnement de Charlus. "Ah? J'avais cru qu'il était juif!" Ce personnage exotique est surtout un gaffeur. Proust le dit avec ironie: "une gaffe était loin de paraître à Bloch une chose à éviter". Il se fait exclure de chez les parents du narrateur en déclarant que leur grand-tante avait été notoirement entretenue. Il traite quelqu'un d"'excellent fantoche" en passant près de Saint-Loup, en ignorant qu'il s'agit précisément de son oncle. Il renverse un vase plein d'eau dans le salon de Madame de Villeparisis, y va alors d'une insolence involontaire pour masquer sa gaucherie: "Cela n'a aucune importance, car je ne suis pas mouillé", dit-il. De même dans un restaurant il renverse encore deux carafes d'eau. Ou bien, toujours chez Madame de Villeparisis, on lui présente Madame Alphonse de Rothschild, et il n'entend pas son nom. Puis l'apprenant, mais trop tard, il lance tout haut: "Si j'avais su!" Cette maladresse, ses gaffes, cet absence de tact révèlent l'écart entre la bienséance française et une certaine façon juive de se conduire. Dans ses Réflexions sur la questions juive, Sartre parle du "fameux manque de tact Israélite". "Agir avec tact, dit-il, c'est appliquer des traditions de politesse et de cérémonie. Et seule une très longue appartenance à une société permet d'avoir une intuition sûre de son code." Autre trait: c'est un intellectuel, agrégé, auteur d'une thèse sur Philippe II. C'est un érudit qui affecte un langage cultivé. Il ne parle le plus souvent qu'au moyen de phrases extraites d'Homère qu'il connaît par coeur. En outre c'est Bloch qui très tôt fait découvrir Bergotte au narrateur et qui l'encourage à devenir écrivain. C'est en fait un double initiateur, en littérature et en matière d'amour. Amour, c'est d'ailleurs un grand mot! C'est Bloch qui conduit la première fois le narrateur dans une maison de passe. Un aspect important du personnage, c'est sa parentèle. Bloch, c'est un ghetto ambulant, une tribu, la tribu. En quoi aussi ce personnage s'oppose à Swann qui est un homme seul. Comme Swann, Bloch a quitté le ghetto judéo-allemand, la Judengasse, d'où il vient, mais il l'a transportée avec lui. Cela colle, peut-on dire, à ses semelles et sous la forme d'une famille encombrante, tonitruante,

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vulgaire, extrêmement soudée et solidaire, pleine de connivences. Ce ghetto familialiste, on le rencontre essentiellement dans le lieu de villégiature estival qu'est Balbec. C'est le lieu privilégié où se déploie ce ghetto ambulant, compact et inassimilable, dont la famille Bloch est, si l'on veut, la métonymie. Car Bloch n'est jamais seul à Balbec, mais avec son père, son oncle Nissim Bernard. Proust, significativement, n'écrit jamais M. Bernard, mais toujours Nissim Bernard. Au cas où on n'aurait pas compris, avec ses soeurs et ses cousines très effrontées, vulgaires, affichant non seulement leurs mauvaises manières, mais leurs goûts sexuels peu catholiques, si l'on peut dire, bref, toute une cohorte de parents et d'amis qui forment une colonie juive - l'expression est de Proust. Plus pittoresque qu'agréable, aux yeux du narrateur, lequel répugne à voir son ami Bloch quand il est à Balbec, comme s'il risquait d'être lui-même compromis. Cette tribu est d'ailleurs si bien un ghetto que Proust, pour en parler, emploie les termes mêmes qui définissent le ghetto au sens propre que ces Juifs de Balbec ont quitté naguère, mais dans lequel en réalité ils vivent toujours. "On ne peut pénétrer dans ce milieu qui ne plaisait pas, écrit-il. Ce milieu le sentait, voyait là la preuve d'un antisémitisme contre lequel il faisait front, en une phalange compacte et close où personne d'ailleurs ne songeait à se frayer un chemin." Un trait est lié au fonctionnement de tout groupe homogène minoritaire, c'est le signe de connivence qui apparaît le plus souvent dans le langage comme un lapsus, quelque chose qui échappe, ou au contraire, comme un clin d'oeil à usage interne. Nissim Bernard, l'oncle de Bloch, est coutumier du fait. Il parsème la conversation de mots yiddish. Par exemple il dit d'un tel qu'il est un schlemihl, ce qui ravit toujours sa famille, mais à condition que ce soit dans l'intimité, entre Juifs. Cela au contraire les gène énormément quand il y a des "hôtes de marque", comme dit Proust, c'est-à-dire des non-Juifs. Un "hôte de marque" d'ailleurs chez les Bloch ne peut être qu'un non-Juif. Bloch se plaît à tourner les Juifs en dérision, par exemple en imitant leur accent allemand. Mais ces plaisanteries qui marquent l'autodérision, l'autodépréciation, fonctionnent là aussi à usage interne. Quand dans le monde en revanche il surprend une conversation où il est question des Juifs, alors il ne sait littéralement plus où se mettre. Il se sent coupable. Par exemple, si on le reconnaît comme Juif, ce qui est inévitable, dès lors qu'on sait son nom, il s'affole: "Comment le savez-vous? Qui vous l'a dit?" Il vit alors un cauchemar, comme si on le surprenait en flagrant délit, la main dans le sac. Il est intéressant d'étudier les destins, non pas parallèles, mais croisés, de Swann et de Bloch. On a vu que Swann, sur le tard, est redevenu juif. Bloch au contraire va cesser de l'être. Son aspect oriental, à la fois savoureux, pittoresque, mais aussi grossier et mal élevé fera place à ce que Proust appelle le "chic anglais". Le chic dans la Recherche est toujours anglais. Le premier trait d'élégance chez Swann, c'est son nom, dont le signifiant connote l'aspect smart et

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british. Et le signifié renvoie à la délicatesse du cygne, l'animal. Bloch va changer de nom. Il adoptera comme patronyme son pseudonyme d'auteur dramatique, Jacques du Rozier, qu'un universitaire américain, Jeffrey Mehlman a mis opportunément en relation avec la rue des Rosiers, soit la Judengasse de Paris. Son look lui-même subira des transformations décisives. Ses cheveux par exemple ne seront plus frisés, mais plats, son nez juif va disparaître, "comme semble presque droite, dit Proust, une bossue bien arrangée". Il va porter un monocle bref il semble devenu un autre Swann, dans le temps même où Swann malade a régressé vers un autre Bloch. Car Bloch a accompli tout au long de l'oeuvre une courbe ascendante, la même courbe que la vie de Swann avait décrite dans la préhistoire de la Recherche. Il est devenu un Swann accompli dont le destin avait présenté, écrit Proust, "les états successifs par où avaient passé ceux de sa race, depuis le snobisme le plus naïf et la plus grossière goujaterie jusqu'à la plus fine politesse". Ainsi pensons-nous avoir montré à l'oeuvre dans la Recherche ce processus sociologique caractéristique des Juifs d'après l'émancipation: assimilation et désassimilation. Il y a dans la Recherche une psychosociologie très précise et pertinente de la condition juive, la même d'ailleurs que celle que Sartre a tenté de décrire dans ses Réflexions sur la question juive, réflexions à notre sens aujourd'hui datées et dépassées par le surgissement de paramètres nouveaux, parmi lesquels la Shoa et la création de l'État d'Israël, paramètres qui expliquent l'émergence, disons depuis les années 1970 d'un Juif diasporique radicalement nouveau.

Thomas Sparr

Dreyfus in Deutschland Zur Rezeption der Dreyfus-Affäre

Die große Pariser Ausstellung "L' Affaire Dreyfus et le tournant du siècle" war in Deutschland nicht zu sehen. Zu fern, zu entrückt scheinen die Ereignisse, die in Frankreich eine Jahrhundertwende im doppelten Wortsinn bedeuten. Die Affäre, die Deutschland leider fehlte, hat der Publizist Axel Eggebrecht nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt1; die Gegenwart bezeugt diese Abwesenheit von Skandal und Erwiderung, von einander befehdenden, aber gerade darin umso deutlicher zutage tretenden politischen Positionen, Begriffen, Programmen, Losungen einmal mehr.2 Frankreich wurde auch während der DreyfusAffáre seines eigenen politischen Zustands bewußt; Clemenceaus stolzes Wort "l'affaire d'un seul est l'affaire de tous" bedeutete, daß eben auch alle an dieser Affare teilhatten, in welcher Form oder auf welcher Seite auch immer, Stadt und Land, Monarchisten wie Republikaner, Bürger, Arbeiter, Künstler, Journalisten. Ganz anders in Deutschland, aber auch in Österreich: Zeitgenossen und Historiker haben immer wieder bemerkt, daß die Affare hier eine Sache der Journalisten, eine Angelegenheit des Tages, kaum aber ein nachdrückliches Anliegen der Schriftsteller war. In Autobiographien der Wiener Moderne, im Werk jüdischer Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler sucht man vergebens nach Spuren der Dreyfus-Affáre. 3 Und doch hat sie, unmittelbar wie mittelbar, ausdrücklich wie verschwiegen und verborgen auf die Selbstwahrnehmung von Juden in Deutschland eingewirkt. Während in Frankreich durch diese Affáre Positionen hervortraten und man in der Konfrontation um die innere Verfassung einer Republik rang, trugen sie in

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Axel Eggebrecht: Die Affäre, die uns leider fehlte. In: Die Weltbühne, Jg 1 (1946), S. 36ff. Beate Gödde-Baumanns unterscheidet Uberzeugend die dunklen Seiten der Dreyfus-Affäre den Ausbruch des Antisemitismus, die Pflichtverletzungen, Machenschaften, Verschleierungen an der Spitze der französischen Armee - von einer hellen Seite - dem Aufstand des Gewissens, dem Streit über Grundwerte der Nation, dem Protest, dem Verlangen nach Recht und Gesetzmäßigkeit, nach republikanischen Idealen - und deutet die Dreyfus-Affäre vor allem ideengeschichtlich und mentalitätsgeschichtlich. Beate Gödde-Baumanns: Die helle Seite bleibt verborgen. Über die deutsche Rezeption der Dreyfus-Affäre. In: Dreyfus und die Folgen. Hg. von Julius H. Schoeps und Hermann Simon. Berlin: Edition Hentrich, BUGRIM 1995, S. 92-117. Hierzu ausführlicher Erika Weinzierl: Auswirkungen der Dreyfus-Affäre auf Österreich. In: Dreyfus und die Folgen (wie Anm. 2), S. 118-138.

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Thomas Sparr

Deutschland und Österreich einzelne Juden, fern von Parteiungen und Kollektiven, aus. Das zweite Hauptmoment der Dreyfus-Affäre indessen, die Bildwerdung des Juden im modernen Sinn, hat in Deutschland Konturen angenommen.

Daten und Ereignisse Die Dreyfus-Affáre hört auf den verkehrten Namen; es ist eigentlich die Spionageaffäre Esterhazy. Der verkehrte Name deutet schon darauf, daß man vertrauten Begriffen, Namen, Daten und Ereignissen, die man gemeinhin mit der Affare verbindet, grundsätzlich mißtrauen sollte. Die historische Forschung über Alfred Dreyfus lehrt in ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum vor allem Skepsis. Das Schlüsseldokument, von dem die ganze Affare ausging, stammte vermutlich aus einem Papierkorb der deutschen Botschaft in Paris. Es war der Papierkorb des deutschen Militârattachés Oberstleutnant Max von Schwartzkoppen, den allabendlich die elsässische Putzfrau Marie Bastian - im Auftrag des französischen Geheimdienstes - leerte. Dieses Dokument, fälschlicherweise "bordereau" genannt, kündigte handschriftlich Informationen über die französische Armee an, es enthält weder Unterschrift noch Datum und stellt die Rekonstruktion mehrerer nicht ganz zerrissener Papierstücke dar. Die Chefs der vier Abteilungen des französischen Generalstabs erhielten vom Geheimdienst den Auftrag, in ihrem Bereich Ermittlungen anzustellen. Oberst Fabre und sein Stellvertreter, Oberstleutnant d'Abouville aus dem Transportbüro schöpften Verdacht gegen Alfred Dreyfus. Noch bevor der Schriftexperte der Banque de France sein entlastendes Gutachten überhaupt fertigstellen konnte, wurde Dreyfus am 15. Oktober 1894 verhaftet. Und nun begann eine Kette konstruierter Indizien: Der Generalstabsoffizier Major du Paty de Clam, der Dreyfus verhaftete, diktierte ihm den Text des "bordereau" und glaubte ihn anhand seiner Reaktionen - seine Hand zitterte - als Täter überfuhren zu können. Dreyfus wurde festgesetzt. Er beteuerte von Beginn an seine Unschuld und verweigerte den Selbstmord, den man ihm freigestellt hatte. Es gab weder ein Geständnis noch überzeugende Indizien der Tat. Der anberaumte Prozeß steuerte auf einen Freispruch zu, den der unter politischen Druck geratene Kriegsminister fürchtete. Ein präpariertes Dossier, das, an der Verteidigung vorbei, den Richtern bei ihrer abschließenden Beratung unterbreitet wird, führte schließlich am 22. Dezember 1894 zur Verurteilung von Dreyfus. Das Urteil lautete auf Aberkennung jedes militärischen Rangs, aller bürgerlichen Ehrenrechte und lebenslängliche Verbannung. Am 5. Januar 1895, mit Bedacht an einem Sabbat, wurde Dreyfus im großen Hof der Pariser Ecole Militaire öffentlich degradiert und anschließend auf

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die Teufelsinsel bei Cayenne in Französisch-Guyana verbracht. In seinem Buch Cinq années de ma vie hat Alfred Dreyfus über die Torturen seiner Haft berichtet. 1899 wurde er nach Frankreich zurückgebracht und im Revisionsverfahren von Rennes, wiederum gegen alle Evidenz, für schuldig befunden. Der französische Staatspräsident begnadigte ihn, aber erst sieben Jahre später, im Juli 1906, sprach das Kassationsgericht Alfred Dreyfus frei. Das sind die äußeren Daten der Affare, die noch nichts über ihre tieferen Auswirkungen sagen. 4 Ein Kapitel dieser Wirkungen möchte ich vorstellen.

Als Korrespondent in Paris 1894 ging der 26jährige Theodor Wolff als Korrespondent des Berliner Tageblatts nach Paris. Er wird dort zwölf Jahre bleiben, eben jene Zeitspanne von Dreyfus' Verhaftung bis zu seiner Rehabilitierung, einer, wie wir heute wissen, Rehabilitierung in permanentem Widerruf. Wolff sandte prägnante, hellsichtige Berichte über Dreyfus' Verhaftung, den Prozeß, die einsetzende Campagne von Paris nach Berlin. Das Exemplarische dieses Falls war Wolff von Beginn an klar; er wendet es indessen nicht auf 'die Juden', sondern auf 'die Franzosen'. Daß Dreyfus Jude ist, erwähnt Wolff nicht, die antisemitischen Motive des Prozesses ganz beiläufig. "Die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Affäre", schreibt er 1897, "rührt anderswo her. Der 'Fall Dreyfus' ist so außerordentlich, so packend, und ich möchte sagen, so 'historisch', weil er wie ein großer Brennspiegel alle Strahlen, alle Charaktereigenschaften und Sitten des französischen Volkes auffangt und zurückstrahlt". Und zu diesen Charaktereigenschaften zählt Wolff politische Denkfaulheit, Phrasentum, Mangel an Freiheitsgefühl, Klerikalismus, Eigenschaften, die, mit Ausnahme des Klerikalismus, in der nationalen Ikonologie der Deutschen nicht fehlen. Daß aber in Frankreich zu jener Zeit das Bild des Juden schlechthin geschaffen wurde, erwähnt Wolff nicht, wie er auch nie auf sein eigenes Judentum zu sprechen kam. Von 1942 bis 1943 schrieb er in der französischen Emigration, in Nizza seine Abhandlung Die Juden, in der er die historische Wurzel des Antisemitismus darzustellen sucht. 5 Geplant hatte Theodor Wolff sein Werk als Trilogie; zwei Teile Die Deutschen und Die Franzosen sollten folgen. Doch Theodor Wolff kam 1943 in den Händen der Gestapo um.

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Zur Geschichte der französischen Rezeption der Dreyfus-Affäre verweise ich auf das Buch von Stephen Wilson: Ideology and Experience. Antisemitism at the Time of the Dreyfus Affair. London, Toronto 1982 und auf das Buch von Jean-Denis Bredin: L'Affaire. Paris 1983. Theodor Wolff: Die Juden. Ein Dokument aus dem Exil. Hg. und eingeleitet von Bernd Sösemann. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag Athenäum 1984.

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In der Strafkolonie 1919 erschien Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie. Sie stellt einen Verurteilten dar, der, auf die entlegene Insel eines Kolonialreichs verbracht, Anklage und Urteil nicht erfährt, und der mit einer ausgeklügelten Maschine gefoltert wird, deren Nadeln eine Schrift immer tiefer in den Körper gravieren, bis der Verurteilte stirbt. Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht ist, wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, daß sie nur knapp mit den Spitzen den Körper berührt; ist die Einstellung vollzogen, strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange. Und nun beginnt das Spiel. Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich keinen Unterschied in den Strafen. Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde die Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht, die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielen Versuchen gelungen. Wir haben eben keine Mühe gescheut. Und nun kann jeder durch das Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper vollzieht. 6

Die Schrift ist für Uneingeweihte nicht lesbar, doch als Tortur umso spürbarer; das Urteil bleibt unausgesprochen und wird sogleich vollstreckt. Der Offizier erklärt dem Forschungsreisenden: Ich bin hier in der Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand auch dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne auch den Apparat am besten. Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos. 7

Der Leser nimmt das Gerät aus der Perspektive des Offiziers und Richters wahr, muß aber immer auch dem verwunderten Blick des fremden Reisenden folgen, dem das Hinrichtungsinstrument fremd und archaisch anmutet. Er soll der Hinrichtung beiwohnen und vereitelt durch seine bloße Skepsis für diesmal den Tod eines Verurteilten, während der Offizier, der Verfechter der Tötungsmaschine, bei der Demonstration des Gerätes aufgespießt wird und umkommt. Kafka variiert in dieser Erzählung sein Grundthema der schuldlosen Schuld; doch wer sich an das berühmte bordereau erinnert, jenes Schriftstück, das zu Dreyfus' Verurteilung führte, wer Dreyfus' Bericht in Cinq années de ma vie über die Bedingungen seiner Haft auf der Teufelsinsel der Teufel hatte den Ort und das Klima ersonnen - über die anfangs ständig angelegten Ketten, die ins Fleisch schnitten, die Begleitumstände seiner

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Franz Kafka: In der Strafkolonie. In: ders., Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1977, Bd 4, S. 151-177, hier S. 157f. Ebd., S. 156.

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Verurteilung, deren gefälschte Indizien dem Angeklagten nicht gezeigt wurden, neben Kafkas Text hält, wird weitreichende Übereinstimmungen entdecken. Kafka hat, hier wie anderswo, Verweise auf ein historisches Ereignis getilgt, was erst so viele Lesarten auch dieser Erzählung nach sich zog. Sie bleibt, was historische Vorlagen, moralische Erwägungen, technische Darstellungen angeht, mehrdeutig - wir wissen am Ende nicht, ob die Empörung über die inhumane Folter die Oberhand behält oder ob diese Folter fortgeführt wird. Kafkas Erzählung handelt von einem Thema: der Deportation des Menschen. So hat Walter Müller-Seidel sein Buch genannt, in dem er Kafkas In der Strafkolonie in den europäischen Kontext stellt.8 Denn die Deportation war um die Jahrhundertwende ein vielfach diskutiertes Strafmaß. MüllerSeidel analysiert darüber hinaus die Einflüsse der russischen Literatur, auch Octave Mirbeaus Le Jardin des Supplices (1899), eine wichtige literarische Quelle für Kafkas Darstellung. Aber Kafka war, wie Walter Müller-Seidel zeigt, vor allem mit der rechtstheoretischen wie praktischen Seite der deportano in insulam vertraut, wie die Formel des römischen Rechts lautet. Sein akademischer Lehrer Hans Groß hatte 1904 einen Artikel über Die Deportation und das Strafrecht veröffentlicht, und einer der Gutachter seiner juristischen Dissertation an der Prager Universität war Alfred Weber, dessen Aufsatz Der Beamte aus der Neuen Rundschau von 1910 bis in wörtliche Entsprechungen Teil von Kafkas Erzählung In der Strafkolonie wurde. Der 'Apparat' ist bei Weber die Hierarchie des Beamtentums und der Bürokratie. 9 Daß in Strafkolonien der Offizier das Richteramt in Personalunion ausübte, war Allgemeingut der rechtswissenschaftlichen Literatur; in Kafkas Erzählung kommt das Amt des Henkers mit hinzu. In diesem weiten historischen Kontext ist die Dreyfus-Affäre nur ein Element unter anderen10, freilich ein Schlüsselelement, wie Sander Gilman noch einmal gezeigt hat 11 .

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Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart: Metzler 1986. Diese eingehende Studie faßt den Forschungsstand sehr gut zusammen. Astrid Lange-Kirchheim hat diese Entsprechungen gezeigt; dies., Franz Kafka: In der Strafkolonie und Alfred Weber: Der Beamte. In: Germanisch Romanische Monatsschrift, Jg 27(1977), S. 202-221. Hierzu Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen (wie Anm. 8), S. 112: "Was geschildert wird, ist europäische Wirklichkeit jüngsten Datums. Kaum zwanzig Jahre lagen zurück, als eine hinter verschlossenen Türen tätig gewesene Militärgerichtsbarkeit die Deportationsstrafe über den französischen Hauptmann Dreyfus verhängt hatte." Über Jahre hinweg war Dreyfus gewiß der bekannteste Deportierte. Sander L. Gilman: Dreyfusens Körper - Kafkas Angst. In: Dreyfus und die Folgen (wie Anm. 2), S. 212-233.

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Varianten der Rezeption Die beiden Geschichten könnten kaum unterschiedlicher sein: Dort der journalistische Bericht, der das Zentrum der Affäre auf 'die Franzosen' verschiebt, hier die anspielungsreiche Erzählung, die das Zentrum auffächert, es mehrdeutig macht. Sie verbindet allein der Bezug auf Alfred Dreyfus, einmal der direkte Bezug, das andere Mal die vermittelte Anspielung. Die deutschsprachige Rezeption der Dreyfus-Affäre läßt sich nach ihren verschiedenen Facetten auffächern: den moralischen, juristischen, politischen Argumenten, den vermeintlichen Indizien, die für oder die gegen Dreyfus sprechen, nach den unterschiedlichen Formen, die die Argumentationen annehmen, Abhandlungen, offene Briefe, Pamphlete, vor allem aber Karikaturen und Zeitungsartikel, die am nachhaltigsten mit schroffer Feder das Bild von Dreyfus zeichnen. Der Philosoph Hermann Cohen etwa überträgt die Affäre in Begriffe, die ihm seine ethische Konzeption nahebringen, in eine alles überwölbende erste Person Plural. Er schreibt im Juni 1899 über Unsere Ehrenpflicht gegen Dreyfus: Möge die Teilnahme, welche die ganze sittliche, von dem Religionshaß nicht verderbte Welt in einer so anhaltenden Spannung der Gemüter dem Manne auf der Teufelsinsel geschenkt hat, auch die Treuen unter uns mit der Hoffnung [...]: der alte Gott, der Erlöser Israels, der Hüter Israels, er schläft und schlummert nicht. Unser Gott, der Gott unserer Väter, ist der Gott der Propheten, welche die erhabenste, die umfassendste Sittlichkeit der Welt geschaffen haben: die Sittlichkeit der Weltgeschichte, die Sittlichkeit der Menschheit, die Sittlichkeit einer Weltreligion, die Sittlichkeit der Erlösung. 1 2

Für Walther Rathenau wird die Gestalt Alfred Dreyfus zum Spiegelbild in der Selbstvergewisserung des Judentums, seines Judentums. Sein Aufsatz Höre Israel13 von 1897 greift ein Grundelement der Dreyfus-Affäre auf und verstärkt es - das Sichtbarmachen des Judentums in der Physiognomie, im Körperbau, in der Art und Weise zu gehen. Wir können eine ausdrückliche, ausgesprochene, deutliche Rezeption von einer weniger deutlichen, impliziten, doch nicht minder nachhaltigen Rezeption unterscheiden. Beide Rezeptionsmodi bedingen einander, wirken aufeinander, überlagern sich, so daß es am angemessensten ist, von zwei Schichten zu sprechen. Stehen für die erste, die exoterische Rezeptionsschicht die historische Gestalt Alfred Dreyfus, die tatsächlichen Peripetien seines Prozesses im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so sind es für die esoterische Schicht Nachwirkungen, Fragen der Kausalität, Hypothesen, Generalisierungen, durch wel12

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Hermann Cohen: Unsere Ehrenpflicht gegen Dreyfus. In: ders., Jüdische Schriften. 3 Bde. Hg. v. Bruno Strauß. Berlin: C. A. Schwetrunke & Sohn 1924. Bd II, S.346-351, hier S. 351. Walther Rathenau (unter dem Pseud. W. Hartenau): Höre Israel. In: Die Zukunft, Jg 18 (1897), S. 454-462.

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che die singulare Gestalt zu einem Paradigma des modernen Judentums wird. Die Dreyfus-Affare wird nicht nur als historisches Ereignis wahrgenommen, sondern ebenso als Chiffre, als Symbol in der Vergewisserung der eigenen Situation. Mehrdeutig war die Dreyfus-Affare von Beginn an - der juristische Fall war ein politischer; die nationale Angelegenheit hatte internationale Konsequenzen. Aber die Auflösung und Vermischung der Kategorien reicht noch weiter. Dietz Bering hat in seiner Geschichte eines Schimpfwortes die Entstehung des Wortes Die Intellektuellen auf die Dreyfus-Affare datiert14. Das Wort kam am Ende des 19. Jahrhunderts rasch von Frankreich nach Deutschland. Mit ihm verband (oder verbindet) man Bedeutungen wie abstrakt und instinktlos, antinational, dekadent. Vor allem aber wurde es ein Synonym für 'Juden'15. Wer aber wen als Intellektuellen und damit als Juden bezeichnete, läßt sich nicht eindeutig ausmachen; die politische Rechte nannte die literarische Linke so, im Gegenzug rühmten konservative Schriftsteller sich, Intellektuelle zu sein. Der Begriff des Intellektuellen läßt um die Jahrhundertwende jede definitorische Trennschärfe vermissen; er gleicht in seiner, wie Dietz Bering es nennt, ideologischen Polysemie einem Mobile, das der politische Wind bewegt; die jeweilige Blickrichtung ergibt erst die vorläufig geltende, wankelmütige Bedeutung des gleichen Worts. Der Analogisierung von Intellektuellen und Juden arbeitet um die Jahrhundertwende eine semantische Schwäche im Begriff des 'Juden', des 'Jüdischen' entgegen, Begriffe, die ganz Unterschiedliches bezeichnen konnten, deren Konnotationen willkürlich wurden. Jacques Le Rider hat es für die Wiener Moderne gezeigt, Shulamit Volkov die grundlegende Begriffsverschiebung unter dem Titel Die Erfindung des modernen Judentums dargestellt.16 Die Jahrhundertwende ist eine Ära begrifflicher Neuschöpfungen, rasch aufblühender Kunstworte, wetteifernder Benennungen für Stile, Bauformen, Krankheiten, für soziale Phänomene, technische Entdeckungen, die sich ebenso rasch verflüchtigen wie sie entstehen, eine "Zeit der anderen Auslegung", wie Rilke sie in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nennen wird17. 14

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Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart: Klett-Cotta 1978. Hierzu ausführlicher Thomas Sparr: Zur Begriffsgeschichte des Intellektuellen. In: Die Intellektuellen und die nationale Frage. Hg. von Gerd Langguth. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1997, S. 17-30. Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne. Aus dem Französischen übersetzt von Robert Fleck. Wien: ÖBV Pädagogischer Verlag 1990 und Shulamit Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Historische Zeitschrift, Jg 253 (1991), S. 603-628. Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden. Frankfurt a. M.: Insel 1992, Bd 3. S. 156: "Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen."

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Thomas Sparr

Ich möchte der vermittelten, esoterischen Rezeption der Dreyfus-Affare in zwei Varianten nachgehen: dem tief versteckten Modell einer Grunderfahrung, der Walter Benjamin bei der Lektüre von Prousts Werk inne wurde; und einer verborgenen Tradition, die Hannah Arendt in den dreißiger Jahren freizulegen suchte und die ihren entscheidenden Impuls von der Affäre empfing.

Das tief versteckte Modell einer Grunderfahrung Während der Lektüre von Prousts Sodome et Gomorrhe äußert Walter Benjamin "das ist es nicht". Es ist das lakonische Fazit der Auseinandersetzung mit seinem eigenen Judentum. Benjamin zitiert den Satz aus Adornos Aufsatz über George und Hofmannsthal und schreibt ihm im Mai 1940, anderthalb Jahrzehnte nach seiner Arbeit an der Übersetzung, nur wenige Monate vor seinem Tod: Sie haben natürlich Recht an Proust zu erinnern. Ich habe mir in der letzten Zeit meine eigenen Gedanken Uber das Werk gemacht; und wieder einmal trifft es sich, daß sie sich mit den Ihren begegnen. Sehr schön sprechen Sie von der Erfahrung des 'das ist es nicht' - eben der, die die Zeit zu einer verlorenen macht. Mir will nun scheinen, daß es ein tief verstecktes (aber nicht darum auch unbewußtes) Modell dieser Grunderfahrung für Proust gegeben habe: nämlich das 'das ist es nicht' der Assimilation der französischen Juden. Sie kennen die berühmte Stelle in 'Sodom[e] et Gomorrhe', an der die Komplizität der Invertierten mit der besonderen Konstellation verglichen wird, die das Verhalten der Juden untereinander bestimmt. Gerade, daß Proust nur Halbjude war, konnte ihn zu Einblicken in die prekäre Struktur der Assimilation befähigen; eine Einsicht, die ihm durch die Dreyfuscampagne von außen nahe gelegt worden ist. 1 8

Die Beschäftigung mit Proust wird für Benjamin zum Medium der Selbstvergewisserung. Benjamin hat sich Proust dreifach genähert: als Kritiker, als Übersetzer, als Autor. Man hat den Begriff der Annäherung wörtlich zu nehmen; denn so intensiv Benjamins Lektüre auch war, so schwer hat er sie Gestalt annehmen lassen. Er fühle, so schrieb er in einem Brief, von Zeit zu Zeit innere Vergiftungserscheinungen bei einem Autor, der ihm so nahe komme. 19 Benjamin hatte die Absicht, zusammen mit Franz Hessel alle Bände der Recherche zu übersetzen; seine Übersetzung von Sodome et Gomorrhe muß als verloren gelten, Im Schatten der jungen Mädchen und Guermantes liegen in der Gesamtausgabe von Benjamins Schriften vor. Benjamins Übersetzung beharrt, im Unterschied zu der von Eva Rechel-Mertens, die dreißig Jahre später erscheinen wird, auf der französischen Idiomatik. 18

19

Aus Benjamins Brief an Adorno vom 7. Mai 1940. In: ders., Briefe. Hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966, S. 852f. Benjamin an Scholem am 18. September 1926. In: Benjamin, Briefe (wie Anm. 18), S. 431.

Dreyfus in Deutschland

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Die deutsche Proust-Forschung, schreibt Benjamin 1929 an Max Rychner, würde sehr viel anders aussehen als die französische: "In Marcel Proust lebt doch noch so viel größeres und wichtigeres als der 'Psychologe', von dem in Frankreich, so viel ich sehe, fast ausschließlich die Rede ist." 20 Das Größere und Wichtigere, für das Benjamin einen Anfang setzen wollte, war Proust als Chronist, der psychologische Gesetzmäßigkeiten mit ihrem historischen Stellenwert versieht. Die deutsche Proust-Rezeption gründet nicht allein in der Philologie. In ihr wird der Schlüsselbegriff der deutsch-jüdischen Geschichte, der Begriff der Assimilation, neu entfaltet - als brennendes Problem der Gegenwart. Die Proust-Rezeption bedeutet Geschichtsschreibung mittels der Philologie; das macht ihren Reichtum aus, wie es methodische Probleme schafft. Walter Benjamins Fazit aber "das ist es nicht" geht nicht in seinen Aufsatz Zum Bilde Promts ein - wie sich der Kritiker Benjamin überhaupt weithin Reflexionen über das Judentum enthielt - , sondern bildet an einer Schlüsselstelle seines literarischen Werkes das Modell einer tief versteckten Grunderfahrung. In der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, die im Bann von Prousts Recherche steht und sich doch im Zeitbegriff, in der Form der Erinnerung von ihr unterscheidet, gibt es ein einziges Prosastück, in dem Benjamin oder sein episches Ich vom eigenen Judentum handelt. Benjamin schildert darin das "Erwachen des Geschlechtstriebs unter den sonderbarsten Umständen" 2 1 . Die Eltern schickten das Kind an Rosh ha-Shana zur Reformsynagoge; doch das Kind findet den Verwandten nicht, der es begleiten soll. Allein in die Synagoge zu gehen, traut sich das Kind, "voller Argwohn gegen die religiösen Zeremonien, die nur Verlegenheit in Aussicht stellten" 22 , nicht. Und in der Verlegenheit, dem Mißtrauen, der Scham ereignet sich etwas Unerwartetes: D a überkam mich, mitten in meiner Ratlosigkeit, mit einem Male eine heiße Welle der Angst - 'zu spät, die Synagoge ist verpaßt' - , noch ehe sie verebbt war, ja genau im gleichen Augenblicke aber eine zweite vollkommener Gewissenlosigkeit - 'das alles mag laufen wie es will, mich geht's nichts an1. Und beide Wellen schlugen unaufhaltsam im ersten großen Lustgefühl zusammen, in dem die Schändung des Feiertags sich mit dem Kupplerischen mischte, die mich hier zuerst die Dienste ahnen ließ, welche sie den erwachten Trieben leisten sollte. 2 3

Der Text fand einen gestrengen Leser in Gershom Scholem, der dem Freund riet, das Stück herauszunehmen. Es sei das einzige, das sich auf Jüdisches be2

" Aus Benjamins Brief an Max Rychner vom 15. Januar 1929. In: Benjamin, Briefe (wie Anm. 18), S. 486. 21 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In: ders.. Gesammelte Schriften. Bd IV. 1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S.251. 22 Ebd. 23 Ebd.

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Thomas Sparr

ziehe; dadurch entstünde eine schiefe Assoziation. Würden auch andere Stücke seine jüdischen Erfahrungen zur Sprache bringen, sei nichts gegen die Aufnahme zu sagen. In dieser Isolation aber stünde das Stück 'falsch' dar. Benjamin gab Scholem Recht und sah ein, daß es 'das' nicht ist.24 Die Verknüpfung von eigenem Judentum und erwachender Sexualität hat etwas Willkürliches. Das isolierte, willkürlich assoziierte Stück blieb durch ein editorisches Mißgeschick in der Berliner Kindheit. Theodor W. Adorno nahm es bei der späteren Edition des Bandes 1950 nicht heraus, weil ihm Benjamins Widerruf in doppeltem Sinn unbekannt blieb.25 'Erwachen des Sexus' zeigt jene willkürliche Assoziation des Begriffs vom Judentum, die für die Dreyfiis-Ära kennzeichnend wurde. Benjamins Text weist noch eine zweite Besonderheit auf: Das Judentum wird körperlich erfahren, die Entfremdung von ihm als leibhaftige Erschütterung. Das Motiv des körperlich erfahrenen Judentums - der anfallenden Fremde, des unbegreiflichen Chocs, der Verletzung, Auflösung oder Versehrtheit - finden wir in vielen Bildern Kafkas, in denen der Körper als lebloser Gegenstand erscheint, bei Proust in den Motiven der Maske und Verstellung, mit denen er seine jüdischen Kunstfiguren versieht, bei Hannah Arendt in ihrer Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik über Rahel Varnhagen zitiert sie wie ein Leitmotiv deren Satz "unsre Krankengeschichte ist allein unsre Geschichte" und entfaltet eine körperliche Symptomatik der "Verblutung", einer natürlichen Fatalität wie Klumpfuß und Buckel.26 Das Judentum erscheint aus diesem Blickwinkel zuallererst als körperlicher Zustand. Doch von welchem Begriff des Judentums sprechen wir hier? Es ist ein 'dejudaisiertes Judentum'. Diesen Begriff prägte der holländische Schriftsteller und Literaturhistoriker Siefried J. van Praag 1937 in der Revue Juive de Genève, der Marcel Proust als "Témoin du Judaïsme dejudaisé", als "größten Schilderer der Assimilation" darstellte27. Der Begriff eines 'dejudaisierten Judentums' ist paradox, weil das Attribut das Substantiv zurücknimmt, etwas logisch Unhaltbares, das doch seine Berechtigung erweist. Proust schildert ein Judentum, das nicht weiß, was sein Judentum ausmacht. Die logische Paradoxie ist eine historische, die van Praag auf den Begriff gebracht hat. Zu diesem 'dejudaisierten Judentum' steht Gershom Scholem in schärfstem Kontrast. Sein Lebenswerk steht im Zeichen eines, wenn man das sagen darf,

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25

26

27

Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940. Hg. von G. Scholem. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1980, S. 35f. Siehe Scholems Brief an Adorno vom 5. Januar 1951. In: ders., Briefe II. 1948-1970. Hg. von Thomas Sparr. München: C. H. Beck 1995, S. 23 und 237f. Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper Verlag 1959. Das Buch erschien auf englisch 1958. Siegfried Jean van Praag: Marcel Proust. Témoin du Judaisme déjudaisé. In: Revue Juive de Genève 1937, S. 338-347, 388-393 und 446-454.

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rejudaisierten, eines aus verkannten, entlegenen Quellen restituierten Judentums. Die Dreyfus-Affäre wurde niemals Gegenstand seiner Überlegungen, in seinen Schriften so wenig wie in seinen Tagebüchern oder Briefen, die jetzt herauskommen, während sie die Mitte von Benjamins Erfahrung seines Judentums bildet. Diese Erfahrung aber war zu ambivalent, als daß sie sich als dejudaisiertes Judentum bezeichnen ließe. Von den gänzlich anderen Voraussetzungen her mußte Scholem in der Berliner Kindheit falsch erscheinen, was auch Benjamin nicht richtig erschien und doch als Erfahrung unausweichlich war. Ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Freundes sagt Scholem, Benjamin habe sich sein Leben lang dem Judentum asymptotisch genähert 28 , es also betrachtet, doch nie erreicht, wofür Benjamin selbst die Wendung fand: "das ist es nicht".

Die verborgene Tradition Der erste Aufsatz, den Hannah Arendt 1942 in Amerika veröffentlichte, hieß From the Dreyfus Affair to France Today. Das Thema hatte Arendt aus dem Exil in Frankreich mitgebracht, wo sie in den dreißiger Jahren lebte. Sein erster Entwurf aber reicht weiter in jene Zeit zurück, da die junge Philosophin an ihrem Buch über Rahel Varnhagen arbeitete. Und dieser Aufsatz weist weit voraus: Er bildet das Schlüsselkapitel ihres Hauptwerkes The Origins of Totalitarism, das 1951 in New York erschien. Die neuere Geschichte der Juden sei nicht zu begreifen, wenn man in sie nicht die Veränderung einbezieht, welche die jüdische 'Selbstinterpretation' im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren habe. Als Wendepunkt in der Geschichte der Selbstinterpretation sieht Arendt die Dreyfus-Affäre, die das Bild - das Selbst- wie Fremdbild - von Juden veränderte. Sie gehe weit über die politische Affäre hinaus und erzwinge so auch eine andere Analyse. Es sei fraglich, ob eine nur politisch motivierte Bewegung diese passionierte, verrückte Jagd auf den 'Juden überhaupt', den 'Juden überall und nirgends' zustande gebracht hätte. Für die Analyse der gesellschaftlichen Faktoren seien wir auf das Werk von Schriftstellern angewiesen. Marcel Proust gibt denn auch Hannah Arendt ihren Begriff vom assimilierten als einem 'dejudaisierten Judentum' vor: Dieses Bemühen, Juden zu bleiben und sich doch vom 'Juden überhaupt' zu unterscheiden, hat dem assimilierten Judentum seinen Stempel aufgedrückt und das hervorgebracht, was man einen jüdischen Typus nennen könnte, eine Menschenart mit bestimmten, festgelegten psychologischen Problemen und gesellschaftlichem Benehmen. Juden hörten für ihre Umwelt w i e für ihr eigenes Bewußtsein auf,

28

Gershom Scholem: Walter Benjamin. In: ders., Judaica 2. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp, 263), S. 193-227, hier S. 226.

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Menschen einer bestimmten Herkunft, einer bestimmten Religion zu sein, und wurden statt dessen Menschen mit bestimmten Eigenschaften, die man jüdisch nannte. Judentum wurde zur Jüdischkeit, einer psychologischen Qualität, die Judenfrage zu einem individuellen Problem. 2 9

Das ist eine angemessene Lesart von Prousts Recherche. Aber darf sich darin die Analyse des zeitgenössischen Judentums oder auch nur die Geschichte der Assimilation erschöpfen? Hannah Arendt schafft in ihrem wohl bekanntesten Aufsatz Die verborgene Tradition30 eine Typologie von Juden - als Paria und Parvenu, als Schlemihl und Traumweltherrscher - , indem sie literarische Muster auf die historische Wirklichkeit übertrug, darüber aber ihren Kunstcharakter vergaß. Der verborgenen Tradition begegnet sie durch überdeutliche Charaktere. Das macht die Kategorie des Verborgenen so schwer bestimmbar, das schafft jene eigentümliche Starre in ihrer Charakterologie. Benjamins "das ist es nicht" weicht bei Hannah Arendt einem "das sind sie", eben jene jüdischen Charaktere, die sie bei Heine, bei Kafka, bei Bernard Lazare oder bei Charlie Chaplin aufdeckt, dem katholischen Iren, der Arendt so jüdisch erschien, daß er ein Charaktertypus vom Juden wurde: "Der Suspekte" 31 . Dreyfus wird in der Geschichte der jüdischen Selbstinterpretation seit der Jahrhundertwende zum entscheidenden Bezugspunkt: Dreyfus war das Modell, nach welchem man das Bild des modernen Juden schuf, als Fremdbild wie als Selbstbild. Anhand des Begriffs der 'Intellektuellen' sahen wir die schwankende, unsichere, schließlich willkürliche Bedeutungsbelehnung, die dem Begriff von 'Juden', von 'Jüdischem' um die Jahrhundertwende überhaupt widerfahrt. Die Geschichte der esoterischen Dreyfus-Rezeption, die das Exemplarische vor dem Singulären, die die Auswirkungen der Affare vor der historischen Rekonstruktion sieht, ist eine Geschichte der Selbstdeutungen von Juden in Deutschland: als tief verstecktes Modell einer Grunderfahrung bei Benjamin, als verborgene Tradition einer Kunstfigur des Paria bei Hannah Arendt. In den Schlüsselwörtern des Versteckten, Verborgenen berührt sich die indirekte, vermittelte Lesart der Dreyfus-Affare mit der exoterischen, die sich unmittelbar auf das historische Ereignis bezieht und die immer wieder von der Desillusionierung und Enttäuschung handelt.

29

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 3. Aufl., München: Piper Verlag 1993, S. 128. 30 Dies., Die verborgene Tradition. Heidelberg 1948. 3 ' Im Anschluß an Hannah Arendt führt das von Julius H. Schoeps herausgegebene Neue Lexikon des Judentums, München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1992, Chaplin als "Sohn einer nach Großbritannien ausgewanderten ostjüdischen Familie" auf.

Hanni Mittelmann

Jüdische Expressionisten: Identität im Aufbruch Leben "im Aufschub"

Niemand wird geboren, ehe nicht von ihm geboren wird. Er bleibt Gespenst, seine Geburt war kein Anfang, und der Tod hat da nichts zu beenden. Das ist unsere Sternenfreiheit - und des Scheinlebens gleich ewige Gefahr. Aber der Gefahr spottet jede Dichtung und verkündet: Wir selbst bringen uns hervor!1 "Wir selbst bringen uns hervor" - dieser Satz aus der Biographie Alfred Wolfensteins in Kurt Pinthus' berühmter Menschheitsdämmerung könnte als das Motto gelten fur die gesamte expressionistische Bewegung. Insbesondere aber scheint es für die jungen Juden dieser Generation zu gelten, die ja so zahlreich in dieser Bewegung vertreten waren. Im Rahmen der expressionistischen Revolte gegen die Verbindlichkeit geltender Werte, Traditionen und Bilder der Vätergeneration kämpften die jüdischen Expressionisten den Kampf um Selbst- und Neubestimmung an zwei Fronten: gegen antisemitische Diffamierungen und Stereotypisierungen durch die deutsche Gesellschaft sowie gegen die Rollenzuweisungen und Identitätsmuster und -Interpretationen, die ihnen von der jüdischen Gemeinschaft aufgezwungen wurden. Völlig säkularisiert und weitgehend akkulturiert, fühlten sie sich der jüdischen Tradition entfremdet, die ihnen durch die rabbinischen Interpretationen ihrer sozialen, ethischen und spirituellen Relevanz entleert zu sein schien und ihren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht mehr genügte. Bereitete die expressionistische Revolte den Boden fur den Versuch der jungen Juden, zu einem neuen Selbstverständnis zu kommen, so spielte dabei auch die mit dem Namen Martin Buber verbundene 'Jüdische RenaissanceBewegung' eine bedeutende Rolle. Diese Bewegung, die sich um die Jahrhundertwende unter dem Einfluß der deutschen kulturellen und nationalistischen Erneuerungsbewegungen formiert hatte, propagierte die Neubesinnung auf jüdische Kulturwerte und entwickelte eine breitangelegte humanistische Interpretation jüdischer Religionstraditionen, in der sich viele junge Juden gleich welcher religiöser oder ideologischer Ausrichtung wiederfinden konnten. Die Stärkung von Selbstgefühl und Selbstachtung, die die jüdische Renaissance-

Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu hg. von Kurt Pinthus. Hamburg: Rowohlt 1959 ( D e u t s c h e Literatur, 4 . R o w o h l t s Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, 5 5 / 5 6 ) , S. 365.

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Mittelmann

Bewegung einleitete, beeinflußte denn in nicht geringem Maße die Selbstbestimmungsversuche der expressionistischen Generation. Ein repräsentatives Beispiel für die neue Selbstwahrnehmung der jüdischen Expressionisten stellt der von Gustav Krojanker herausgegebene Band Juden in der deutschen Literatur dar, der im Jahre 1922 erschien 2 . In diesem Band wird mit dem zu dieser Zeit noch herrschenden Tabu gebrochen, sich mit jüdischer Wesensart in aller Öffentlichkeit auseinanderzusetzen, was, wie Krojanker in seinem Vorwort bemerkt, von den meisten deutschen Juden bisher deshalb vermieden worden war, weil jüdisches Wesen als ein Komplex von nicht nur andersartigen, sondern vor allem minderwertigen und verderblichen Eigenschaften so laut und verletzend dargestellt worden [ist], daß er [der Jude], der sich die Werte nicht setzt, sondern von außen bezieht, es ängstlich vermeidet, Dingen nachzugehen, als deren Resultat er von vornherein den Beweis seiner Drittrangigkeit und die Rechtfertigung seines Ausgeschlossenseins erwartet.3 Der Essay-Band bricht auch noch mit einem weiteren Tabu, indem er nämlich das Wesen des Juden als "ein Unterschiedliches" betrachtet - was bis dahin, wie Krojanker es formuliert, nur für die vorbehalten war, die "die Geschäfte einer finsteren Reaktion" betrieben 4 . Die Frage nach dem Unterschiedlichen des jüdischen Wesens, die bisher "vorwiegend dem Antisemitismus überlassen worden" war 5 , wird nun von jüdischen Dichtern selbst gestellt und am Werk ihrer jüdischen Kollegen untersucht. Diesmal aber - und das mag vielleicht der wichtigste Aspekt des Krojanker-Bandes sein - wird die Bestimmung der jüdischen Wesensart nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der identitätsverleugnenden Assimilation unternommen, sondern unter dem Gesichtspunkt der "gesellschaftlichen Integration des kulturell Eigenständigen" 6 . Gefordert wird nun "die Gleichberechtigung der Juden nicht als Menschen, sondern der Juden als Juden" auch im ästhetischen Bereich 7 . Selbst in den Essays dieses Bandes jedoch verläuft die Erfassung jüdischer Wesensart in Kategorien, die traditionellerweise als Grundbedingungen jüdischer Existenz angesehen werden: Exil, Diaspora und Erlösung, die wiederum gewöhnlich von jüdischer wie nicht-jüdischer Seite als Chiffren verwendet werden für die nationale, soziale und ästhetische - ja sogar physiognomische -

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Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hg. von Gustav Krojanker. Berlin: Welt-Verlag 1922. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. S. 9. Siehe dazu: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1933. 1910-1920, Expressionismus. Mit Einleitung und Kommentar hg. von Thomas Anz. Stuttgart: Metzler 1982, S. 375. Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 9.

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Befindlichkeit des Juden. Was nun im folgenden untersucht werden soll, ist, ob und inwiefern es den jüdischen Expressionisten gelungen ist, diese traditionellen Referenzkategorien wider den Strich zu lesen und zu neuen Deutungen der jüdischen Identität und ihrer Konturierung in ihren literarischen Werken zu gelangen. Das jüdische Konzept des Exils als Bezugsrahmen für das Schicksal von Vertreibung, Verfolgung und Isolation, das Juden Jahrhunderte hindurch immer wieder erfahren haben, wird von den jüdischen Expressionisten verwendet, um ihre doppelte Außenseiterexistenz als Juden und avantgardistische Intellektuelle und Künstler zu begreifen. Dabei wird jedoch das Konzept des Exils nicht mehr im ursprünglichen religiösen Kontext verstanden als Ausdruck der Strafe Gottes für die Sünden des jüdischen Volkes. Vielmehr wird es nun rein säkular und universalistisch als das Schicksal aller unangepaßten Individuen gesehen, die, jeder Macht verdächtig, von der Gesellschaft verbannt werden. Außenseiterfiguren, Erniedrigte, Beleidigte, Verfemte und Verachtete, Künstler, Irre, die Armen der Armen, denen wir so häufig in der expressionistischen Literatur begegnen, werden zu Chiffren fur die exilische Existenz des jüdischen Intellektuellen in Deutschland, wie sich umgekehrt deutsche Dichter und Intellektuelle nicht-jüdischer Herkunft in ihrer Außenseiterposition in der deutschen Gesellschaft in Begriffen jüdischen Schicksals beschreiben. So Otto Flake in einer Rezension: "Wir Intellektuelle teilen im jetzigen Deutschland das Los der Juden, außerhalb zu stehen, geistig heimatlos zu sein, keine Gemeinschaft mit dem zu haben, was als nationales Denken gilt." 8 Man bemüht sich nun um eine neue Perzeption gerade der normabweichenden und der pathologischen Typen. So schreibt Wieland Herzfelde in einem Begleitbrief zu seinem in der Aktion veröffentlichten Artikel Die Ethik des Geisteskranken: Ich bin [...] der Meinung, daß das Thema, wie ich es auffasse, weder mit Wissenschaft noch mit Kunst unmittelbar etwas zu tun hat. Ich möchte es sozial nennen, denn es handelt von den Lebensverhältnissen eines Teiles der Menschheit. Es ist meiner Ansicht nach nicht nur wichtig, wie diese sind, sondern auch, wie sie gewertet werden [...]. Es wäre ein Fortschritt unserer Kultur, wenn wir uns den Wahnsinn weniger schrecklich und mehr unfaßbar vorzustellen lernten. Es wäre außer einer Verfeinerung unserer Ethik eine Erleichterung des sozialen Gewissens. 9

Die gebrochenen, normabweichenden Typen, die in der expressionistischen Literatur dargestellt werden, erscheinen in ihrer Leidensfähigkeit, inneren Gespaltenheit und Unangepaßtheit an die bürgerlichen Maßstäbe des 'Normalen'

8 9

Otto Flake: Die großen Worte. In: Der neue Merkur, Jg 4 (1920/21), S. 72. Wieland Herzfelde: Die Ethik des Geisteskranken. In: Die Aktion, Jg 4 (1914), Sp. 298302, Manifeste, S. 186.

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als menschlicher und natürlicher als die 'ganzheitlichen', ungebrochenen Helden, die in der völkischen Heimatkunst dieser Zeit dem Bürgertum vorzelebriert werden. Wie Albert Ehrensteins Tubutsch, der sich in totaler Isolation durch die Straßen Wiens treibt, enthüllen diese Außenseiterfiguren mit ihrem oft ironischen Blick und sarkastischen Witz eine Welt von so gähnender Langeweile und bedrohlicher Leere, daß, um mit Tubutsch zu sprechen, das "Fehlen irgendwelcher chaotischen Elemente" als "beklagenswert" empfunden werden muß 10 . Nicht der Sonderling Tubutsch, der mit Phantasie und Witz die Welt der bürgerlichen Normalität vergebens zum Schweben zu bringen versucht, erscheint hier als negativ. Subtil verschieben sich allmählich die Maßstäbe und Werte, so daß letztlich die "Leute, die mit moral insanity begnadet sind, Verbrecher, von dem großen Kannibalen Napoleon angefangen bis zu dem kleinen Kind, das eine Zwetschke stiehlt", als "von der Natur mit Recht begünstigte Wesen" 11 angesehen werden. Das Andersartige wird also nicht mehr als beschämend oder gar als bedrohlich empfunden dargestellt. Die exilische Außenseiterexistenz scheint sogar, in letzter Analyse, der 'Insiderexistenz' in einer belanglosen Bürgerwelt vorzuziehen zu sein. Der jüdische heimatlose Außenseiter befindet sich in guter expressionistischer Gesellschaft. Die folgenden ersten drei Strophen von Alfred Wolfensteins Gedicht Verdammte Jugend mögen als weiteres Beispiel dienen für die veränderte Perzeption exilischer Existenz: Von Hause fort, durch Straßen fort! Gekannt von nichts, von keinen Ort, Nur wie der Himmel rasch und hoch Durch fremden Lärm und ohne Wort! Wie schön allein, und dies verwühlt Und keiner drin, der mich befühlt, Der voll Verwandtschaft dumm und dicht In meiner Brust verhaßt sich sühlt! Hier ist nicht Heim, hier ist es auf, Nicht Liebe plump, nur Kampf und Kauf! Ah fließt die Straße strotzend aus Zu andern ein in riesigem Lauf! 12

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Albert Ehrenstein: Tubutsch. In: ders., Werke. Hg. von Hanni Mittelmann. Bd 2: Erzählungen. München: Boer 1991, S. 36. Ebd., S. 47. Alfred Wolfenstein: Verdammte Jugend. In: ders., Die gottlosen Jahre. Berlin: S. Fischer 1914, S. 31.

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Es ist ohne Frage ein freiwilliges Exil, das von dem rebellischen Protagonisten dieses Gedichts selbst gewählt wird. Aus der Vertreibung ins Exil wird hier Ausbruch aus unerträglich gewordenen Zwängen. Die Einsamkeit wird hier gesucht, sie ist befreiend. Zurückgewiesen wird die falsche Sicherheit und Geborgenheit der Heimat. Kritische Distanz wird eingenommen und auf völliger Eigenständigkeit und Selbstbestimmung seines Schicksals beharrt. Das Motiv des Ausbruchs aus gesellschaftlichen Zwängen und Deutungen ist natürlich weit verbreitet in der Literatur des frühen Expressionismus. Bei den jüdischen Expressionisten erhält es aber eine doppelte Bedeutung. Hier wird nämlich nicht nur die Geborgenheit in den sozialen und ästhetischen Deutungsangeboten der deutschen Gesellschaft abgelehnt, sondern auch die Sinn- und Geborgenheitsangebote der jüdischen Tradition. Jüdische Religionstraditionen, die, verwässert, entleert und daher unverständlich und inhaltslos geworden, von der assimilierten Vätergeneration an die Söhne weitergegeben wurden, waren nicht nur für Albert Ehrenstein "Gegenstände [...] schmerzlichen Ärgers und karikaturistischen Vergnügens" 13 . Bekannt ist der Vorwurf Kafkas gegen seinen Vater, daß dieser das "Nichts von Judentum, die paar Nichtigkeiten, die [er] im Namen des Judentums mit einer ihrer Nichtigkeit entsprechenden Gleichgültigkeit" ausführte 14 , seinem Sohn als verpflichtend auferlegen wollte. Die expressionistische Revolution gegen die Vätergeneration wird für die jüdischen Expressionisten auch zur Revolution gegen die Väterreligion. So erschlägt Ehrensteins Johann Ritter des Todes, der auszieht, das Neue zu suchen, und auf seinen Fahrten mit den alten Drachen überholter Denk- und Gefühlskonventionen kämpft, am Schluß den "Herrgott", der sich seiner "erbarmte" und "vom Himmel zu ihm herunter[kroch], um ihm das Neue zu sein. Da erschlug ihn der Ritter Johann des Todes und lachte herzhaft, wie er noch nie gelacht, daß der vom Himmel heruntergekrochen, um ihm das Neue zu sein [...]."15 In der Zerstörung sinnentleerter Traditionen ist aber immer auch bereits der Aufbruch zu neuen Deutungen und Sinngebungen enthalten. So suchte Kafka gerade jenes östliche Judentum wiederzuentdecken, das die Generation seines Vaters "um den Preis eines nahezu übermenschlichen Strebens nach Assimilation für immer zu vergessen sich gemüht hatte" 16 . Gerade das ursprüngliche, natürliche Judentum der Ostjuden, das die Vätergeneration für primitiv und

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Albert Ehrenstein: Zionismus. In: ders., Menschen und Affen. Berlin: Rowohlt 1925, S. 46. Siehe dazu: Stephane Moses: Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig, Walter Benj a m i n , Gershom Scholem. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1994, S. 189. Albert Ehrenstein: Johann Ritter des Todes. In: ders., Werke (wie Anm. 10), Bd 2, S. 14. "Herrgott" kommt im handschriftlichen ersten Entwurf der Erzählung vor. Im ersten Druck ändert Ehrenstein "Herrgott" um in "Teufel". Siehe dazu: Varianten zu den Erzählungen, ebd., S. 426. Moses, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 14), S. 189.

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rückständig hielt, übte nicht nur auf Kafka eine große Anziehungskraft und Faszination aus. So schreibt Albert Ehrenstein an Martin Buber, der ihm durch sein Werk die Welt des Chassidismus erschlossen hatte, daß er diese Welt "von Anbeginn, in jeder Form von Herzen gern bejahte", während er weiterhin eine tiefe "Aversion gegen den unduldsamen, überspanntprophetischen Geist" des alten Testaments beibehielt 17 . Die expressionistische Generation fand also gegen den Willen ihrer Väter den Weg zurück zu einem Judentum, das ihr, wenn auch in weitgehend säkularisierter Form, den ethischen und menschlichen Ursinn ihrer Religion neu erschloß. Es entsteht die eigentlich paradoxe Situation, daß gerade der Ausbruch aus dem alten Traditionsverständnis, das die Grundlage der Identität der Vätergeneration bildete, die Stärkung des jüdischen Selbstbewußtseins und der jüdischen Identität der jungen Generation zeitigte. So schreibt denn auch Wolfenstein in seinem Aufsatz Jüdisches Wesen und Dichtertum·. "Der Jude [...] will auch sein altes Schicksal nicht lassen, es segnete ihn denn." 18 So wie die jüdische Erfahrung des Exil eine neue Sinnbestimmung erfährt, so wird auch die Diasporaexistenz des Juden von der jungen Generation der jüdischen Expressionisten neu interpretiert und zur weiteren Grundlage eines neuen Selbstverständnisses gemacht. Die neue Auslegung der Diaspora muß zunächst auf dem Hintergrund der zu dieser Zeit um sich greifenden völkischen Ideologie gesehen werden, die versucht, eine deutsche nationale Identität zu kreieren, die den deutschen Juden wie auch die deutsche intellektuelle und künstlerische Avantgarde ausschließt. Die völkische Ideologie von Nationalstaatlichkeit und Bodenständigkeit wird jedoch von den Expressionisten als Gebundenheit in den gegenwärtigen repressiven Ordnungen begriffen, so daß Diaspora als "nicht besser und nicht einmal leidvoller [...] als Verwurzelung" erscheint 19 . Vor allem nach den Erfahrungen des Nationalwahnes, der den Ersten Weltkrieg ausgelöst hatte, erscheint die völkische Ideologie von nationaler Bodenständigkeit völlig diskreditiert. Zugleich wird aber auch die Ideologie des Zionismus von den meisten jüdischen Expressionisten aus den gleichen Gründen abgelehnt: "reales Erdreich" ist "Blutreich" 20 schreibt Ehrenstein, "Palästina ist nicht die Entelechie, sondern ein entbundener, überwundener Zustand. Sentimentaler Historizismus will neue Inzucht treiben, Blutschande mit dem Mutterlande." 21 Diaspora wird nun vielmehr bejaht und mit der säkularisierten Idee von der ethischen Mission der Juden verbunden, um deretwillen die Juden unter die Völker zerstreut wurden. "Deswegen", so schreibt Ehrenstein,

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Ehrenstein, Werke (wie Anm. 10), Bd 1 (1989): Briefe, Nr 165, S. 247. Alfred Wolfenstein: Jüdisches Wesen und Dichtertum. In: Der Jude, Jg 6 (1921/22), S. 430. Ebd.. S. 428. Ehrenstein, Zionismus (wie Anm. 13), S. 48. Ebd.. S. 49.

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möchte, all seiner Leiden unerachtet, ich den Juden, einen der besten Streiter für die Menschheit, aus dieser aufreibenden Dienstpflicht noch nicht in den vegetativen Ruhestand, in den nabelbeschaulichen, lebenfristenden Ackerbau entlassen, auf Milch und Honigflüssen dahinzutreiben. 2 2

"Höchste Potenz" und "messianisches Aufblühen" würde dem Judentum gerade dann versagt, wenn es sich "ländlich-unsittlich, quietistisch, allzu palästinensisch durchaus auf sich zurückzöge" 23 . Und Wolfenstein zelebriert die Ortlosigkeit und Zerstreuung der Juden folgendermaßen: Der Boden kann verloren gehen, das Geschick kann sich wütend immer wiederholen, weil man es nicht erkennt, ewige Zerstreuung, - Jerusalem kann wieder zerstört werden, die schwebende Sendung nicht. 2 4

Letzten Endes wird Diaspora "diesmal [als] eine allgemeinmenschliche, eine verbundene Zerstreuung" angesehen 25 , als die gemeinsame Erfahrung der künstlerisch-kreativen Menschen. So formuliert wiederum Alfred Wolfenstein: Der Dichter ist der unter die Völker Verstreute; aus tieferem Grunde kommend und in höherem Sinne ortlos; der Verbannte. Er ist, heute zumal, der ungewiß wohnende unter Fremden." 2 6

Und auch Ehrenstein sieht diasporische Existenz als ein allen geistigen Menschen gemeinsames Schicksal an: Man jammere auch nicht allzusehr über die Diaspora. In welcher entsetzlichen Diaspora haben nicht Moses, die Propheten, Sokrates, Christus, Buddho gelebt! 2 7

Der diasporischen Existenz wird also das Stigma genommen, und in diesem Zusammenhang erfahrt auch die ahasverische Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit des Juden eine neue, positive Deutung. Wurde bisher von völkischantisemitischer Seite Beweglichkeit zum Synonym nicht nur für den nomadischen und diasporischen Aspekt der jüdischen Erfahrung, sondern auch mit Bezug auf das jüdische geistige und künstlerische Schaffen in diffamierender Absicht verwendet, so erfährt dieser antisemitische Diskurs über die ahasverische Ruhelosigkeit und Beweglichkeit des jüdischen Geistes von jüdischer Seite her eine Aufwertung und Umwertung. Gegenüber völkischer Seßhaftigkeit, die immer in reaktionäres Denken, Brutalität und Intoleranz auszuarten droht, wird Ahasverismus gleichgesetzt mit intellektueller Offenheit, geistiger Ungebundenheit an beengende Traditionen: "Die Lebensform, die Kunstform 22 23 24 25 26 27

Ehrenstein, Zionismus (wie Anm. 13), S. 49. Ebd. Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 440. Ebd., S. 428. Ebd., S. 429. Ehrenstein, Zionismus (wie Anm. 13), S. 49.

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des echten Juden ist ahasverisch. Bodenständig ist das Kreuz, das sie für Christus, der Stein, den sie für Spinoza übrig hatten", schreibt Ehrenstein28. Freiheit zur Kreativität, Möglichkeit zur Selbst- und Neubestimmung, das wird nun als Essenz des jüdischen Ahasverismus gesehen. In diesem Sinne verwendet Ernst Blass in seinem Aufsatz über Alfred Döblin alle jene bisher als Negative verwendete Eigenschaften des ahasverischen Menschen in einem absolut positiven Sinne: "Weltstädter, Arbeiter, losgelöst, frei, ohne Heimat, aber auf der Welt, froh der Ungebundenheit und der Fähigkeit, sich zurücklassend zu schaffen, neuer Welt zugewandt, Entdecker, Eroberer, eine Zentrifugalkraft ~" 29 . Geistige Beweglichkeit wird nun als "vornehme Ruhelosigkeit" gedeutet30. Der Jude als "männlich ruhelos, vom Geiste aus" charakterisiert31. So versteht auch Albert Ehrenstein das jüdische Volk nicht mehr im religiösen Sinne als "auserwähltes Volk", sondern als "Volk des Buches" 32 , als symbolischen Vertreter für das Prinzip der Geistigkeit und Intellektualität in einer materialistischen Welt. Damit wird auch der von antisemitischer Seite immer wieder erhobene Vorwurf von der 'jüdischen Intellektualität', der von den Juden selbst als Teil ihrer negativen Typologie verinnerlicht worden war, ins Positive umgewertet. Noch 1912 hatte Julius Bab in seinem Artikel Der Anteil der Juden an der deutschen Dichtung der Gegenwart die Leistungen der deutsch-jüdischen Literatur, gemessen an den "überzeitlichen, europäischen, ästhetischen Maßstäben der naiven Sinnlichkeit und Anschaulichkeit", für unzulänglich befunden 33 . Damals bereits ließ sich in der Person von Ludwig Strauß eine Gegenstimme vernehmen. Ludwig Strauß verurteilte den ästhetischen Standpunkt Julius Babs als Dokument für die "geistige Knechtschaft, welche die in deutscher Kultur lebenden Juden bewußt oder unbewußt ertragen" - als ein Dokument der Assimilation, wie der Titel seiner Entgegnung lautete 34 . Er verwahrte sich scharf gegen "das Dogma von der alleinseligmachenden Sinnlichkeit [und] vor allem Anschaulichkeit" als Maßstab guter Dichtung 35 . Die Juden sollten sich dieser "herrschenden dogmatischen Tendenz nicht unterwerfen" 36 : "Sklaven sind die, welche das Werk ihres eigenen Stammes

28 29 30 31 32

33

34

35 36

Ehrenstein, Zionismus (wie Anm. 13), S. 43. Ernst Blass: Alfred Döblin. In: Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 75. Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 428. Ebd. Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation. In: ders., Menschen und Affen (wie Anm. 13), S. 57. Julius Bab: Der Anteil der Juden an der deutschen Dichtung der Gegenwart. In: Mitteilungen des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands, Jg 3 (1912), H. 12, S. 3-9. Ludwig Strauß: Ein Dokument der Assimilation. In: Die Freistatt. Alljüdische Revue, Jg 1 (1913), S. 13-19. Ebd., S. 15. Ebd.

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nicht würdigen dürfen, weil das geistige Gesetz des Fremden über ihnen steht." 37 . Dieser damals noch vereinzelten Stimme steht nun, zehn Jahre später, ein ganzer Essayband zur Seite, der das "irgendwoher abstrahierte Normalmaß deutschen Geistes" in Frage stellte und ihm eine "jüdische eigenständige Wirklichkeit in Kunst und Leben" entgegensetzte 38 . Und so wird nun jüdische Geistigkeit und intellektuelle Beweglichkeit zelebriert und eine neue Standortbestimmung jüdischer Dichtung versucht, wie es Alfred Wolfenstein unternimmt, wenn er eine ästhetische Symbiose zwischen der deutschen Anschaulichkeit und der jüdischen Geistigkeit in der 'neuen Dichtung1 des Expressionismus zu konstruieren versucht, in der Seelisches in eine sinnliche Form gebracht wird: "Das Wesen des Juden ist geistig", aber es widerspricht diesem Wesen nicht 39 , daß sein Verhältnis zum Körperlichen und Gegenständlichen sich immer erneuern muß. Die neue Dichtung der Juden geht, so Wolfenstein, eine "frische Vermählung mit den Dingen [ein] nicht naturalistisch, sondern mythisch" 40 . In seinem Essay Jüdisches Wesen und Dichtertum als einem Versuch, eine sich endlich vollziehende deutsch-jüdische Symbiose heraufzubeschwören, hebt Wolfenstein vor allem die Verwandtschaft von jüdischem Wesen und deutscher Sprache hervor. Die deutsche Sprache ist ihm "der Ausdruck der deutschen Ruhelosigkeit eines Wesens der Bewegung", die mit der "jüdischen ruhelosen Sucht nach Unbedingtheit" korrespondiert 41 . Daher bewege sich das jüdische Wesen in der deutschen Sprache "souverän, ihr verbunden wie ein Schwimmer seinem Element" 42 . Indem Wolfenstein so eine Verwandtschaft zwischen jüdischem Wesen und deutscher Sprache konstruiert, weist er zugleich implizit die von antisemitischer Seite immer wieder erhobene diskriminierende Behauptung zurück, daß Juden nie in der deutschen Sprache wirklich zu Hause sein können. Wie sehr bis zu diesem Zeitpunkt dieses antijüdische Stereotyp von vielen jüdischen Schriftstellern der älteren Generation internalisiert worden ist, zeigt sich wohl am besten an der agonisierten Reaktion eines Jakob Wassermanns in seiner Schrift Mein Weg als Deutscher und Jude, auf die Krojanker in seinem Vorwort hinweist. Selbst in Krojankers Band finden wir das antisemitische Stereotyp von der Heimatlosigkeit des Juden übertragen auf sein Verhältnis zur Sprache wieder, jedoch wird ihm nun eine neue, positive Deutung gegeben. So schreibt Willy Haas:

37 38 39 40 41 42

Strauß, Ein Dokument der Assimilation (wie Anm. 34), S. 15. Die Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 10. Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 439. Ebd. Ebd., S. 437. Ebd.

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Fast alle j ü d i s c h e n Literaten sind ausgezeichnete Umdichter; die U n v e r w a c h s e n heit, die wesentlich gleichartige, distanzierte B e z i e h u n g zu allen Sprachen, die Möglichkeit, parallele Sprachwerte verschiedener Sprachen aneinander zu m e s sen, macht sie d a z u . 4 3

Im allgemeinen jedoch ist die junge expressionistische Generation nicht mehr bereit, den antisemitischen Versuch der Ausgrenzung des Juden über die Sprache widerspruchslos hinzunehmen. Ein Beispiel dafür ist Ehrensteins autobiographische Erzählung Schulaufsätze, in der er das antisemitisch-völkische Stereotyp von der mangelnden Fähigkeit und Begabung des Juden, deutsch zu schreiben, ad absurdum fuhrt, indem er seinem Deutschlehrer, den "außer dem fanatischen Nationalismus des Reichsdeutschen, [...] keine tiefere, innere Beziehung" an die von ihm gelehrte deutsche Sprache band, "einen echten Stifter zur Korrektur" vorsetzte, was ihm, dem Juden, "ganz ungenügend wegen Phrasengeklingels" einbrachte44. In der expressionistischen Revolte gegen eine naturalistische, positivistische Kunstauffassung, die einer zunehmend vielschichtigen Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird, wurde auch der Sprache eine neue Funktion zugewiesen, eben nicht mehr die der Abbildung und Bestätigung der Realität, sondern der erkenntniskritischen Infragestellung von konventionellen Deutungsmustern. An die Stelle der Abbildungsfunktion tritt also die expressive Funktion der Sprache, die eine eigene, nicht mehr überprüfbare Wirklichkeit ausdrücken will. Hier konnte sich auch der Selbstbestimmungswille der jüdischen Schriftsteller gegenüber der deutschen Sprache und den antisemitischen Vorurteilen einbringen. In der Lösung von der als "falschen Zwang angesehenen Syntax"45 und durch neue Wortschöpfungen, die jeder konventionellen Bildlichkeit entgegenliefen, sah der jüdische Schriftsteller die Möglichkeit, nur das auszudrücken, was mit seinem Wesen in Einklang stand, und damit eine absolute, unabhängige Individualität zu etablieren, die sich eigene Maßstäbe setzte. Die Art, wie er die Sprache gebrauchte, konnte ihm nun, da sie seine Eigenschöpfung war, nicht mehr als Unvermögen ausgelegt werden, sondern sie wurde nun einzig und allein der Ausdruck seiner künstlerischen Kreativität. Exemplarisch dokumentiert sich der jüdische Selbstbehauptungswille gegenüber der deutschen Sprache wieder in Ehrensteins Erzählung Schulaufsätze, in der das zehnjährige Kind in einer "selbsterfundenen Sprache" seinen "Träumen, Gefühlen, Gedanken" Ausdruck gibt und sich so einen Freiraum erschließt, der sich jedem autoritärem Zugriff durch seine Umwelt entzog46: "Das war mein Eigentum, [...] niemand konnte 43

44 45

46

Willy Haas: Der Fall Rudolf Borchardt. In: Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 236. Albert Ehrenstein: Schulaufsätze. In: Werke (wie Anm. 10), Bd 2, S. 319. Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. von Victor Zmegac. Bd 2: 1848-1918, Teil 2.2., durchges. Aufl. Königstein/Ts: Athenäum 1985, S. 416. Ehrenstein, Schulaufsätze (wie Anm. 44), S. 323.

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davon wissen, noch es bekritteln [...] kein heimtückischer Lehrer konnte es korrigieren oder mit seines Unverstandes Noten versehen." 47 In der expressionistischen Sprache wurden jedoch nicht nur Strukturen und Traditionen zerbrochen, so daß sich Identität neu setzen konnte. Sie war auch eine Sprache, in der sich Tradition bewahrte: Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und das darauffolgende politische, soziale und wirtschaftliche Chaos ließen, wie Kurt Pinthus Pinthus es im Vorwort zur Menschheitsdämmerunq formulierte, jüdische wie nicht-jüdische Expressionisten antreten "zum Kampf gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit" 48 . Expressionistische Erneuerungshoffnung und jüdisch-messianische Erlösungssehnsucht, die, wie Gershom Scholem feststellte, stets aus einer historischen Frustration hervorgeht 49 , kommen in dieser Zeitsituation also zur Deckung und werden ausgedrückt in den Bildern und der pathetisch-ekstatischen Sprache der alttestamentarischen Prophetie. In dieser Sprache, die paradigmatischen Ausdruck für die gesamte expressionistische Bewegung liefert, bestätigt sich denn einerseits die Verbundenheit der jungen jüdischen Generation mit ihrer Tradition und einer Messiashoffnung, die, wenn auch weitgehend säkularisiert, sich doch stets auch am Rande des Umschlags in eine religiöse Hoffnung bewegt. Andererseits klingt in dieser Sprache aber auch jene deutsch-jüdische Symbiose auf, jene "Vereinigung [...] jüdischen Wesens und deutsche[r] Sprache" 50 , die Alfred Wolfenstein und mit ihm fast alle jüdischen Expressonisten herbeisehnten. Messianische Erlösungshoffnung, "die unstillbare Sehnsucht zum Absoluten, das Streben nach Unbedingtheit, nach Vollendung" 51 , wird auch von der jungen jüdischen Generation der Expressionisten als "Grundstruktur der jüdischen Seele" 52 , als konstitutiv für jüdisches Wesen angesehen: So definiert Ernst Blass jüdisches Wesen als "unermüdet jugendliches Drängen ins Zukünftige" 53 . Zugleich jedoch versucht man auch hier, über den Mythos der Erlösung jüdische Identität neu zu bestimmen, unabhängig von christlichen wie auch religösen jüdischen Erlösungsmodellen. In der neu erwachten Diskussion über den Messianismus, die man besonders gut in Martin Bubers Zeitschrift Der Jude verfolgen kann, wird die jüdische Auffassung der messianischen Idee von der christlichen deutlich abgegrenzt: Die Verkörperung des Ideals im Christentum, so heißt es in einem Aufsatz von Elfriede Bergel-Gronemann, "verletzt einen elementaren Instinkt des

47

Ehrenstein, Schulaufsätze (wie Anm. 44), S. 323. Menschheitsdämmerung (wie Anm. 1), S. 23. 49 Siehe dazu: Moses, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 14), S. 166. 5 ® Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 437. 51 Elfriede Bergel-Gronemann: Der Messiasgedanke. In: Der Jude, Jg 6 (1921/22), S. 268. 52 Ebd. 53 Ernst Blass: Alfred Kerr. In: Die Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 54. 48

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Juden", da "die Begrenzung, der Kompromiß, die Einengung des Unendlichkeitstriebes" dem "innersten Wesen des Judentums fremd [...] ja feindlich" sei54. "Der Jude kann sich nicht mit einer irdischen Verkörperung zufrieden geben, denn das hieße an der Vollkommenheit des Ideals [...] verzweifeln"55. Im Christentum, so heißt es schließlich, "ist der Messiasglaube Trost, im Judentum ist er Aufgabe" 56 . In der Dichtkunst finden viele jüdische Expressionisten die messianische Aporie gelöst. So ereignet sich für Wolfenstein im Gedicht zugleich Untergang und Erlösung: D i e Lyrik, an sich schon eine Kunstart des klingenden Untergangs der Gegenstände in der Form, - begegnet sich mit dem hereinbrechenden Gefühl eines Weltuntergangs. [...] Aber im Gedicht gibt sich die Gefahr zugleich w i e überwunden. 5 7

Die messianische Erlösungssehnsucht erfüllt sich also in der Kunst: "die Kunst besteht in ihrer Gegenwart. Sie bedeutet bereits die Erfüllung, das Paradies (dem man nicht wortwörtlich zumarschieren kann)", so schreibt Wolfenstein 58 . Und weiter heißt es: Religionen sind da, um zu trösten, zu beruhigen, das zackige Hiersein abzurunden, und für solche überirdische Ergänzung benötigen andere Menschen andere Gottheiten. Die Kunst aber will ein irdisches Gegenüber des Lebens [...], sie will nicht versüßen, nicht beschönigen, nicht [...] einschläfern. Sie will aufregen, will fort bewegen. Weicht auch die Linie des Horizontes immer der Anstrengung, - die B e w e g u n g darauf zu macht bereits, und sie vor allem, das Kunstgefühl (während der Wissenschaft an der Ankunft und der Religion am Friedlich-Bleiben gelegen ist).

Das Reich des Juden scheint in der Tat nicht von dieser Welt zu sein. "Man findet letztlich das Verbleiben in der Sehnsucht dem Juden angemessen"59 und ist mit Wolfenstein geneigt, die Wirklichkeitslosigkeit der jüdischen Erlösungshoffnung mit einem der jüdischen Geschichte eingeschriebenen "mythischen Versagen" zu erklären: "Moses erblickte das Land, doch er muß auf dem Gipfel sterben. Marx sieht seinen Staat vor Augen, aber [...] die Verwirklichung rückt in die ferne Zukunft, eines anderen Verwirklichung." Wie Gustav Landauer bleibt der Jude nur "ein Seher der Utopie, [...] ein Sehnsüchtiger nach Verwirklichung"60. 54 55 56 57

58 59

60

Bergel-Gronemann, Der Messiasgedanke (wie Anm. 51), S. 268. Ebd., S. 271. Ebd., S. 270. Alfred Wolfenstein: Das neue Dichtertum des Juden. In: Die Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 347. Ders., Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 433. Hans Otto Horch: "Incipit vita nova". Vom messianischen Geist expressionistischer Utopie. In: Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Hg. v. Bernhard Spies. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 18. Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 433 und 434.

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In einer Zeit, in der man die Verheerungen des Nationalismus und die Auswüchse des Materialismus kennen und furchten gelernt hat, scheint dem Juden die Sehnsucht der Erfüllung, die Weltlosigkeit dem 'Blutreich' in der Tat vorzuziehen zu sein. So heißt es denn auch hymnisch bei Wolfenstein: "Viele wünschen sich neuen Boden. Herrlicher ist die Unabhängigkeit einer neuen jüdischen Gestalt." 61 Die "neue Gestalt des Juden", die Wolfenstein "in den Knien der Epoche" warten sieht, ist jedoch letztlich nur die des alten Ahasver. Auch diese Generation konnte sich in der historischen Wirklichkeit nicht verwirklicht sehen, sondern nur in der diasporischen Existenz der Erwartung. 1918, während der "Scheinrevolution", mag kurz die Hoffnung auf die "Gemeinschaft in der Menschen", auf "die Aufhebung des Unterschieds" der Erfüllung nahe erschienen sein, doch diese Hoffnung wurde nicht erfüllt 62 . Das Ziel der jüdischen Expressionisten, in ihrer eigenen Gestalt erkannt und zugleich in ihrer unlösbaren Zugehörigkeit zur deutschen Kultur anerkannt zu werden 63 , ist nicht erreicht worden: "Und wie immer stand seine Gier ohne Gruß da" 64 , heißt es in einem Gedicht Wolfensteins. Der Aufbruch in eine neue Identität wurde zum Leben "im Aufschub", zur Existenz in steter "messianischer Gespanntheit" 65 . Das bedeutet letztlich auch Identität im Aufschub: "Der Jude ist [...] ein Mensch des Werdens, des Ganges, der Zeit, - raumlos" 66 , so heißt es bei Wolfenstein. Sichtbar wird die Gestalt, das Leben des Juden erst in seinem Tode, im Märtyrertod: "Der Tod des Märtyrers macht sein Leben erst ganz sichtbar" 67 , schreibt Wolfenstein über Gustav Landauer. Doch in der Absolutheit des Todes wird die Gestalt des Juden nicht nur sichtbar, sondern auch ewig: "Nur die werden zu unserem Grab kommen, die unsere Gestalt nicht sehen", schreibt Wolfenstein in seiner biographischen Skizze zur Menschheitsdämmerung68. Leben in der 69 "Unbedingtheit für alle Zukunft" , über alle irdische Existenz hinaus, über die Zerstörung des Einzelnen in der historischen Wirklichkeit hinaus, in diese Hoffnung schien sich die Generation der jüdischen Expressionisten gegen Ende des 'expressionistischen Jahrzehnts' geflüchtet zu haben. Auch diese Generation blieb letztlich zutiefst den traditionellen jüdischen Selbstbildern verpflichtet. Sie sah sich als Propheten, Messiasse, Gottsucher, Gottverlassene und Gottflucher, die sich bewußt waren, daß die Erfüllung immer geringer als die Sehnsucht bleibt. Aber letzten Endes standen alle immer 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 440. Ders. in: Menschheitsdämmerung (wie Anm. 1), S. 368. Siehe: Die Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 12. Alfred Wolfenstein: Nichts. In: Die gottlosen Jahre (wie Anm. 12), S. 50. Gershom Scholem, zitiert nach Moses, Der Engel der Geschichte (wie Anm. 14), S. 167. Wolfenstein, Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 438. Ebd. Ders. in: Menschheitsdämmerung (wie Anm. 1), S. 366. Ders., Jüdisches Wesen (wie Anm. 18), S. 434.

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am Rande des Umschlags in die Hoffnung auf Erlösung. Und selbst bei dem Skeptiker und Gottesleugner Albert Ehrenstein finden wir die bleibende Hoffnung dieser 'Generation im Aufschub' formuliert: verwundet Mädchenkind, das sich zur Mutter rundet, Deine Krippe ist gebenedeit: Messias schläft in jeder Wiege, Gottverbündet. 7 0

70

Ehrenstein in: Die Juden in der deutschen Literatur (wie Anm. 2), S. 69.

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"Geborene Schauspieler" - Das jüdische Theater des Ostens und die Theaterdebatte im deutschen Judentum*

I. Jüdisches Theater ist auf lange Zeit kein Thema des aufgeklärten, akkulturierten Judentums in Deutschland. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch steht die Debatte um ein kulturelles Selbstverständnis der deutschen Juden im Zeichen der 'jüdischen Literatur'. Mit der Aufklärung und der Emanzipation, spätestens aber seit 1837, nach der Gründung der Allgemeinen Zeitung des Judentums, geht es, vielfach angeregt durch den Herausgeber Ludwig Philippson, um die Eigenständigkeit der jüdischen Literatur, ihr Verhältnis zur deutschen und europäischen Literatur, und in den folgenden Jahrzehnten ergeben sich sozusagen Mustergattungen einer jüdischen Erzählliteratur deutscher Sprache, die nach Gehalt und Form den Anspruch auf Eigenständigkeit erhebt, unbeschadet dessen, wie sich diese Eigenständigkeit im Rahmen der deutschsprachigen Kultur insgesamt jeweils auch bestimmen mag.1 Bedeutende Prosaisten, Publizisten deutscher Sprache und jüdischer Herkunft, wie Berthold Auerbach sind auf Jahrzehnte die Galionsfiguren der Auseinandersetzung; eine Reihe von anderen, darunter gelegentlich auch Dramatiker, erweitern von Zeit zu Zeit den Diskursrahmen.2 Eine eigene, eigenartige jüdische Theaterkunst ist in diesem intellektuellen Formationsprozeß deutsch-jüdischer kultureller Selbstbestimmung auf Jahrzehnte hin nicht vorgesehen, obwohl seit der Jahrhundertmitte jüdische Schauspieler von überregionaler Ausstrahlung in den Gesichtskreis treten, wie Bo*

Der vorliegende Beitrag beruht in einigen Passagen auf Materialien und Gedankengängen, die - unter anderem Gesamtaspekt - auch in den Essay: Jüdisches Theater der Zwischenkriegszeit - östliche Wurzeln, westliche Ziele? Umrisse einer Kontroverse, Eingang fanden (in: Theater der Region - Theater Europas. 2. Kongress der Gesellschaft fllr Theaterwissenschaft. Hg. von Andreas Kotte. Bern: Theaterkultur 1995, S. 25-47).

1

Vgl. dazu Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" (1837-1922). Frankfurt a. M., Bern, N e w York: Lang 1985 (Literarhistorische Untersuchungen, 1) sowie Itta Shedletzky: Literaturdiskussion und Belletristik in den juedischen Zeitschriften in Deutschland 1837-1918. Diss., Jerusalem 1986.

2

Spätestens ab 1900/1910 lassen sich literarisch kulturelle Überlegungen dann nicht mehr durchführen ohne - zumindest implizite - politische Komponenten.

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gumil Dawison, Adolf Sonnenthal, zu schweigen von der zur Legende werdenden Sarah Bernhardt. Literatur ist das Paradigma der Beteiligung an der Majoritätskultur, der Ebenbürtigkeit im Verhältnis zu dieser, der Eigenständigkeit. Wissenschaft vom Judentum seit den zwanziger Jahren ist Wissenschaft von jüdischer Literatur, und auch später, in der zionistischen Kulturdebatte dominiert das Literarische: Religion, Sprache, Literatur sind nach Achad Haam die Bindungselemente, die die Einheit einer nationaljüdischen Kultur ausmachen.3 Im Bereich des Theaters scheint es nur das Nationaltheater der Deutschen, mit seiner jahrhundertelangen ideellen Belastung als einer Bildungsinstanz der und zur Nation, zu geben, und noch nicht einmal die überragende Tätigkeit jüdischer Regisseure und Theaterleiter an deutschen Bühnen ab 1890, wie die von Otto Brahm, Max Reinhardt, Ludwig Barnay, Gustav Lindemann, Viktor Barnowsky u.a. löst die Frage in bezug auf den Theaterbereich aus, die im Literarischen seit Jahrzehnten zum Motor der Debatte für das deutsche Judentum geworden ist. So wenigstens konstatiert der Historiker.4 D i e Geschichte des deutschen Theaters spiegelt die Geschichte einer werdenden N a t i o n und Geistigkeit. W i e eine Zeitlang fur die anderweitig, religiös etwa, m u sikalisch, später politisch und militärisch abgelenkten oder lahmgelegten Schöpferkräfte der Deutschen, das französische Drama oder die italienischen Opernsänger und Musiker [...] einspringen mußten [...], u m v o n dem großen, fieberhaft mit seiner Selbstgestaltung beschäftigten Kulturorganismus der Deutschen schließlich verdaut zu werden, so, und genauso stehen die Juden, besonders die österreichischen, als Z w i s c h e n g l i e d e r und Aufbausubstanz dem werdenden deutschen Drama, Theater, Schauspielertum als Brücken, als Anfeuerung, als Mitschöpfer, als wohltätiges H e m m n i s , als unbestechlich kritischer Apparat zu D i e n s t e . 5

Arnold Zweigs rückblickende Betrachtung aus dem Jahre 1928 kann diese 'Funktionsbestimmung' freilich nur von einer Position aus vornehmen, die bereits von dem Selbst- und Eigenwert jüdischen Theaterschaffens ausgeht. Seinem Ansatz nach stellt er das 'jüdische Element' gleich mit dem der anderen nationalen Theaterkulturen Englands, Italiens etc., wenn er dessen Bedeutung in der Kulturgeschichte umreißen will. Voraus geht die Entdeckung der Eigenart und der kulturellen Leistung des Judentums auch im Hinblick auf Theater und Schauspiel - eine Neubestimmung, die Arnold Zweig im Rückgriff auf 3

4

5

Achad Haam: Ein Sprachenstreit. In: ders., Am Scheideweg. Berlin: Jüdischer Verlag 1916, Bd II, S. 156 u. 158. Ironischerweise wird eher die Frage der Theaterleiter als Entrepreneurs erörtert, d.h. der ökonomischen Leistung der Theateruntemehmer wie Max Reinhardt, oder auf künstlerischem Trivialniveau der Rotter-Bühnen, später der großen Revue-Untemehmer wie Klein und Haller in den zwanziger Jahren. - Nicht mit einbezogen ist hier natürlich die nichtjüdische antisemitische Debatte, die schon seit Ende des 19. Jahrhunderts von Verjudung des Theaters und der Literatur im pejorativen Sinne spricht. Arnold Zweig: Juden auf der deutschen Bühne. Berlin: Welt-Verlag 1928, S. 27f.

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Nietzsche vornimmt, wenn er behauptet: "Der Jude ist der geborene Schauspieler."6 Im Unterschied zu Nietzsche aber, der aus der Galuth-Situation des europäischen Judentums den Zwang zur ständigen Anpassung, Unterordnung, Selbstverleugnung und Verstellung der Minorität ableitet, geht Arnold Zweig von einer positiven ethnischen Bestimmung des 'jüdischen Schauspieler-Talents' aus, von einer dezidierten, eigenständigen Ausprägung des Verhältnisses von Sprache und Gestik, verbaler und nonverbaler Kommunikation. Ethnische Herkunft aus dem Mittelmeerraum und eine lange spezifische Kulturgeschichte ist für diese, laut Arnold Zweig, in Körper und Sprache gleichermaßen pointierte Rhetorik als Erklärung heranzuziehen. Für den Juden wird "der Körper zum Sprechorgan, die Hand mit ihren Fingern zu einer Zunge mehr, und in der Gestikulation erst, oft erheiternd anzusehen, vollendet sich die Wortseite seines Wesens"7. Diese Kennzeichnung, vom Ende der zwanziger Jahre, hat zwei besondere Voraussetzungen, die erst diese überpointierte Ausdrücklichkeit ermöglichen und zugleich sprechend machen. Zum einen ist seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine allgemeine europäische Schauspiel- und Theatertheoretische Reformdiskussion vorauszusetzen, in deren Verlauf Theater als eigenständige, auf Bewegung, Geste und Raum gegründete Kunstform verstanden wird; seit Edward Gordon Craig, Vsevolod Mejerch'old, Georg Fuchs und zahlreichen anderen, sowie dem Aufkommen des sog. Ausdruckstanzes, wird Theater nicht mehr verstanden als Visualisierungsinstanz für literarische Dramatik oder die musikdramatische Partitur. Die Bühne bringt ein synthetisches Kunstereignis eigenen Rechts hervor, das, auf der Korrespondenz von Körper und Raum basierend, die anderen Ebenen künstlerischer Gestaltung, einschließlich der sprachlichen, nach eigenen ästhetischen Regeln einbezieht. Die damit vollzogene Umwertung des schauspielerischen Tuns betont den ästhetischen Eigenwert der körperlichen gegenüber der sprachlichen Leistung. Hinzu kommt zweitens die vollzogene Neuorientierung in der Einschätzung des östlichen Judentums; sieht man von den weitreichenden grundsätzlichen Bemühungen ab, die seit der Jahrhundertwende und verstärkt seit den letzten Kriegsjahren die ostjüdische Kultur in ihrer ganzen Breite zu vermitteln suchten, so gibt hier insbesondere die Begegnung mit dem Theater des Ostjudentums den Ausschlag für die Zweigsche Formulierung. Diese Begegnung durchläuft verschiedene Phasen, die sich, von der deutschen Theatergeschichte her gesehen relativ gut abgrenzen lassen, und die damit sozusagen Stufen der Annäherung und der Umwertung bezeichnen, soweit diese sich unmittelbar aus der Theaterrezeption und der sich daran anschließenden Debatte ergeben.

6 7

Zweig, Juden auf der deutschen Bühne (wie Anm. 5), S. 23. Ebd.

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II. Die Situation der Vorkriegszeit ist von einer bezeichnenden Dichotomie geprägt. Auf der einen Seite stehen die Spieltheater der östlichen Truppen, die das originale Ostjiddisch verwenden, auf der anderen die westlichen Theater deutscher Tradition, die in der Phase der Avantgarde-Reform sich entwickeln und, soweit sie ostjüdische Texte literarischer Ambition spielen, mit deutscher literarischer Übertragung arbeiten. Dank der jüngsten Forschungen von Peter Sprengel, die sich auf die Auswertung der Berliner Zensur-Akten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam stützen, läßt sich die Lage am Beispiel Berlins, mit seiner zunehmenden ostjüdischen Minorität mit wünschenswerter Deutlichkeit nachzeichnen.8 Danach kam es zwischen 1900 und 1918 in dem später sog. Scheunenviertel der ostjüdischen Enklave, zu einer Serie von Aufführungen ostjüdischen Theaters, die ein gewisses Seitenstück bilden zu der 'Jargon-Bühne' der Brüder (Anton und Donath) Herrnfeld, einer zeitweise recht beliebten, in westjiddischem Dialekt spielenden Schwanktheater, das aus der Geschichte der Berliner Vorstadtbühnen hervorgegangen war, aber weder intellektuell noch ästhetisch ernst genommen wurde, viel mehr den Berliner Kritikern bis in die zwanziger Jahre hinein als Inbegriff der Schmiere galt.9 Träger der Aufführungen im Scheunenviertel waren Truppen- oder Truppenteile aus den ostjüdischen Gebieten von Westpreußen bis Galizien, die auf kleinen Bühnen in Gaststätten oder Festsälen des Viertels, aber auch außerhalb auftraten. Die der argwöhnischen und zeitweilig schikanösen Zensur einzureichenden Spieltexte (in deutscher Übersetzung) geben Einblick in das Spiel-Repertoire, das zum größten Teil auf Spielvorlagen der älteren jiddischen Bühne von Abraham Goldfaden und seinen unmittelbaren Nachfolgern zurückgriff, und seine Wirkung primär aus der Verquickung schlagkräftiger oder sentimentaler Handlungsmuster mit vielfarbigen Gesangs- und Tanznummern zog. Spielvorlagen von Goldfaden selbst, von Joseph Lateiner, Sigmund Feinmann, Ossip Dymov, gelangen so auf die Bühne in einer theatralen Form, die bei den westlichen Zuschauern die Assoziation von Operette weckt, die aber, musikalisch gesehen, auf einen breiten Fundus ostjüdischer Volksmusik, sowie synagogaler Melodietradition zurückgreift. Die Aufführungsserien, die auf diese Weise zustande kommen, sind insgesamt eher sporadisch als kontinuierlich, aus vielerlei Gründen zu kurz-

8

9

Peter Sprengel: Scheunenviertel-Theater. Jüdische Schauspieltruppen und jiddische Dramatik in Berlin (1900-1918). Berlin: Fannei & Walz 1995. Sprengel druckt (S. 272f.) die Kritik einer Aufführung im Thaliatheater, des Gastspiels der Orientalischen Operetten-Gesellschaft', mit dem Stück 'Die Tochter Jerusalems. Orientalische Operette in vier Akten von J. Auerbach, Musik von Ch. Wolfsthal', in der es heißt: "Das Ganze erschien mir als eine antik-musikalische-Herrnfeld-Vorstellung, nur in höchst dürftiger Fassung" (Das kleine Journal, 15.7.1900, Nr. 192).

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phasig, als daß sie zu langer Entwicklung und entsprechender Heranziehung eines Stammpublikums führten. Den wichtigsten äußeren Grund dafür hat Sprengel zutreffend umschrieben, wenn er von dem "Grundkonflikt" spricht, der die Entfaltung eines autonomen jiddischen Theaters in Berlin nachhaltig beieinträchtigen mußte [...]. Unter künstlerischem und - wenn man die Ausrichtung auf ein jüdisches Publikum so nennen darf - theatersoziologischem Gesichtspunkt tendierte das jiddische Theater zur Verselbständigung. Aus gewerberechtlichen und steuertechnischen Gründen aber war seine Anbindung an konzessionierte Theaterunternehmen, j a die Fiktion seiner Integration in die reguläre Betriebsstruktur (nach preussischen Gesetzesmaßgaben) vorgeschrieben. 1 0

Analoges gilt für die Problematik der Sprache bzw. der Übersetzung: Jiddische Theatermacher im preußisch-deutschen Bereich befanden sich damit in einer fundamtentalen Paradoxie: sie durften nur spielen, w e n n sie eine derartige [hochdeutsch übersetzte] 'Vorzeige-Fassung' vorlegten; w e n n sie aber d i e s e Vorz e i g e - F a s s u n g getreulich wiedergaben - w o z u sie nach den Buchstaben d e s Gesetzes eigentlich verpflichtet waren - , machten sie im Grunde kein j i d d i s c h e s Theater mehr. 1 1

Daß sich die Theatermacher an die Zensurauflagen wenig hielten und auf vielfache Weise zwischen den Sprachen in Übergangsvarianten sich hinundherbewegten, ist eine plausible Vermutung, sie bezeugt aber zugleich die Schwierigkeit, eine Brücke zwischen dem jiddisch sprechenden Bewohner des Scheunenviertels und dem sprachunkundigen potentiellen jüdischen Zuschauer deutscher Herkunft zu schlagen. Hinzu kommt eine weitere markante Differenz. Das Theater, wie es die ostjüdischen Truppen spielen, widerspricht Grundtendenzen des bürgerlichästhetischen deutschen Theaters, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat: die lebhafte, bis zum Zwischenruf sich steigernde Partizipation des Zuschauers am Geschehen, die Vermischung der musikalischen und der Sprechtheaterformen, die Preisgabe eines Grundprinzipes von Mimese für die Bewegungs- und Gestenästhetik, der Verzicht auf jede historisch stilistische Stimmigkeit zwischen Ausstattung und Stück - derartige Gestaltungsweisen widersprechen den Theaternormen der Jahrhundertwende, wie sie sich im deutschen Schauspiel theater herausgebildet und befestigt hatten. Sprengel 12 druckt als einschlägiges Dokument eine Besprechung von Karl Escher ab, die dieser 1909 einer Aufführung eines Stückes des Titels Die böse Frau widmet 1 3 , in der nicht nur auf die sprachlichen Misch- und Übergangsebenen hingewiesen wird, sondern auch auf die lebhafteste, alle ästhetische Trennung 10 11 12 13

Sprengel, Scheunenviertel-Theater (wie Anm. 8), S. 74. Ebd., S. I I I . Vgl. dazu seine Ausführung ebd., S. 278-280. Autor ist Joseph Lateiner, die Aufführung fand in Fröbels Allerlei-Theater statt.

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zwischen Bühne- und Zuschauerraum aufhebende Partizipation des Publikums verweist14. Im Rahmen der Schaubühne, in der Siegfried Jacobsohn dem modernen hochästhetischen Reformtheater, u.a. Max Reinhardt, soviel Platz einräumt, kann dieser Bericht nur als Darstellung eines absolut gegenteiligen Theaterphänomens verstanden werden, und nicht zufällig gibt Jacobsohn im Folgejahr Theodor Lessing Raum zu einem mehrteiligen Bericht über das jiddische Theater im Londoner Whitechapel-Bezirk, in dem ähnliche Phänomene geschildert werden. Die Theatersphären sind durch Welten getrennt.15 So dürfte es wenig Zweifel daran geben, daß das Theater im Scheunenviertel aufgrund seiner besonderen Ästhetik eine bedeutende Funktion für Identität und Identitätsgefiihl der ostjüdischen Emigranten in Berlin entfaltet 16 , daß aber gleichzeitig die Reichweite über das ostjüdische Publikum hinaus äußerst begrenzt bleiben mußte. Ein Jahr vor Kriegsbeginn, 1913, schreibt Kurt Pinthus unter der Überschrift "Jüdisches Theater", aus Anlaß des Auftretens der östlichen Truppe Jizchak Loewys - von den Prager Literaten wie Max Brod und Franz Kafka als Impuls ersten Ranges aufgenommen - in Berlin und Leipzig eine ausfuhrliche, fast resümierende Besprechung. Einer dezidierten Reverenz vor der jiddischen Sprache, ihrer Ausdrucksfähigkeit fur die gröbsten und feinsten Regungen des Gemütes und des Verstandes, folgt die Feststellung der generellen Unkenntnis auf deutscher und deutsch-jüdischer Seite. Zwar weiß man, daß eine jiddische Roman- und Novellenliteratur von Niveau entstanden ist. "Aber fast unbekannt ist es, daß dies Jiddisch und die Kultur des Ghetto auch eine Schauspielkunst und eine Theaterliteratur hervorgebracht haben", und diese Schauspielkunst, so Pinthus, verdiente eigene Würdigung, 14 15

16

Sprengel, Scheunenviertel-Theater (wie Anm. 8), S. 279. Eine ähnliche Diskrepanz ergab sich gleichzeitig im Theater in Prag. Franz Kafkas und Max Brods Begeisterung für das jiddische Theater des Jizchak Loewy, das im Café Savoy auftrat, ist bekannt, u.a. weil es für Brod seine Orientierung am Judentum bestätigte und für Kafka eine entsprechende Orientierung herbeiführte. Zu der Berliner Situation ergibt sich nicht nur die frappante Nähe aufgrund der Identität des Schauspielers und Truppenleiters Jizchak Loewy, dessen Auftreten und Tätigkeit im Berliner Scheunenviertel Sprengel in seiner Untersuchung ausführlich belegt und thematisiert, sondern auch eine Analogie hinsichtlich der ästhetischen Diskrepanz. Brod, wie auch Kafka, sprechen sich, unter dem Eindruck der Loewyschen Darbietungen eher für das 'naive' antiillusionistische Effektund Schauertheater des jüdischen Ostens aus, als - für das hochästhetische illusionistische Reformtheater des Westens, gegen das Max Brod stellenweise direkt polemisiert, womit er deutlich gegen Max Reinhardt und sein modernes Regietheater, sowie dessen Schüler und Nachfolger im Prager Theater, Jaroslav Kvapil Stellung bezieht. - Vgl. dazu auch vom Verfasser: Der bücherfreudige Hirtenknabe - Max Brod und das Theater. In: Max Brod 1884-1984. Untersuchungen zu Max Brods literarischen und philosophischen Schriften. Hg. von Margarita Pazi. New York, Bern, Frankfurt a. M., Paris: Lang 1985 (New Yorker Studien zur neueren deutschen Literaturgeschichte, 8), S. 151-175. Vgl. dazu das Dokument Adolf Grabowsky: Ghettowanderung. In: Deutsche Montags-Zeitung, 20.2.1911, 1. Beilage. Wieder in: Sprengel, Scheunenviertel-Theater (wie Anm. 8), S. 287-290.

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denn sie "hat sich ohne westliche Schulung entwickelt, und wirkt, weil sie aus der Dichtung selbst geboren ist, so fremdartig und doch menschlich." Sie wird aber, wie Pinthus pessimistisch prognostiziert, ohne Resonanz im Westen bleiben und Jizchak Loewy wird sich nach seiner Schlußvorstellung in Leipzig ohne weiteren Nachhall wieder im jüdischen Osten verlieren. 17 Bezeichnenderweise schreibt Pinthus seine resümierende Rezension aus Anlaß einer Auffuhrung eines Stückes von Jakob Gordin. Er bildet gleichsam eine Brücke von dem älteren jiddischen Theater der Goldfaden-Zeit zum literarisierten jiddischen Theater der Jahrhundertwende, könnte daher auch eine Brücke vom ostjüdischen zum westjüdischen Publikum bilden. In der später von Alexander Eliasberg übersetzten und herausgegebenen dramatischen Anthologie ostjüdischer Dichter ist Jakob Gordin der einzige Autor, der zugleich auch im 'Repertoire' der im Scheunenviertel spielenden Truppen auftaucht. Pinthus ist sich des Charakters der Gordinschen Dramatik genau bewußt, er ist fiir ihn "der stärkste, härteste Dichter der modernen jüdischen Bühne, und jene jungjüdischen Dichter, die auch auf unseren Theatern aufgeführt werden, Schalom Asch und Pinski sind als seine Nachfolger zu erachten" 18 . Diese Namen stellen wichtige inhaltliche Verweise dar. So wie der Schauspieler Alexander Granach 19 , der im Scheunenviertel aufgetreten ist, den Weg zu Max Reinhardt genommen hat und damit eine zumindest biographische Vermittlung zwischen dem jiddischen und dem deutschen Theater leistet, so können die Namen Asch und Pinski Analoges kenntlich machen. In der Tat hat Max Reinhardt versucht, wenn nicht das ostjüdische Theater, so doch Dramatiker des Ostens vorzustellen. Seinem weltliterarisch orientierten Repertoire fügt er auch Stücke von Schalom Asch (Der Gott der Rache) und David Pinski {Der Schatz) ein, in literarischer Übersetzung und in Inszenierungen, die dem theatralen Gesamtniveau Reinhardts entsprechen. Schon die Zuordnung ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: Der Gott der Rache wird in den Kammerspielen 1907 aufgeführt 20 und bildet dort in einer Reihe mit Ibsen die Serie der individualisierenden und psychologisch vertieften Milieu-Dramen der kritischen Moderne, für die die Intimität einer auf Kammerspiel-Dichte bezogenen Präsentation gesucht wird. Ein spezifischer Akzent im Hinblick auf die Kultur des Ostjudentums oder auf das Verhältnis zwischen deutschem und östlichem Judentum ist in diesem Zusammenhang freilich kaum zu erkennen; für die Berliner Theaterkritik fügen sich die Stücke in das umfassende Reper-

17

18 19

20

Kurt Pinthus: Jüdisches Theater. In: Leipziger Tageblatt und Handelszeitung, Nr 28, 17.1.1913. Wieder in: Sprengel, Scheunenviertel-Theater (wie Anm. 8), S. 303-307. Sprengel, Scheunenviertel-Theater (wie Anm. 8), S. 305. Ebd., S. 33f. und 99f., Verweis auf entsprechende Passagen in Granachs Autobiographie; des weiteren wäre zu nennen der Schauspieler und Rezitator Herz Grossbard, dessen Tätigkeit freilich erst in den zwanziger Jahren zu voller Bedeutung gelangt. Regie Efraim Frisch; Bühnengestaltung Ernst Stern, Premiere 19.3.1907.

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toire Reinhardts ein, ihren Themen nach werden sie weltliterarisch zugeordnet, etwa wenn die Darstellung Rudolf Schildkrauts in Aschs Stück mit seinem vorherigen Auftreten als Shylock verglichen wird. Und wenn die - Reinhardt freundliche - Presse den Charakter der östlichen Dramatik besonders hervorhebt, dann ist von dem "Jargon-Dichter Shalom Asch" die Rede, von der Tatsache, daß sowohl die anwesenden Zionisten als auch die Reinhardt-Fans applaudiert hätten oder daß dem Autor des Ostens noch "europäische Kunstempfindungen anzuerziehen" seien, unbeschadet der Anerkennung, die Asch dafür findet, daß er mit seinem Drama "tief in den Schlamm Halb-Asiens, das auch hinter der preußischen Grenze rasch beginnt, hinabgestiegen sei" 21 . Die Formulierung "Halb-Asien" verrät die 'Richtung' des Rezensenten, der sich hier an die alte Formel von Karl Emil Franzos anlehnt, mithin an die geistige Position des liberalen Akkulturationsjudentums in Deutschland, das seine Funktion gegenüber dem jüdischen Osten im wesentlichen als pädagogische und erziehende verstand. In einer anderen Rezension bekennt der Verfasser gar, er habe im Wesen, im seelischen Kern [...] keine starke Eigenart erkannt, weder eine individuelle, noch eine nationale. Man könnte das Stück völlig aus dem Jüdischen in eine andere Sphäre übersetzen, ohne daß es darum schlechter oder besser würde. 2 2

Eine nachhaltige Repräsentanz ostjüdischer Theaterkultur ist jedenfalls durch die aufgeführten Dramen in den folgenden Jahren nicht nachweisbar. Auch weitere bedeutende dramatische Werke der ostjüdischen Moderne, vor allem von Jizchak Leib Perez tauchen nicht auf. Als fünf Jahre später, 1912, in der Kulturfrage der Konflikt zwischen dem liberalen Akkulturationsjudentum - teilweise auch dessen deutsch-nationalem Ableger - auf der einen und proto-zionistischen Stimmen auf der anderen Seite ausbricht, in der sog. Goldstein-Kontroverse, spielen Dramatik und Theater keine argumentative Rolle. Das Paradigma ist nach wie vor, obwohl generell über 'Kultur' diskutiert wird, die Literatur.

III. Die Begegnung mit dem Theater des jüdischen Ostens, wie sie sich in den Anfangsjahren der Republiken in den deutschen Theatermetropolen anbahnt, hat ein Vorspiel in den Kriegsjahren selbst. Die Vermittler sind jüdisch-deutsche Intellektuelle, die in der Heeresleitung Ost mit dem Kontakt mit den Juden der besetzten Gebiete beauftragt sind und diesem Auftrag in verschiedenen Bereichen systematisch nachgehen. Auch Arnold Zweig gehört zum Umkreis der Gruppe, die zwischen Warschau und Wilna, mit Hauptstützpunkten in Kowno

2

'

22

Rezension v o n Fritz Engel im Berliner Tageblatt v o m 2 0 . 3 . 1 9 0 7 . Vermutlich Alfred Klars Rezension in der V o s s i s c h e n Zeitung v o m 2 0 . oder 2 1 . 3 . 1 9 0 7 .

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und Bialystok, auf diese Weise jüdisches Leben und jüdische Kultur in einer Intensität und Unmittelbarkeit kennenlernt, wie es für sie selbst völlig überraschend ist. Statt 'Halb-Asien' sehen sie sich "Kulturmenschen in Massen" gegenüber 23 - "das war fur uns", wie Sammy Gronemann berichtet, "eine unerwartete und überwältigende Entdeckung" 24 . Mit dieser längst überfalligen Revision geht die Neuentdeckung des 'Jargon' einher, die offenbar nicht nur zionistisch sondern auch liberal bis deutsch-national eingestellten Juden und Deutschen zu einer wichtigen Einsicht wird: In den ersten Kriegjahren aber herrschte eitel Jubel und Begeisterung ob der Entdeckung der Ostjuden als der Wahrer deutscher Art und Sprache. Es entstanden begeisterte L o b g e s ä n g e auf ihre Treue, und eine Reihe deutscher Literaten, beileibe nicht nur Juden, bewiesen in tiefgründigen Abhandlungen, daß die Ostjuden eigentlich echte und rechte Deutsche seien, Träger deutscher Kultur, die in unerhörter Zähigkeit und Anhänglichkeit ihr germanisches Volkstum durch die Jahrhunderte slawischer Unterdrückung gewahrt hätten. 2 5

Diesseits solcher national gefärbter Annäherung lassen sich aber, fur unseren Zusammenhang ausschlaggebend, die direkten Zusammenhänge zwischen der Entdeckung der Sprache und der Theaterkultur des Ostens nachweisen. In seinem Bericht über das erste Kennenlernen der 'Wilnaer Truppe' in deren Heimatstadt berichtet Gronemann: Aber dort, vielleicht zum ersten Male, ist mir das Schöne und Innige der jiddischen Sprache aufgegangen. Sie ist wirklich adäquat den Gefühlen, w e r sie spricht, braucht nicht erst die künstliche Operation durchzumachen, w i e wir in unseren westeuropäischen Kunstprodukten! 2 6

Bezeichnend an dieser Äußerung, die den Tenor vieler späterer Stellungnahmen vorwegnimmt, ist die Verbindung des Originalen, d.h. der volkstümlichgesellschaftlichen Realsprache mit einer gleichsam authentischen Bühnenfähigkeit, ohne vor- oder übergeordnete Normen einer Sprachästhetik der Bühnensprache, die zwischen Bühne und Zuschauer soziale oder bildungsmäßige Sprachschranken entstehen läßt. Es ist bekannt, wie die in Kowno und Bialystok wirkende Gruppe um Gronemann, Struck, Eulenberg, Wallenberg und Goslar die Wilnaer Artisten als Truppe geradezu lanciert, indem sie deren Wirkungskreis systematisch zu er23

24

25 26

Auf alle weiteren Entwicklungen geistes- und kulturgeschichtlicher Art seitens der jüdischen Erneuerungsbewegung, die Ost und West zu vermitteln suchen und insoweit auch den Rahmen fur die Theaterdebatte im deutschen Judentum bilden, wird im folgenden nicht eigens verwiesen, da sie in vielerlei Zusammenhängen dargelegt worden sind. Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916-1918. Berlin: Jüdischer Verlag 1924. Neuauflage Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1984, S. 51. Ebd., S. 31. Ebd., S. 75.

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weitern sucht - mit Erfolg, so daß dank der selbstlosen Hilfe und Initiative von Esther Rachel Kaminska noch vor Kriegsende Gronemann die Wilnaer auch nach Warschau, ins Zentrum der jiddischen Theaterkultur, vermitteln kann. 27 Für die 'Förderer' der Truppe bildet diese sozusagen die Spitzenerfahrung einer Fülle von Eindrücken, die sie insgesamt zu einer Revision ihres Kulturbildes vom jüdischen Osten zwingen. Bezeichnend ist dafür eine von Gronemann wiedergegebene Äußerung Strucks in Bezug auf jiddische Lieder und chassidische Tänze, wie sie u.a. auch die Truppe bei den gelegentlichen Sabbatausgangsfeiern präsentierte: "Wissen Sie, wenn ich das sehe, gibt mir das mehr von jüdischer Kultur als tausend Schriften." 28 Die Möglichkeit einer fundamentalen Neubestimmung zeichnet sich ab. Das Bild von einer auf Schrifttradition, Schriftauslegung und Schriftgedächtnis basierenden Kultur wird ersetzt durch ein anderes, in dem Lied, Rhythmus, Tanz und Bewegung die bestimmenden Größen sind. Die Annäherung an die in der Theaterreformdiskussion sich ergebenden allgemeinen Verschiebungen im Theaterverständnis ist deutlich: Das Bild ostjüdischer Kultur, wie es vor Ort entsteht, und neueste, westlich inspirierte theatertheoretische Postulate kommen überein. Damit ist eines der zentralen Motive benannt, weshalb Gronemann nach dem 'Vorspiel' im Osten und in Warschau den Wilnaern "auch den Weg zum Westen" bahnt 29 .

IV. In den Jahren nach Kriegsende und Revolution wird dann mit der Theaterdebatte unter jüdisch-deutschen Intellektuellen, Kritikern, Journalisten, Autoren und Theaterleuten das nachgeholt, was im literarischen Feld schon ein halbes Jahrhundert an der Tagesordnung gewesen ist. Die Initialzündung zumindest für Berlin ist das erste Auftreten der Wilnaer Truppe, unter dem Titel "Jüdisches Künstlertheater". Mit diesem klingenden Namen wird nicht nur an die ältere Stanislawski-Ära erinnert; auch die im Zeichen des Theateroktober sich formierende neue Theaterästhetik, die einer ganzen Reihe von ethnischen Theatertruppen in der Sowjetunion Impuls und Name verleiht, wird dem Zuschauer 27

28 29

Gronemann, Hawdoloh und Zapfenstreich (wie Anm. 24), S. 183/84; dem entspricht im wesentlichen auch die Selbstdarstellung der Wilnaer Truppe in der Wiener Zeitschrift Komödie 1922, s. u. S. 12. Gronemann, Hawdoloh und Zapfenstreich (wie Anm. 24), S. 184. Ebd., S. 186. - Wenn Gronemann in der Veröffentlichung 1924 "das große Rätsel Jude" (S. 225) dann bereits mit der träumerischen Lösung Haifa versieht, so bleibt doch dabei "die Stärke jener Menschen im Osten" im Hintergrund des Traums, und deren Fähigkeit zur Hawdoloh, zur Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, die das Leben lebenswert macht und ihm Richtung gibt, dürfte jenes erweiterte und umakzentuierte Kulturverständnis mit tragen.

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nahegebracht. Bezeichnend ist eine Rezension von Alfred Döblin vom Jahresende 1921 für das Deutsche Tagblatt in Prag, wo er 'deutsches und jüdisches Theater' einander kontrastiert: die deutschen Bühnen hielten Winterschlaf, so meint der Rezensent, mit dem "Jüdischen Künstlertheater" hingegen sei das neue Element gegeben. Man sehe es in [dem Theater] in der Kommandantenstraße, w o früher die beiden Herrnfeld ihre burlesken Jargonstücke agierten [...]. An diese Stelle ist ein echtes jüdisches Theater getreten. Das sich selbst prostituierende unwürdige Gemauschel ist vorbei; hier sind spontane Kunstleistungen eines lebendigen Volksstammes.30

Deutlich ist in diesem Zusammenhang auch Döblins Polemik gegen das eingesessene jüdische Bürgertum Berlins, das zwar den Jargon-Schwank bisweilen besuchte, sich aber dem wirklichen Ostjiddischen, wie es die Wilnaer spielen, entzieht, da es "vor diesem Jiddisch - ich möchte sagen: drei Kreuze" schlägt31. Damit ist deutlich die Aversion vieler deutscher Juden gegen die ostjüdischen Flüchtlinge, die am Alexanderplatz, im Scheunenviertel, unter Ghettoähnlichen Bedingungen leben, im Visier. Döblin spielt zugleich auf die neue Theaterästhetik des jüdischen Ostens an und auf die alte Vorurteilsstruktur und soziale Abschottung des jüdischen Westens. Für ihn ist jedenfalls, obwohl er sprachlich nicht folgen kann, die Darstellung des Dibbuk sowie der Komödie Jankel, der Schmied von David Pinski so anziehend, daß er zu einer weiteren Auffuhrung der Wilnaer in die Kommandantenstraße geht, zum Volksstück in vier Akten von Leon Kobrin Der Dorjjunge. Mustert man weitere Berliner Rezensionen, wie sie u.a. die Direktion des Berliner Gastspiels - aus Reklamegründen - selbst als Blütenlese zusammengestellt hat, so werden die Kriterien sichtbar, die offensichtlich im September 1921 auch unter dem einfachen Aspekt der Werbung von Interesse sind. So wird einerseits auf Kontinuität mit dem Berliner progressiven Theater verwiesen, wenn aus dem Börsenkurier vom 25. September 1921 zitiert wird: "Wiederkehr Otto Brahms, mit Variation, daß nicht mehr schlesisch, sondern bloß noch jiddisch gesprochen wurde". Im Berliner Tageblatt vom 2. September scheint der Redaktion bemerkenswert, daß der Rezensent auf "Urväter-Klänge" verweist, die "dem deutschen Juden, dem jiddischen Deutschen, der vorwärts und nicht rückwärts blickt, einmal freundlich ins Ohr" klingen. Weitere Stellungnahmen sind der Vossischen Zeitung, ebenfalls vom 2. September 1921, entnommen, die im Herrnfeldtheater den Umschwung von den früheren "Possen eines jüdischen Jargons" zu "ernster Kunst" hervorhebt, und auf "Bräuche eines unverfälschten Volkstums" ver30

31

Alfred Döblin: Ein Kerl muß eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921-1924. Olten/Freiburg. i. Br.: Walter 1976. S. 36f. Ebd., S. 37.

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weist mit Nennung der Autoren Jizchak Leib Perez und Perez Hirschbein. Denselben Umschwung konstatiert die BZ am Mittag vom 2. September, während die Nationalzeitung am 3. September den Versuch "durch ernste Kunst die Gefühlswelt des Ostjudentums von der Bühne herab dem Verständnis Westeuropas näherzubringen" besonders gutheißt. Kunstanspruch nach Berliner Maßstäben, so läßt sich resümieren, findet sich in der Begegnung mit genuinem Ostjudentum zu neuem Verständnis herausgefordert. Der Wechsel vom verachteten oder herablassend benannten Jargon zur ernstgenommenen östlichen Sprachwelt, in Verbindung mit der faszinierenden Mimik und Gestik der Darstellung, macht den neuen Wert aus, den die Chiffre "jüdisches Theater" gewinnt. Der knapp ein Jahr später (1923), aus Anlaß des Wiener Gastspiels, verfaßten Besprechung von Eugen Höflich in der Zeitschrift Komödie liegt diese generelle Umwertung bereits zugrunde. Die Wilnaer sind für ihn keine Schauspieler-Truppe mehr sondern ein "Kulturfaktor", zumal Der Dibbuk "zu einer neuen Einstellung und zur Revision gewisser Ansichten" zwingt. Denn das Stück wird eigentlich gar nicht gespielt sondern erlebt, von den Schauspielern wie von den Zuschauern32. Wenn man aus der Versenkung zurückkehrt, in die einen die Aufführung versetzt, erscheint einem das Europa, in dem man sich bisher bewegt hat, fremd, feindlich, unfaßbar. "Torkelnd tappen wir uns nach Hause, als gäbe es wirklich ein Zuhause." Danach ist alles fraglich, und zwar von Grund auf: das Theater, die jüdische Existenz und die Möglichkeit ihrer vollgültigen Realisierung. Eines nur noch: O b der Jude Schauspieler ist, oder ob selbst die gewaltige unerhörte Kunst einer Wilnaer Truppe nur Assimilationserscheinung, also eigentlich gar kein national-positiver Faktor ist, müßte untersucht werden. Ist sie es, dann ist sie zwar ein fremder, ein aufgepfropfter, aber ein wunderbar blühender Z w e i g auf dem alten Stamm dieses Volkes [...].

Gleichgültig, wie die historische Frage beantwortet wird - im Zeichen dieser Theaterkunst findet das alte Volk und die neue Kultur zu einer Identifikationstiftenden Synthese: Theater als kulturelle Erscheinung, so hat das ostjüdische Beispiel demonstriert, ist ebenso jüdische Möglichkeit wie Literatur, ja sogar über diese hinausweisend: denn Literatur ist traditionsbezogen, auch bei aller modernisierenden Erneuerung, Theater ist, gemessen an der unmittelbar zurückliegenden Traditionsphase, zugleich Zukunft.

32

Die Formulierung erinnert in interessanter Weise an die naturalistische Schauspielästhetik, die, in den Worten von Émile Zola, dem Schauspieler vorschreibt, er müsse die Szene nicht 'spielen' sondern 'leben' (Henri Mitterand, Ed.: Œuvres Complètes. Paris: Cerde du Livre précieux 1966ff. Tome XI: Œuvres Critiques II, S. 330).

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V. In den folgenden Jahren geht es, wann immer neue Theatertruppen aus dem jüdischen Osten in die deutschsprachigen Metropolen kommen, weniger um die Grundsatzfrage sondern darum, ob die jeweilige Präsentation in legitimer Weise Anspruch erheben kann, jüdische Kultur zu repräsentieren oder nicht. Im Falle von Alexeij Granovskijs Moskauer Jüdisch-Akademischem Theater (GOSET), mit seiner konstruktivistischen Spielbühne, seinem Bewegungsdynamismus, seiner hochästhetisierten Gesten- und Sprachartistik, steht primär die ästhetische Qualität zur Debatte. Für die Hexe (die KischufMacherin) von Abraham Goldfaden stellt Sch. Gorelik in der Jüdischen Rundschau vom 4. Mai 1928 eine zu starke Preisgabe jüdischer Eigenständigkeit an die Dynamikprinzipien des sowjetischen Theateroktobers fest. Max Osborn hingegen sieht in der hochentwickelten Spiel-Artistik eine "wuchtige, unvergleichliche Steigerung und rhythmische Stilisierung volkstümlicher Dramatik, auf die breiteste Basis gestellt" 33 . Je nach religiöser Bindung des Rezensenten oder säkularisierter Freisetzung in allen Schattierungen von Liberalismus bis Zionismus wird die religions- und traditionskritische Konzeption Granovskijs inhaltlich kritisiert, teilweise auch hinsichtlich der Stilistik, aber diese Kritik anerkennt grundsätzlich das GOSET als einen selbstverständlich akzeptierten 'Kulturfaktor' jüdischen Lebens. Und ist man sich im Falle der Hexe von Goldfaden oder des Stückes Zweihunderttausend nach Scholem Alejchem uneinig über die Wertigkeit der Bühnenästhetik, so entsteht bei der Auffuhrung von Reise Benjamins III., nach Mendele Moicher Sforim, der Eindruck, daß "die alte Operette", d.h. die popularen Bühnenformen der älteren Haskala neuen, gegenwärtigen Theateransprüchen angepaßt werden kann: "Eine neue Körper- und Szenentechnik kann hier das Primitive wieder echt machen," schreibt Bernhard Diebold 34 . Eine neue Frage ergibt sich dann, als im Berliner Theater des Westens Jizchak Leib Perez' Die Nacht auf dem alten Markt aufgeführt wird, - eine Inszenierung, in der das alte Stetl, die alte 'Jiddischkeit' in einem entfesselten Gespensterreigen in den Abgrund des Überholten gespielt wird. Es erscheint problematisch, ob sich Granovskij mit seinem Moskauer Theater als "Staatstheater einer nationalen Minderheit", das mit allen Subventionen 33 34

Berliner Morgenpost, 4. oder 5.5.1928. Frankfurter Zeitung, Abendblatt, 24.5.1928. - Eine Gesamtdarstellung des GOSET in den zwanziger Jahren gibt Béatrice Picon-Vallin: Le Théâtre juif soviétique pendant les années vingt. Lausanne: La Cité - L'Age d'Homme 1973. - Die neueste theatergeschichtliche Analyse der hier genannten Inszenierungen bietet Erika Fischer-Lichte: Retheatralisierung des Theaters als Emanzipation: das 'Staatliche Jüdische Theater' in Moskau 1920-1928. In: Theatralia Judaica. Emanzipation und Antisemitismus als Momente der Theatergeschichte. Von der Lessingzeit bis zur Shoah. Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen: Niemeyer 1992 (Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, 7), S. 244-263.

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des Sowjetstaates versehen ist, nicht total von seinem genuinen Publikum entfernt hat. Hat Granovskij, so fragt indirekt Herbert Ihering 35 noch Kontakt mit einer sein Theater tragenden sozialen und ethnischen Schicht oder ist seine Bühne als Aushängeschild des Nationalitäten-Kulturkonzepts der Sowjetunion nur noch für westeuropäische Intellektuelle von Interesse? An der Schärfe der Formulierung Iherings ist erkennbar, daß noch weitere Erfahrungen mit ostjüdischem Theater im Hintergrund liegen. Es versteht sich, daß schon mit dem Auftreten der Wilnaer Truppe und der Präsentation des Dibbuk das Verhältnis von aktuellem jüdischem Theater und historischjüdischem Traditionsstoff bereits grundsätzlich diskutiert worden ist. Eineinhalb Jahre nach der Tournee der Wilnaer wagt sich bereits ein jüdischdeutscher Regisseur, Berthold Viertel, an eine Aufführung des Stückes in deutscher Sprache. Als dann 1925 die Habima ihre erste Westtournee durchführt, ist ihre Bedeutung nicht die des schlechterdings initialen Ereignisses, sondern die der Bestätigung. Vachtangovs Inszenierung des bereits bekannten Dibbuk ruft zurecht die Begeisterung dadurch hervor, daß man jetzt das Erwartete in neuer theatraler Gestalt wiedererkennt. Die Kritik der Tradition tritt hinter der authentischen Aufzeigung und 'Ausstellung' von Tradition zurück. Der Schritt vom Jiddischen zum Hebräischen erbringt zusätzlich ein gewisse Abhebung von der kulturellen und sprachlichen unmittelbaren Herkunft des Stoffes und wirkt im Sinne einer kulturgeschichtlichen Selbstversicherung. Die dezidiert politische Komponente des Hebräischen tritt dann stärker hervor, als die Habima 1929 zum zweiten Mal, dieses Mal nach einer Palästina-Tournee in den deutschen Sprachraum wiederkehrt. Wie kann ein genuin jüdisches Theater, so lautet jetzt die Frage, den Anforderungen sowohl der jüdischen Siedler in Palästina als auch der europäischen Judenheit gerecht werden. Probleme bei der Palästina-Tournee haben, so die Rezensenten, der Truppe vor Augen geführt, daß mit jüdischem Historismus die Aufgaben ebensowenig zu bewältigen sind wie mit Bühnenabstraktionen nach Art von Craig oder des späteren Bühnenkonstruktivismus. Aber das Problem ist grundsätzlicher Art, denn die Habima ist nicht nur Theater für Palästina sondern "ein Theater für das geistige Zentrum, [...] ein Theater, das berufen ist, den jüdischen Gemeinschaftsgedanken zu repräsentieren" 36 . Und das besagt, daß die Habima sich auch auf die jüdischen Zuschauer einzustellen hat, die "nun einmal von den Fleurs du mal der europäischen Kultur genossen haben": die Zukunft wird zeigen,

35 36

Die Weltbühne, 10.10.1928. Rachel Wischnitzer-Bernstein, Jüdische Rundschau, 20.12.1929. - Zur Ideologiegeschichte der Habimah insgesamt vgl. Emanuel Levy: The Habima - Israel's National Theatre 19171977. A Study of a Cultural Nationalism. New York: Columbia University Press 1979.

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wie sich die heterogenen Elemente vereinen lassen und was wir durch die Vorschiebung der Habima nach dem Orient gewinnen. Solange Palästina uns aus sich heraus keine Kunst geben kann, bleibt wohl das Problem eines jüdischen Theaters dem Boden, dem es entwachsen ist, durch vielfache Schichtungen verbunden. 37

Auch im Kreis der Freunde der Habima in Berlin wird diese Frage unter der Diskussionsleitung von Arnold Zweig erörtert und mit vielfachen Antworten versehen 38 : als politisch engagierte Bühne wünscht sich Döblin die Habima, Gronemann und Nachum Goldmann hingegen als palästinensisches Landestheater, als jüdisches Nationaltheater mit Weltrepertoire Martin Buber. Es entspricht nun aber - bei aller Konkurrenz der Meinungen über die Zukunft - der geschichtlichen Stunde, daß über die Vorgeschichte Einigkeit herrscht. Chaim Nachman Bialik hat in einer Art keynote-lecture ausgeführt, "daß theaterähnliche Darstellungen zum Rüstzeug" der alttestamentlichen Propheten von Anfang an gehörten. "Eine starke Neigung zum Theater besteht also im Judentum von Alters her." 39 Die neue Bühne ist aus ältester Überlieferung beglaubigt. Einen knappen Monat später, am 10. Dezember 1929, veröffentlicht die Jüdische Rundschau dann eine von drei Verfassern essayistisch dargelegte Eloge der Habima, im Spaltensatz nebeneinander gedruckt, dazu ein Widmungsgedicht an die Truppe aus der Feder von Leopold Marx, das einen identifikatorischen Spitzensatz enthält: "Ihr spielt. Wir sind zuhaus..." Interessant sind im folgenden unterschiedliche Akzente, welche der östliche und die deutsch-jüdischen Beiträge setzen. Einen Erfahrungsbericht über die Resonanz, die die Habima in Rußland, in Westeuropa und zuletzt in Palästina gefunden hat, bietet der Artikel von Channah Rowina. Das wohltuend Nüchterne der gefeierten Protagonistin der Bühne zeigt sich vor allem darin, daß sie nach Entstehung und Wirkung die Habima in den theatergeschichtlichen Kontext des Theateroktober stellt. Mit Kriegsende in Europa und der Revolution in Rußland ist das Theater zu einer Institution der Massenkultur geworden und daran hat die Habima Anteil mit ihrem europäischen wie mit ihrem palästinensischen Publikum. In der gegenwärtigen geschichtlichen Situation, so wird nüchtern konstatiert, braucht das hebräische Theater zwei Arten von Repertoires, eines für den palästinensischen Jishuf und eines fur die Länder der Diaspora. Während für Palästina keineswegs nur 'nationale Stücke' nötig sind, sondern ein übernationales Schauspiel-Repertoire, so wie jedes europäische Land es ebenfalls hat, sieht es für die Galuth-Judenheit in Europa anders aus.

37 38 39

Wischnitzer-Bernstein (wie Anm. 36). Bericht vom 12.11.1929 in der Jüdischen Rundschau, Jg. 29, Nr. 89. Ebd.

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Das hebräische Theater bedeutet den Juden der Galuth etwas Verbindendes, Erhebendes, dem Nichtjuden: Exotik, Ethnographie, ferne, sonderbare Dinge und gerade solche, die dem Juden selbst schon fremd geworden sind. Man könnte kaum umsichtiger die nicht nur zweifache sondern dreifache Funktion der Habima kennzeichnen, als es die Schauspielerin hier tut, und die Bühne, als Theater hebräischer Sprache, ist zu dieser mehrfachen Funktion in der Lage aufgrund ihres synthetischen Charakters, was fur alle Theaterkunst gilt. Die Nachwirkung der theatertheoretischen Reformdebatten von 30 Jahren sind deutlich, Theater als bühnenzentriertes 'Gesamtkunstwerk 1 ermöglicht seinem Wesen nach unterschiedliche Rezeptionsformen. Den verschiedenen Erwartungen und Verstehensmöglichkeiten des jeweiligen Publikums unterbreitet es unterschiedliche Angebote, sogar - wenn auch bedingt - über Sprachgrenzen hinweg. Emphatischer in Stil und Gehalt sind die beiden anderen Beiträge von Martin Buber und Karl Wolfskehl. Inhaltlich ist ihnen gemeinsam, daß sie für die nationale Bühne den Begriff des Mysteriums in Anspruch nehmen. Für Buber ist das Theater seinem Ursprung nach aus der heiligen Pantomime der Mysterien hervorgegangen, lange ehe sich aus dem Theater so etwas wie Dramatik ergeben hat. In diesem Sinne kommt er zu denselben Festlegungen wie Arnold Zweig oder Bialik: "Daß wir Juden eine ursprüngliche Begabung zum Theater - also zur unmittelbaren leiblichen Darstellung eines Vorgestellten - haben, ist unverkennbar" - und wenn in der Bibel entsprechende Belege fehlen, so erklärt sich dies aus der Frontstellung der alttestamentlichen monotheistischen Religiosität gegen die pantomimischen Baals-Kulte der heidnischen Umgebung. Auch für Buber ist also der Jude, wenn nicht der geborene, so der von seinem Herkommen her zum Schauspielerischen ausgewiesene Mensch. Drama hat sich freilich im Judentum nicht entwickelt: gemessen an der griechischen Tragödie und ihrem Antagonismus widerstreitender gleichberechtigter Kräfte, war dies auch religionsgeschichtlich nicht möglich, letztlich deshalb weil es in der jüdischen Tradition immer die Letztinstanz von Recht und Unrecht gegeben hat. Mit der Habima kommt nun die ur-jüdische Fähigkeit zum Theatralischen zur Geltung, und mit dem Legendenstück Dibbuk - so kann man konjizieren - trotz allem ein Angeld auf ein "echtes Hebräer-Drama, Israels-Drama". Wir müssen von da aus , von unserem wahren Selbst aus, die Welt erfahren, wie sie ist, in ihren tiefen substantiellen Gegensätzen und Widersprüchen, die nicht mit den Kategorien des Rechthabens und Unrechthabens zu überwinden sind - in der Dramatik. Insofern - so wird mit nicht ganz schlüssiger Emphase - dargelegt, steht die Entwicklung eines jüdischen Dramas in der Zukunft zu erwarten. Schon jetzt aber kann die Habima als nationale Bühne aus dem Partikularismus jüdischer Stoffe heraustreten und ein weltliterarisches Spielrepertoire entwickeln.

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Auch Karl Wolfskehl geht vom Mysterium als dem Urphänomen des Theatralischen aus. In der Nachfolge Nietzsches und mit Reminiszenzen an seine eigenen 'kosmischen' Vorstellungen, vielfach vermittelt und inspiriert von der Münchner Kosmiker-Runde, definiert er Theater als Auflösung ins 'Unnennbare', das mit dem Urgrund verbindet. Dazu ist in der Gegenwart wieder Zugang gefunden: "Das hebräische Menschentum hat heute eine Bühne in seiner eigenen Sprache zum ersten Mal, soweit wir wissen." Im Gegensatz zu allen historischen Theaterformen, an denen das Galuth-Judentum mitwirkend Anteil nahm, ist nun die reine Bühnengestalt mit hebräischer Sprachbasis gefunden und hergestellt. "Wer über die Urbedingtheit des heutigen Hebräisch - gleichgültig wie es sich zur überlieferten Gottessprache verhalte - Zweifel hatte, der sehe, der höre Habima, beides in einem, denn beides ist eins." Diese Emphase, die - bei durchaus unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung - Buber und Wolfskehl teilen, macht deutlich, daß mit der gefeierten Wiederkehr der Habima ein entscheidender Punkt in der Auseinandersetzung des deutschen Judentums mit dem Theater des Ostens erreicht ist. Eine historisch nicht mehr revidierbare Entscheidung wird getroffen. Über "das neuere und neueste jiddische Theater braucht hier nichts ausgesagt zu werden", meint Wolfskehl, aber er tut es im Hinblick auf das Habima-Ereignis doch. Der Zuschauer empfängt das Erlebnis einer durchaus hebräischen Szene, eines Raumgefühls, einer Farben- und Lichtsprache, das von irgendher stammt, als auch sich selber, er vernimmt und merkt das Hebräische als Hebräertum, versprach licht, verleiblicht, mit der vollkommenen Sicherheit seines besonderen Fugs, besonderen Zwangs [...] er spürt, er weiß: hier ist hebräische Welt. Diese fast schon emphatische Verklärung der Habima Ende des Jahrzehnts läßt die Erfahrungen mit dem Theater des jüdischen Ostens, wie sie zu dessen Anfang möglich waren, zurücktreten. Die Wilnaer Truppe - wie aus anderen Gründen auch das Staatliche Akademische Moskauer Theater - verblasst im Verhältnis zur Habima, das Jiddische gerät ins Hintertreffen. Die Jüdische Rundschau als Organ der nationaljüdisch orientierten deutschen Juden nimmt sozusagen eine Kanonisierung vor zugunsten der hebräisch spielenden und gegen die jiddisch spielenden Bühnen des Ostens. Die sprachliche ist auch eine ästhetische Entscheidung. Die alternative Kulturbestimmung über Fest, Spiel, Tanz und Körper-Ausdruck, die in der jiddischen Volkssprache ihr kulturgeschichtlich gewachsenes Pendant hat, wird in hebräischer Übersetzung zugleich ästhetisiert und museal. Für die deutschen Intellektuellen stellt sich die Alternative der Aufklärung, reines Hebräisch oder reines Deutsch wieder her. Es ist ein historisch merkwürdiges Zusammentreffen, das im Jahre 1929 die Situation schlaglichtartig verdeutlicht. Im Herbst 1929, als die Rückkehr der

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Habima im Zeichen von "Stil und Mysterium" (Wolfskehl) gefeiert wird, wird in Berlin zum ersten Mal das Drama eines jüdischen Autors deutscher Herkunft aufgeführt, der die Hauptrolle seines Stückes - die Kontrafaktur eines Shylock in jiddischer Sprache abfaßt. In Mehrings Kaufmann von Berlin, einem "Geschichtsdrama aus der Zeit der deutschen Inflation" spricht der Jude Kaftan galizisches Jiddisch, und Erwin Piscator hat in seiner Inszenierung zur Gestaltung dieser Rolle einen jiddischsprachigen Schauspieler, Paul Baratoff aus Wien bzw. New York, verpflichtet. In der heftigen, aus allen politischen und ideologischen Lagern sich formierenden Kritik an Drama und Auffuhrung stimmt auch das deutsche Judentum mit seiner Presse ein: die Jüdische Rundschau kritisiert, wenngleich aus anderen Gründen, so nicht weniger scharf als die CV-Zeitung. Beklagt sich die eine Seite darüber, daß "mehr jüdische Typen auf die Bühne gebracht werden als es die tatsächliche Rolle der Juden in der Inflation" rechtfertige (ein bedenkliches Argument, da Mehring Inflationsverbrechen nicht dem Juden, sondern den deutsch-nationalen Feme-Bünden und ihren Verbindungen zur Großindustrie anlastet), so die andere, daß dem "östlichen Menschen im westlichen Kulturkreis" die "Wandlung zum Europäer" nicht eingeräumt wird 40 . Keine der beiden Seiten findet es der Hervorhebung wert, daß hier im deutschen Theater, ohne Diskreditierung als 'Jargon', das Jiddische in Hauptrollen-Umfang einer nach Shakespeare entworfenen Gestalt zugeordnet wird, zu schweigen davon, daß das Stück seinen inhaltlichen Schwerpunkt in dem Pogrom hat, welches im Zusammenhang mit der Inflation 1923 im ostjüdischen Scheunenviertel nächst dem Alexanderplatz stattgefunden hatte. 41 Als in der Zwangs- und Notsitutation 1933 das Theater des Jüdischen Kulturbunds in Berlin eröffnet wird, geschieht dies mit Nathan der Weise, und Wahl des Stückes wie auch Regie und Aufführung sind in der jüdischen Kritik heftig umstritten. Die schikanösen Einschränkungen, die das nationalsozialistische Regime in den Folgejahren erläßt, sind bekannt, desgleichen die angestrengten und ehrenwerten Versuche, unter den obwaltenden Umständen zu einem Repertoire jüdischer Prägung zu finden, das sich nicht lediglich als Reaktion auf nationalsozialistische Erpressung verstehen ließ. Dabei werden auch Versuche mit Stücken aus dem Theater des jüdischen Ostens gemacht - sie gehören zu den Auffuhrungen, die im Kulturbundtheater, gemessen an allen anderen, die geringste Resonanz finden.42

40 41

42

Jüdische Rundschau, 4.10.1929; CV-Zeitung, 13.9.1929. Vgl. dazu Hans-Peter Bayerdörfer: Shylock in Berlin. Walter Mehring und das Judenportrait im Zeitstück der Weimarer Republik. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad H o m b u r g v. d. H. Teil 3: Vom Ersten Weltkrieg bis 1933/38. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 307-323. Vgl. dazu: Heidelore Riss: Das Theater des Jüdischen Kulturbundes, Berlin. Zum gegenwärtigen Forschungsstand. In: Theatralia Judaica (wie Anm. 34), S. 312-332.

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VI. Auch Arnold Zweig, um auf seine Darstellung des Jahres 1928 zurückzukommen, singt das Lob der Habima. Auch für ihn bedeutet die Erfahrung des Hebräischen auf der Bühne einen Einschnitt. Aber seine Begrifflichkeit wie auch seine Argumentation ist weniger emphatisch als wissenschaftlich geprägt. So gibt er Rechenschaft ab über seinen Theaterbegriff und sein Verständnis von Drama: beide haben zu tun - so wird teils massenpsychologisch teils soziologisch argumentiert - mit der "Befreiung der Gruppenseele von krisenhaften Affekten politisch leidenschaftlicher Art, von Abstoßungseffekten zwischen Bürgern und Proletariern, Juden und Nichtjuden, Weißen und Farbigen, Männern und Frauen" 43 . Das Drama hat die Funktion, die Spannungen in der Gemeinschaft erträglich zu gestalten, die "Leidenschaften innerhalb einer Gruppe oder zwischen zwei Gruppen unschädlich zu machen", "in symbolische Katastrophen abströmen zu lassen statt in wirkliche"44. Diese wirkungspsychologische Auslegung der Katharsis (worauf sich Zweig ausdrücklich stützt) besagt dramaturgisch zugleich, daß die dramatische Struktur bestimmt ist, vom "Typischen einer Fabel, eines Charakters, eines Helden"45, d.h. repräsentativ für eine Gruppe im soziologischen oder ethnischen Sinne verstanden werden kann. Diese Darlegungen Zweigs gipfeln in einer für das Jahr 1927/28 aufschlußreichen Diagnose: nicht das Problemstück - als Zeitdrama eine der bezeichnenden Gattungen der Weimarer Republik - ist 'an der Zeit', also eine auf intellektuelle Darlegung und Entscheidung drängende Form von Drama, sondern eine kathartische Dramatik, bezogen auf 'Gruppenleidenschaften', wie sie, zeitgemäß, in Sportdarbietungen bei Autorennen, Wettläufen usw. ansichtig werden 46 . Der "Mensch als Horde" ist die Signatur der Gegenwart, und Theater hat die Funktion, auf dieser Ebene einzugreifen, damit die entsprechenden Gruppen-Affekte nicht "zu Progrom und Krieg" führen 47 . Unter diesen systematischen Voraussetzungen läßt sich der historische Skopus des ganzen Zweigschen Buches sehr genau festlegen: "Es beschreibt den Anteil eines Mittelmeervolkes von besonderer sozialer und Siedlungsstruktur an dem großen, kulturhaft und gruppenbiologisch wichtigen Entladungsapparat der Deutschen", d.h. des deutschen Nationaltheaters48. Erst am Ende der historischen Phase steht das dem Judentum selbst adäquate Theater. Diese Adäquanz kann auf der deutschen Bühne kaum mehr wirklich in Erscheinung treten. Juden lassen sich in der Gegenwart überhaupt nicht unbefan-

43 44 45 46 47 48

Zweig, Juden auf der deutschen Bühne (wie Anm. 5), S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 26.

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gen darstellen49; in 'Fremddarstellung' unterliegen sie der Verzeichnung von außen, in 'Selbstdarstellung' geraten sie zu sehr zum Plädoyer in eigener Sache, zur Selbstrechtfertigung. So oder so sind sie künstlerisch nicht gültig zu präsentieren. Dies gelingt nur auf einer Bühne, die nicht die deutsche ist. Aber es ist jene Gültigkeit, nach der die Gegenwart, "nach der Entgiftung der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland, in Russland, überall, förmlich schreit"50. Die jiddische Bühne der Wilnaer, die Zweig nicht auf der Grundlage der Berliner Gastspiele, sondern seiner persönlichen Kenntnis während seines halbjährigen Kriegsaufenthaltes in Bialystok beschreibt51, hat ihre Authentizität vor allem in jenen Stücken "die von der jüdischen Gasse selbst für den jüdischen Menschen geschrieben zu sein schienen" - und hier werden David Pinski, Perez Hirschbein, Schalom Asch, Ossip Dymow ausdrücklich genannt - , also auch jene Texte, die den Berliner Auffuhrungen zugrunde gelegen haben. Aber Zweig differenziert zugleich die wirkungspsychologische Dynamik, die die Auffuhrungen entbinden. Sie wirken unterschiedlich aber stark, zum einen auf das ostjüdische, kleinbürgerliche und "luftmenschhafte" Stadtbürgertum52 - mit seiner religiösen und utopisch-eschatologischen Ausrichtung, des weiteren aber auch auf den jüdischen sozialistischen (bundistischen) Arbeiter oder die Angehörigen der zionistischen Jugendbewegung (Zeire Zion), schließlich auch auf die russisch assimilierten Jugendlichen des russischen Schulsystems in den baltischen Ländern etc. Diese genuin jüdische Theatralik hat auch für das deutsche und deutsch-jüdische Publikum seine Bedeutung als "Abbild des jüdischen Lebens selber"53; schließlich wirkt es geradezu symbolisch auch dadurch, daß es auf altdeutscher Grundlage, mit russischen und polnischen Lehnworten und mit hebräischen Begriffs- und Gefühlskomplexen gespickt, ein Konglomerat von Fremden und Eigenem ist. So weit so gut. Aber auch Zweig kennt ein Darüber-Hinaus: Der hebräische Dibbuk übertrifft den jiddischen nicht quantifizierend sondern nach Dimensionen. Der Dibbuk der Habima realisiert die "geistigste Sehnsucht und Erhebung, die man außerhalb von Kulten heute erleben kann" 54 . Auch hier ist, wenngleich im Hinblick auf den chorischen Tanz und den kultischen Gesang genauer beschrieben, die quasi religiöse Dimension die entscheidende. Das neue Stilniveau der Habima schließt das moderne, wiedererweckte Hebräisch als Umgangssprache unmittelbar zusammen mit dem Hebräischen der religiösen Tradition und dem ihm zugeordneten kulturellen und religiösen, auratischen Hintergrund. Keineswegs übersieht Zweig dabei die Bedeutung der 49 50 51 52 53 54

Zweig, Juden auf der deutschen Bühne (wie Anm. 5), S. 264f. Ebd., S. 264. Ebd., S. 269ff. Ebd., S. 272. Ebd., S. 275. Ebd., S. 292.

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Theateravantgarde, deren Brisanz der (nicht-jüdische) Regisseur Vachtangov dank seiner Schulung in der russischen Theater-Moderne zwischen 1900 und 1920 in die Inszenierung eingebracht hat. Dennoch ist es letztlich die wie ein Wunder wirkende Adäquanz jüdischen Wesens und der neu-alten Sprache, die das neue Niveau bestimmt: "Heute ist vermutlich Hebräisch die einzige Sprache, die zwischen strengem Stil und nächster Volkhaftigkeit eine dramatische Atmosphäre verbreiten kann". 55 Daß hier des weiteren Stücke von Pinski, Der ewige Jude, und Richard Beer-Hofmann, Jaakovs Traum, das Dibbuk-Gasispiel ergänzen, ist Beweis dafür, daß die Bühnenerneuerung nicht an ein Stück gebunden, sondern wesenhafter Art ist. So endet auch die Zweigsche Darstellung von 1928 - ohne irgendeinen Argwohn, Deutschland könne in absehbarer Zeit einer antisemitischen Ideologie hörig werden und das reale Ende des Ostjudentums herbeifuhren - mit einer eindeutigen Option: Die mit der Habima sichtbar gewordene innovative Theatralität ist nicht nur alternativ zu sehen zur Mitwirkung deutscher Juden auf dem Nationaltheater der Deutschen, sondern auch zur Theaterkultur des jüdischen Ostens in dessen ganzer volkssprachlicher Lebendigkeit und ästhetischer Modernität, die Zweig durchaus zu würdigen weiß. Trotz allem - auch für Zweig ist das "nationale Ereignis" nicht die 'jüdische' sondern die "hebräische Renaissance" 56 , und letztlich fallt das jiddische Theater in der Alternative zwischen dem deutschen und dem hebräischen Nationaltheater aus dem Rennen. Der emphatische Gedanke des Nationaltheaters der Tradition läuft, in hebräischer Gestalt, für die deutschen Juden dem artistischen Volksund Spieltheater des Ostens den Rang ab. Die neu entdeckte Valenz, die dem Körperlichen, der Bewegung und damit dem Schauspielerischen für die kulturelle Selbstwahrnehmung zukommt, gibt Zweig natürlich nicht preis, aber auch er bindet sie - im Unterschied zum 'entfesselten Theater' - zurück an Sprache und Text: Die Geste, deren Bedeutung er [der Jude] wie einen Buchstaben des Alphabets am eigenen Leibe erfährt, trägt ihn hinein in fremde Iche. Und die Spielfreude kindlich erhaltenden Klimas [...] verführt ihn, mit Lust sich zu verwandeln: er wird Schauspieler, er ist der geborene Schauspieler. 5 7

55 56 57

Zweig, Juden auf der deutschen Bühne (wie Anm. 5), S. 297. Ebd., S. 301. Ebd., S. 23.

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Hermann Cohen Kantische Vernunft und Jüdisches Selbstbewußtsein

Ernst Cassirer, der berühmteste Schüler Cohens, hat die Philosophie seines Lehrers u.a. mit diesen Worten zusammengefaßt Der Vorrang der Aktivität vor der Passivität, des Selbständig-Geistigen vor dem Sinnlich-Dinglichen sollte rein und vollständig durchgeführt werden. Jede Berufung auf ein bloß Gegebenes sollte wegfallen: an Stelle aller angeblichen Grundlagen in den Dingen sollten die reinen Grundlegungen des Denkens, des Wollens, des künstlerischen und religiösen Bewußtseins treten. So wurde die Logik Cohens zur Logik des Ursprungs.1 Eine 'Logik des Ursprungs' bedeutet hier, die Vernunft zur Urheberin der Welt zu erklären. Daß das Wirkliche ein Erzeugnis der Vernunft sei, und zwar einer Vernunft, welche sich in allgemeinen und notwendigen Gesetzen artikuliert, das war tatsächlich das idealistische Credo Cohens. Die Wirklichkeit z.B. eines Sonnensystems und eines Planeten in ihm, den wir mit dem Auge wahrnehmen, sind nicht die Sinnesdaten, sondern es ist sein mathematisches Gesetz und die daraus folgende Berechenbarkeit der Erscheinungen. Die Wirklichkeit ist das, was durch Wissenschaft definiert und durch ihre Begriffe verbürgt werden kann. Und 'Wissenschaft' meint dabei die konkrete Praxis der Vernunft. Diesen Idealismus einer sich selbst grundlegenden und gesetzgebenden Vernunft hat Cohen in Nachfolge und Überbietung Kants als ein eigenes philosophisches System ausgebaut. Und er hat im Anschluß an diese philosophische Arbeit eine jüdische Religionsphilosophie geschaffen, die, ohne daß es ihm selbst ganz bewußt geworden wäre, den Rahmen des philosophischen Systems sprengt. Franz Rosenzweig, der in den letzten fünf Lebensjahren Cohens zu einem seiner vertrautesten Gesprächspartner wurde, hat als erster darauf hingewiesen, daß die postum erschienene Schrift Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums den idealistischen Begriff der autonomen Vernunft durch den religiösen einer geoffenbarten Vernunft ersetzt. 2 Cohen selbst hatte 1

2

Jürgen Habermas zitiert diese Aussage als einen Auszug aus der Ansprache, die Cassirer am Grab Cohens hielt (vgl. Jürgen Habermas: Der deutsche Idealismus der Jüdischen Philosophen. In: ders., Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971 (Bibliothek Suhrkamp, 265), S. 37-66, hier S. 44. Die Korrelation von Ich und Du, wie sie Cohen in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk ausgestaltet, läßt Rosenzweig sagen, daß dieser dort "unbewußtermaßen die

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das Werk hingegen in der Absicht verfaßt, die Rationalität des reinen Monotheismus unter Beweis zu stellen. So weist denn auch Rosenzweig zu Recht darauf hin, daß Cohen wohl überrascht gewesen wäre, hätte man so scharf zwischen seinem rationalistisch-systematischen und seinem religionsphilosophischen Ansatz unterschieden. Wie also stellt sich bei heutiger Lektüre Cohens Religion der Vernunft dar? Handelt es sich um eine Idealisierung der Vernunft mit religiösen Mitteln, oder artikuliert sich hier ein Glaube, der mit den Mitteln der Vernunft über deren Grenzen hinausstrebt? Und wenn das letztere zutrifft, inwiefern verwandelt Cohen das kantische Erbe in ein spezifisch jüdisches Zeugnis? Bevor wir jedoch auf diese Fragen eingehen, sei ein knapper Oberblick über Cohens Œuvre gegeben und kurz die historische Situation, aus der das Werk zu verstehen ist, beschrieben. Cohen wird 1842 in Coswig an der Elbe geboren. Sein Vater ist dort Lehrer und Synagogenvorsänger. Vom vierten Lebensjahr an unterrichtet er seinen Sohn im Hebräischen. Dem Andenken des Vaters wird Cohen sein letztes Werk, die Religion der Vernunft, widmen. Nach dem Schulabschluß besucht Cohen die Universitäten Breslau und Berlin. In Breslau studiert er auch am jüdisch-theologischen Seminar, wo u.a. Zacharias Frankel und Heinrich Graetz seine Lehrer sind, die noch zur Generation der Streiter für die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland gehören. 1871, als Neunundzwanzigjähriger, veröffentlicht Cohen Kants Theorie der Erfahrung. Der Erfolg dieses Buchs ermöglicht es ihm, sich in Marburg zu habilitieren. Und schon drei Jahre später wird er dort zum ordentlichen Professor der Philosophie gewählt. Fast vierzig Jahre wird er dort bleiben und der Universität durch seine 'Marburger Schule' des Neukantianismus weltweiten Ruhm verschaffen. Zwischen 1902 und 1912 erscheinen seine drei philosophischen Hauptwerke, 1902 die Logik der reinen Erkenntnis, 1904 die Ethik des reinen Willens und 1912 die Ästhetik des reinen Gefühls. Sie bilden ein den drei kantischen Kritiken folgendes SyGrundlagen einer neuen Logik" entdeckt. Und Rosenzweig fahrt weiter fort: "So werden hier die Schranken des Idealismus von seinem letzten großen nachgeborenen Sohn überschritten, j a wenn man bedenkt, daß Descartes' Raison nur den Deus des Mittelalters wie dieser den Kosmos der Antike als die das jeweils andere veruneigentlichende Macht verdrängt hatte, die Schranken aller bisherigen Philosophie. Daß diese Auffassung die philosophiehistorische Bedeutung des Auftretens der Korrelation als Grundbegriff nicht überbelastet, das beweist jener in seiner genialen Ahnungslosigkeit fast erschreckende letzte Schritt, den dann wieder das Nachlaßwerk tut, wenn es in seinem fünften Kapitel den letzten Grund alles Idealismus und, da der Idealismus nur das unausgesprochene Geheimnis aller vorhergehenden Philosophie ausspricht, aller Philosophie, die Vernunft selber, als Schöpfung Gottes, als geschaffene Vernunft deutet." Franz Rosenzweig: Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens. In: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. Hg. von Reinhold und Annemarie Mayer. Dordrecht/Boston/Lancaster: Martinus Nijhoff 1984 (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), S. 177-223, hier S. 210.

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stem, das durch einen vierten Band, eine Psychologie, ergänzt werden sollte; letztere ist in der Ästhetik bereits angekündigt. Aber an ihrer Stelle hat Cohen in den letzten sechs Jahren seines Lebens, die er in Berlin als Lehrer an der Lehranstalt fur die Wissenschaft des Judentums verbrachte, zwei religionsphilosophische Monographien herausgebracht, Der Begriff der Religion im System der Philosophie und die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Dieses letzte postume Werk, die Summe seiner jüdischen Schriften, wird ergänzt durch jene kleineren Jüdischen Schriften, die in drei Bänden 1924 durch Bruno Strauß herausgegeben in den "Veröffentlichungen der Akademie fur die Wissenschaft des Judentums" erschienen sind. Von den knapp 70 Aufsätzen, die dort abgedruckt sind, entstanden fünfundzwanzig zwischen 1880 und 1908, zweiundvierzig hingegen in den letzten zehn Lebensjahren. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn man schon zu Cohens Lebzeiten von seiner Rückkehr zum Judentum gesprochen hat. 1918 ist Hermann Cohen sechsundsiebzigjährig in Berlin gestorben. Die nach wie vor differenzierteste Darstellung des geistigen Umfelds, aus dem die Arbeit Cohens zu verstehen ist, verdanken wir Hans Liebeschütz 3 . Er stellt dar, wie sich im Berlin der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts aufgrund des Zusammenbruchs der idealistischen Systeme in der deutschen Philosophie, des Fortschritts der Naturwissenschaften und der Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung westeuropäisches Gedankengut breitmachen konnte. Wilhelm Dilthey (1833-1911), der neun Jahre ältere Zeitgenosse Cohens, gilt Liebeschütz als "guter Zeuge" 4 fur den Einfluß englischer und französischer Ideen. Die Geschichtstheorien Auguste Comtes, die nach Naturgesetzen forschende Psychologie Hippolyte Taines, vor allem aber die Philosophie John Stuart Mills, die eine Gesellschaftswissenschaft auf der Grundlage empirischer Psychologie erstrebte, faszinieren die jungen Gelehrten in Preußens Hauptstadt. So ist es kein Zufall, daß Cohens Bemühen um Kontakte zur akademischen Öffentlichkeit ihn zu Moritz Lazarus und Haymann Steinthal fuhrt, die 1859 die Zeitschrift für Völkerpsychologie gegründet hatten und mit diesem Publikationsorgan ein Äquivalent zu den westeuropäischen Forschungen im Bereich der Anthropologie und Gesellschaftswissenschaften schaffen wollen. Allerdings stehen diese empirisch und materialistisch orientierten westeuropäischen Tendenzen von Anfang an im klaren Gegensatz zur philosophischen Tradition in Deutschland. Und auf diese besinnt man sich in dem Maße, wie auch das politische Selbstbewußtsein sich stärkt. Richtungsweisend ist hier das 1865 erschienene Buch Otto Liebmanns, Kant und die Epigonen, das wie ein Programm zur Wiederentdeckung des Königsberger Philosophen wirkt. Diese 3

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Hans Liebeschütz: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich. Tübingen: Mohr 1970 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, 23). Ebd., S. 17.

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Zusammenhänge spiegeln sich in Cohens intellektueller Biographie. Während er nämlich 1865 anläßlich seiner Promotion noch die These vertritt, daß der Fortschritt in der Philosophie von der Weiterarbeit auf dem Gebiete der Psychologie abhänge,5 wendet er sich in den folgenden Jahren ausdrücklich vom Empirismus und Materialismus ab und bereitet in einer Reihe von Schriften, die Kants Philosophie zum Ausgangspunkt nehmen, jenes System vor, dem er selbst die Bezeichnung des Kritischen Idealismus gibt. Es gibt zwei Daten in Hermann Cohens Leben, die gleichsam Angelpunkte bilden. Das eine ist das Jahr 1880, das andere das Jahr 1912. 1880 erscheint Cohens Aufsatz "Ein Bekenntnis in der Judenfrage", 1912 entschließt sich der Siebzigjährige, von Marburg nach Berlin überzusiedeln, um den Rest seines Lebens den jüdischen Studien dort zu widmen. Cohen selbst hat auf seiner großen Rußlandreise 1914 das Jahr 1880 als das seiner Umkehr zum Judentum bezeichnet und sein Lehen so in einer fortdauernden Kontinuität gesehen. Aber Rosenzweig hat sicher Recht, wenn er dagegen feststellt, daß es "ein langer Weg [war], der bis zu dieser Selbstentdeckung und Selbstoffenbarung" führte 6 . Cohens Bekenntnis von 1880 hat einen sehr konkreten Anlaß. In den Jahren 1878 und 1879 wurden die deutschen Juden damit konfrontiert, daß ihre Anerkennung als gleichberechtigte Bürger im deutschen Kaiserreich weit davon entfernt war, zu einer Selbstverständlichkeit zu werden. 1878 hatte Adolf Stöcker die erste antisemitische Bewegung gegründet; im November 1879 veröffentlichte der Historiker und offizielle Historiograph des Staates Preußen, Heinrich von Treitschke, in den von ihm herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz unter dem Titel "Herr Graetz und sein Judentum", in dem er offen für den Antisemitismus Partei ergriff und unter anderem schrieb: "An der tausendjährigen Arbeit deutscher Staatenbildung haben die Juden bisauf die allerneueste Zeit herab gar keinen Antheil genommen"7; damit war ihnen ihr Deutschsein abgesprochen8. Cohens Bekenntnis-PMÎs&tz ist eine direkte Antwort auf Treitschke. Er kommt dessen Position dabei so sehr entgegen, daß viele jüdische Glaubensbrüder empört und entsetzt sind; aber er bekennt sich eben doch auch selbst zu seinem Jüdischsein und macht es damit auch Treitschke nicht recht. Auf nähere Einzelheiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden9; entscheidend ist

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9

Vgl. Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig (wie Anm. 3), S. 19. Rosenzweig, Einleitung in die Akademieausgabe (wie Anm. 2), S. 183. Heinrich von Treitschke: Herr Graetz und sein Judentum. In: Preußische Jahrbücher, hg. von Η. v. Treitschke. Bd 44. Berlin 1879, S. 660-671, hier S. 669. Vgl. die ausführliche Darstellung des Sachverhalts bei Liebeschütz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig (wie Anm. 3), S. 29ff. Sie sind ohne Schwierigkeiten bei Rosenzweig, Zweistromland (wie Anm. 2), S. 189ff. nachzulesen.

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vielmehr der Hinweis, daß die philosophische Arbeit Cohens in dem folgenden Vierteljahrhundert fur ihn ganz unter dem Zeichen gestanden hat, ein deutscher Philosoph, und zwar ein Kantianer sein zu wollen und es auch geworden zu sein. Konkret bedeutete dies, daß er das Prinzip der Vernunft gegen Pragmatismus, Empirismus und Materialismus stellte. Sein Bekenntnis zum Judentum von 1880 sollte eben das Bekenntnis eines deutschen Juden sein. Ab 1912 aber wird zum Inhalt seines Lebens die Darstellung der prophetischen Religion des jüdischen Messianismus als einer Religion für die ganze Menschheit. Als nächstes seien kurz die wichtigsten Aspekte der Cohenschen Philosophie zusammengefaßt. Der Kritische Idealismus Cohens weiß sich in platonisch-kantischer Tradition. Er versteht die Ideenlehre Piatons als eine Theorie der Erkenntnis. Cohens Überzeugung ist es, so faßt es Liebeschütz zusammen, daß "fur Platon sich der Sinn der Idee in ihrer logischen Funktion erschöpft habe" 10 . Die Idee wird zu einem methodischen Begriff der Vermittlung zwischen Theorie und Erfahrung. Cohen geht davon aus, daß in der Wechselhaftigkeit menschlicher Sinneserfahrung Wissen nur möglich ist dadurch, daß den Sinneseindrücken Theorien zugeordnet werden, die die Bedingungen der Erfahrung erfassen und die dieser so Gesetzmäßigkeit geben. Die oberste Idee ist die sich selbst ihr Gesetz gebende Vernunft. Als das konkreteste Beispiel fungiert die mathematische Idee; denn sie erfüllt die Forderungen nach Allgemeinheit und Notwendigkeit der logischen Zusammenhänge. Je nach Verengung oder Erweiterung des Beobachtungsraumes unterliegen freilich auch die Theorien der Veränderung. Das Wissen selbst ist ein Prozeß. Neue Theorien werden notwendig, wenn neue Erfahrungen begrifflich zu erfassen sind. Der Fortschritt des Wissens stellt sich als eine Hierarchie von Hypothesen dar. "Die Vorläufigkeit jedes Schrittes in diesem Prozeß ist für Cohen in der Gleichsetzung von Idee mit dem ebenfalls auf Plato zurückgehenden Begriff Hypothesis ausgedrückt."11 Als oberste Idee gilt jene der Einheit, aus der sich zugleich der Anspruch auf Systematisierbarkeit des menschlichen Wissens ableitet. Vollendet wäre diese Einheit im Nachweis des Zusammenhangs zwischen der Kausalität der Natur und der Teleologie der Sittlichkeit. Das Ziel der Erkenntnis ist die Annäherung an die Wahrheit; der Weg dorthin ist unendlich; eine absolute Wahrheit am Ende des Weges gibt es nicht. Aber es gibt sehr wohl eine Richtung. Sie ist bestimmt durch den Ausgangspunkt der Sinneserfahrung als dem konkreten Material aller Erkenntnis und durch die Verwandlung derselben in logische Strukturen. Weit radikaler als bei Kant dient bei Cohen die Mathematik und die auf ihr gründende Naturwissenschaft als Vorbild. Es gibt fur Cohen kein anderes Wissen als das wissenschaftliche. In der Wissenschaft verwirklicht sich für ihn die menschliche Vernunft und

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Vgl. Liebeschutz, Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig (wie Anm. 3), S. 20. Ebd.

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damit zugleich der Fortschritt der Menschheit. Die Philosophie hat die Aufgabe, die unterschiedlichen Kulturleistungen in eine wissenschaftliche Form zu bringen. Das bedeutet, daß sie den vorhandenen Institutionen der Einzelwissenschaften gegenüber Erkenntniskritik als Wissenschaftstheorie betreibt. Sie macht die Prüfung der Gültigkeit der jeweiligen Erkenntnis zu ihrer Aufgabe. Konkret ausgearbeitet ist dies bei Cohen in seiner Logik und in seiner Ethik. Seine Logik der reinen Erkenntnis überprüft die naturwissenschaftliche Arbeit im Rückgang auf die Mathematik, von der sie anhängig und die ihrerseits der Inbegriff einer Wissenschaft ist, die auf der Formalisierbarkeit der Logik gründet. Seine Ethik des reinen Willens setzt die Faktizität der Rechts- und Staatswissenschaft voraus, um auch sie der (wie es Cohen selbst nennt) "transzendentalen Inquisition"12 zu unterziehen. Das meint die Überprüfung ihrer Grundlegung und Rechenschaftsgebung. Die systematische Einheit der Cohenschen Philosophie kommt nun dadurch zustande, daß er die Kultur als den Selbstvollzug des menschlichen Geistes in Entsprechung zu Kant in die drei Grundrichtungen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst gliedert, daß er ihnen die drei Grundvermögen Erkenntnis, Wille und Gefühl zuordnet und daß er diese drei Vermögen einheitlich durch die Vernunft vermittelt sieht. Kultur überhaupt gründet für ihn in der menschlichen Vernunft. Das heißt zugleich, daß sich die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu seiner Umwelt stets als Erkenntnis vollzieht. Alle Probleme der Kultur, auch die philosophischen Fragen nach ihrer Begründbarkeit, aber nicht nur sie, laufen bei Cohen auf die Überprüfung von Erkenntnisgewißheit hinaus. In diesem Sinne spricht er selbst vom Rationalismus als "der Quelle aller geistigen Kultur"13. Und weiter: "Die systematische Philosophie hat nun ihre Wurzel in dem Gedanken, daß alle Probleme der Kultur der gemeinschaftlichen Quelle der Vernunft entspringen."14 Diese gemeinschaftliche Quelle der Vernunft ist zugleich die Gewähr dafür, daß es eine Gemeinschaft der Menschen in der weltumspannenden Idee der einen Menschheit gebe. Cohens Erkenntnisgesetz der Vernunft ist zugleich der Glaube an das fortschreitende Vernünftigwerden der Menschen. Die Verwirklichung dieser Vernunft drückt sich aus in der Sehnsucht nach dem Frieden und im aktiven Handeln fur ihn. Mit diesem Hinweis ist zugleich die Brücke geschlagen zu Cohens Verständnis der jüdischen Religion.

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So faßt Cohen seine philosophische Arbeit in seinem ersten religionsphilosophischen Hauptwerk, dem Begriff der Religion im System der Philosophie (Philosophische Arbeiten X , l . Gießen 1915, hier S. 8) zusammen. So zu lesen in Cohens Einleitung zu seiner Ästhetik des reinen Gefühls, in: ders., Werke. Hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich unter der Leitung von Helmut Holzhey. Bd 8: System der Philosophie; T. 3. Ästhetik des reinen Gefühls. Hildesheim: Olms 1982 [Nachdruck der Ausgabe Berlin: Cassirer 1912], S. I-XXII, hier S. XII. Ebd.

Hermann Cohen: Kantische Vernunft und Jüdisches Selbstbewußtsein

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D e r Friede ist das Wahrzeichen der Ewigkeit und e b e n s o die L o s u n g des m e n s c h lichen Lebens in seinem individuellen Verhalten, w i e in der Ewigkeit seines g e schichtlichen Berufes. In dieser geschichtlichen Ewigkeit vollführt sich die Fried e n s m i s s i o n der messianischen M e n s c h h e i t . 1 5

Mit diesen beiden Sätzen beschließt Cohen seine Religionsphilosophie. Und wir können vorab schon sagen, daß dies sein jüdisches Vermächtnis darstellt. Es ist im übrigen ein Vermächtnis, das uns aus einer Zeit des Kriegs, nämlich aus der Zeit des Ersten Weltkriegs überliefert ist. Die messianische Menschheit ist die Idee der Einheit Israels mit allen Völkern der Welt als dem einen Glaubensvolk des Monotheismus. So stellt sich für Cohen das ideale und damit unendliche Ziel der Geschichte dar. Konkret aber ist Cohens jüdisches Selbstbewußtsein ein individualisiertes Menschheitsbewußtsein. Ein individuelles Allgemeine will er verkünden und auch praktisch leben, und es soll, durchaus dem kantischen Imperativ gemäß, so gelebt sein, daß im Individuellen unmittelbar und also ohne fremde Vermittlung das Andere sowohl als Allgemeines als auch als Gemeinschaft begegnet. Das Ziel könnte nicht höher gesteckt sein; denn es bedeutet Einheit von Theorie und Praxis und von Wissenschaft und Kultur; gegründet aber soll es sein in der Korrelation von Gott und Mensch. Wie gestaltet Cohen dies aus? In beispielhafter Prägnanz faßt der Titel seines nachgelassenen Werks das Problem zusammen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums·, das besagt zum einen, daß Vernunft und Vernunft-Transzendentes miteinander verknüpft werden, und es besagt zum anderen, das diese Verknüpfung an einem Konkretum exemplifiziert wird, welches, da als 'Quelle' ausgezeichnet, an beidem Anteil haben muß. Stellen wir für die Vernunft den Menschen und für die Religion Gott, dann wird das Judentum zur Mitte, in der sich beide, Gott und Mensch, begegnen. Kann indes dieses Individuelle, diese Einmaligkeit Israels, ein Allgemeines sein? Auf welche Weise macht Cohen den Friedenswillen der jüdischen Einzigkeit glaubhaft? Das Problem, mit welchem Cohen ringt, ist das Problem des Begriffs. Sein ganzes philosophisches System ist auf das gegründet, was ich als BegriffsEnthusiasmus bezeichnen möchte. Das kantische und cohensche Ethos der Vernunft ist im tiefsten Grunde ein Glaube an die Vernunft. Dieses VernunftGläubigsein fuhrt Cohen notwendigerweise vor die Frage, was denn der Grund des Glaubens sei. Und mit dieser Frage überschreitet er die Grenzen der Vernunft. Das Enthusiastische nun macht es aus, daß er dieses Überschreiten gleichwohl logisch und also begrifflich zu fassen meint. Ganz programmatisch heißt es in der Einleitung zur Religion der Vernunft, daß es auf den Begriff der

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Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verf. neu durchgearb. u. mit einem Nachw. vers, von Bruno Strauß. Wiesbaden: Fourier 1988 [Nachdruck der 2. Aufl. 1928], S. 533.

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Religion ankomme und daß nur aus diesem Begriff heraus deren Geschichte zu verstehen sei. 16 Und das Ergebnis dieses Erkenntnisprozesses wird sein, daß Cohen eine unendliche Leidensgeschichte Israels zur Bedingung der Hoffnungs- und ewigen Friedensgeschichte der Menschheit macht. Der jüdische Enthusiasmus Hermann Cohens ist im Kern exakt dieses Paradoxon. In den drei Namen Adams, Noahs und Abrahams ist für Cohen der Grund gelegt für den Begriff der Menschheit, wie ihn so weder die Ägypter oder Babylonier, noch die Griechen mit ihrer Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren gekannt haben. Noah ist das Symbol des Menschengeschlechts; er steht zwischen dem ersten Menschen und Abraham als jenem, mit welchem Gott den Bund Schloß. Seit talmudischer Zeit ist der Noachide der Fremdling-Beisaß und Fromme der Völker der Welt; er repräsentiert im jüdischen Volk die Geltung der Gewissensfreiheit und der Toleranz. Aber gerade weil Israel diese Idee des Allgemeinen sowohl in Abgrenzung von seiner eigenen Gottesvolkschaft als auch als integralen Teil derselben begreift, wird zu seinem historischen Menschheits-Auftrag das Leben im Ringen um den Begriff. Cohen spitzt nun die kantische Tradition dadurch zu, daß er das Problem des Begriffs im wesentlichen auf zwei Formen zurückfuhrt, auf eine mathematisch-theoretische und auf eine ethisch-praktische. Cohens Vision ist es, diese beiden Formen so zu homogenisieren - er selbst nennt es "Analogie" daß sie schließlich doch eine Einheit bilden. Die Einheitlichkeit der Mathematik soll jene des Monotheismus werden. Dies konkret ist die Vision. Für Cohen kennzeichnend ist, daß ihm die mathematische Allgemeinheit, d.h. eine begrifflich-logisch gesetzte, die den Zweifel ausschließt, das Ideal bleibt. Der Widerspruch zwischen der Vernunft des Begriffs und der Unbegreiflichkeit Gottes bleibt bei ihm unerlöst. Erlösung findet er statt dessen in zweierlei: in einem Zeitbewußtsein, das sich religiös begründet, insofern es den Messianismus des Gutwerdens der Menschheit immer schon gegründet sein läßt im Glauben des tatsächlichen Gutseins der Schöpfung; und in einer Idealisierung des Leidens Israels; denn das messianische Volk wird ihm zum "Stellvertreter des Leids" 17 der Menschheit; und es kann dies werden, weil "das Leid Israels der symbolische Ausdruck fur die Versöhnung mit Gott" 18 ist. Wir müssen 16

Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 15), S. 3: "Die Vernunft soll offenbar die Religion unabhängig machen von den Beschreibungen der Religionsgeschichte. Und wir scheuen den Einwand nicht, daß ja überall in der Geschichte Vernunft walten müsse. Indessen: nicht die Geschichte an sich bestimmt den Begriff der Vernunft. Der Begriff der Vernunft soll erst den Begriff der Religion erzeugen. Immer ist der Begriff das selbständige Problem, das dem Problem der Entwicklung zur Voraussetzung dienen muß." - Und weiter: "Es kann nimmermehr gelingen, aus den literarischen Quellen einen einheitlichen Begriff des Judentums zu entwickeln, wenn dieser nicht selbst, nach der methodischen Analogie des Organismus, als der ideale Vorwurf vorweggenommen wird."

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Vgl. Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 15), S. 312. Ebd., S. 274.

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freilich am Ende dieses Jahrhunderts feststellen, daß angesichts dessen, was in der Generation nach Cohen jüdisches Schicksal wurde, diese Leidens-Idealisierung ein Unheimliches birgt. Das Problem des Begriffs ist zentriert in der mathematischen Idee. Die mathematische Ur-Intuition ist die der Einheit. Sie ist eine theoretische Größe; das heißt, daß sie von einem Theoretisierer konstruiert, hypostasiert wird. Sie ist überhaupt die ursprungliche Hypothesis, nämlich Idee als logische Setzung. Mit anderen Worten: die mathematische Idee der Einheit hat den Vorzug, daß sich im Vollzug ihrer Konstitution Erkenntnis dadurch ereignet, daß sich der Erkennende einen Einheits-Gegenstand als Gegenstand seiner Erkenntnis selbst gibt. Das wußte man schon vor Euklid, daß es 'die Gerade' in der Natur nicht gibt. Die geometrischen Urformen sind logische Setzungen. Ihnen allen liegt die Ur-Intuition der Einheit zugrunde. Daß damit ein Erfahrungsproblem als Suche nach Identität im schwankenden Bildersaal der Sinnesbilder verbunden ist, welches dann zu jenem Ziel fuhrt, daß das sinnlich Wahrgenommene durch ein gemachtes, mathematisches Zeichen ersetzt wird - diese klassische, erkenntnistheoretische Problematik ist letztlich ganz sekundär gegenüber jenem anderen Problem, daß in der objektivierten Erkenntniseinheit die praktische Einheit des Erkennenden und des Erkannten verlorengeht. Im Begriff, und erst recht in der logischen Methodisierung, die wir 'Wissenschaft' nennen, entfremden wir uns die Natur. Und genau dies ist Cohens Problem des Monotheismus. Das Theoretische der mathematischen Idee macht es aus, daß sie nur für die äußere Natur gilt. Der Mensch ist keine 'Zahl'; wo er es wird, da hört er auf, Mensch zu sein. Die Natur aber wird durch den Menschen zählbar gemacht; und genau dadurch ist sie das Nicht-Menschliche. Die Allgemeinheit und Notwendigkeit der mathematisch-logischen Setzungen steht und fallt damit, daß die elementare Willkür der Setzungen - und das heißt eben vor allem anderen: der Ur-Intuition der Einheit - nicht in Frage gestellt wird. Gibt man indes der mathematischen Theorie eine praktische Wendung, dann erkennt man, daß sie der sich selbst fortzeugende Wille des Menschen zum Begriff ist. Diesen Willen zum Begriff versteht Cohen als 'Vernunft'. Noch ganz geprägt vom Wissenschaftsoptimismus des 19. Jahrhunderts ist ihm die Problematik einer mathematisch gesteuerten Vergegenständlichung der Raum-Zeit-Bezüge bis hin zu ihrer möglichen, ökologischen Vergiftung ganz und gar fremd. Begriff und Unbegreifliches, Wissen und Glauben, Theorie und Praxis stellen sich ihm nicht als unlösbarer, sondern als überwindbarer Widerspruch dar. Er möchte eben tatsächlich 'Vernunft' und 'Religion' als eine Einheit fassen. Und er verkennt, daß diese Einheit nur jenseits des Begriffs liegen kann. Cohens großer Antipode ist Spinoza. Dessen Pantheismus erlebt er als Atheismus und also als Verrat der jüdischen Religion. Er möchte einen Vernunft-positiven Begriff und Inhalt der Religion dagegensetzen.

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Das erkenntnistheoretische Ziel der Cohenschen Religionsphilosophie ist ein emphatischer Begriff der Wahrheit. Er nennt es 'das Gesetz der Wahrheit' und definiert es folgendermaßen: Wahrheit ist allein das Gesetz des notwendigen Zusammenhangs der Naturerkenntnis mit der sittlichen Erkenntnis. Diese Wahrheit ist mehr als Richtigkeit, mehr als Zweckmäßigkeit. Wahrheit ist die Übereinstimmung der theoretischen Kausalitat mit der ethischen Teleologie. Diese Übereinstimmung ist [...] das Urproblem der systematischen Philosophie. Sie ist aber auch der Grundsinn in der Idee Gottes. 1 9

Cohens Begriffs-Enthusiasmus fuhrt ihn so weit, daß er aus 'Gott' einen Korrelationsbegriff von Naturwissenschaft und Ethik macht. Im Rückblick können wir heute feststellen, daß tatsächlich die Entwicklung in diesem Jahrhundert dahin gefuhrt hat, daß in Ethikkommissionen über die Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Möglichkeiten diskutiert wird. Aber das geschieht nicht im Glauben an die gemeinsame und kontinuierliche Förderung der Sittlichkeit, sondern eher als Versuch der Schadensbegrenzung. Anders als Cohen müssen wir uns heute fragen, ob die Kultur der Wissenschaft, die Cohen philosophisch und theologisch zu legitimieren sich bemühte, den geforderten Primat der Sittlichkeit bestätigt. Eher sieht es so aus, daß wir inzwischen weiter denn je davon entfernt sind, theoretische Kausalität und ethische Teleologie in Übereinstimmung gebracht zu haben. Und es stellt sich deshalb auch prinzipiell die Frage, ob jene Cohensche Form des Rationalismus, die die Religion in Analogie zur Wissenschaft begrifflich systematisieren will, nicht von Anfang an ein Formwille ist, der sich selbst um einer anderen als der theoretischen Wahrheit willen, nämlich um der Glaubenswahrheit willen, preisgeben muß. Cohens jüdisches Selbstbewußtsein wäre dann die unbewußte und darin gleichsam kollektivhistorische Aufhebung der kategorialen Vernunft - einer Aufhebung freilich, die konkret auch die Gestalt eines individuellen Bekenntnisses annimmt. Exakt dieses Paradoxon der Gleichzeitigkeit des rationalistisch Allgemeinen mit dem historisch Individuellen ist vielleicht die konkreteste Bestimmung jüdischer IntelIektualität im Deutschland der letzten Jahrhundertwende. Cohen macht unmißverständlich klar, daß die beiden folgenden Tatsachen die Grundsetzungen des jüdischen Monotheismus sind: die Einzigkeit Gottes und der Bund des Einzigen mit dem Volke Israel. Cohens rationalistischer Ansatz zwingt nun geradezu vor die Frage, ob nicht auch der Begriff 'Gott' als Begriff ursprünglich eine mathematische, theoretische Intuition ist; exakt hier liegt ja die Differenz zu Spinoza, daß sich Cohen strikt jegliche transzendente oder pantheistische Einheitsspekulation verbietet. Erst aus einer solchen Einheitsspekulation heraus wäre die Theorie, wäre überhaupt die Hybris des sich selbst begreifenden Erkennens des Menschen, in eine übergeordnete Praxis überführbar. Cohen hingegen insistiert darauf, daß das Göttliche als Einziges, 19

Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 15), S. 476.

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daß es in der Einheit als Differenz und also nicht als Natur gedacht wird. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Cohens monotheistischer Mensch denkt Gott, um an ihn zu glauben. Zu recht wird deshalb Rosenzweig anmerken, daß Cohens Philosophie des Monotheismus unfähig bleibt, begriffsindifferenten Religionen wie dem Buddhismus oder Konfuzianismus gerecht zu werden. 20 Die spezifisch monotheistische Begriffshybris, die sich in der Vereinzelung Gottes ereignet, kann der Rationalist Cohen nicht thematisieren. Auch die Folgerung, daß Israel den Menschen und also die Idee der Menschheit in der Idee des einzigen Gottes entdeckt, müssen wir am Ende dieses Jahrhunderts konfrontieren mit der Frage, wann und wo wir bereit sind, die Grenzen zu ziehen für unseren Anspruch, alle Kulturen zurechtzustutzen auf mathematisierende und kategorisierende Vernunft. Schließlich ist kritisch anzumerken, daß auch jene Legitimation des genuin jüdischen Monotheismus, die aus der Einzigkeit Gottes die Einzigkeit menschlicher Individualität ableitet, uns Heutigen zumindest ambivalent erscheinen muß angesichts einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der nicht die Fähigkeit zur Individuation und Vereinzelung, sondern vielmehr die mangelnde Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung zu einem Problem wird, das den Fortbestand der Kultur gefährdet. Aber diese kritischen Anmerkungen wiegen leicht, wenn man dagegen hält, was die cohensche Religionsphilosophie tatsächlich leistet. Es ist, im Abarbeiten des Rationalismus, der Nachweis, daß eine allgemeine Idee des Menschseins die folgenden Bedingungen hat: sich selbst begreifen kann der Mensch nur aus der Negation eines Nicht-Menschlichen; begründen kann er den Selbst-Begriff nur in der Positivierung dieses Anderen; und schließlich drittens: dieses positiv Andere, 'Gott', hat das Recht, uns an sich zu binden und uns wissen zu lassen, daß wir in seiner Schuld sind. Im Zentrum der Cohenschen Religionsphilosophie stehen drei Begriffe, die bei ihm bezeichnenderweise gar keinen logischen Begriffsstatus erlangen, sondern Glaubensinhalte darstellen. Es sind die Worte 'Schuld', 'Sünde' und 'Versöhnung'. Der Mensch ist der Sünde verfallen, dieweil er ja auch Fleisch ist (1. Mose 6,3). Die Versöhnung ist das Erlöstwerden durch den Glauben. Und die Schuld? Sie nennt er "den Erbteil des menschlichen Daseins" 21 , bringt sie aber nicht in Verbindung mit jenem elementarsten Recht, das sich die Vernunft selbst geben will, dem Recht zum Begriff. Daß Cohen dies verkennt, ist wohl kein Zufall; denn eine Dialektik der Vernunft ist ihm fremd. So fügen wir denn

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Franz Rosenzweig: Über Hermann Cohens "Religion der Vernunft". In: ders., Zweistromland (wie Anm. 2), S. 225-227, hier S. 226: "Die Urquelle ist deswegen Quelle der Vernunft. So können sich alle bei ihr sammeln. (Damit ist nun eigentlich nur das Verhältnis des Judentums zu Christentum und Islam erklärt. Die sind eben Verfälschungen des reinen Weins. Aber Buddha und Konfuzius? [...] Indem Cohen 'Vernunft' sagt, dreht er der außereuropäischen Welt den Rücken, indem er 'Religion' sagt, richtet er sich auf das Judentum)."

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Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 15), S. 198.

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von uns aus hinzu, daß die ursprüngliche Schuld die Schuld des Begriffs ist, die Schuld des Willens nach Einzigkeit im Selbstbegreifen. Aber exakt an dieser Blindstelle der Cohenschen Vernunft strahlt nun um so heller die Kraft seines Glaubens. Er gibt diesem Glauben den Namen eines Propheten, Jecheskel, findet in dessen Mund den Satz: "die Seele sündigt" und begreift dies als den Ursprung des Menschseins. Unbewußt setzt damit Cohen den Willen zum Begriff außer Kraft und die Vernunft des Unbegreiflichen ins Recht. Von hier aus, und nur von hier, wird die Vernunft zu einer gegebenen und geoffenbarten anstelle der gewollten und gemachten. Daß das Fleischsein unseres Körpers, daß überhaupt das Erscheinen der Idee in sinnlicher Gestalt Sünde sei, das ist unbegreiflich und wird es bleiben. Daß aber auch genau umgekehrt die Körperlichkeit als nackte Sinnlichkeit erst denkbar wird nach der Versündigung durch die Idee, das ist es, was den Schmerz des Denkens heraufbeschwört und die Versöhnung notwendig macht. Mit großer, ja, fast möchte man sagen, mit unerbittlicher Konsequenz arbeitet Cohen diese Negativität des Begriffs durch. Drei Instanzen sind da zu nennen: das Ich als ein Du des Mitleidens, die Nähe aber Unerreichbarkeit Gottes, das Leiden und das Gesetz Israels. Und alle drei Instanzen sind zusammengefaßt in der Korrelation von Gott und Mensch. Diese Korrelation ist es, welche auch, wie Rosenzweig erkannte, das begriffliche Zentrum von Cohens Religionsphilosophie ausmacht. Daß der Mensch nur im Denken und Erfahren Gottes Mensch sein kann, das ist die Offenbarung der Religion der Vernunft. Es ist ein leichtes und ein schweres Vermächtnis. Schwer, weil es das Wissen der Unvermeidbarkeit des Leids lehrt; leicht, weil es im Glauben an das Gesetz Gottes Kraft und Versöhnung verspricht. Das Leid des anderen ist die sittliche Gebrechlichkeit in mir, ist meine 'Sünde1. Ihr werde ich gerecht durch Handeln um des anderen willen. Das ist ein Tun, welches Wissen ist, das höher ist als alle Vernunft. Und dieses Wissen setzt sich konsequent fort in der Verweigerung jener Form der Erlösung von der Sünde, die das rituelle Opfer bietet oder ein Einswerden mit Gott in Aussicht stellt. Gott ist nah, und ihm nah zu sein ist Versöhnung. Aber preisgeben dürfen wir das Wissen unseres Willens nicht; wir müssen geradestehen für unsere Willkür. Und ebenso wenig dürfen wir unseren Menschheitswillen vergöttlichen. Das ist das Spezifische des jüdischen Selbstbewußtseins Cohens, daß es dem Glauben und dem Begriff gleiches Recht einräumt und die Spannung zwischen beiden zu ertragen befiehlt. Deshalb bedarf es des religiösen, nicht des politischen Gesetzes in der Dopplung von Menschheitsrecht und Zeremonialgesetz. An der Stellung zum Gesetz, so sagt Cohen, entscheidet sich das Judentum. Das Befolgen der Ritualgesetze zwingt in die Absonderung. Der Jude ist Fremdling unter den Völkern. Das ist seine Leidensgeschichte. Aber nur aufgrund dieser Leidensgeschichte gibt es überhaupt eine Sehnsucht nach Frieden und Gemeinschaft. Der messianische Beruf des Gottesvolkes ist es, für alle Zeiten Zeugnis abzulegen von der Bedingung des Menschseins.

Hermann Cohen: Kantische Vernunft und Jüdisches

Selbstbewußtsein

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Und das ist, um auf Cassirers Worte zurückzukommen, kein passives Zeugnis. Glauben heißt, im unerschütterlichen Vertrauen auf das Gutsein der Schöpfung tätig zu sein fur den anderen und also fur das Gutwerden der Gemeinschaft. Das Denken und Handeln und Leben Hermann Cohens ist zusammengefaßt in dem folgenden Satz, der nun doch das Unsagbare des Glaubens mit der Klarheit des Begriffs eins werden laßt und darin eine Wahrheit vergegenwärtigt, deren Erkenntnis man sich zeitlos wünscht. Er lautet: "Die Armut, nicht der Tod, bildet das wahrhafte Rätsel des Menschenlebens."22

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Cohen, Religion der Vernunft (wie Anm. 15), S. 156.

Emmanuel Bulz

Edmond Fleg - témoin engagé de son temps

Permettez-moi de commencer par un souvenir personnel. Lorsque, vers la fin des années trente, je poursuivais mes études à l'Ecole Rabbinique de France, à Paris, le directeur de l'Ecole avait l'habitude d'inviter de temps à autre, surtout lors des occasions solennelles, Edmond Fleg à lire et à commenter devant les élèves des extraits de ses œuvres. Le grand rabbin Liber, directeur à l'époque, considérait, sans doute, que c'était d'un enrichissement spirituel pour les futurs rabbins que de faire connaissance de l'oeuvre et des idées de Fleg et de s'en imprégner. Des considérations de forme et de style n'étaient, non plus, étrangères à ces invitations. Edmond Fleg était déjà devenu, bien avant l'époque en question, un des porte-parole de la judaïcité française. Sa notoriété était établie aussi bien comme écrivain que comme homme publique, notamment comme président des Eclaireurs Israélites de France. Il était un orateur recherché dans les cercles où l'on s'occupait de l'étude du judaïsme, associations qui portaient le nom "Chema Israël" d'après le titre que Fleg avait choisi pour son premier recueil de poésie biblico-historique et qui allait devenir son "magnum opus" poétique. Dans ses relations personelles Fleg était un homme doux, prévénant d'une politesse exquise. Dans son œuvre autobiographique Pourquoi je suis juif, paru em 1927, que Edmond Fleg avait dédié à son petit fils qui n'est pas encore né, il résume en une sorte de Décalogue le sens de sa mission d'écrivain juif. Il y dit dans sa première proposition: "Je suis Juif, parce que né d'Israël, et l'ayant perdu, je l'ai senti revivre en moi plus vivant que moi-même." 1 Mais il ne lui suffis pas d'avoir retrouvé le judaïsme pour lui-même, il poursuit: "Je suis Juif, parce que né d'Israël et l'ayant retrouvé, je veux qu'il vive après moi plus vivant qu'en moi." 2 Son itinéraire est donc clairement tracé: recevoir et transmette, ce qui est le propre du Juif; mettre en marche la succession des générations porteuse du message et de l'espérance juifs. S'inspirant précisément d'un des derniers titres de Fleg, Nous de l'Espérance, un autre maître à penser du judaïsme français a pu écrire, dans une oraison funèbre, "Nous d'Edmond Fleg", et de dire:

1 2

Edmond Fleg: Pourquoi j e suis Juif. Tunis: Ed. Angel 1945, p. 96. Ibid., p. 96.

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Emmanuel Bulz

Il n'est de Juif français au XXe siècle qui n'ait grandi, mûri, acquis son identité, ses raisons d'être et de s'affirmer, qui n'ait cueilli la fierté et la joie de son espérance avec Edmond Fleg, grâce à son message direct ou à travers tous ceux dont il était l'inspirateur. Tous, nous sommes, à un titre ou à un autre, enfants d'Edmond Fleg, ses orphelins maintenant.3 Ces paroles sont d'André Néher et ils prernent une signification quasi sirnaturel quand on sait que les deux fils de Fleg sont morts pour la Ftance et que "le petitfils qui n'est pas encore né", auquel Edmond Fleg avait dédié son ourage Pourquoi je suis Juif à dû, lors de sa naissance, céder sa vie devant celle de sa mère, les deux se trouvant dans un danger mortel, et ne jamais voir le jour. Le dernier livre de Fleg Nous de l'Espérance sera dédié à "mon petit-fils inconnu" et il dira: Mon petit-fils qui n'est pas encore né, qui n'as pas voulu naître, qui ne naîtras jamais ... Tout ce queje t'avais d'avance raconté de ma vie! ... Genève, mon enfance ... Paris, l'ecole, l'Affaire ... Comment j'étais redevenu juif. Pour qui... Pour toi! ... Et ensuite ... Ma première guerre ... Ma première paix... Et ensuite, ma Palestine, et mon retour de Palestine ... Hitler, et mes pressentiments, et mes tremblements ... Pour toi, toujours pour toi! Oui, cette vie où tu n'étais pas encore c'est toi qui la guidais. Cet homme, juif et français, queje voulais être, je voulais l'être en toi, en tes fils après toi, en leurs fils après eux, et en leurs petits-fils, et en les petits-fils de leurs petits-fils! [...]4 Mais comme le dit André Néher: "Tous nous sommes à un titre ou à un autre enfants d'Edmond Fleg," 5 qui en ces quelques mots clef, que je viens de citer, a tracé une partie de sa carrière et dont le message s'adresse à nous tous." Faisons donc un retour en arrière et rendons-nous à la première étape nommée, rendons-nous à Genève de l'an 1874, année de naissance de notre auteur au sein d'une famille d'origine alsacienne, qui porte le nom de Flegenheimer et qui, après la defaite de 1870, avait quitté l'Alsace pour s'établir en Suisse. Dans Pourquoi je suis Juif, Fleg nous raconte sa jeunesse dans l'ambiance feutrée d'une famille juive unie, tendre et affectueuse. "Mon père", écrit-il, "était un juste selon les Ecritures et ma mère dans son foyer une prêtresse souriante" 6 . C'est une famille juive traditionnelle; le père met les tephillines, on mange cachère et célébré les fêtes, mais la façon de le faire semble au j e u n e homme, avide de lecture et curieux, formelle sinon formaliste et routinière. Un jour, ébranlé par la lecture du Nouveau Testament, il écrit dans son journal: je ne suis pas croyant; c'est ma vieille religion qui en est la cause, ma pauvre religion, ruine d'un bâtiment pas achevé [...] Ce n'est pas queje sois athée, oh non! 3 4 5 6

André Néher: Nous d'Edmond Fleg. Bulletin de nos Communautés, 31 octobre 1963, p. 1. Edmond Fleg: Nous de l'Espérance. Angers: Ed. Masque d'Or, p. 49. Néher, Nous d'Edmond Fleg (note 3), p. 1. Fleg, Pourquoi je suis Juif (note 1), p. 11.

Edmond Fleg - témoin engagé de son temps

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Toutes les nuits je prie, mais je prie un Dieu qui est en moi, qui n'est pas un Maitre. Je ne peux pas être Juif, je ne peux être Chrétien [,..]7 Il est vraui que cet étudiant genevois installé à Paris depuis 1892 a des préoccupations plus pressantes. En 1895, il prépare le concours d'entrée à L'Ecole Normale Supérieure et termine sa Licence de philosophie. Mais en même temps, un fait déterminant se produit, il se lie, notamment, d'amitié avec Lucien Moreau, fils d'Emile Moreau, directeur de la Maison Larousse. Or cette amitié ne fera qu'taccentuer, dans un premier temps au moins, chez Fleg, un détachement et une indépendance d'esprit provoquant même une sorte de narcissisme. Il relate dans Pourquoi je suis Juif cet état d'esprit: Feignant de subir ce que j'intitulais volortiers mon charme, quelques-uns de mes camarades s'amusaient à former autour de moi une petite cour, dont la fidélité se temperait de raillerie. On nous appelait les esthètes, et j'ai comme l'idée qu'on n'avait pas tort. Je m'étais penché sur Anatole France et sur Renan, et j'avais puisé à la pure source de ces deux maîtres l'eau sophistquée de mon dilettantisme. Car nous étions des dilettantes! On ne devait pas prendre le monde au sérieux: on ne savait pas s'il existait, car on laissait aux gens vulgaires les grosses certitudes. La société ne valait pas la peine qu'on s'y mêlât: qu importaient à des esprits subtils les éternels principes, les Droits de l'homme et du citoyen, les luttes des partis ou la forme des États? La morale aussi semblait bien lourde: le Mal et le Bien étaient des haltères qu'on ne maniait pas. Ma fonction principale fut donc de m'admirer [...].8 Oui, l'amitié avec Lucien Moreau, qui durera jusqu'à la mort de celui-ci en 1932, et à laquelle nous devons une correspondance intéressante l'éloignera pour un temps du judaïsme et de la communauté juive. Mais lorsque son ami devient anti-dreyfusard et admirateur de Maunas, Fleg se ressaisit, s'éveille et réagit, lentement il est vrai, car lui aussi partage dans un premier temps l'indi férence, feinte ou réelle, de la communauté juive française à l'égard de l'Affaire Dreyfus, éclaté entre temps en 1897. Il est temps, pense-t-il, de se libérer de son dillétantisme et de "prendre le monde au sérieux: le monde et le monde juif' 9 . L'occasion lui en est justement donnée, lorsqu'en 1898 parait le pamphlet "J'accuse" de Zola et que Jean Jaurès, Charles Péguy, Anatole France et plus sieurs de ses professeurs de Normale Supérieure signent le "Manifeste des Intellectuels" en faveur de la révision du procès Dreyfus. C'est à cette occasion qu' "il descend de son empyrée" 10 en se joignant à ces Intellectuels. Dans une lettre à sa mère, ecrite de Leipzig, où il passe deux années pour améliorer ses connaissances de la langue et delà littérature allemandes (26.11.1897): "Plus 7 8 9

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Fleg, Pourquoi je suis Juif (note 1), p. 23. Ibid., p. 28. Lettre à sa mère. Correspondance d'Edmond Fleg pendant l'Affaire Dreyfus. Paris: Libr. Nizet 1976. Fleg, Pourquoi je suis Juif (note 1), p. 31.

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j'avance et plus je vois le monde", écrit-il, "plus je comprends les sages paroles de mon cher père quand il disait; chacun doit rester à sa place; nous sommes juifs, restons juifs" 1 1 . Et un peu plus tard il dira (16.1.1898): Pour moi je regrette, plus que jamais de n'être pas attaché davantage à notre religion et à notre race: surtout qu'il pressent que la race juive (comme on disait à l'époque) est exposée à tous les dangers [...] l'avenir du judaïsme en France et en Europe est effrayant. C'est le moment pour les gens de cœur de ne pas renier la race dont il font partie.12 Edmond Fleg fait sien le fier défi d'André Spire, son contemporain et ami, que l'on retrouvera souvent dans les mêmes combats. André Spire, l'a formulé dans l'écrit Les problèmes juifs dans la littérature·. Puisque malgré tous les efforts que nous avions faits pour devenir Français, loyaux, absolus, sans réserves, on allait rechercher en nous ces lointaines origines que nous étions en train d'oublier, puisque du nom de cette race royale à qui l'humanité doit quelques-unes de ses trautes aspirations, on veut faire une injure, eh bien soit! ramassons l'injure et faisons de l'injure un drapeau.13 Dans un premier temps, Fleg prends contact avec Bernard Lazare, le premier Juif qui a osé écrire un livre affirmant l'innocence de Dreyfus, pour lui proposer ses services, "car il vient de trouver dans le rêve sioniste un idéal qui satisfaisait [ses] tendances intellectuelles et morales" 14 . Et à son ami Lucien Moreau il écrit: "Depuis que j'ai lu cette phrase de Bernard Lazare: 'Le judaïsme est une nation [vgl. T. Herzl]', je comprens mieux mon passé [...], et je me sens enfin, comme toi, sorti définitivement de l'individualisme." Fleg tente de convertir ses parents au 'sionsme', projette un roman autobiographique intitulé Nationalisme Juif, veut écrire une thèse sur "l'Antisémitisme en Alemagne du XLX siècle". Pourtant lorsqu'en 1899, il assiste au 3e Congrès Sioniste, il se sent devant la diversité des délégués venus de quatre coins du globe très proche de tous ces juifs étrangers, mais en même temps très différent, 'très Français'. Fleg croit plus que jamais à l'avenir du sionisme, tout en sentant que toute sa vie, il sera 'juif aux deux cœurs', le cœur juif et le français, et pour le moment afin d'assouvier sa passion juive il se met à apprendre l'Hébreux, à étudier l'histoire et la littérature juives. Une courte pause intervient dans cette quête de l'identité juive après le procès de Rennes et la grâce de Dreyfus. Les passions provoquées par l'Affaire 11 12 13

14

Lettre à sa mère du 26 nov. 1897. Correspondance (note 9). Lettre à sa mère du 11 janvier 1898. Correspondance (note 9). André Spire: Les Problèmes Juifs dans la Littérature. La Renaissance Religieuse. Paris: F. Alean, p. 107-108. Lettre d'Edmond Fleg à Bernard Lazare le 26 novembre 1898. Correspondance (note 9), p. 110.

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s'apaisent. Fleg, qui vient de réussir brillamment son agrégation d'allemand, prend ses distances par rapport à la question et se consacre au théâtre "unique intérêt de sa pâle existence" 15 . Il connaît ses premiers succès et s'en satisfait. Pourant le destin frappe de nouveau à sa porte. La parution de l'Action Française (21.3.1908) dont il est lecteur, provoque pas mal de doutes et de troubles dans son esprit, le fait derechef réfléchir à son identité. Mais c'est surtout son mariage (en 1907) et la naissance de son premier fils Maurice (en 1908) qui sont décisifs. Le même jour il cesse de lire l'Action Française et décide de consacrer sa vie au judaïsme afin de pouvoir le transmettre à son fils et d'être, comme son père le fut, un maillon dans la longue chaîne des générations constructives qui ont transmis l'enseignement depuis Moise. Un autre fait sera également déterminant à savoir la découverte de l'œuvre d'Israël Zangwill, auteur juif de nationalité anglaise, et la rencontre de Charles Péguy ce catholique quelque peu anarchisant, mais en même temps découvreur et révélateur de tant d'écrivains juifs. "Les Rêveurs du Ghetto" de Zangwill, publiés dans les Nouveux Cahiers de Péguy (30.10.1904) l'avait déjà profondément impressionné, l'avait poussé à "retourner à cette race proscrite et belle malgré toutes ses misères" 16 . Mais c'est surtout l'ouvrage "Chad Gadyo", dont le héros ressemble tellement au Juif assimilé que Fleg était alors, qui va l'amener à renoncer définitivement à une assimilation illusoire pour renouer avec ses racines juives. A ce Retour il va donner une expression éloquente par la profession de foi juive: Ecoute Israël [...] L'Eternel est notre Dieu [...] L'Eternel est Un [...] Et tu aimeras l'Eternel, quatre titres de quatre ouvrages poétiques qu'il va élaborer sa vie durant et dont le premier Ecoute Iseaël sera publié, en 1913, dans les "Cahiers de Quinzaine" de Charles Péguy, qui annonça:"Cette œuvre sera immortelle." 17 Véritable légende des siècle juive, allant de la Bible aux temps modernes un des premiers poèmes pose d'emblée la question qui tourmente Fleg: "Israël, Israël faut-il abjurer, pour devenir humain, le sang de tes martyrs et l'espot de tes prêtres?" 18 Et il répond dans Pourquoi je suis Juif: "Non, il ne fallait pas opposer l'humanité et sa race; Juif, je devais confondre la mienne et l'humanité." 19 C'est dans cet etat d'esprit que nous retrouvons également le sens de son engagement militaire en 1914. Edmond Fleg a 40 ans, il est citoyen suisse, mais il s'engage néanmoi comme simple soldat dans la Légion Etrangère, par amour de la France et "pour l'honneur d'Israël" 20 . Car il ne sépare pas son œuvre de sa 15 16 17 18 19 20

Lettre d'Edmond Fleg à Lucien Moreau du 30 nov. 1901. Correspondance (note 9). Lettre à sa mère (19. VI. 98). Correspondance (note 9), p. 94. Correspondance (note 9), p. 28. Projet de préface pour les Poèmes Juifs. .Correspondance (note 9), p. 160. Fleg, Pourquoi je suis Juif (note 1), p. 72. Lettre au Grand rabbin de France du 20 sept 1915.

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vie, il a "l'ambition d'harmoniser dans son œuvre tous les aspects d'Israël et d'en réfléchir l'âme dans l'âme française"21. Cette oeuvre se confond en effet avec sa vie. J'ai déjà signalé son rôle de porte-parole de la communauté juive français, mais c'est un poete-parole qui prévoit l'avenir, qui sait donner des directives. Dès 1917. il adhère à la Ligue des Amis du Sionisme qui vient d'etre fondée par André Spire. Il intervient auprès de Sylvain Lévy, président de l'Alliance Isr. Universelle pour qu'il cesse de combattre les thèses sionistes pendant la Conférence de Paix. Une phrase de sa lettre vaut la peine d'etre citée: Mais vous reconnaissez vous-même qu'on est allé trop loin dans la voie de l'assimilation. Personne ne nous demande cela au sein des nations. Au contraire, l'estime générale et totale ne va réellement qu'aux juifs qui affirment leur attachement aux traditions juives. 2 2

En ce qui concerne Fleg comme homme de théâtre, la aussi nous retrouvons un caractère général qui le distingue; à savoir qu'une idée généreuse, une aspiration idéale, une foi apparaît dans chacune de ses pièces. En 1920 avec La Maison du Bon Dieu, par exemple Fleg commence de porter à la scène le grand et noble rêve qu'il ne cessera d'illustrer dans tous ses écrits: la fraternité judéochrétienne, le dialogue, les tâches communes des deux religions. Faut-il donc s'étonner que c'est lui, en collaboration avec Jacques Madaule qui fut le fondateur de l'Amitié Judéo-Chrétienne en France, que c'est encore lui qui, après la guerre, fut un des initiateurs de la Conférence de Seeligsberg (1947), premier pas vers le nouveau regard de l'Eglise sur le Judaïsme. En 1923 Edmond Fleg publie l'Anthologie Juive, véritable somme de textes juifs de tous les ages et de toutes les tendances allant de la Bible, les textes rabbiniques, les philosophes et jusqu'à la littérature moderne, outil indipensable pour tous ceux qui veulerent, à son exemple, s'initier au judaïsme. En suivant les années de sa vie, nous découvrons la suite de son œuvre: ce sera en 1926 ΓEnfant Prophète dans lequel Fleg met en scène un jeune juif assimilé, Claude Lévy, balançant entre mariage endogamique et exogamique, hésitant entre judaïsme et christianisme, entre fidélié et abandon et qui finalement retrouve le "chemin qui mène de l'authenticité du passé à l'authenticité de l'avenir"23. Authenticité de l'avenir vers laquelle s'efforcera aussi de conduire la Route des Eclairuers Israélites de France dont 'Chef Fleg' devint le guide spirituel, puis le président à partir de 1934. Mouvement de jeunes juifs qui, selon le voeux de Fleg, devait regrouper toutes les tendances de la jeunesse juive de France et qui avec lui suiveront les sentiers clandestins et héroïques de la Résistance aussi bien matérielle que spirituelle et deviendront ses nombreux fils et petits fils. 21 22 23

Edmond Fleg: Anthologie Juive. Paris: Flammarion 1956, p. 592. Lettre à Sylvain Lévy. Correspondance (note 9), p. 170. Léon Askénazi: Hommage à Fleg. La vie juive, 1.12.1963, p. 10.

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Mais poursuivons notre chronologie: En 1928, Fleg publie son Pourquoi je suis Juif où il raconte sous forme de triptique son évolution spiritelle: Israël perdu - Israël retrouvé - Israël perpétué. Il termine cette autobiographie par un crédo universaliste affirmant de sa foi dans la pérennité d'Israël et l'unité de homme: "Je suis juif, parce qu'au dessus des nations et Israël, Israël place l'homme et son Unité."24 La marche de l'homme vers l'unité, vers l'harmonie, vers la paix, conformément a la vision des prophètes, Fleg la proclamera même dans les moments les plus sombres de la Shoa, où à ses malheurs personnel s'ajoutait la tragédie de la destruction de peuple juif en Europe. Les cours de judaïsme, que pendant toute l'occupation il dispensait aux chefs des Eclaireurs Israélite, dans les camps scoutes et fermes clandestines, seront regroupés sous le titre significatif: Le Chant Nouveau. Car fidèle à sa vocation, Edmond Fleg restera jusqu'à "la derniere minute et son dernier souffle" le poète du chant nouveau, ce chant qu'il avait déjè entonné lors de son premier voyage en Palestine (en 1931), dans son livre Ma Palestine à la gloire des haloutsim-pionniers, constructeurs et défenseurs du Pays, livre qui sera repris à la fin de sa vie sous le titre La Terre que Dieu habite, terre dont jaillira un jour "une spiritualité, pour l'instruction et la bénédiction des Juifs, des Chrétiens, des Musulmans et de toutes les familles de la terre."25 L'espérance inaltérable traverse toute l'œuvre de Fleg. Même loraqu'il se tourne vers le passé dans ses livres historicolégendaires, comme Moïse raconté par les sages, Salomon raconté par les peuples et même Jésus raconté par le Juifs errant c'est pour puiser dans le passé et pour tresser ce fil solide qui conduit du passé prophétique vers le messianisme universel, cette "dimension providentielle de l'histoire juive" 26 . Son dernier titre sera Nous de l'Espérance et c'est sans doute le document le plus bouleversant qu'un juif français ait rédigé sur son expérience de la persécution. Il termine ce livre par ces mots Je rêvais. Et toi aussi, tu étais là mon petit-fils inconnu. J'entendais, dans mon cœur, ton cœur. Tu le rêvais avec moi, le rêve, - mandé par Dieu à Israël - du Royaume des Cieux descendant sur la terre. C'est pourquoi tu seras juif, mon enfant. Sois, plus que moi, digne de l'être. 27

Je ne saurait être complet, mais il me faut quand même mentionner, en plus de ses traductions et comme anthologiste et comme traducteur de la Bible, son activité en tant que président de la Section français du Congrès Juif Mondial, dans le cadre des Colloques annuels des intellectuels de langue française. Il présidait ces colloques, jusqu'avant sa mort, en 1963, et y prenait une part active comme conférencier. Sa dernière conférence portait le titre Sens de l'Histoi24 25 26 27

Fleg, Pourquoi je suis Juif (note 1), p. 97. La Terre que Dieu habite. Paris: Ed. Congrès Juif Mondiale 1953, p. 83. Léon Askénazi: Hommage à Fleg (note 23), p. 10. Nous de l'Espérance (note 4), p. 106.

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re Juive et il concluait par le titre d'un de ses ouvrages: Le Monde qui vient. Le monde qui vient, pour Edmond Fleg, c'est un avènement, c'est le temps dynamique qui progresse vers des lendemains meilleurs, lendemais de fraternité et de justice sociale, c'est l'Espérance même du judaïsme qui a toujours animé Edmond Fleg. Il était, nous l'avons vu, un juif assimilé, bien intégré dans la société mais conscient de la spécificité du judaïsme et de son message. C'est ce que lui a permis aussi bien d'enter le message d'Israël dans la littérature française que de développer et magnifier la conscience juive au sein de la communauté juive et bien au-delà de ses limites.

Marie-Brunette Spire

André Spire et la conscience juive

Au terme d'une vie multiple de juriste, d'écrivain, de théoricien de la poésie, de poète français, André Spire publie au tournant des années 1960 deux livres qui bouclent la boucle de sa longue existence (1868-1966): en 1908 ses premiers Poèmes juifs portaient un titre singulièrement provocateur. En 1919 et en 1962 sortent de nouvelles éditions enrichies sous le même titre de Poèmes juifs1. En 1959 Spire publie un livre de souvenirs: Souvenirs à bâtons rompus, avec pour sous-titre: "souvenirs d'un militant juif' 2 . Ainsi ses deux derniers livres scellentils du mot "juif' son parcours d'homme engagé et de poète. Ainsi, à cinquante ans de distance, réaffirme-t-il ce qui était devenu l'axe même de sa vie: une exigence de vérité qui se traduit à la fois dans son instrument poétique et dans son engagement juif. Essayons donc de voir comment, à la différence de ses contemporains, de son milieu, de sa famille même, ce fils issu de la moyenne bourgeoisie industrielle juive de Nancy, en Lorraine, dans le dernier tiers du 19e siècle, devint l'un des tout premiers sionistes français, et comment la cause juive l'a peu à peu happé pour ne plus le lâcher. André Spire est né en 1868. La génération de ses parents a subi le choc de la guerre de 1870. Dans ces familles juives lorraines se développe simultanément un attachement au pays, un patriotisme qui déterminent de nombreux jeunes gens à entrer au service de l'Etat et de l'Armée3, et un désir conscient ou inconscient de s'intégrer toujours plus à la société française, de gommer des origines étrangères, un particularisme trop voyant, une peur de se faire remarquer, d'attiser l'antisémitisme par des situations ou des prises de positions trop voyantes. N'est-ce pas, dira sarcastiquement André Spire, [...] la b o n n e éducation c'est d e ne pas se faire remarquer. O n ne les remarquait p a s e u x , leurs pères, ni leurs grands-pères. Ils étaient très bien é l e v é s : bien t i m i d e s , bien sages. Ils avaient réussi à ressembler aux autres, à tout le m o n d e . Et quand leurs fils étaient les premiers d e leur classe, m o n D i e u ! j e ne dis p a s qu'ils

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Versets. Poèmes juifs. Paris: Mercure de France 1908; Poèmes juifs. Genève: Kundig 1919; Poèmes juifs. Édition définitive. Paris: Albin Michel 1959 (Collection Présences du Judaïsme). Souvenirs à bâtons rompus. Paris: Albin Michel (Collection Présences du Judaïsme). Voir Pierre Birnbaum: Les Fous de la République. Histoire politique des Juifs d'Etat, de Gambetta à Vichy. Paris: Fayard 1992.

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les grondaient, mais cela ne leur faisait pas tout à fait plaisir, parce que cela aussi c'est se distinguer. Ni à droite, ni à gauche, ni en bas, ni en haut, voilà leur j u daïsme; quelque chose de tranquille, de paisible, de plat, de terre à terre; un j u daïsme très Louis-Philippe c o m m e dit Julien Weill; très j u s t e milieu 4 .

Et la famille directe d'André Spire? On est français-juif, jamais le mot israélite n'est utilisé. On observe, sans orthodoxie, les grands rites de passage de la vie, circoncision, bar-mitzva, mariage et enterrement, et les grandes fêtes. Plus guère d'observances alimentaires, mais encore le souvenir des vendredis soirs partagés. Dans une discussion sur "la réussite de l'éducation des jeunes âmes", sa mère lui écrit: Tant qu'il y aura chez nous ce culte de la famille on pourra peut-être s'en passer, mais après? [...] jusqu'à présent cette bénédiction de la mère, le vendredi soir, dans nos vieilles familles juives, était le talisman qui protégeait les jeunes, qui les exemptaient de tous les vices inhérents aux autres membres de l'humanité. Le bon exemple du père les défendait aussi de toutes les mauvaises tentations. Ta génération est encore gagnée parce que vous aurez encore vu ce q u e j e dis là [...] mais après vous? 5

Dans la famille d'André Spire, comme en attestent les très nombreuses lettres échangées, on constate l'équation judaïsme = morale, plutôt que foi et culte, bien que sa mère était croyante et tenait à certaines traditions, le père, lui, était libre-penseur. Depuis des générations les grands principes du judaïsme conduisent à un sens exigeant de justice, de droiture, d'honneur. On ne courbe pas l'échiné, on relève le défi. Dans le domaine social, pas d'ostentation, "horreur de la publicité"6, on est résolument modeste, on pratique charité et philanthropie, à l'usine familiale on se préoccupe du sort des ouvriers. Les plaisirs: la musique, la nature. Et les contacts sociaux n'excluent pas des amitiés avec des non-juifs, mais le milieu familial est toujours strictement endogamique. Plus guère de croyance vraiment religieuse chez le jeune André Spire lorsqu'après son Droit fait à Nancy il vient à Paris en 1891 poursuivre ses études. C'est là qu'événements personnels et atmosphère politique, le recul pris par rapport aux cercles qu'il connaît, les nouveaux milieux fréquentés vont à la fois bousculer et donner un sursaut à sa judéité. Il lui eût été simple de s'associer avec son père pour plus tard reprendre la direction de l'usine familiale de chaussures. André Spire ne veut pas devoir son bien-être matériel au travail des autres. Il veut écrire, mais est-ce là un métier? Etudier le droit en vue de faire régner la justice, d'appliquer les principes sacrés de la Révolution française si chers au coeur des Juifs émancipés depuis cent ans, de sa famille dont on trouve trace en Lorraine jusqu'au 17ème siècle, était pour le jeune André Spire dans le droit fil des valeurs juives de ses parents et grands-parents. La France 4 5 6

Quelques Juifs et demi-Juifs. Paris: Grasset 1928, p. ix-x. Lettre inédite, février 1894. Ibid., 13 janvier 1895.

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offrait, pensaient-ils, cette symbiose magnifique, d'affirmation de soi dans la justice et l'égalité. Après avoir prêté serment d'avocat (1890), Spire entre à l'Ecole des Sciences Politiques, passe le concours du Conseil d'Etat où il est reçu auditeur fin 1893. Aucun lorrain ne s'y était encore aventuré. A Paris des mondes nouveaux l'assaillent: juristes, hommes politiques, hautes sphères administratives, juridiques et politiques, en qui il avait cru pour faire advenir plus de justice, lutter contre les inégalités. Bien vite il déchante, et fustige leur manque d'idéal et de rigueur: Ah! Si vous en étiez dégoûtés comme moi des grands personnages, écrit-il à ses parents, et si vous saviez ce qu'il y a peu d'âme au fond d'un préfet ou d'un conseiller d'état! Ah! les pantins; des places, pour eux des places: voilà le but de la vie, et comme le seul rêve d'un lion quand il digère c'est de manger, pour eux quand ils ont obtenu une place, c'est d'en obtenir une autre; et ils se font entre eux les plus grandes vilenies, et nous pauvres petits nous comptons les coups, c'est à dire que nous envoyons "nos respectueuses félicitations." Ils y sont tant habitués à ces manoeuvres qu'ils n'ont même plus la force de s'en vouloir; c'est à charge de revanche. Aussi dans ce corps où tout le monde se donne des crocs en jambe, règne à la surface la plus grande cordialité. Voilà chers parents ce que sont devenus les généraux de la République; pauvre République, elle ressemble fort à Napoléon en 1815. Les anciens chefs sont vieillis, leurs aides de camp gorgés, et les jeunes, fonctionnaires, tous sont morts pour l'enthousiasme, le dévouement, l'abnégation.7

Ainsi Spire avait-il découvert le parisianisme, le rôle de l'argent, du pouvoir, du paraître. A peine reçu au concours du Conseil d'Etat fin 1893 il devient une proie de choix dans la chasse au mariage. Sur ce jeune homme plein d'avenir, promis aux plus hautes ambitions c'est une véritable ruée. Les demandes affluent auprès de sa mère, parents et amis s'entremettent. Son agacement devant le poids social est immense et le rejet catégorique: "Allais-je me livrer au servage de ces chaînes d'argent dont les mères bourgeoises, chrétiennes ou juives, chargent les épaules du fils qu'elles adorent [,..]?"8 Rejet de "cette bonne société judéo-chrétienne, gelée de convenances, de comme-il-faut."9 Rejet des bourgeoisies juive et non-juive, avec leurs petites compromissions, sans autre idéal que le carriérisme et des alliances de classe et d'intérêts. Une anecdote de 1895 fait ressortir sa quête de l'authentique: Ce matin [...] à 8hl/2 le fameux ministre officiant Mendès sonnait à ma porte, et me demandait si je voulais épouser Mademoiselle Rentlinger cuirs et peaux; excellente pour l'avancement grandamier de Félix Faure; vous comprenez, s'il est beau d'avancer au mérite, il est bon de pouvoir courir à la faveur, c'est un beaupère "coup d'épaule" et la jeune fille a 500 000 francs de dot. Une entrevue tout de 7 8 9

Lettre inédite, 12 décembre 1895. "Un calepin", in: Souvenirs à bâtons rompus (note 2), p. 69. Ibid., p.70.

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suite ménagée, et dans quel cadre, bon Dieu! Je vous le donne en mille. Cherchez, cherchez; ce n'est ni le salon du baron de Reinach, ni d'Oberndoffer, ni même du baron [?]; ce n'est pas à la synagogue, à l'Opéra Comique, au patinage, aux courses, au hammam, à la chasse, non même pas au bal de l'Opéra; ce n'est pas dans un ministère, ni chez le Président du Conseil d'Etat, c'est, allez donc, vous brûlez; c'est au bal de l'Elysée. Et voilà à quoi servent les frais de représentation alloués au Président-armateur par 36 millions de contribuables français; à marier au nez de 3000 bons héritiers deux odieux petits petits juifs. O sainte Libre Parole. Vous pensez si j'ai accepté. Par pudeur, je n'ai pas voulu transformer Félix Faure en sous-chatchen inconscient. Et j'ai répondu; vous savez quoi n'est-ce pas que je ne voulais pas me marier. Ma concierge et ma bonne sont prévenues que je ne suis plus jamais chez moi, pour ce chanteur de café concert. 10 Sa fureur l'emporte, il a des mots terribles, sans appel, qui font penser à Bernard Lazare première manière: Il n'y a rien à attendre de cet ignoble champignon qu'on appelle Israël. Quand on a vu un de ses prêtres dans la fonction dans laquelle je l'ai vu ce matin on est dégoûté des ouailles. Les bons pâtiront toujours pour les ignobles; et à chaque effort vers l'honneur; l'utilité à son pays, [...] éclateront de continuels scandales qui nous rejetteront dans la boue. On a le droit de lutter pour sa foi, on doit lutter pour sa race quand on en aime le génie, la noblesse, la forme physique. Nous ne croyons plus; nous sommes honteux des traits de ressemblance morale ou physique qui nous lient à notre dégénérescence1 Est-ce cela, la grandeur du judaïsme? Est-ce à cela qu'il mène? Et voilà comment sont balayées d'un même mouvement bourgeoisies, institutions juives et appartenance religieuse. Pas rejet d'une appartenance juive, les fils sont bien plus emmêlés qu'on ne peut en rendre compte en quelques pages. A la même époque - ces années empoisonnées par les campagnes antijuives et le début de l'Affaire - les conversions opportunistes le révoltent, lui et son entourage. On vibre, lui écrit sa mère, "en apprenant l'abandon de leur religion de ces gens non pas sous l'influence d'une foi nouvelle, mais uniquement sollicités par de vils intérêts" 12 . Ils ressemblent, ajoute-t-elle, aux Juifs peints par La libre parole. Et ailleurs: ces conversions [...] ne seront jamais faites par des âmes bien trempées (à part de si rares exceptions!) mais par des faibles ou des gens sans caractère [...] A toi je puis bien ajouter ceci: ces convertis me font rire. Ils me font l'effet de nègres qui se tremperaient la tête dans un sac de farine et qui diraient: maintenant je suis blanc [,..] 13 Se convertir quand on ne croit pas, lui répond Spire, c'est à dire [servir?] publiquement une foi qu'on n'a pas, pour en prendre une nouvelle qu'on a moins encore parce qu'on a peur c'est immonde et lâche. 10 11 12 13

Lettre inédite, février 1895. Ibid. Lettre inédite, 28 février 1895. Ibid., 3 mars 1895.

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Je pardonne la conversion de foi, la conversion par amour, la conversion de [...] et des [...] je les méprise; d'ailleurs que cela nous console, elle ne profitera pas à leurs auteurs; ils ne sont pas devenus chrétiens, mais renégats; et comme aujourd'hui on n'attaque pas la religion mais la race juive, eux-mêmes restent aussi suspects que par le passé 14 .

Pourtant il discute un temps très âprement avec sa famille la question des mariages mixtes, à condition que ce soient des mariages d'amour et non d'intérêt, entre deux êtres sans véritable croyance religieuse. "Cela ne m'empêche pas chère mère de prendre en note ce que tu m'as dit "sur les mariages mixtes amenés par amour." Ceux-là font partie de mon système d'assimilation sans lâcheté" 15 . Sa mère, très opposée, argumente pied à pied, le mariage mixte est une dernière abdication, une dernière "conversion" dit-elle. Spire était amoureux, mais la demoiselle, de famille protestante, se maria ailleurs... Fin 1894 - Spire était au Conseil d'Etat depuis un an - lorsqu'une fois de plus les Juifs se font invectiver par La libre parole. Après la campagne contre la présence d'officiers juifs dans l'armée qui s'était illustrée par le duel de Drumont contre le capitaine Crémieu-Foa, voilà que l'infame journal dénonce le nombre de jeunes auditeurs entrés au Conseil à la faveur, dit-il, et non sur concours. Spire réplique immédiatement, et le 12 janvier 1895 se bat en duel avec Nangis, l'auteur de l'article. Dreyfus avait été dégradé le 5 janvier, soit huit jours avant. Ce duel pour l'honneur juif avait fait de Spire, il l'écrira bien plus tard, un "champion involontaire de la cause juive" 16 . Sa famille est fière de lui. Il a le tempérament bouillant et l'âme bien trempée. Sa grand-mère lui écrit: "Tu as été si brave d'une part et tu t'es si bien conduit à l'égard de ton drapeau religieux que j'en suis profondément émue et touchée."17 Dans la campagne antisémite grandissante Spire reprend ses leçons d'escrime et engage son frère à Nancy à l'imiter: D'abord c'est sain puis ça peut être utile. Etant donné le joli état d'esprit de Nancy cela lui serait bon de pouvoir au besoin crever la peau à un de nos bons amis, au lieu de se faire tailler des boutonnières comme son frère aîné. 18

Lors des grandes manifestations antisémites à Nancy qui accompagnent les élections municipales de 1898 il exhorte son père et son frère à se montrer dans les réunions publiques: Je suis bien décidé s'il y a des candidats antisémites à Nancy, à venir, et j'espère que Paul m'aidera à faire une campagne de protestation, quitte à nous faire casser la figure. J'irai dans les réunions publiques suivi de tous ceux queje pourrai trouver. 14 15 16 17 18

Lettre inédite, 1 mars 1895. Ibid. "Les Juifs au Conseil d'Etat", in: Souvenirs à bâtons rompus (note 2), p.59. 14 janvier 1895. Lettre inédite, 6 novembre 1895.

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Que Paul réfléchisse à cela. Nous sommes inattaquables, et nous devons prendre la défense des gens qu'on voudrait opprimer. 19 Quatre jours plus tard il poursuit: Vois-tu maman, on nous reproche notre solidarité, et bien je prétends que si cette campagne a été si mal menée, c'est que les Juifs ne sont pas organisés. Il va falloir puisqu'il y a un parti antisémite, créer un parti de sémites français dont nous excluerons nos rabbins qui sont des lâches et des ânes, et tout ce qui sent I'outreRhin, et alors ce parti là bien organisé pourra répondre victorieusement aux autres; et nous aurons cessé nous pauvres petits Juifs de souffrir en lieu et place des grands qui sont gardés par la police, et sont reçus au Fg St Germain. [...] Paul a le devoir de se présenter aux élections20. Provoqué, Spire répond, citoyen à la nuque raide. Mais qu'est-ce qui va le mener de ce nouveau sentiment de solidarité né de l'honneur blessé à devenir un "militant"? Dans ces années d'avant 1900 bien des fils se nouent qui culmineront dans son engagement juif. Nous avons vu son dégôut de la bourgeoisie, des classes de pouvoir et d'argent, n'avait-il pas écrit à sa famille dès 1892: J'aime mieux la plus horrible solitude que ce milieu de Juifs parisiens riches, mais ayant une éducation inférieure à leur situation, ou un pli si profond d'hommes d'affaires que le niveau moral en est légèrement abaissé.21 Nous avons vu son irreligion - à la veille de son duel il avait rédigé son testament: si je meurs demain, je désire qu'un prêtre de chaque religion suive mon convoi [...] le rabbin au milieu [...] en suivant le corps d'une des victimes du fanatisme des sectes, [qu*] ils veuillent bien s'entretenir du mal que les religions ont fait, du bien qu'elles auraient pu faire à l'humanité.22 Au coeur de la bataille dreyfusiste il eut un temps la croyance que le politique pouvait guérir de l'antisémistisme, car ne voyait-on pas les radicaux et la gauche s'en détacher? et se polariser la société d'une part en droite réactionnaire, cléricale et antisémite et d'autre part en gauche dreyfusarde progressiste de moins en moins antijuive? C'est alors que, en marge des événements politiques, les diverses activités et engagements sociaux de Spire vont s'emboîter les mis dans les autres pour l'amener à son militantisme juif. Très attentif à l'Affaire et à ses conséquences politiques et sociales, il ne se lance pas comme Bernard Lazare par exemple dans la lutte pour la révision du procès de Dreyfus, il côtoie pourtant Lucien Herr et Péguy et tous les grands 19 20 21 22

Lettre inédite, 14 février 1898. Ibid., 18 février 1898. Ibid., 1 septembre 1892. "Les Juifs au Conseil d'Etat", in: Souvenirs à bâtons rompus (note 2), p. 58.

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noms du dreyftisisme rassemblés autour de Péguy dans sa librairie puis aux Cahiers de la Quinzaine. Mais depuis 1895 Spire s'est jeté à corps perdu dans l'action sociale - déjà enfant à Nancy dans l'usine familiale il s'était familiarisé avec la condition ouvrière, ce qui l'avait dégoûté à jamais de devenir patron. Persuadé comme beaucoup de jeunes fils de bourgeois par la lecture de Tolstoï et du Devoir présent de Paul Desjardins que les classes possédantes ont des devoirs à l'égard des classes laborieuses, il créé avec un collègue du Conseil d'Etat, catholique libéral, une association de secours aux ouvriers. A l'époque il n'existait aucune protection sociale et pas de syndicats. Les ouvriers, à la merci d'un accident, d'un événement imprévu, pouvaient se relever s'ils étaient temporairement aidés. Les deux amis créent des structures à cette association, recrutent tout un réseau d'aides, "visiteurs des pauvres", employeurs potentiels, médecins etc... Des secours apportés aux ouvriers malchanceux le chemin était court à vouloir développer chez eux l'instruction et les divertissements dont la vie les avait privés, et c'est dans le même temps que Spire créé et anime avec Daniel Halévy une Université populaire dans le 18ème arrondissement de Paris. L'action sociale le mène au socialisme: Mon impression générale, écrit-il après le Congrès socialiste de 1900, est que le seul parti puissant, fort en France est le socialisme; que de lui seul sortira la grandeur des pays où il se développe et que malgré ses divisions ce parti saura dans les cas de danger faire cause commune contre tous ceux du ventre, de l'estomac, de la jouissance, de l'exploitation, j'ai nommé la bourgeoisie et l'aristocratisme.23 On comprendra que le jeune auditeur au Conseil d'Etat se soit vite lassé des dossiers dont il a la charge, et ait demandé son détachement à la Direction du Travail où sa besogne quotidienne serait plus en accord avec ses activités sociales. Deux événements majeurs vont alors, dans les premières années de ce siècle, cristalliser en militantisme de la "cause juive" les divers courants sousjacents que l'ont vient de voir: sur fond de campagne pour la révision du procès de Dreyfus, constant qui-vive et par ailleurs activité sociale. La Direction du Travail va lui confier des enquêtes sur la législation ouvrière, puis l'envoyer en Angleterre enquêter sur le "sweating system", l'épouvantable travail à domicile qui broit les familles. Or où trouve-t-on la majorité des ateliers en chambre et dans quelles couches sociales? Parmi le prolétariat juif immigré souvent de fraîche date, dans l'East End de Londres, le ghetto juif du quartier de Whitechapel. Spire qui ne connaît pratiquement que les milieux juifs bourgeois français en bonne voie d'assimilation ressent un choc immense, découvrant d'un même coup un prolétariat juif riche d'une extraordinaire vitalité à la fois sociale et culturelle, malgré la plus sordide condition ouvrière et la tragique émigration. 23

Lettre inédite à ses parents, 29 septembre 1900.

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Au début du siècle tous les éléments sont là, il ne manque plus que le petit coup de pichenette du hasard de la vie pour que se déclenchent les grands engagements, s'amorcent les tournants définitifs. La jeunesse de Spire avait été émaillée de provocations et d'accrocs antisémites à Nancy, La France juive de Drumont et sa campagne dans La libre parole depuis 1886, le jeune Barrés, l'aîné de Spire au lycée de Nancy, avait mis en cause son père en tant que Juif, "l'un de ces barons de l'industrie qui sucent le sang des ouvriers" 24 . "Bagarres, injures, gifles, échanges de témoins." 25 Puis éclate l'Affaire. Impossible d'oublier son appartenance, même si on l'avait voulu! Ce même Barrés, admiré de Spire comme écrivain, honni comme activiste antijuif, eut sur lui une grande influence, lui qui "avait appris aux jeunes gens de sa génération à sentir en Lorrains, en Alsaciens, en Bretons, en Belges, en Juifs" 26 . A nous, Juifs, sa leçon de "culture du Moi", il la donna de manière un peu rude. Et si elle sauva quelques-uns des plus militants d'entre nous du doute de soi, de cette attitude hésitante, timide, humiliée, où s'enlisaient les Juifs français aux environs de 1900, c'est beaucoup moins, je pense, ses attaques, ses impertinences, ses outrages, son enseignement de haine, qui redressèrent les têtes et les âmes juives d'aujourd'hui, qu'un enseignement d'amour.27 Barrés, l'Affaire, l'antisémitisme d'une part, d'autre part l'action sociale, les Universités populaires, le socialisme: pour Spire l'homme est lié à son passé et à la communauté humaine qui l'entoure, ce qui impose responsabilités et engagements. Il manque encore quelques étapes dans la maturation de ses idées, qui ne changeront plus pour l'essentiel: sa prise de conscience de l'existence d'un peuple juif, avec ses classes sociales, persécuté, déplacé, que lui a révélé de plein fouet son séjour à Londres, et les récits des émigrés russes, juifs et non-juifs qu'il côtoie aux Universités populaires. Début janvier 1904 paraît dans la revue Pages Libres à laquelle il collabore un numéro sur le Sionisme. 28 Réaction de Spire dans une lettre à ses parents: Je me sens de plus en plus Sioniste. Je crois que la doctrine de l'assimilation est un leurre, et j'ai trop d'admiration pour la race juive pour désirer une absorption. Mais une nation en exil perpétuel ne peut-être heureuse. Il leur faut un territoire. Donc je me sens sioniste. Je ne me sens pourtant pas beaucoup d'enthousiasme pour vivre avec les Polonais. Et cependant il ferait meilleur de vivre avec eux qu'avec beaucoup de chrétiens. Et puis on se persécuterait entre soi. Les orthodoxes assommeraient les libres-penseurs, ou réciproquement; comme je l'ai constaté

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"Les Juifs au Conseil d'Etat", in: Souvenirs à bâtons rompus (note 2), p.35. Poèmes Juifs (note 1), préface de 1959, p.l 1. Cité dans: "Les problèmes juifs dans la littérature", in: La renaissance religieuse. Paris: Felix Alean 1928, p. 108. Quelques Juifs et demi-Juifs (note 4), p.vii. 2 janvier 1904.

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dans mon court passage à Londres, dès que les Juifs sont nombreux, les vieilles querelles historiques entre orthodoxes et infidèles recommencent. Mais grâce à cela nous aurions de belles vies, car nous nous passionnerions plus que des chrétiens. Donc "l'an prochain à Jérusalem".29 Quelques mois après ce numéro de Pages Libres sur le Sionisme, il donne à cette même revue un article à propos d'incidents qui ont opposé à Londres orthodoxes et libre-penseurs au soir de Yom Kippour: [...] même dans sa patrie le Juif [...] n'est pas "comme les autres". Il se sent un peu méprisé. S'il est courageux et indépendant, il doit rester armé en guerre; s'il est faible, s'il a besoin des autres, il doit cacher son origine, et comme l'a dit si vigoureusement le docteur Herzl, marcher toute sa vie avec sa main devant son nez. Et voilà ce qui me paraît essentiel dans le Sionisme: un sol rendra à cette race si égalitaire sa fierté d'autrefois. Qu'importe, si nous nous sentons à nouveau de vrais hommes, les luttes entre concitoyens dans un Etat neuf. [...] un pays où il fera beau vivre30. L'année 1904 est donc pour Spire l'année tournant: devenu sioniste, écrivain et poète juif, il va s'engager dans la bataille sioniste, et territorialiste plus tard, avec l'écrivain anglais Israël Zangwill. Il est devenu, et le restera, "militant j u i f ' . "Alors", écrit Spire, "se produisit en moi une sorte de révolution, bien plus, de mutation. Le problème Athènes-Jérusalem, comme il y a plus d'un siècle il s'imposa à Henri Heine, me domina." 31 "Mutation" dans ses idées sur les Juifs et la politique, mais aussi dans le domaine de la création poétique, et de la technique poétique: son goût de l'authentique, du présent, de l'urgent s'affirme. Le fond indissociablement lié à la forme entraîne rejet des carcans et du vers classique. Spire opte pour le vers libre. "Plus d'Art pour l'Art, de goût du précieux, de l'obscur, des cliquetis de mots, de métriques rigides, de vocabulaire garotté. Plus de classique, poésie de classe inaccessible aux âmes simples." 32 De là sont nés ses premiers poèmes juifs. Dernier événement dans cette "mutation", plutôt cette cristallisation de tous les courants sous-jacents que nous avons mentionnés: la lecture fin 1904 dans Les Cahiers de la Quinzaine de Péguy, d'une nouvelle d'Israël Zangwill, totalement inconnu en France, mais écrivain estimé en Grande-Bretagne, une nouvelle intitulée Chad Gadya. Spire raconte l'espèce de choc queje ressentis à la rencontre de ce sublime portrait d'un personnage imaginaire, un Juif assimilé qui n'était peut-être qu'une projection de moi-même. Dans mon esprit tendu à l'extrême par cette bataille [l'Affaire Dreyfus] qui n'était pas finie, et qui m'avait forcé à regarder au fond de mon passé et celui de ma race, Chad Gadya réveillait une foule d'images, me prit dans un réseau d'innombrables associations. Il joua en moi le rôle d'un cristal dans un liquide sursaturé, agit à la 29 30 31 32

Lettre inédite, 12 octobre 1904. Pages Libres, 29 octobre 1904, p.353-354. Poèmes Juifs (note 1). préface de 1959, p. 13. Ibid., p. 12-13.

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manière d'un retour, d'une conversion: bouleversement, crise de larmes, direction de vie soudainement changée, naissance d'une vocation. J'avais retrouvé la foi? Non pas. Mes ancêtres, ma race, le judaïsme de ma petite enfance. J'étais redevenu un Juif avec un grand J. Et poète français, poète Juif aussi. Cela se traduisit d'abord par la composition de poèmes où l'expression de sentiments de mon âme française et de mon âme juive retrouvée alternaient, se mêlaient 33 . Poète français, poète juif. Ame juive. Sentiments juifs. Ses premiers Poèmes juifs paraissent en 1908. Titre à la fois flou et fort, osé, provocateur dans un temps où la plupart des littérateurs juifs essayaient de se faire pardonner leur origine en étouffant ce qu'il y avait en eux de plus profond, et peut-être de meilleur, et en ne laissant vibrer que la pellicule française qu'avaient posée sur leur coeur quelques années d'études classiques et de papotage parisien 34 . C'est donc cela "l'âme juive", ce qu'il y a de plus profond, de plus ancien, de plus ancré dans la personnalité. Certains de ces poèmes - tel "Assimilation" sont autant de pamphlets satiriques contre les Juifs honteux, qui à force de contorsions et de simagrées tentent de se fondre dans la masse:

[...] Que fais-tu dans ton coin, gauche et triste, Plein de pitié, plein de mépris? Juif, tu manques d'estomac! Tant de souplesse, de contrainte, Tant de fuites, pour en rester là! Tiens-toi bien; fais comme les autres; Ou l'on va rire de ton nez! Et chasse donc ta brave vieille âme Qui jusqu'ici vient te chercher. 35 Que d'appels aussi à se redresser. Témoins les derniers vers de son poème "Exode" (1908):

[...] Prends ta hache, Israël; abats tous ces vieux arbres; Prends ton pic, prends ta bêche, défonce ces sols vierges; Elève des abris, des fermes, des hameaux; Fais paître tes troupeaux, plante, greffe, ensemence Et moissonne. Et parmi le miel de tes abeilles, Le lait de tes brebis, le raisin de tes vignes, 33 34 35

Poèmes Juifs (note 1), p. 14. Ibid., préface de 1919, p. 24. Ibid., édition de 1959, p.41-42.

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Tu verras se dresser, convalescente et jeune, Ta fierté, Israël. 36

Etre Juif, pour Spire, ce fut toujours vivre à découvert, être soi, fier d'un riche passé, ce fut bientôt être solidaire, se sentir responsable du sort des autres Juifs, ce fut aussi avoir un ailleurs, terre d'utopie, de rêve, de rêve politique. Cette fougue culmine dans une lettre écrite de Bâle lors d'un Congrès sioniste: "A Paris, vous avez peur qu'on reconnaisse votre Judaïsme à la forme de votre nez. [...] Ce n'est pas de l'assimilation que j'attends notre régénérescence. L'assimilé c'est la mort. Le Sionisme c'est la vie." 37 André Spire ne reviendra jamais sur son engagement juif et sioniste, si minoritaire à l'époque, combattu par le rabbinat et ses contemporains juifs. La prise de conscience de son identité juive chez Spire jeune homme vint sans doute de la conviction acquise que ce que l'on appelait la question juive, si brûlante dans ses années de formation, ne pouvait être résolue par un destin individuel au sein de la société environnante, la conviction qu'un Juif est un membre constitutif d'une collectivité, d'un peuple juif, d'une "nation juive", avec un passé et· un avenir. Ainsi, pour résumer la nature de sa judéité, de sa "conscience juive", disons qu'elle est l'affirmation de soi courageuse, rebelle, solitaire, à revers des courants et des modes. Son mode d'être Juif c'est la fidélité à soi-même, la dignité, la fierté, la solidarité dans un même destin. Ne pas tendre le dos, mais au besoin le poing. "Ramassons l'injure, et faisons de l'injure un drapeau." 38

36 37 38

Poèmes Juifs (note 1), p.56-57. Lettre inédite à sa mère, 10 août 1911. "Les problèmes juifs dans la littérature" (note 26), p. 108.

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Joseph Bloch (1871-1936) Ein Vorkämpfer der deutsch-französischen Freundschaft im Zeitalter des Rationalismus

Joseph Bloch, der heute zu Unrecht nahezu vergessen ist, war ein Mann von ungewöhnlichem geistigen Format und politischem Weitblick. Es lohnt sich, die originellen Ideen dieses Außenseiters der deutschen Sozialdemokratie kennenzulernen. Viele Konzeptionen, die er im ersten Drittel unseres Jahrhunderts zur Geltung bringen wollte und die damals utopisch erschienen, besitzen heute erstaunliche Aktualität. Gestatten Sie, daß ich zunächst seine Lebensbahn kurz skizziere. Im Jahr 1871 geboren, wuchs Bloch in einer jüdischen, streng orthodoxen Familie Königsbergs auf und absolvierte dort das humanistische Gymnasium. Als Oberschüler begann er sich für den Sozialismus zu interessieren und fragte den in London lebenden Friedrich Engels in einem Brief an, ob die ökonomischen Bedingungen wirklich die einzig bestimmenden Faktoren in der Geschichte der Menschheit seien. In seiner Antwort vom 21. September 1890 trat Engels einer allzu einseitigen Interpretation des historischen Materialismus entgegen. Die ökonomische Lage sei zwar die Basis, aber nicht das einzig Bestimmende, denn verschiedene Momente des Überbaus wie politische Verfassungen und Rechtsformen, philosophische Theorien und religiöse Anschauungen wirkten auch auf den Verlauf der Klassenkämpfe ein. Diese Erklärung machte auf Bloch großen Eindruck und war wohl der Grund dafür, daß er sich zeitlebens theoretisch zum Marxismus bekannte, obwohl er sich weitgehend von dieser Doktrin entfernte. Er war niemals ein linientreuer Sozialist, sondern ging eigene Wege. Als Zwanzigjähriger übersiedelte Bloch nach Berlin, wo er Mathematik und Physik studierte. Aber noch vor Beendigung seines Studiums gründete er 1895 die Zeitschrift "Der sozialistische Akademiker", deren Titel er zwei Jahre später in "Sozialistische Monatshefte" umwandelte. Dieses Organ, das bei Gewerkschaftlern verbreitet war und sich direkter Parteikontrolle entzog, existierte 36 Jahre lang und kann als persönliches Lebenswerk Joseph Blochs gelten. Die "Sozialistischen Monatshefte" waren vor dem ersten Weltkrieg die wichtigste Tribüne der sogenannten "revisionistischen" Richtung der deutschen Sozialdemokratie und distanzierten sich vom revolutionären Attentismus Karl Kautskys und August Bebels, daß der Untergang des Kapitalismus unmittelbar bevorstehe und der Sieg des Sozialismus gesetzmäßig sei. Bloch selbst schrieb wenig, inspirierte jedoch viele Artikel, war der geistige Mittel-

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punkt der Zeitschrift und wählte die Mitarbeiter aus, zu denen zahlreiche bekannte deutsche und ausländische Sozialisten gehörten. Für seine Funktion als Chefredakteur erhielt er keine Vergütung, sondern ernährte sich durch Erteilung von Privatstunden in Mathematik. Seine Frau Helene, die er in jungen Jahren geheiratet hatte, und die von Beruf Zahnärztin war, bestritt einen wesentlichen Teil des kinderlosen Haushalts. Nach dem Machtantritt der Nazis und dem Verbot der "Sozialistischen Monatshefte" emigrierten Bloch und seine Gattin nach Prag, wo er im Dezember 1936 starb. In seinen letzten drei Lebensjahren diktierte er seinem Freund und Schüler Felix Stössinger Reflexionen über die historische Entwicklung Frankreichs, Deutschlands und Englands, über Judenemanzipation und Zionismus, und verkündete seine Vision eines politisch geeinten, friedlichen und sozialistischen Kontinentaleuropas. Blochs Witwe gab kurz vor dem Münchner Abkommen vom Herbst 1938 dieses politische Vermächtnis unter dem Titel Revolution der Weltpolitik im Selbstverlag heraus. Von diesem Werk, das niemals auf dem Buchmarkt erschien, existieren nur wenige Exemplare. Helene Bloch wanderte nach der Zerstörung der Tschechoslowakei durch Nazideutschland ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. Sie starb in Jerusalem im Jahr 1971 im Alter von 102 Jahren. Einer der wichtigsten Mitarbeiter der "Sozialistischen Monatshefte" vor dem ersten Weltkrieg war Eduard Bernstein, der in seinem 1899 erschienenen Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie Kritik an der offiziellen Parteilinie übte und damit zum Erzvater des sogenannten "Revisionsismus" wurde. Bernstein bestritt die dogmatischen Behauptungen orthodoxer Marxisten, daß sich die Krisen der bürgerlichen Klassengesellschaft ständig vertieften, der Kapitalismus in absehbarer Zeit an seinen immanenten Widersprüchen zusammenbrechen und eine siegreiche proletarische Revolution die ersehnte sozialistische Ordnung hervorbringen werde. Bernsteins alternative Theorie besagte, daß der Sozialismus nichts anderes als das Prinzip einer umfassenden Demokratisierung aller Lebensbereiche sei: Die Arbeiterpartei müsse die Initiative ergreifen und die bestehenden Institutionen zugunsten des Proletariats benutzen, um durch konstruktive und praktische Reformen die allmähliche Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus in die Wege zu leiten. Von diesen Prämissen ausgehend, forderten die "Sozialistischen Monatshefte" die sozialdemokratische Partei auf, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und den Konsumgenossenschaften Aktionen zu unternehmen, um die politische und wirtschaftliche Situation des Proletariats innerhalb der kapitalistischen Ordnung zu verbessern. Obwohl damit eine gewisse Anpassung an die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse verbunden war, betonte Bloch immer wieder, daß das Endziel der Sozialisten die Übernahme der politischen Macht bleibe. Es sei die Aufgabe der SPD, die Chancen des schrittweise erweiterten demokratischen Selbstbestimmungsrechts praktisch zu nutzen, um die Arbeiter instand zu setzen,

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im Bereich der Politik und der Wirtschaft Verantwortung zu übernehmen. Nicht die Diktatur des Proletariats, sondern das souveräne, aus allgemeinen, direkten und gleichen Wahlen hervorgegangene Parlament werde das autoritäre deutsche Kaiserreich in einen sozialistischen Staat verwandeln. Dieser Staat werde alle Errungenschaften der Demokratie bewahren, die Menschenrechte verfassungsmäßig verankern, anstelle des kapitalistischen Gewinnstrebens dem Allgemeininteresse Vorrang zusprechen und die Selbstverwirklichung des Individuums in einer brüderlichen und solidarischen Gesellschaft bewirken. Die Alternativvorschläge der "Revisionisten", an die Stelle revolutionärer Zielsetzung eine Strategie systemverändernder Reformen zu setzen, wurden von der Parteiführung zwar zurückgewiesen und als Opportunismus, Verrat an der Arbeiterklasse und Ausdruck bürgerlicher Ideologie verurteilt; in der konkreten politischen Alltagspraxis übernahmen SPD und Gewerkschaften jedoch weitgehend die Positionen des Revisionismus, so daß das Sozialismusverständnis Bernsteins und Blochs Jahrzehnte nach ihrem Tode allgemein anerkanntes Ideengut der SPD geworden ist. Seit dem Jahr 1904 wandte Bloch der internationalen Politik große Aufmerksamkeit zu. Die Ursachen waren der Abschluß des Bündnisses zwischen England und Frankreich, die sogenannte "Entente Cordiale", die die kolonialen Streitfragen zwischen den beiden Mächten regelte, der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges, der zur Revolution im Zarenreich führte, und die erste Marokkokrise, die mit einer diplomatischen Niederlage Deutschlands endete. Bloch erkannte die Wichtigkeit des nationalen Faktors zwar an und bezeichnete die Nation als "Schicksalsgemeinschaft der Vergangenheit, die zur Willensgemeinschaft der Zukunft" werden müsse, um einen Beitrag für die Menschheit zu leisten; aber er war auch überzeugt, daß die meisten Nationen nicht imstande waren, um aus eigener Kraft die politischen Probleme zu meistern, die infolge der Industrialisierung und der ungleichmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung der Staaten entstanden. Im September 1905 erschien in den "Sozialistischen Monatsheften" ein von Bloch inspirierter Artikel unter dem Titel "Weltpolitik und Sozialdemokratie". Dort wurde erstmals eine Konzeption entwickelt, die Bloch später ausarbeitete, um viele Einzelheiten vermehrte und Revolution der Weltpolitik nannte. Sie beruhte auf der Idee, daß sich in der Welt fünf große Wirtschaftseinheiten herausbildeten, die Bloch als "Imperien" bezeichnete, - nämlich Großräume, die sowohl über Bodenschätze als auch über Absatzmärkte verfügten. Diese Imperien waren autark, weil ihre Bodenbearbeitung, Rohstoffgewinnung, Güterverteilung und Konsumtion gesichert war. Bloch erklärte die Bildung dieser Imperien damit, daß die Dynamik der Weltwirtschaft die einzelnen Nationalstaaten zu einem immer intensiveren Austausch von materiellen und geistigen Gütern zwang und damit ihre enge politische Zusammenarbeit unerläßlich machte. Diese Imperien waren:

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1. Der gesamte amerikanische Kontinent, in dem die Vereinigten Staaten der entscheidende Machtfaktor waren; 2. Das britische Weltreich, das seinen Schwerpunkt in den Kolonien Afrikas, Asiens und Polynesiens hatte und von jeglichem politischen Einfluß auf den europäischen Kontinent ausgeschaltet werden sollte; 3. Ostasien, wo das dynamische und aufstrebende Japan die fuhrende Rolle spielen sollte; 4. Das russische Reich, das laut Blochs Konzeption in eine demokratische und parlamentarische Republik umgewandelt werden sollte; 5. Der europäische Kontinent ohne Großbritannien und Rußland, aber einschließlich der Türkei, Vorderasiens und einem Teil Afrikas, das in eine politische und wirtschaftliche Einheit zusammengefaßt werden sollte. Bloch begrüßte die Bildung dieser Imperien, weil er überzeugt war, daß sie den modernen Produktivkräften einen mächtigen Auftrieb verleihen und dadurch einen aktionsfahigen Sozialismus hervorbringen werde. Um Mißverständnisse zu vermeiden, betonte er, daß die Politik dieser Imperien keinesfalls mit dem Imperialismus verwechselt werden dürfe, den das britische Weltreich in seinen Kolonien betreibe. Imperialistische Politik sei gleichbedeutend mit Beutegier, Brandschatzung der Erde, Versklavung und Ausrottung der Eingeborenen, während die Politik der Imperien auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen beruhen und jede nationale Unterdrückung abschaffen müsse, um die organisatorischen Voraussetzungen zur Entstehung der sozialistischen Produktionsweise zu schaffen. Mit Stolz behauptete er, daß seine Idee der Imperienbildung die wichtigste Entdeckung der modernen politischen Ökonomie seit der Entdeckung der Bewegungsgesetze des Kapitalismus durch Karl Marx sei. Der Schwerpunkt von Blochs Gedankengebäude lag in der Erörterung des zu schaffenden Imperiums Kontinentaleuropa, das damals von seiner Verwirklichung weiter entfernt war als alle anderen Imperien. Zu Europa gehörte laut seiner Konzeption der Vordere Orient und Nordafrika, weil dort die kulturelle Wiege der europäischen Völker stand, dort entstanden die Grundlagen von Gesetz und Recht, der Monotheismus, das Alphabet und die Erkenntnis vom Gang der Sterne. Das künftige Imperium des vereinigten europäischen Kontinents werde eine neue und umfassene Wiedergeburt des Römischen Reiches sein und eine noch niemals dagewesene Geistesblüte hervorbringen; seine geistige Einheit ruhe auf den vier Säulen Jerusalem, Athen, Rom und Paris. Im Zentrum dieses europäischen Imperiums müsse Frankreich stehen, das in den unsterblichen Ideen von 1789 die Einheit der Menschheit und die Gleichberechtigung jedes einzelnen Menschen verkündete. Frankreich werde in politischer und kultureller Hinsicht am meisten zum Aufbau des geeinten Europa beitragen und sei daher zu seiner Führung berufen, aber es brauche Deutschland, weil es auf dessen wirtschaftliche und organisatorische Potenz nicht verzichten könne. Daher sei es die Pflicht der beiden Völker, den gegenseitigen Haß

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zu überwinden; der erste Schritt der europäischen imperialen Einheit müsse in einem Freundschaftsbündnis zwischen Frankreich und Deutschland bestehen. Diese Forderung war vor dem ersten Weltkrieg und auch in der Zwischenkriegszeit völlig utopisch, weil die von allen Kanzeln und Kathedern gepredigte nationalistische Doktrin der ewigen Erbfeindschaft der beiden Länder die europäische Politik bestimmte. Es stellte sich jedoch heraus, daß der politische Phantast Joseph Bloch die politischen Entwicklungstendenzen schärfer durchschaute als die meisten Staatsmänner seiner Zeit. In seinem Werk Revolution der Weltpolitik prophezeite er im Jahr 1935: Der Vereinigte Europäische Kontinent wird entstehen, wenn sich die führenden Mächte Europas zu einer außenpolitischen Gemeinschaft zusammenschließen und einen gemeinsamen Markt, eine ineinandergreifende Wirtschaft organisieren. Überflüssige Differenzierungen, die keine reale Bedeutung mehr haben, werden dann beseitigt werden. (S. 358)

Bloch war einer der ersten Denker des 20. Jahrhunderts, der die Forderung der europäischen Einheit auf die politische Tagesordnung stellte. Er erlebte allerdings nicht, daß die von ihm immer wieder postulierte deutsch-französische Freundschaftsidee in die Praxis umgesetzt wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg verwandelten die Staatsmänner Frankreichs und der westdeutschen Bundesrepublik einige Konzeptionen Blochs - ohne sie zu kennen - mit zeitgemäßen Änderungen in politische Wirklichkeit. Seine Vision einer Einheit der Staaten Europas begann Konturen anzunehmen, seit in den fünfziger Jahren die zunächst aus sechs Staaten bestehende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entstand, die in den folgenden Jahrzehnten erweitert wurde und mit dem Europaparlament und der Europäischen Union politische Funktionen anzunehmen begann. Ob damit das völkische Geltungsbedürfnis und die Ideologie des Nationalismus, die Bloch immer bekämpfte, endgültig überwunden ist, wird die künftige Entwicklung zeigen. In Blochs politischer Gedankenwelt war die Bewunderung Frankreichs ebenso groß wie sein Abscheu vor der englischen Politik. Er vertrat den Standpunkt, daß die europäische Einheit durch Großbritannien bedroht sei, das mit seiner Doktrin des "Gleichgewichts der Kräfte" seit jeher eine Politik der Spaltung des Kontinents betrieben habe, um seine Seeherrschaft zu festigen und zum Weltreich aufzusteigen. Schon im Spanischen Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts, im Siebenjährigen Krieg und vor allem in den Koalitionskriegen gegen das revolutionäre und napoleonische Frankreich habe Großbritannien die Zwietracht der europäischen Kontinentalmächte geschürt, um seine Suprematie zu begründen. Um sich einigen zu können, müsse sich daher der Kontinent von der britischen Vormundschaft befreien. Die Gegnerschaft zur britischen Politik war fur Bloch einer der Hauptgründe, um den ersten Weltkrieg zu bejahen. Er glaubte daran, daß Deutschland

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land überfallen worden sei. Ebenso wie die Mehrzahl der Sozialdemokraten entschuldigte er die Maßnahmen der kaiserlichen Regierung, rechtfertigte auch die Besetzung Belgiens und glaubte an die Notwendigkeit des deutschen Sieges. Den eigentlichen Feind und Hauptschuldigen am Krieg erblickte er in Großbritannien, gegen das der Kampf mit allen Mitteln gefuhrt werden müsse, bis es Deutschland als ebenbürtige Großmacht mit einer starken Flotte und einem Kolonialreich anerkenne und die Einigung des europäischen Kontinents zulasse. Diese Auffassungen führten zum Bruch der Freundschaft mit Eduard Bernstein, der seit seiner Jugend englandfreundlich gesinnt war. Bloch betonte wiederholt, daß die deutsche Aufgabe im Krieg die Ausschaltung von Englands Einfluß in Europa sein müsse, um dann gemeinsam mit Frankreich die Einigung des europäischen Kontinentalimperiums voranzutreiben. Bloch akzeptierte auch vorläufig den Krieg mit Frankreich, und warf den französischen Politikern das Bündnis mit Rußland vor; er hielt dies für einen Abfall von der Mission Frankreichs, die Ideen der großen Revolution in Europa zu verwirklichen. Er rechtfertigte zunächst den Krieg gegen Rußland, weil er meinte, daß der Zarismus Deutschland bedrohe; aber nachdem der russische Vormarsch im September 1914 in der Schlacht bei Tannenberg zum Stehen gebracht worden war, plädierten die "Sozialistischen Monatshefte" für einen Separatfrieden mit Rußland, weil Bloch hoffte, daß es dadurch möglich sein werde, Frankreich vom Bann Englands zu lösen und zu einem Kompromiß zu gelangen. Bloch warnte vor der annexionistischen Polenpolitik des Generals Ludendorff und mißbilligte im November 1916 die Proklamation der Unabhängigkeit von Russisch-Polen, weil dies eine Verständigung mit Rußland verhinderte. Er begrüßte die russische Februar-Revolution von 1917 und erblickte in der Kerenski-Regierung die Verkörperung des freien und demokratischen Rußland. Er hoffte, daß die Menschewisten und Sozialrevolutionäre das Riesenreich auf den richtigen Weg eines sozialistischen Aufbaus und der Zusammenarbeit mit dem künftigen vereinigten Kontinentaleuropa führen würden und bedauerte, daß die deutsche Regierung Kerenskis Angebot eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen ablehnte. Bloch kritisierte, daß Ludendorff es vorzog, sich der Bolschewisten zu bedienen und Lenin die Heimreise zu ermöglichen, um Rußland in Chaos und Anarchie zu stürzen. Die Fortsetzung des Krieges hatte den Sieg des Bolschewismus zur Folge, den Bloch grundsätzlich verwarf. Er lehnte das Sowjetsystem ab, weil er darin eine Verfälschung des Marxismus erblickte und die Parteidiktatur der Kommunisten die politische Meinungsfreiheit erstickte. Die "Sozialistischen Monatshefte" kritisierten aber auch den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk, der Rußland im März 1918 von der kaiserlichen Regierung aufgezwungen wurde, weil er die erhoffte deutsch-russische Annäherung vereitelte. Bloch bedauerte zwar die Niederlage Deutschlands im November 1918, hoffte aber, daß die Errichtung der Republik Perspektiven der sozialen, wirt-

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schaftlichen und politischen Erneuerung eröffnete. Er hielt eine einzigartige Gelegenheit für gekommen, um breite Schichten des Volks für Demokratie und Sozialismus zu gewinnen, und unterschätzte die reaktionären Kräfte, die in Wirklichkeit ihre Machtpositionen nicht geräumt hatten und die Dolchstoßlegende erfanden, um von den wahren Schuldigen an der Kriegskatastrophe abzulenken und die Niederlage den Juden und der revolutionären Arbeiterbewegung in die Schuhe zu schieben. Ebenso wie die gesamte Mehrheitssozialdemokratie begrüßte Bloch die im Januar 1919 einberufene verfassunggebende Nationalversammlung und lehnte das von linken Sozialisten vorgeschlagene Rätesystem nach russischem Muster ab. Dennoch kam seiner Ansicht nach den in der Novemberrevolution entstandenen Arbeiterräten große Bedeutung zu. Sie sollten Grundstock der Produktionsräte werden, die in allen größeren Betrieben geschaffen werden müßten und den Arbeitern ermöglichen sollten, "allmählich in die Produktion hineinzuwachsen", bis sie imstande seien, selbst die Leitung zu übernehmen und zu Herren des kapitalistischen Eigentums zu werden. Dies nannte Bloch den "Produktionssozialismus". Er hielt die Enteignung der industriellen Unternehmer durch den Staat für schädlich, weil das russische Beispiel gezeigt habe, daß die beseitigten Eigentümer nicht durch das Proletariat ersetzt werden, sondern durch eine Kaste von Bürokraten und Funktionären, die zu Trägern der Macht aufstiegen. Es sei aber notwendig, die Republik so zu gestalten, daß die Arbeiter sie als ihren eigenen Staat betrachteten und bereit waren, sie zu verteidigen. Als ersten Schritt zu diesem Ziel schlug Bloch die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Schlüsselindustrien vor. Dies werde zur Stärkung der Gewerkschaften und Genossenschaften beitragen, das Produktionsniveau heben, den Abschluß günstiger kollektiver Arbeitsverträge ermöglichen und die Sozialversicherung verbesseren. Außerdem sollte dem politischen Reichstag eine "Kammer der Arbeit" zur Seite gestellt werden, deren Aufgabe es war, für Großprojekte der Wirtschaft im Interesse der Allgemeinheit Verantwortung zu übernehmen. Blochs Konzeptionen betrafen auch die Reichsreform und territoriale Neuordnung: Die Republik sollte auf föderalistischer Grundlage beruhen, Preußen in drei Länder aufgeteilt werden, die alten dynastischen Grenzen der Länder sollten verschwinden, um neuen wirtschaftlichen und kulturellen Einheiten Platz zu machen. Die meisten Vorschläge Blochs stießen auf taube Ohren, weil es in der Weimarer Republik zu keiner gesellschaftlichen Umwälzung und zu keinem alternativen Neubeginn kam, der Staat mit schweren außen- und innenpolitischen Hypotheken belastet war und von einer Krise in die andere taumelte. Ahnlich wie in seinen Forderungen der europäischen Einheit war Bloch auch in seinen innenpolitischen Konzeptionen seiner Zeit um eine Generation voraus. Die "Sozialistischen Monatshefte" traten für eine loyale Erfüllung des Versailler Vertrages ein und übten harte Kritik am aggressiven Nationalismus, der

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das politische Leben Deutschlands vergiftete. Die Reparationsleistungen seien zwar sehr hoch, aber die deutsche Armee habe in Frankreich schreckliche Verwüstungen angerichtet, die man wiedergutmachen müsse. Es sei notwendig, ohne Vorbehalte die Tatsache der Niederlage anzuerkennen, jeden Gedanken eines Revanchekrieges fallen zu lassen, Frankreich das Gefühl der Sicherheit zu geben und damit die Versöhnung der beiden Völker einzuleiten. - Diese Auffassungen wurden von der Mehrheit der deutschen Politiker und der öffentlichen Meinung abgelehnt, die die Zeitschrift totschwieg. Bloch ließ sich aber nicht beirren. Er kritisierte, daß die Justiz völlig in den Händen von Nationalisten und Feinden der Republik lag und daß notorische Mörder, die den Rechtskreisen angehörten, mit minimalen Strafen davonkamen und einige sogar Staatspensionen erhielten, während sozialistische Arbeiter, die die Republik beim Kapp-Putsch und den Kämpfen im Ruhrgebiet von 1920 verteidigt hatten, zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Trotz seiner Entäuschung über die politische Entwicklung hoffte Bloch, daß die Weimarer Republik sich festigen werde. Daher begrüßte er das Heidelberger Programm der sozialdemokratischen Partei von 1925 in dem es hieß, daß die deutsche Demokratie günstige Bedingungen für den Sieg des Sozialismus schaffe. Bloch trat für die Große Koalition von der Sozialdemokratie bis zur Deutschen Volkspartei ein, in den "Sozialistischen Monatsheften" ließ er den preußischen Innenminister Carl Severing zu Wort kommen, der die Zusammenarbeit von bürgerlichen Parteien und den Sozialdemokraten als neue Form des Übergangs zum Sozialismus bezeichnete und davon sprach, daß der traditionelle Kapitalismus ebenso überholt sei wie die Doktrin des Klassenkampfs. Bloch erblickte im Locarno-Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, der 1925 von den Außenministern Stresemann und Briand abgeschlossen wurde und in dem Deutschland ausdrücklich auf Elsaß und Lothringen verzichtete, eine große Chance fur die Einheit Kontinental-Europas und einen Triumph der französischen Politik. Vergeblich forderte seine Zeitschrift von Stresemann, auch im Osten auf die verlorenen Gebiete zu verzichten und die Grenze zu Polen anzuerkennen; der Außenminister, der in Wirklichkeit Nationalist war und den Locarno-Vertrag nur aus taktischen Gründen abgeschlossen hatte, war jedoch zu einem "Ostiocarno" nicht bereit. Beim Ausbruch der großen Wirtschaftskrise im Herbst 1929 fand Bloch keinen gangbaren Weg zu ihrer Bekämpfung. Er erkannte zwar die Gefahr der Nazibewegung, die bei den Septemberwahlen von 1930 ihre Mandate im Reichstag fast verzehnfachen konnte und zu einer Massenpartei anschwoll, aber sein extremer Antikommunismus hinderte ihn, den Sozialdemokraten vorzuschlagen, gemeinsam mit der KPD eine Einheitsfront zu bilden, um die Machtübernahme der Nazis unmöglich zu machen. Er erkannte nicht, daß der gegenseitige Kampf der beiden Arbeiterparteien nur den Feinden der Demokratie und der Weimarer Republik nützte und daß ein gemeinsames Vorgehen

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der Sozialdemokraten und Kommunisten das einzig wirksame Mittel gegen die Nazis war. Bis zum Schluß betrachtete er den Bolschewismus als ein kaum geringeres Übel als den Nationalsozialismus. Er machte sich auch Illusionen über die konservative und antidemokratische Deutschnationale Volkspartei, die infolge ihres Hasses gegen die Republik und ihrer Angst vor den Kommunisten bereit war, ein Bündnis mit Hitler zu schließen. Diese Fehlurteile und Irrtümer führten dazu, daß die "Sozialistischen Monatshefte" dem Mythos der Loyalität und Verfassungstreue des Feldmarschalls Hindenburg zum Opfer fielen und seine Wiederwahl zum Reichspräsidenten im Frühjahr 1932 propagierten. Bloch bereute diese falsche Entscheidung ein Jahr später, als Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte und die Republik verriet. Die letzte Nummer der "Sozialistischen Monatshefte" erschien am 4. Februar 1933; sie nahm noch gerade Kenntnis von der Bildung der Regierung Hitler. Kurz darauf wurde die Zeitschrift ebenso wie alle anderen Publikationen der Sozialdemokraten und Kommunisten verboten. Bloch mußte erkennen, daß sein jahrelanger Kampf für die Erhaltung und Festigung der deutschen Demokratie, für Menschenrechte, Humanität und die Ideale der Französischen Revolution, und gegen Nationalismus und Fremdenhaß, vergeblich gewesen war. Er hielt jedoch auch nach seiner Emigration nach Prag an seinen Gesinnungen fest und verfiel nicht in Verzweiflung; vielmehr beschloß er, seine Lebenserfahrungen und politischen Konzeptionen eingehend darzulegen. Es war ihm, wie ich schon am Anfang meines Referats bemerkt habe, nicht vergönnt, die Publikation seines umfangreichen Buchs Revolution der Weltpolitik zu erleben. In diesem Nachlaßwerk vertiefte und systematisierte Bloch seine Idee der Imperienbildung und fällte Urteile über die politische Geschichte und Gegenwart Englands, Frankreichs und Deutschlands; ein ausführliches Kapitel war den Ursachen des Antisemitismus und den Problemen der Judenheit gewidmet. Er beschuldigte die Engländer, seit dem 16. Jahrhundert eine anrüchige Politik der Heuchelei und Niedertracht betrieben zu haben, um andere Nationen zu unterwerfen und die Weltherrschaft zu erringen, und gab seiner Empörung über die nachgiebige Politik der englischen Regierung gegenüber den Nazis Ausdruck, die zum Flottenabkommen zwischen Großbritannien und Deutschland vom Sommer 1935 führte. Obwohl er nach wie vor Frankreich für das geistige und kulturelle Zentrum der Welt hielt, kritisierte er französische Politiker wie Herriot und Daladier wegen ihrer Unterwürfigkeit gegenüber England und gab ein vernichtendes Urteil über den Außenminister Pierre Lavai ab, den er beschuldigte, die französischen Interessen an die nazistischen Nutznießer des Reichstagsbrandes zu verraten. Wie zutreffend diese Kritik Blochs war, sollte sich nach dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs 1940 herausstellen, als Laval Ministerpräsident in der Vichy-Regierung des Marschalls Pétain wurde und nach der Befreiung Frankreichs wegen Kollaboration mit den Nazis zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.

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Über Deutschland äußerte Bloch seine tiefe Enttäuschung. Er betonte, daß der Nationalsozialismus keine zufällige Erscheinung war, sondern in der deutschen Geschichte und Geisteswelt wurzelte; insbesondere die politische Romantik des 19. Jahrhunderts, die die Höherwertigkeit der deutschen Kultur predigte, habe dem antiaufklärerischen und antisemitischen Nationalismus Vorschub geleistet. Die Hauptschuld an dieser Entwicklung treffe die Intellektuellen, die in ihrer Mehrheit den Nazis zujubelten und bei Hitlers Machtübernahme der Gosse zum Sieg verholfen hätten. Während 40 Jahre zuvor beim Dreyfus-Prozeß in Frankreich Persönlichkeiten wie Emile Zola, Georges Clemenceau, Jean Jaurès und Anatole France die Stimme zugunsten des unschuldig Verurteilten erhoben, gab es 1933 in Deutschland niemanden von ähnlichem Format, der die wehrlosen Juden in Schutz genommen hätte. Die Ideologie des deutschen Nationalismus beruhe auf der Wahnvorstellung, daß die Menschen durch das Blut gebunden und wertmäßig unterschiedlich seien. Diese Rassentheorie, die die Gleichheit der Menschenrechte leugne, werde von der Mehrheit der deutschen Wissenschaftler als Weltanschauung ernstgenommen und akzeptiert. Der rassistische Blutkult, der die Überlegenheit des nordischen Menschen behaupte, sei aber eine furchtbare Methode geistiger Unterdrückung. Er stehe in kontradiktorischem Widerspruch zum französischen Patriotismus, der nicht auf der unveränderbaren blutmäßigen Abstammung beruhe, sondern auf dem Willen und dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen. Stärker als jemals zuvor widmete Bloch in seinem Nachlaßwerk der jüdischen Problematik Aufmerksamkeit. Obwohl er überzeugter Anhänger der westeuropäischen Kultur blieb, wollte er nicht, daß die assimilierten Juden auf ihr eigenes Nationalbewußtsein verzichten sollten. Er hielt es fur einen charakteristischen Zug der modernen pluralistischen Gesellschaft, daß die Juden einer anderen Nation angehören konnten, ohne ihren eigenen Ursprung zu verleugnen. Dem Antisemitismus, der seiner Meinung nach tief ins heidnische Altertum zurückreichte, maß er universelle Bedeutung bei. Er hielt ihn für ein gesellschaftliches Krankheitssymptom, wobei die für die Übel Verantwortlichen ihre eigene Schuld auf die Juden abwälzten und sie zu Sündenböcken machten. Wörtlich hieß es: Die Juden werden nicht verfolgt, weil sie die Besseren sind, und erst recht nicht, wie ihre Verfolger behaupten, weil sie die Schlechteren sind, sie werden verfolgt, weil sie wehrlos sind und nicht über die Machtmittel verfügen, ihre sozialen Positionen zu behaupten. [...] Die rassistische Propaganda ruft zu Gewalttaten gegen die Juden auf, um Gewaltakte gegen alle nichtdeutschen Völker besser vorzubereiten. Völkern, die das nicht begreifen und sich nicht rechtzeitig wehren, droht der Tod. Demokratie und Humanität kämpfen gegen den Rassismus um ihr Leben; seines oder ihres. Eine andere Entscheidung gibt es nicht. Im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist Furcht Selbstmord. [...] Nicht um der Juden willen, um des Ganzen willen müssen alle sozialen und moralischen Kräfte der

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Menschheit auf die Zurückdrängung des sozialen und moralischen Deliriums, nämlich des Antisemitimus, gerichtet sein. Eine geordnete Welt kann es in ihrer Mitte so wenig dulden wie eine moderne Großstadt einen Fiebersumpf." (S. 707, 779f.)

Joseph Bloch bekannte sich in seinem Werk "Revolution der Weltpolitik" zum Zionismus, zur Schaffung eines Judenstaates im britischen Mandatsgebiet Palästina. Dieser Staat müsse die sittlichen und religiösen Werte des Judentums aufrechterhalten, gleichzeitig aber auch allen fruchtbaren Einflüssen der europäischen Kultur geöffnet sein und auf den Prinzipien des Produktionssozialismus aufgebaut werden. Die Rückkehr nach der historischen Urheimat der Judenheit dürfe keineswegs eine Abkehr von Europa und die Schaffung eines neuen geistigen Ghettos bedeuten, sondern der künftige Judenstaat müsse ein Bindeglied zwischen dem Orient und der westlichen Welt sein. Bloch kritisierte die zionistische Leitung, die seines Erachtens nach seit der Balfour-Deklaration von 1917 einseitig den britischen Interessen im Nahen Osten diente, und machte die englische Politik fur die Spannungen zwischen den Juden und den Arabern verantwortlich. Er hielt die Zusammenarbeit der beiden Völker in Palästina fur möglich und notwendig und betonte, daß die Gründung des Judenstaats im Einverständnis mit den Arabern erfolgen müsse. Dieser Staat sollte nach Blochs Vorstellung einem "Pansemitischen Reich" angehören, das die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas umfassen sollte. Gute Beziehungen sollte der Judenstaat auch mit dem erhofften kontinentaleuropäischen föderativen Imperium und besonders zu Frankreich haben; denn Frankreich habe in seiner großen Revolution den Juden die bürgerliche und politische Gleichberechtigung gewährt, was sie niemals vergessen dürfen. Gemäß den unvergänglichen Prinzipien von 1789 erhielten die Juden sowohl das Recht der nationalen Selbstbestimmung als auch die Teilnahme an einer Kultur des Universalismus, die den mannigfaltigen Komponenten der menschlichen Zivilisation freie Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Joseph Bloch stellte die biblischen Zehn Gebote und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 als die beiden Pfeiler der zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften der Menschheit dar und legte in seinem Vermächtniswerk mit Pathos sein weltanschauliches Glaubensbekenntnis ab, in dem es hieß: D i e Französische Revolution war deshalb so groß, weil sie missionär war. Ihre Führer fühlten die Berufung, ihre geistigen Eroberungen mit der Menschheit zu teilen. [...] In ihrem Sendungsbewußtsein leuchtete der Geist der Propheten. [...] Im Donner des Sinai und in den Stürmen der Pariser Nationalversammlung wurden die großen Deklarationen der Menschheit verkündet: Hebräisch die Gebote, französisch die Rechte. [...] Damit die Gebote erfüllt werden, hat die Französische Revolution die Menschenrechte dekretiert. [...] Jerusalem ist der östliche, Paris der westliche Pfeiler der europäischen Zivilisation. [...] Die Gebote des Sinai und die Ideen von 1789 enthalten zusammen das ganze Gesetz des Himmels und der Erde über das Zusammenleben der Menschheit." (S. 77, 79f.)

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Walter Grab

Brief des Justizministers von Luxemburg, René Blum Regierung des Großherzogtums Luxemburg, den 20.3.1939.

Madame Helene Bloch, Paris.

Chère Madame, Nach soeben beendeter Lektüre des Nachlaßwerks unseres großen und unvergessenen Joseph Bloch bin ich glücklich, Ihnen zu gleicher Zeit mit meinem Dank für die kostbare Sendung - gestatten Sie, in diesen kritischen Momenten es zu sagen - meine Bewunderung auszudrücken für die klarblickende und quasi prophetische Abschätzung der Ereignisse der Weltpolitik. Möchten diese hochherzigen Ideen dazu helfen, eine friedliche Lösung der furchtbaren Krise herbeizuführen, die wir jetzt durchschreiten. Indem ich Ihnen nochmals meine Gefühle der Dankbarkeit ausspreche, bleibe ich in ergebenster Hochachtung René Blum, Justizminister. (in: Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch. Hg. von Anna Siemsen Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1956, S. 99.)

Literaturverzeichnis Charles Bloch: Der Kampf Joseph Blochs und der "Sozialistischen Monatshefte" in der Weimarer Republik. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, 3. Bd, Tel Aviv 1974, S. 257-287. Charles Bloch: Joseph Bloch - der jüdische Vorkämpfer für Kontinental-Europa. In: Juden und jüdische Aspekte in der deutschen Arbeiterbewegung 1848-1918. Internationales Symposium (Leitung Shlomo Na'aman). Hg. von Walter Grab. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Beiheft 2, Tel Aviv 1976, S. 147-164. Joseph Bloch: Vermächtnis. Revolution der Weltpolitik. In Zusammenarbeit mit Joseph Bloch von Felix Stössinger niedergeschrieben. Privatdruck. Selbstverlag, Prag 1938. Ein Leben für Europa. In memoriam Joseph Bloch. Hg. von Anna Siemsen Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1956.

Norbert Oellers

"Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht." Else Lasker-Schülers Hebräische

Balladen*

Die lobenden Erwähnungen und Charakterisierungen sind bekannt und durch häufigen Gebrauch abgenutzt: "Der schwarze Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist"1; "die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschland"2; "die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte"3. Weniger bekannt sind kritische Stimmen wie die Franz Kafkas, der im Februar 1913 an Feiice Bauer schrieb: "Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes." 4 Und bedacht wird nie, was doch bedenkenswert ist: daß in grundlegenden Werken über die moderne Lyrik Else Lasker-Schüler nicht einmal

*

Erstdruck dieses Beitrags in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 1995. Bonn: Deutscher Akademischer Austauschdienst 1995, S. 65-78.

1

Peter Hille in: Kampf. Zeitschrift für den gesunden Menschenverstand, Jg 8 (1904), S. 239. Karl Kraus in: Die Fackel, Nr 313/314 (1910), S. 36. Gottfried Benn in einer 1952 gehaltenen Rede auf die Dichterin (Gottfried Benn: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hg. von Dieter Wellershoff. Bd 4: Reden und Vorträge. M ü n c h e n : Deutscher Taschenbuch Verlag 1975, S. 1102). - Nicht so häufig zitiert werden anerkennende Urteile, weil sie von weniger bekannten Autoren stammen: "Sie ist durchaus Romantikerin im modernen Sinn. Sie symbolisiert nur ihr eigenes Innenleben und gelangt dabei ganz von selbst zur Farbe und zum malerischen Eindruck. [...] in ihr lebt, lediglich als unbewußter Instinkt, j e n e monistische E m p f i n d u n g aller Romantik, der das Individuum gleichsam mit dem Kosmos verflochten scheint." (S[amuel] Lublinski: Die Bilanz der Moderne. 3. Aufl., Berlin: Cronbach 1904, S. 167.) Oder: "Sie ist die bedeutendste Dichterin des jüdischen Volkes seit Jahrhunderten. [...] Sie steht dicht neben dem hohen Lied, keine irdische Passion, die sie h e m m t . Wahrscheinlich ist sie durch einen Irrtum einige tausend Jahre zu spät in die Körperlichkeit geraten." (Kasimir Edschmid: Die doppelköpfige N y m p h e . Aufsätze über die Literatur und die Gegenwart. Berlin: Cassirer 1920, S. 139.) Oder: "Die deutsche Frauenlyrik der j ü n g sten Zeit gipfelt in Else Lasker-Schüler (geb. 1876 in Elberfeld.) Wer fühlte sich nicht als ewiger Jude und sänke vor Jehova ins Knie, wenn sie ihre hebräischen Lieder singt? Wenn sie ihre Weise in einen alten Tibetteppich verwebt?" (Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig/Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, S. 87.)

2 3

4

Brief Kafkas an Feiice Bauer vom 12. zum 13. Februar 1913 (Franz Kafka: Briefe an Feiice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1967, S. 296).

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Norbert

Oellers

erwähnt wird - nicht von Margarete Susman 5 , nicht - 46 Jahre später - von Hugo Friedrich 6 . Daß sich Literarhistoriker - in der Vergangenheit so gut wie heute - mit Else Lasker-Schüler schwertun, hängt möglicherweise damit zusammen, daß sie sich nicht in eines der Prokrustes-Betten der schlagwortartig charakterisierten Epochen und Stilrichtungen (wie Symbolismus, Impressionismus, Expressionismus) fugen will. Zwar wurde sie spätestens nach der Aufnahme von 14 ihrer Gedichte in Kurt Pinthus' 1919 erschienene Anthologie Menschheitsdämmerung (deren ursprünglicher Untertitel "Symphonie jüngster Lyrik" schon bald vom Herausgeber in "Symphonie jüngster Dichtung" und 40 Jahre später in "Ein Dokument des Expressionismus" geändert wurde) als expressionistische Lyrikerin 'gefuhrt1, aber keinem, der Augen hat zu sehen und einen Kopf zu denken, kann verborgen bleiben, daß sie in dieser Gedichtsammlung nur gewaltsam auf denselben poetischen Nenner zu bringen ist wie Becher und Benn, Heym und Trakl, Stadler und Werfel. Auch wenn der Band, den Pinthus homogen haben wollte, nicht homogen sein kann (dafür sind viele Gedichte auch zu schlecht), so ist, scheint mir, die besondere Fremdheit der Gedichte Else Lasker-Schülers doch bemerkenswert; dabei sind sie nicht fremd aus inhaltlichen, formalen oder sprachlichen Gründen, sondern wegen des eigentümlichen Verhältnisses zwischen Dichterin und lyrischem Ich, das sich in den Texten spiegelt. Sollte Klaus Günther Just recht haben mit seiner Ansicht, "daß sich kaum jemand so rückhaltlos dem Expressionismus zugehörig gefühlt hat wie sie [E. L.-Sch.]"7, dann muß hinzugesetzt werden: Dies war ein anderer Expressionismus als der, den die Literarhistoriker meinen; er gewann seine Eigenart nicht in erster Linie durch überlieferte Dichtungen, sondern durch die Menschen, die dichteten. Problematisch wie der zitierte Satz ist auch der ihm fol5

In Margarete Susmans Buch Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (Stuttgart: Strecker & Schröder 1910 [Kunst & Kultur, 9]) werden von den zeitgenössischen Dichtem zwar nur George, Hofinannsthal und Rilke ausführlich behandelt, aber viele andere wenigstens erwähnt: Holz, Schlaf, Liliencron, Hartleben, Bierbaum, Dehmel, Dauthendey, Mombert. - Daß sie Else Lasker-Schülers vor 1910 erschienene Gedichte kannte, geht aus einer Bemerkung in den Lebenserinnerungen Margarete Susmans hervor: "Der Unterschied zwischen Ricarda Huch, Else Lasker-Schüler und mir hing mit etwas Grundlegendem zusammen: mit dem Verhältnis zu unserer Dichtung. Diese beiden Dichterinnen fühlten sich durch ihr Dichtertum aus der Gemeinschaft der Menschen herausgehoben [...]. Für mich war das Dichten immer etwas, das allein mich selbst anging [...]." (Margarete Susman: Ich habe viele Leben gelebt. Erinnerungen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1964, S. 48.)

6

Hugo Friedrich beschäftigt sich in seinem Werk Die Struktur der modernen Lyrik Von Baudelaire bis zur Gegenwart (Hamburg: Rowohlt 1956 [Rowohlts deutsche Enzyklopädie, 25. Sachgebiet Literatur]) zwar nicht mit vielen deutschen Lyrikern der Zeit zwischen 1900 und 1920, immerhin aber - mehr oder weniger ausführlich - mit George, Hofinannsthal, Rilke, Benn und Trakl. Klaus Günther Just: Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Geschichte der deutschen Literatur seit 1871. Bern, München: Francke 1973 (Handbuch der deutschen Literaturgeschichte, Abt. 1,4), S. 302.

7

Else Lasker-Schülers

Hebräische

Balladen

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gender "Auf irritierende Weise allgegenwärtig, hat sie Anregungen ausgestreut, hat, weit über ihr eigenes lyrisches Werk hinaus, Dichtung gestiftet." 8 Wie Else Lasker-Schiiler 'Dichtung gestiftet' hat, ist bisher nicht untersucht worden, und es ist zu vermuten, daß die Untersuchungen keine nennenswerten Ergebnisse zeitigen würden. 9 Welcher Dichter ist ihr gefolgt, hat sich an ihr geschult oder sie gar nachgeahmt? Die nachweisbare Wirkung, die sie selbst ausgeübt hat (vielleicht auf Peter Hille, vielleicht auf Gottfried Benn), ist so gering wie die Wirkung anderer auf sie. Sie war - auffallender, als es auch in den Bezirken hoher Kunst gewöhnlich der Fall ist - (fast) nur sie selbst, original und originell, und dies, so sieht es aus, durch alle Jahrzehnte ihrer poetischen Existenz hindurch. "Bei Johannes Bobrowski [...] gab es keine poetische Entwicklung. [...] Er begann sofort, und zwar nicht mehr ganz jung, als ein großer Dichter", hat Stephan Hermlin am Grabe Johannes Bobrowskis gesagt 10 . Für Else LaskerSchüler gilt dasselbe: Als sie 1899, mit 30 Jahren, ihre ersten vier Gedichte in der Halbmonatsschrift Die Gesellschaft veröffentlichte, war sie schon ganz sie selbst, nicht verwechselbar, vielleicht Liliencron am nächsten in Thema, Ton und Gebärde (etwa in den Gedichten "Vorahnung" und "Ahnung", die 1902 in die erste Gedichtsammlung Styx unter dem Titel "Volkslied" übernommen wurden); und alles, was nach der Jahrhundertwende entstand und erschien, ist Zeugnis der Selbstwahrnehmung, trägt also den Stempel ihrer Eigenart, die sich natürlich nicht immer auf gleiche Weise 'rein' bekundete. Diese Feststellung kann niemanden überraschen, der Else Lasker-Schüler für eine große Lyrikerin hält. Etwas anderes erscheint viel bemerkenswerter: Vier Jahrzehnte hindurch hat Else Lasker-Schüler (und in dieser Hinsicht anders als Johannes Bobrowski) den Kreis, den sie schon früh um sich zog und den sie im Laufe der Zeit nur ein wenig erweiterte, nicht verlassen, das heißt, sie hat keine Entwicklung genommen, die es erlaubte, ihre Gedichte aus anderen als zeitlichen Gründen einer frühen, einer mittleren und einer späten Phase zuzuordnen. 11 Einige der zuletzt entstandenen Gedichte, die 1943 in Das blaue Klavier aufgenommen wurden, tragen nicht deutlich die Spuren ihrer Zeit; sie würden nicht als Fremdkörper auffallen, stünden sie in Styx oder in der zweiten Gedichtsammlung Der siebente Tag (1905). Dies zu konstatieren schließt die Auffassung nicht aus, daß die in den zwanziger Jahren abnehmende lyrische Produktion der Dichterin auch qualitativ gegenüber den Gedichten der beiden vorangegangenen Jahrzehnte abfallt.

8 9 10

'1

Just, Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart (wie Anm. 7), S. 302. Vgl. allerdings Anm. 21. Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk. Berlin (Ost): Union Verlag 1967, S. 202. Zu diesem Befund paßt ein anderer, nur scheinbar nebensächlicher: Vier Jahrzehnte hindurch hat sich Else Lasker-Schtilers Schrift kaum merklich verändert.

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Oellers

Das weite Feld ist endlich zu begrenzen. Alle Gedichtbände, ja auch die Prosabände und die Dramen Else Lasker-Schülers eignen sich vorzüglich, das Thema Selbstwahrnehmung der Dichterin zu erörtern, wobei sich immer ergeben würde, daß sich das Leben nicht in der Literatur widerspiegelt, sondern in ihr konstituiert. Kafkas Satz: "Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein" 12 , wäre zwar nicht als von Else Lasker-Schüler gesprochener denkbar, aber doch auf sie anwendbar. Auch die jüdische Selbstwahrnehmung Else Lasker-Schülers spricht aus allen ihren Werken; am deutlichsten aber vielleicht aus ihren Hebräischen Balladen, in denen die Grundpfeiler ihrer Existenz: Liebe und Religion als restlose Hingabe an Gott und die Welt jenseits aller normativ bürgerlichen Ordnung und aller religiösen Fixierungen so zusammen- und ineinandergefugt sind, daß sie als ein Fundament erscheinen. Die Liebe wurzelt im Mythos, und dieser beglaubigt sich im Liebesvollzug, der Menschliches göttlich und Göttliches menschlich macht, Raum und Zeit überwindend. Sie waren immer schon und werden immer sein: die hebräischen Geschichten, die des - christlich gesprochen - Alten Testaments, der hebräischen Bibel also, Geschichten, die sich in allen Sprachen (die in ihrer Gesamtheit eine Art Universalsprache ausmachen) vermitteln lassen. Meine erste Blüte Blut sehnte sich nach dir, So komme doch, Du süßer Gott, Du Gespiele Gott, Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht. 1 3

Die in der Bibel überlieferte Geschichte wird weitererzählt: Die Sehnsucht des Menschen erfüllt sich, von der es im Psalm nur heißt, daß sie sei: "Wie lieblich sind deine Wonunge [!] / HERR Zebaoth. / Meine Seele verlanget vnd sehnet sich nach den Vorhöfen des HERRN". 14 (Über diese Vorhöfe gelangt der Gläubige in die himmlischen Hallen, in deren siebter und letzter der Thron Gottes errichtet ist; so ist es in "Hechalot", den ältesten Schriften der jüdischen Mystik, erzählt.) Die Geschichte wird von Else Lasker-Schüler variiert und präzisiert: Es ist an Gott, die Liebe des Menschen zu erwidern, nachdem durch sie das goldene Tor der göttlichen Wohnungen geschmolzen ist; Zebaoth wird herbeigerufen, er komme, daß er Gespiele, Geliebter sei. (Es sei dahingestellt, ob der Gedanke von der Ankunft Gottes auch christlich verstanden werden soll oder auch nur verstanden werden kann; auf das Erscheinen des Messias soll hier wohl nicht angespielt werden.) Bevor auf einzelne Gedichte der Sammlung eingegangen, die Frage nach der 'jüdischen Selbstwahrnehmung' genauer (freilich nicht genau genug) be12 13 14

Brief Kafkas an Feiice Bauer vom 14. August 1913 (wie Anm. 4), S. 444. "Zebaoth", V. 6-10. - Das Gedicht war zuerst 1905 in Der siebente Tag(S. 31) erschienen. Psalm 84, 2-3 (hier zitiert nach der Luther-Bibel von 1545 [Nachdruck Darmstadt 1972]).

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antwortet und ein Blick auf das Poetische der Poesien geworfen wird, seien ein paar Sätze über die Entstehung und Zusammenstellung (die Komposition) des Werks vorausgeschickt. Es erschien Ende 1912 (mit der Jahreszahl 1913) im Berliner A. R. Meyer Verlag: 15 Gedichte, die in den Jahren 1901-1912 entstanden und fast alle bald nach ihrer Entstehung veröffentlicht worden waren (9 in Zeitschriften, 4 in der Sammlung Der siebente Tag). Nur die beiden Gedichte "Abraham und Isaak" und "Jakob" erschienen in den Hebräischen Balladen zum ersten Mal. Die Anordnung der Gedichte erfolgte weder in der Reihenfolge ihrer Entstehung noch nach der biblischen Chronologie (nach der etwa "Jakob" nicht vor "Eva" und "Abel" zu piazieren gewesen wäre). Auch wenn nicht vermutet werden sollte, daß die Zusammenstellung willkürlich erfolgte, so erscheint sie doch keineswegs zwingend; die Interpretation einzelner Gedichte gewinnt kaum etwas durch die Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte. (Andernfalls wäre die dritte Veröffentlichung der Hebräischen Balladen in Else Lasker-Schülers Gesammelten Gedichten, die 1917 im Verlag der Weißen Bücher erschienen, ein neues Werk; denn hier sind die Gedichte so geordnet, daß kein einziges in dem ursprünglichen Zusammenhang mit den vorangehenden und nachfolgenden Gedichten geblieben ist.) Die vermutlich sehr kleine erste Auflage der Hebräischen Balladen war offenbar schnell vergriffen. Nach einem Jahr - wahrscheinlich schon Ende 1913, vielleicht Anfang 1914 15 - brachte der A. R. Meyer Verlag eine "Zweite vermehrte Auflage" heraus, in der zu den 15 Gedichten, die in unveränderter Reihenfolge und mit kaum nennenswerten Veränderungen abgedruckt wurden, zwei Gedichte hinzukamen, von denen das erste, "Moses und Josua", im Juli 1913 im Simplicissimus erschienen war, während das zweite, "Im Anfang", aus der Gedichtsammlung Styx stammte. Im folgenden wird nach dieser zweiten Auflage der Hebräischen Balladen, die bis heute nicht wieder gedruckt wurde 16 , zitiert.

15

Am 21. Januar 1914 wurde die 2. Auflage in der Fackel angezeigt. Eine Anzeige der Lyrischen Flugblätter im Anhang der Hebräischen Balladen nennt außer diesem Werk noch 16 andere, die alle 1912 und 1913 erschienen sind.

16

Über die willkürliche Anordnung der Hebräischen Balladen, die Friedhelm Kemp in der Ausgabe der Sämtlichen Gedichte Else Lasker-Schülers (München: Kösel 1966 [Bücher der Neunzehn, 134], S. 171-182; so auch schon vorher im 1. Band der Gesammelten Werke [München: Kösel 1959, S. 291-311]) vorgenommen hat und die unverständlicherweise von Sigrid Bauschinger übernommen wurde (Else Lasker-Schüler. Werke. Lyrik, Prosa, Dramatisches. München: Artemis & Winkler 1991, S. 40-51), vgl. Verf.: Else LaskerSchülers "Hebräische Balladen" - auch für die asiatische Prinzessin Leila. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (für Bernhard Zeller zum 65. Geburtstag). Hg. von Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter Müller-Seidel. Stuttgart: Kröner 1984, S. 363-375, bes. 368 u. 375. - Zu den besonderen Fehlleistungen gehört, daß Kemp und Bauschinger das Gedicht "Eva", das sich in allen autorisierten Ausgaben der Hebräischen Balladen findet (in der 2. Aufl. als 9. Gedicht, also genau in der Mitte des Zyklus), fortließen, weil es ein Gedicht "fremden Tons" (Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte [wie oben], Nachwort des Herausgebers, S. 318) sei.

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12 der 17 Gedichte nennen in den Überschriften menschliche Gestalten aus dem Alten Testament (von Eva bis Esther); hinzu kommen die 'Gottesgedichte' "An Gott" und "Zebaoth" sowie "Mein Volk", "Versöhnung" und "Im Anfang". Mit "An Gott" und "Zebaoth", vor allem aber mit "Mein Volk" und "Versöhnung" (dem ersten und letzten Gedicht der ersten Auflage der Hebräischen Balladen) tritt das lyrische Ich aus der vorchristlichen jüdischen Welt in die Gegenwart, besser vielleicht: wird die Gegenwart, indem die Zeit von dreitausend Jahren übersprungen wird, an die Vergangenheit angeschlossen. "Mein Volk" - das jüdische, damals wie jetzt und immer. Auf das Gedicht sei nachfolgend unsere Aufmerksamkeit gerichtet. Der Fels wird morsch, Dem ich entspringe Und meine Gotteslieder singe... Jäh stürz ich vom Weg Und riesele ganz in mir Fernab, allein über Klagegestein Dem Meer zu. Hab mich so abgeströmt Von meines Blutes Mostvergorenheit. Und immer, immer noch der Widerhall In mir, Wenn schauerlich gen Ost Das morsche Felsgebein, Mein Volk, Zu Gott schreit.

Das Gedicht erschien zuerst 1905 in Der siebente Tag, dann 1911 im zweiten Jahrgang der Zeitschrift Der Sturm (die Herwarth Waiden herausgab, mit dem Else Lasker-Schüler 1903-1912 in zweiter Ehe verbunden war), schließlich in den sechs Ausgaben der Hebräischen Balladen, die bis 1920 herauskamen. In einem Handexemplar der Ausgabe von 1920 hat Else Lasker-Schüler im ersten Vers "wird morsch" gestrichen und darüber "Gottalt" gesetzt, durch das "v" in "Mostvergorenheit" (V. 10) hat sie ein "g" geschrieben, in einem zweiten Exemplar derselben Ausgabe ist von ihrer Hand "Mostvergorenheit" gestrichen und daneben "Mostgegorenheit" gesetzt. In einem Typoskript vom (1937 erschienenen) Hebräerland steht das Gedicht wieder, ist dort allerdings durchgestrichen, weil an seine Stelle "An Gott" trat; ein Manuskript der durchgestrichenen Typoskript-Fassung liegt auch vor. Außer "Mostgegorenheit" finden sich hier weitere bemerkenswerte Textvarianten, von denen zwei erwähnt seien: "Mein Volk wird morsch" heißt es nun statt "Der Fels wird morsch" (V. 1) und "Von meines Volkes Mostgegorenheit" statt "Von meines Blutes / Mostvergorenheit [bzw. Mostgegorenheit]" (V. 9-10). In einem Typoskript, das den Entwurf eines zweiten Palästinabuchs ("Die Heilige Stadt") enthält, taucht das

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Gedicht erneut auf, mit "Mein Volk wird morsch" wie in der vorangegangenen Fassung, während "Von meines Blutes Mostgegorenheit" restituiert ist. Eine weitere Fassung gibt es schließlich noch, die im Oktober 1941 im Israelitischen Wochenblatt für die Schweiz erschien, mit "Mein Volk wird morsch" beginnend, mit dem Vers "Von meines Blutes Mostgegorenheit" und zwei neuen einschneidenden Varianten: "Hab mich so abgeschäumt" lautet die eine (statt "Hab mich so abgeströmt" [V. 8]) und "Wenn schauerlich das alte Felsgebein" die andere (statt "Wenn schauerlich gen Ost / Das morsche Felsgebein" [V. 13-14]). Es könnte reizvoll sein, bei der Textgeschichte von "Mein Volk" zu verweilen und die Varianten zu interpretieren ("Mostgegorenheit" war vermutlich schon mit "Mostvergorenheit" gemeint; "Mein Volk" will in den dreißiger Jahren für Deutlichkeit sorgen: mit "Der Fels" ist ja dieses Volk gemeint; das Exil im Osten macht die Ortsbestimmung "gen Ost" überflüssig; die pejorative Bedeutung von "morsch" im Sinne von "verrottet" wird nun aufgegeben; das "alte Felsgebein", also das alte jüdische Volk, läßt sich als "altehrwürdiges" verstehen, etc.); aber eine ausfuhrliche Interpretation würde aus dem Rahmen des hier erörterten Themas fuhren. Der philologische Befund (der sich ähnlich für viele andere Gedichte Else Lasker-Schülers beschreiben läßt) soll andeuten, wie intensiv die Dichterin jahrzehntelang mit und in ihren Texten (wenigstens in vielen von ihnen) gelebt hat, wie sehr sie bemüht war, Worte und Bilder, die immer nur den Schein von Wahrheit vermitteln, der Wahrheit - ihrer Wahrheit - anzunähern. "Mein Volk": wer spricht? Die Angehörige des jüdischen Volkes, Else Lasker-Schüler? Die jüdische Dichterin? Ein lyrisches Ich? Da gibt es nichts zu unterscheiden. Margarete Susman hatte allen Grund, in ihrem Lyrik-Buch von 1910 vor einer Verwechslung des 'lyrischen Ich' (ein Begriff, den sie vermutlich geprägt, auf jeden Fall bestimmt hat) und des schreibenden Individuums (als einer Verwechslung von Objekt und Subjekt) zu warnen, und sicher ist ihr prinzipiell zuzustimmen, wenn sie sagt: Je mehr wir uns der eigenen Zeit annähern, um so tiefer und schwieriger verwikkelt sich [...] das lyrische Ich mit dem einmaligen Ich des Individuums, aber das künstlerische Grundprinzip der Lyrik kann darüber nichts von seiner Strenge einbüßen; das lyrische Kunstwerk hat nicht weniger Kunstwerk zu sein, das lyrische Ich darf um nichts weniger objektiv sein, weil ein individuelles Ich es bestimmt und hervortreibt. 17

Im Falle Else Lasker-Schülers ist, so scheint es, diese Separation - wenn auch aus besonderen Gründen - so wenig angebracht wie beim "Ich eines Volksliedes", das, wie Margarete Susman sagt, "die Allgemeinheit" besitze, "die das Lied im Munde jedes fühlenden Menschen, wenigstens eines gewissen Alters oder Standes, gleich angemessen erscheinen läßt" 18 . Die jüdische Selbstwahr17

Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (wie Anm. 5), S. 17. '8 Ebd.

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nehmung, die sich in vielen Gedichten Else Lasker-Schülers (und in fast allen ihres Hebräische Balladen-Bandes) ausdrückt, ist eben jenes Allgemeine, in dem sich Kunstschaffen (gemeint als lebendiger Ausdruck individueller Existenz) und Kunstwerk verschränken. Die Dichterin ist Teil eines Mythos, der Grund und Anlaß, Inhalt und Form ihrer Lyrik ist.19 Morsch wird der Fels, dann ist er morsch (später: alt), das Felsgestein: das jüdische Volk, schreiend immer noch zu Gott, schauerlich, klagend vielleicht über den Verlust des Tempels als des lebendigen Zeichens des Einsseins mit Gott, überall; auch überall hörbar, in weiter Ferne von dem Weg, den das Ich verlassen hat, indem es sich zur Welt erweiterte, in der es nun dem Meer "ganz in mir" und "allein" - zurieselt, über Klagegestein, an dem es teilhat; denn sein Weg ist gebildet - vielleicht nicht nur, aber auch: von ihm selbst, dem Ich - aus Steinen der Klage, zu denen dann auch das Gedicht gehört. Das Ich klagt über den jähen Sturz ins Weglose, über das Leben, über den Tod, der ein eigener sein soll; daher will es sich dem Blut entziehen, das nicht mehr Most (eine der Gottesgaben) ist, sondern vergoren (gegoren), verdorben in der Geschichte; Blut, das heraustritt aus dem morschen Felsen, der das Volk ist. So ließe sich assoziieren. Aber es ist auch an den biblischen Bericht (2. Buch Moses 17,1-7) zu denken, nach dem Moses mit Gottes Hilfe aus einem Felsen Wasser schlug und so die Israeliten in der Wüste vor dem Verdursten bewahrte. Auf ein solches Wunder ist nun nicht mehr zu warten; daher der Zug vom Fels, der wasserlos bleibt, hinab zum Meer. Und weiter: Das "Klagegestein", das zum Meer führt, kann verbunden werden mit der Klage über das Gericht, das der Herr über Samaria hält, und über seine Anklage des Volkes Israel, wie es im Buch Micha beschrieben wird - mit der tröstenden Verheißung am Ende, daß der Herr alle Sünden im Meer versenken werde. Diese möglichen Textbezüge zu erkennen, ist eines; von ihnen das Eigene der Gedichte Else LaskerSchülers zu sondern, das andere. Für "Mein Volk" sollte gelten (wasserspendender Fels hin, sündenvertilgendes Meer her): Es ist ein Klagelied über die Verlassenheit in der Diaspora; doch dem Verlassenen gelten nicht allein die 19

Susman, Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (wie Anm. 5), S. 13 u. 16: "Das eigentliche Gebiet des Mythos aber ist die Lyrik. Denn wenn im Drama und Epos das Verhältnis der Menschen zueinander das die Vorgänge und Zustände wesentlich Bestimmende ist, so ist es in der Lyrik allein das unmittelbare Verhältnis zum Ganzen der Welt, das den wesentlichen Grundstoff ausmacht. [...] Nur die ewigen Zusammenhänge des Mythos haben in der lyrischen Kunst Raum, nicht das Schicksal, sondern die über das persönliche Schicksal hinausgehobene Wahrheit des Dichters: die Form seines Schicksals. Und dann kann es nie das personale, sondern nur das in den allgemeinen ewigen Zusammenhängen des Seins lebende Ich sein, das in ihr Raum hat: das lyrische Ich, das eine Form ist, die der Dichter aus seinem gegebenen Ich erschafft." - Daß Else Lasker-Schülers "gegebenes Ich" und das von ihr 'ausgestellte' lyrische Ich kaum zu sondern sind, mag ein Grund dafür sein, daß Margarete Susman sich nicht mit ihr beschäftigt hat; sie hätte am Ende über die 'mystische Einheit' von Ich und Ich sprechen müssen, die das moderne Bewußtsein nicht mehr zuläßt.

Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen

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Erinnerungen, sondern auch die Gotteslieder, die nun angestimmt werden. Balladen werden sie genannt (obwohl sie zutreffender als Romanzen zu bezeichnen wären), weil sie Anverwandlungen heiliger Texte durch Verwandlungen sind - eigene Geschichten der Dichterin, die sie Balladen nannte, ohne sich um gattungspoetologische Festlegungen der Literaturwissenschaft (oder auch Goethes) im geringsten zu bekümmern. Else Lasker-Schüler war mit den biblischen Geschichten, auf die ihre Gedichte anspielen, gut vertraut. Doch der Sinn, den sie den Geschichten gab - und damit die Bedeutung, die von den Auslegern der Gedichte ermittelt werden sollte - , liegt nicht im Gemeinsamen und Differenten von 'behandeltem' Text und seiner Behandlung 20 , sondern in den Gedichten selbst, zu deren Vorverständnis allerdings gehört, daß sie jüdischen Geistes sind, eines Geistes in Gefahr, der nach Rettungsmitteln sucht, zum Beispiel und vor allem denen der Liebe. So komme doch, Du süßer Gott, [...] Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht.

In den dem Eingangsgedicht der Hebräischen Balladen ("Mein Volk") sich anschließenden Gedichten (nach der Anordnung der beiden ersten Auflagen), nämlich in "Abraham und Isaak", "Jakob" und "Esther" nennt sich das lyrische Ich nicht; die biblischen Berichte werden zusammengedrängt poetisiert, kulminierend jeweils in einer Schlußpointe, die sich als Exegese, gewissermaßen als Ausdruck des vierten Schriftsinns, des 'eschatologischen', begreifen läßt oder die eine Fortsetzung des Berichteten darstellt. Von Abraham, der aufbricht, "den Altar zu schmücken", heißt es: Und trug den einzigen Sohn gebunden auf den Rücken Zu werden seinem großen Herrn gerecht Der aber liebte seinen Knecht.

Die Liebe Gottes zu denen, die ihm dienen, wird keinen Moment in Frage gestellt; die Prüfung Abrahams, die in der Bibel so erregend, vielleicht auch empörend geschieht, erscheint hier als undramatisches Ereignis, nicht aufregender jedenfalls als das Spiel des kindlichen Isaak, dem es gefällt, Böcke zu opfern, für wen und warum auch immer; weshalb die Engel und dann auch Gott bedenklich werden. ("Und Gott ermahnte: Abraham!" [V. 10]) - Die beiden letzten Verse des Gedichts "Esther" lauten: "Die jungen Juden dichten Lieder an 20

Natürlich ist es nützlich, Else Lasker-Schülers Verhältnis zu ihren 'Quellen' zu beschreiben und daraus interpretatorischen Gewinn zu ziehen. Vgl. etwa Werner Hegglin: Else LaskerSchüler und ihr Judentum. Zürich: Juris 1966, bes. S. 67-77; Meir Gertner: Else LaskerSchueler's Biblical Poems. In: The Jewish Quarterly, Vol. 17 (1969), S. 25-34; ders., Biblische Spiegelbilder. In: Lasker-Schüler. Ein Buch zum 100. Geburtstag der Dichterin. Hg. von Michael Schmid. Wuppertal: Hammer 1969, S. 166-182.

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die Schwester / Die sie in Säulen ihres Vorraums prägen." Angespielt wird hier u. a. auf die Bedeutung, die in der jüdischen Gemeinde dem Buch "Esther" zukommt; es gehört zu den fünf Festrollen und wird, zur Erinnerung an die in ihm beschriebene Errettung der Juden vor der Vernichtung im Persischen Reich, am Purimfest gelesen. ("Die jungen Juden" sind die ins Gelobte Land Gelangten im Gegensatz zu den "wilden Juden", die noch auf dem Weg dorthin sind, wie etwa Josua, den die Dichterin in der Ballade "Moses und Josua" so nennt: "Als Moses im Alter Gottes war, / Nahm er den wilden Juden Josua".) Es würde zu weit fuhren, den "Hebräischen Balladen" auf diese Weise weiter zu folgen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß in den meisten der dem Gedicht "Esther" folgenden 13 Balladen das Ich in den Mittelpunkt rückt - als Joseph und David, als Partnerin Ruths, Evas und Sulamiths, als Beterin oder als Liebende, die einem namenlosen Du zugewandt ist. In allen diesen Gedichten schreibt sich das Ich in die Heilige Schrift ein, zu deren Funktion es gehört, Gottsuchende und Liebende in sich aufzunehmen, immer und überall, weil Angehörige des auserwählten Volkes zum Gesetz gehören, damit sie leben können. Dabei ist es nicht so wichtig, daß durch gottgefälliges Tun der Weg zum Ursprung gebahnt wird; wichtiger ist es, sich sehnend Gestalten des Alten Bundes - unabhängig von deren Rang - zu nähern oder sich gar mit ihnen zu vereinen. Wie könnte dies überzeugender gelingen als in und durch die Poesie, zumal dann, wenn diese von biblischen Dichtungen ihren Ausgang nimmt? Als schönste Poesie der Bibel gilt das Hohe Lied. In den Preisgesang auf Sulamith hat Else Lasker-Schüler eingestimmt. Es mag - gegen Ende meiner Bemerkungen zu ihrer Verdeutlichung (oder auch: Rechtfertigung) - angebracht sein, das Gedicht "Sulamith", das früheste der Sammlung (schon 1901 in der jüdischen Zeitschrift Ost und West erschienen), im vollen Wortlaut zu zitieren ein Gedicht, das in keiner Anthologie deutschsprachiger Liebeslyrik fehlen sollte. O, ich lernte an deinem süßen Munde Zuviel der Seligkeiten kennen! Schon fühl ich die Lippen Gabriels Auf meinem Herzen brennen... Und die Nachtwolke trinkt Meinen tiefen Cederntraum. O, wie dein Leben mir winkt! Und ich vergehe mit blühendem Herzeleid Und verwehe im Weltraum, In Zeit, In Ewigkeit, Und meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems.

Das Gedicht - das übrigens in einem Handexemplar Else Lasker-Schülers die Überschrift (oder den Zusatz?) "Jerusalem" erhalten hat (wobei nicht klar ist, ob dies durch die Fachdiskussion über den sprachlichen Zusammenhang von

Else Lasker-Schiilers Hebräische Balladen

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'Sulamith' und 'Jerusalem' angeregt worden ist) und das am Ende des Hebräerland-Buches von 1937 der "gebenedeiten Stadt Jerusalem" zugesprochen wird - dieses Gedicht interpretiert sich selbst, wenigstens für den Leser, dem die schöne und liebliche Fürstentochter aus dem Hohen Lied nicht fremd ist und der weiß, daß Gabriel zu Daniel über den Untergang Jerusalems gesprochen hat. 21 (Die "Lippen Gabriels" brennen die Wahrsagung ins Herz des lyrischen Ichs.) Das Gedicht verdeutlicht auf prägnante Weise, was schon angedeutet wurde: Das poetisierende Subjekt, die Dichterin, weiß sich eins mit ihrem Objekt, also dem lyrischen Ich; das Besondere ihrer Situation ist gekennzeichnet durch die Indifferenz zum Allgemeinen der Geschichte, dem sie sich überläßt, wie sie es versteht, da sie sich ihres Judentums auf ästhetische Weise vergewissert - in Zeit und Ewigkeit. Der Versuch, die Verse Else Lasker-Schülers als allegorische zu lesen ("Und die Nachtwolke trinkt / Meinen tiefen Cederntraum" wie "Deines Tores Gold schmilzt an meiner Sehnsucht"), muß ihren 'Gehalt' verkürzen; denn dieser behauptet sich nur im nicht übersetzbaren Symbol, in seiner 'Unverwendbarkeit', also auch seiner Ungeeignetheit, "die Axt [zu] sein fur das gefrorene Meer in uns", wie Kafka einmal seine Erwartung an allein lesenswerte Literatur beschrieb. 22 (Unter diesem Aspekt mag es verständlich erscheinen, daß Kafka Else Lasker-Schülers Gedichte als leer empfand; und gekünstelt nannte er sie vielleicht, weil ihm nicht vorstellbar war, daß sich ein anderes Leben als sein eigenes im poetischen Prozeß konstituieren könne, mithin Dichtung auch im Falle Else Lasker-Schülers sich nicht als Reflex der Selbstwahrnehmung erweise, sondern möglich war als diese selbst.) Zu Kafkas Widerwillen gegen die ihn plagenden - und sein Werk unaufhörlich durchziehenden - Antithesen 23 gibt es in Else Lasker-Schülers Lyrik keine Entsprechung, auch wenn darin - etwa in "Mein Volk" - die Spannungen, unter denen sie im Übermaß litt, nicht wegharmonisiert sind. Die Eigenart des lyrischen Sprechens in den Hebräischen Balladen läßt sich schwer mit geläufigen Begriffen, die so gern zu Gegensatzpaaren zusammengebracht werden, kennzeichnen. Eher natürlich unmittelbar (naiv) als reflektiert (sentimentalisch)? Aber doch wohl eher romantisch als klassisch? Mit Stil- und Weltanschauungskategorien wie 'idealistisch' und 'realistisch' ist nicht mehr anzufangen als mit soziologischen Termini wie 'individualistisch' und 'gesellschaftlich' 21

Wie mit dem Gedicht 'verfahren' werden kann, hat Peter Hille, Else Lasker-Schülers Freund, gezeigt: Zwei Monate nach "Sulamith" erschien von ihm in Ost und West (1901, H. 8, Sp. 611-618) "Hirtenliebe", eine "Biblische Szene", die Sulamiths 'Umgang' mit ihrem Freund erdichtet. Das Gedicht war offenbar für Hille auf ähnliche Weise eine Inspirationsquelle wie für Else Lasker-Schüler das Hohe Lied, das ihr "Sulamith" eingab. - Zur GabrielProphezeiung vgl. Daniel 9,24-27.

22

Brief an Oskar Pollak vom 27. Januar 1904. In: Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1958, S. 28. Vgl. Kafkas Tagebucheintragung vom 20.11.1911. In: ders., Tagebücher. Hg. von Hans G. Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1990, S. 259f.

23

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oder mit Bestimmungen über das Wirklichkeitsverhältnis der Dichterin und dessen Ausdruck in ihren Dichtungen. Es kann nicht überraschen, daß Hugo Friedrichs Charakterisierung des Verhältnisses der modernen Lyrik zur Wirklichkeit auf Else Lasker-Schüler nicht paßt: D a s Gedicht will nicht mehr an dem g e m e s s e n werden, w a s man g e m e i n h i n Wirklichkeit nennt, auch w e n n e s sie, als Absprung für seine Freiheit, mit einigen Resten in sich a u f g e n o m m e n hat. D i e Wirklichkeit ist aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgelöst und den Unterscheidungen entzogen, w i e sie einer normalen Weltorientierung notwendig sind [...]. 2 4

Else Lasker-Schüler hat sich in den Hebräischen Balladen eng an die Wirklichkeit gehalten, an ihre Wirklichkeit, in der sie die Geschichte ihres Volkes auf ihre Art versammelt hat.

[...] Immer denkt Pharao A n m e i n e Brüder, D i e mich in die Grube warfen. Säulen werden im Schlaf seine A r m e Und drohen. A b e r sein träumerisch Herz Rauscht auf m e i n e m Grund. Darum dichten m e i n e Lippen Große Süßigkeiten Im W e i z e n unseres Morgens.

Joseph spricht so - als Ich - im Gedicht "Pharao und Joseph": Jussuf von Theben, der die Dichterin war, die sich mit Vorliebe so nannte, nachdem sie in dem - 1910 entstandenen - Gedicht ihre Identität mit Joseph von Ägypten gefunden hatte.

24

Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (wie Anm. 6), S. 11.

Tuvia Rübner

Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kafka, dem Juden

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, noch etwas zu Kafka zu bemerken, nachdem doch schon so unendlich viel über ihn gesagt wurde, Treffendes und nicht ganz Treffendes, Kluges und vielleicht auch Unkluges, selbst zu dem Thema "Kafka der Jude", das ja auch die Folie meiner kurzen Betrachtung sein soll. Als Vorbemerkung möchte ich noch hinzufugen, daß es mir dabei nicht um den soziologischen, historischen und vor allem psychologischen Aspekt seines Werkes geht, nicht um die Transposition in symbolträchtige Elemente soziologischer, historischer und psychologischer Gegebenheiten des unter diesen besonderen Umständen in dieser besonderen Familie aufgewachsenen und größtenteils lebenden deutschschreibenden Juden in der böhmischen Stadt Prag, deren Volk tschechisch sprach, sondern gleichsam umgekehrt: um den Versuch einer Deutung des Verhältnisses zur Sprache, das mir fur dieses Werk und sein Verständnis wesentlich scheint, im Hinblick auf sein "Jüdisches". In der kurzen Erzählung Eine Kreuzung (wobei wir 'Kreuztragen' und 'Kreuzigung' mithören sollen) begegnen wir einer bedauernswerten Kreatur, die halb Lamm halb Katze, oder aber weder Lamm noch Katze ist. Diese Kreatur ist "Schatnes", ein von der Tora verbotener Zwitter. Da die Erzählung kurz genug und vielleicht nicht allen Anwesenden gegenwärtig ist, will ich sie lesen.1 Eine Kreuzung Ich habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm.Es ist ein Erbstück aus meines Vaters Besitz, entwickelt hat es sich aber doch erst in meiner Zeit, früher war es viel mehr Lamm als Kätzchen, jetzt aber hat es von beiden wohl gleichviel. Von der Katze Kopf und Krallen, vom Lamm Größe und Gestalt; von beiden die Augen, die flackernd und mild sind, das Fellhaar, das weich ist und knapp anliegt, die Bewegungen, die sowohl Hüpfen als Schleichen sind, im Sonnenschein auf dem Fensterbrett macht es sich rund und schnurrt, auf der Wiese läuft es wie toll und ist kaum einzufangen, vor Katzen flieht es, Lämmer will es

Der Text folgt der Kritischen Ausgabe Franz Kafkas: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993, S. 372-374. In eckigen Klammern sind die Passagen eingefügt, die, obwohl von Kafka gestrichen, Max Brod in die Erstausgabe der Chinesischen Mauer (Berlin 1931, S. 54) aufgenommen hat. Sie stehen als Varianten im Apparatband der Kritischen Ausgabe, S. 310-312.

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anfallen, in der Mondnacht ist die Dachtraufe sein liebster Weg, Miauen kann es nicht und vor Ratten hat es Abscheu, neben dem Hühnerstall kann es stundenlang auf der Lauer liegen, doch hat es noch niemals eine Mordgelegenheit ausgenutzt, ich nähre es mit süßer Milch, die bekommt ihm bestens, in langen Zügen saugt es sie über seine Raubtierzähne hinweg in sich ein. Natürlich ist es ein großes Schauspiel für Kinder. Sonntagvormittag ist Besuchsstunde, ich habe das Tierchen auf dem Schooß und die Kinder der ganzen Nachbarschaft stehn um mich herum. Da werden die sonderbarsten Fragen gestellt, die kein Mensch beantworten kann: Ich gebe mir auch keine Mühe, sondern begnüge mich ohne weitere Erklärungen damit, das zu zeigen was ich habe. Manchmal bringen die Kinder Katzen mit, einmal haben sie sogar zwei Lämmer gebracht; es kam aber entgegen ihren Erwartungen zu keinen Erkennungsscenen, die Tiere sahen einander ruhig aus Tieraugen an und nahmen offenbar ihr Dasein als göttliche Tatsache gegenseitig hin. In meinem Schooß kennt das Tier weder Angst noch Verfolgungslust. An mich angeschmiegt fühlt es sich am wohlsten. Es hält zur Familie die es aufgezogen hat. Es ist das wohl nicht irgendeine außergewöhnliche Treue, sondern der richtige Instinkt eines Tieres, das auf der Erde zwar unzählige Verschwägerte, aber vielleicht keinen einzigen nahen Blutsverwandten hat, und dem deshalb der Schutz den es bei uns gefunden hat, heilig ist. Manchmal m u ß ich lachen, wenn es mich umschnuppert, zwischen den Beinen sich durchwindet und gar nicht von mir zu trennen ist. Nicht genug damit, daß es L a m m und Katze ist, will es fast auch noch ein Hund sein. [Einmal als ich, wie es j a jedem geschehen kann, in meinen Geschäften und allem was damit zusammenhing keinen A u s w e g mehr finden konnte, alles verfallen lassen wollte und in solcher Verfassung zuhause im Schaukelstuhl lag, das Tier auf dem Schoos, da tropften, als ich zufällig einmal hinunter sah, von seinen riesenhaften Barthaaren Tränen. Waren es meine waren es seine? Hatte diese Katzen und Lammesseele auch Menschenehrgeiz? Ich habe nicht viel von meinem Vater geerbt, dieses Erbstück aber kann sich sehen lassen.] Ähnliches glaube ich nämlich im Ernst. Es hat beiderlei Unruhe in sich, die von der Katze und die vom Lamm, so verschiedenartig sie sind. Darum ist ihm aber seine Haut zu eng. [Manchmal springt es auf den Sessel neben mir, stemmt sich mit den Vorderbeinen an meine Schulter und hält seine Schnauze an mein Ohr. Es ist als sagte es mir etwas: tatsächlich beugt es sich dann vor und blickt mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten den die Mitteilung auf mich gemacht hat. Um ihm gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas verstanden und nicke. Dann springt es munter auf den Boden und tänzelt umher.] Vielleicht wäre für das Tier das Messer des Fleischers eine Erlösung, die muß ich ihm aber als einem Erbstück versagen. [Es muss deshalb warten bis ihm der Atem von selbst ausgeht, wenn es mich manchmal auch wie aus verständigen Menschenaugen ansieht, die zu verständigem Tun auffordern.]

Dieses arme, betrübliche Lebewesen, das kraft seiner Absurdität

existiert,

s t a m m t , v e r m u t e ich, a u s d e m C h a d - G a d j a h - L i e d d e r j ü d i s c h e n

Pessach-

Hagada. Dort wird von einem Zicklein (oder Lämmlein) erzählt, das der Vater f ü r zwei Gulden erstand und welches von der Katze zerrissen wird. D a s Lied geht allerdings weiter und berichtet von einer Kette von V e r w a n d l u n g e n unter d e m Z e i c h e n d e s T ö t e n s : d i e K a t z e fällt d e m H u n d z u m O p f e r , d e r v o m S t o c k erschlagen wird, den das Feuer frißt, das v o m Wasser gelöscht wird, das der O c h s aussauft, der v o m Schlächter geschlachtet wird, den der Todesengel holt, bis Gott auch diesen besiegt. D a s C h a d - G a d j a h - L i e d , das an die deutschen

Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kaflca, dem Juden

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Jockel- oder Jägerlieder erinnert und das in einer deutschen Version (mit jiddisch-hebräischen Vokabeln) unter dem Titel Für die Jiingelchen von unsern Leut in Des Knaben Wunderhorn zu finden ist, wurde zum ersten Mal 1590 in Prag gedruckt. Lamm, Katze, Hund und Fleischer kommen bei Kafka vor, aber die Kette der Verwandlungen als Vernichtung und Neugeburt, an deren Ende die endgültige Erlösung steht, ist bei Kafka kein Nach-, sondern ein Ineinander mit für ihn charakteristischer Aufhebung des Zeitablaufs, und statt der Erlösung zum Schluß im Erscheinen Gottes wird das scheinbar friedliche Zusammenleben von Lamm und Katze postuliert, allerdings mit der Sehnsucht nach dem Fleischermesser als versagter "Erlösung". Doch dies nur nebenbei. Worum es mir in unserem Zusammenhang geht, ist die Tatsache, daß dieses Zwitterwesen sein Dasein einzig und allein als Sprachfigur fuhrt, ohne Verlockung, es als real lebend uns vorzustellen wie etwa Resinante oder als Person wie Don Qixotte oder Anna Karenina oder Père Goriot oder selbst Karl Roßmann. In Kafkas Erzählungen begegnen wir einer ganzen Reihe von Figuren dieser Art, deren einzige Existenzform die Sprache ist, Doppelwesen wie der Akademikeraffe, die Musikantenhunde und der Forscherhund, der Kübelreiter und die Sängerinmaus, ja schon die Niemande, die einen Ausflug machen, aus dem Band Betrachtung. Die bekannteste unter ihnen ist zweifellos der Handlungsvertreter als Ungeziefer, oder das Ungeziefer, das ein Handlungsvertreter ist. All diese sind offensichtlich Doppelnaturen, doch Kafka kennt auch das mehr verborgene Doppeldasein anderer Existenzen, etwa Poseidons als Buchhalter, oder noch verborgener: das der korrupten Richter, der brünstigen Schloßbeamten, deren körperliche Erscheinung etwas unklar, oder des Advokaten, dem seine Vergangenheit als Streitroß Alexanders noch anzumerken ist. Das all diesen Gestalten Gemeinsame ist ihre Uneindeutigkeit, ist die Tatsache, daß sie nicht das sind, was sie sein sollten. Da sie in ihrer Andersartigkeit oder gar Gegenseitigkeit gefangen sind, möchten sie vermutlich - auch wenn sie es nicht offen zeigen - dem Anderen, der sie sind, entfliehen, sich von ihrem unfreiwilligen Partner befreien. Paradoxerweise aber existieren sie bloß dank ihrem Antagonisten: "Darum ist ihm seine Haut zu eng", heißt es von dem Katzenlamm. Denn eben, nur deshalb, weil Katze und Lamm eins sind, haben wir "Eine Kreuzung" vor uns, und nur weil Gregor Samsa auch das Ungeziefer ist, und vice versa, gibt es "Die Verwandlung". Ähnlich diesen Figuren als reinen Sprachwesen ist das Verfahren Kafkas, eine Behauptung gleich wieder zurückzunehmen, zu widerrufen, wie beispielsweise: A b e r unser V o l k ist nicht nur kindlich, es ¡st g e w i s s e r m a ß e n auch v o r z e i t i g alt.

"Aber unser Volk ist nicht nur kindlich" entspräche der Katze in unserem Text, und "es ist gewissermaßen auch vorzeitig alt" entspräche dem Lamm, usw. Beide, die Hermaphroditen und die rückgängig gemachten Feststellungen,

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referieren nicht nur Unsicherheit, beziehen sich nicht bloß auf die Ungewißheit der Existenz, sondern auch auf die Nichtidentität des Seins. Das Lamm ist nicht mit sich selbst identisch, da es ja auch eine Katze ist, und genauso umgekehrt. Immer wieder sind wir konfrontiert mit gewissermaßen miteinander verlöteten Dichotomien, verkoppelten Antipoden, kurz, mit Kreaturen, die nicht sie selbst sind, nicht "in sich selber wohnen", in ihrem natürlichen Daheim. Sie befinden sich wie Verbannte unaufhörlich in etwas grundsätzlich Fremdem, im Exil. Der Riß, der zwischen ihr Wesen, jedes für sich, und ihr Dasein geht, trennt und vereint sie gleichzeitig. Die verborgensten Zwitternaturen in Kafkas Werk sind die Dichotomien von verbalen Aussagen und deren Bedeutung, von Buchstäblichkeit und Metapher. "Hinübergehen" ist im Deutschen ein einfach verständliches Kompositum. Auch die getrennte Form "Gehe hinüber" ist alltäglichste Redewendung. Nicht fur Kafka. Er entdeckt ein unübersteigbares Hindernis zwischen "Gehe" und "hinüber". Es ist unmöglich hinüberzugehen, wenn uns dies ein Weiser empfiehlt, einer, der, wie anzunehmen ist, den richtigen Weg kennt. Völlig unerwartet wird ein sinnvoll assoziiertes Verhältnis wie von Hier zu Dort total in Frage gestellt. Viele beklagten sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: "Gehe hinüber" so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas was wir nicht kennen, was auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und was uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt. Aber das womit wir uns eigentlich jeden Tag abmühn, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: Warum wehrt Ihr Euch? Würdet Ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret Ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Ein anderer sagte: Ich wette daß auch das ein Gleichnis ist. Der erste sagte: Du hast gewonnen. Der zweite sagte: Aber leider nur im Gleichnis. Der erste sagte: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast Du verloren. 2

In dieser gleichsam talmudischen Auslegung eines quasi mischnaischen Satzes in scheinbar zwei Teilen wiederholt der zweite, dramatisierte Teil, bloß in anderer Sprachhaltung, einfach die Aussage des ersten, und macht unsere Hoffnung, in der neuen Redeform auch etwas Neues zu erfahren, zunichte. Die Wiederholung ist der sinnfällige Ausdruck des nicht-Weiterkönnens, des Stekkenbleibens oder des sich-im-Kreise-Bewegens wie das des Ungeziefers in seinem Zimmer oder K.'s um das Schloß. Häufig dient bei Kafka die Wiederholung als Erklärung, sie ist aber keine, sondern läßt die Sprache gleichsam 2

[Von den Gleichnissen], Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1992, S. 531 f.

Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kafka, dem Juden

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sagen "daß sie es nicht weiß". Die Aussage des Textes ist bei all seinem Dunkel klar: Ein unüberbrückbarer Abgrund trennt das alltägliche Leben und seine Mühe für immer vom Gleichnis, so wie die wörtliche Bedeutung von ihrer metaphorischen für immer geschieden bleibt. Wer dem Gleichnis zu folgen und seine Existenz im wortwörtlichen Sinne aufzugeben fähig wäre, wäre der täglichen Mühsal gegensätzlichen Daseins allerdings enthoben und könnte, etwa wie der Mann vom Lande, Eintritt finden in das "Tor des Gesetzes", wäre er bloß und völlig Metapher. Er ist zwar fähig, als Metapher zu dienen: als die Umschreibung des hebräischen und auch im Jiddischen gebräuchlichen und von Kafkas Vater sicherlich oft benützten "Am Haaretz" (Landvolk, im Sinne von Unwissender) - kann aber auch unübertragene Sprache und eine reale Existenz bedeuten: es gibt Männer vom Lande, und es gibt Tore des Gerichts (als Gebäude), aber es gibt keine Tore des Gesetzes. Gleichnisse sind, wie die Zwitterwesen, abhängig von einem Anderen. Gleich den "Kreuzungen" sind sie nicht selbstidentisch. Sind jedoch die Doppelnaturen aneinandergeschweißte Fremde, so verweigert sich Kafkas Gleichnissen gerade das ihnen Angehörige. Sie sind Kommentare ohne den zu erläuternden Text. Das macht ihre merkwürdige Befremdlichkeit aus. Kafkas Dichtungen "sind von Hause aus Gleichnisse", schreibt Walter Benjamin, aber das ist ihr Elend und ihre Schönheit, daß sie mehr als Gleichnisse werden mußten. Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie.3

Behauptet Benjamin, der das Gesamtwerk Kafkas als Gleichnisse betrachtet, die traditionelle Form (der Parabel) genüge sich nicht und die Hagada erhebe eine gewichtige Pranke gegen die Halacha, ist anzunehmen, daß die Halacha demnach, trotz allem, irgendwo da sein muß, so wie die traditionelle Form, als ungenügend, eben auch da ist und als solche die Aussage bestimmt. Und wenn Gershom Scholem sich hauptsächlich auf den Gehalt bezieht und meint, Kafkas Schriften bezeugen das verborgene Antlitz Gottes in unserer Welt, "Hesster panim", so ist es allenfalls "Gottes" verborgenes Antlitz. Zusammenfassend wäre also zu sagen, Kafkas Gleichnisse seien gleichzeitig sowohl Gleichnisse, als auch keine. Noch ein letztes Element dieses außerordentlichen erzählerischen Werkes möchte ich erwähnen. Im Kapitel Begonnenes Gespräch mit dem Beter in Beschreibung eines Kampfes lesen wir: Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen

Walter Benjamin: Briefe 2. Hg. und mit Anmerkungen vers, von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (edition suhrkamp, 930), S. 763.

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Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufallige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den "Thurm von Babel" genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und Ihr müßt sie nennen "Noah, wie er betrunken war". 4 Der Sprecher ist offensichtlich mit dem Akt des Umnennens (der an die poetische Funktion erinnert) unzufrieden und begründet ihn mit der fieberhaften Eile, die uns wiederum die Ungeduld in den Sinn ruft, derentwegen wir aus d e m Paradies verstoßen wurden und derentwegen wir ins Paradies nicht zurückkehren können. Die "neuen" N a m e n statt der "wahrhaftigen" sind Metaphern. D i e Metaphern, Ursache der Unzufriedenheit, sind den "wahrhaftigen" N a m e n so entgegengesetzt w i e die Hagada bei Benjamin der Halacha. D a s Gespräch

mit dem Beter wurde zum ersten Mal 1909 in der Zeitschrift

"Hyperion" abgedruckt. Nachher, bis zu seinem Tode 1924, schreibt Kafka ein einzigartiges poetisches Werk, das voll v o n Metaphern, j a essentiell metaphorisch ist. Dennoch notiert er in seinem Tagebuch am 6. Dezember 1921, zweieinhalb Jahre vor seinem Tode: Aus einem Brief: "Ich wärme mich daran in diesem traurigen Winter." Die Metaphern sind eines in dem Vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt. Die Unselbständigkeit des Schreibens, die Abhängigkeit von dem Dienstmädchen das einheizt, von der Katze, die sich am Ofen wärmt, selbst vom armen alten Menschen, der sich wärmt. Alles dies sind selbständige, eigengesetzliche Verrichtungen, nur das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß und Verzweiflung. 5 "Spaß und Verzweiflung", w i e Josephine - Sängerin und Maus, der Landarzt Arzt und Patient, Gracchus - tot und lebendig. Erstaunlicherweise finden wir aber ein Jahr vor der erwähnten Tagebucheintragung folgende v o m 15. Februar 1920: Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. [Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollster ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und - das war allerdings notwendig verbunden - schriftlich die andern von ihr überzeugen zu können) in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammenzuhämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun undzwar nicht so daß man sagen könnte: "ihm ist das Hämmern ein Nichts" sondern "ihm ist das Hämmern ein

4 5

Kafka, Nachgelassene Schriften I (wie Anm. 1), S. 89f. Franz Kafka: Tagebücher. Hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1990, S. 875.

Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kafka, dem Juden

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wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts", wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und wenn Du willst noch irrsinniger geworden wäre. 6

Ich glaube, wir hätten hier eine ars poetica in nuce. Gewünscht wird eine Art des Schreibens, die eine contradictio in se ist. In der zuerst zitierten Eintragung runzelt Kafka die Stime über die Metaphern als "nicht in sich selbst wohnend", in der zweiten wird Ambiguität zum Vorbild. Eine Erklärung dieses Widerspruchs ließe sich vielleicht in zwei weiteren Notizen Kafkas finden: eine betrifft die Sprache, und die zweite sagt etwas über Wahrheit aus. Nicht jeder Autor kämpft um Wahrheit so wie Kafka. Wahrheit, auch "Gesetz" oder "Ziel" genannt, ist unerreichbar: Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern. 7

Aber: Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts.8

Es gibt nur zweierlei: Wahrheit und Lüge. Und zur Wahrheit meint Kafka folgendes: Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein. 9

Wahrheit und Lüge sind aneinandergebunden wie Gregor Samsa und das Ungeziefer. Da Kafka als Schriftsteller keine andere Wahl hat, als uns "schriftlich zu überzeugen" von dem, was er mitteilen will, und er sich über die Sprache Gedanken gemacht hat (lebte und schuf er doch zur Zeit der berühmten "Sprachkrise"), ist das, was er zur Sprache zu sagen hat, von besonderem Nachdruck. Er notiert: Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt. 10

Auch Fritz Mauthner, ein Zeitgenosse Kafkas, war überzeugt, daß in den Sprachkonzepten nichts als das von unseren Sinnen Übermittelte gibt und unter objektiver Prüfung unsere Sinne, zufallig ihrem Wesen nach, nur einen willkürlichen Teil der Wirklichkeit vermitteln können, niemals die Wahrheit. 6 7 8 9 10

Kafka, Tagebücher (wie Anm. 5), S. 854f. Kafka, Nachgelassene Schriften II (wie Anm. 2), S. 118. Ebd., S. 127. Ebd., S. 130. Ebd., S. 126.

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Sprache und Wahrheit sind streng getrennt. Auch Gershom Scholem schreibt, in anderem Zusammenhang, in seinen Zehn unhistorischen Sätzen zur Kabbala: Die "wahre" Sprache kann nicht gesprochen werden, sowenig wie das absolut Konkrete vollzogen werden kann. 11

Ungleich Mauthner gibt es für Scholem eine "wahre" Sprache, dialektisch: als verborgene. Zwischen der "wahren" und der "gesprochenen" existiert eine unüberbrückbare Kluft. Ein spanischer Kabbaiist aus dem 13. Jahrhundert, Rabbi Isaak, sagte, die Form der geschriebenen Tora sei aus weißem Feuer gemacht. Der Kabbala zufolge seien die Worte der Tora nur in verhüllter Gestalt in der Schrift zu finden. Es liegt uns ob, sie zu trennen und neu zu verbinden auf eine bislang "unbekannte" Art und Weise, um ihre "wahrhafte" Bedeutung zu erkennen. Kafka war Schriftsteller, kein Mystiker. Sein Ziel war nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Möglichkeit, die anderen kraft seines Geschriebenen von dem natürlichen Steigen und Fallen und gleichzeitigem Nichts des Lebens zu überzeugen. Wie denn? Versuchen wir anzunehmen, die Antwort liege in seinem paradoxen Satz, wonach bloß die Lüge die Wahrheit erkennen könne, und die Sprache, metaphorisch beschränkt wie sie auch sei - einzig in ihr ist der Erzähler Erzähler - verweist "andeutungsweise" auf das außerhalb der sinnlichen Welt Seiende. Das heißt doch, daß das, worauf hingewiesen wird, im Hinweis irgendwie vorhanden sein muß - als das Andere. In der Vertreibung aus dem "Paradies" ist das "Paradies" als sprachliche Realität vorhanden. Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgiltig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorgangs aber [oder zeitlich ausgedrückt die ewige Wiederholung des Vorgangs] macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht. 12

Eine ins Positive gewendete Deutung des Textes Von den Gleichnissen würde demnach lauten: Wir können nicht "hinübergehen", weil wir schon "da sind". Im dritten Oktavheft lesen wir: Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das was in dieser Welt Leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist. 13

11

12

13

Gershom Scholem: Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Bibliothek Suhrkamp, 333), S. 271. Kafka, Nachgelassene Schriften II (wie Anm. 2), S. 127. Der Einschub in eckigen Klammern von Kafka gestrichen; vgl. Apparatband S. 243. Kafka, Nachgelassene Schriften II (wie Anm. 2), S. 135. Hervorhebung von T. R.

Einige Bemerkungen zur Bedeutung der Sprache bei Kajka, dem Juden

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Das klingt fast wie die talmudische Beschreibung der messianischen Zeit. Unverändert und befreit von seinem Gegensatz ist laut dem Traktat Berachot die Befreiung Israels von dem Joch der Königreiche. Zwischen unserer Zeit und der messianischen gibt es keinen Unterschied, außer der Befreiung von der Herrschaft des Anderen, fundamental Fremden. Einmal gelang es Kafka, in der Sprache eine solche Befreiung zu finden: Das Wort "sein" bedeutet im Deutschen beides: Da-sein und Ihm-gehören. 14

Die Doppelnatur von "sein" ist erlöst: Dasein und Ihm-gehören sind nicht zusammengekoppelte Gegensätze, vielmehr ein Wiederfinden nach einer langen Trennung. Moshe Idei zitiert in seinem Buch Language Torah and Hermeneutics in Abraham Abulafia (New York 1988) den großen spanischen Kabbalisten aus dem 13. Jahrhundert Abulafia: Sie wandten sich zu unvollkommenen und ungesetzlichen Sprachen und irrten fern von der Heiligen Sprache [... sind doch] die Sprachen vermischt und verwirrt worden seit dem Geschlecht der Zerteilung und sind es bis auf den heutigen Tag.

Und sie werden verwirrt bleiben bis zu dem Kommen des Erlösers, wenn die Erde zu der einen klaren Sprache zurückkehren wird, wie geschrieben steht: "denn allsdann will ich den Völkern andere, reine Lippen geben, daß sie alle den Namen des Herrn anrufen, ihm einträchtig dienen" (Zephania, 3,9). 1 5

Idei meint, daß wir aus den Schriften Kalkischs, eines bedeutenden Schülers Abulafias, folgern können, daß in der vollkommenen Form des Hebräischen (die in seinen Augen die wahrhaftigste Sprache war) in jeder Zusammensetzung der Buchstaben und in jedweder möglichen Zusammensetzung (wie sie in der Kabbala praktiziert wird) eine Bedeutung liege, und daß nur den besonderen historischen Umständen zufolge - gemeint ist das Leben in der Diaspora diese Bedeutungen uns verschlossen blieben. Es gehe also darum, die verborgenen Bedeutungen zu enthüllen. Sehr deutlich drückt, nach Idei, Abulafia die Meinung aus, daß nur das Sichlosreißen von der konventionellen Form der Worte uns eine höhere Stufe der Erkenntnis vermitteln könne, die Erkenntnis vom Namen Gottes: Lies die ganze Tora vorwärts und rückwärts und verschütte das Blut der Sprachen. Dies, das Wissen des Namens steht über aller Einsicht und Wissen.

Und Idei fügt hinzu: Es scheint, daß Abulafia hier auf die Beseitigung der imaginären Struktur, die für die konventionellen Sprachen charakteristisch ist, verweist. Das "Blut" der Sprachen

14 15

Kafka, Nachgelassene Schriften II (wie Anm. 2), S. 123. Hervorhebungen von T. R.

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bezieht sich auf den imaginären Charakter der Sprache 16 . So bedeutet das Sichlosreißen von den geltenden Sprachformen eine Befreiung von der Einbildung.

Bei Kafka heißt es: Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben. 1 7

Das Negative, die Lüge, die notwendigerweise metaphorische Sprache, das Gleichnis - nur sie können auf die Wahrheit hinweisen, das gefrorene Meer in uns aufhacken. Die Sprache mittels der Sprache zu durchdringen und das "Wahre" durch die Metapher hindurchscheinen zu lassen und es damit vom Joch des Fremden zu befreien - das wohl dürfte der Lichtstrahl sein, der das Dunkel von Kafkas Welt aufhellt. Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben gefuhrt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang. 1 8

Ende oder Anfang gleich dem "oder" als Zunge der Waage in der Selbstaussage Kafkas in bezug auf die Überschrift seiner Erzählung Josephine oder das Volk der Mäuse. Eine jahrhundert-, ja vielleicht jahrtausendlange Tradition des Erzählens kommt bei ihm zu einem Ende, und etwas essentiell Neues bahnt sich an. Nach ihm ist alles anders. Er ist nicht Ende oder Anfang. Er ist beides: die wahrhaftigste "Kreuzung".

16 17 18

Den imaginären Charakter der Sprache nannte ich ihre metaphorische Qualität. Kafka, Nachgelassene Schriften II (wie Anm. 2), S. 119. Ebd., S. 98; 25. Februar 1918.

Personenregister

Abulafia (Mystiker, Kabbaiist in Safed) 283 Achad Ha'am 196 Adorno, Theodor W. 55,176,178 Ady, Endre 97 Aguilar, Grace 149-151 Alexander d. Gr. 17 Allport, Gordon W. 30 Andrássy, Gyula Graf 94 Angress, Werner T. 115 Arany, János 95 Arendt, Hannah 38, 176, 178-180 Aryon, Uriel 114 Asch, Schalom 201-202,214 Askénazi, Léon 236-237 Auerbach, Berthold 195 Auerbach, Jakob 198 Auerbach, Siegmund 107 Bab, Julius 188 Baden Powell, Robert S. S. 120 Baeck, Leo 132 Bäuerle, Adolf 90 Balfour, James 261 Baratoff, Paul 212 Barnay, Ludwig 196 Barnowsky, Viktor 196 Barrés, Maurice 77, 80,163, 246 Barrie, James 154 Bastian, Marie 170 Bauer, Feiice 263, 266 Baum, Herbert 112,128 Bayerdörfer, Hans-Peter 195-215

Bebel, August 251 Becher, Johannes R. 264 Beer-Hofmann, Richard 215 Bein, Alex 61-63 Bell, Quentin 158 Bellini, Gentile 164 Beioff, Max 72 Benjamin, Walter 72,176-180, 279-280 Benn, Gottfried 263-265 Bergel-Gronemann, Elfriede 191-192 Bergson, Henri 77 Bering, Dietz 175 Bernhardt, Sarah 196 Bernstein, Eduard 252-253, 256 Beseler, Hans von 51 Beyer, Helga 120 Bezalel, Chajim ben 45 Bialik, Chaim Nachman 209-210 Bierbaum, Otto Julius 264 Biller, Gerhard 55-76 Birnbaum, Pierre 239 Birnbaum, Nathan 53, 61 Bismarck, Otto von 3 Blass, Ernst 188,191 Bloch, Helene 252,262 Bloch, Jean-Richard 79 Bloch, Joseph 251-262 Bloemgarten, Salvador 139, 145-147 Blum, Léon 10-12,78 Blum, René 262

286

Bobrowski, Johannes 265 Böhm, Adolf 67 Boekman, E. 138 Bomberg, David 155,157-159 Bomberg, Rebecca 158 Borokhov, Ber 96 Boross, Elemér 97 Brahm, Otto 196,205 Braunthal, Julius 62 Bréal, Michel 77 Brecht, Bertolt 29 Breuer, Isaac 47, 53,55-76, Breuer, Mordechai 45-54, 55,70, 74-75, 76 Briand, Aristide 258 Brod, Max 66,200 Broder, Henrik M. 60,62 Brooke, Rupert 158 Brunschvicg, Léon 77 Buber,Martin 117,119-121,126, 181, 186, 191,209-211 Büchner, Georg 42 Bulz, Emmanuel 231-238 Bullock, Allan 72 Cannon, Gilbert 157 Carlebach, Emanuel 51 -52 Cassirer, Ernst 217,229 Chaplin, Charlie 180 Chatrian, Alexandre 7 Chesterton, Gilbert Keith 76 Chestov, Léon 77, 81 Clemenceau, Georges 163,169, 260 Cohen, Albert 164 Cohen, Hermann 73,174,217-229 Cohen, Joseph 159 Cohn, Moritz Baron 133 Comte, Auguste 219 Cork, Richard 157 Craig, Edward Gordon 197, 208 Csáky, Moritz 83

Personenregister

D'Israeli, Isaac 151 Daalder, H. 146 Daladier, Edouard 259 Dale, Stephen 123 Darmesteter, James 78 Darwin, Charles 31 Dauthendey, Max 264 Dawison, Bogumil 196 Dawson, Christopher 72 Dehmel, Richard 264 Dertiger, Antje 120 Desjardins, Paul 245 Dickens, Charles 155 Diebold, Bernhard 207 Dierse, Ulrich 63 Dilthey, Wilhelm 219 Disraeli, Benjamin 149-152, 155 Dóczi, Lajos 93-94 Döblin, Alfred 188,205,209 Donáth, Gyula 96 Dreyfus, Alfred 2, 77-78, 143, 161, 163,169-180, 233-234, 243-245, 260 Drumont, Edouard 78-79, 243 Dubnow, Simon 37 Duinkerken, Anton van 32 Dumas, Alexandre 149 Durkheim, Emile 77 Dymov, Ossip 198,214 Eberhard, Heinz 117 Edschmid, Kasimir 263 Eggebrecht, Axel 169 Ehrenstein, Albert 184-188, 190-191, 194 Ehrentreu, Heinrich 73 Ehrmann, Herz 45 Eisenstadt, Meir 85 Eladan, Jacques 77-81 Elbogen, Ismar 37 Eliot, George 151 Eliasberg, Alexander 201

Personenregister

Elon, Amos 60, 62 Engel, Fritz 202 Engel, Günter 114 Engels, Friedrich 251 Erckmann, Emile 7 Erdle, Birgit E. 41 Escher, Karl 199 Eschwege, Helmut 128 Euklid 225 Eulenberg, Herbert 225 Faure, Félix 241-242 Feinmann, Sigmund 198 Feuchtwanger, Sigbert 60 Fichte, Johann Gottlieb 64 Finn, Joseph 142 Fischer-Lichte, Erika 207 Flake, Otto 183 Flato, Else 107 Fleg, Edmond 7, 77-80, 231-238 Fleg, Maurice 235 Fondane, Benjamin 81 Fox, John P. 123 France, Anatole 233, 260 Franck, Adolphe 77 Frankel, Zacharias 218 Franzos, Karl Emil 202 Freud, Sigmund 29,33-34 Friedman, Menachem 51 Friedrich II. von Preußen 134 Friedrich, Hugo 264,274 Frisch, Efraim 201 Fuchs, Georg 197 Gartner, Lloyd P. 137 Gelber, Yoav 123 George, Stefan 176,264 Gerson, Hermann 119 Gertler, Golda 158 Gertler, Mark 155-159 Gertner, Meir 271 Getzler, Israel 126

287

Gilman, Sander L. 173 Girard, René 41 Goebbels, Joseph 125 Goedde-Baumanns, Beate 169 Goethe, Johann Wolfgang 271 Goitein, Gabor 106 Goitein, Rahel 107 Goldfaden, Abraham 198,201, 207 Goldman, Jecheskiel 114 Goldmann, Nachum 209 Gonda, László 86-87,94 Goodman, Herbert 114 Gordin, Jakob 201 Gordon, David 140 Gorelik, Schmarja 207 Grab, Walter 251-262 Grabowsky, Adolf 200 Graetz, Heinrich 218 Granach, Alexander 201 Granovskij, Alexeij 207-208 Graves, Robert 157 Green, Nancy 138-139 Green, N. L. 143 Gronemann, Sammy 203-204,209 Groß, Hans 173 Grossbard, Herz 201 Gründer, Karlfried 73 Habermas, Jürgen 217 Haas, Charles 162-164 Haas, Ludwig 51 Haas, Willy 189-190 Hakerem, Etan 114 Halevi, Jehuda 6 Halévy, D. 80,245 Hart, Solomon Alexander 155 Hartleben, Otto Erich 264 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 64, 72 Hegglin, Werner 271 Heine, Heinrich 150-151, 180 Heinsohn, Gunnar 41

288

Hermlin, Stephan 265 Herr, Lucien 244 Herriot, Edouard 259 Homfeld, Anton 198,205 Herrnfeld, Donath 198,205 Hertz, Henri 77-79 Herzberg, Wolfgang 24,25 Herzfelde, Wieland 183 Herzl, Theodor 6, 40, 55-77, 79, 155,247 Hessel, Franz 176 Heym, Georg 264 Hildesheimer, Esriel 48, 50 Hildesheimer, Israel 85 Hille, Peter 265,273 Hindenburg, Paul von 125,259 Hirsch, Benjamin 134 Hirsch, Helmut 126 Hirsch, Mally 106 Hirsch, Samson Raphael 45-46, 48, 50, 69-70, 74 Hirschbein, Perez 206,214 Hirschler, Ignaz 86 Hitler, Adolf 11-12, 36, 79, 125, 127, 232,259-260 Hobbes, Thomas 57 Höflich, Eugen 206 Hofmann, Hasso 56-58 Hofmannsthal, Hugo von 169, 176, 264 Hofmeester, Karin 137-147 Holder, Josef 87,96-98 Holz, Arno 264 Homer 64,165 Hooft, Pieter C. 42 Horch, Hans Otto 192, 195 Horkheimer, Max 55 Humboldt, Alexander von 96 Huygens, Christiaan 42 Ibsen, Hendrik 201 Idei, Moshe 283

Personenregister

Ihering, Herbert 208 Imber, Naftali Herz 154 Isaac, J. 80 Jabotinsky, Vladimir 52 Jacobsohn, Siegfried 200 Jaurès, Jean 233,260 Jellinek, Georg 64 Josephus, Flavius 6 Just, Klaus Günther 264-265 Kafka, Franz 172-173, 178, 180, 185-186, 200, 263,266, 273, 275-284 Kalkisch (Schüler des Abulafia) 283 Kaminska, Esther Rachel 204 Kant, Immanuel 55, 65, 74,126 Kaplan, Marion 101, 104, 106 Kapp, Wolfgang 258 Kappstein, Theodor 133 Kastein, Josef 73 Katz, Jacob 45 Kautsky, Karl 251 Kellermann, Henry J. 126 Keilson, Hans 27-43 Kerenski, Aleksandr F. 256 Kierkegaard, Sören 284 Kipling, Rudyard 122 Kirchmann, Julius Hermann von 56 Kiss, Josef 87,95-96,98 Klabund 263 Klañska, Maria 88-90 Klar, Alfred 202 Klatzkin, Elijahu 47 Kleist, Heinrich von 32 Kobrin, Leon 205 Kohn, Pinchas 50-52,54 Kohn, Samuel 92,94 Kolmar, Gertrud 41 Kramer, Cecilia 158

Personenregister

Kramer, Jacob 155,157-158 Kraus, Karl 263 Kreutzer, Michael 112 Krobb, Florian 150 Krojanker, Gustav 182,189 Kropotkin, Pjotr A. 126 Kvapil, Jaroslav 200 Landau, J. L. 62 Landau, Maximilian 49 Landauer, Gustav 192-193 Landenberger, Hilde 115 Lange-Kirchheim, Astrid 173 Lasker-Schüler, Else 263-274 Lateiner, Joseph 198-199 Laurence, Alfred 120 Laval, Pierre 12,259 Lavrov, Peter 142 Lawitschka, Josef R. 55 Lazare, Bernard 77-80,143,180, 234,242,244 Lazarus, Moritz 219 LeRider, Jacques 175 Leftwich, Joseph 154 Lehmann, Chanan 114 Lehmann, Siegfried 121 Lehndorff, Werner 117 Lenin, Vladimir I. 256 Lessing, Theodor 200 Lévi, Abraham 3, 7-9, 12 Levi, Franz 114 Lévinas, Emmanuel 41 Levinger, Jacob S. 55 Levy, Emanuel 208 Lévy, Sylvain 236 Levy-Bruhl, Lucien 77 Lewinson, Richard 114,121 Leydesdorff, Selma 146 LeZion, Rischin 114 Lichtenstein, Hillel 86 Lieberman, Aaron 140, 142 Liebermann, Karl 142

289

Liebeschütz, Hans 219-221 Liebmann, Otto 219 Liliencron, Detlev von 264-265 Lindemann, Gustav 196 Lipkin, Israel 45 Lipman, V. D. 138,153 Low, Jeremias 86 Low, Leopold 86, 89-90, 92 Loewenstein, R. M. 34, 36, 42 Löwith, Karl 58 Loewy, Jizchak 200,201 Lublinski, Samuel 263 Ludendorff, Erich 256 Lübbe, Hermami 58, 59 Luther, Martin 29,37 Luyken, Caspar 42 Madách, Imre 98 Madaule, Jacques 236 Maimón, Salomon 88 Maimonides, Moses 6,20 Manzoni, Alessandro 149 Maoz, Eliyahu 119 Marr, Wilhelm 28 Marsh, Edward 158-159 Marx, Groucho 165 Marx, Karl 64,140,192,254 Marx, Leopold 209 Maurer, Trude 125 Mauthner, Fritz 281-282 Mayer, Paul Yogi 122,126 Mehlman, Jeffrey 167 Mehring, Walter 212 Meier-Cronemeyer, Herbert 114, 118 Meisel, Wolf Aloys 92 Mejerch'old, Vsevolod 197 Mendele Moicher Sforim 207 Mendelssohn, Moses 21-22,68, 88, 131 Meninski, Bernard 155 Miething, Christoph 217-229

290

Mill, John Stuart 219 Mirbeau, Octave 173 Mitscherlich, Alexander 27, 35 Mittelmann, Hanni 181-194 Mohamet II. 164 Mombert, Alfred 264 Moreau, Emile 233 Moreau, Lucien 233-235 Morgenstern, Matthias 47, 52, 55, 69 Morgenstern, Soma 69 Mosès, Stéphane 72, 185, 191 Mosse, Rudolf 133 Mosse, Werner E. 129-135 Müller, Max 72 Müller-Seidel, Walter 173 Münk, Salomon 77 Mussolini, Benito 123 Napoleon Bonaparte 1, 6, 74 Néher, André 232 Nietzsche, Friedrich 197, 211 Niewöhner, Friedrich 55, 69 Nussbaum, Max 114 Oellers, Norbert 263-274 Osborn, Max 207 Otto, Rudolf 41 Owen, Wilfred 157 Pappenheim, Bertha 106 Paucker, Arnold 111-128 Paucker, Pauline 149-160 Péguy, Charles 33, 77-78, 80, 233,235,244-245,247 Perez, Jizchak Leib 202, 206-207 Périer, Casimir 79 Pétain, Philippe 11 -12, 259 Petöfi, Sandor 96 Peyser, Thomas 117 Philipps, Olga Jomech 156 Philippson, Ludwig 195

Personenregister

Picon-Vallin, Béatrice 207 Pinsker, Leon 40, 61 Pinski, David 201,205,214-215 Pinthus, Kurt 181,191, 200-201, 264 Piscator, Erwin 212 Plato 40,221 Polak, Henri 139,144-147 Pollak, Oskar 273 Pound, Ezra 116 Praag, Jean van 178 Praag, Siegfried Jean van 178 Prinz, Joachim 114 Proust, Marcel 161, 176-180 Quack, Sibylle 99 Rabbi Isaak 282 Raczymow, Henri 161-167 Radbruch, Gustav 65, 66 Rahe, Thomas 61 Rappaport, Samuel 53 Rathenau, Walther 131, 174 Rauh, Frédéric 77 Raynal, David 79 Récanati, Jean 164 Rechel-Mertens, Eva 176 Rèe, Anton 89 Reich-Ranicki, Marcel 91 Reinhardt, Max 196,200-202 Reinharz, Jehuda 126 Rembrandt 41, 156 Renan, Ernest 233 Renier, G. J. 72 Revius, Jan 42 Reyzen, Zalmen 96-97 Rheins, Carl J. 122 Richarz, Monika 99-110 Riesser, Jakob 134 Riesser, Hans 134 Rilke, Rainer Maria 118, 175, 264 Riss, Heidelore 212

Personenregister

Roberts, John D. 158 Roberts, William 157 Rosenberg, Hannah 158 Rosenberg, Isaac 155, 157, 159160 Rosenheim, Jacob 49, 53, 69-70 Rosenzweig, Franz 55,72-73,81, 217-218, 220-221,227-228 Rothenstein, William 156-157 Rothschild, Jacob (James de) 162 Rousseau, Jean Jacques 65 Rowina, Channah 209 Rozier, Jacques du 167 Rübner, Tuvia 275-284 Rüdiger, Bischof von Speyer 33 Rychner, Max 42,177 Sabbatai Zwi 62 Salomon, Alice 106 Salomonsohn, Adolf 133 Salvador, Joseph 78 Saphir, Moritz Gottlieb 87-91, 98 Sartre, Jean-Paul 163, 165 Sassoon, Siegfried 157 Schatzker, Chaim 114 Schieb-Samizadek, Barbara 112 Schlaf, Johannes 264 Schmitt, Carl 56-58 Schnitzler, Arthur 67,169 Schoeps, Hans Joachim 123 Scholem Alejchem 207 Scholem, Gershom 71-74,129131, 176-179,191, 193,282 Schwartzkoppen, Max von 170 Schwarz, Günter 114,121 Schwersenz, Jichak 113 Scott, Walter 149-150 Seebach, Léopold de 5 Severing, Carl 258 Shakespeare, William 212 Shedletzky, Itta 195 Shiller, Hettie 99

291

Simmel, Georg 221 Simon, Heinrich 15-25 Singer, Kurt 114,121 Sohm, Rudolph 63 Solomon, Abraham 155 Solomon, Rebecca 155 Solomon, Simeon 155-156 Solomon, Solomon J. 156-157 Sonnenthal, Adolf 196 Sparr, Thomas 169-180 Spinoza, Baruch de 188, 225-226 Spire, Marie-Brunette 239-249 Spire, André 77-80, 234, 236, 239-249 Spirn, Tsvi 97 Sprengel, Peter 198-200 Stadler, Ernst 264 Stanislawski, Konstanin S. 204 Stein, Lorenz von 64-65 Steinberg, Lucien 112 Steinthal, Haymann 219 Stern, Ernst 201 Stern, Guy 123 Stöcker, Adolf 220 Stössinger, Felix 252 Strauß, Bruno 219 Strauß, Ludwig 188-189 Strauss, Rahel 106-109 Stresemann, Gustav 258 Struck, Hermann 203-204 Stuke, Horst 66 Suchy, Barbara 125 Sulzberger, Meyer 153 Susman, Margarete 264, 269 Taine, Hippolyte 219 Thackeray, William Makepeace 152, 155 Theilhaber, Adolf 67 Theilhaber, Felix Aron 67 Tietz, Georg 132 Tolstoi, Leo 245

292 Tóth, Tamás 89 Trakl, Georg 264 Treitschke, Heinrich von 220 Trotzki, Leo 140 Tschernikower, E. 140, 142 Tucholsky, Kurt 91 Varga, Péter 83-98 Varnhagen, Rahel 178-179 Venetianer, Lajos 91-93 Vergil 66 Verne, Jules 62 Viertel, Berthold 208 Vigée, Claude 1-13 Vogelstein, Heinemann 134 Volkov, Shulamit 34, 175 Vondel, Joost van den 42 Wachenheim, Hedwig 102, 105-106 Wagner, Efraim F. 114 Walde, Kurt W. van der 120 Waiden, Herwarth 268 Walk, Joseph 126 Wallich, Hermann 132 Walter, Bruno 134 Walter, Michel 11 Warburg, Max 132 Wassermann, Jakob 98,189

Personenregister

Weber, Alfred 173 Weininger, Otto 116 Weinzierl, Erika 169 Werfel, Franz 264 White, Hayden 72 Wilson, Steven 171 Winchevsky, Morris 141 Wischnitzer-Bernstein, Rachel 208-209 Wistrich, Robert S. 140 Wohlgemuth, Joseph 47 Wolfenstein, Alfred 181,184, 186-189,191-193 Wolff, Edith 113 Wolff, Theodor 171 Wolfskehl, Karl 210-212 Wolfsthal, C. 198 Wolmark, Alfred 155 Wroblewsky, Vincent von 24-25 Zahn, Christine 112,127 Zangwill, Israel 77, 79,152-157, 235, 247 Zanten, J. H. van 138 Zola, Emile 206,233,260 Zutphen, Jan van 145 Zweig, Arnold 91, 196-197, 202, 209-210,213-215