Jüdische Identität bei Heinrich Graetz
 9783666569944, 9783525569948

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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 5

Vandenhoeck & Ruprecht

Marcus Pyka

Jüdische Identität bei Heinrich Graetz

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56994-8

Umschlagabbildung aus Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstage 13. Oktober 1917 (21. Cheschwan), hg. von Josef Meisl, Berlin 1917.

© 2009 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

In Memoriam Magda Heiner-Freiling (1950–2007)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I

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Einleitung: Geschichtsschreibung und Jüdische Identität bei Heinrich Graetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

II Jüdische Identität bei Heinrich Graetz . . . . . . . . . . . . . . . 1 Identitätssuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Aufbruch in die Moderne: Posen . . . . . . . . . . . . . 1.2 Anziehung und Abstoßung: Samson Raphael Hirsch . . . 1.3 Abgrenzung: Abraham Geiger und die Reformbewegung 1.4 Als „polnischer Jude“ in Breslau: Studienjahre . . . . . . 2 Festlegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ansätze zu einem eigenen Identitäts-Modell: Gnosticismus und Judenthum . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Familienwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Konstruktion eines „positiv-historischen“ Judentums? 2.4 Die Bedeutung von Freiheit und Sicherheit: Zwischen Revolution und Arbeitssuche . . . . . . . . . . 2.5 Die Historisierung der Tradition . . . . . . . . . . . . . . 3 Identität und Popularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Im Kontext einer Geschichtskultur . . . . . . . . . . . . 3.2 Am Breslauer Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Geschichte der Juden – Konzeption und Methode . . 3.4 Methoden der Sinnstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 „Sittlichkeit“ als Wesen des Judentums . . . . . . . . . .

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33 33 33 48 64 . 87 . 104 . 104 . 119 137 . . . . . . . .

162 175 197 197 210 226 241 257

III Ein „Muskeljudentum“ avant la lettre? – Schlussbetrachtung . . . . 271 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Quellen- und Literaturverzeichnis . 1 Quellen . . . . . . . . . . . . 2 Enzyklopädien und Hilfsmittel 3 Literaturverzeichnis . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2004/05 an der LudwigMaximilians-Universität München angenommen worden ist. Eine der Grundannahmen dieser Arbeit ist, dass Wissenschaft nicht im luftleeren Raum stattfindet, und dies gilt gerade auch für sie selbst. Mein ganz besonderer Dank geht zunächst an meinen Doktorvater, Professor Dr. Michael Brenner, der mich stets wohlwollend und vertrauensvoll gefördert hat. Die anregende Atmosphäre an der von ihm geleiteten Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur in München ermöglichte überdies oftmals Kontakte und Ideen, die ansonsten möglicherweise nicht zustande gekommen wären. Dazu gehört, dass er mit seinem Mitherausgeber Professor Dr. Stefan Rohrbacher bereit war, diese Studie in die Reihe Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK) aufzunehmen. Mein herzlicher Dank gilt ferner Professor Dr. Winfried Schulze und Professor Dr. Wolfram Siemann; sie haben nicht nur das Zweit- und Drittgutachten übernommen, sondern von Anfang an meine Arbeit mit Interesse und konstruktiver Kritik begleitet. Ebenso grundlegend für das Gelingen war die Möglichkeit, dieses Projekt weitgehend unbelastet von finanziellen Engpässen über einen längeren Zeitraum hinweg zu betreiben und reifen lassen zu können. Hierfür – wie auch die damit einhergehende ideelle Förderung – sei insbesondere der Studienstiftung des deutschen Volkes (Bonn) gedankt, sowie der Stiftung Dialogik (Zürich/Toronto) mit ihrem Mary und Hermann Levin Goldschmidt-BollagStipendium und dem Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Die Schlussphase wurde nicht zuletzt durch den Rückhalt meiner Mutter ermöglicht. Herzlichen Dank für all dies. Zu den veritablen Privilegien meiner Doktorandenzeit in München gehörten die zahlreichen Diskussionen mit Freunden und Kollegen an der LMU München mit ihren mannigfaltigen Anregungen wie auch kritischem Feedback. Genannt seien hier stellvertretend Professor Dr. Friedrich Wilhelm Graf, Professor Dr. Dr. Hans-Georg von Mutius, Professor Dr. Johannes Paulmann, Dr. Elisabeth Droß-Huels, Dr. Nils Freytag, Dr. Michael Heinzmann, Dr. Stefan Jordan, Dr. Anthony Kauders, Dr. Mirjam Triendl-Zadoff. Im Rahmen von Konferenzen und Oberseminaren erhielt ich überdies wertvolle kritische Anregungen, etwa von Professor Dr. Richard Y. Cohen (Jerusalem), Professor Dr. Lothar Gall (Frankfurt/Main), Professor Dr. Daniel

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Vorwort

Krochmalnik (Heidelberg), Professor Dr. David Myers (Los Angeles), Professor Dr. Ismar Schorsch (New York), Professor Dr. Michael Silver (Jerusalem), Professor Dr. Peter Schäfer (Berlin/Princeton) und Professor Dr. Jürgen Straub (Chemnitz/Bochum), um nur einige zu nennen. Insbesondere gilt hier mein Dank Dr. Vera Leininger (Köln), in deren exzellenten Proseminar ich zum ersten Mal auf Graetz stieß, sowie Professor Dr. Klaus Hildebrand (Bonn), der meine Magisterarbeit über Graetzens Rolle im so genannten Berliner Antisemitismusstreit 1879/80 betreute. Last but not least möchte ich hier noch meine tief empfundene Dankbarkeit für jene bekunden, die mich in all den Jahren begleitet und dadurch in der ein oder anderen Form ihrerseits zum Gelingen dieser Arbeit substantiell beigetragen haben. Die Diskussion über zum Teil grundlegende methodische Fragen, mitunter in gänzlich anderen Zusammenhängen, mit Dr. Mikio L. Braun, Dr. Martin Clauss, Thomas Gampp, M. A., Dr. Regine Grienberger, Dr. Christian Klein, Dr. Dirk Rupnow, Dr. Alexander Schunka und Sabine Steinhoff, M. A., hat ganz wesentlich meine Wahrnehmungsfähigkeit bei der Lektüre von Quellentexten geschärft. Und ohne ein belastbares soziales Netzwerk von Freunden wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen; als zentrale Stützen sei daher stellvertretend sehr herzlich gedankt: Verena Bergfeld, Thomas Bruer, M. A., Ralf Freyaldenhoven, Dr. Bernhard Gißibl, Dipl. Soz. Monika Halbinger, Philipp von Hirsch, Arno Jochem, Dr. Carsten Kretschmann, Dr. Vladimir Lewin, Dr. Tamar Lewinsky, Ilanit Nissim-Kessel, M. A., Dr. Nahed Samour, Dr. Christian Schölzel, Doris Seidel, M. A., Christian Sepp, M. A., Dr. des. Björn Siegel, Professor Dr. Lisa Silverman, Iris Tevet-Abramovici, M. A., und Pia Werner, M. A. Ebenfalls möchte ich meinen Kollegen am Franklin College Switzerland (Lugano-Sorengo) danken, die in der Abschlussphase der Druckfassung nicht nur moralische Unterstützung haben zuteil werden lassen, sondern durch den Faculty Development Fund auch die Drucklegung unterstützt haben. Hierzu hat ebenfalls der Förderpreis der Münchner Universitätsgesellschaft 2006 maßgeblich beigetragen. Schließlich gilt mein großer Dank Dorothea Tetzeli von Rosador, M. A., die beständig da war wenn nötig und so viel mehr tat, als „nur“ die Endfassung Korrektur zu lesen. Abschließend ist es ein trauriger Dank, den ich sagen muß: Ohne Magda Heiner-Freilings (1950–2007) vielfältige Anregung und unerschöpfliche Gastfreundschaft wäre meine Studenten- und Doktorandenzeit um so vieles ärmer gewesen. Sie hat durch tragische Umstände die Drucklegung der Studie nicht mehr erleben können. Daher möchte ich ihrem Andenken diese Arbeit widmen. Lugano, im April 2008

Marcus Pyka

I Einleitung: Geschichtsschreibung und Jüdische Identität bei Heinrich Graetz

„Was ist Judenthum?“ – Mit dieser „albern scheinende[n]“ Frage eröffnete 1846 der junge Doktor der Philosophie Heinrich Graetz (1817–1891) einen Aufsatz, in dem er sich anschickte, die Geschichte des Judentums auf einen geschichtsphilosophischen Nenner zu bringen.1 Die Frage danach, was Judentum sei, was dessen innerstes Wesen ausmache, und wie sich daraus folgend die jeweilige jüdische Identität des Einzelnen gestalte, stellt sich als das große movens im Leben des Mannes dar, der als der bedeutendste jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts gilt. Insbesondere sein Hauptwerk, die Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart, die er zwischen 1853 und 1876 in insgesamt dreizehn Bänden vorlegte, hatte mit ihren zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen langfristig einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf das jüdische Selbstverständnis im späten 19. und dann auch im 20. Jahrhundert. Neben Graetzens packendem Erzählstil war es vor allem die selbstbewusst verfochtene Idee einer Kontinuität und Kohärenz jüdischer Geschichte über ethnische, sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg, mit der sein Werk eine weite Leserschaft anzusprechen vermochte. Gerade am Ende des 19. Jahrhunderts sollten diese Eigenschaften bei den Lesern oftmals eine Rückbesinnung auf die eigene jüdische Herkunft bewirken und somit die Geschichte schließlich zum Auslöser eines „jüdischen Erwachens“ (Gershom Scholem) werden lassen. Die entscheidende Voraussetzung für eine solche Wirkung war freilich das Bedürfnis, eine entsprechende Orientierung zu finden. Dieses Bedürfnis resultierte aus einer gleichsam als krisenhaft empfundenen Situation, die sich mit Schlagworten wie Säkularisierung, Rationalisierung, Veränderungen im sozialen Gefüge und Relativierung von Werten charakterisieren lässt. Die damit gekennzeichneten Prozesse trugen dazu bei, dass viele überkommene Grundüberzeugungen ins Wanken gerieten. Nicht zu Unrecht ist dieses 19. Jahrhundert als ein „Jahrhundert der Bewegung und der Bewegungen“ bezeichnet worden.2 All dies betraf freilich nicht allein Graetzens Leser. Der Autor selbst war die meiste Zeit seines Lebens auf der 1 Graetz, Construction, 81 (5/9). – Ausführlich hierzu unten, Kap. II 2.3. 2 Gay, Erziehung der Sinne, 77.

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Suche nach solchen Orientierungen für die Gegenwart. Im Einklang mit seiner Zeit ging er davon aus, dass er sie in der Geschichte finden könne. Seine eigenen Schriften waren somit Produkt jenes „Trieb[s] zur Selbsterprobung“, den er als Ursache für die Beschäftigung mit der Vergangenheit unter seinen Zeitgenossen ansah.3 Den Hintergrund hierfür bot eine spezifische Situation, die Juden im Europa der Neuzeit als Juden in der Tat heraushob: Als Nicht-Christen in einem christlichen oder zumindest christlich geprägten Umfeld waren sie eine wahrnehmbare Minderheit, nicht selten sogar die einzige wahrgenommene Minderheit, und überdies eine, die im christlich-abendländischen Selbstverständnis eine große, aber negativ konnotierte Funktion hatte.4 Solange starke gesellschaftliche Barrieren bis hin zu materiellen Mauern zwischen Juden und Christen bestanden, und solange die Religion die gegenseitige Absonderung voneinander sinnvoll zu erklären vermochte, gab es keinen Grund, die jeweiligen Gruppenzuschreibungen mit all ihren Verpflichtungen und Begrenzungen in Frage zu stellen: Sie waren offenkundig durch eine höhere Macht begründet und somit geeignet, Sinn zu stiften.5 Sobald Juden allerdings aus dem gesellschaftlichen Ghetto heraustreten konnten, veränderten sich diese Rahmenbedingungen, zumal zeitgleich (und nicht nur jüdischerseits) in zunehmendem Maße die Überzeugungskraft der religiösen Sinnstiftungsangebote abnahm. Durch diese Prozesse, die sich im mitteleuropäischen Raum in der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) mit der Aufklärung und ihrem jüdischen Gegenstück, der Haskalah, verdichteten, wurden die überkommenen Überzeugungen zur Begründung des Judentums als Kollektiv in Frage gestellt.6 Juden und Christen wurden äußerlich immer weniger unterscheidbar, ähnelten sich also in Sprache, Kleidung, Habitus mehr und mehr; gleichzeitig spielte die überkommene Unterscheidung weiterhin eine Rolle, bedurfte nun aber neuer Erklärungen und Begründungen. So rückten mehr und mehr die Fragen nach dem spezifisch Jüdischen, nach der jüdischen Identität des Einzelnen in den Mittelpunkt: Was war es, das ihn „jüdisch“ machte, und was sollte dieses „jüdisch“ überhaupt heißen? Solche Überlegungen sind nur denkbar in einer Situation, die sich als „modern“ bezeichnen lässt. Unabhängig von der historischen Epochen3 Graetz, Geschichte XI (1870), 449. 4 Als Überblick des christlich-jüdischen Verhältnisses bis zum Beginn des 20. Jahrhundert vgl. Rengstorf/von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge. 5 Diese Prozesse sind immer wieder meisterlich von Jacob Katz gezeigt worden, vor allem in Tradition and Crisis, sowie in Exclusiveness and Tolerance, hier bes. 131–142. 6 Vgl. Katz, Out of the Ghetto; Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, 19–47. – Außerhalb des deutschsprachigen Raumes liegen die zeitlichen Schwerpunkte anders, auch wenn die Grundstruktur der Prozesse ähnlich bleibt, wie Jonathan Israel vor allem mit Blick auf England und Amsterdam gezeigt hat; vgl. European Jewry in an Age of Mercantilism.

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bezeichnung und wertneutral im Gebrauch sei „modern“ hier verstanden als eine spezifische Situation, in der sich traditionelle Bindungen abschwächen und scheinbar selbstverständliche, hierarchische Strukturen in Auflösung begriffen oder bereits gänzlich verschwunden sind; diese überkommenen Bindungen und Strukturen werden in der Moderne ersetzt durch die Notwendigkeit für den Einzelnen, in den verschiedensten Zusammenhängen zu wählen und sich zwischen verschiedenen Optionen zu entscheiden – kurz gesagt: Es handelt sich also um eine Situation, die nach Peter L. Berger unter dem „häretischen Imperativ der Moderne“ steht.7 Eine dergestalt verstandene Moderne impliziert, dass sie nicht auf die sogenannte „westliche Welt“ seit der Aufklärung beschränkt sein kann.8 Gerade ein Leben unter Bedingungen, die als diejenigen einer „Diaspora“ empfunden werden, bringt stets eine moderne Situation in dem skizzierten Sinne mit sich, unabhängig von Zeit und Ort.9 Entsprechend galten und gelten Juden als Musterbeispiel für eine solche Modernität, ist doch spätestens seit dem Untergang des herodianischen Staates 70 n. d. Z. für die überwältigende Anzahl von ihnen als Juden eine Diaspora die einzig mögliche Existenzform gewesen.10 Für Graetz hatte die Zerstörung des Zweiten Tempels durch den späteren römischen Kaiser Titus schon in dem eingangs zitierten Aufsatz von 1846 den Einschnitt markiert, mit dem die Moderne für das Judentum beginne: als eine Epoche nämlich der sich entwickelnden Wissenschaft und der Selbstreflexion.11 Diese Charakterisierung ist knapp, aber ausgesprochen treffend, da Zeiten der Verflüssigung oder gar Auflösung bestehender Strukturen vom Menschen oftmals als krisenhaft empfunden werden und eben ein gesteigertes 7 Als Klassiker eines solchen Modernitätsverständnisses vgl. Berger, Heretical Imperative; eine weitergehende Auslotung bei Wagner, Theorizing Modernity. 8 In Arbeiten zu „modernen“ Problemen wie Identität ist diese wesentlich größere Offenheit des Konzeptes bislang weitgehend ausgeblendet worden; doch ist das Wissen hierum bedeutsam, um eine unbewußte Geschichtsteleologie auf eben jene westliche Welt zu vermeiden, was letztlich nichts anderes als eine Wiederauferstehung alter christlicher Abendlandsideologien wäre. Als Beispiele für die wenigen problembewußten Ausnahmen vgl. Friese, Identität, und Wagner, Problematik der „Identität“. 9 Aus der Menge der seit den 1960er Jahren im Kontext der Postcolonial Studies stetig anwachsenden Literatur vgl. die Überblicke von Cohen, Global Diasporas, und Safran, Diasporas in Modern Societies, sowie die Beiträge in der Zeitschrift Diaspora (1991 ff). 10 In einem kulturwissenschaftlichen Sinne: „The Jews are perhaps the longest-standing case of a group whose self-definition was always a part of a multicultural context.“ Biale/ Galchinsky/ Heschel, Introduction, 8. – Damit sei nicht gesagt, daß für jeden Juden in der Geschichte ein Leben außerhalb Palästinas gleich eine „Diaspora“-Existenz gewesen ist; auch dieser Begriff ist historisch bedingt und Wandlungen unterworfen. Vgl. etwa Yerushalmi, Exil und Vertreibung; Pyka, „Israel“ und Diaspora. 11 Vgl. Graetz, Construction, 361 f (50 f/43). – Hierzu vgl. Pyka, „Israel“ und Diaspora, 38 ff, sowie unten, Kap. II 2.3.

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Bedürfnis nach Orientierung und Selbstvergewisserung hervorrufen. Selbstreflexion und Wissenschaft sind dabei zwei der wichtigsten Strategien, mit den fehlenden Gewissheiten umzugehen. Mit ihrer Hilfe sollen Antworten gegeben werden auf akut relevant gewordene „Identitätsfragen“, Fragen also nach dem Wie, dem Woher, dem Wohin.12 Die jeweilige Beantwortung dieser Fragen ermöglicht dabei, angesichts der Vielzahl von Wahlmöglichkeiten und Optionen der modernen Welt deren Komplexität zu reduzieren und sich bei der konkreten Entscheidung sinnhaft zu orientieren. Ohne einen festen, sinnstiftenden Rahmen können die jeweiligen Entscheidungen gleichwohl nicht endgültig sein, sie bleiben zumeist prekär und bedürfen immer wieder der Erneuerung, wenn nicht gar der Revision. Die von Graetz für die Epoche der jüdischen Diaspora diagnostizierte Selbstreflexion zur Erkenntnis der Hintergründe und Umstände der eigenen Entscheidungen ist daher ebenso wie Wissenschaft eine Strategie, um mittels des so gewonnenen Orientierungswissens für die beständig notwendigen Entscheidungen, für das konkrete Verhalten, „Identität“ herzustellen.13 Sie ist das Mittel, mit dessen Hilfe ein Mensch sich selbst so etwas wie Beständigkeit angesichts dieses steten Wandels verschafft und damit den Kontingenzen seiner Existenz einen Sinn verleiht. Denn das Gefühl von Identität (wörtlich „Selbigkeit“) vermag es, jenem Menschen über die von ihm immer wieder gemachten Erfahrungen von Differenz hinwegzuhelfen und ihn über die Brüche in seinem Verhalten hinwegzutäuschen, indem es ihn in seinen eigenen Augen als ein eigenständiges, aber in sich kohärentes, in seinen Entscheidungen konsistentes und sich kontinuierlich entwickelndes Ganzes erscheinen lässt: Jeder Mensch verfügt demnach über eine psychische Struktur, deren vermeintlicher Normalfall „eine einheitliche und als solche sinnhaft strukturierte Gestalt“ hat.14 Für eine wissenschaftliche Untersuchung von Identität ist es freilich unerlässlich, hinter diese Fassade der Konsistenz und Sinnhaftigkeit zu schauen. Das Ziel muss sein, den Konstruktcharakter und die Konstruktionsmechanismen von Identität zu erkennen. Mit einem solchen, die ganze Person als Einheit umfassenden Verständnis von Identität nicht deckungsgleich, sondern davon abgeleitet ist ein gleichsam qualitativer Gebrauch von „Identität“. Hiermit ist jene Form von Identität gemeint, die stets in Verbindung mit einem Attribut erscheint und die in den Geschichts- und Literaturwissenschaften weitaus öfter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Anders als bei jenem umfassenden Verständ12 Vgl. Liebsch, Identitätsfragen. 13 Als zur Zeit wohl beste deutschsprachige Einführungen in die gängigen Identitäts-Konzepte vgl. Straub, Personale Identität; ders., Identität. 14 Straub, Identität und Sinnbildung, 59. – Die Diskussionen um das Verhältnis von Identität und Individualität des Menschen können für den vorliegenden Zusammenhang außer acht bleiben; hierzu vgl. Meuter, Müssen Individuen individuell sein?

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nis handelt es sich hierbei immer um einzelne Teil-Identitäten, die nur im Plural denkbar sind (oder als Teil eines Kollektiv-Singulars). Ihre Zahl ist im Prinzip unbegrenzt. In Graetzens Fall könnten dies beispielsweise sein: der 1817 Geborene, der aus Posen Stammende, der Jude, der Philosophie-Student, der Mann, der Historiker. Sie haben, ebenso wie Identität in jenem umfassenden Sinne, die Funktion, das Gefühl von Kohärenz, Konsistenz und Kontinuität zu erzeugen. Da sie aber immer nur durch eine konkrete Abgrenzung entstehen, sind solche qualitativen Identitäten stets situativ, dementsprechend prekär und keineswegs umfassend. Dies gilt auch für den Bereich jüdischer Identität.15 Diese Unterscheidung zwischen diesen beiden Vorstellungen von Identität ist von grundlegender Bedeutung, um nicht den Verlockungen des Sinnhaften bei der Untersuchung von Identitäten zu erliegen und tatsächlich konstruierte Eigenschaften als essentiell und vermeintlich ewig wahr anzunehmen. Diese Gefahr droht insbesondere in dem Bereich kollektiver Identität, der von den ursprünglich mit Identität befassten Wissenschaftsdisziplinen wie Psychologie oder Philosophie in methodisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht bis heute sehr skeptisch betrachtet wird,16 aber gerade bei Historikern und Literaturwissenschaftlern im Zentrum des Interesses steht. Nicht ohne Grund hat mittlerweile eine Position breitere Anerkennung gewinnen können, die jedwedem Gebrauch von „Identität“ als Analyseinstrument ablehnend gegenüber steht, da es im Grunde kein sinnvolles, nicht-ideologisches Konzept dazu gebe. Der Begriff sei nichts anderes als der Idealtyp eines „Plastikwortes“, eines Begriffs also, dazu erfunden, um alles Mögliche zu bedeuten, ohne dabei mehr als eine hohltönende Phrase zu bieten. Wenn er dennoch eingesetzt werde, so handele es sich vielmehr um einen ideologischen, politisierenden Gebrauch in essentialisierender und normativer Absicht. In der Tat hat diese, insbesondere von Lutz Niethammer kenntnisreich und mit spitzer Feder vorgetragene Position allzu oft Recht mit ihren fundamentalen Einwänden gegen einen verdeckt affirmativen Gebrauch von „Identität“, in dessen Verlauf die kritische Analyse zur affirmierenden Identitätspolitik gerinnt.17 15 Als einen der wenigen Versuche, ein solches Konzept in die deutsche Forschung einzuführen, vgl. van Rahden, Situative Ethnizität, dem die vorliegende Arbeit wesentliche Anregungen verdankt. Allerdings erscheint es mir wegen der biologistischen Konnotationen im Deutschen wenig hilfreich, den amerikanischen ethnicity-Begriff einzudeutschen. 16 Vgl. etwa Straub, Personale Identität, 96–104. – Vgl. auch Assmann, Das kulturelle Gedächnis, 130–144. 17 Vgl. Niethammer, Kollektive Identität; die Bezeichnung als „Plastikwort“ geht auf den Freiburger Altgermanisten Uwe Pörksen zurück, den Niethammer ebd., 33–40, referiert. Vgl. hierzu Pyka, Geschichtswissenschaft und Identität, sowie Uffa Jensens kluge Bemerkungen in seiner Besprechung von Niethammers Werk bei H-Soz-u-Kult. – Speziell zu Arbeiten zum Bereich jüdischer Identität vgl. die kritische Analyse von Kauders, False Consciousness? – Zum Begriff der Identitätspolitik vgl. Meyer, Identitätspolitik.

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Doch gerade die Beschäftigung mit einem Menschen wie Graetz belegt, wie aufschlussreich die Untersuchung aus einer nach den Mechanismen und Vorstellungen von Identität fragenden Perspektive sein kann. Dieser nicht zuletzt ideologiekritische Ansatz gewinnt seine Berechtigung aus der Tatsache, dass Graetz in der Tat zu jenen „Identitätern“ zählt, gegen die Niethammer polemisiert. Dies kann nicht weiter wundernehmen, wird doch Graetzens Leben maßgeblich von der deutschen „Geschichtskultur“ (Wolfgang Hardtwig) des 19. Jahrhunderts geprägt. In dieser wurde der Bezug auf die Vergangenheit in einem besonderen Maße als tauglich angesehen, die Gegenwart mit einer sinnhaften Ordnung zu versehen.18 Insofern war in dieser Epoche wie wohl selten sonst eine enge Verbindung von geschichtswissenschaftlicher Arbeit und Identitätspolitik wie selbstverständlich gegeben, die nicht selten sogar religiöse Züge annehmen konnte.19 Dieses Jahrhundert, das in der Forschung auch das „lange“ in der europäischen Geschichte genannt wird, war insgesamt von einer großen Dynamik geprägt, nachdem die alte institutionelle, weltanschauliche und sogar lebensweltliche Ordnung durch Aufklärung, Französische Revolution und industrielle Dynamik nachhaltig erschüttert worden war.20 Wenngleich diese Epoche eine Zeit des Fortschrittsglaubens und des Optimismus’ war, so spielte in ihr gleichwohl (und mutmaßlicherweise kausal damit zusammenhängend) die Vergangenheit eine prägende Rolle, da doch angesichts der Erschütterungen der überkommenen Ordnung eben nur die Kenntnis um die Geschichte (im Sinne der res gestae) die Gegenwart in einen ordnenden und sinnstiftenden Zusammenhang zu rücken vermochte. Diesen Zweck erfüllten zunächst die Geschichtsphilosophie, mit fortschreitender Zeit jedoch auch die Geschichtsschreibung sowie zunehmend – mit dem Anwachsen einer entsprechend interessierten Öffentlichkeit – populäre Medien wie Historiengemälde, Geschichtsromane, Theaterstücke, Panoramen und Museen.21 Geschichte war omnipräsent, auch in einer breiten Öffentlichkeit, und dieses Bewusstsein der Geschichtlichkeit (fast) aller Dinge, welches man in einem weiten Sinne als „Historismus“ bezeichnen kann,22 betraf Christen ebenso wie Juden, und 18 Hierzu vgl. die Aufsätze in Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, hier bes. Vorwort, 8 f; Heinssen, Historismus, 21–38, sowie ausführlich unten, Kap. II 3.1. 19 Vgl. Hardtwig, Geschichtsreligion, hier bes. 1–8 (am Beispiel von Ranke und Droysen). 20 Zu diesem vielbearbeiteten Gesamtkomplex vgl. etwa den konzisen Überblick von Bauer, Das „lange“ 19. Jahrhundert. 21 Vgl. die einzelnen Beiträge in Fohrmann/Schütte/Vosskamp (Hg.), Medien der Präsenz. 22 Der vorliegenden Arbeit liegt somit ein an Ernst Troeltsch orientierter Historismusbegriff zugrunde. Allerdings muß die wichtige Einschränkung gemacht werden, daß bis ins Kaiserreich hinein der Bereich der Werte ausdrücklich von diesem allgemeinen Historisierungspostulat ausgenommen waren; erst mit der Philosophie Friedrich Nietzsches ergriff die tief greifende Historisierung und damit Relativierung auch grundsätzliche Werthaltungen; Graetz blieb

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sie ergriff akkulturierte, rationalistisch denkende Städter allenfalls früher als fromme, traditionsorientierte Menschen auf dem Lande – dauerhaft entziehen konnte sich diesem Phänomen jedoch wohl niemand. Dabei waren öffentliches Interesse an historischen Kenntnissen und ihre Popularisierung Bewegungen, die sich gegenseitig beeinflussten.23 Sinnstiftung für die Gegenwart in Form einer Schaffung kollektiver Identitäten durch Historisierung entsprach also in einem weitgehenden Maße dem Bedürfnis der europäischen Gesellschaften jener Zeit, mit dem für die Geschichte der Neuzeit besonders folgenreichen Bereich nationaler Identitäten als Zentrum: Das in der Forschung heute vielzitierte „Erfinden“ von Nationen ist ja nichts anderes als die Schaffung nationaler Identitäten durch die Konstruktion einer Geschichte.24 Doch nicht nur Nationen, auch eine Reihe anderer kollektiver Identitäten wurden so propagiert, seien es regionale, religiöse, geschlechts- oder klassenbezogene Identitäten. Die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehende jüdische Identität war insofern nur eine von vielen, wenn auch eine besonders umstrittene, da sie sich nicht eindeutig und widerspruchsfrei in eine der genannten Gruppen einordnen ließ, wie noch zu zeigen sein wird. Allgemein gilt die für die Frage nach den jeweiligen Konstruktionen bemerkenswerte Feststellung, dass die Konstrukteure solcher Identitäten zwar immer nur mit qualitativen Identitäten arbeiten, dabei jedoch stets den Anschein erwecken, als ob es sich jeweils um eine Identität des ersten genannten Typs handele – ausgedrückt in dem normativ erhobenen Anspruch auf Einheitlichkeit, Homogenität und „Ewigkeit“ (im Sinne von hohem Alter und großer Tradition). Dass solche Kollektividentitäten hingegen nichts anders sind als soziale oder eher: kommunikative Konstrukte, die eben in bestimmten Situationen und Konstellationen entstehen und daher – in Ermangelung eines bleibenden Substrates, einer real existierenden, materialen Essenz – eigentlich hochgradig prekär sind, all dies entschwindet angesichts der immensen Suggestionskraft und quasi religidavon jedoch im hier behandelten Zeitraum unberührt. Vgl. Troeltsch, Historismus, bes. 102, und Joas, Entstehung der Werte, 23 sowie 37–57; zum Hintergrund vgl. die klugen Bemerkungen von Fulda, Wissenschaft, 267–272, sowie die ausführliche Diskussion der verschiedenen Zugänge zum Historismus-Begriff bei Schlott, Mythen, hier v. a. 170–193. 23 Ausführlich zum Begriff der Popularisierung vgl. Kretschmann, Einleitung, sowie unten, Kap. II 3.2. 24 Aus der kaum zu überblickenden Menge der Nationalismus-Forschung vgl. als Überblicke Alter, Nationalismus; Langewiesche, Nation, sowie für wichtige erkenntnistheoretische Einblicke Assmann, Kulturelles Gedächtnis. Von herausragender Bedeutung für die Entwicklung dieser prosperierenden Forschungsrichtung sind in der Nachfolge von Renans Qu’est-ce qu’une nation? die mittlerweile klassischen Texte von Anderson, Erfindung der Nation; Gellner, Nationalismus, und Hobsbawm, Nationen, sowie mit besonderem Akzent auf der Rolle von Geschichtsschreibung Duara, Rescuing History, und ders., Regime of Authenticity. – Vgl. wegen des expliziten Identitätsbezugs auch Giesen, Kollektive Identität.

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ösen Aura historistischer Repräsentationsform aus dem Bewusstsein. Freilich bedarf es dieses Ausblendens zentraler Eigenschaften, um die Vorstellungen von Identität in sinnstiftender Absicht auf Kollektive zu übertragen. Möglich wurde dies, indem diese Kollektive zu organischen, geradezu personalen Entitäten umgewandelt wurden, die somit in Form des „Volkskörpers“ über einen die Person konstituierenden Leib verfügten, der überdies „Jugend“, „Reife“, „Alter“ kennen konnte und sogar einen „Volksgeist“ besaß. Auch Graetz bediente sich solcher Körper-Bilder als Metaphern für das Judentum.25 War solch ein Bild einmal etabliert, war es für die Geschichtsschreibung ein leichtes, die zu diesem Leib zugehörige „Biographie“ in Form einer großen historiographischen Meistererzählung zu liefern. So war es nur logische konsequent, dass eine solche „Volkspersönlichkeit“ auch eine individuelle Identität zugeschrieben bekam. Fatalerweise wurde dabei aber eben ein bestimmtes Ensemble qualitativer Identitäten als vermeintlich essenzhafter, „nationaler Charakter“ absolut gesetzt. Wenn sich eine solche Konstruktion durchsetzte, dann nahm sie eine soziale Leitfunktion an und vermochte dadurch ebenso sinnstiftend-einschließend wirken wie auch gewaltsam ausschließend. Der Graetzsche Geschichtsnarrativ macht hiervon keine Ausnahme. In den einschlägigen Texten des 19. Jahrhunderts ist freilich nicht explizit von „Identität“ in dem genannten Sinne die Rede. Wie viele seiner Zeitgenossen verwendet auch Graetz in seinen Werken das Wort „Identität“ lediglich in dem ursprünglichen, der Logik entstammenden Sinne, dass A=A’, etwa wenn er feststellt, dass der griechische Übersetzer Akylas und der aramäische Onkelos ein und dieselbe Person sind.26 Doch ist dies lediglich ein Unterschied von Worten.27 Die Denkfigur kollektiver Identitäten ist Graetz durchaus nicht fremd; die oben als Merkmale von „Identität“ charakterisierten sinnstiftenden Eigenschaften fasst er nämlich in dem Begriff des „Wesens“ zusammen, den er mitunter auch durch „Charakter“ oder aber auch „Unwesen“ ersetzt.28 Gleichwohl wird deutlich werden, dass Graetz selbst 25 Vgl. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe, 108 ff, sowie unten, die Kap. II 2.3 und II 3.4. 26 Vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), 509 f; so auch schon in Gnosticismus, 45 f und 122. 27 Insofern ist es in der Tat „altfränkisch“ zu nennen, wenn Niethammer implizit fordert, daß nur in solchen Fällen über Identitätskonstruktionen gesprochen werden dürfe, wenn der in der entsprechenden Arbeit behandelte Mensch seinerseits von „Identität“ im heutigen Wortsinne gesprochen hat. Sein Einwand ist umso weniger triftig, als er selbst anhand von Gottfried Kellers Grünem Heinrich nachweist, daß es sogar die explizite Rede von der „Identität der Nation“ bereits in den 1830er Jahren gegeben hat; eine entsprechende identitäts-orientierte Analyse zwingt also nicht notwendigerweise einer vergangenen Epoche ein ihr wesensfremdes, heutiges Konzept auf. Vgl. Kollektive Identität, 72, Anm. 2, sowie 66–70. 28 Vgl. beispielsweise Graetz, Geschichte IV (1853), 5 („Wesen“); XI (1870), 342 („Charakter“), sowie X (1868), 167 („Unwesen“).

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davon ausging, dass es eine einzige, bestimmbare Identität des Judentums gebe, der wiederum eine beständige, unwandelbare Idee zugrunde liege. Diese essentialistische Vorstellung wird besser durch den Quellenbegriff veranschaulicht als durch denjenigen, der das der Analyse zugrunde liegende Theorieinstrumentarium kennzeichnet. Daher erlaubt sich der Verfasser, im vorliegenden Text den Begriff „Wesen“ synonym mit „kollektiver Identität“ zu gebrauchen. Allerdings sei der Konstruktcharakter des Konzepts gegen seinen essentialisierenden Charme nachdrücklich betont. Es geschieht nicht selten in der Geschichte, dass die Rezeption eines Autors ganz andere Verläufe nimmt, als dieser selbst wohl erwartet hätte. Graetz ist hierfür ein gutes Beispiel. Was dabei zunächst kaum für Erstaunen sorgen mag, ist die nahezu ausschließliche Konzentration auf seine Teil-Identitäten als Jude sowie als Historiker. Es sind diese beiden Teil-Identitäten seiner Person, die – wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen – das GraetzBild weitgehend dominierten. Dass es sich hierbei gleichwohl um einen Ausschnitt aus der Vielfältigkeit eines Lebens handeln kann, dem wurde nur selten Ausdruck verliehen.29 Grundsätzlich ist gegen eine solche Konzentration nichts zu sagen. Doch wird sie dadurch in ihrem Erkenntniswert erheblich eingeschränkt, dass auch die Teil-Identität des Historikers allzu oft ausschließlich unter den Auspizien von Graetz als Juden wahrgenommen wurde: Kaum eine Untersuchung machte sich je die Mühe, ihr Objekt, das nur selten außerhalb eines deutschsprachigen Umfelds gelebt hatte und die meiste Zeit seines Lebens im preußischen Breslau ansässig gewesen war, innerhalb der allgemeinen Geschichte und Geistesgeschichte zu verorten. Dies hängt wohl auch mit der spezifischen Geschichte und Gegenwart der Wissenschaftsdisziplin Jüdische Geschichte zusammen.30 Ungeachtet der Tatsache, dass Graetzens Geschichte der Juden als das „wichtigste intellektuelle Ereignis“ in der deutschjüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann,31 ist der erste professionelle jüdische Historiker des Judentums von der Geschichte der Geschichtswissenschaft vollständig ignoriert worden – ein Schicksal, das er allerdings mit der gesamten jüdischen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts teilt.32 Ein ähnliches 29 Als einen raren Fall vgl. Bloch, der auf Graetzens politisches Engagement im Vormärz und während der Revolution von 1848/49 verwies; Graetz (Sonderdruck), VII (das Vorwort mit diesem Hinweis erschien ausschließlich in einem Sonderdruck, in den anderen Ausgaben des Textes fehlt es). – Allgemeiner bleibt Meisl, Graetz, 4. 30 Zum diesbezüglichen state of the art vgl. Meyer, Jüdische Identität, 344 und 347; Brenner, Jüdische Geschichte; Gotzmann, Entwicklungen, 105–110; Myers, Einleitung, 8; Brenner u. a., Einleitung, 11 f; Brenner, Propheten, passim 31 Volkov, Erfindung, 613. 32 Vgl. Brenner u. a., Einleitung, 10 f.

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Schweigen lässt sich für die allgemeine deutsche Geschichtswissenschaft diagnostizieren.33 Insofern ist es kaum mehr verwunderlich, dass selbst das vielleicht wichtigste deutsche biographische Nachschlagewerk, die NDB, Heinrich Graetz lediglich mit wenigen dürren Zeilen bedenkt – und dies auch nur im Kleingedruckten zu dem seinem Sohn Leo gewidmeten Eintrag.34 Innerhalb der jüdischen Geschichtswissenschaft sieht die Situation deutlich anders aus, wenig verwunderlich angesichts der immensen Bedeutung, die Graetz für die Ausbildung der Disziplin und für die Verbreitung eines bestimmten Bildes jüdischer Geschichte hatte. Entsprechend mochte sich kaum ein Autor der Bewunderung für die reine Arbeits- und Kompositionsleistung verweigern, die ein so umfangreiches Œuvre darstellt. Doch brachte wohl gerade dieser Rang eines ehrwürdigen Altvorderen eine Art „Abstieg in den Ruhm“ (Jürgen Kesting) mit sich: Als Übervater jüdischer Geschichtsschreibung wurde Graetz im späten 19. Jahrhundert von seinen unmittelbaren Schülern zunächst verehrt und dann zumindest noch höflich geachtet; mehr und mehr aber wurde sein Name zur Projektionsfläche für die verschiedensten, einander mitunter gar widersprechenden Ansichten. In der Auseinandersetzung mit den Chimären, die als seine Positionen dargestellt wurden, war es dann für den jeweiligen Autor ein Leichtes, eigene, gegenwartsbezogene Positionen zu vertreten. Indem die Nachgeborenen ihn so wahlweise zum vorurteilsbeladenen Historiker ohne gründliche Ausbildung, zum Häretiker, zum Proto-Zionisten oder gar zum Talmud-Juden machten, schrieben sie ihm ihrerseits eine Rolle als soziales Leit- oder eher: als Abschreck-Bild zu und verliehen seinem Namen dadurch lange Zeit identitätsstiftende Relevanz.35 Diese Rolle war ihm freilich nicht sofort zugewachsen. Abgesehen von einem ausführlicheren Überblick über seinen Lebenslauf von seinem Schü33 Wenn überhaupt, dann findet Graetz im Kontext des Streits um Heinrich von Treitschkes Aufsatz Unsere Aussichten Erwähnung, dessen Auslöser seine Geschichte gewesen war. Der Streit, in dessen Anfangsphase Graetz der Hauptkontrahent von Treitschke war, erschütterte 1879–81 das Kaiserreich und ist unter dem irreführenden Namen „Berliner Antisemitismusstreit“ in die Geschichte eingegangen; vgl. etwa Berding, Antisemitismus, 115; Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 928. Nicht selten findet Graetz jedoch auch hier keine Erwähnung; dies gilt selbst für Nipperdey, Geschichte III, 297. – Zur Problematik jener Bezeichnung für den Treitschkestreit vgl. Sieg, Bekenntnis, 613 mit Anm. 14, sowie Benz, Vorwort. 34 „V[ater] Heinrich [Graetz] jüd. Exeget u. Historiker. Lehrer am jüd. Theol. Seminar in B., sein oft aufgelegtes, in mehrere Sprachen übersetztes Hauptwerk ‚Gesch. d. Juden‘ (bis 1848) (1853–76, Neuausg. 1923, Volksausg. 1906, 91922) wurde wiederholt heftig angegriffen, aber auch verteidigt […]“. Gerlach s. v. Graetz, Leo (NDB). 35 So schlagwortartig zusammengefaßt die Rezeptionsgeschichte von Graetzens Geschichtsphilosophie; vgl. Pyka, Identities of Heinrich Graetz.

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ler und Freund Philipp Bloch36 dauerte es eine ganze Weile, bis eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Graetz einsetzte. Dies erfolgte 1917, als mitten im Ersten Weltkrieg das Zentenarium von Graetzens Geburt mit zwei größeren Publikationen begangen wurde. Zunächst war dies eine Festschrift, die unter der Ägide seines Nachfolgers Markus Brann im Umfeld des Jüdisch-theologischen Seminars in Breslau entstanden war und in der der Herausgeber einiges wertvolle biographische Material zusammengestellt hatte; doch erschöpfte sich der Erkenntnisgewinn des Bandes hierin weitgehend.37 Ungleich bedeutender war die zweite Publikation dieses Jahres, nämlich Josef Meisls gleichfalls materialreiche Studie zu Leben und Werk von Graetz. Sie sollte für den Rest des Jahrhunderts die einzige Monographie bleiben. Meisl, Schwiegersohn von Graetzens hebräischsprachigem Übersetzer, portraitierte Graetz als einen längst überholten und wissenschaftlich vergessenswerten Historiker, der aber seinen Ehrenplatz in der jüdischen Geschichte als „Jude schlechtweg“ oder auch als „Nationaljude“ sicher habe.38 Damit behandelte der spätere Gründer der Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem als erster die vermeintlich nationalen Aspekte im Graetzschen Œuvre, in denen er das Eigentliche von dessen Werk sah. Allerdings war Meisl als Generalsekretär der Berliner jüdischen Gemeinde in seiner „nationalen“ Lesart nicht blind für die lebensweltlichen Realitäten eines deutschjüdischen Professorendaseins und wollte daher auf Graetz „mutatis mudandis“ die Formel angewandt wissen, „daß er in jüdischen Dingen jüdisch (national), in deutschen deutsch (national)“ gedacht habe.39 Ungeachtet solcher Differenzierungsversuche muss Meisls Deutung freilich allein schon deswegen fragwürdig erscheinen, da sie jedwede Veränderung in Konzepten wie „Nation“ gänzlich außer acht ließ und sie ausschließlich mit den Augen des Jahres 1917 las. Des ungeachtet kann das Buch für sich in Anspruch nehmen, einen zwar knappen, aber in vielen Teilen immer noch gültigen Überblick über Graetzens Leben zu geben. Daran hat auch die vor wenigen Jahren auf Hebräisch erschienene GraetzLebensbeschreibung von Reuven Michael nur wenig geändert. Wenngleich 36 Zuerst erschienen in englischer Übersetzung als Einleitung zur amerikanischen Ausgabe der Geschichte der Juden: Bloch, Graetz (engl.), später wurde auch das deutsche Original mit einigen ergänzenden Noten veröffentlicht als Fortsetzungsaufsatz in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums: Bloch, Graetz (MGWJ); 1904 kam dieser Text schließlich mit einem eigenen Vorwort als Sonderdruck heraus: Graetz (Sonderdruck), der seitdem schließlich in leicht gekürzter Fassung Bd. I der Geschichte vorangestellt ist: Bloch, Biographie. 37 Vgl. Brann (Hg.), Heinrich Graetz. – Hierin enthalten sind u. a. Brann, Graetz; Güdemann, Graetz; Cohen, Graetzens Philosophie; Bloch, Graetzens Schema; sowie Brann, Verzeichnis. 38 Meisl, Graetz, 36–39, das Zitat 95; ähnlich auch als Schlusswort 118. 39 Ebd., 97.

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Michael sich große Verdienste vor allem durch die Herausgabe des Graetzschen Tagebuches erworben hat, so bleibt sein wissenschaftlicher Ertrag insgesamt eher bescheiden. Der aus Schlesien stammende und heute in Israel lebende Lehrer vermochte weder in seiner biographischen Annäherung noch in einer seiner weiteren Äußerungen zu Graetz mehr zu geben als eine zuverlässige Zusammenstellung des vorhandenen Materials zum Werk des großen Breslauer Historikers. Interpretatorisch fällt er sogar hinter Meisel zurück, indem er zwar den jüdischen Charakter von Graetzens Schaffen betont, dieses jedoch in keiner Weise in seine zeitgenössischen Kontexte einzubinden weiß.40 Ungleich interessanter gestaltet sich hingegen die wohl wichtigste Graetz-Interpretation zionistischer Provenienz. 1969 gab Shmuel Ettinger eine Sammlung mit Graetzens Schriften in hebräischer Übersetzung heraus, worunter sich neben gedruckten Quellen auch Auszüge aus dem Tagebuch und den Briefen befanden. In seinem einleitenden Aufsatz knüpfte der bedeutende israelische Historiker an Meisls Interpretationslinie an, spitzte sie jedoch dahingehend zu, dass er Graetz zu einem der ersten „Proto-Zionisten“ stilisierte: Voller Widerwillen gegenüber deutscher Romantik und deutschem Antisemitismus habe er das Ziel des Judentums in dessen idealistischer Essenz in einem „Wiedererstehen der jüdischen Nation in einem Staate“ gesehen, wie Ettinger anhand der Construction zu zeigen versuchte.41 Rund fünzig Jahre vor dem ersten Zionistenkongress verfasst, wurde ihm Graetzens idealistisch geprägter geschichtsphilosophischer Versuch somit zu einem der Gründungstexte der zionistischen Bewegung und zugleich zu einem Beleg dafür, dass Graetz eine absolut verstandene jüdische Identität gehabt habe, die zu seiner deutschen Lebenswelt nur im Gegensatz gestanden haben konnte. Wenngleich Ismar Schorsch ebenfalls im Schluss der Construction der jüdischen Geschichte einen proto-zionistischen Zug erkennen wollte, so wählte er dennoch einen gänzlich anderen Zugang zu Graetzens Werk und seinem Konzept vom „Wesen“ des Judentums. Der Historiker am New Yorker Jewish Theological Seminary stellte 1975 seinerseits eine Auswahl von Graetz-Schriften in Übersetzung zusammen und versah sie mit einer umfassenden Einleitung, die bis heute den Stand der Forschung markiert. Schorsch gelang es hierin, Graetz auf beeindruckende Weise im Kontext der Wissenschaft des Judentums wie der innerjüdischen Auseinandersetzungen um die 40 Überdies verzichtet er in der Lebensbeschreibung weitestgehend auf die Heranziehung von weiteren Quellen und von Sekundärliteratur; vgl. Michael, Historian. – Vgl. auch ders., Graetz and Hess; ders.: Historiography, 306–365; sowie ders., Vorwort (Geschichte). 41 Ettinger, Jahadut, 26–29 und 18, Zitat 18. – Ettingers Text ist zwar nie übersetzt worden; doch fanden seine Ideen durch Shlomo Avineris vielgelesenes Making of Modern Zionism weite Verbreitung; vgl. (in der deutschen Übersetzung) Profile, 39–51.

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„richtige“ Gestalt des Judentums in der modernen Welt zu verorten. Dabei war er stets bemüht, Graetzens jeweilige Ansichten so weit wie möglich von der jüdischen Reformbewegung entfernt zu positionieren, wodurch er freilich die große Bedeutung zeigen konnte, die insbesondere der Rivalität zwischen Graetz und Abraham Geiger bei der Ausbildung ihrer jeweiligen Haltungen zukam.42 Darüber hinaus war Schorsch der erste, der die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung zwischen Juden und Judentum für das Graetzsche Geschichtswerk erkannte.43 Allerdings verzichtete er darauf, Graetzens Konstruktionsprinzipien einer jüdischen Kollektividentität einer näheren Untersuchung zu unterziehen und beließ es bei einem eher pauschalen Ideologie-Vorwurf, wie er bereits im Titel zum Ausdruck kam. Damit wohl zusammenhängend, behandelte er die jeweiligen Bezüge zur nichtjüdischen Wissenschafts- und Lebenswelt kaum (und wenn, dann nur schlagwortartig): Seiner Meinung nach war sich Graetz zeit seines Lebens bewusst gewesen, „im Exil“ zu leben.44 Angesichts dieser deutlichen Akzentsetzung innerhalb der jüdischen Geschichtsforschung im engeren Sinne erweist sich eine Studie zum Graetzschen Werk als die vielleicht interessanteste, deren Verfasser sich nicht hauptamtlich mit der jüdischen Geschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Allein der Emigrant und langjährige Liverpooler Mediävist Hans Liebeschütz hatte 1967 vor einem weiten geistesgeschichtlichen Horizont Graetzens Denken analysiert und einzuordnen versucht.45 Wenn diese eher überblickartige Arbeit heute gleichwohl nicht mehr recht zu genügen vermag, so hängt dies vor allem mit ihrem Mangel an Quellen zusammen, da sie noch vor der Publikation des Graetzschen Tagebuches veröffentlicht worden ist. Daher erscheinen manche von Liebeschützens Urteilen nicht mehr haltbar. Des weiteren interessierte ihn auf Grund seiner Fragestellung Graetzens Konzeption von jüdischer Identität nur am Rande, wichtiger waren ihm die Zusammenhänge des Graetzschen Œuvre nicht nur mit der Wissenschaft des Judentums, sondern auch mit der Hegelschen Philosophie, der Tübinger Schule um Ferdinand Christian Baur und dem deutschen Historismus. Für diese Fragen hat sein Graetz gewidmetes Teilkapitel Wege gewiesen, die bislang kaum weiter verfolgt worden sind. Wenn sie denn überhaupt thematisiert wurden, so geschah dies zumeist auf eine polemisch zu nennende Weise. Es scheint mit der immensen Bedeutung zusammenzuhängen, die Graetz für die jüdische Geschichtsschreibung auch über das 19. Jahrhunderts hinaus hatte, dass er oft als das Schibboleth 42 Vgl. Schorsch, Ideology and History, hier zu Graetzens vermeintlichem Proto-Zionismus 285. 43 Vgl. ders., Historical Consciousness, 192 f. 44 Vgl. ders., Ideology and History, 292. 45 Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild, 132–156.

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einer vergangenen Epoche herhalten musste; dadurch ließ er sich für die jeweilige Gegenwart in identitätsstiftender Weise als etwas nicht mehr Zeitgemäßes einsetzen, indem man ihm im Namen der Wissenschaftlichkeit die entsprechende Seriosität absprach. Dazu dienten nicht zuletzt Vergleiche mit anderen Historikern, wobei auffälligerweise seine direkten Zeit- und Altersgenossen als Maßstab vermieden wurden. Einmal aus dem geistesgeschichtlichen Kontext seiner Zeit herausgerissen, war es ein leichtes, ihn etwa als ideologischen, aber verspäteten Vertreter der Aufklärungshistorie anzusehen.46 Eine andere Strategie maß ihn an den Paradigmen des frühen 20. Jahrhunderts und vermisste folglich wirtschafts- und sozialhistorische Fragestellungen.47 Angesichts solcher Ausblendungen dessen, was zu seiner Zeit für einen Historiker des Judentums überhaupt möglich gewesen wäre, lassen sich tatsächlich erkenntnisfördernde Aussagen über Graetz, sein Werk oder seine Konzeptionen vom Wesen des Judentums auf jene Weise nur selten gewinnen.48 Dies wird besonders deutlich bei Vergleichen mit einem anderen Historiker, dessen Name zu einem historiographischen Epochensignum geworden ist: Leopold von Ranke. Traditionsbildend hierfür war niemand Geringeres als Salo Baron, der später seinerseits mit einer der großen Meistererzählung der jüdischen Geschichte hervortreten sollte. Im Frühjahr 1918 hatte er, damals gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt, in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums eine methodologische Untersuchung zu Graetzens Geschichtsschreibung veröffentlicht. Dieser Aufsatz kann als einer der wirkungsmächtigsten Texte in der gesamten Rezeptionsge46 So etwa bei Jitzchak Baer, der bei Graetz eine rationalistische Grundhaltung im Sinne des 18. Jahrhunderts diagnostizierte: Le-birur ha-matzav, 33–36, v. a. 35. 47 Vgl. Dubnow, Weltgeschichte I, XXX f; Baron s. v. Graetz (dEJ), Sp. 648. – So berechtigt eine solche Abgrenzung für die direkten Nachfolger ist, so befremdlich ist ihre bloße Wiederholung bei späteren wie etwa bei Meyer, Introduction, 31. Diese Kritik ignoriert, daß derlei Fragestellungen überhaupt erst in Graetzens letzten Lebensjahren in die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft allgemein gedrungen sind. Anscheinend muß tatsächlich an die Banalität erinnert werden, daß Graetz bereits in dem Jahr gestorben ist, als der so genannte Lamprecht-Streit gerade ausbrach. 48 Bezeichnende Beispiele für die Beliebigkeit solcher Vergleiche liefert ausgerechnet der bedeutende Historiker des Reformjudentums, Michael A. Meyer; so konnte er in einem Aufsatz zur Entstehung der jüdischen Geschichtsschreibung einerseits feststellen: „[…] neither Graetz’s focus on the collective soul of the Jewish people nor his greater appreciation for the breadth of Jewish creativity made him a romantic or an historicist.“ (Emergence, 174); andererseits ist Graetz für Meyer zusammen mit Heinrich von Treitschke gleichwohl ein Vertreter einer „‚romantischen‘“ Geschichtsschreibung gewesen, hier nun um beider Ähnlichkeiten in ihren scheinbar rassistischen Tendenzen zu behaupten (Jüdische Wissenschaft, 12; vgl. hierzu unten, Kap. II 3.4). In einem eigenen Aufsatz hatte Meyer die große Ähnlichkeit beider Historiker betont und methodologisch im Wesentlichen festgestellt, daß für keinen von beiden Geschichtsschreibung eine antiquarische Angelegenheit gewesen war; vgl. Graetz and Treitschke.

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schichte von Graetz gelten, weshalb er zum Abschluss dieses kurzen Literaturüberblicks etwas eingehender beleuchtet werden soll. Baron verglich hier den jüdischen Historiker aus Breslau mit dem Berliner Altmeister. Allerdings hatte er es dabei weniger auf Graetz abgesehen als vielmehr auf dessen Schüler und Nachfolger – und damit auf seine eigenen Zeitgenossen: Im Vergleich zu Graetz hätte die „spätere jüdische Historiographie“ Baron zufolge „schon längst“ über manche Standpunkte des Meisters „hinausgeschritten sein“ sollen. Dies lasse sich jedoch nur „in einem bisher kaum genügenden Maße wahrnehmen“.49 Angesichts des hier gleichsam diagnostizierten Neograetzianismus ging der junge Nachwuchshistoriker deutlich über sein angekündigtes Thema hinaus und plädierte selbstbewusst für eine „Historiographie der Zukunft“.50 Diese Programmatik wurde in der Rezeption des Aufsatzes ebenso übersehen wie Barons noch recht abgewogenes Ranke-Bild. In der Folge wurde Ranke immer wieder als Vergleichsmaßstab für Graetz herangezogen, wurde dafür jedoch mehr und mehr auf das bloße Schlagwort eines Objektivitätspostulats reduziert, das nur allzu einfach gegen den flamboyanten, meinungsfreudigen Stil von Graetz ausgespielt werden konnte.51 Ignoriert wurde dabei freilich die Tatsache, dass sich „Objektivität“ schon bei Ranke selbst als weit weniger eindeutig dargestellt hatte, als es diese schlichte Formel nahelegte.52 Mehr noch, eine solche einseitige, die idealistische Grundierung auch des rankeanischen Historismus ausblendende Sichtweise begibt sich der Möglichkeit, die Intentionen und Konstruktionsmechanismen zu erkennen, die Geschichtsschreibung legitimerweise zugrunde liegen – und damit zu einer näheren Kenntnis dessen zu kommen, welche Ideen auch Graetzens Narrativ prägen. Darüber hinaus ignoriert ein solches Messen von Graetz an dem mehr als zwanzig Jahre älteren preußischen Staatshistoriographen Aspekte wie Generationenzugehörigkeit, biographische Verortung sowie die Entwicklung der Geschichtswissenschaft seit Rankes frühen Schriften; für eine fundierte Einordnung sollten Verweise auf die Geschichtsschreibung etwa Heinrich von Sybels oder Theodor Mommsens weitaus näher liegen, denen Graetz nicht nur biographisch und historiographisch wesentlich näher stand, sondern auch als Konstrukteur kollektiver Identität durch Geschichtsschreibung. 49 Alle vier Zitate Baron, Graetzens Geschichtsschreibung, 11. 50 Baron, Graetzens Geschichtsschreibung, 9. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass in dieser zeitkritischen Programmatik die eigentliche Motivation des Aufsatzes zu suchen ist. 51 So etwa bei Meyer, Emergence, 174, und implizit bei dems., Jüdische Identität, 345; auch Liebeschütz übernahm die Idee zu solch einem Vergleich, führte ihn aber differenzierter und nicht zuletzt anhand von Rankes Schriften aus; entsprechend kam er zu deutlich anderen Ergebnissen. Vgl. Judentum, 136 f. 52 Vgl. Nipperdey, Problem der Objektivität, sowie Schlott, Mythen, 200 f, Anm. 153.

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In ebendieser Hinsicht ist Barons Aufsatz noch bedeutsamer geworden, als dies der Ranke-Vergleich allein bewirkt hätte. Hier nämlich präsentierte er eine Deutung von immenser Wirkungsmacht, die bis heute die geläufige Kurzformel für Graetzens Konzept von jüdischer Geschichte ist – diese sei demzufolge auf eine bloße „Leidens- und Gelehrtengeschichte“ reduziert. Baron war an der Rezeptionsgeschichte seines Schlagwortes nicht ganz unbeteiligt: Zwar war auch dieses in erster Linie gegen Barons Zeitgenossen und ihre ungenügende Quellenauswahl gerichtet gewesen.53 Doch sollte er dreizehn Jahre später den ursprünglichen Kontext, der der Formel den Charakter eines Kampfbegriffs gegeben hatte, dahingehend verwischen, dass er sie in seinem Graetz gewidmeten Eintrag für die deutschsprachige Encyclopaedia Judaica wiederverwandte und sie (fälschlich) als Original-Zitat kennzeichnete.54 Graetz war zwar tatsächlich der Schöpfer der Formulierung gewesen – aber nur zu dem Zweck, um sich in aller Schärfe von einem derartigen Konzept jüdischer Geschichte zu distanzieren.55 Es mutet als geradezu bittere Ironie an, dass sich Baron später von seinem eigenen Urteil deutlich distanzierte.56 Doch half dies wenig: Ungeachtet aller Widersprüche ist jene griffige Formel bis heute die Charakterisierung schlechthin für Graetzens Konzept vom Wesen jüdischer Geschichte geblieben.57 Ausgehend von den genannten Grundlagen fragt nun die vorliegende Arbeit nach Graetzens Konzeption von jüdischer Identität, ihren Ursprüngen, ihren Entwicklungen und ihren Darstellungsstrategien in seinem Geschichtswerk. Dabei steht die Entwicklung seines Denkens im Mittelpunkt 53 Baron, Graetzens Geschichtsschreibung, 11. – Nicht nur der Kontext legt es nahe, eine solche Stoßrichtung anzunehmen, sondern darüber hinaus auch die Wiederbelebung von „Leiden“ als einem (auf Leopold Zunz und Zacharias Frankel aufbauenden) Geschichtskonzept im Zuge der zahlreichen, seit den späten 1870er Jahren aufblühenden Lokal- und Regionalstudien zur jüdischen Geschichte; vgl. Ehrenfreund, Deutsch-jüdische Wissenschaft, 55. 54 Vgl. Baron s. v. Graetz, Heinrich (dEJ), Sp. 648. 55 Dies gilt sowohl für das direkte Zitat in Graetz, Geschichte XI (1870), 456, wo er mit dieser Formulierung die Geschichtsschreibung von Isaak Markus Jost charakterisiert, als auch für die Einleitung zu Band V, in der die Themen „Leiden“ und „Literatur“ zumindest anklingen; vgl. Geschichte V (1860), 3 f. – Nichtsdestoweniger wollte Baron sein Zitat in ebendieser Einleitung gefunden haben. Da sich in der überarbeiteten amerikanischen Fassung seines Aufsatzes der Zusatz findet, daß es sich dabei um die „oft-quoted Introduction“ handele, erscheint eine Verwechselung mit der Einleitung zu Band IV von Graetzens Geschichte vorzuliegen; vgl. Baron, Biographical Sketch, 448, Anm. 15. – Zu Graetzens Umgang mit den Themen „Leiden“ und „Gelehrte“ in der jüdischen Geschichte siehe unten, Kap. II 3.4. 56 „To be sure, the accusation frequently heard that Graetz, for example, had placed exclusive stress upon the biographies of rabbis and the story of anti-Jewish persecutions is clearly contradicted by his own programmatic formulation of the ‚national character‘ of the entire history of the post-talmudic period.“ Baron, Emphases in Jewish History [1939], 76. 57 In jüngster Zeit etwa bei Brenner, Geschichte als Politik, 62; Kilcher s. v. Graetz (in Kilcher), 254; ähnlich auch Brämer, Rabbinische Gelehrte, 36.

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der Untersuchung: Ausgehend von dem Moment der Bewusstwerdung des Problems, eine Identität gleichsam erarbeiten zu müssen, sollen seine hiervon ausgehenden Überlegungen und die beständige Suche nach Antwort, nach einer idealerweise eindeutigen Lösung dieses Problems verfolgt werden. Nach Möglichkeit flankiert von weiteren zeitgenössischen Zeugnissen wie Zeitungsnotizen, Rezensionen, Erinnerungen und anderen Äußerungen gilt es zu diesem Zweck vor allem, Graetzens eigene erhaltene Äußerungen zu befragen. Für eine solche Fragestellung erweist sich die Quellensituation allerdings als ausgesprochen heterogen. Da ist zunächst der Bereich seiner Geschichtsschreibung, für den geradezu von einem embarras de richesses zu sprechen ist, da nicht nur die Geschichte der Juden mit ihren dreizehn Teilbänden und verschiedenen Auflagen, sondern darüber hinaus auch eine Vielzahl von Aufsätzen und Miszellen für reichhaltiges Material sorgen,58 so dass es mitunter sogar möglich ist, einzelne Entwicklungsstränge in seinem Denken aufzuzeigen, wie sie aus einem einzelnen, isolierten Text nicht deutlich würden. Der situative Charakter von qualitativen Identitäten (wie beispielsweise einer jüdischen Teil-Identität) bringt es freilich mit sich, dass es wünschenswert wäre, die aus dem Werk in seinen verschiedenen Facetten gewonnene Einsicht in Graetzens Bild und Konstruktionsweise vom Wesen des Judentums auch mit nicht-wissenschaftlichen Äußerungen aus seiner Feder zu vergleichen. Hier jedoch stellt sich die Quellenlage ungleich schlechter dar. Ein persönlicher Nachlass von Graetz existiert nicht mehr. Seine umfangreiche Korrespondenz-Sammlung soll Graetz anläßlich eines Umzuges eigenhändig vernichtet haben.59 Das Netz seiner persönlichen Kontakte lässt sich also nicht mehr rekonstruieren. Von Graetz selbst sind in Reuven Michaels wichtiger Ausgabe von Ego-Dokumenten zumindest 317 Briefe und Postkarten abgedruckt, die allerdings nur einen geringen Bruchteil der ursprünglichen Zahl ausmachen.60 Zwar konnten für die vorliegende Studie noch einige wenige weitere Briefe gefunden werden, doch reicht dieses Material nicht aus, um wenigstens einen repräsentativen Ausschnitt zu bieten. Vor allem fehlen na58 Für einen Überblick vgl. das Werkverzeichnis von Markus Brann mit seinen 379 Einträgen aus Graetzens Lebenszeit (ohne Übersetzungen). 59 Mitteilung von Graetzens Tochter Flora Graetz-Cohn an Theodor Zlocisti; vgl. Silberner, Briefe, 11. – Über die Hintergründe läßt sich nur spekulieren; allerdings sei an die durchaus vergleichbaren Forderungen (wenn auch weniger radikalen Taten) von Theodor Mommsen erinnert, die er in der sogenannten Heringsdorfer Testamentsklausel von 1899 erhoben hat: „Meine Bücher mag man lesen, solange sie eben dauern; was ich gewesen bin, oder hätte sein sollen, geht die Leute nichts an.“ Zit. nach dem Abdruck in Heuss, Mommsen, 282. Zu dem dahinterstehenden Selbstverständnis vgl. Gall, „…ich wünschte ein Bürger zu sein“. 60 Nach Auskunft seines ältesten Sohnes soll Graetz bis zu zwanzig Briefe am Tag verfaßt haben; vgl. Leo Graetz, Aus dem Leben, 758. – Zum Begriff der Ego-Dokumente vgl. Schulze, Ego-Dokumente.

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hezu sämtliche Korrespondenzen mit Nichtjuden. Selbst an Oskar Leiner, den langjährigen Verleger der Geschichte, konnten nur drei Briefe gefunden werden, die für die vorliegende Fragestellung jedoch keinen Erkenntniswert besitzen. Von entsprechenden wissenschaftlichen Kontakten, selbst solchen, denen Graetz nahestand oder die er gar als Freunde bezeichnete, hat sich nichts erhalten.61 Angesichts dieser eher unbefriedigenden Quellensituation für die wissenschaftlich aktivste Zeit in Graetzens Leben gewinnen die früheren Jahre umso größeres Gewicht. Hier wiederum stellt sich die Quellensituation wenigstens für Graetzens Innenleben ungleich besser dar, ungeachtet der Tatsache, dass seine Bibliothek mit den eigenen Handschriften nach seinem Tod nicht geschlossen an die Bibliothek seiner wichtigsten Wirkungsstätte, das Jüdisch-theologische Seminar in Breslau, gegeben, sondern verkauft und in alle Winde zerstreut wurde.62 Davon ausgenommen war nur ein Konvolut mit Tagebüchern aus seinen Jugendjahren und der Erwachsenenzeit, das Graetz in den ersten Jahren nach Eheschließung und erfolgreicher Etablierung zu führen aufhörte. Dieses Konvolut war im Familienbesitz verblieben und wurde schon Bloch für seinen biographischen Abriss zur Verfügung gestellt. Allerdings konnte wohl schon Bloch diese Quelle nur in der redaktionierten, teilweise verstümmelten Form benutzen, in der sie in den 1960er Jahren nach Jerusalem gelangt ist.63 Seit 1977 ist sie in einer um rund ein Viertel des Textes gekürzten Ausgabe gedruckt zugänglich.64 Bei der Herausgabe waltete jedoch bei Transkription und Kommentierung nicht immer die wissenschaftliche Sorgfalt im wünschenswerten Maße; daher wurden fallweise auch die originalen Handschriften sowie die von Markus Brann herausgegebenen gedruckten Exzerpte herangezogen.65 Des ungeach61 Genannt seien beispielsweise der Rechtshistoriker Otto Stobbe, der Theologe Gustav Volkmar oder der spanische Pater Fidel Fita, dessen Vorschlag Graetz 1888 sogar als Mitglied in die Spanische Akademie der Wissenschaften brachte. Zu ihrer Beziehung zu dem Breslauer Historiker vgl. den Brief von Graetz an Samuel Kristeller vom 16.10.1885; Graetz, TB, Nr. 236, 406 f, hier 407 (zu Stobbe), sowie Geschichte IV3 (1893), 407 (Volkmar), und Geschichte VIII3 (1890), VIII (Fita). 62 So Graetzens Sohn Paul am 26.9.1917 an Markus Brann. JNUL Jerusalem Ms. Var. 308, File 480. 63 Bloch selbst deutet diesen Zustand nur sehr vorsichtig an; vgl. Bloch, Graetz (MGWJ), 33, Anm. 1; ders., Graetz (Sonderdruck), VI. – Eine genaue Beschreibung des überlieferten Tagebuchs findet sich erst bei Brann, Heinrich Graetz, 6, Anm. 1; abgesehen von einigen leichteren Beschädigungen durch Brand scheint der heutige Zustand der Hefte dem zur Zeit von Brann zu entsprechen; vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 238, sowie Michael, Einführung, XII. 64 Vgl. Graetz, TB. 65 Vgl. JNUL MS. var. 263; 1/2, sowie Brann, Lehr- und Wanderjahre. Brann gibt leider nur ausführliche Exzerpte wieder, deren vollständiger Abdruck überdies durch seinen Tod vereitelt worden ist; seine Kommentierungen des Textes sowie die Erläuterungen, etwa zu vielen

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tet handelt es sich bei Graetzens Tagebuch um eine selten wertvolle Quelle,66 die tiefe Einblicke in die Gedankenwelt eines heranwachsenden Wissenschaftlers und Identitätspolitikers erlaubt. Erstaunlicherweise hat sie bislang kaum Beachtung gefunden, was allerdings schon für die von Markus Brann zwischen 1918 und 1920 herausgegebenen und ausführlich kommentierten Exzerpte gilt. Die bisherige Graetz-Forschung hat allenfalls Teile des Textes berücksichtigt, nie aber den Gesamtzusammenhang. Selbst die biographischen Annäherungen von Bloch und jüngst von Michael nutzten die Tagebücher lediglich, um Einzelaspekte des Lebenslaufes zu klären, nicht aber zur Auswertung mit Blick auf weiterführende Fragen. Insofern liefert die vorliegende Studie die erste umfassende und intensive Analyse des Textes. Angesichts der zentralen Bedeutung von solcher Introspektion und Reflexion für die Bildung und beständige Neuaushandlung von Identität67 erscheint dies nur gerechtfertigt; dabei sind von den ersten Seiten des Tagebuchs an zwei Schwerpunkte von Graetzens Interesse festzustellen, die ungeachtet zwischenzeitlicher Konjunkturen einzelner anderer Themen beständig im Mittelpunkt seiner Eintragungen stehen: zum einen der Bereich Judentum und die Juden in Mitteleuropa, wobei das Spektrum der von ihm diskutierten oder beobachteten Angelegenheiten von einzelnen rituellen Fragen bis zur Rolle der Juden in der Welt reicht. Zum anderen wird das Tagebuch von dem Themenkomplex Liebe, Sexualität und Moral bestimmt, den Graetz mit zunehmendem Alter unter den Oberbegriff „Sittlichkeit“ fassen sollte. Mag eine solche Schwerpunktsetzung im intimen Diarium eines Heranwachsenden noch wenig wundernehmen, so gewinnt sie an Beachtlichkeit mit zunehmender Dauer, die sie im Zentrum von Graetzens Aufmerksamkeit steht. Unterstrichen wird dieser Befund dadurch, dass ebendiese beiden Themenbereiche, Judentum und Sittlichkeit, nicht allein die privaten Äußerungen von Graetz prägen, sondern dass sie auch die beiden Pole zahlreicher seiner publizistischen und wissenschaftlichen Schriften darstellen. Wie zu zeigen sein wird, sollte der Historiker Graetz sie schließlich in seiner Geschichte der Juden zu einem einzigen Thema verschmelzen – in seinem Hauptwerk sollte „Sittlichkeit“ für ihn das Wesen des Judentums konstituieren, die Essenz jüdischer Kollektiv-Identität. Obschon die Frage nach jüdischer Identität für Graetz zweifellos im Mittelpunkt seines Denkens gestanden hat, so genügt dies nicht, um ihre Analyse als eine umfassende Studie zu Leben und Werk des bedeutendsten jüdischen Historikers des 19. Jahrhunderts erscheinen zu lassen. DementNamen, sind jedoch sehr hilfreich. Da diese Angaben nicht von Michael übernommen worden sind, bleiben die Exzerpte unverzichtbar. 66 Zum Quellenwert von Tagebüchern allgemein vgl. noch immer Boerner, Tagebuch. 67 Vgl. Straub, Identität und Sinnbildung, 90.

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sprechend soll nicht der Anspruch erhoben werden, die vorliegende Arbeit sei eine Biographie.68 Wenn des ungeachtet ein grundsätzlich chronologischbiographisch orientierter Ansatz gewählt worden ist, so hängt dies mit der Überzeugung zusammen, dass sich nicht nur die Identität eines Menschen (wie auch seine verschiedensten Teil-Identitäten) im Laufe der Zeit entwickelt und abhängig vom jeweiligen Kontext gestaltet, sondern dies darüber hinaus auch für die Vorstellungen gilt, die er sich hiervon macht. Daher wird hier nicht von einem konstanten, kohärenten, gleichsam monolithischen Begriff einer jüdischen Kollektividentität in Graetzens Denken ausgegangen; derlei würde letztlich auf eine neuerliche Essentialisierung hinauslaufen. Im Unterschied zu den bisherigen Arbeiten zu Graetz soll hier hingegen sein Denken, sollen seine Fragestellungen sowie seine jeweiligen Versuche, eine Antwort darauf zu finden, konsequent historisiert und nach Möglichkeit in ihren jeweiligen Zusammenhang eingeordnet werden. Mit Blick auf den jeweiligen Rahmen, in dem sich sein Denken bewegte, gliedert sich die vorliegende Arbeit daher in drei Teile. Der erste Teil untersucht die Jugendzeit von Graetz bis zum Ende seines Studiums als eine Zeit der tastenden Identitätssuchen. Ausgehend von einer Art Urszene, in der sich erstmals die Bewusstwerdung der Identitätsfragen in seinem Tagebuch niederschlug, soll nach den wesentlichen Faktoren gefragt werden, die Graetzens Vorstellungen von Identität allgemein und von jüdischer Identität im besonderen geprägt haben. Im zweiten Teil werden Graetzens erste, oft noch eher tastende Versuche thematisiert, ein eigenständiges Konzept jüdischer Identität zu entwickeln und damit an die Öffentlichkeit zu treten. Dies wird anhand seiner Dissertation ebenso zu überprüfen sein wie anhand seiner Geschichtsphilosophie, der eingangs zitierten Construction der jüdischen Geschichte. Doch sollten sich in dieser Phase seines Lebens auch noch einmal wichtige persönliche Rahmenbedingungen verändern, deren Einflüsse auf seine Vorstellungen untersucht werden sollen. Der dritte Teil schließlich wird sich dann ganz auf Graetz als Historiker unter den Bedingungen der umfassenden Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts konzentrieren. Dies bedeutet, ihn sowohl als Konstrukteur einer kollektiven Identität in den Blick zu nehmen, als auch nach Intentionen und Strategien von deren Popularisierung zu fragen. Dies wird anhand seiner historiographischen Meistererzählung der Geschichte der Juden geschehen, in der er seine Konzeption vom Wesen des Judentums niedergelegt hat. Schwerpunkt der Untersuchung soll dabei auf denjenigen Bänden seiner Geschichte liegen, die die jüdische Geschichte vom Zweiten Tempel bis zu Graetzens eigener Gegenwart behandeln (III–XI). 68 Zu den Anforderungen an eine zeitgemäße wissenschaftliche Biographie vgl. die Beiträge in Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik.

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Diese letzte Eingrenzung bedarf der Begründung, mit der dieser Überblick abgeschlossen werden soll. Graetz wechselte um 1870 in einschneidendem Maße sein Arbeitsgebiet. Die Reihe jener Bände der Geschichte, die sich mit der jüdischen Geschichte befassten, beendete Graetz im April 1870 mit dem XI. Band. Damit fand sein opus summum einen vorläufigen Abschluss, da die noch fehlenden Bände I und II sich ausdrücklich mit der israelitischen Geschichte beschäftigen sollten. Damit war eine endgültige Umorientierung seines wissenschaftlichen Schwerpunktes verbunden, eine Abkehr von der Geschichtswissenschaft und eine Hinwendung zu Exegese und biblischer Textkritik. Diese Wende hatte Graetz bereits Ende 1868 ausgerufen, da „das geschichtliche Gebiet […] durchfurcht und durchackert“ sei.69 Das Arbeitsgebiet seines letzten Lebensabschnitts sollte schließlich einen krönenden, wenngleich postumen Abschluss finden in der Publikationen seiner Emendationen zum biblischen Text.70 Doch wenngleich mit dem Wechsel seines Quellenmaterials auch Veränderungen in den Vermittlungsstrategien einsetzten – die Grundlinien seiner Vorstellungen von jüdischer Identität sollten sich für den mittlerweile über Fünfzigjährigen nicht mehr ändern. Daran änderten auch die wechselnden Rahmenbedingungen nur wenig. Im Gefolge der Gründung des Norddeutschen Bundes 1869 wurde endlich die rechtliche Gleichstellung der Juden in Preußen erreicht, die nach dem Krieg gegen Frankreich 1871 dann auf das gesamte neugegründete Reich ausgedehnt werden sollten. Zwar war Graetz schon damals nicht blind gewesen für die Begrenztheiten einer solchen Gleichstellung,71 doch hatte all dies keinen großen Einfluss mehr auf sein Verständnis vom Wesen des Judentums: „Sittlichkeit“ (mit einem besonderem Akzent auf sexuellem Maßhalten) blieb in seiner Überzeugung die Essenz jüdischer Identität und überdies der entscheidende Faktor für das Fortbestehen des Judentums durch alle Zeiten: Die Heiligkeit bedeutete für dieses Volk [= die Israeliten] zunächst Enthaltsamkeit von tierischer Gemeinheit und von geschlechtlichen Verirrungen. Die Heiligkeit legte ihm Selbstbeschränkung und Pflichten auf, erhielt aber auch Leib und Seele gesund. Die Weltgeschichte hat die Probe darauf gemacht. Sämtliche Völker, die sich durch Unzucht befleckt und durch Gewalt verhärtet haben, sind dem Tode verfallen. […] 69 Anläßlich seiner Übernahme der Herausgeberschaft der Monatsschrift in einem gedruckten Zirkular vom November 1868 an die Mitarbeiter der MGWJ; JNUL 2°R 63 B 598, [Zitat hier 1]. 70 Vgl. Graetz, Emendationes I und II. 71 Vgl. das Schlußwort des XI. Bandes: „Die Anerkennung der juden als vollberechtigte Glieder ist bereits so ziemlich durchgedrungen; die Anerkennung des Judenthums aber unterliegt noch schweren Kämpfen.“ Geschichte XI (1870), 582. – Zum rechtlichen Hintergrund vgl. Brenner, Zwischen Revolution, 301 f.

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Mitten in eine lasterhafte, geschlechtlich unflätige Welt hineingestellt, sollte es [= das israelitische Volk] einen Gegensatz gegen sie bilden und die Fahne sittlicher Lauterkeit aufpflanzen.72

Die grundlegenden Impulse zur Ausbildung eines solcherart essentialisierenden Konzepts jüdischer Identität hatte Graetz in seiner Jugend und Ausbildungszeit empfangen. Wichtige Erfahrungen hatte er dann in seinen ersten wissenschaftlichen Publikationen erworben. In den ersten Bänden der Geschichte hatte er schließlich seine Konzeption zu voller Blüte entwickelt und durchexerziert. Alles Weitere war nur mehr Vollzug dieser so gebildeten Ansichten.

72 Graetz, Geschichte I (1874), XXI.

II Jüdische Identität bei Heinrich Graetz

1 Identitätssuchen 1.1 Aufbruch in die Moderne: Posen Rosch ha-Schanah 5596 nach der Weltschöpfung. Am jüdischen Neujahrstag dieses Jahres, das nach dem staatlichen, christlich orientierten Kalender das Jahr 1835 nach der Geburt Jesu ist, nimmt ein junger Mann, noch siebzehnjährig, am Gottesdienst anlässlich des hohen Feiertages in einer der Synagogen des kleinen Ortes Wollstein in der preußischen Provinz Posen teil. In seinem Tagebuch wird er kurze Zeit später notieren, er sei „so andächtig und religiös“1 gewesen. An und für sich ist ein solcher Eintrag nicht weiter verwunderlich, handelte es sich doch bei den dortigen Juden um eine Gruppe, die in der zeitgenössischen Fremdwahrnehmung wie auch in der Historiografie mit einem eindeutigen Schlagwort bedacht wird: Rückständigskeit. Dieses Verdikt, das sich nicht bloß auf Religion und Alltagsleben sondern auch auf den wirtschaftlichen Bereich bezog, hatten die Posener Juden mit ihrer Heimatprovinz als Ganzer gemein: Denn das Großherzogtum Posen, das 1815 geschaffen worden und seitdem Teil des Hohenzollernreiches war, galt seinerseits als die rückständigste Provinz Preußens. Dies lag an seiner starken agrarischen Prägung ebenso wie an den schlechten Absatzmöglichkeiten für Handel und Handwerk. Infolge der polnischen Teilungen, der napoleonischen Neuordnungen und des Wiener Kongresses waren einerseits weite Gebiete des ehemaligen Königreichs Polen unter russische Herrschaft gekommen und nach der Errichtung der Zollgrenze 1820 für Produkte aus den nun preußischen Regionen des einstmaligen Großpolens nahezu unerreichbar;2 andererseits waren Güter aus der östlichen Provinz innerhalb Preußens selbst kaum konkurrenzfähig. Doch war das Großherzogtum nicht allein wegen seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit ein Sonderfall, sondern eben auch auf Grund der Zusammensetzung seiner Bevölkerung: Nirgendwo sonst fand sich im preußischen Staate eine so große sprachliche 1 Graetz, TB, Eintrag zum Jahr 5596 [1835/36], 10. Da der folgende Eintrag mit „Cheswan“ datiert ist – Cheschwan ist der zweite Monat des jüdischen Jahres – steht zu vermuten, dass dieser erste Eintrag des neuen Jahres im Verlauf des ersten Monats, Tischri, erfolgt ist. 2 Vgl. Kemlein, Posener Juden, 60 ff.

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und konfessionelle Sondergruppe wie die der Polen in Posen, bei denen selbst eine anfangs vorsichtige Germanisierungspolitik der Behörden nur wenig mehr bewirkte als eine sich abzeichnende Schärfung des Nationalbewusstseins und somit der nationalen Gegensätze.3 Demgegenüber bildeten die Posener Juden zwar eine Minderheit,4 doch stellten sie innerhalb des gesamten Königreichs Preußen knapp 40 % der Juden, aus deren Gesamtheit sie wiederum durch ihre spezifische Situation herausstachen.5 Hierzu trug in erster Linie die Herkunft aus der polnisch-jüdischen Tradition bei: Ihre größere Zahl wie die größere Dichte jüdischer Einwohner in einigen Zentren verringerte die Notwendigkeit, sich mit anderen Einflüssen auseinander zu setzen und ermöglichte so ein stark an der Tradition orientiertes Leben in den Gemeinden. Das Vordringen der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, wurde dadurch erschwert. Zudem stärkten administrative Maßnahmen die bestehenden Verhältnisse, wie etwa die Begrenzung des preußischen Emanzipationsedikts von 1812 auf diejenigen Provinzen, die im Erlassjahr zur Hohenzollernkrone gehörten, so dass die Posener Juden keine Möglichkeit erhielten, zu „Einländer[n] und Preußische[n] Staatsbürger[n]“ zu werden.6 Für Posen machte man sich in Berlin anscheinend nur geringe Hoffnungen auf eine Assimilation der Juden. So entwickelten sich die Dinge in den ehemaligen polnischen Provinzen nur sehr langsam, sowohl in sozialer als auch in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht. Dies war der gesellschaftliche Hintergrund jenes jungen Mannes in der Synagoge von Wollstein, der im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht: Heinrich Hirsch Graetz. Er war am 31. Oktober 1817 etwa 110 Kilometer weiter östlich, in Xions, geboren worden, einer Kleinstadt im Osten der Provinz Posen, die damals 775 Seelen gezählt haben soll.7 Seine Eltern, von 3 Vgl. Broszat, Polenpolitik, 64–67. 4 Zwar sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die amtlichen Statistiken für die Provinz Posen nur nach Konfessionen aufgeschlüsselt, doch kann man wohl davon ausgehen, dass das Gros der Katholiken aus Polen bestand. Im Jahre 1816 stellten Katholiken 66 % der 790.000 Einwohner, Protestanten 27,7 %, die rund 50.000 Tausend Juden 6,3 %. Kemlein, Posener Juden, 58 f. 5 Zum Folgenden vgl. ebd., 60–71. 6 „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1812. Abgedruckt in Rönne/Simon, Verhältnisse, 264 ff. – Auch nach der Wiederherstellung und beträchtlichen Erweiterung des 1807 stark reduzierten preußischen Staates im Zuge des Wiener Kongresses 1815 galt das Edikt lediglich in den Provinzen Mark, Schlesien, Pommern und Ostpreußen; die übrigen Judenordnungen (bis zu 31) wurden erst 1847 vereinheitlicht, die seit 1833 in Posen geltenden Sondergesetze wurden sogar erst ein Jahr später angeglichen. Vgl. hierzu Bruer, Geschichte, 289–304 und 320–333; Jersch-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, 34 f und 37 f. 7 So der Posener Rabbiner Philipp Bloch in der Biographie seines ehemaligen Lehrers Graetz: Biographie, 5; ebenso Brann, Lehr- und Wanderjahre, 240. – Diese (allgemein nie belegten) Angaben zu Geburtsdatum und -ort werden bestätigt durch Graetzens Lebenslauf in

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deren drei Kindern er das älteste war, hatten ihm den Namen „Hirsch“ gegeben, die im aschkenasischen Judentum gebräuchliche Übersetzung des traditionellen hebräischen Namens Zvî.8 Reuven Michael, der Herausgeber von Graetzens Tagebüchern und sein jüngster Biograph, vertritt vehement die These einer „ostjüdischen“ Herkunft des Historikers, was er insbesondere mit der Behauptung, Jiddisch sei Graetzens Muttersprache gewesen, untermauern will.9 Angesichts der Bedeutung von Herkunft und Hintergrund für Graetzens Werk sei diese Hypothese hier kurz näher diskutiert. Tatsächlich war es zu jener Zeit bei den Juden in den ehemals polnischen Provinzen üblich, sich untereinander auf Jiddisch zu verständigen, so dass wohl davon ausgegangen werden kann, dass auch der junge Graetz das Jiddische beherrschte.10 Gleichwohl schrieb er sein Tagebuch von Beginn an vorzugsweise in einem Hochdeutsch, das dem stilistischen Vermögen eines sechzehnjährigen Muttersprachlers vollauf gerecht wird.11 Bei einem rein jiddischsprachigen Elternhaus wäre dies erstaunlich, zumal Graetzens erste zwei Heimatorte, Xions und Zerkow, zu den weitestgehend Polnisch- bzw. Jiddisch-geprägten Orten in der Provinz Posen zählten.12 Allerdings lassen sich einige wenige Hinweise für Deutsch als Muttersprache finden: So schreibt er etwa anlässlich seiner autodidaktischen Französisch-Bemühungen im Jahre 1833, „daß man seine Muttersprache richtig sprechen, schreiben und der Promotionsakte sowie einen Tagebucheintrag vom 21. Cheschwan [1840], den Graetz als „mein[en] Geburtstag“ bezeichnet; im Jahr 1817 entsprach das Datum des jüdischen Kalenders dem 31. Oktober. Graetz, TB, 96, sowie UA Jena, Bestand M 307, fol. 66. 8 Zvî heißt eigentlich „Gazelle“. Vgl. hierzu Noth, Personennamen, 230. – Die Annahme nicht typisch jüdischer Vornamen wurde erst durch die permissive Regelung vom 9.3.1841 ermöglicht. Vgl. Bering, Name, 103 f. 9 Vgl. Michael, Vorwort [der Tagebuch-Ausgabe], V; ders., Vorwort [zur Neuausgabe des Geschichtswerks], XII, ohne eine nähere Begründung für seine These. In seiner Biographie formuliert Michael deutlich vorsichtiger, sagt aber implizit gleiches; vgl. ders., Graetz, 14. 10 Zum Sprachgebrauch vgl. Kemlein, Posener Juden, 79 sowie 238 ff. – Allerdings hat sich weder eine Äußerung von Graetz auf Jiddisch erhalten noch ist eine Verwendung von Jiddisch durch ihn überliefert. 11 Zwar fehlen die ersten vier Seiten seines Tagebuches, und das Manuskript weist zahlreiche nachträgliche Eingriffe in Form von fehlenden Abschnitten und Seiten auf, was eine eigene Redaktion von Graetzens Seite nahelegt; hieraus aber wie Michael auf einen jiddischsprachigen Anfang und auf eine gezielte Verschleierung einer „ostjüdischen“ Herkunft durch ihn selbst und die Nachwelt schließen zu wollen, ist reine Spekulation. Vgl. Vorwort [zur Tagebuchausgabe], V. – Neben Deutsch finden sich auch einzelne Worte, seltener ganze Sätze in Hebräisch, Französisch, Englisch, Latein, Italienisch, Aramäisch und Syrisch. 12 Vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 240. – Auch psychologisch wäre der Gebrauch des Deutschen als einer Nicht-Muttersprache im Tagebuch dann wohl nicht plausibel, zumal auch Michael der schon von Markus Brann geäußerten Vermutung zustimmt, dass der junge Graetz mit dem Führen seines Tagebuches begann, als er vom Elternhaus getrennt und nach Wollstein geschickt wurde. Für ein solches portatives Elternhaus wäre wohl doch der Gebrauch einer Fremdsprache sonderbar. Vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 241, und Michael, Zur Einführung, XII.

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fühlen nur durch eine fremde lebende Sprache lernt“. Da der junge Graetz diese „Muttersprache“ nicht weiter kommentiert, erscheint es am wahrscheinlichsten, dass er damit jene Sprache meint, in der er gerade schrieb: Deutsch.13 Überdies erteilte er selbst bereits recht früh privaten Deutschunterricht.14 Schließlich ist eine der wenigen Informationen, die über seine Mutter bekannt sind, dass sie die Tochter eines Dajan (eines Richters in religionsgesetzlichen Fragen) in Wollstein war; Wollstein aber galt als eine vorwiegend deutsche Stadt, einschließlich der dort ansässigen Juden.15 Freilich ist dies keine Frage eines entweder/oder. Unter Posener Juden war noch zu jener Zeit ein zwei-, mitunter sogar dreisprachiges Aufwachsen üblich, und angesichts des Fehlens eindeutiger Zeugnisse sind wohl auch für Graetz solche Kenntnisse anzunehmen; allein die erhaltenen Quellen belegen, dass seine Präferenzen deutlich aufseiten der deutschen Sprache lagen.16 Graetz stammte aus einfachen, ja ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater Jakob, über dessen Herkunft nichts bekannt ist, arbeitete als Fleischer,17 scheint seine Familie jedoch auch als Hutmacher ernährt zu haben, eine Mehrfachbeschäftigung, die in der oft bedrängten wirtschaftlichen Lage der Posener Juden durchaus nicht unüblich war.18 Deutlicher Indikator für die wirtschaftliche Situation der Juden ist die Zahl der bis 1842 verliehenen 13 Graetz, TB, 1. – Zuvor heißt es im Autographen des Tagebuches über das Französische: „Ich würde sehr lange vielleicht zu thun gehabt haben, ehe ich den deutschen Genius gekannt hätte, wenn ich diese Sprache [nicht] vorgenommen, und ich behaupte daher, daß man seine Muttersprache richtig sprechen, schreiben und fühlen nur durch eine fremde lebende Sprache lernt.“ JNUL MS. var. 263, hier Heft I, 6 (meine Hervorhebung, MPy; dieser Teil fehlt in Michaels Ausgabe!). – Der Befund in Bezug auf Graetzens Muttersprache wird unterstrichen durch eine Bemerkung über einen ehemaligen Gymnasialdirektor aus Zilchau, der „ein Mann von gründlichen Kenntnissen mit Fertigkeit in Mutter-, französischer, lateinischer und polnischer Sprache“ gewesen sei; da dieser Marquardt wohl Christ gewesen sein dürfte, darf man davon ausgehen, dass für ihn wie für Graetz selbst „Muttersprache“ Deutsch meint. Graetz, TB, 4. 14 Vgl. JNUL MS. var. 263, hier Heft I, 45–55. – Michael referiert den die Beschreibung auslösenden Vorfall knapp; vgl. Graetz, TB, 6 f. 15 Vgl. Abrahams, Graetz, 166, und Brann, Lehr- und Wanderjahre, 241. Von allen im Rabbinerhandbuch genannten Dajanim in Wollstein käme lediglich Samuel Kristeller als Graetzens Großvater in Frage, der um 1820 als Dajan in Wollstein amtierte; vgl. Biographisches Handbuch I, 550, Nr. 0978. Doch ist die Aufstellung für diese frühe Zeit nicht vollständig. 16 Schließlich sei noch angemerkt, dass ein „Polen-Erlebnis“ zweifellos bei einem DeutschMuttersprachler stärker gewesen sein musste. Ein vergleichbarer, nichtjüdischer Fall mit solcher Erfahrung wäre derjenige Gustav Freytags. Vgl. Fueter, Historiographie, 570. 17 Vgl. Brann, Graetz, 4. – In Akten, Memoiren und anderen Quellen zu Posener Juden heißt es stets „Fleischer“ statt „Schächter“; wenn auch anzunehmen ist, dass die jüdischen Fleischer selbst geschächtet haben, so läßt sich dies nicht aus den Quellen ablesen. Freundliche Mitteilung von Frau Dr. Sophia Kemlein, DHI Warschau. 18 Die letztere Berufsangabe machte Heinrich Graetzens Sohn Leo Graetz (1856–1941) am 12.6.1933 im Fragebogen des Bayerischen Staatsministeriums anlässlich des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933“. ArchivLMU E II 1488. – Für ähnliche Fälle von Mehrfachtätigkeiten vgl. etwa Fraenkel, Memoirs, 197, 202 und 215.

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Naturalisationsurkunden, die in einer amtlichen Statistik erfasst wurden;19 die Naturalisation setzte vor allem ein Mindesteinkommen voraus.20 Jacob Graetz taucht nicht in der Liste der naturalisierten Juden auf, was keinen Zweifel daran zulässt, dass seine Familie arm war. Auch seine Frau, Vogel Hirsch, brachte wohl keinen Wohlstand in die Familie.21 Überhaupt waren in Xions, dem Geburtsort von Graetz, lediglich 4,6 % der Juden naturalisiert, der zweitschlechteste Wert des Regierungsbezirkes; auch für Zerkow, wohin die Familie bald übersiedelt war, lag der Wert nur wenig höher.22 Doch bot die Stadt mit ihrer mehr als doppelt so großen jüdischen Gemeinde vermutlich bessere Betätigungsmöglichkeiten, und auch in religiöser und schulischer Hinsicht war die Stadt aussichtsreicher, da die jüdische Gemeinde zwei traditionelle „Winkelschulen“ betrieb.23 Hier, im Cheder, lernte Hirsch Graetz Lesen, Schreiben und Hebräisch.24 Nach Auskunft seiner Biographen soll er in seiner Zerkower Schulzeit so große Begabung gezeigt haben, dass er kein Handwerk erlernen musste, sondern den traditionellen Weg jüdischen Lernens in einer Jeschivah einschlagen durfte.25 Er wurde dafür zu weiteren Studien in das weiter westlich gelegene Wollstein geschickt, wo er bei verschiedenen Verwandten seiner Mutter unterkam, während er die Talmudschule des noch ganz traditionsorientiert denkenden Samuel Meyer 19 Vgl. [Hirschberg,] Verzeichniß, sowie die zusammenfassende Tabelle bei Kemlein, Posener Juden, 160 f. 20 Zu den Voraussetzungen und Verfahren vgl. ebd., 141–152. 21 Im Hirschbergschen Verzeichnis der naturalisierten Juden ist für Wollstein niemand mit dem Namen Hirsch verzeichnet; vgl. 13 f. 22 Der Wert lag bei 4,8 %. Damit hatte Zerkow immer noch die niedrigste Quote des Kreises Wreschen, zu dem es gehörte, und dieser wiederum war innerhalb des Regierungsbezirkes Posen derjenige mit der niedrigsten Naturalisierungsrate. 23 Einige wenige Hinweise in Graetzens Tagebuch selbst deuten auf eine gewisse Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Familie hin; hierzu zählt nicht nur der Umstand, dass Graetz die nicht billige Ausbildung an einer Jeschivah durchlaufen und auch danach privat lernen konnte, ohne nebenher arbeiten zu müssen; dazu zählen auch seine brieflichen Angaben, die er gegenüber Samson Raphael Hirsch über seine geplante Versorgung in Oldenburg machte, oder etwa eine Bemerkung über ein seidenes Halstuch aus seinem Besitz. Wenigstens in den späten 1830er Jahren scheint es seiner Familie verhältnismäßig gut gegangen zu sein, auch wenn sie sicherlich nicht zu den Wohlhabenden zu zählen war; vgl. Graetz, TB, 28 und 33. – Zur schulischen Situation in Zerkow: Nach einer amtlichen Übersicht vom 25.9.1825 besuchten 33 jüdische Kinder die beiden jüdischen Religionsschulen, 36 die katholische; neun Kinder, vermutlich Mädchen, gingen nicht zur Schule. GStA PK, I. HA, Rep. 76 III, Sekt. 7, Abt. XVI, Nr. 1, Bd. 1, fol. 8–19. Eine jüdische Elementarschule gemäß den preußischen Vorschriften gab es in Zerkow erst 1835; freundliche Mitteilung von Dr. Sophia Kemlein, DHI Warschau. 24 Vgl. Bloch, Biographie, 5; Meisl, Graetz, 6. 25 Bloch, Biographie, 5; Meisl, Graetz, 7 f. – Allerdings scheint Jakob Graetz allgemein mehr Wert auf Bildung als auf Handwerk gelegt zu haben, da er seinen jüngeren Sohn Abraham Lehrer werden ließ, wohl ohne dessen große Begeisterung, wie Graetz andeutet. Vgl. Graetz, TB, 66.

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Munk besuchte.26 Dort scheint er reüssiert zu haben, da ihm der Titel eines Chaver verliehen wurde.27 Sein Tagebuch ist jedoch voll von Klagen, was zum einen mit ständigen Schwierigkeiten mit der Verwandtschaft zusammenhing, zum anderen mit seiner ärmlichen Lage, die ihn des Öfteren die Freitische für die Mahlzeiten entbehren ließ.28 Doch was auf den ersten, romantisierenden Blick wie eine zwar ärmliche, aber religiös heile Welt der Frömmigkeit und traditionellen TalmudGelehrsamkeit erscheinen könnte, zeigte bereits nachhaltige Risse. Zwar war das althergekommene jüdische Schul- und Gemeindewesen noch intakt und erwies sich als weitgehend reformresistent, zumindest bis zum Tod des Posener Rav Akiba Eger 1837; doch selbst unter den Schülern seiner Jeschivah machten sich profane Nebenstudien breit.29 Denn die religiösen und sozialen Entwicklungen, die in den westlicheren Provinzen Preußens sowie der anderen deutschen Staaten bereits seit einigen Jahrzehnten stattgefunden hatten, fassten allmählich auch in Posen unter den dortigen Juden Fuß, um dann umso schneller und einschneidender Wirkungen zu zeitigen.30 Der junge bachur Hirsch Graetz war in Wollstein von diesem Einbruch der Moderne nicht verschont geblieben. Seine Bibel- und Talmud-Studien bei Munk spielten in seinen Aufzeichnungen dieser Zeit allenfalls eine marginale Rolle, und auch nur dann, wenn er ihren „Verfall“ beklagte: „theils weil ich keine Zeit dazu hatte, und theils, weil die dazu bestimmte Zeit auch durch die Geschmacklosigkeit des R[abbiners] vergeudet wurde.“31 Doch selbst solche sporadischen Bemerkungen lassen jüdische Themen welcher Art auch immer kaum als besonders bedeutsam für ihn erscheinen, viel bemerkenswerter waren ihm zu dieser Zeit die Alltagssorgen über fehlende Freitische oder missgünstige Anverwandte, sowie eine Reihe von Liebeleien, die ihn sehr beschäftigten. Dem allgemein wohl eher schüchternen jungen Mann kam für seine amourösen Schwärmereien eine Eigenschaft zustatten, die ihn aus der Zahl möglicher Mitbewerber heraushob: seine doch ungewöhnlich breite weltliche Bildung. Denn mit Französischunterricht war nicht nur ein wenig Geld zu verdienen, sondern auch Zutritt zur jungen Da26 Zu Munk vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 241; Heppner/Herzberg, Vergangenheit, 310 f, 1000; Biographisches Handbuch II, Nr. 1301, 676. 27 Im Sommer 1834. Vgl. Tagebucheintrag 5595 [1834/35]. Graetz, TB, 6. – Allerdings belegte dieser Titel lediglich eine gewisse persönliche Bildung des Inhabers, er beinhaltete keine standardisierte Autorisation. Vgl. Brämer, Leistung, 60–71, sowie Wilke, „Talmud“, 14 f. 28 Auch ein Erinnerungsartikel seines Sohnes Leo Graetz erwähnt diese Hungerjahre, die die Ursache für die Magenleiden seines Vaters im vorgerückten Alter gewesen sein sollen. Vgl. Aus dem Leben, Sp. 756. 29 Vgl. Wilke, „Talmud“, 542 f und 545. 30 Allgemein vgl. etwa Katz, Out of the Ghetto; Meyer, Gemeinden; Sorkin, Transformation; speziell zu Posen vgl. Kemlein, Posener Juden, hier v. a. 202–215. 31 Tagebucheintrag 5595 [1834/35]. Graetz, TB, 6.

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menwelt von Wollstein zu erhalten.32 Doch auch abgesehen von diesem ein wenig frivolen Zweck besaß Bildung unter den Posener Juden ein großes Sozialprestige. Auf Grund der hohen Dichte sowie der Kontinuität in der religiösen Ausbildung, die hier immer noch ungleich weiter verbreitet war als in anderen Regionen Deutschlands, wurde geistigen Dingen eine überdurchschnittliche Bedeutung beigemessen. Zwar galt dies ursprünglich vor allem für die talmudische Gelehrsamkeit, doch war damit auch der Boden für die Wertschätzung profaner Bildung bereitet.33 Diese Wertschätzung griff umso mehr um sich, je stärker der Einfluss der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, aber auch der Reformbemühungen etwa eines Wilhelm von Humboldt wurde. Bildung bedeutete ein kulturelles Kapital (Pierre Bourdieu), mit dessen Einsatz Gewinn zu erzielen war, zumindest ein symbolischer. Nicht zuletzt trug Bildung – im besten Humboldtschen Sinne auch als Herzensbildung – zur Stärkung des Selbstbewusstseins bei. Anschaulich ist hierfür eine Episode aus dem Jahr 1833/34, als Graetz von einem ehemaligen Gymnasialdirektor Französischunterricht und Protektion erhielt: Da dieser mich überall lobte und mit mir sogar eines Tages spatzierte, so gewann [ich] dadurch nicht allein an Berühmtheit, sondern an Selbstvertrauen und Menschenwürde. Ich fing an, mich zu schätzen, weil ich Mensch bin und einwohnenden Kräften versichert war. Ich legte damit einen großen Theil meiner Blödigkeit ab […].34

Entsprechend dieser Bildungsbegeisterung sind denn auch seine Lektüreerlebnisse zu dieser Zeit ein weiteres zentrales Thema von Graetzens Tagebuchaufzeichnungen. Auf eigene Faust stürzte er sich in die profanen Fächer, brachte sich (zunächst autodidaktisch) Französisch und Latein bei, las sich wahllos durch Ritterromane und Weltliteratur und beschäftigte sich mit Geometrie und Mathematik ebenso wie mit Logik und Grammatik oder Philosophie und Geschichte.35 Der örtliche Buchhändler und Bibliothekar, Dov Baer Kronthal, stellte ihm viele Titel kostenlos zur Verfügung, und nach dessen Tod und dem Wegzug der Hinterbliebenen bezog Graetz im Frühjahr 1834 sogar dessen verwaiste Bibliothek.36 Hier konnte er ungestört lesen, und 32 So etwa ebd., 7. 33 Vgl. Kemlein, Posener Juden, 205–208 und 241 f. – Zum Bildungsideal deutscher Juden in der Aufklärung allgemein (aber unter Ausblendung Posens) vgl. Sorkin, Transformation, 15–18 und 86–104. 34 Graetz, TB, 4. 35 Vgl. etwa den Tagebucheintrag 5595 [1834/35]; ebd., 5–9. 36 Vgl. [rückblickender Tagebucheintrag vom Frühjahr 1834]; ebd., 3. – Die Familienerinnerungen seines Bruders Simon (1885) heben heraus, dass Baer Kronthal als erster Jude der Provinz Posen eine deutsche Buchhandlung mit Leihbibliothek geführt habe; vgl. Kronthal, Aus einem jüdischen Leben, 239. Laut seinem Grabstein ist Dov Baer Kronthal am 11. April 1834 gestorben. Vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 242, Anm. 1.

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sein Pensum war beachtlich: Er versuchte sich an Maimonides, Juda Halevis Kuzari, aber auch an Ciceros De natura deorum. Daneben las er Dramen (darunter Racines Athalie) sowie Schriften von Campe, Rousseau (dessen Emile ihn sehr beeindruckte) und Voltaire. Auch mit Christian Wolff, Schillers Geisterseher nebst Fortsetzung sowie Mendelssohns Phaidon und Jerusalem kam er in Berührung37. Diese Werke vermittelten ihm freilich weniger bestimmte Einsichten als vielmehr allgemeinen Geschmack an dem „Scharfsinnige[n] und Gelehrte[n]“38 in der Literatur. Doch lässt sich anhand der bloßen Aufzählung – es gibt nur wenige andere namentlich genannte Autoren und Werke auf diesen Tagebuchseiten – in zweierlei Hinsicht eine Schwerpunktsetzung konstatieren, sei sie nun eigenem Geschmack oder schlichtweg dem vorhandenen Angebot geschuldet: Zum einen las er neben den Klassikern und den großen jüdischen Autoren aus der muslimischen Welt des Mittelalters vor allem Werke des späten 18. Jahrhunderts, direkt zeitgenössische Autoren scheinen ihm nicht untergekommen zu sein; zum anderen spielte für ihn die Auseinandersetzung mit Religion zu dieser Zeit durchaus eine zentrale Rolle, wobei es sich nicht so sehr speziell um das Judentum handelte als vielmehr um die Frage von Religion und ihrer Bedeutung im Allgemeinen. Dabei verschloss er sich auch nicht dezidiert religionskritischen Werken, die den Missbrauch religiöser Leidenschaften und den Fanatismus anprangerten (wie etwa Voltaires Mahomet).39 Insgesamt handelte es sich bei den genannten Werken vor allem um solche, die einer traditionellen Frömmigkeit kritisch gegenüberstanden und sich die Vermittlung von religiösen Vorstellungen mit den Kategorien der Vernunft auf die Fahnen geschrieben hatten: Graetz erlebte hier seine ganz persönliche Aufklärung. Die Folgen blieben auch ihm nicht verborgen, und so nahm er in seiner frommen Andacht an jenem eingangs zitierten Neujahrsfest des Jahres 5596 in Wollstein an sich selbst eine signifikante Veränderung wahr: Zwar war er „so andächtig und religiös“ – doch „nicht wie immer“ aus religiöser Ehrfurcht vor den Riten und ihren Bedeutungen, „sondern aus reiner GottesLiebe“, wie er verwundert in seinem Tagebuch festhielt: Ich betete nicht wie andere um irdische, zeitige Güter, ob ich gleich Geldlos war, sondern um Ausrottung des schändlichen Aberglaubens und Betruges, die neben dem Atheismus, dem größten Feinde, die Herrschaft über unser Folk[!]“ haben.40

Dass Graetz hier nicht aus einer Position unerschütterlicher Glaubensfestigkeit heraus spricht, sondern sich vielmehr mannigfaltigen Anfechtungen 37 Vgl. Graetz, TB, 1, 6–9, 12 f. 38 Tagebucheintrag [1834/35]; ebd., 9. 39 Ebd., 4. – Dass ausgerechnet an dieser Stelle das Tagebuchmanuskript verstümmelt ist, wo möglicherweise eine Wertung folgte, ist wohl kaum als Zufall anzusehen. 40 Tagebucheintrag [Sept./Okt. 1835]; ebd., 11 f.

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ausgesetzt fühlte, verdeutlicht der folgende Eintrag, in dem der junge Mann die „düstere Schwermuth“ festhielt, die ihn bisweilen niederdrückte durch die verschiedenen sich widersprechenden Meinungen heidenschen, jüdenschen und christlichen, epikurischen, kabbalistischen, maimonidischen und platonischen, welche alle meinen Kopf so verdreht und meinen Glauben so wankend gemacht haben.41

Religion – nun seine eigene – wurde mit einem Mal ziemlich unvermittelt zum Thema. Die Heftigkeit dieser Gedanken, die „wie Furien“ an ihm rissen, deuten auf die Wichtigkeit dieses Themas für den Teenager hin.42 Vermutlich einigermaßen typisch für eine Adoleszenzphase war es denn auch weniger der „Scepticismus“43 als solcher, der ihn bewegte, als vielmehr eine besonders bewusst wahrgenommene Lebenswelt, in der mehr denn je mannigfaltige Möglichkeiten der Lebensführung wie der Glaubensinhalte zu finden waren. Das Individuum hatte aus all diesen Möglichkeiten zu wählen; doch bedeutete die hieraus erwachsende Freiheit auch mehr und mehr die Notwendigkeit zu wählen. Dieser „häretische Imperativ“ der Moderne44 ließ den jungen Graetz neben der fundamentalen Freiheit eben auch seine Schattenseite, seine mitunter geradezu peinvollen Folgen empfinden. Graetz suchte daher Halt und Trost bei der einzigen Instanz, die er sich höher als die sich auftürmenden Sorgen denken konnte, beim Allerhöchsten: Wir, die Menschen, seien „mit unserm Bewußtseyn, unserer Freiheit, Vernunft und der ganzen Seele die unseligsten und unglücklichsten Geschöpfe auf dem Erdplanete[n]“, wenn wir die Unsterblichkeit, und das heißt Gott, nicht hätten.45 In dieser Zeit besonderer Sensibilität prägte den jungen Juden aus dem Posenschen ein ungewöhnliches Lektüreerlebnis, von dessen Wirkungen noch in späteren Jahren Spuren zu finden sein sollten. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen war Graetz nämlich weniger ein Anhänger Lessings, Goethes oder des herausragenden Lieblingsautors jüdischer Leser des 19. Jahrhunderts, Schillers.46 Graetzens Favorit war der zu seinen Lebzeiten als „deutscher Voltaire“ gepriesene und in der Romantik als „un41 Tagebucheintrag [Okt./Nov. 1835]; ebd., 11 ff, hier 12. 42 Zwar hatte er bereits früher einmal notiert: „Ich war religiös und zugleich leicht und freigeistig, ohne Grund schwärmerisch“, doch stand dies noch ganz im Zeichen seiner damals gerade angebeteten „E.“. Tagebucheintrag aus dem Jahr [1833/34]; ebd., 5. 43 Beide Zitate Tagebucheintrag [Okt./Nov. 1835]; ebd., 11 ff, hier 12. 44 Berger, Imperative. – Zu dieser nicht zuletzt für jede Identitätssuche und -bildung so symptomatischen Situation vgl. Erikson, Wachstum und Krisen; zur biographischen Umsetzung insbesondere ders., Der junge Mann Luther. 45 Tagebucheintrag [Okt./Nov. 1835]. Graetz, TB, 11 ff, hier 12. 46 Vgl. Meyer, Deutsch werden, 210 f.

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deutscher“, „unmännlicher“ und epigonaler Unterhaltungsschriftsteller geschmähte Christoph Martin Wieland (1733–1813).47 Zu ihm empfand Graetz eine besondere Seelenverwandtschaft, ihn nannte er gar seinen „verstorbenen Freunde“.48 Ausgerechnet Wieland, der stets ein wenig als „schlüpfrig“ verschrien war,49 wurde nun für Graetz einer der Anreger für die Ausbildung seiner Vorstellung nicht nur von Geschichte sondern auch von Sittlichkeit und Tugend, mithin von Werten, die für Graetzens Geschichtsschreibung zu zentralen Kategorien werden sollten. Rasch avancierte der Sohn aus schwäbisch-pietistischem Pfarrhaus zu seinem Lieblingsschriftsteller, was ausschlaggebend an dessen religiösem Lehrgedicht Die Natur der Dinge (1752) lag, das dem jungen Graetz regelrecht den „Geschmack für Philosophie eingeprägt“ hatte.50 Diese Wirkung nimmt nicht weiter wunder, wenn man die Ähnlichkeiten, ja Parallelen in Leben und Anschauung von Autor und Leser berücksichtigt: Wieland, von seiner geliebten Cousine Sophie Gutermann zu der Schaffung des Werkes angeregt, war bei der Abfassung nur ein Jahr jünger gewesen als Graetz bei der Lektüre. Er hatte sich hierin ausführlich mit der Gottesfrage, mit dem Verhältnis von Gott und Welt sowie der Willensfreiheit des Menschen auseinander gesetzt und dabei seine theologischen und philosophischen Lesefrüchte (wie etwa Wolff, Leibniz und Spinoza) ebenso verarbeitet wie die religiösen Erfahrungen aus dem pietistischen Elternhaus und der Schulzeit in Klosterberge. Das Ergebnis war eine Synthese, beeinflusst von der empfindsamen Anthropologie und Kosmologie seiner Zeit, die bisweilen in die Nähe deistischer Positionen gelangte. Die Schwierigkeiten, welche christliche Leser (und auch Forscher) mit dem Werk hatten, erleichterten es wiederum einem jungen Juden wie Graetz, sich dafür zu begeistern: Für Wieland war der Kreuzestod Jesu zweitrangig, er ließ keinen Heiland auftreten. Aber er ging von einer creatio ex nihilo durch einen vollkommenen und liebenden Schöpfergott aus, der sich überdies in seiner Schöpfung tagtäglich erkennen lasse. Positionen wie diese entsprachen durchaus jüdischer Tradition, und sie sollten zeit seines Lebens zu Graetzens religiösen Grundüberzeugungen gehören. Dies gilt zudem für den das Ge47 Zu Wieland vgl. Sahmland, Wieland, sowie zusammenfassend dies., Weltbürger. – Zu seiner Rezeptionsgeschichte allgemein vgl. Gaycken, Wieland, und Jørgensen/Jaumann/ McCarthy/Thomé: Wieland, 185–207; oberflächlich hingegen Ruppel, Wieland in der Kritik. 48 Tagebucheintrag 5.1.[18]37. Graetz, TB, 25 f, hier 25. 49 Nipperdey, Geschichte I, 128. – Bereits in den zeitgenössischen Kritiken etwa der Allgemeinen Deutschen Bibliothek wurde immer wieder eine gewisse Frivolität des Ausdrucks bei Wieland gerügt; vgl. Gaycken, Wieland, 71. 50 Tagebucheintrag [Okt./Nov. 1835]. Graetz, TB, 11 ff, hier 12. – Zu dem Lehrgedicht und seinem zeitgenössischen philosophischen Hintergrund vgl. die konzise Studie von Hacker, Ordnungsutopien, sowie speziell zu Wielands religiöser Haltung Blasig, Entwicklung, 128–140; als Urteil von einem Zeitgenossen von Graetz vgl. Gervinus, Neuere Geschichte I (1840), 194 f.

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dicht durchziehenden Lobpreis der Tugend sowie für die Ideale der Mäßigung und der moralischen Vervollkommnung, die zur Glückseligkeit führten – dem höchsten Ziel des Individuums. Zwar hatte Graetz bereits früher die Abderiten, die Geschichte des Agathon und wohl noch weitere, nicht näher genannte Schriften Wielands gelesen, doch es war erst die Lektüre der Natur der Dinge, deren Wirkung auf ihn ihm selbst ganz bewusst wurde. In der Folge erschien dem jungen Graetz jener „tugendhafte, reinsittliche und liebenswürdige Schwärmer Wieland“ geradezu als ein Spiegelbild seines eigenen Charakters: Wieland „lechzte nach Glückseligkeit, und glaubte dieselbe nur in der sympathetischen Liebe zu finden, war unglücklich, da dieses ihm das Geschick verweigerte. Liebte die Religion, die Tugend, die Sittlichkeit, unterschied davon aber die selbstgestempelte Tugend, die Frömmelei, die übertriebene Strenge und Entsagung jedes Genusses; hatte einen großen Menschenhaß, der aber nicht in seinem wohlwollenden und liebevollen Gemüthe als in der Verkehrtheit der Menschenkinder seinen Grund hatte, vor dem zwar nur kindischen Treiben der Menschen sammt ihrem eingebildeten Glücke, aber wahren und selbst verursachten Unglück und zur Weisheit geadelten Thorheiten; liebt die alte, besonders griechische Geschichte.

Und eben genau „[d]iese und andere minder auffallende [Eigenschaften] machen von Zug zu Zug das eigenthümliche meines Charakters“, wie Graetz enthusiastisch hinzufügte.51 Gleichwohl war es nicht bloß der „platonische“ Wieland der Natur der Dinge mit seinen Vorstellungen sympathetischer Seelenverwandtschaft und der Herrschaft der Seele über den Leib, den der junge Mann in diesem Spiegelbild erblickte, sondern vielmehr auch der kritische, heftige, bisweilen an der Welt verzweifelnde junge Dichter, der durchaus ein Auge für die Fassadenmentalität und die Einfältigkeit seiner Zeitgenossen hatte. Die Folge war bei Wieland ein starker Drang gewesen, im Sinne seiner „aristotelischen“, tatsächlich aber eben entscheidend von der Empfindsamkeit geprägten „Weisheit der Mitte“ zu wirken.52 Unter dem Einfluss pietistischer Anschauungen, nicht zuletzt des fundamentalen Misstrauens gegenüber der Natur des Menschen, standen im Zentrum von Wielands Aufmerksamkeit eine reflektierte, gleichsam philosophische Religiosität und eine Tugendlehre des rechten Maßes, die ihren Schwerpunkt deutlich auf Fragen der Sexualität legte. Der junge Wieland hatte sich hierbei den Kampf nicht nur gegen eine rokokohafte Libertinage, sondern ganz grundsätzlich gegen die Macht von lasterhaften Trieben und Affekten über den menschlichen Willen auf seine Fahnen geschrieben. Dabei spielten für ihn insbesondere die Schriftsteller eine herausragende Rolle bei der Aufklärung, ja bei der 51 Alle Zitate aus dem Tagebucheintrag [Okt./Nov. 1835]; Graetz, TB, 11 ff, hier 12. 52 So die spöttische, aber gleichwohl treffende Zusammenfassung bei Gervinus, Neuere Geschichte I, 287 und 281; vgl. hierzu auch ebd., 308.

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„Erweckung“ der Menschen.53 Später, nicht zuletzt in seinem Agathon, distanzierte er sich wiederum von dem „großen Haufen der Moralisten“, wenn er dem Menschen „gute und böse Eigenschaften“ nebeneinander attestierte; damit wandte er sich nun gegen eine obskurantistische Moralphilosophie und stellte sich gegen Forderungen nach einer rigorosen sozialen Kontrolle durch Staat oder Kirche.54 Insbesondere diese Wendung sorgte sehr für Irritation bei seinen Zeitgenossen, wie etwa in der Verbrennung seines Bildes und eines seiner Werke auf der Klopstock-Feier des Göttinger Hainbundes 1773 überaus deutlich wurde.55 Weniger gewalttätig, aber immer noch deutlich genug war die Ablehnung in der Literaturkritik des 19. Jahrhunderts.56 Bei alledem war es kein Lippenbekenntnis, das Graetz mit dem Wielandschen Streben nach Aufklärung und Bildung der Zeitgenossen verband.57 In seinen Tagebucheintragungen etwa zeigen sich tatsächlich die von ihm dem Weimaraner Prinzenerzieher zugeschriebenen Eigenschaften sehr deutlich: ein kritischer Geist mit der Fähigkeit, überkommene Traditionen zu hinterfragen, und zugleich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein, das ihn immer wieder dazu antrieb, mit seinen Erkenntnissen und Anschauungen auch die Mitmenschen zu beglücken und sie nach Möglichkeit aufzuklären. Der Bereich seiner Aufklärungsmission kristallisierte sich mittlerweile auch heraus, denn das Judentum wurde ihm immer mehr zur Herzensangelegenheit. Insofern lag es einigermaßen nahe, dass er entsprechend den Vorstellungen seiner Umgebung an das prestigeträchtige Rabbinat dachte, was auch seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprach.58 Die Frage nach seiner Zu53 Vgl. Ermatinger, Weltanschauung; Engbers, ‚Moral-Sense‘, 53–57 und 63–66. 54 Wieland, Geschichte des Agathon, 556 und 352 ff. – Die poetologische Konsequenz einer solchen Anthropologie war die Schöpfung eines „mittleren“ oder auch „gemischten“ Charakters. Gleichwohl entwirft Wieland keine komplexen Individuen, wie sie erstmals mit Goethes Wilhelm Meister auftreten, sondern er gestaltet seine Figuren gemäß bestimmter Weltanschauungstypen. Vgl. Jørgensen/Jaumann/McCarthy/Thomé, Wieland, 123–127; Engbers, ‚Moral-Sense‘, 103–120. 55 Vgl. Sahmland, Wieland, 143 f; Schrader, Mit Feuer. 56 Exemplarisch brachte Gervinus dieses Unbehagen auf den Punkt: Die „Weisheit der Mitte“ sei in der Theorie vortrefflich, doch komme bei ihr „alles auf den Takt der Ausführung an […], wenn nicht bald aus dem Gleichgewicht Gleichgültigkeit, bald aus dem Schwanken ein Herumspielen an den Extremen werden soll, die man vermeiden will. Ich fürchte, beides ist bei Wieland moralisch und in seinen Schriften ästhetisch der Fall.“ Etwas später heißt es dann drastisch: „Wenn die vita proba die paginam lascivam entschuldigt, so möchte auch Wieland entschuldigt sein; doch ist diese Rechtfertigung gewiß nur so relativ, wie man, um es derb zu sagen, gegen die feile Hetäre die in Schutz nehmen würde, die wir im Deutschen eine Maulh--nennen.“ Neuere Geschichte I, 281 und 288. 57 Damit sei nicht die These aufgestellt, dass Wieland der einzige Stichwortgeber für Graetzens Denken gewesen sei. Gleichwohl kann nicht übersehen werden, dass es keinen anderen Autor gibt, der von Graetz in seinem Tagebuch so stark herausgehoben worden ist wie Wieland. 58 Hinweise hierfür finden sich Graetz, TB, 14 f und 19. – Vgl. auch Wilke, „Talmud“, 554 f.

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kunft stellte sich bald umso drängender, als ihm infolge des bevorstehenden Wegzugs seines Onkels zu kommenden Ostern sein wichtigster Ernährer in Wollstein fehlen würde.59 Er musste also eigenständige Zukunftspläne entwickeln. Obwohl er sich auch weiterhin nur sehr mäßig um den Talmud kümmerte, so dachte er doch, die religiösen Studien vermehrt zu betreiben – in der etwas naiven Hoffnung, so einen Doktorgrad erwerben zu können und Rabbiner zu werden. Der Ausbildungsort war schnell ausgemacht: Prag – das alte rabbinische Zentrum der westaschkenasischen Judenheit – „eine Stadt, durch Gelehrsamkeit, Freiheit und andere Vorzüge so sehr berühmt“,60 entsprach wohl gerade durch diese Mischung sowohl den Hoffnungen seiner Familie als auch den eigenen Wünschen. Eine Verwirklichung dieses Vorsatzes hätte Graetzens Weg möglicherweise in eine andere Richtung gelenkt.61 Doch scheiterten diese Pläne: Ungeachtet seines Reisepasses wurde er mangels Reisegeld von den österreichischen Grenzwächtern zurückgewiesen, so dass er sich unverrichteter Dinge auf den Rückmarsch ins elterliche Zerkow machen musste.62 Wieder war die Situation unsicher, war alles offen. Den Sommer vergeudete er mit „unangenehmen Träumereien“, und ungeachtet eines recht beachtlichen Lesepensums war das Ergebnis dieses Jahres 5596 in seinem Resümee beschränkt: „Andenken an einen vereitelten Plan, Verdruss über Kleinigkeiten, und [die] Aussicht, durch Zureden des Freundes [Benzion Behrend] nach Glogau zu reisen.“63 Wahrscheinlich sollte er in Glogau einen neuen Versuch unternehmen, an einer zumindest ehemals bedeutenden Talmudschule eine fundiertere Ausbildung zu bekommen, als dies vermutlich 59 Vgl. Graetz, TB, 14 (die Datierung mit „Ostern“ findet sich kommentarlos bei Graetz, während seine sonstigen Tagebuchdatierungen sich für gewöhnlich des jüdischen Kalenders bedienten). 60 Ebd. – Vgl. Wilke, „Talmud“, 119–122. 61 Das Raffinement der rabbinischen Methodik, so denn mit Meisterschaft angewendet, hätte vermutlich in ihm durchaus einen Freund gefunden. Diese traditionellen Methoden wurden in Prag erst mit der Berufung von Salomon Juda Löw Rapoport (mit seinem Akrostichon genannt Schir) zum Oberrabbiner 1840 abgelöst und die talmudische Gelehrsamkeit auf eine neue, historisch-kritische Grundlage gestellt. Zeitgleich (und vermutlich damit zusammenhängend) wurde die Prager Karlsuniversität ein Anziehungspunkt für Rabbinatskandidaten. Kurz nach Schirs Berufung ermöglichte im Übrigen die österreichische Verordnung von 1841 auch einen gesellschaftlichen und sozialen Aufbruch der Prager Juden. Vgl. Wilke, „Talmud“, 119–122, 203–212 und 555. 62 Freilich ist auch hier nicht restlos sicher, ob das Datum der Niederschrift auch der Tag des entsprechenden Ereignisses ist, es wäre auch eine Rückprojektion seiner Wunschvorstellungen möglich, wenngleich dies nicht als sonderlich wahrscheinlich anzunehmen ist. Vgl. die Tagebucheinträge [29.4.1836] und [30.4.1836]. Graetz, TB, 19. 63 Beide Zitate [Frühherbst 1836]; ebd., 20. – Zu seinen erwähnten Lektüren gehörte neben Dramen von Terenz, Vergils Aeneis, Auszügen aus den Geschichtswerken von Livius und Schröckh wieder Wieland, nämlich Sympathien und Der goldene Spiegel. Daneben betrieb er Bibelstudien (Samuel, Könige sowie Jesaja, Jeremia und Ezechiel).

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bei seinem alten Lehrer Munk in Wollstein möglich gewesen war. Denn obgleich er von jenem den Chaver-Titel verliehen bekommen hatte, klagte er doch, dass er mit seinen eigenen Talmudstudien, die er neben den Bibel- und Klassiker-Lektüren weiterhin betrieb, mangels kontinuierlicher Praxis nicht recht weiterkam.64 Allerdings mussten sein Verhalten und seine religiösen Ansichten in einer traditionsorientierten, religiös geprägten Gesellschaft es zweifelhaft erscheinen lassen, ob er tatsächlich der geeignete Kandidat für ein Rabbineramt sei. Wieder war es ein Neujahrsfest, das Graetzens skeptische, ja spöttische Haltung gegenüber vermeintlicher Autorität offenbarte: Als der Rab[biner] diesen Neujahr seiner verkehrt und unverständlich weinerlich vorgetragenen homiletischen Reden kein Ende machen wollte, und dieses nicht allein langweilig und die Andacht störend war [!], sondern auch wahrhaft schädlich und schwangeren Frauen, sowie anderen schwachen Personen durch das lange Fasten […] höchst gefährlich werden könnte, fing ich an, in dem Bethause einige unzufriedene, den Umstehenden ungewöhnliche Bemerkungen zu äußern, welches um so frappanter war, weil diese nicht gewohnt waren, in entferntestem Bezuge auf einen Rabi, wenn er auch noch so faselte, sprechen zu hören, sondern alles für göttlich und gewichtig annehmen.65

Der Neunzehnjährige war – trotz aller Defizite in seiner Ausbildung – zu gut mit den Grundtexten des Judentums vertraut, zu versiert in philosophischer und literarischer Religionskritik und zu misstrauisch gegenüber gleichsam klerikalen Hierarchien, als dass er die Worte eines jeden Rabbiners ohne weiteres „für göttlich und gewichtig“ hätte gelten lassen. Die Aura eines Amtes erschloss sich ihm nicht, vielmehr hatte er für deren naive Verehrung nur Hohn und Spott übrig. Mit einem Wort: Graetz hatte mittlerweile gelernt, sich seines Verstandes zu bedienen. Dies stand freilich, wie so oft, in keinerlei Widerspruch zu einem ungebrochenen Vertrauen auf Gott. Vielmehr gingen beide Einstellungen eng einher, hatte doch auch schon der heranwachsende Graetz das Bedürfnis gehabt, Traditionen und überkommene Denkmuster ebenso kritisch an seinem rationalistischen Gottes- und Weltbild zu messen wie die Positionen der klassischen Philosophie und der Naturwissenschaften.66 Die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung konnten die Interessen und Neigungen des jungen Mannes wohl kaum recht nachvollziehen oder gar verstehen, wobei sicherlich ein Generationengegensatz ebenfalls 64 Vgl. Graetz, TB, 20. 65 Tagebucheintrag [12.10.1836]; ebd., 20 f, Zitat 21. – Da Graetz diese Begebenheit einen Monat später in einem anderen Zusammenhang berichtet, dürfte es sich um ein glaubwürdiges Zeugnis handeln. 66 Hierbei konnten sich durchaus reichlich unausgegorene Gedanken entwickeln; vgl. etwa seinen Versuch, die Kosmologien der Genesis, des Thales, Maimonides u. a. miteinander auszusöhnen; Tagebucheintrag [9. oder 10.12.1836]; ebd., 22. – Vgl. auch den Tagebucheintrag von Pessach 1836; ebd., 15.

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eine Rolle spielte. Symptomatisch dürfte ein Vorfall sein, der am Vorabend von Jom Kippur desselben Jahres eine heftige Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Familie auslösen sollte. Graetz verweigerte sich dem Brauch, das sogenannte Kappores-Huhn zu schwingen, um damit Unglück abzuwehren: „Je répétai quelque fois avant le jour de cette cérémonie […], que je ne ferai pas une cérémonie contraire à la saine raison, comme à la loi raisonnable; mais mes parents prenaient cela pour moquerie.“ Er entzog sich dem Brauch durch Flucht zu Freundinnen (eine neuerliche Sünde in den Augen seiner Eltern), und als er endlich gefunden und zurückgeholt worden war, hörte er „comment ma mère et ma sœur se plaignent de moi, que je sois si libertin, si athée, ce qu’ils nomment afîqûrûs, et mon frère me raconta, que le père avait menacé, à brûler tous mes livres“.67 Wenigstens einen engen Vertrauten hatte er jedoch, nämlich seinen langjährigen Freund Benzion Samuel Behrend („B. B.“).68 Beide nahmen die Entwicklungen um sie herum aufmerksam wahr und diskutierten sie intensiv. Freilich bedeuteten solche Diskussionen unter prinzipiell Gleichgesinnten immer auch intellektuelle Fingerübungen. Entscheidend aber war, dass ihnen die zentralen Fragen vollauf bewusst waren: „Dann brachte er [= Behrend] vor, wie sehr eine Reform, bei dem allmäligen Verfall der Religion nothwendig sey“, hielt Graetz einmal fest, um dagegen seinerseits eine Lanze für die Tradition zu brechen: „Ich wußte aber daß eine Reform, d. h. die Auslassung einiger mit dem ganzen verflochtenen Gesetze, das ganze Gesetz aufheben würde.“69 Die Problematik einer Vereinbarkeit von Religion und Vernunft sowie von Vernunft und Tradition sollte sich nicht so leicht auflösen lassen und war da67 Tagebucheintrag [18.9.1836]. Michael in Graetz, TB, 20, lässt diese Passage aus; der Bericht findet sich aber gedruckt bei Brann, Lehr- und Wanderjahre, 256; vgl. auch Bloch, Biographie, 13 f, der die Begebenheit indes verklärend erzählt. – Zu dem Sühneopfer des Kappores-Huhns vgl. Maier, Judentum, 220. 68 Graetz hatte Behrend bei seinen Studien in Wollstein kennengelernt, beide gehörten zu den Schülern des Bibliothekars Kronthal und verkehrten mit dessen Familie. Als Graetz bei Samson Raphael Hirsch in Oldenburg weilte, kühlte beider Verhältnis merklich ab und erreichte nicht mehr die alte Intensität, auch nicht nachdem sie sich durch Heirat mit den beiden Töchtern des Krotoschiner Verlegers Bär Löw Monasch verschwägert hatten. Behrend selbst wurde Mitarbeiter und Nachfolger des Schwiegervaters und verlegte einige Schriften von Graetz sowie die von Graetz herausgegebene Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums. Behrend selbst versuchte sich auch gelegentlich mit wissenschaftlichen Beiträgen und Editionen; vgl. Brann, Heinrich Graetz, 7, Anm. 1. Nach den Erinnerungen des Schwiegervaters der beiden seien sie sogar miteinander verwandt gewesen, doch gibt es außer diesem Hinweis keinen weiteren Beleg hierfür; vgl. Fraenkel, Memoirs, 213. – Mit aller Wahrscheinlichkeit verfasste Behrend auch jenen kurzen, mit „B. B.“ gezeichneten Erinnerungsartikel auf Graetz ([Nachtrag]), den Rippner herausgegeben hat. Weitere Zeugnisse dieses einstmals engen Vertrauten von Graetz lassen sich nicht auffinden. 69 Tagebucheintrag Pessach [1836]. Graetz, TB, 15.

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her prägend für die Suche nach der Rolle von Religion in der Moderne überhaupt. Den entscheidenden Ausweg bot ihm ein historisierendes Konzept: die Beantwortung der Frage nämlich, was denn der absolut verbindliche Teil dieses Gesetzes sei und was bloß historisch bedingte Zutat. Die hierin angelegte Suche nach dem eigentlichen Wesen des Judentums sollte einen zentralen Aspekt in Graetzens gesamtem weiteren Lebensweg abgeben. Lange konnte Behrend ihm allerdings nicht direkt bei dessen Verfolgung zur Seite stehen, bald schon trennten sich ihre Wege, auch wenn sie sich nicht gänzlich aus den Augen verloren: Als Graetz nach dem Scheitern seines PragPlanes nach Zerkow zurückkehrte, blieb der Freund in Wollstein, wo er als „Socius der W[ollstein]schen kleinen Buchhandlung“70 arbeitete. Sie hielten weiterhin brieflich Kontakt, und Behrend verschaffte dem Gefährten immer wieder das, was dieser sonst mit seinen beschränkten Mitteln in Zerkow vermutlich kaum so reichlich hätte bekommen können: Bücher. Darunter fand sich auch eines, das für Graetz – und nicht nur für ihn allein – von herausragender Bedeutung werden sollte: die Igrôt Tzafôn des Oldenburger Landesrabbiners Samson Raphael Hirsch.

1.2 Anziehung und Abstoßung: Samson Raphael Hirsch Es war der 25. September 1836, der Vortag zum Laubhüttenfest (Sukkot), an dem bei dem vereinsamten jungen Graetz ein mehr als willkommenes Bücherpaket von Benzion Behrend eintraf. Es enthielt neben einem romantischen Schauerroman Karl Spindlers, eines damals viel gelesenen Unterhaltungsschriftstellers, auch ein Exemplar der Igrôt Tzafôn des Oldenburger Landesrabbiners Samson Raphael Hirsch. Hirsch war mit diesen unter dem Pseudonym „Ben Usiel“ verfassten Briefen aus dem Norden 1836 gerade erst vor eine breite Öffentlichkeit getreten, hatte aber mit ihnen sogleich den Nerv seiner Leser getroffen – der Erfolg des Werkes war immens.71 Es war nämlich die Frage nach dem Wesen des Judentums und seiner Bedeutung für einen Juden des 19. Jahrhunderts, die Benjamin, der fiktive Autor des ersten Briefes, stellte. Hirsch ließ es den Adressaten Naphtali in den folgenden achtzehn Briefen unternehmen, die verstandesmäßige Vereinbarkeit des überlieferten Judentums mit den zeitgenössischen Vorstellungen von Philosophie, Gesellschaft und Politik aufzuzeigen – und damit das Judentum gleichsam gesellschaftsfähig zu machen. Damit war es dem noch jungen 70 Vgl. die kurze Erinnerungsnotiz von B[ehrend], [Nachtrag], 35. 71 Hirsch, Briefe. – Vgl. Meyer, Response, 78; ders., Selbstverständnis, 146 f, sowie die bibliographischen Angaben im Biographischen Handbuch I, Nr. 0734, 439–445. – Speziell zur Rezeptionsgeschichte der Igrôt Tzafôn vgl. Breuer, Hundert Jahre.

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Landesrabbiner in Oldenburg gelungen, in dem von den Anhängern weitgehender religiöser Reformen geprägten Modernisierungsdiskurs im Judentum auf ein Mal eine eher bewahrende, aber nichtsdestoweniger die eigene Gegenwart akzeptierende Position einzunehmen. Es schien plötzlich nicht mehr eine Wahl zwischen umstürzender Reform und sich selbst abschließendem Traditionalismus vonnöten zu sein. Gleichsam über Nacht wurde Hirsch zum wortmächtigen Heros weiter Teile der deutschen Juden, und er gewann damit auch jenen Achtzehnjährigen im Posenschen. Hier schien sich in der Tat ein Mittelweg zwischen den Extremen aufzutun, wie er von so vielen Juden dieser Zeit – und eben auch von Graetz – gesucht wurde. Denn bei aller Kritik an den verschiedenen Bräuchen und Vorstellungen seiner Glaubensbrüder in Posen, schreckte der junge Mann in der Diskussion mit seinem Freund Behrend doch auch vor Forderungen nach einschneidenden Reformen zurück: „Ich wußte aber, daß eine Reform, d. h. die Auslassung einiger mit dem ganzen verflochtenen Gesetze, das ganze Gesetz aufheben würde.“72 Scheinbar mit nur zwei unmöglichen Alternativen konfrontiert, schien sich mit Hirsch plötzlich ein neuer Führer für die Verwirrten seiner Zeit gefunden zu haben. „O gaudium!“, entfuhr es daher nicht von ungefähr dem jungen Graetz, als er im Herbst 1836 neuerlich die Schrift in Händen hielt, erinnerte er sich doch nur zu gut an die begeisterte Lektüre des Buches im Frühjahr desselben Jahres.73 Damals hatte er diese Neunzehn Briefe geradezu als Offenbarung empfunden, boten sie ihm doch „eine noch nie gehörte und geahnte Idee des Judenthums mit überzeugenden Argumenten, wie dieses die beste Religion und zum Heile des Menschen nothwendig ist.“ Plötzlich schienen sich ihm all jene schwierigen Stellen in der Torah, die er für „ungereimt und der Vernunft zuwider“ befunden hatte, ebenso zu klären wie der Talmud, den er bis dahin „bald für nichtnützende Spitzfindigkeiten, Sophistereien, bald für die Vernunft schärfende Mittel angesehen“ hatte. Angeregt von Hirschs Lektüre hatte er sich vorgenommen, den Talmud „womöglich zu ergründen, ihn philosophisch zu lernen“, und von missionarischem Eifer beseelt malte er sich bereits aus, wie er seine so gewonnenen Erkenntnisse über „dessen Wahrheit und Nützlichkeit allen“ zeigen würde.74 Gesagt, getan. Voller Enthusiasmus machte er sich sogleich an die Lektüre des ersten Talmudtraktates (Berakhôt) und parallel dazu des Buchs Genesis. In der Begeisterung über seine raisonnierende Lektüre ignorierte er erfolgreich, welchen intellektuellen Spagat er neuerlich übte: Denn einerseits wollte er beide Texte ausdrücklich nicht „wie Alterthumsmonumente“ verstehen, sondern jeden von beiden „wie ein 72 Tagebucheintrag Pessach [1836]. Graetz, TB, 15. 73 Brann, Lehr- und Wanderjahre, 257 (die Passage fehlt in Graetz, TB). – Damals war Hirsch noch nicht als Verfasser der unter dem Pseudonym „Ben Usiel“ publizierten Briefe bekannt. 74 Alle fünf Zitate aus dem Tagebucheintrag Pessach [1836]. Graetz, TB, 15.

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göttliches, Heil den Menschen bringendes Buch“; andererseits wandte er zum Verständnis durchaus seine erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen an, nämlich „die Theologie, die ich jetzt erst als eine Kenntnis beachtete, Geometrie, […] und Geschichte“.75 Diese Herangehensweise, die vorderhand traditionsorientiert die Heiligkeit eines Textes achtete, ohne dabei auf eine (mitunter auch massive) historisch und philologisch fundierte Kritik und Interpretation zu verzichten, sollte sehr spezifisch für Graetz bleiben und immer wieder für Irritationen hinsichtlich der Frage sorgen, welchem der widerstreitenden Lager im Judentum er denn nun eigentlich zuzuordnen sei. Graetz selbst ersehnte seinerseits in aller jugendlichen Naivität eine Aufklärung aller Zweifel und die definitive Entscheidung aller offenen Fragen von Hirsch. Doch selbst hierbei war er schwankend über das Wie und bedurfte der brieflichen Ermutigung durch Behrend, um an Hirsch nach Oldenburg zu schreiben, sich diesem als Schüler anzudienen und „in seiner Nähe die Lehrjahre des ächten Judenthums zuzubringen“.76 Den Landesrabbiner stilisierte er zum „ächteste[n] Jude[n]“ und erhoffte sich von ihm nichts Geringeres als „Wahrheit und reines Menschen- und Judenthum“.77 In seinem Schreiben an Hirsch, wie Graetz es in seinem Tagebuch als Abschrift verewigte, stimmte er ebenfalls diesen hohen Ton an, steigerte ihn sogar noch hin zu einem geradezu messianisch klingenden Lobpreis: er habe erwartet, „daß die kultivierte Welt, Juden und Nichtjuden, nach Lesung und Erfassung dieser Schrift“ ihren wahren Daseinszweck erkennten „sich um die Fahne der Thauro [= Torah] versammeln, einen Vereinigungskreis um Ew. Hochwürden als den Meister bildend […] die Allverbrüderung beginnen werden.“78 Graetzens hochgespannte Erwartungen schienen bald schon Erfüllung zu finden. Zwar hatte der Zerkower Rabbiner zu bedenken gegeben, der junge Mann könnte sich in seinem Schreiben zu freimütig über seine „atheistische Wunde“ geäußert haben und dies den verehrten Landesrabbiner abschrecken;79 doch des ungeachtet erreichte ihn bereits am 10. Januar 1837 eine sehr warmherzige Einladung Hirschs, nach Pessach zu ihm nach Oldenburg zu kommen.80 Graetz war im siebten Himmel, „Bilder einer goldenen 75 Ebd. 76 Tagebucheintrag vom [11.12.1836]; Graetz, TB, 22. – Die Formulierung ist nicht eindeutig hinsichtlich der Frage, ob Graetz von Behrend nur in seinem eigenen Ansinnen bestärkt worden ist, oder ob die Idee an sich bereits von dem Freund stammte. 77 Tagebucheintrag vom 16.12.[18]36; ebd., 22. – Vgl. auch Graetzens drittes Schreiben an Hirsch aus Halle; ebd. 40. 78 Vgl. die Abschrift unter dem 16.12.1836 in ebd., 22. 79 Tagebucheintrag [18.12.1836]; ebd., 24. 80 Vgl. die Briefabschrift im Tagebuchentrag vom 11.1.[18]37; ebd., 26. – Auch wegen der eingangs diskutierten Sprachenfrage sei hier ausdrücklich festgehalten, daß der Briefwechsel zwischen Hirsch und Graetz offenkundig auf Deutsch geführt wurde. Wie wenig selbstverständlich ein solcher Sprachgebrauch auch aufseiten der traditionsorientierteren Kräfte dieser

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Zukunft“ schwebten ihm „wie leicht geflügelte Amouretten vor“ und vermischten sich mit seinen hehren Zielen: „Jedoch mein Hauptwunsch geht dahin, meinen Glaubensbrüdern in der Reinigung ihres abergläubischen Schmutzes, und aus ihrem Herzen und Verbannung ihres ungeheuren Eigennutzes, der Triebfeder ihrer sämtlichen Handlungen, nützlich zu seyn.“81 In einem weiteren Briefaustausch wurden die formalen Dinge geklärt, so dass es schließlich feststand, dass Graetz ab Mitte Mai 1837 bei freier Kost und Logis als Schüler bei dem „idolirten Rabbiner“ würde lernen können.82 Wohl nicht zuletzt angesichts dieser Aussichten fühlte sich Graetz mehr denn je fremd in seiner Heimat und den meisten Menschen seiner Umgebung durchaus überlegen. „Ihr Denken und Hantiren ist aber weiter nichts als grober Sinnengenuß“, ereiferte er sich anlässlich eines Besuches bei seinem Onkel und Cousin in Xions: „Wie kränkend ist es, wenn man schon einen Vorgeschmack gebildeten Umgangs empfunden hat, unter Leuten zu seyn, die ganz und gar keinen Begriff davon haben“.83 Solche ihm so verachtenswerte Diesseitigkeit fand er jedoch beileibe nicht nur unter den Juden in der Provinz Posen, sondern auch bei den Christen, deren Gottesdienst in seinen Augen neben oberflächlicher Theatralik und geistloser Bibelauslegung nicht zuletzt Gelegenheit zu unsittlichen Begierden bereitete. Anlässlich des Besuches eines reformierten Gottesdienstes in Xions geißelte er neben vielem anderen die Tatsache, wie wenig gebetet worden sei; dadurch bekämen „die Gedanken Spielraum sich auf sinnliche und Sinnlichkeit erregende Gegenstände zu richten“. Welche sinnlichen und Sinnlichkeit erregenden Gegenstände er damit meinte? Es war der für ihn ungewohnte Umstand, dass Männer und Frauen gemeinsam saßen bzw. Männer sich auch auf der Empore befanden und von dort auf die Damen im Parterre hinunterschauen konnten, an dem er besonderen Anstoß nahm.84 Hier wurde erstmals in aller Klarheit deutlich, wie sehr Graetz sich gerade auch in moralischer Hinsicht von seiner Gegenwart, jüdisch wie nicht-jüdisch, abgestoßen fühlte. Dagegen erhoffte er sich von Hirsch eine tief greifende Erneuerung der Menschheit und der „überfeinerten u[nd] egoistischen Welt“ und feierte ihn in seinem zweiten Anschreiben als den „Wiederbringer des Geistes an das lange entgeisterte und verunstaltete Judenthum“ und mehr noch: als den „Lehrer der Tugend und Gottesfurcht“.85 Zeit war, belegt die Notiz, dass Hirschs Bücher noch um 1840 die einzigen deutschsprachigen Bücher gewesen seien, die altgläubige Traditionshüter in Süddeutschland überhaupt zur Lektüre zuließen. Vgl. Israelitische Annalen 2 (1840), 73. 81 Graetz, TB, 26. 82 Vgl. ebd., 27–30, Zitat 27. 83 Tagebucheintrag vom [25.2.1837]; ebd., 30. – Die Datierung von Michael ist falsch! 84 Tagebucheintrag vom [27.2.1837]; ebd., 31 f. – Die Datierung von Michael ist falsch! 85 Vgl. die Abschrift des Schreibens im Tagebucheintrag vom 16.1.1837. ebd., 27 f, Zitate 27.

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Für sich selbst nahm er in Anspruch, Hirsch bei diesem gleichsam messianischen Wirken zu assistieren und dachte dabei durchaus auch über die Grenzen des Judentums hinaus: Sein letztes Streben galt in einer Mischung aus aufklärerischem Denken und messianischer Sehnsucht einer „Allverbrüderung“ der Menschheit.86 Erfüllt von so hohen Erwartungen machte sich Graetz im April 1837 nach Oldenburg auf. Zunächst bemühte er sich darum zu fahren, was sich jedoch als sehr mühsam und auch als zu teuer herausstellte, zumal er bereits mit weniger Geld als erhofft hatte aufbrechen müssen. Zwar gelang es ihm unterwegs immer wieder, bei Bekannten und Freunden unterzukommen, doch half das seiner finanziellen Lage nur bedingt. Über Posen kam er zunächst nach Berlin, wo er drei Tage verbrachte und von der Stadt und ihren Sehenswürdigkeiten beeindruckt war: „Alles göttlich“, fand er etwa in der Gemälde-Galerie des Schinkelschen Museums „die vorzüglichsten Stücke berühmter Maler, Raphaels Madonna, der Sündenfall, Noach mit seinen Söhnen, die Hölle, das jüngste Gericht.“87 Neben den Besichtigungen der großen Zeugnisse klassischer und christlich-abendländischer Kunst machte er auch eine Reihe von Besuchen; dabei dienten ihm hier einmal mehr die beiden Briefe von Hirsch wie ein Türöffner auch zu prominenten jüdischen Zeitgenossen, was seiner Eitelkeit gewiss nicht wenig schmeichelte. Bei dem Prediger Salomo Plessner (1797–1883) etwa, dessen Schrift über die Bedeutung der Tradition er kurz zuvor gelesen hatte, wurde er eingeführt, wenn auch kaum ernst genommen. Seine Beschreibung des Predigers fiel letztlich negativ aus, dennoch war Graetz voll ungetrübter Begeisterung darüber, „Umgange mit großen Männern zu haben“.88 Plessner blieb nicht der einzige „große Mann“, den er auf seinem langen Weg nach Westen aufsuchte und der ihm auf Grund von Hirschs Briefen 86 Das Schlagwort der „Allverbrüderung“ scheint zentral für Graetzens Denken dieser Zeit, ohne dass er es mit einer näheren Erläuterung versieht; er gebraucht es wiederholt. Ebd., 20, 23 und 28. 87 Tagebucheintragungen [14.–17.4.1837]. Ebd., 35–39, Zitat 36 (es handelt sich um das heute als „Alte“ Museum bekannte Haus am Lustgarten, das 1830 eröffnet worden war). 88 Bemerkenswerterweise erwähnt der darüber verwunderte Graetz die „nachlässige, ungrammatische, ja mauschelnde[!] Sprache“ des Predigers, was wohl als ein weiterer Hinweis darauf gelten darf, dass er selbst anders, d. h. Hochdeutsch, sprach. Ebenso fällt seine Bemerkung auf, dass Plessner einen Bart trage und „religiös zu seyn“ scheine; es ist einer der wenigen Hinweise im Tagebuch auf einen Bart als eines der äußerlichen Distinktionsmerkmale altgläubigen bzw. orthodoxen Judentums; weder kommentiert Graetz den Bart bei Tiktin in Breslau noch dessen Fehlen bei Geiger noch die gestutzten Bärte von Hirsch oder Frankel; zwar sollte auch Graetz selbst später einen Vollbart tragen, allein dies scheint keine herausragende symbolische Bedeutung mehr für ihn gehabt zu haben. Die Plessner-Beschreibung ebd., 37 f, Zitat 38. – Zu Plessner nähere Angaben mit Bibliographie im Biographischen Handbuch I, Nr. 1401, 715.

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freundlich begegnete. Von Halle aus, wo er bei einem Onkel die PessachTage verbrachte, unternahm er mit diesem einen Abstecher zur Leipziger Messe, wo er die Gelegenheit nutzte, seinen „Landsmann“89 Julius Fürst (1805–1873) aufzusuchen. Fürst, der aus Zerkow stammte, war anscheinend ein entfernter Bekannter von Graetzens Mutter und arbeitete seit 1833 für die Verlagsbuchhandlung Tauchnitz.90 Die beinahe vierstündige Unterredung verlief zunehmend freundschaftlich, zumal beide offensichtlich manche Gemeinsamkeit hatten: „Streben fürs Judenthum“, so charakterisierte Graetz am Ende seines kurzen Berichtes die Meinung des Gelehrten, „sey das erste Bedingniß jedes studirenden Juden, und das heißt ihm – streng wissenschaftliches, wohl auch – philo[lo]gisches Studium“.91 Die hier geknüpfte Bekanntschaft mit dem zwölf Jahre älteren Fürst sollte später noch von Bedeutung für Graetz werden, als er in dessen Zeitschriften Der Orient und dem Literaturblatt des Orients einige seiner frühen Artikel veröffentlichen konnte; zunächst jedoch blieb es bei diesem ersten Kontakt. Den jungen und ehrgeizigen Mann zog es zu Hirsch, und nach dem Ende der Feiertage machte er sich von Halle aus auf den Weg. Gerade anhand von Graetzens Aufzeichnungen über seine Wanderschaft von Zerkow nach Oldenburg lässt sich der situative Charakter von Identität erkennen.92 Während der Reise hatte Graetz immer wieder nichtjüdische Weggefährten; zumeist handelte es sich um Handwerker oder Gesellen, mit denen er anscheinend gut auskam. Wenngleich er nur wenig über sie berichtet, so wird doch deutlich, dass auf der Wanderschaft von Ort zu Ort Fragen von Herkunft oder Religion keine herausragende Rolle spielten: Zuvörderst war es die gemeinsame Situation des Wanderns oder Reisens mit ihren spezifischen Bedürfnissen, Sorgen und Nöten, welche identitätsstiftend wirkte. Gerade auf den weniger frequentierten Wegstrecken wie etwa zwischen 89 So Graetzens eigene Begründung. Tagebucheintrag vom [23.4.] 1837. Graetz, TB, 40 ff, Zitat 41. 90 Er arbeitete an der Neuausgabe der Buxtorfschen Konkordanz zur Hebräischen Bibel, die 1837–1840 erschien. 1839 wurde er (unbezahlter) Lektor für aramäische und talmudische Sprachen an der Leipziger Universität, erst 1864 sollte ihm eine Titularprofessur verliehen werden. – Fürst ist wie viele andere Vertreter der Wissenschaft des Judentums so gut wie gar nicht eingehender im Kontext seiner Zeit behandelt worden; die einzige größere Arbeit zu ihm ist die (unveröffentlichte) Magisterarbeit von Katharina Vogel, Julius Fürst. Ich danke der Autorin für die freundliche Überlassung ihres Typoskripts. Eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse jetzt in Vogel, Julius Fürst. 91 Graetz, TB, Zitat 42. 92 Zum Folgenden vgl. die Eintragungen auf dem Weg nach Oldenburg; ebd., 34–47. – Zum Hintergrund des Wanderns/Reisens als Begegnung mit dem Fremden und Differenzerfahrung vgl. etwa Brenner, Erfahrung; Maurer, Reisen, sowie Prein, Aufbruch; oberflächlich sind hingegen die entsprechenden Abschnitte in dem Sammelwerk Geschichte des jüdischen Alltags: Liberles, Schwelle, 33–37; Lowenstein, Anfänge, 172–176, sowie Kaplan, Konsolidierung, 227–230.

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Hannover und Oldenburg war Sicherheit eine wesentliche Frage, und schon einzelne Bewaffnete, die den Weg kreuzten, konnten zumindest für Beunruhigung der Reisenden sorgen.93 Daneben spielten auch Wetter, Unterkunft und Essen eine bedeutende Rolle. Und selbst der Weg an sich konnte bisweilen ein belastendes Thema sein: „Ich hatte nichts zu denken und dachte daher unaufhörlich an den langen Weg, den ich noch zurückzulegen habe“.94 Sorgen bereiteten dem wenig begüterten Posener überdies immer wieder die zahlreichen notwendigen Grenzübertritte, sowohl aus Pass- wie aus finanziellen Gründen.95 Gegen all diese Befürchtungen boten Weggefährten Trost und Ablenkung, wenn nicht sogar Schutz und Hilfe. Graetzens andere Religion diente hingegen allenfalls in zweiter Linie als Distinktionsmerkmal – und dies vermutlich auch nur bei entsprechend interessierten Reisegefährten als Gesprächsthema96 – oder sie fiel wegen der Bestimmungen der jüdischen Speisegesetze beim Essen auf.97 Graetzens Tagebuch deutet sogar gelegentlich Unterkünfte bei Nichtjuden an, ohne dass er dies explizit erwähnte oder vor sich selbst rechtfertigen müsste.98 Mehr als einmal schimmert durch seinen knappen Bericht hindurch, dass auf der in den Quellen so schwierig zu fassenden Ebene des Alltags, der Lebenswelt die vermeintlichen Grenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen weitaus durchlässiger, ja fließender gewesen sein könnten, als sie in der historiographischen Rückschau erscheinen mögen. Eine jüdische Identität konnte so zwischenzeitlich schlichtweg bedeutungslos werden. Die Wanderung aus der so rückständigen Provinz Posen zu Hirsch nach Nordwestdeutschland wurde für Graetz selbst eine sehr lehrreiche und prägende Erfahrung. Deutlicher als je zuvor in seinem Leben wurde er mit den Herausforderungen der Moderne an das Judentum (sowohl als Religion wie als Kollektiv) konfrontiert. Dabei verstand der junge Mann sich selbst in Opposition zu diesen Herausforderungen. So charakterisierte er die Ansichten eines in Berlin lebenden Bruders einer Freundin aus Zerkow als „modern und frei“ und das hieß für ihn: „höchst unreligiös“. Dies umso mehr als lediglich die Rücksicht auf seine Mutter jenen Levi davon hatte absehen lassen, sich taufen zu lassen. Ein anderer seiner Altersgenossen erschien Graetz trotz aller Vorzüge bloß als „nach Vergnügen haschend[er] Raisonneur“. 93 Vgl. Graetz, TB, 45. 94 Ebd., 44. 95 Vgl. etwa ebd., 44 und 45. Bei seinen Besorgnissen spielte vermutlich auch das Erlebnis seines Scheiterns auf dem Wege nach Prag eine Rolle. – Zum rechtlichen Hintergrund des Passwesens in dieser Zeit siehe auch Torpey, The Invention of the Passport, hier bes. 71 ff. 96 Vgl. ebd., 39. 97 Vgl. ebd., 44 und 47. – Wie es scheint, hat sich Graetz weitgehend an die üblichen Speisegebote gehalten; doch letztlich bietet das Tagebuch als einzige diesbezügliche Quelle keine näheren Angaben. 98 Die Verpflegung erfolgte dann anscheinend auswärts bei Juden. Vgl. etwa ebd., 46.

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Während diese jungen Juden in der Metropole in dem jungen Mann aus der Provinz einen romantischen Schwärmer sahen, erschien ihr Streben nach und (ausschließliches) Interesse an profanen Dingen wie Bildung und Wohlstand Graetz als oberflächlich und haltlos. Dem gegenüber nahm er seine eigene Glaubensgewissheit und sein Vertrauen in seine religiöse Bestimmung als immensen Vorteil wahr: „überall sehe ich eine göttliche, alles leitende Vorsehung, der ich auch mein ganzes Sein überlasse. Diese mich oft bei jedem Vorfall begleitende Idee habe ich voraus vor den Jünglingen, die ich bis jetzt hier kennen gelernt“.99 Dieses Gefühl religiöser Erwählung half ihm freilich vor allem zur Selbstversicherung gegenüber Lebensentwürfen von Juden, welche deutlich anders geartet waren als der seine. Auch Graetz hatte sich bereits seit langem weite Bereiche säkularer Bildung im Selbststudium angeeignet und erachtete sie für wichtig, so dass Gelehrsamkeit und Bildung an sich wohl kaum sein Missfallen erregt hätten; was ihn freilich von solchen Raisonneuren unterschied, war das (seiner Meinung nach) hehre Ziel öffentlicher Wirksamkeit für das „wahre“ Judentum. Freilich war diese Haltung nicht frei von Eitelkeit, sogar von einem gewissen Dünkel. Wer sich jedoch darauf einließ, ihn so zu akzeptieren, der fand seine Freundschaft.100 So sicher er sich seiner Berufung war, für dieses „wahre“ Judentum wirken zu sollen, so unsicher war er sich darüber, worin dieses denn nun genau bestehe. Mittlerweile hatten sich zwar seine Erwartungen dahingehend konkretisiert, dass er das Wesen des Judentums bei Hirsch würde vollends erfassen lernen (deswegen war er schließlich unterwegs). Bei allem Sendungsbewusstsein war der junge Mann doch so intelligent, manche der Widersprüche zu erkennen, die sich mitunter zwischen seinen Verhaltensweisen und seinen sonstigen Vorstellungen auftaten. Dieser Prozess des Selbsthinterfragens, der sich auf dieser Wanderung nach Westen intensivierte, stürzte ihn regelrecht in Verwirrung.101 Bisweilen fühlte er sich geradezu überfordert von den 99 Zitate ebd., 36 und 37. 100 So etwa sein ehemaliger Lehrer Alexander Galliner, „ein recht gescheidter Mann, der sich nicht überschätzt, richtige Ansichten und wahre Bildung hat.“ Tagebucheintrag vom [15.4.1837]. Ebd., 36. 101 Ein so bezweifelter Brauch ist das „Fasten der Erstgeborenen“ am Vorabend des Pessachfestes. Dies wurde in Erinnerung an die Verschonung der Israeliten von der zehnten Plage der Ägypter (Ex 11 und 12) gehalten; nach polnischjüdischer Tradition konnte eine religiöse Pflichterfüllung wie die feierliche Beendigung des Studiums eines Talmud-Traktats hiervon entbinden. Am entsprechenden Abend 1837 notierte Graetz in seinem Tagebuch: „Heute ist erev Pessach, ich bin ganz verwirrt. Den ta’anit bechûrîm habe ich, ohne gelernt zu haben, eingestellt; ich kann mir aber solcher keine Rechnung geben warum?“ Doch zweifelte er bei seinem Onkel in Halle nicht bloß an der Berechtigung der überkommenen Erleichterung von der mitzvah des Fastens, sondern sogar an dieser halachisch vorgeschriebenen religiösen Verpflichtung: „Eben so wenig wie [er sich Rechnung geben konnte], warum ich fasten soll.“ Graetz, TB, 39; vgl. hierzu Brann, Lehr- und Wanderjahre, 38, mit näheren Erläuterungen zum Hintergrund.

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ihm widerfahrenden Zumutungen. Hierfür sorgte allein schon die für einen Posener Juden nicht alltägliche, weiter westlich aber ständige Minderheitsposition.102 Doch ließen sich vorerst noch alle Zweifel durch die erwartungsfrohe Aussicht auf Hirsch beiseite drängen. Dieser stand ihm als Ziel seiner Bestimmung während der ganzen Reise stets klar vor Augen: So bilanzierte er seine Erfahrungen am Ende des Berlin-Aufenthaltes, dass er durch sie „in den Stand gesetzt [sei], mit den Menschen umzugehen. Ich habe mit gebildeten Männern gesprochen und werde dadurch dreister, vor meinen Herzenskönig treten zu können. Diese Erscheinungen waren also nothwendig und gewiß von der Vorsehung bestimmt.“103 Am 8. Mai 1837 langte er am Ende seiner Pilgerschaft an und stand unvermittelt vor dem Ziel seiner Wünsche. „Schon an der kleinen Statur, die mir bezeichnet war, erkannte ich ihn, und war recht überrascht, aber nicht außer Fassung gesetzt“, notierte er in seinem Tagebuch.104 Darüber hinaus fand er nichts an Hirschs äußerer Erscheinung bemerkenswert, obschon dieser bereits äußerlich eine neue Form jüdischer Orthodoxie repräsentierte: Mit kurzem Haar und modischem Bart, einer unauffälligen Kopfbedeckung, in der Synagoge sogar durchaus einem protestantischen Prediger ähnlich, so verkörperte Hirsch schon optisch das Mendelssohnsche Ideal religiöser Observanz und allgemeiner Bildung – ein Ideal, das Hirsch selbst auf die Formel des „Mensch-Jisroel“ brachte.105 Diesem Ideal war auch der Tagesplan gemäß, den sich Graetz aufstellte, nachdem er nach einer kurzen Examinierung von Hirsch endgültig als Schüler und Famulus angenommen worden war: Morgens um vier wurde mit zwei Stunden Gemara und dem Schulchan Arûch begonnen, bevor nach einer zweistündigen Frühstücks- und Gebetspause für zwei weitere Stunden Gemara und damit also der Talmud studiert werden sollte. Bis zum Mittag folgten dann zwei Stunden Griechisch, um sich nach einer Mittagspause profanen Fächern zuzuwenden (zwei Stunden „Geschichte od. Latein od. Phisik“ und zwei weitere Stunden „Mathematische Wissenschaften, Geographie“). Von sechs bis acht Uhr abends folgte dann noch das Studium der hebräischen Bibel (des Tenach) sowie von Rechtsentscheiden. Für die 102 In einem Wirtshaus zwischen Nienburg und Syke, in dem er mittags eingekehrt war, ließ er sich ein Butterbrot geben, „und dies mit Butter geschmirt, von welcher zwei Fuhrleute aßen, die mit denselben Messern Fleisch und Wurst gegessen hatten, wurde mir so ekelig und so unheimlich, daß ich, wenn es anginge, umzukehren Lust hatte. So kleinmüthig ist der Mensch zu Zeiten.“ Tagebucheintrag vom [7.5.1837]. Graetz, TB, 46 f, Zitat 47. 103 Ebd., 39. 104 Tagebucheintrag vom [8.5.1837]. Ebd., 47. 105 Zu Hirsch und seiner Tätigkeit in Oldenburg vgl. Breuer, Orthodoxie, 30–33 und 61–82; Meyer s. v. Hirsch; Meyer, Response, 78 ff; Morgenstern, Frankfurt, 101–204; Rosenbloom, Tradition; Rosenblüth, Hirsch; Trepp, Landesgemeinde, 21–24, sowie die oben, Anm. 1, angegebene Literatur.

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Abendstunden plante Graetz schließlich abwechselnd deutsche, hebräische, französische und lateinische Lektüre ein.106 Dieses immense Programm bearbeitete er teils mit Hirsch selbst, teils mit einem Privatlehrer, der ihn jedoch weit weniger beeindruckte. Ein Teil wird vermutlich auch weiterhin im Selbststudium erfolgt sein, zumal als Graetz später diesem Curriculum noch Englisch und Syrisch hinzufügte.107 Doch lernte Graetz nicht bloß bei Hirsch, er ging ihm auch zur Hand. Zum einen half er bei den Endkorrekturen zu dessen zweitem Werk, dem Versuch einer Systematisierung seiner in den Briefen angerissenen Gesetzeslehre;108 zum anderen half er ihm auch bei der Ausübung seiner Amtspflichten als oldenburgischer Landesrabbiner. Das Großherzogtum war zu dieser Zeit einer der fortschrittlicheren Staaten in Deutschland, was die Haltung gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung angeht, wenngleich die zugrunde liegende Tendenz weiterhin eine restriktive blieb.109 Es war in der Verordnung von 1827 ausdrücklicher Wille der Obrigkeit gewesen, einen akademisch gebildeten Mittler zwischen den Gemeinden und der Obrigkeit einzusetzen, für den die deutsche Sprache – diametral entgegengesetzt zu den Regelungen etwa in Preußen – verpflichtende Amtssprache sein sollte. Das damit geschaffene Landesrabbinat war 1829 erstmals mit Nathan Marcus Adler (1803–1890) besetzt worden, dem späteren Chief Rabbi des britischen Empire. Adler stellte einen der ersten jener Doktor-Rabbiner dar, die so typisch für das deutsche Judentum werden sollten.110 Bereits zwei Jahre nach seinem Amtsantritt verließ Adler das Herzogtum in Richtung Hannover und empfahl den jungen Samson Raphael Hirsch als Nachfolger. Dieser war ein Schüler Isaac Bernays in Hamburg gewesen, welcher als erster deutscher Gemeinderabbiner überhaupt eine Universität besucht und sich durch seine philosophische Deutung der Bibel hervorgetan hatte (wenngleich er die Reformbewegung unerbittlich ablehnte).111 Diesem Vorbild nacheifernd, hatte Hirsch ein Studium der Geschichte, der klassischen Sprachen und der Philosophie in Bonn aufgenommen, doch nach nur einem Jahr wieder abgebrochen; des ungeachtet wurde er auf die Nachfolge von Adler nach Oldenburg berufen.

106 Tagebucheintrag vom 10.5.1837. Graetz, TB, 48. 107 Vgl. ebd., 66. 108 Hirsch, Choreb. Versuche über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung (1837). Vgl. Graetz, TB, 49. 109 In Oldenburg lebten zu der Zeit rund 700 Juden; vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 348, Anm. 1. – Zum folgenden vgl. Wilke, „Talmud“, 476 f; Trepp, Landesgemeinde, 14–17. 110 Zu Adler vgl. Finestein, Adler and Salomons, sowie Biographisches Handbuch I, Nr. 0024, 133–136. 111 Zu Bernays vgl. Brämer, Rabbiner und Vorstand, 122–127, sowie Biographisches Handbuch I, Nr. 0148, 188–191.

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Der Landesrabbiner bewohnte mit seiner Familie ein nicht gerade großes Anwesen in der Residenzstadt, das nicht mehr im besten Zustand war, und in dem sich auch die Synagoge befand.112 Auch der junge Famulus lebte unter seinem Dach. Der enge Verkehr zwischen beiden ergab rasch ein Vertrauensverhältnis. Graetz erwies sich offenkundig als ein gelehriger Schüler, so dass er während eines Kuraufenthaltes von Hirsch in Bad Ems sogar die Erlaubnis erhielt, „die etwaigen Sche’elôt [religionsgesetzlichen Anfragen] nach klarem Durchgedachthaben zu beantworten“. Doch bekam Graetz bald schon seinen noch immer ungenügenden Wissensstand zu spüren, obwohl das Talmudstudium bis dahin seine Hauptbeschäftigung gewesen war: „Nicht einen einzigen dîn oder halachah konnte ich als Ergebnis des Studiums richtig angeben.“113 Hier kündigte sich erstmals bei Graetz so etwas wie Unzufriedenheit an, auch wenn er sie vorerst noch auf sein eigenes Lernpensum bezog. Der Lernprozess, der sich in Graetz aus Erlebnissen wie diesen Schritt für Schritt entwickelte, war derjenige einer Enttäuschung wie auch der geistigen Abnabelung nach allzu überschwänglichem Beginn, wie er vermutlich nicht selten zu finden ist. Noch vor dem Beginn seiner Oldenburger Zeit hatte der damals Neunzehnjährige angesichts des bevorstehenden Reiseantritts eine weitere Parallele zu seinem „verstorbenen Freunde Wieland“ diagnostiziert: der nämlich sei „auch[!] als 20jähriger Jüngling von dem Begründer der Wissenschaften in Deutschland, dem menschenfreundlichen Bodmer, nach Zürich berufen [worden], und dabei ebenfalls in solches Entzücken gerathen und [habe] die glänzendsten Aussichten entworfen“.114 Die Parallelen sollten sich jedoch nicht allein darauf beschränken, dass ein verehrter Meister – hier Bodmer, dort Hirsch – einen unbekannten jungen Lernwilligen in sein Haus aufnimmt. Wie Wieland merkte auch Graetz recht bald, dass der ursprünglich verehrte Meister oftmals Standpunkte vertrat (und hierin Gefolgschaft verlangte), die mit seinen eigenen im Widerspruch standen. Allerdings kann man bei Graetz wohl eher noch als bei Wieland von anfänglicher „völlige[r] Selbstpreisgabe“ sprechen,115 und recht lange nahm Graetz die Maßgaben seines „Herzenskönigs“ bereitwilligst hin. So teilte Hirsch ihm mit, daß er die Lektüre der erotischen Teile des Bayleschen Dictionnaire aus sittlichen Gründen ablehne: „Es ist ein Schatz von Gelehrsamkeit und viel daraus zu lernen, aber der Mann hat sich pikirt, besonders divrej ärwah [Obszönitäten] 112 Vgl. Schrape, Forschungsergebnisse, 50 ff; Wachtendorf, Gebäude, 591. 113 Tagebucheintrag vom [4.7.1837]; vgl. Graetz, TB, 53. – Ein dîn ist ein religionsgesetzlicher Entscheid, eine halachah ein Religionsgesetz. 114 Tagebucheintrag vom 11.1.1837; ebd., 25. – Mehr noch als jene erste Selbst-Parallelisierung gibt diese Bemerkung Aufschluß darüber, dass Graetz nicht bloß ein begeisterter Leser war, sondern sich auch über die Autoren zu informieren suchte. Seine Quelle lässt sich freilich nicht mehr ermitteln. 115 Sengle, Wieland, 46.

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hervorzuheben; dergleichen ist tame und metame [rituell unrein und verunreinigt], verweilen Sie bei dergleichen nicht und lesen es nicht, es nützt nicht und schadet; lesen sie nur das rein wissenschaftliche.“ In dieser Zeit (Sommer 1837) war Graetz noch ganz der willige Schüler: „Ja, das will ich thun, großer liebreicher Mann, ich will ganz nach deinem Willen leben“, gelobte er in seinem Tagebuch.116 Erst allmählich erkannte er Begrenztheiten bei seinem Idol. Hirsch selbst hatte schon in seinem ersten Brief Graetz vor einer unerfüllbaren Idealisierung und der schwärmersichen Verehrung eines Lehrers gewarnt. Der zu dieser Zeit gerade erst achtundzwanzigjährige Oldenburger Landesrabbiner hatte darin seiner eigenen Position insofern Ausdruck verliehen, als er sich als „keinen schon vollendeten Meister, sondern einen selbst noch im Forschen begriffenen Mann“ beschrieb.117 Doch waren es nicht die theologischen Positionen und scheinbaren Unvereinbarkeiten, die einen Keil zwischen die beiden Suchenden trieben; es bedurfte einer ganzen Reihe anderer, persönlicher Meinungsverschiedenheiten, um die beiden jungen Männer einander zu entfremden. Der erste und auch langfristig wirkungsmächtigste Dissens betraf die Rolle der Frau, genauer: die Rolle von Hirschs Gattin Johanna (st. 1882)118. Es hatte allerdings über ein Jahr gebraucht, bis sie und ihre Kinder, mit denen Graetz schließlich unter einem Dach lebte, in seinem Tagebuch überhaupt Erwähnung fanden, und es scheint nicht ganz unwahrscheinlich, dass diese Erwähnung anlässlich eines Aufbegehrens der Gattin gegen die beständige enge Zusammenarbeit von Hirsch mit dem jungen und schwärmerischen Mitbewohner erfolgte; jedenfalls beklagte sich Graetz über die plötzliche Aufmerksamkeit, die den gesundheitlichen Besorgnissen der Ehefrau anlässlich eines kurzzeitigen Umzugs gezollt wurde. Hirsch Sorgen waren 116 Briefabschrift und Kommentar im Tagebucheintrag vom [29.7.1837]. Graetz, TB, 54. – Bayle hatte sich bereits zeitgenössisch angesichts zahlreicher Vorwürfe diesbezüglich genötigt gesehen, dem vierten Teile ein Nachwort („Éclaircissement sur les obscénitez“) beizufügen, in dem er sich mit dem umfassenden Charakter seines Werkes rechtfertigt; 1741–1744 erschien eine deutsche Übersetzung von Johann Christoph Gottsched, die allerdings an den anstößigen Stellen stark überarbeitet war. Welche Ausgabe Graetz gelesen hat, wird nicht klar, doch scheint es wahrscheinlich, dass er das Original gelesen hat. Neben diesem Aspekt ist zweifellos auch das skeptische Potential der Bayle-Lektüre, insbesondere in Bezug auf Dogmen und Frömmigkeit, zu bedenken, was wahrscheinlich den jungen Graetz nicht unbeeinflusst gelassen haben wird, ohne dass sich dies deutlich niedergeschlagen hat. Zumindest bedeuteten Skepsis und Kritik für ihn stets notwendige Voraussetzungen für Wissenschaft. 117 Vgl. Abschrift des Briefes von Hirsch an Graetz vom 26.12.1836 in Graetz, TB, 26. 118 Bemerkenswerterweise ist aus der Forschungsliteratur nur wenig über Johanna Hirsch zu erfahren, ungeachtet der Tatsache, dass sie für rund fünfzig Jahre an der Seite des so bedeutenden Samson Raphael Hirsch als Gattin wirkte und ihm elf Kinder gebar. Dies allein sollte vermuten lassen, dass sie für die Geschichte zumindest des (neo-)orthodoxen Judentums bedeutender ist, als es ihre Fussnotenexistenz nahezulegen scheint. Zu ihren Lebensdaten vgl. Arnsberg, Geschichte der Frankfurter Juden III, 200.

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Graetz nichts weiter als „weibische Ängstlichkeit“, nichts als „Weibischkeit“. In Graetzens ideale Welt reiner Religiosität und Gelehrsamkeit brach damit nicht bloß die reale Welt des Alltagslebens ein, dies profanierte vielmehr den Gegenstand seiner Verehrung, was ihn verbittert schreiben ließ: Als Ur-Ursache dieser Erscheinung [der weibischen Ängstlichkeit Hirschs] scheint mir das skrupulöse Folgeleisten dem Weibe, dem Weibe deren Ideen, wenn sie auch noch so gebildet ist, sich nicht über die Sphäre von Tassen mit goldenen Rändern und weißer Wäsche erhebt. Geht der Mann in solche Ideen ein, so ist er seiner Sphäre entrückt, und kleinlich ist sein Trachten, sein Streben, sein Thun.119

In der Folge gab es nur wenige Tagebucheinträge, in denen Johanna Hirsch nicht das Ziel seines Spottes, seiner Verachtung oder gar seines Hasses wurde; mehr aber noch traf es ihn, dass „eine solche Belespritin – so ein trippliges zimperliches Ding“ seinen verehrten Herzenskönig zu „beherrschen“ vermocht haben solle120 – und dies obwohl sie selbst anscheinend sehr freimütig zugab, sich mehr für Schiller als für religiöse Belange zu begeistern. „‚Was war ich immer für eine Judenfeindin‘“, kolportiert Graetz ein halbes Jahr später eine Aussage der Rabbinersgattin, „‚Ich sagte immer: das Judenpack‘“ – woraufhin er in seinem Tagebuch in ohnmächtigem Zorn hasserfüllt zischte: „Warte nur, du Luder, das Judenpack soll dir theuer zu stehen kommen.“121 In beider Rivalität um Hirschs Gunst und Aufmerksamkeit schien Graetz zunehmend ins Hintertreffen zu geraten, wobei wachsende Geldsorgen seine Position weiter verschlechterten. Geldsorgen waren das zweite Hauptthema seiner Tagebucheinträge in dieser Zeit, und zwischenzeitlich sah er sich gezwungen, eine Anstellung als Lehrer zu erwägen, ja es drohte sogar eine völlige Aufgabe seiner Hoffnungen und Wünsche, für das Judentum wirken zu können.122 Sein Stolz ließ ihn diese Nöte ganz besonders vor der Rivalin zu verbergen suchen, auch wenn er sich selbst damit Hirsch als möglichen Helfer entzog.123 Allerdings strahlte zu dieser Zeit Hirschs Stern in Graetzens Augen schon nicht mehr allzu hell. Dem jungen Heißsporn wirkte der einstige Heros nun zu zögerlich, zu verhalten, und insgeheim stöhnte Graetz angesichts des neuerlich auf weibliche Ränke zurückgeführten mangelnden Durchsetzungsvermögens Hirschs, ja angesichts dessen übergroßer Ängstlichkeit: „das ist die Triebfeder mancher – ach so mancher That“.124 119 Alle drei Zitate Tagebucheintrag vom [7.6.1838]. Ebd., 61. 120 Tagebucheintrag vom [26.8.1838]. Ebd., 62 f beide Zitate 63. 121 Tagebucheintrag vom [13.2.1839?]. Ebd., 66 ff, Zitat 67 f. 122 Es drohte ihm die Aussicht, als Brotberuf Arzt werden zu müssen; vgl. ebd., 72, 80. 123 Vgl. etwa ebd., 69. – Weitere Einträge, in denen er seine beständigen Geldsorgen anführt, finden sich ebd., 56, 58, 62, 64 f, 67, 68 u. ö. 124 Tagebucheintrag [Herbst/Winter 1839]. Ebd., 73. – Vgl. auch den Tagebucheintrag vom [16.9.1839]: „Ich möchte ihn man of thougt but not of deed nennen. Nicht als ob er nicht wollte, aber daß er nicht im Stande ist.“ Ebd., 72.

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Und jetzt finden sich im Tagebuch Einträge, die mit dem Landesrabbiner selbst hart ins Gericht gehen. Auf einer Dienstreise nach Aurich, die der Rabbiner zusammen mit seinem Famulus unternahm,125 entdeckte Graetz plötzlich die liturgischen Missstände im frommen Gemeindegottesdienst (obgleich ihm das Phänomen vermutlich nicht so neu war). In Hirschs Ansichten erkannte er mit einem Male die Quelle allen Übels, insbesondere in dessen Treue zum Schulchan Arûch, der noch heute maßgeblichen Kodifikation des jüdischen Ritual- und Religionsgesetzes aus dem 16. Jahrhundert. Hirsch war ja gerade dadurch bekannt geworden, daß er dem geoffenbarten Gesetz, der mündlichen wie der schriftlichen Torah, auch für das 19. Jahrhundert eine ungebrochene Relevanz zumaß. Insofern war Graetz die große Bedeutung, die Hirsch eben jenem Werk beimaß, nicht erst seit seiner Ankunft in Oldenburg bestens bekannt, und noch weniger dürfte das Erlebnis des Gottesdienstes in Aurich eine Überraschung für ihn dargestellt haben. Und doch brach nun unvermittelt sein Abscheu über das Durcheinander, über die mangelnde Ordnung aus ihm heraus, und jetzt war auf einmal der Schulchan Arûch ein „Pfuhl des unjüdischen[!] Schmutzes, der schon manchen Jüngling dem Judenthum abgeführt“ habe.126 Dass es sich hierbei freilich nicht um eine plötzlich über ihn gekommene Erkenntnis handelt, sondern eher Enttäuschung seine Feder führte, zeigt folgendes „Lob“ der Predigt Hirschs: Diese sei gut gewesen, „sie rührt[e] alle Zuhörer“, aber „[d]as Judenthum hat solch eine Fülle von Ideen und Poesie in sich, daß selbst die ungeschickteste Hand die Gemüther rühren kann.“127 Offensichtlich fiel es Graetz schwer, einen Erfolg des Rabbiners ungeschmälert zu lassen. Derlei Animositäten waren aber nur Ausdruck eines schwelenden Konfliktes, der sich fühlbar verschärfte und ihre Beziehung mehr und mehr zum Bruch drängte. Denn Hirsch, selbst ja noch ein junger Mann, der gerade erst dabei war, seinen Standpunkt zu definieren, war in Oldenburg eingebunden in ein Netz von Verpflichtungen und Erwartungen, die gelegentlich widerstreiten konnten, auch wenn die wenigen erhaltenen Quellen dies bestenfalls andeuten. In seinen Amtsgeschäften war er der Obrigkeit verpflichtet, aber als Repräsentant der Oldenburger Juden eben von diesen abhängig, nicht zuletzt finanziell. Dabei dürften sich selbst in der überschaubaren Oldenburger Judenschaft die Gemeinden in den Landstädten von denen der Hauptstadt unterschieden haben und dementsprechend eigene Vorstellungen an den Landesrabbiner herangetragen haben – so gesehen konnten sich tatsächlich 125 Derlei Inspektionsreisen, die Hirsch alle zwei Jahre durchführte, waren eine weitere Neuerung des Landrabbinats in Oldenburg. Vgl. AZJ 3 (1839), 574. Markus Brann erwägt, ob dieser Bericht „aus dem Oldenburgischen“ von Graetz stammen sollte, doch sprechen m. E. Sprachduktus und Argumentationsweise dagegen. Vgl. Verzeichnis, 125, Anm. 1. 126 Tagebucheintrag [Herbst/Winter 1839]. Graetz, TB, 73 f, Zitat 74. 127 Ebd.

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die Zustände in Aurich von denjenigen in der Stadt Oldenburg unterscheiden. Diese Amtspflichten als Landesrabbiner mussten aber beileibe nicht immer deckungsgleich sein mit den eher grundsätzlichen Positionen, die Hirsch in seinen Schriften geäußert hatte, wo er eben auf einer theoretischen Ebene argumentieren konnte. Schließlich kam für den jungen Amtsträger auch noch seine Rolle als Familienvater und Ehemann hinzu, was Verantwortlichkeiten mit sich brachte, deren Konfliktpotential sich lediglich in dem Tagebuch von Graetz niederschlagen hat – und hier eben auf Grund der häuslichen Konfliktlage in einer sehr verzerrten Perspektive. Denn Graetz, der in Oldenburg weitgehend losgelöst von Verwandten und Freunden lebte, konnte sich dort ganz dem Studium und dem Nachdenken über das „wahre Judentum“ widmen, sich gleichsam in einer idealen Sphäre bewegen; die praktischen Fragen des Alltags und der rabbinischen Amtsgeschäfte interessierten ihn wenig und fanden kaum Niederschlag in seinem Journal. Gleiches gilt für den zwischenmenschlichen Verkehr mit den übrigen Bewohnern des Rabbinerhaushaltes, der Rabbinersgattin und ihren Kindern; sie fanden erst dann Eingang in jene Seiten, als sie begannen, die Kreise seiner Beschäftigung und vor allem seine Ansprüche an Hirsch empfindlich zu stören. In dem sich so schärfenden Gegensatz zu Hirschs Ehefrau definierte Graetz die Sphäre der Schriftgelehrsamkeit innerhalb des Judentums als dem Alltag entrückt, als geistig – und als männlich. Dies führte rasch dazu, dass er zunächst die Situationen, in denen er sich von Hirsch in irgendeiner Weise enttäuscht fühlte, auf den schlechten Einfluss seiner Frau zurückführte; doch konnte selbst diese Strategie nicht verhindern, dass das Ideal von Jüdischkeit verblasste, dass der einst so gefeierte Mann in Graetzens Augen allmählich verweichlichte: „Was versteht er unter einem jüdischen Leben?“, fragte am Ende der enttäuschte Verehrer rhetorisch, um selbst höhnisch zu antworten: „Eine ängstliche Kreatur zu sein, in seinem Hause wie eine Schnecke den ganzen Tag zu stecken – zu zittern, wenn die Frau ihre Megärenstimme erhebt“.128 Die Entwicklung kulminierte in den Verhandlungen um die Nachfolge auf das vakante Rabbinat in Wollstein, die Graetz für seinen Lehrmeister erträumte. Graetz korrespondierte in dieser Angelegenheit vielfach mit seiner alten Heimat und bemühte sich, zugunsten einer Berufung Hirschs zu wirken, wo es nur irgend ging – ohne allerdings den so eigentümlich Protegierten überhaupt zu konsultieren. Wenngleich Graetz die hier widerstreitenden Interessen nicht reflektierte, so lagen sie dennoch auf der Hand: Während er selbst von einem solchen Ortswechsel seines Meisters träumte, der nicht zuletzt Graetzens Eigenliebe als Posener Juden sehr geschmeichelt hätte,129 128 Tagebucheintrag vom [1.5.1840]. Ebd., 77 f, Zitat 78. 129 Zu dieser Zeit gab es zwei namhaftere Gemeinden mit Vakanzen, wobei die Gemeinde von Posen als die mit Abstand größte in Preußen sicherlich von einiger Bedeutung gewesen

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kann man wohl davon ausgehen, daß die aus wohlhabenderem Braunschweiger Hause stammende Johanna Hirsch die Aussicht, ihr Domizil in einer veritablen Residenzstadt gegen eine Kleinstadt in der wahrlich letzten preußischen Provinz einzutauschen, kaum als reizvoll erachten konnte. Auch die finanziellen Rahmenbedingungen der Familie hätten sich nicht verbessert. Hirsch selbst stand zwischen diesen beiden Positionen und schwankte anscheinend. Die Verhandlungen verdeutlichten mehr denn je die widerstreitenden Ansprüche entlang der alten Konfliktlinien im Hause Hirsch. Graetz schreibt hierzu in einem langen, hebräischsprachigen [!] Eintrag: Hirsch „macht sich hier lächerlich; die Leute von Oldenburg wollen ihn weder anerkennen noch seinen Schabbatpredigten zuhören; da ist niemand, mit der er sich aussprechen oder Gedanken tauschen könnte […]. Schlägt aber die Stunde der Erlösung, daß er seine Stellung ändern und in einer Stadt sitzen könnte, wo alle ihn wie einen Engel verehren würden – was antwortet er da? ich konnte mich nicht zurückhalten, wie Feuer brannte es in meinem Innern, er machte kleinliche Rechnungen, was er hier verbraucht und was er in Wollstein sparen könnte, denn der Kurs ist der gleiche. Er berät sich mit seiner Familie, mit seiner Gemahlin, diesem verfluchten Weib, aber über eines hat er noch kein Wort verloren, über die Hauptsache: über die Lehre, und wie er sie vor Übeltätern zu wahren hätte.130

Am Ende scheiterte Graetzens Projekt an den Forderungen des Rabbiners, sehr zum Entsetzen des jungen Poseners, der ungeachtet seiner eigenen chronischen Geldsorgen überhaupt nicht verstehen wollte, wie Hirsch wegen einiger hundert Taler131 sich die Chance, in der Provinz Posen zu amtieren, hatte entgehen lassen können. Dabei ging der alleinstehende junge Mann ebenso großzügig über die anders gearteten Bedürfnisse eines Familienvaters mit mehreren Kindern hinweg wie über die Frage, inwieweit ein Rabbinat in einer Posenschen Kleinstadt für einen gebürtigen Hamburger wie Hirsch so erstrebenswert war wie für den dort aufgewachsenen Graetz. Doch derlei Erwägungen waren für den jungen, wohl auch in seinem Patriotismus gekränkten Mann in seinem Eifer für die vermeintlich einzig würdige Sache nicht nachvollziehbar, und so ließ er seiner Bitterkeit freien Lauf und zog nun Hirschs Judentum und dessen Hingabe daran in Zweifel: „Er wäre; doch hat Brann Recht mit seiner Einschätzung, dass Hirschs Aussichten auf die Nachfolge des weithin bekannten R. Akiba Eger im Wesentlichen auf Graetzens Wunschträume zurückzuführen waren; vgl. Brann, Lehr- und Wanderjahre, 348. Die wesentlich wahrscheinlichere Nachfolge Munks in Wollstein wiederum hätte Hirsch nicht einmal einen Prestigegewinn eingetragen. 130 Tagebucheintrag vom [1.5.1840]; Graetz, TB, 77 f, Zitat 77 (Übersetzung Reuven Michael). 131 Hirsch hatte laut Graetz 800 Taler gefordert (in Oldenburg scheint er ca. 600 bekommen zu haben); das Gemeindeangebot scheint sich auf zusammengenommen 400–450 Taler belaufen zu haben; vgl. ebd., 79 und 76.

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hätte doch nichts getaugt für Polen! Nein wahrlich nicht, weil er zu wenig jüdisch denkt, obgleich überjüdisch thut, und das Bäffchen, d. h. Pastorat, hätte er doch nicht ablegen können – er und namentlich sie, gefallen sich zu sehr darin.“132 Plötzlich vermeinte Graetz zu erkennen, dass der Landesrabbiner kaum mehr auf dem Boden des Judentums stehe, indem er nun Hirsch dem radikal-reformerischen Lager mit seinen dem protestantischen Gottesdienst entlehnten Formen zurechnete, nachdem er ihn noch kurz zuvor des „Schûlchan-arûch-ianismus“,133 also gleichsam der Stockfrömmigkeit, geziehen hatte – kurz: das Zerwürfnis resultierte nicht aus einer durchdachten, prinzipiell anderen Sicht des Judentums. Sein Verhältnis zu Hirsch war eher aus emotionalen Gründen gestört, so dass dieser es ihm mit nichts mehr recht machen konnte. Das lag nicht zuletzt an Graetzens überspannten und notwendigerweise enttäuschten Erwartungen. Zwar hatte Hirsch diese Gefahr anfangs wahrgenommen und reagiert, als er in seinem zitierten Brief vor solchen Idealisierungen gewarnt hatte, allein es hatte nichts gefruchtet. Das Ende kam folglich beinahe zwangsläufig. Hirschs Abschied von seinem ehemaligen Verehrer zeigt, dass er die Notwendigkeit der Trennung einsah, und er bemühte sich, ungeachtet der Missstimmungen einvernehmlich zu scheiden: Sie trennten sich mit einem Kuss. Graetz seinerseits musste sich dazu anhalten, nicht undankbar zu sein; und doch wurde seine Erleichterung deutlich spürbar, als er anlässlich seines Weggangs aus Oldenburg aufseufzte: „Der ersehnte Tag ist da“!134 Gleichwohl war es diesmal mehr denn je ein Aufbruch ins Ungewisse.

1.3 Abgrenzung: Abraham Geiger und die Reformbewegung Als Graetz aus Oldenburg nach Posen zurückreiste, stand er wieder vor seinem alten Problem: Er hatte zwar viel Enthusiasmus und Eifer für „das Judentum“, aber keine nähere Vorstellung davon, was er denn mit „dem Judentum“ genau meinte; nur so viel merkte er immer wieder, dass er sich mit einfacher Fortführung der verschiedenen Traditionen genauso wenig anfreunden konnte wie mit Reformbegeisterung als solcher. Direkte Aussichten auf eine Anstellung hatte er nicht, ebensowenig irgendwelche konkreteren Pläne, 132 Tagebucheintrag vom [29.5.1840]; ebd., 79 f, Zitat 79. 133 Tagebucheintrag [1.5.1840]; ebd., 77 f, Zitat 78. 134 Tagebucheintrag vom [26.7.1840]; ebd., 81. – Wie ungenau bis beschönigend die bisherigen biographischen Annäherungen an Graetzens Leben sind, zeigt Weniges besser als Schilderungen dieses Abschieds: nach Bloch trennten sie sich „nach offener und friedlicher Aussprache“; Biographie, 19; laut Meisl schied Graetz von Hirsch gar „mit herzlichem Wehmut“; Graetz, 13; Michael bringt in seiner Biographie kaum mehr als das bloße Faktum des Aufbruchs. Graetz, 28.

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wie er an eine solche kommen sollte, so dass er letztlich auch nicht wusste, auf welche Weise er seinen Eifer hätte umsetzen können. Überdies wurde ihm auf der Rückreise schon bald klar, dass sein Aufenthalt im Nordwesten Deutschlands nicht spurlos an ihm, der sich selbst noch als polnischer Jude verstand, vorübergegangen war – bereits in Frankfurt an der Oder stellte er erstaunt fest, dass der traditionelle Gottesdienst „noch den alten Schlendrian [gehe]. Ich habe gemeint, weil ich mich verändert habe, muß alles sich verändert haben.“135 Doch täuschte er sich in seiner Einschätzung sehr, wenngleich ihm der Frankfurter Gottesdienst an sich als andachtslos erschienen sein und an eine posensche Winkelsynagoge erinnert haben mag. An der Oder traf er noch einen Mann als altgläubigen Rabbiner an, der sich bereits anschickte, einer der vehementesten und weitestgehenden Verfechter der Reformbewegung im Judentum zu werden: Samuel Holdheim (1806– 1860).136 Bereits in ihrer Unterhaltung offenbarte dieser sich als Vertreter der Veränderungen. Er habe einen Ruf als Landesrabbiner nach MecklenburgSchwerin, erzählte Holdheim Graetz, wo er plane, ein Lehrerseminar zu errichten. Allein es blieb mehr oder weniger bei Höflichkeitsbekundungen, so recht warm wurden sie nicht miteinander, und für den hungrigen Reisenden sprang nicht einmal eine Einladung zum Essen heraus.137 Vorerst blieb ihr Zusammentreffen für beide bloß Episode. Auch im heimatlichen Posen machten sich freilich mittlerweile die reformierenden Kräfte bemerkbar, wenngleich hier der staatliche Druck eine stärkere Katalysatorenrolle spielte als in anderen Provinzen Preußens.138 Zwar hielt die Mehrheit der Posener Juden an den überkommenen Traditionen fest, doch konnte auch sie die neuen Entwicklungen, die das jüdische religiöse Leben so nachhaltig beeinflussten, nicht mehr so einfach ausblenden. Auf Grund des Korporationszwanges konnte niemand seine 135 Tagebucheintrag vom [7./8.8.1840]. Graetz, TB, 86. – Was mit diesem „Schlendrian“ gemeint ist, lässt sich aus den erhaltenen zeitgenössischen Synagogenordnungen ersehen, die für einen ruhigen und geordneten Gottesdienstverlauf eingeführt wurden; sie sahen u. a. vor, dass keine Kleinkinder teilnehmen durften, Gebete sollten leise gesprochen werden, Unterhaltungen oder Rufereien während des Gottesdienstes waren untersagt. Vgl. Lowenstein, Movement, 261 ff. 136 Vgl. die bissige Charakterisierung Holdheims in der Geschichte XI (1870), 561–567, wo Graetz auch den Gottesdienst in Frankfurt an der Oder schildert. – Die einzige Biographie über Holdheim, dessen Wirken auch nach Amerika ausgestrahlt hat, ist immer noch Ritter, Holdheim, hier zu dessen Frankfurter Jahren 15–43; vgl. zu Holdheims Wirken außerdem Meyer, Response, 80–84; Gotzmann, Jüdisches Recht, 198–250, sowie die bibliographischen Hinweise in Biographisches Handbuch I, 0748, 454–458. 137 Vgl. Tagebucheintrag vom [8.8.1840]. Graetz, TB, 86. – Die Höflichkeitsübung einer Einladung zum Essen seitens des Rabbiners wäre umso angebrachter gewesen, als der am Abend beginnende Tischa be-Av in Erinnerung an die zweimalige Zerstörung des Tempels mit strengem Fasten begangen wird. 138 Hierzu und zum Folgenden vgl. Kemlein, Posener Juden, 210–236.

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Gemeinde wegen Meinungsverschiedenheiten in Fragen des Kultus verlassen; daher konnten bereits einige wenige, aber dezidierte Verfechter einer Minderheitenposition für heftige Auseinandersetzungen sorgen, die nicht selten in regelrechte Kämpfe ausarteten. Auch Graetz stellte dies bereits kurz nach seiner Ankunft bei seiner Familie fest. Die Seinen waren inzwischen nach Kosten umgezogen, die zwischen Wollstein und Zerkow gelegene Kreisstadt, deren jüdische Gemeinde zwar kleiner, aber deutlich wohlhabender war als diejenigen in Graetzens beiden Heimatstädten; in dieser noch im Aufbau befindlichen Gemeinde konnten die reformorientierten Kräfte ungleich freier wirken als in anderen Teilen des Großherzogtums.139 Anlässlich der Einweihung der Synagoge lud die Korporation auch den jungen Hirsch-Schüler zu einer Predigt ein, doch hatte Graetz letztlich das Nachsehen, da ihm Adolph Meyer (Aron) Wiener (1812–1895) als Prediger vorgezogen wurde. Dieser war zwar ursprünglich ein Schüler des verstorbenen Posener Rabbiner Akiba Eger (1761–1837) gewesen, hatte jedoch in Berlin studiert und sollte später als einziger radikaler Reformer ein Rabbinat in Posen bekommen.140 Einen Monat später widerfuhr Graetz in der neuen Wollsteiner Synagoge ein ähnliches Schicksal, wo er mit Julius Gebhardt (1810–1885) überdies von einem der ersten Prediger in Posen mit Universitätsabschluss ausgestochen wurde.141 Zwar wurde er später doch noch nach Kosten zum Vortrag eingeladen, dann auch nach Xions und Zerkow, allein es wollte sich kein Erfolg einstellen. Nach seinem eigenen Zeugnis scheint es dabei nicht einmal an seiner mangelnden rhetorischen Bega139 Im Jahre 1842 umfasste die jüdische Gemeinde in Kosten 176 Mitglieder, von denen 14,8 % Inhaber von Naturalisationspatenten waren (Wollstein: 983 Juden/ 8,2 %, Zerkow 483 Juden/ 4,8 %); vgl. Kemlein, Posener Juden, 160 f sowie 228 f. 140 In Kosten, das damit eine Ausnahme unter den jüdischen Gemeinden darstellte. Vgl. Graetz, TB, 87 f; Kemlein, Posener Juden, 228 f. – Wiener war allerdings von Israel Lipschütz aus Danzig ordiniert worden; zu ihm vgl. Biographisches Handbuch I, 901 f, Nr. 1872. 141 In seinem Tagebuch wetterte Graetz: „[…] die Predigt war spottschlecht. […] Was war das auch für eine chûtzpah, die Schule [= Synagoge] Kirche zu nennen, überhaupt der ganzen Rede so eine christliche Färbung zu geben, daß sie jeden verständigen Juden zurückschrecken mußte!!“ Tagebucheintrag vom [18.9.1840]. Graetz, TB, 90, sowie Biographisches Handbuch I, Nr. 0548, 359 f. Vgl. auch den Bericht von Josua Schiff in AZJ 5 (1841), 77 ff, der (fälschlicherweise) den „zufällig hier anwesend gewesene[n] Kandidat[en] H. Grätz, Schüler des Rabbinen[!] S. R. Hirsch,“ als Redner erwähnt (78). – In Wollstein sollte 1841 die Rabbinatsnachfolge mit der Berufung von Dr. Hirsch S. Hirschfeld zugunsten eines eher traditionsorientierten Mannes entschieden werden, was Graetz mit den Worten kommentierte: „besser als den Komödianten Gebhardt“; Tagebucheintrag vom [5.1.1841]. Ebd., 100. Allerdings entging ihm (wie wohl den meisten seiner Zeitgenossen), dass mit Hirschfeld ein Hegelianer berufen worden war; mit der wohl einschneidensten Neuerung, dass jener nämlich der erste promovierte Rabbiner der Provinz war, hatte Graetz offenkundig kein Problem. Zum Kontext vgl. Kemlein, Posener Juden, 226 ff; Schorsch, Modern Rabbinate, 17; Wilke, „Talmud“, 337 ff, sowie die Angaben im Biographischen Handbuch I, Nr. 0737, 447 ff.

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bung gelegen zu haben (die ihm später immer wieder Probleme bereiten sollte), zumindest war er selbst hier einigermaßen mit sich zufrieden142. Es war vielmehr sein Auftreten, mit dem er zwischen allen Fronten stand: Auf der einen Seite vertrat er viel zu traditionsorientierte Positionen, um neben Männern wie Gebhardt oder Wiener bestehen zu können. Auf der anderen Seite musste er die Altgläubigen aber schon äußerlich abschrecken: In „schwarzem Leibrock, ausgelegtem Kragen, Brille auf der Nase, schwarzes Käppchen auf dem Haupte“, so erinnerte er in Zerkow eher an einen protestantischen Geistlichen. Vor allem aber der Umstand, dass er auf deutsch predigte, war in einer so traditionsorientierten Gemeinde wie Zerkow eine unerhörte Neuerung.143 Das Ergebnis war in dem polarisierenden Klima seiner Zeit so folgerichtig wie ernüchternd: „Bei den Bärten habe ich keinen Beifall gehabt“, notierte er, sich mühsam mit seinem Stolz über die fortbestehende Notlage tröstend, „doch freut mich die freie Stellung, die ich behauptet habe. Aber was hilfts, wie komme ich aus diesem Labyrinth?“144 Seine Tagebucheinträge füllten sich immer mehr mit „Bangigkeit, Lebensüberdruß, Aussichtslosigkeit“, und immer drängender stellte sich ihm die Frage, was aus ihm werden sollte – ein Zustand, der ihn selbst an den Rand des Zweifels an seiner Berufung, für das Judentum zu wirken, drängte.145 Endlich bekam er ein Angebot, wenn auch nur auf eine Hauslehrerstelle in Ostrowo. Unwillig, aber notgedrungen begab er sich umgehend in die Stadt im Südosten der Provinz Posen mit ihrer mittelgroßen jüdischen Gemeinde. Dort sollte er die seiner Meinung nach wenig begabten Töchter von Jakob Wehlau (1794–1867), eines Händlers und Gelehrten, sowie weitere Kinder in einem Nachbarort unterrichten.146 Die Konstellation im Wehlauschen Haushalt ähnelte in Graetzens Worten von Beginn an der kaum entronnenen Lage bei Hirsch. Er beschrieb Wehlau als freundlich, aber auch als hochmütig und von kalter Gelehrsamkeit, während dessen Frau von „geldaristokratische[m] Stolz“ vergiftet sei. Seine Oldenburger Erfahrungen waren ein steter Bezugspunkt – und ähnlich wie bei seinem einstmaligen „Herzenskönig“ sah sich auch hier Graetzens Idealismus von den Zwängen und Notwendigkeiten eines mehrköpfigen Haushaltes verletzt: „Alles was sich im Hause abspielt,

142 Vgl. Graetz, TB, 93 f. 143 Dass dies etwas außergewöhnliches war, zeigt der Umstand, dass sich etwa für das Jahr 1843 in Zerkow keine einzige deutsche Predigt nachweisen lässt; vgl. hierzu Kemlein, Posener Juden, 219 und 224; zum Sprachvermögen der Juden in Posen im Vormärz vgl. ebd., 237–245, für die Gottesdienstpraxis besonders 239. 144 Tagebucheintrag vom [17.10.1840]. Graetz, TB, 94. 145 Vgl. ebd., 90, 91 und 94. 146 Für eine anschauliche, wenn auch sehr larmoyante Schilderung des jüdischen Hauslehrerdaseins dieser Zeit, vgl. die Erinnerungen von Salomon Cohn in Richarz (Hg), Jüdisches Leben, 356 ff.

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entspringt nicht dem Feuer der Liebe sondern der Kälte des Geschäftes“.147 Dass das Engagement ihn vermutlich nicht nur als Lehrer sondern langfristig auch als Ehemann binden und somit seine „goldene Freiheit nehmen“ wollte, ließ ihm die Sache kaum reizvoller erscheinen.148 Zwar nahm er die Stelle bei Wehlau an, doch zusammen mit den ständigen Geldnöten meldete sich auch sein unbefriedigter, hochfliegender Ehrgeiz, und sein gekränkter Stolz stürzte ihn neuerlich in Bitterkeit und Verzweiflung: „Aus einer großen Zukunft, die ich mir geträumt und durch mich dem Judenthum, ist geworden ein zerrissenes Hemd, vierzehn Tage zu tragen, ein paar Unterhosen, die für den Lumpenhändler auch zu schlecht.“149 Überdies plagte ihn die Langeweile, und auch bei seinen Studien fand er nicht mehr länger Trost und Ablenkung. Vermehrt wandte er sich daraufhin dem weiblichen Geschlecht zu, so dass seine Affären ihn ins Gerede brachten.150 Er selbst war sich keinerlei Schuld bewußt – sehnte er sich doch lediglich nach dem „völlige[n] Zutrauen eines weibl[ichen] Wesens, die interessant genug seyn muß, um mir keine Langeweile zu machen.“151 Schließlich schmachtete er ungeachtet seiner anfangs höchst unfreundlichen Kommentare sogar eine der Töchter seines Gast- und Arbeitgebers an.152 Dies flog auf, als der Bruder des Mädchens einige Seiten seines Tagebuchs stahl, und Graetz musste vorzeitig das Haus verlassen. Ohne große Trauer über den neuerlichen Ortswechsel 147 Graetz charakterisierte die Familie nach dem ersten Eindruck: „Ich finde Wehlau witzig, klug und un peu läppisch; sie freundlich, geldaristokratischer Stolz. Die älteste, whom Alex[ander] has promised to me, very ugly, die jüngere dumm, aber gutmüthig.“ Tagebucheintrag vom [14.11.1840]. Graetz, TB, 96. Ein etwas späterer Eintrag zeichnet ein Bild, das noch mehr dem Hirschschen Haushalt ähnelt: „W[ehlau] ist hochmütig, reich, gelehrt und glaubt, kein Geheimnis sei ihm verschlossen. Sie hat ein schlechtes Frauenherz, das den Baschanskühen ähnelt. Alles, was sich im Hause abspielt, entspringt nicht dem Feuer der Liebe, sondern der Kälte des Geschäfts.“ ]Hebräischsprachiger] Tagebucheintrag [1.12.1840]. Ebd., 97 f (den Vergleich mit den Kühen von Baschan hatte Graetz bereits auf Johanna Hirsch angewandt; vgl. ebd., 62. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf Am 4,1: „Höret dies Wort, ihr fetten Kühe/Baschanskühe auf dem Berge Schomron, die da die Armen pressen, die Elenden bedrücken und zu ihren Herren sprechen: ‚Traget auf und laßt uns trinken!‘“). Weitere Vergleiche zwischen Oldenburg und Ostrowo finden sich in Graetz, TB, 99 f und 102. – Zu Wehlau vgl. Freimann, Geschichte, 17, Anm. 3. 148 Dies legen die Tagebucheinträge dieser Zeit nahe. Vgl. Graetz, TB, 96 ff, Zitat vom [15.11.1840], 96. 149 Tagebucheintrag vom [5.1.1841]; ebd., 101. – Allerdings war seine Lage tatsächlich drückend, zumal er sich als eine Art Ernährer seiner Familie betrachtete, ohne dieser Rolle allzu oft nachkommen zu können; vgl. auch ebd., 100. 150 Vgl. ebd., 107, 109 und 113. 151 Vgl. ebd., 102–115 passim, Zitat 113. 152 Er hatte die beiden Schwestern Wehlau nach dem ersten Eindruck als „very ugly“ und „dumm, aber gutmüthig“ charakterisiert; etwas später hieß es: „Die Älteste stolz und wegwerfend, ohne Gefühl, ohne die geringste weibliche Tugend. Die zweite dumm und empfindlich, zeigt sich noch viel gräßlicher.“ Tagebucheinträge vom [14.11.1840] und vom [14.2.1841]. Ebd., 96 und 102.

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wandte sich der junge Mann ohne rechte Ausbildung – mit einer Zwischenstation in Krotoschin – nach Breslau.153 Als Autodidakt stand Graetz in Breslau vor einem ganz praktischen Problem – er hatte keinen staatlich anerkannten Schulabschluss und somit nichts in der Hand, was ihm ein Universitätsstudium ermöglicht hätte. Dennoch bestand die Möglichkeit, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten, sofern er von einem Staatsdiener ein Ersatz-„Testimonium“ über private Studien erhalten könnte.154 Ein Landesrabbiner konnte ein solcher Diener seines Staates sein, und also wandte sich Graetz an Hirsch mit der Bitte, ihm die gemeinsamen Studien zu bescheinigen.155 Der Kontakt zu Hirsch war in der Zwischenzeit nicht abgebrochen, sie hatten immer wieder Briefe gewechselt, und wenngleich Graetz diese Briefe nicht Wort für Wort als Abschrift in seinem Tagebuch überliefert hat, so belegen seine Kommentare insbesondere eines: Zumindest von seiner Seite her war das Verhältnis zu Hirsch immer noch so emotional aufgeladen (wenn nicht sogar mehr) wie vier Jahre zuvor, als der unerfahrene Posensche bachur seine ersten Briefe hoffnungsvoll nach Oldenburg geschickt hatte. Jedes Ereignis, das Hirsch anging, wurde erregt kommentiert, mit zahllosen Ausrufen begleitet und des Landesrabbiners offenkundiger Unwillen, nach Posen zu kommen, ebenso verzweifelt festgestellt wie dessen letztlich erfolgreiche Kandidatur in Emden mit ätzendem Spott begossen. Vor lauter Erregung verlor Graetz dabei oft den Faden, selbst in kürzeren Sätzen. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Ich habe lang Brief von B[en] U[siel = Hirsch] erwartet […]. Oh wie hat der Brief mein Inneres aufgeregt! Welche Kälte in dem Brief – als wenn er mir gar nichts zu sagen hätte, wie ein falscher Liebhaber, der noch schreibt, weil er muß. […] Über Wollstein keinen Laut. O tempora! quam mutabatis! […] Nach Emden! Was liegt an diesem einen! In das Land der […] ostfriesischen Grobheit und der verwahrlosten Niedrigkeit, wo nichts zu erwarten ist, deutsche Bornirtheit mit polnischer chûtzpah vereint – oder Nothwendigkeit! Doch warum ereifere ich mich denn so sehr? Vielleicht denkt er kaum an mich – das nenne ich, wenn er ohne das Interesse an mich dächte, da ich um ihn verdient zu haben glaube – Es muß überhaupt sehr sonderbar jetzt da zugehn. Er soll immerwährend auf Reisen seyn, wie mir L[andsberg] schreibt. Wie kömmt das? Je ne sais pas. Il y a quelque chose mystereuse! Aber das er mir gar nicht schreibt…156

Die Informationen, die er aus den Briefen eines anderen Oldenburger Bekannten, des Religionslehrers Landsberg, erhielt, heizten seine Mutma153 154 155 156

Tagebucheintrag vom [7.6.1842]. Ebd., 116 f. Vgl. hierzu unten, Kap. II 1.4. Vgl. Graetz, TB, 119. Tagebucheintrag vom [10.12.1840]. Ebd., 98.

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ßungen weiter an, und immer wieder war es auch sein Argwohn gegen Johanna Hirsch, deren schädlichen Einfluss er hinter den Worten und mehr noch den Taten des Rabbiners witterte. Und vermutlich öfter, als er schrieb, wünschte er, seinen verehrten Meister ihrem verderblichen Einfluss entreißen zu können, um ihn wieder in die ideale Welt des Wirkens für das Judentum zurückzuversetzen, wie dies etwa im Sommer 1841 deutlich wird: Ich habe Brief von Hirsch bekommen. Er ist so zärtlich an Worten – allein – an facten. Seine Frau hat wieder einen Sohn geboren – he does not write when!! perhaps he hide his misfortune? Both his children are sick. He does not write it, why? Will he not trouble me? It is true he has no time to it but – It is she who does hinder him from writing? She but loves a correspondent riche – but what am I to her? Who knows? It may arrive, it may happen that I will draw him out of his miscondition. His heartach[e] is seen through the finery of his style. […] Ich möchte mich gerne rächen auf eine Weise, daß es mir und ihm zum Heile gereichen soll. Aber wie beginnen? Aber wie und wo? O Gott, hast du denn gar kein Erbarmen mit ihm? Abgesehen von seiner Unmännlichkeit, wo gibt es eine bessere Seele? Und er soll leiden? So leiden mit Frau und Kindern, durch Frau und Kinder. Sie haben selbst Schuld, allein was hilft das alles?157

Ungeachtet aller Distanz und Abkühlung im gegenseitigen Umgang – Hirsch blieb in dieser Zeit Graetzens Referenzpunkt. Dies wurde jedes Mal dann besonders deutlich, wenn er auf Zeitgenossen traf, mit denen er über die Entwicklungen im Judentum sprach und Position bezog. Zwar ging es dabei zumeist um inhaltliche Fragen des Verhältnisses von Traditionsbewahrung und Modernisierung, wobei Graetz ja durchaus seine eigenen Vorstellungen besaß; des ungeachtet spielte Hirsch – in Graetzens Tagebuch öfter „Ben Usiel“ – hierfür die Rolle eines Schibboleth für „das Gute“.158 Dies war allerdings eine naheliegende Entwicklung gewesen, hatte sich doch der junge Mann aus Posen mit seinen Studien in Oldenburg mehr als deutlich unter das Hirschsche Banner begeben und profitierte gerade in seiner Heimat durchaus von diesem Renommee. Mit Graetzens zunehmender Emanzipation von seinem Meister hatten sich zwar beide im direkten Verkehr voneinander entfernt, doch schloss sich Graetz von Neuem verstärkt an Hirsch an, sobald er wieder in stärker traditionsorientierte Regionen gelangte, wo die Konfliktlinien anders lagen und wo ihm der zurückhaltende Reformer Hirsch dann doch näherstand als die Vertreter der Altgläubigen.159 157 Tagebucheintrag vom [26.7.1841]. Ebd., 108 f. 158 Vgl. etwa ebd., 86. 159 Besonders deutlich wurde die Enttäuschung bei einem Besuch im Posenschen Kempen, einer Stadt, nach der Graetz sich geradezu gesehnt hatte, was wohl auf ihre außergewöhnlich zusammengesetzte Einwohnerschaft zurückzuführen sein dürfte: Zwar war weder die Stadt an sich noch die jüdische Gemeinde größer als etwa die in Posen, allein der prozentuelle Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung wurde in keiner anderen größeren Stadt Preußens über-

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Die Re-Orientierung auf Hirsch wurde noch verstärkt, als zu dieser Zeit ein ehemaliger Studienkollege von Hirsch in Graetzens Augen zu dessen großem Gegenspieler avancierte: Abraham Geiger (1810–1874). Noch bevor Graetz den Wortführer der Reformbewegung persönlich kennen gelernt hatte, war seine Abneigung gegen ihn mit Händen zu greifen, ebenso wie das geradezu manichäische Bild vom Judentum seiner Zeit, wenn er beispielsweise über Holdheim schrieb, dass jener „Abneigung gegen B[en] U[siel]“ zeige und „überhaupt Hinneigung zum Geigeranismus“.160 Hirsch oder Geiger, dies schienen für ihn die einzigen beiden möglichen Optionen zu sein, wobei mit einiger Verdrängungsleistung die Hirsch-Option ganz eindeutig der richtige Weg war. Denn Geigers Anhänger charakterisierten sich für ihn zwar durch viel Geist, „aber auch eine Aufgeblähtheit“! „Mit welcher Geringschätzung, mit welcher geigerischen Ironie sprachen diese von Juden und Judenthum!“ Für Graetzens Empfinden fehlte ihnen das innere Feuer und die tiefe Liebe zum Judentum (wenngleich dies natürlich Dinge waren, die er bereits an Hirsch schmerzlich vermisst hatte). Hinzu kam aber noch ein für den jungen Mann höchst empfindlicher Mangel: „[A]uch die sittliche Scheue ist weg von ihnen“, und mehr noch: „die Damen sind zu erkennen, de ceux qui les frequentent!“161 Für Graetz bedeutete der Geigersche Weg im Endeffekt nicht nur Lieblosigkeit gegenüber der Religion, sondern darüber hinaus den Einzug von Sittenverfall und Liederlichkeit. Doch so apodiktisch und umfassend sich sein Urteil auch ausnahm, der konkrete Hintergrund darf auch hier nicht vergessen werden. Graetz nämlich fällte sein Urteil nach einer Hochzeitsfeier in Kempen, auf der er mit zwei Anhängern der Reform zusammengetroffen war. Insbesondere dem Jüngeren gegenüber konnte der Autodidakt Graetz seinen aus Minderwertigkeitsgefühlen resultierenden Trotz kaum verhehlen: Dieser David Honigmann (1821–1885), „ein junger bebrillter Mensch“, mit seinen zwanzig Jahren etwas jünger als Graetz selbst, wurde von ihm ausdrücklich als „Abiturient“ vorgestellt und wegen seines „impertinenten verachtenden Blick[s]“ gegeißelt. Im unmittelbaren Anschluss hieran erfolgte jene zitierte, grundsätzliche Charakterisierung, die mit ihrem Hinweis auf das Verhalten der Damen insofern umso bemerkenswerter ausfiel, als die troffen, er lag bei über 50 %. Es hieß, dass sich unter den ca. 3.500 Juden in Kempen ganze drei Anhänger der Reformbewgung befunden haben sollen, und mit R. Meyer Löbusch (gen. Malbim, 1809–1879) fungierte dort ein bekannter Protagonist der Altgläubigen als Rabbiner. Vgl. Kemlein, Posener Juden, 230; Wilke, „Talmud“, 546 und 660 f, sowie Biographisches Handbuch I, Nr. 1190, 640–642. – Graetz war jedoch sehr enttäuscht, insbesondere von Malbim, sah aber wohl, dass sein Unwillen über dessen Auftreten durchaus grundsätzlicher Natur war; vgl. Graetz, TB, 110 ff. 160 Tagebucheintrag vom [8.8.1840]; ebd., 86. 161 Tagebucheintrag vom [6.10.1841]; ebd., 112.

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beiden Auslöser seiner Polemik ohne weibliche Begleitung erschienen waren.162 Geiger selbst entstammte einer Frankfurter Familie, die ihn noch für ein traditionelles Rabbineramt vorgesehen hatte.163 Neben seinen talmudischen Studien hatte er sich jedoch auch in profanen Fächern bilden können und die Universitäten von Heidelberg und – unter anderem mit Samson Raphael Hirsch164 – Bonn besucht, wo er Philologie, Philosophie, Geschichte und Orientalistik gehört hatte. Anders als Hirsch hatte er allerdings sein Studium abgeschlossen, indem er mit einer preisgekrönten Schrift über den Propheten Muhammad und das Judentum promoviert wurde.165 Wenngleich Geiger ein ausgesprochen viel versprechender Gelehrter und Wissenschaftler war, so hatte er auf Grund der Juden diskriminierenden Rechtslage jedoch keine Aussicht auf einen Universitätslehrstuhl, solange er sich nicht taufen ließ. Da dies für ihn nicht nur nicht in Frage kam, sondern er darüber hinaus neben seinen wissenschaftlichen Ambitionen von einer brennenden Leidenschaft für ein zeitgemäßes Judentum beseelt war, lag es nahe, dass er den steinigen Weg des Rabbineramtes ging und gleichsam nebenher seine wissenschaftlichen Aktivitäten fortführte. Ungeachtet seiner zahlreichen administrativen und rabbinischen Aufgaben sollte er zeit seines Lebens ein überaus produktiver Autor sowohl von wissenschaftlichen wie von publizistischen Schriften bleiben. Allerdings hatte Geiger bereits früh Schwierigkeiten, eine erste Rabbinerstelle und damit ein Auskommen zu finden, da er sich bereits zu dieser Zeit als Reform-Anhänger profiliert hatte und somit für viele Gemeinden unannehmbar war. Die bezeichnenderweise noch junge Gemeinde der nassauischen Residenzstadt Wiesbaden berief ihn 1832 als erste, und er nutzte seine Stellung dort, um sich einen Namen als konsequenter Reformer und Organisator zu machen. Rasch wurde er überregional bekannt, insbesondere durch eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift sowie durch die erste Reform-Rabbinerkonferenz 1837, die er in Wiesbaden ausrichtete. Als im folgenden Jahr der Breslauer Gemeindevorstand die Idee entwi162 Es heißt dort ausdrücklich: „Dann kamen einige gebildete Herren“. Tagebucheintrag vom [6.10.1841] Graetz, TB, 111 f. – Der zweite Geigerianer, der Kempener Gerichtsassessor Fischel (Philipp) Wertheim, der später leitender Sekretär der jüdischen Gemeinde in Berlin werden sollte, wurde überdies als geschiedener Mann vorgestellt. Honigmann, der auch als Publizist für jüdische Belange aktiv werden sollte, wurde später Vorstandsmitglied der israelitischen Gemeinde Breslau sowie Breslauer Stadtverordneter. Zu ihm vgl. Brann, Honigmanns Aufzeichnungen, 133–137. 163 Zu ihm vgl. Ludwig Geiger (Hg.), Geiger; Meyer, Response, 89–99; Heschel, Geiger, sowie Biographisches Handbuch I, Nr. 0551, 360–365. 164 Vgl. Geiger, Tagebuch, 18 f. 165 Geigers Schrift Was hat Muhammad aus dem Judenthume aufgenommen? (1833) war eine der ersten Studien zur Frage der Originalität der prophetischen Botschaft. Vgl. hierzu Heschel, How the Jews; Lassner, Geiger, und Nagel, Islamische Welt, 141 f.

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ckelte, die bis dahin als fest in altgläubiger Hand geltende Gemeinde der schlesischen Metropole in den Augen einer weiteren jüdischen Öffentlichkeit in ein neues, moderneres Licht zu setzen, war der Wiesbadener Rabbiner folgerichtig einer der ersten Kandidaten. Er wurde als Gegengewicht zum Oberrabbiner Shloma Salman Tiktin (1791–1843) zunächst als Rabbinatsassessor berufen, doch genügte dies, um einen Streit zwischen den Traditionalisten und den Anhängern des liberalen Reformers hervorzurufen, der mehr und mehr Züge einer Schlammschlacht annahm. Zwar verstarb Tiktin darüber, doch setzten sich die Auseinandersetzungen unter seinem Sohn und Nachfolger, Gedalja Tiktin (1810–1886), fort. Diese Auseinandersetzungen, die letztlich zu einer kultischen Trennung der verschiedenen Richtungen (wenn auch unter dem Dach einer Einheitsgemeinde) führten, sollten für die Entwicklung des Judentums im Deutschland insgesamt wegweisend werden.166 Als Graetz nun 1842, nach vier Wochen Aufenthalt in Breslau, mit Abraham Geiger das zweite Symbol des sich differenzierenden Judentums und Hirschs Gegenspieler persönlich kennenlernte, war er erstaunt, dass Geiger ihn, den wohl alle als Adepten Hirschs wahrnahmen, überhaupt nicht auf den Autor des Choreb ansprach und insgesamt „so ganz besonders freundlich“ war. Des ungeachtet war der junge Mann wenig bereit, sich auf den nicht viel älteren Nebenrabbiner einzulassen. Sein Kurzporträt im Tagebuch fiel recht abschätzig aus: „Ein kleines hageres Männchen, das wenig Mut und Mannheit zu besitzen scheint.“167 Gleichwohl war Geiger niemand, den Graetz hätte ignorieren können, schon gar nicht, da jener für den jungen Mann aus Posen ja die Inkarnation der von ihm abgelehnten neueren Tendenzen im Judentum geworden war. Zwei Jahre nach diesem ersten Zusammentreffen legte Graetz sich über die Motive seines Handelns Rechenschaft ab. Dabei zeigte sich, dass er zwar vorderhand genau zu wissen meinte, mit welchem Ziel er angetreten war, nämlich der Verfechtung seiner Interpretation von Judentum (die seiner Meinung nach natürlich die wahre war): Er habe nämlich „aus der unverwüstlichen Anhänglichkeit an dem göttlichen und geoffenbarten Judenthum“ gehandelt. Bei genauem Hinhören bleiben jedoch diese so volltönenden Worte reichlich unklar. Vielmehr beruhte Graetzens Engagement auch 166 Vgl. Toury, Soziale und politische Geschichte, 149 f; Michael A. Meyer spricht sogar von einem „Breslauer Modell“. Selbstverständnis, 167. – Für nähere Hinweise zu den beiden Tiktins vgl. Biographisches Handbuch I, Nr. 1778, 858 f, und Nr. 1777, 857 f. 167 Tagebucheintrag vom [4.7.1842]. Graetz, TB, 120. – Es scheint keine Absicht gewesen zu sein und ist daher umso bemerkenswerter, dass Graetzens Miniatur von Geiger durchaus seinem Bild von Hirsch entsprach: Auch bei jenem hatte er die geringe Körpergröße, geringen Mut und „Unmännlichkeit“ konstatiert, ohne allerdings dies in so geballter Form zu tun. Vgl. ebd., 47 und 109 (hier auch das Zitat).

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auf der Ebene scheinbaren Wirkens für das Kollektiv des Judentums auf einer Negation. Denn anstatt eine positive Position zu beziehen, was dieses „göttliche und geoffenbarte Judentum“ genau sei, richtete sich seine Kritik nicht bloß in diesen Zeilen in erster Linie gegen den „leeren Deismus oder gar [die] Vergötterung des [ἄ]νθρωποϚ, wie sie die neueste Philosophie unter den raffinirtesten verschiedenen Wendungen predigt“. Damit trat durch die Hintertüre ein personales Motiv auf, dessen Bedeutung Graetz selbst erahnte, ohne dessen Ausmaß recht zu erkennen: Er sah in Geiger eben den Exponenten dieses Deismus. Zwar räumte er ein, daß Geiger ein „schlechter Vertreter“ solcher Haltung sei, nichtsdestoweniger „aber hier doch immer der Träger dieser ungöttlichen Doktrin“. Hiermit nicht genug, sah Graetz im „Privathaß gegen G[eiger]“ ein vollgültiges, zweites Element seiner Sache, welches er noch weiter differenzierte: Zum einen resultiere sein „Privathaß“ aus „alte[m] Haß wegen der Niederträchtigkeit, mit der [Geiger] gegen Ben Usiel [= Hirsch] seine Undankbarkeit an den Tag gelegt“ habe, zum anderen aus „der erbärmlichen Kleinmeisterei, mit der er sich hier benimmt“, und schließlich noch empfinde er „Privathaß“ „[w]egen des schlechten Gesindels, von dem er stets umgeben ist.“168 Nimmt man diese einzelnen Motive zusammen, so lässt sich als Kern von Graetzens Handeln zu dieser Zeit ein wissenschaftlich verbrämter, aber im Wesentlichen subjektiv bedingter Anti-Geigerismus erkennen. In späteren Jahren sollte der verletzende Ton zwischen den beiden Kontrahenten nicht nachlassen, obwohl sie immer wieder einander sehr ähnliche Positionen vertraten, sowohl historiographisch wie auch identitätspolitisch. Diese Ähnlichkeiten gingen jedoch immer in lautem polemischen Getöse unter, zumal keiner von beiden eine Gelegenheit ausließ, dem Rivalen Fehler oder Versäumnisse öffentlich vorzuhalten. Die Folge war, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Zeit wie auch in der Geschichtsschreibung als große Antagonisten galten, auch wenn dies inhaltlich in der Schärfe kaum gerechtfertigt ist, wie noch zu zeigen sein wird. In den ersten Jahren ihres Gegeneinanderarbeitens überwogen zwar auch die inhaltlichen Unterschiede, doch wie das gerade diskutierte Zitat zeigt, galt zumindest für Graetz dabei, dass oftmals zuerst die Gegenposition bestand, von der er sich dann abzusetzen trachtete.169 Die hier in Rede stehenden Streitigkeiten waren Teil der bereits erwähnten krisenhaften Entwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinde Breslaus,

168 Dieses Credo von Graetzens anti-geigerischer Haltung findet sich im Tagebucheintrag vom [28.8.1844]; ebd., 135. 169 Diesen emotionalen Aspekt deutet Bloch zumindest an; vgl. Biographie, 22. Dagegen sitzt Meisl dem Bild des scharfen und ausschließlich inhaltlichen Antagonismus auf; vgl. Graetz, TB, 14 ff.

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ja der Entwicklung des Judentums in Deutschland insgesamt – der Weg, den diese Entwicklung an der Oder nahm, resultierte jedoch aus der spezifischen Situation des Judentums in Preußen. Entsprechend seiner allgemein bewahrenden Politik hatte König Friedrich Wilhelm III. 1823 ein Edikt erlassen, um auch im jüdischen Gottesdienst jegliche Neuerungen, die als sektiererisch und somit als staatsgefährdend angesehen wurden, zu unterbinden. Religiöse Dynamik wurde seitens der Obrigkeit als ähnlich bedrohlich angesehen wie vergleichbar dynamische Prozesse in der Gesellschaft auch.170 Damit wurden Prozesse, wie sie etwa in Oldenburg selbst mit allerhöchster Unterstützung stattfanden, im Königreich Preußen erheblich verlangsamt – gänzlich verhindert werden konnten sie freilich nicht. Ab Mitte der 1830er Jahre tolerierte der preußische Staat an einzelnen Orten erste modernisierende Tendenzen innerhalb der jüdischen Gemeinden, was nicht selten zum Konflikt führte.171 So gerade in Breslau, wo mit Salomon Tiktin ein ausgesprochen streitbarer Rabbiner amtierte, der als einer der ersten die Bedeutung der Presse und der Öffentlichkeit erkannte und nicht gewillt war, diese den Reformern zu überlassen. Zwar beschränkten er und seine Anhänger sich noch auf einzelne Streitschriften; gleichwohl war dies, angesichts der übermächtig lauten Stimme der Reform, die bislang die öffentlichen Debatten nahezu allein beherrschte, ein geradezu revolutionärer Akt.172 Das durch diesen Widerspruch gegen die öffentlich dominierende Meinung erweckte Medienecho und die daraus resultierende Skandalisierung half einerseits der noch immer recht jungen jüdischen Presselandschaft ebenso in ihrer Etablierung wie es andererseits für eine bislang ungeahnte Aufmerksamkeit weit über die Kreise des Breslauer Judentums hinaus sorgte, die sogar eine nichtjüdische Öffentlichkeit in ganz Deutschland erreichte. Die Folge war eine ganz eigene polarisierende Dynamik in den Auseinandersetzungen mit teilweise ganz unberechenbaren Wirkungen für die Protagonisten.173 Möglicherweise war diese medienwirksame Polarisierung der Auseinandersetzung einer der Gründe für den Ruf Breslaus und seines Rabbinats, ein Hort besonders üblen Obskurantismus’ und „polnischer“ Verhältnisse zu 170 Das Edikt hatte sich seinerzeit gegen den Beerschen Tempel in Berlin gerichtet. Eine grundlegende Untersuchung fehlt; vorläufig vgl. Meyer, Von Mendelssohn, 156; Meyer, Response, 109. 171 Eine Ausnahme hiervon war Magdeburg 1833, wo Ludwig Philippson als erster jüdischer Reform-Prediger Preußens eingestellt wurde. Vgl. Meyer, Response, 109. 172 Vgl. Tictin[!], Darstellung; Loewenstein, Entgegnung. – Die Orthodoxie hinkte in der Nutzung moderner Kommunikationsmedien allgemein hinter der Reformbewegung hinterher, und Samson Raphael Hirsch war auch hier ein Vorreiter gewesen. Allerdings hat dieser Aspekt bislang kaum im Zentrum des Forschungsinteresses gestanden; vorläufig zur Orthodoxie und ihrer Öffentlichkeitsarbeit vgl. Breuer, Orthodoxie, 154–160 und 187–197. 173 Diesen Aspekt der Kontroverse zeigt anschaulich Gotzmann, Geiger-Tiktin-Streit, 81 ff.

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sein.174 Ob dem tatsächlich so war, sei zumindest in Frage gestellt.175 Denn ungeachtet der traditionell engen Beziehungen zu Polen und der starken und stetigen Zuwanderung aus den ehemals polnischen Provinzen war die 1744 zugelassene Gemeinde eher dem westaschkenasischen Kulturraum zuzuordnen und unterschied sich in ihrer sozialen Zusammensetzung wohl kaum signifikant von vergleichbaren Gemeinden im Westen.176 Diese städtische Großgemeinde stellte innerhalb Preußens eine signifikante Gruppe.177 Auch in geistiger und gesellschaftlicher Hinsicht brauchte man sich an der Oder nicht zu verstecken, Breslau war neben Berlin einer der ersten Schauplätze der jüdischen Modernisierungsdebatten gewesen.178 Erleichtert wurde ein solches Nebeneinander verschiedener Strömungen jüdischen Lebens, ungeachtet aller Reibungen, durch die dezentrale Struktur der heterogenen Gemeinde, die aus über zwanzig, nach Landsmannschaften oder anderen Korporationsformen organisierten Synagogen bestand. Das einigende Band war ein gemeinsames Verwaltungsgremium, das Obervorsteherkollegium; dieses wurde nach einem Zensuswahlrecht gewählt, welches ungefähr der Hälfte aller jüdischen Familienvorstände Breslaus die Mitbestimmung einräumte.179 Das zweite Bindeglied für dieses Konglomerat bestand im wichtigsten Angestellten der Gemeinde, dem Rabbiner. Breslau hatte eine ganze Reihe 174 Vgl. Gotzmann, Geiger-Tiktin-Streit, 81 und 83 ff. – Allerdings beruht dieser Eindruck ausschließlich auf Äußerungen von reformerischer Seite, die überdies im Kontext der Auseinandersetzungen entstanden sind und folglich ein entsprechendes Interesse hatten. Vgl. A. E.: Breslauer Zustände I, 138; Orient 45 (1840), 348 f; Gotzmann, Geiger-Tiktin-Streit, 213, Anm. 2. 175 Über die ersten hundert Jahre der neueren jüdischen Gemeinde in Breslau liegen so gut wie keine profunden Studien vor, und gerade auch die hier angesprochenen Vorgänge bedürften einer eingehenderen Untersuchung als dies bisher geschehen ist. Die immer noch ausführlichste Darstellung ist Freudenthal, Emancipationsbestrebungen; jeweils einen knappen, aber guten neueren Überblick geben Hettling/Reinke, Handlungslogiken, und Reinke, Wohlfahrtspflege, hier vor allem 17–31 und 120–123. – Enttäuschend sind die entsprechenden Passagen in der Geschichte Breslaus von Davies/Moorhouse, Blume Europas, 287 ff und 309 f. 176 Vgl. Reinke, Wohlfahrtspflege, 29 ff. 177 Noch 1817 hatte Breslau die größte jüdische Einwohnerzahl in Preußen besessen, dort lebten mehr Juden, als in Berlin oder in den großen Gemeinden Posens ansässig waren. 1840 hatte zwar die Hauptstadt die zweitgrößte Metropole des Königreichs diesbezüglich überrundet, nichtsdestoweniger stellten die mittlerweile 5.714 Juden in der Oderstadt eine beträchtliche Bevölkerungsgruppe (6,2 % der Bevölkerung). Vgl. Silbergleit, Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse, 9. 178 Dies fand seinen Ausdruck etwa in der Gründung der Gesellschaft der Brüder 1780, elf Jahre vor dem entsprechenden Berliner Pendant, der Gesellschaft der Freunde; mit der Königlichen Wilhelmsschule erhielt die Stadt eine der ersten jüdischen Reformlehranstalten Deutschlands, die von 1791 bis 1848 bestand; hierzu vgl. Reinke, Wilhelmsschule. – Diese Tendenzen fanden unter der staatlichen Protektion des aufklärerisch gesonnenen Provinzialministers Karl Georg Heinrich von Hoym (1739–1807, seit 1769 im Amt) statt. 179 Nach einem Bericht des Kollegiums aus dem Jahre 1829. Vgl. Reinke, Wolfahrtspflege, 30 f.

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von bedeutenden Rabbinern bis zum 1820 verstorbenen Abraham Tiktin gehabt.180 Dem Renommee seiner Vorgänger entsprach vermutlich auch Tiktins Sohn Salomon, der seinem Vater ursprünglich nur provisorisch gefolgt war, dessen Rückhalt in den unter seiner Amtsführung eskalierenden Streitigkeiten aber wohl durchaus als Zeichen seiner gesicherten Etablierung gewertet werden kann. Neben ihm amtierten noch zwei Nebenrabbiner, so dass die Gemeinde über ein funktionsfähiges Religionsgericht (Bet Dîn) verfügte.181 Als nun einer der beiden Nebenrabbiner verstarb, ging das Obervorsteherkollegium auf Konfrontationskurs und schrieb die vakante Stelle ausdrücklich für einen Neuerer aus – gewollt sei die „Anstellung eines wissenschaftlich gebildeten und von wahrer Religiosität durchdrungenen Mannes“.182 Bereits im Vorfeld war bei dem jungen Wiesbadener Rabbiner Abraham Geiger wegen einer Kandidatur angefragt worden, und in der Abstimmung setzte dieser sich schließlich mit überwältigender Mehrheit gegen seine ohnehin nur aus Reformrabbinern bestehende Konkurrenz durch. Gestärkt wurde seine Position durch die Gemeindevorstandswahl 1841, bei der ohne Ausnahme reformorientierte Kandidaten gewählt worden waren, und dieser Triumph ließ das reformorientierte Lager immer ungenierter auf eine Ablösung des Oberrabbiners hinwirken – eine Politik, die für nicht wenige gemäßigtere Gemeindeglieder dann doch einigermaßen beunruhigend wirkte, zumal gerade Geigers halbwegs konziliantes Auftreten immer wieder als bloße Maskerade verdächtigt wurde. Gleichzeitig verschlechterte auch die Gegenseite das Klima, indem sich Tiktin weigerte, die religionsgesetzlich vorgeschriebenen Akte im Bet Dîn mit seinem ungeliebten Assessor gemeinsam vorzunehmen, so dass für alle halachischen Amtshandlungen die Gemeindeglieder auf Nachbargemeinden ausweichen mussten.183 Im Sommer 1842 war es schließlich, anlässlich einer Beerdigung, zum ersten offiziellen Zusammentreffen von Tiktin und Geiger gekommen – und zum Eklat, zu gegenseitigen Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten.184 180 Vgl. Brann, Landrabbinat, 255, sowie Herzig, Juden, 57–62. 181 Vgl. Gotzmann, Geiger-Tiktin-Streit, 87. 182 Das Zitat stammt aus dem Zirkular des Gemeindevorstands anlässlich der Rabbinernachfolge 1837; zit. nach dem Abdruck im Israeliten des 19. Jahrhunderts 5 (1844): A. E., Breslauer Zustände I, 140 f. – Eine wesentliche Neuerung lag zudem in der Konstruktion der ausgeschriebenen Stelle, die eine Mischung aus Rabbiner- und Predigeramt bestand. Vgl. A. E.: Breslauer Zustände II, 147; vgl. insgesamt Brämer, Rabbiner und Vorstand, 171–177. 183 Vgl. Ober-vorsteher-collegium, Zweiter Bericht, 42. – Allerdings hätte die gemeinsame Ausführung dieser Amtshandlungen mit aller Wahrscheinlichkeit zum Eklat geführt, da dabei ihre diametral entgegengesetzten Ansichten zur Halachah, dem Religionsgesetz, nicht mehr zu verbergen gewesen wären. Zum Hintergrund vgl. Gotzmann, Jüdisches Recht, passim, konkret 306. 184 Vgl. Orient 3 (1842), 129 f [ein Tiktin-freundlicher Artikel], sowie Gotzmann, GeigerTiktin-Streit, 89; Meyer, Response, 111.

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Die Situation in der Breslauer Gemeinde war also bereits zum Zerreißen gespannt, als Graetz nach Breslau kam und hier auf die beiden Exponenten im Judentum traf. „Nolens volens“ stellte er Geiger und Tiktin nebeneinander – und das Ergebnis fiel für beide Seiten unvorteilhaft aus. Doch während er bei dem Reformer, dem „kleinen hageren Männchen“, vermutlich in seinen negativen Erwartungen bestärkt wurde, fand er den Oberrabbiner ungeachtet seiner Körpergröße bei weitem nicht so eindrucksvoll, wie er ihn sich auf Grund der halachischen Autorität von Tiktins Vater und Großvater ausgemalt hatte: O wie habe ich immer in Ehrfurcht dagestanden, als ich […] die geharnischten Namen Tiktin ansah. Wie Carl der Große in seiner eisernen Rüstung den Nahenden in gebührender Entfernung hält, so schien mir das Ansehen jener theologischen Ritter, gehoben durch die langen Bärte und die eminenten spanischen Rohrstöcke und den talmudischen Staub. Da saß ich neben einem Abkömmling jener rabbinitischen nefîlîm [= Gewaltige]. Ach wie gesunken sind sie. Tempora mutantur et nos in iis. Wohl ist da noch die imposante Körperhöhe, der spanische Rohrstock vorhanden, aber das ensemble, das nicht mit Worten zu fassende Etwas fehlt.185

Schon vorher war er des Öfteren in ähnlicher Weise enttäuscht worden, so sehr, dass er die mit den altgläubigen Rabbinern assoziierten Qualitäten sogar grundsätzlich anzweifelte: „Woher auch eine Größe bei solchen Männern.“186 Letztlich war es wohl das gleiche Problem wie gegenüber Hirsch in Oldenburg – emotional fühlte er sich von der entstehenden Orthodoxie angezogen, bot sie ihm doch scheinbar die gesicherten Wahrheiten geheiligter Tradition. Zugleich vermochten die Exponenten dieser Richtung nicht mehr, dieses emotionale, romantische Bedürfnis nach Sicherheit und Autorität zu befriedigen, wohl auch, weil sie ja selbst von den Zweifeln der Moderne angekränkelt und somit ihrerseits Suchende waren. Auf der intellektuellen Ebene aber konnte Graetz sich nicht recht der Erkenntnis erwehren, dass die altgläubigen bzw. orthodoxen Positionen oftmals mit seinen eigenen Ansichten unvereinbar waren, so unscharf diese immer noch waren. Trotz dieser zweifachen Enttäuschung war seine Positionierung in dem Breslauer Konflikt unzweifelhaft: Sei es aus wiedererwachter Loyalität zu Hirsch, sei es aus Erschrecken über die immer neuen Zumutungen reformerischen Eifers – seine Frontstellung gegen die Person Geigers und dessen wichtigste Parteigänger in Breslau war zu eindeutig, als dass er sich ernstlich auf sie hätte einlassen können.187 185 Tagebucheintrag vom [4.7.1842] mit Anspielung auf Gen 6,4; Graetz, TB, 120. 186 Hier bezogen auf den Malbim in Kempen. Ebd., 111. – Ähnlich abschätzig hatte er sich etwa 40, 94 und 113 geäußert, wobei der „Bart“ für ihn zum Symbol sowohl von Spießigkeit als auch von reaktionärem Traditionalismus wurde. 187 So noch in demselben Tagebucheintrag wie die beiden Charakterisierungen Geigers und Tiktins über Wilhelm Freund, Geigers vielleicht wichtigsten Parteigänger in Breslau: „Dr. Freund wagt es in Gegenwart von 50 Juden an deren Spitze ein rav [= Rabbiner] sitzt, Worte

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Immerhin reichte diese wenig befriedigende Auswahl, um selbst seinen glühenden Idealismus abzukühlen und sein Interesse wenigstens kurzzeitig in andere Bahnen zu lenken – in den folgenden zwei Jahren beschäftigte sich Graetz in seinem Tagebuch mit profaneren Dingen, seinem Gefühlsleben, seinen geringen und wie immer höchst unsicheren Zukunftsaussichten, seinem Studium… Über den ungebrochen weiter tobenden Kampf um die Vorherrschaft im Breslauer Judentum notierte er hingegen so gut wie nichts. Nicht einmal der plötzliche Tod des Oberrabbiners Salomon Tiktin am 20. März 1843 konnte ihn zu einer Bemerkung hinreißen, obwohl dieses Ereignis kurzzeitig wie der vollständige Triumph Geigers aussah. Auch über die Wahl von Tiktins Sohn Gedaljah zum Rabbiner von elf orthodoxen Synagogen und damit neuen Rivalen von Geiger vermerkte er nichts. Es sollte über ein Jahr dauern, bis Graetz erstmals selbst zur Feder griff und einen heftigen Angriff gegen die Positionen der Reformer ritt.188 Er kam dabei wohl auf den Geschmack, denn in der Folge schrieb er eine ganze

wie rabbinische verkehrte Schlußfolgerungen auszusprechen. Der Cicero und Plato sollen als [Zeugen] gegen rabbinische Verkehrtheiten gelesen werden. Ei Ei. Und heute hielt G[eiger] die erste Vorlesung über Mischna. Die mischnah ist eine Sammlung religiöser Vorstellung[en], wie sie sich seit dem Exil bis auf R. Jehûdah ha-Nasi ausgebildet und entwickelt haben. Welch logische Verrücktheit.“ 188 [Graetz], Rabbinatswirren, in: Orient 5 (1844), 21 f. – Die von Brann (Verzeichnis, 125) unter Nr. 4 und von Michael in der Tagebuch-Ausgabe (131, Anm. 65) angeführte Kritik der Friedhofsgutachten von Frankel und Holdheim hat Graetz laut eigener Aussage nicht geschrieben; seine an derselben Stelle angeführte Kritik allein an Holdheim wiederum ist (anders als Michael, 131, Anm. 63, behauptet) nie erschienen, da es sich dabei um die von Fürst im Literaturblatt des Orients 5 (1844), Sp. 128, angemahnte (aber unvollendet gebliebene) Schrift gehandelt hat, wie Graetz selbst im Tagebuch feststellt; für beide Aussagen vgl. Graetz, TB, 131. – Es ist freilich nicht restlos klärbar, ob der Artikel zu den Rabbinatswirren wirklich Graetzens erste schriftliche öffentliche Stellungnahme zur Breslauer Gemeindepolitik ist, auch wenn es die erste ist, die er im Tagebuch erwähnt. Brann (Verzeichnis, 125) führt als Nr. 2 seines Verzeichnisses von Graetzens Schriften einen anonymen Bericht im Orient zum ersten Jahr des Breslauer Lehr- und Lesevereins auf, der ausgesprochen wohlwollend gehalten ist. Der Verein hatte sich u. a. die Popularisierung von Kenntnissen zur jüdischen Geschichte und religiösen Entwicklung auf die Fahnen geschrieben und wurde im Wesentlichen von Abraham Geiger und seinem Kreis (M. Levy, W. Freund, B. Ginsberg u. a.) geleitet. Eine Andeutung im Tagebuch legt nahe, dass auch Graetz um einen Vortrag gebeten wurde, zumal mit M. Levy, Salomo Nissen und Josua Schiff auch einige seiner guten Bekannten und Freunde Mitglieder des Lesevereins waren. Auf Grund mangelnden Selbstvertrauens zauderte er jedoch, zumal nachdem David Honigmann einigen Erfolg mit seinem Vortrag über den „Reflex der Reformation auf die Juden“ geerntet hatte. Vgl. Orient 4 (1843), 212, 222 f und 229 f sowie Graetz, TB, 126. Es ist also wahrscheinlich, dass Graetzens Haltung öffentlich weit weniger profiliert war als in seinem Tagebuch; gleichwohl erschiene es doch einigermaßen unwahrscheinlich, wenn er sich so weit verbogen und jenen freundlichen Bericht verfasst hätte. Dies wird insbesondere beim Vergleich mit einem Text zum gleichen Thema deutlich, der ganz unzweifelhaft von Graetz stammt: [Mitteilung über das Fränckelsche Hospital und den Lese- und Lehrverein]. In: Orient 5 (1844), 179 ff.

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Reihe von Artikeln vor allem für Julius Fürsts Orient.189 Allerdings geschah dies vorerst anonym, was nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit war. Doch da seine Äußerungen mit spitzer Feder geschrieben waren und durch ihre durchaus gekonnte Polemik auffielen, da außerdem in der überhitzten, aber überschaubaren Streitigkeit eigentlich jeder jeden kannte, sorgte das plötzliche Auftauchen eines unbekannten Kombattanten für erhöhte Aufmerksamkeit und wilde Spekulationen über den Verfasser. Graetz behagte diese Situation über alle Maßen. Jener erste Artikel vom Januar 1844 beispielsweise verschaffte mir einen bedeutenden Triumph, indem er die gewünschte Sensation hervorrief und zugleich einen stylistischen Beifall fand. Die Anonymität gewährt recht viele Ergetzlichkeit, weil man bei der Beurtheilung ganz interessenlos zugegen seyn kann, u. dem Irrthum mit dem Gefühl der Überlegenheit scheffelweise herumwerfend zusehen kann. […] G[eiger] und Klique sind nun auf meine Arbeiten aufmerksam gemacht worden, und ich fürchtete schon, sie werden meine Autorschaft jenes Artikels auswittern. Sie sind aber zu große Hornviecher.190

Seine Fähigkeit zu beißender Ironie, zu starken Bildern und zu pointierten Aussagen, die auch vor polemischen Verkürzungen komplexer Zusammenhänge nicht haltmachten, stach hier sofort ins Auge. Er selbst wusste ebenfalls darum und nutzte dieses Talent weidlich. Seine Parteinahme und sein flamboyanter Stil bewirkten eine bedeutsame Veränderung: Bislang hatten ja eben die nun so heftig angegriffenen Reformer allein die argumentative Lufthoheit innegehabt. Dass nun aber eine solche spitze Feder scheinbar zugunsten der Traditionalisten auftreten sollte, das war eine kleine Sensation, die selbst von der schweigenden Mehrheit der eher Indifferenten begierig aufgenommen und erörtert wurde – insofern war es wohl nur wenig übertrieben, wenn Graetz über den Effekt seiner Nadelstiche jubilierte: die Geigerianer ärgern sich wegen Inhalt, und die jungen Leute, aequales mei, wegen der gelungenen Form, G[eiger] selbst soll gesagt haben, nichts thue ihm so leid, als daß ich ein solchen Styl schreibe.191

Die diebische Freude über sein Incognito sollte sich jedoch nicht lange halten können. Eine „Briefkasten“-Mitteilung in Fürsts Orient an ihn mit einer 189 Vgl. Brann, Verzeichnis, Nr. 3–12, 14–37, 40–45. 190 Tagebucheintrag vom [29.2.1844]; Graetz, TB, 131. – In dem Artikel zeigte sich sogar explizit, dass Graetz immer noch ein Suchender war, der sich Klärung erhoffte, wenn er bedauerte, „daß eine Streitsache, die auf dem besten Wege war, klare, entschiedene Principien zu erzeugen, unterwegs umgeschlagen ist und Nichts als ein unerquicklicher, kleinlicher KehilaStreit geworden ist.“ Orient 5 (1844), 22. Im Übrigen beteiligte er sich hier seinerseits an der Schlammschlacht, indem er gegen Wilhelm Freunds missglücktes Habilitationsgesuch in Halle stichelte. 191 Tagebucheintrag vom [16.6.1844]; Graetz, TB, 132.

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leicht entschlüsselbaren Namenschiffre192 ließ seinen Kontrahenten rasch klar werden, wer ihr Gegner war, und unversehens fand sich Graetz nun seinerseits als Getroffener in der Schlammschlacht wieder: Im Haupt-Organ der Reformbewegung, dem Israeliten des 19. Jahrhunderts, wurde in scheinbar allgemeiner Form die polnische Karte gespielt, die Autoren verspotteten darin die „dickbebrillte[n] und langbehaarte[n] Jünglinge“ aus Posen mit ihrer unvollkommenen Schulbildung, und sie geißelten die religiöse Autoritäts-Anmaßung dieser „sogenannten Rabbinatskandidaten“, die letztlich doch nichts anderes seien als „arme[] Auswürflinge polnischer Klausen“.193 Wer ihn kannte, konnte Graetz auf das leichteste in diesem wenig schmeichelhaften Porträt erkennen. Überdies hatten seine Gegner dafür gesorgt, dass ihre Polemik weiteste Kreise zog und sogar das nichtjüdische Breslauer Publikum, also Graetzens Kommilitonen und Professoren, mit einbezogen wurde; allein schon dieses Detail belegt, welche Aufmerksamkeit die Breslauer Rabbinatswirren und ihr Umfeld in der Zwischenzeit erreicht hatten.194 Obgleich also seine Widersacher versuchten, ihn als Polen und damit hoffnungslos rückständigen und kulturlosen Altgläubigen zu denunzieren, war Graetz nichts weniger als ein Mann der Tiktin-Partei – und nun im Falle des Sohnes noch weit weniger, als er es zu Lebzeiten des Vaters gewesen war. Hatte er schon bei Salomon Tiktin das „gewisse Etwas“ schmerzlich vermisst, so fand nun Gedalja Tiktin kaum mehr als Verachtung bei ihm: Der von den altgläubigen Synagogen-Korporationen Breslaus Gewählte war für ihn nicht mehr als ein „dumme[r] Fetisch, dem sie einen Rohrstock in Hände gegeben, um die Stelle nicht leer zu lassen.“ Und auch in seinen Orient-Korrespondenzen erachtete er Tiktin bloß als einen interimistischen und nebengeordneten Rabbiner – und setzte ihn damit auf dieselbe Stufe wie Abraham Geiger.195 In seinem oben bereits zitierten Credo hatte er seine Motivation sehr zutreffend geschildert: „Ich verfechte meine Sache“, hatte er bekannt – 192 Vgl. Literaturblatt des Orients 5 (1844), Sp. 128 und 512 sowie Graetz, TB, 134. 193 Israelit des 19. Jahrhunderts 5 (1844), 349. – Graetz reagierte hierauf mit einer gekonnten Vorwärts-Verteidigung der aus der Provinz Posen stammenden Studirenden der jüdischen Theologie gegen Verläumdungen im „Israelit des 19. Jahrhunderts“, die er mit „Unus pro multis“ unterzeichnete. Orient 5 (1844), 371 f. 194 Laut Graetzens Tagebuch gab es einen Abdruck der Polemik aus dem Israeliten in den Leipziger Freikugeln. Blätter für ernste und heitere Unterhaltung, deren dritter Jahrgang (1844) jedoch nicht mehr nachweisbar ist. Eintrag vom [6.11.1844]; Graetz, TB, 137. – Zuvor hatten sich bereits zwei seiner eigenen Gewährsmänner, auf die er sich in einer seiner Polemiken gestützt hatte, von seinen Behauptungen zum Lehr- und Leseverein distanziert. Vgl. Orient 5 (1844), 284 (Graetzens Behauptung) und Ginsberg/Schiff, Verteidigung, ebd., 331. 195 Tagebucheintrag [28.8.1844]; Graetz, TB, 135 und Orient 5 (1844), 21 und 234. – Meisls Behauptung, es sei Graetz „ein tiefes Bedürfnis“ gewesen, für Tiktin „eine Lanze zu brechen“, ist Unsinn. Graetz, 14.

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nicht die von Tiktin oder sonst wem. Und es war vollkommen klar, dass in seinen Augen seine Sache identisch mit dem absoluten, ewigen und einzig wahren Wesen des Judentums, der jüdischen Identität schlechthin war. Allein wie sich dies in einem positiven Sinne inhaltlich ausgestaltete, das blieb auch ihm selbst nach wie vor reichlich unklar. Daher bedurfte er geradezu der Negativfolie von Geigers Wirken und Lehren, um sich davon abzugrenzen. Sein diagnostizierter „Privathaß gegen G[eiger]“196 war zu dieser Zeit der wichtigste konstituierende Faktor bei seiner Suche nach der vermeintlich wahren jüdischen Identität. Dabei war der nur sieben Jahre ältere Geiger ihm gar nicht so unähnlich, auch wenn er Graetz durch seine akademische Ausbildung einiges voraus hatte.197 Zudem besaß er zum Zeitpunkt ihres Aufeinanderprallens bereits ein Ansehen, das auch der ehrgeizige junge Mann aus Posen für sich erträumte. Doch so wichtig diese Aspekte zweifellos sind, allein auf ein solches neiderfülltes Aufschauen zu dem bereits Arrivierten lässt sich das Ausmaß ihres Zanks nicht schlüssig zurückführen.198 Es bedurfte zweier besonders streitbarer Temperamente, zweier dominanter und zutiefst leidenschaftlicher Naturen, die über ein gewisses Sendungsbewusstsein verfügten, sich ihrer Fähigkeiten bewusst waren und überdies um dieselbe Sache rangen, um aus der Menge einzelner umstrittener Detailfragen jenen hassgeschwängerten und polemischen Widerstreit werden zu lassen, der in den folgenden dreißig Jahren die beiden vielleicht wortmächtigsten Streiter des Judentums im 19. Jahrhundert aneinander ketten sollte. Wie Graetz war auch Geiger eine „stürmische Seele“199, ein Mensch, der sowohl von einer tiefen, hingebungsvollen Religiosität als auch einer leidenschaftlichen Hingabe an die Anforderungen der rationalen Wissenschaft geprägt war. Bei dem Versuch einer gütlichen Verbindung dieser beiden Rollen sahen sie sich beständigen Zweifeln und inneren Kämpfen ausgesetzt. Geiger löste den Konflikt für sich durch die vorsichtige Trennung beider Rollen und ihre Zuschreibung zu den zwei Hauptsphären seiner Aktivitäten, nämlich als Rabbiner und als Wissenschaftler.200 Graetz sollte, wie noch 196 Beide Zitate Graetz, TB, 135. 197 Ungeachtet des Altersunterschiedes ist ihre Herkunft wohl doch einigermaßen vergleichbar. Wie erwähnt kam Geiger noch aus traditionsgeprägten und armen Verhältnissen und musste – dies freilich anders als Graetz – das Studium seiner Familie abtrotzen; damit gehörte er zu der ersten Generation von Juden, die in größerer Zahl Zugang zu den Universitäten fanden; vgl. Richarz, Eintritt; Meyer, Jewish Religious Reform, 29. Allerdings erlebte Posen derlei gesellschaftliche Fortschritte generell später, weshalb von den Juden aus dem Großherzogtum die Generation von Graetz als erste diesen Schritt in größerer Zahl unternahm; vgl. Kemlein, Posener Juden, 239 und 243. 198 Vgl. Schorsch in seinem luziden Portrait von Graetz: Ideology, 279 ff. 199 Nach Meyer, Response, 91. 200 Vgl. ebd., 91.

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zu zeigen sein wird, einen ähnlichen Weg einschlagen, indem er zwischen dem identitätsstiftenden Großnarrativ seiner Geschichte der Juden und den einzelnen wissenschaftlichen Studien zu Spezialproblemen unterschied.201 Beide sahen in dem Judentum die Aufgabe, der sie mit Hingabe und Leidenschaft ihr Leben und Schaffen widmeten. Immer wieder aufs Neue angefacht wurde diese Leidenschaft durch das Gefühl des Zweifels an den überkommenen Formen von Kultus und Moral. Und auch inhaltlich hatten sie in ihren Anschauungen mehr gemeinsam, als ihnen vermutlich bewusst war.202 Für beide war es weniger die Halachah, das religiöse Gesetz, das – sei es statisch oder sei es auch in einer historischen Entwicklung – die Klammer um das Judentum in seiner dreitausendjährigen Geschichte bot, als vielmehr ein geistiges und kulturelles Band (die „judenthümliche Idee“ bei Graetz bzw. der „Geist des Judenthums“ bei Geiger),203 welches über alle zeitlichen und räumlichen Grenzen hinweg dem Judentum seine innere Kontinuität und Kohärenz gab und damit geeignet war, dem Kollektiv der Juden (wie auch jedem einzelnen) eine jüdische Identität zu geben. Dieses Band strebten beide, ganz im Stile der Zeit, durch historische und philologische Forschung aufzudecken und darzulegen. Die heiligen Texte, vor allem der Pentateuch und die Propheten, sowie die zentralen Texte der Tradition gerieten somit mehr und mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit einer nach Sinn- und Identitätsstiftung strebenden Forschung, die in diesen schriftlichen Grundlagen das herauszuarbeiten suchte, was sie als die jeweilige ewige Wahrheit des Judentums erachtete. Angesichts des ausgesprochen dürftigen Forschungsstands sowie der quellenkritischen Schwierigkeiten, die die Traditionsliteratur in reicher Fülle bot, war also für Konfliktstoff größten Ausmaßes gesorgt. Hätte dies wohl schon für ruhigere, einander freundschaftlich verbundene Menschen gegolten, so konnte eine solche Ausgangslage bei zwei so ähnlich temperierten, aber einander nicht wohlgesonnenen Naturen nur in eine Katastrophe münden. Denn wenngleich sie im Grunde mit ähnlichen Inten201 Vgl. unten, Kap. II 3.3 der vorliegenden Arbeit. – Es wäre interessant, vor diesem Hintergrund seine Rolle als Lehrer am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau zu untersuchen; doch sind keine Textquellen (wie Mitschriften o.ä.) und zu wenige Berichte über seine Lehrtätigkeit überliefert, als dass diesbezüglich ein Urteil möglich wäre. 202 Abgesehen von dem bereits zitierten Schorsch ist die Forschung bislang weitgehend der Antagonisierung gefolgt und betonte die Unterschiede. So kontrastierte Susannah Heschel die beiden Wissenschaftler auf Grund der Unterschiede in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung, ihrer Datierungen der neutestamentlichen Bücher sowie ihrer Rezeption in der christlichen Wissenschaft; allerdings beschränkt sie sich dabei ausschließlich auf beider Arbeiten über die Zeit des Zweiten Tempels und ignoriert dabei den von ihr selbst deutlich aufgezeigten Umstand, dass die zeitgenössische Theologie Geiger ebenfalls nur akzeptierte, solange er sich nicht zu Jesus und den Pharisäern äußerte. Vgl. Geiger, 220 ff. – Vgl. auch Bloch, Biographie, 25; Meisl, Graetz, 14–18; Michael, Graetz, 33 f. 203 Vgl. etwa Graetz, Construction, 84 und 362 (9 und 51/12 und 43); Geiger, Neues Stadium, 220 und 223; ders., Aufgabe der Gegenwart, 22.

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tionen und vergleichbaren Ansätzen arbeiteten, wie zumal in den jeweiligen Äußerungen zu den Altgläubigen oder sogar zu Hirschs sich entwickelnder Neo-Orthodoxie deutlich wurde – in dem Moment, in dem die Situation beide aufeinander prallen ließ, musste es zum Konflikt kommen, und die diskursive Frontstellung sollte auch wieder Auswirkungen auf die Argumente haben. Dabei war das Schlachtfeld vorab klar: Die Scharmützel um das Scheitern mancher Gemeindeaktivitäten des Einen oder mangelnde formale Ausbildung und Herkunft des Anderen waren zwar schmerzhafte Sticheleien, kratzten aber nur die Oberfläche. Erst als ihre zwei Hauptantriebskräfte miteinander verquickt wurden, die Wissenschaft und die Religion, kam jene Mischung zusammen, die explosiv genug war, um bei einem energischen Angriff Eklat zu machen. Diesen ersten Höhepunkt erreichte die Fehde zwischen Graetz und Geiger im Dezember 1844, als der Orient Graetzens erste erhaltene wissenschaftliche Schrift abzudrucken begann.204 Er besprach darin das jüngste wissenschaftliche Werk seines Gegners, in welchem Geiger sich überdies erstmals an die Analyse eines der zentralen Texte der jüdischen Traditionsliteratur gemäß seinen wissenschaftlichen Anschauungen wagte. Zwar hatte Geiger seine philologischen und historischen Positionen zur Mischnah bereits in öffentlichen Vorträgen im Lehrverein dargelegt; doch hier nun hatte er sie schriftlich ausgearbeitet und damit der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt: in seinem zweibändigen Lehr- und Lesebuch zur Sprache der Mischnah.205 Graetz hatte sich zweifellos vorab schon seine Meinung gebildet, nachdem er einen der Vorträge Geigers gehört und dessen historische Einordnung der Mischnah als „logische Verrücktheit“ abgetan hatte.206 Wenngleich es in dem Lehr- und Lesebuch eher um sprachwissenschaftliche Erkenntnisse ging,207 konnte sich Graetz mit den Ergebnissen ebensowenig anfreunden. Dies galt insbesondere für Geigers apodiktische Feststellung, 204 Zuvor hatte er wohl noch eine Besprechung von Holdheims Schrift gegen die Beschneidung verfasst, die aber nur noch durch Fürsts Druck-Ablehnung nachweisbar ist. Vgl. Literaturblatt des Orients 5 (1844), Sp. 512 („Briefkasten“: „Herrn G–z in Breslau“); ebenfalls nicht erhalten geblieben sind eine Rezension von Josts Geschichte der Israeliten sowie ein Jugendwerk über Kalenderfragen. Vgl. Graetz, TB, 73, sowie Bloch, Biographie, 6 f. 205 Vgl. Geiger, Lehr- und Lesebuch. Breslau 1845. – Laut Geigers Sohn Ludwig sei das Werk von christlichen Orientalisten und Sprachwissenschaftlern positiv aufgenommen worden und habe allmählich auch Eingang in die Universitätscurricula gefunden. Vgl. Ludwig Geiger, Breslau 1838–1863. Einleitung, 126. 206 Der Streit war darum entbrannt, dass Geiger die Mischnah auf R. Juda ha-Nasi zurückführte. Tagebucheintrag vom [4.7.1842]; Graetz, TB, 120. Diese Datierung setzte sich nicht nur allgemein durch, sondern auch Graetz hat sie sich seinerseits 1853 in seinem Geschichtswerk zu eigen gemacht. Vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), 243 ff. 207 Zwar hatte Geiger zudem noch ein Wörterbuch und eine grundlegende inhaltliche Einführung in die Mischnah angekündigt, doch hat er dieses Projekt, das ihn schon seit seiner Jugend beschäftigt hatte, nicht beendet. Vgl. Lehrbuch, VI.

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dass das mischnische Hebräisch eine Kunstsprache der Rabbinen gewesen sei, losgelöst von der aramäischen Volks- und der griechischen Schriftsprache.208 Graetz bemühte sich heftig, gegen Geigers Behauptung mit den wenigen damals bekannten Quellenzeugnissen zu belegen, dass es eine lebendige hebräische Sprachtradition seit den biblischen Zeiten gegeben habe. Insgesamt betonte er die Bedeutung der Tradition, indem er von einer kontinuierlichen Entwicklung der rabbinischen Vorstellungen von der Bibel über die Mischnah bis hin zur Gemara ausging.209 Geiger hatte hingegen die Brüche und Missverständnisse zwischen diesen einzelnen Texten herausgehoben. Neben dieser grundsätzlichen Frage übte Graetz noch – abgesehen von gelegentlicher Zustimmung – heftigste Kritik an vielen Details, womit er nicht alleine stand.210 Doch wodurch seine Rezension herausstach, war ihr anmaßender Ton, der offenkundig auf Verletzung hin angelegt war: Verdient auch der Versuch in dieser noch unbearbeiteten Disciplin und die Anregung Anerkennung, muß auch Einzelnes als trefflich ausgesprochen werden: so darf auch nicht verhehlt werden, daß die Behandlung des Ganzen eine durchaus unwissenschaftliche und verfehlte zu nennen ist. Der ganzen Arbeit ist eine so unverzeihliche Flüchtigkeit, eine riesige Oberflächlichkeit anzusehen, daß man sie für das Product eines Monats und nicht eines jahrelangen Fleißes halten würde. Vielleicht rührt dieses von dem dogmatischen Vorurtheil gegen Mischna und Talmud, von welchem der Verfasser sich nicht frei machen kann, daß sich eine schiefe Auffassung durch das ganze Werk schlängelt.211

In der Folge warf Graetz dem Verfasser neben zahllosen Fehlern und Ungenauigkeiten im Detail einen „verrückten Standpunkt“ vor, die „Unwissenschaftlichkeit jeder Zeile“ in der Einleitung, ungenügende Beherrschung des Stoffs und verurteilte ihn überdies dafür, wenig Neues geboten zu haben – auf einem bislang kaum bearbeitetem Gebiet! Das Gesamturteil fiel denn auch vernichtend aus: „Es müßte schon sehr schlimm mit der jüdischen Theologie stehen, wenn ihre Jünger sich das Verständniß des talmudischen Literaturcyklus aus dieser Arbeit holen sollten.“212 Zwar lobte Graetz zum Abschluss die Intention Geigers sowie die Ausstattung des Werkes, doch sollte dies den Eindruck eines Total-Verrisses nicht verwischen. 208 Vgl. ebd., 1 ff. 209 Vgl. Graetz, [Rez.] Lesebuch, Sp. 633 ff. 210 Zur heutigen Forschungsperspektive vgl. Stemberger, Einleitung, 107. – Ein Heft vor Graetz war der erste Teil von Geigers Mischnah-Werk, das Lehrbuch, bereits von Jacob Levy zwar insgesamt sehr wohlwollend, aber im Detail kritisch besprochen worden; vgl. Literaturblatt des Orients 5 (1844), Sp. 810–816; ähnlich auch die anonyme Besprechung in der AZJ 9 (1845), Sp. 741, sowie die gegenüber Graetz wie Geiger kritische Randglosse von Bernhard Beer im Literaturblatt des Orients 6 (1845), Sp. 713 f. 211 Graetz, [Rezension von] Lehrbuch zur Sprache der Mischna, Sp. 14. 212 Ebd., Sp. 14, 51, 55, 57 und 90.

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Der Umstand, dass der renommierte Orientalist Geiger von einem akademischen Niemand in dieser Form und in diesem Ton abgekanzelt wurde, verdeckte alle berechtigte Kritik im Detail und unterband eine mögliche fruchtbare Grundsatzdiskussion. Stattdessen löste Graetzens Verriss eine regelrechte Schmutzkanonade aus, in der zunächst anonyme Anhänger des Breslauer Rabbiners mit persönlichen Anfeindungen antworteten.213 Etwas später publizierte Geiger seinerseits eine ausführliche und überaus scharfe Anti-Kritik unter dem Titel Wie man gelehrte Recensionen schreibt. Der folgten: Ueber selbstständige Mischnaherklärung, drei Weitere Proben aus einer „conservativen“ Recension und schließlich Letzte Proben aus einer „conservativen“ Recension.214 Sie stellten einen regelrechten Superkommentar zu Graetzens Kommentierung von Geigers Mischnah-Büchern dar. Geiger erging sich hier seinerseits in heftigsten persönlichen Invektiven, und wo Graetz noch bisweilen lobende Worte gefunden hatte, schüttete er nun ausschließlich Spott und Hohn aus – angeblich in schönster Sachlichkeit und ausschließlich zu dem ehrenwerten Zweck, „aus Liebe zur Wissenschaft [diese] aus den buhlerischen Umarmungen unwürdiger Jünger zu befreien.“215 Wenngleich es zweifelhaft erscheint, dass Geiger und Graetz jemals die Anlage gehabt haben sollten, miteinander auszukommen, so war dieser vorderhand wissenschaftliche Schlagabtausch der entscheidende Schritt zu einer lebenslangen Feindschaft – es sollte keinem von beiden mehr möglich sein, ein größeres Werk vorzulegen, ohne dass der andere ihm rundheraus jegliche Kompetenz absprach oder anderweitige Gehässigkeiten publizierte. Ihrem Streit waren beide bereit, die zwei Dinge zu opfern, um die es ihnen doch eigentlich ging – die wissenschaftliche Integrität und die Erkenntnis des Wesens des Judentums.

213 Vgl. Israelit des 19. Jahrhunderts 5 (1845), 72, sowie Graetz, [Rez. von] Lesebuch, Sp. 796. 214 Zusammengenommen waren Geigers Repliken nur unwesentlich kürzer als Graetzens Besprechung und gewannen zunehmend an Schärfe. Vgl. Geiger, Recensionen; Mischnaherklärung; Weitere Proben; Letzte Proben. – An Jakob Auerbach hatte Geiger am 13.1.1846 geschrieben: „Gerade weil ich wohl glauben musste, dass sein [= Graetzens] Blendwerk nicht spurlos sei, habe ich die harte Aufgabe einer Antikritik ganz gegen meine sonstige Gewohnheit – übernommen. Nun aber – und das ist das Zweite – weiss ich sehr wohl, dass ich nicht unfehlbar bin, aber was lässt sich bei solchen Dingen thun? […] Mögen diese hämischen, nichtsnutzigen Gesellen übrigens nur eine kurze Weile sich aufblähen, sie werden schon tüchtig auf die Finger geklopft bekommen. Für meine Person lache ich natürlich zu solchen, wie zu anderen Schmähungen.“ Geiger, NS V, 187 f. – Graetz wiederum gab im Literaturblatt des Orient eine Erklärung ab, dass er nach Beendigung von Geigers Replik eine Duplik verfassen werde, doch beließ er es dabei: 6 (1846), Sp. 832. 215 Geiger, Recensionen, 24.

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1.4 Als „polnischer Jude“ in Breslau: Studienjahre In Breslau wurde Graetz zu einem „polnischen Juden“. Genauer, er wurde zum polnischen bocher, zum Talmud-Lernenden aus den polnischen Provinzen abgestempelt. Während seiner Kindheit in Posen war diese Herkunft keine Kategorie gewesen, die eine Rolle gespielt hatte, da sie nichts Spezifisches bezeichnete. Erstmals auf dem Weg nach Oldenburg, den er selbst als Reise „nach Deutschland“ wahrnahm, erlebte er eine entsprechende, für jede Identitätsausbildung so notwendige Differenzerfahrung mit Bezug auf seine regionale Herkunft. Gleichwohl war dies mehr ein Wahrnehmen unterschiedlicher Mentalitäten, wobei er selbst nicht weiter regional differenzierte, sondern lediglich Beobachtungen über den Deutschen an sich festhielt.216 Im Gegensatz dazu stand für ihn sein heimatliches Posen als „Polen“.217 Dass derlei Selbst-Definitionen freilich kontextgebunden sind und kaum für eine absolute Bestimmung taugen, verdeutlicht die Bezeichnung als „Preuße“. Denn einerseits konnte er sich wenig mit ihr anfreunden, wie seine Kommentierung einer Feiertags-Predigt von Julius Gebhardt in Wollstein verdeutlicht: der gräßliche Garnisonsprediger war da und hielt wieder solche patriotischen Reden an r[osch ]h[a-schanah], daß man geneigt werden könnte, ein Jakobiner zu werden. „Preußen! Preußische Israeliten!“ Solche zartrührende Epitheta legt er uns bei.218

Andererseits konnte er auch ganz anders empfinden, wenn er gleichsam im Ausland war, wie eben im Großherzogtum Oldenburg; dort wurde ihm sehr bewusst, dass seine Heimat ein Teil Preußens war, und diese Zugehörigkeit empfand er auch auf einer emotionalen Ebene: der kleinste Umstand, der sich auf die Heimath, ja nur auf Preußen bezieht, noch mehr aber auf Polen, entzückt mich. So tief im Herzen ist die Vaterlandsliebe eingewurzelt!219

Allein in seinem Tagebuch finden sich derlei Hinweise nur vereinzelt; wenngleich dieser Befund auch für die Breslauer Zeit gilt, so kann man doch annehmen, dass für ihn in Oldenburg seine Herkunft im Wesentlichen in Form von Heimweh eine Rolle spielte. Und wenngleich aus dieser Zeit keine Zeugnisse von Dritten über ihn vorliegen, so steht doch zu vermuten, dass er allenfalls als Individuum als anders wahrgenommen wurde; für jedwede Kollektivzuschreibung fehlte es schlicht an einer nennenswerten Zahl von anderen ostaschkenasischen oder polnischen Juden in dem nordwest216 217 218 219

Graetz, TB, 60, ähnlich ebd., 44 und 55. Vgl. ebd., 79 und, deutlicher, 48. Tagebucheintrag vom [28./29.9.1840]. Graetz, TB, 92. Tagebucheintrag vom [23.5.1837]; ebd., 48.

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deutschen Großherzogtum.220 Überspitzt ausgedrückt: Sofern also überhaupt seine andere Herkunft wahrgenommen wurde, so galt er in Oldenburg allenfalls als „Jude“ und als „Fremder“, nicht aber als jenes spezifisch konnotierte Phänomen, das als „polnischer Jude“ bezeichnet wurde.221 Genau dies aber war in Breslau anders. Die Oder-Metropole verfügte über eine prosperierende Wirtschaft und war auch als Verkehrsknotenpunkt, Verwaltungszentrum und Garnisonsstandort ein Anziehungspunkt für viele. Neben Berlin war sie die am schnellsten wachsende Großstadt in Preußen. Sowohl die jüdische als auch die katholische Bevölkerung nahm seit 1815 kontinuierlich zu, und bis zu den frühen 1840er Jahren war ihr gemeinsamer Anteil um über 30 % auf ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt angewachsen. Auf Grund der konfessionellen Zusammensetzung steht zu vermuten, dass die Zuziehenden zu einem Großteil aus dem schlesischen Umland, aus Böhmen und vor allem aus den seit 1815 vollends preußisch gewordenen polnischen Provinzen kamen.222 Die als Polen wahrgenommenen Bevölkerungsgruppen stellten also in Breslau eine auffällige und dazu überaus dynamische Größe, sowohl christlicher- wie jüdischerseits. Daraus resultierten wiederum Spannungen mit den bereits Ansässigen – in denen sich die Frage der Herkunft somit in verschärftem Maße stellte. Gleiches gilt ebenso für die Universität. Bei dieser handelte es sich um eine noch junge, ursprünglich als Reformuniversität gegründete Institution, deren Zustand jedoch schon 1842 „zu den Verbesserungsbedürftigen gezählt werden“ musste.223 Sie war von vornherein keine homogene Einrich220 Wenn es überhaupt welche gab. Selbst im nicht fernen Hamburg setzte die große Zuwanderungswelle von Posener Juden, von denen die überwältigende Zahl auf dem Wege nach Amerika war, erst in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre ein; vgl. Östreich, Auswanderung, 45. Vorläufig beschränkte sich die noch spärliche Westwanderung Posener Juden auf die benachbarten Provinzen Preußens. 221 Zwar zeigt Graetzens Tagebuch Ansätze dafür, dass er sich negativer Konnotationen des Etiketts „polnisch“ und seiner Verbindung mit bestimmten Stereotypen wie Schmutz und Unverschämtheit bewusst war; vgl. Graetz, TB, 54 und 98. – Doch gibt er nie einen Hinweis darauf, dass es zu einer Verbindung von „polnisch“ und „jüdisch“ gekommen sei; ebensowenig weiß sein Tagebuch während der Oldenburger Zeit von Problemen, die er persönlich als aus „Polen“ Stammender dort gehabt habe. Derlei Bemerkungen finden sich erst in Breslau. Auch allgemein, im Zuge der verstärkten Auswanderung von Juden aus den Gebieten des ehemaligen Königreichs Polen nach Westen, entwickelte sich jenes Bild des „Ostjuden“, das in höchst abwertendem Ton vor allem aber die nach Westen drängenden Juden aus Russisch-Polen und Russland meinte. Vgl. hierzu Aschheim, Brothers; Wertheimer, Unwelcome Strangers; Maurer, Ostjuden. 222 Zwischen 1817 und 1849 wuchs der Anteil der Juden und Katholiken an der Breslauer Bevölkerung von 27 % auf rund 40 %. Der Anteil von Juden an der Breslauer Gesamtbevölkerung lag in diesem Zeitraum knapp über 1 %. Vgl. Davis/Moorehouse, Blume Europas, 275– 282 (Wirtschaftslage) und 289 (Zuzug). 223 Meyer, Conversations-Lexicon V (1842), 806.

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tung. Entstanden war die Academia Viadrina Wratislaviensis 1811 aus der Zusammenlegung der protestantischen Viadrina in Frankfurt (Oder) und der jesuitischen Leopoldina in Breslau.224 Auf Betreiben des damaligen Leiters der Unterrichtsabteilung im preußischen Innenministerium, Johann Wilhelm Süvern, wurde sie im reformerischen Geiste Wilhelm von Humboldts konzipiert, was seinen deutlichsten Ausdruck in der für Preußen erstmaligen Einrichtung zweier theologischer Fakultäten fand – „ein Markstein in der Geschichte unseres geistigen Lebens“, wie etwa Heinrich von Treitschke befand.225 Wie an Reforminstitutionen üblich, hatte man eine ambitionierte Berufungspolitik betrieben und einige führende Gelehrte an der Oder versammelt. Auch die zweite Generation von Professoren, bei der Graetz studieren sollte, konnte sich an diesem hohen Anspruch messen. Hier lehrten unter anderem die Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) und Richard Roepell (1808–1893), die sich nicht nur eines ausgezeichneten Rufs als Gelehrte erfreuten, sondern auch für die besondere Ausstrahlung ihrer Alma mater nach Polen sorgten. Vor allem Roepell, den Leopold von Ranke später als den „älteste[n] meiner Schüler“ bezeichnen sollte,226 erfreute sich bei Studenten polnischer Herkunft größter Beliebtheit. Er war der polnischen Sprache mächtig und hatte darüber hinaus 1839 die erste deutschsprachige Geschichte Polens veröffentlicht. Nachdem er 1841 auf ein Extraordinariat in Breslau berufen worden war, entfaltete er hier eine herausragende Wirksamkeit als Lehrender „ohne Rücksicht auf Glauben und Volkszugehörigkeit“227 und baute (einmalig in Deutschland) einen regelrechten polonistischen Schwerpunkt auf.228 Während sich die katholischen Studenten aus Polen an der Philosophischen Fakultät um Roepell sammelten, so hatte für die wenigen Juden daneben noch der Orientalist und bedeutende Syrologe Georg Heinrich Bernstein (1787–1860) eine besondere Anziehungskraft.229 224 Vgl. Davies/Moorhouse, Blume Europas, 293 f. – Der heute bekanntere Name Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau ist erst am 2.10.1911 anlässlich ihres 100jährigen Bestehens eingeführt worden. Vgl. Scheuermann, Breslau-Lexikon, s. v. Universität, 1800–1810, hier 1810. 225 Treitschke, Geschichte I, 309. – Zur Bedeutung der Universität für Breslaus Ruf als Stadt der Bildung und der Forschung vgl. auch Herzig, Provinz, 520–524. 226 So in einem Brief an die Philosophische Fakultät der Universität Breslau vom 27.12.1885, in: Ranke, Neue Briefe, 733. 227 Hahn s. v. Roepell, 466. 228 Nicht zuletzt dieser Schwerpunkt dürfte zu der Attraktivität der Breslauer Universität für polnische Studenten beigetragen haben. Bereits 1817 hatte deren Anteil bei etwa 16 % gelegen und ging in den folgenden Jahren wohl kaum zurück. Vgl. Davies/Moorhouse, Blume Europas, 299 und 306. 229 Vgl. Orient 6 (1845), 387, und Wilke, „Talmud“, 578. – Zu ihm vgl. Bickell s. v. Bernstein, und Gosche, Jahresbericht, 8.

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Mit ihrer offenen Haltung gegenüber ihren katholischen und jüdischen Studenten waren diese beiden Ordinarien durchaus Ausnahmen in Breslau. Die oftmals protestantische und Deutsch sprechende Mehrzahl der Alteingesessenen beäugte all die Fremdlinge aus dem Osten mit einigem Unbehagen,230 doch bildeten – wie bereits angedeutet – auch die bereits ansässigen jüdischen und katholischen Einwohner keine Ausnahme von dieser Haltung, solange sie sich als Deutsch sprechende Schlesier oder Preußen empfinden konnten.231 Eine „polnische“ Herkunft implizierte bereits in den 1840er Jahren Rückständigkeit, Faulheit und Schmutzigkeit, Eigenschaften, wie sie dann nicht zuletzt durch Gustav Freytags Erfolgsroman Soll und Haben (1855) prägnant verbreitet werden sollten.232 Doch war eine polnische Herkunft zu dieser Zeit nichts Unentrinnbares. Ähnlich wie später bei Freytag die Figur des Bernhard Ehrenthal (immerhin Jude und Sohn eines der Hauptschurken des Werks) nicht dem Stereotyp entsprach, so gab es auch im realen Leben Mittel und Wege, kulturell von den etablierten Breslauern – Juden wie Christen – akzeptiert zu werden. Zwei der wichtigsten Strategien funktionierten über Sprache und Bildung. In sprachlicher Hinsicht233 war es vor allem die Abwendung vom übel beleumundeten Jiddischen oder Judendeutsch, dem so genannten Jargon, welche eine conditio sine qua non der Akzeptanz darstellte. Doch tat man damit noch nicht genug. Wie in allen Prozessen der Etablierung eines bestimmten sozialen Status durch den Erwerb weicher, kultureller Eigenschaften waren auch hier die feinen Unterschiede entscheidend. Denn selbst bei fehlerfreier Beherrschung des Hochdeutschen beargwöhnten nicht wenige Zeitgenossen eine als spezifisch jüdisch wahrgenommene Satzmelodie. Dieser vermeintlich eigentümlich singende und süßliche Klang verrate jüdische Herkunft eben doch, wie es hieß. Gleiches gelte für eine besonders gestikulationsfreudige Form der Kommunikation, die besonders mit Juden assoziiert und als „Mauscheln“ diffamiert wurde. Vielleicht bargen derlei Zuschreibungen einen wahren Kern, doch ist ihr spezifisch jüdischer Charakter höchst zweifelhaft. Es sei daran erinnert, dass die akzentfreie, rein hochdeutsche Rede in gesetzter Manier als Norm sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahr230 Vgl. etwa Davies/Moorhouse, Blume Europas, 306–309, mit einigen sprechenden Beispielen. 231 In diesen Kontext gehört gleichfalls, dass auch gegen die Berufung Abraham Geigers zum Rabbinatsassessor das Argument ins Feld geführt worden war, dass er, der gebürtige Frankfurter und Rabbiner in Wiesbaden, „Ausländer“ sei. Vgl. etwa Israelit des 19. Jahrhunderts 5 (1844), 157. 232 Dieser polenfeindliche Zug ist bei Freytag wesentlich konsistenter als sein berüchtigt negatives Bild von Juden. Zu Werk und Wirkung dieses ungeheuer erfolgreichen Romans vgl. Brockmeyer, Antisemitismus; van Rahden, Juden, 274 ff, und Wirschem, Suche, passim. 233 Zum Folgenden vgl. Gotzmann, Vatersprache, 28–33, und Lässig, Sprachwandel.

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hunderts etablierte; inwieweit diese Norm dann auch der Sprachpraxis entsprach, sei dahingestellt. Des ungeachtet wurden diese Kategorien als entscheidend angesehen und als Hürden, die Juden zu nehmen hatten, wenn sie gesellschaftlich von dem sich allmählich konstituierenden Bürgertum akzeptiert werden wollten, sowohl christlicher- wie jüdischerseits. Für viele Posener Juden zu Graetzens Zeit waren dies ernst zu nehmende Hürden. Auch wenn sich freilich keine fundierte Aussage zu seiner eigenen Aussprache und Artikulation machen lässt,234 so stellte zumindest die Sprache an sich kein Problem für Graetz dar, da er ja, wie gezeigt, Hochdeutsch als Muttersprachler auch schriftlich beherrschte und damit vermutlich sogar besser dastand als selbst mancher gebürtige Breslauer. Umso mehr traf ihn jeder Hinweis auf seine unvollkommene, außerschulische, vielfach sogar autodidaktische Ausbildung.235 Auch im Verkehr mit Altersgenossen, die ihm gegenüber das symbolische Kapital etwa eines Abiturs aufweisen konnten, legte der junge Posener Autodidakt eine große Empfindlichkeit an den Tag.236 Hier zeigten sich bei Graetz Hinweise auf eine allgemeine Entwicklung, die bis zum Kaiserreich den Bildungsbegriff nachhaltig verändern sollte – mit Folgen besonders für die soziale Formierung bürgerlicher Schichten und die Rolle der Juden dabei.237 Denn Bildung (ursprünglich verstanden als Bildung der Persönlichkeit zu einem freien, mündigen und selbstverantwortlichen Individuum) diente als eines der entscheidenden Distinktionsmerkmale und war somit zentrales Element für die Schaffung bürgerlicher Identität. Das Besondere war hierbei, dass solche Bildung – anders als Herkunft und zumindest eher als die wirtschaftlich-soziale Stellung – individuell erworben werden konnte und musste. Damit fand ein Element Eingang 234 Allenfalls dass selbst in persönlichen Angriffen dieser Zeit Vorwürfe des „Jüdelns“ oder „Mauschelns“ fehlen, könnte darauf hinweisen, dass Graetz sich diesbezüglich hören und sehen lassen konnte, während er durch seine Kleidung und Auftreten (Bart, Haartracht) anscheinend doch als jüdischer Student aus Posen erkennbar war; vgl. oben, Kap. II 1.3. 235 Vgl. etwa Graetz, TB, 137. Dies galt auch dann, wenn die Erwähnung mutmaßlicherweise lobend gemeint war wie etwa in der Begrüßung seitens des Dekans der Philosophischen Fakultät, Nikolaus Wolfgang Fischer (1782–1850); in seinem Tagebuch reagierte Graetz seinerseits mit der Erwähnung der „Extraordinität“ des Dekans, der ein getaufter Jude war. Ebd., 124. – In seiner Mahnung an Geiger zur Redlichkeit am Ende der Besprechung des Lesebuches sprach er verschämt von seiner „Vergangenheit“; Literaturblatt des Orients 6 (1845), Sp. 796. 236 Vgl. etwa die Begegnung mit David Honigmann in Kempen; Graetz, TB, 110. – Es wäre zu überlegen, inwieweit seine große Anhänglichkeit an den Studienabbrecher Hirsch und sein Widerwillen gegen den promovierten Geiger auch mit diesem offenkundigen Gefühl von Minderwertigkeit zusammenhängt. 237 Hierzu und zum Folgenden vgl. aus der Menge der Forschung Assmann, Arbeit; Koselleck, Einleitung (hier bes. 11); Lässig, Bildung; Mosse, Jews beyond Judaism; Mosse, Between Bildung; Sorkin, Transformation.

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in das Kategoriensystem zur Formierung einer bürgerlichen Gesellschaft, das in Zeiten des Umbruchs überaus dynamisch wirkte. Der Erwerb von Bildung stand – wie es schien – jedem offen, und da er überdies losgelöst war von konfessionellen Voraussetzungen, eröffnete gerade dieser Aspekt Juden beste Möglichkeiten, um sich an der Entstehung der neuen Gesellschaft zu beteiligen. Besonders virulent war diese Dynamik, solange sich die öffentliche Ausbildung ihrerseits im Umbruch befand. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten sich jedoch Reforminstitutionen (wie etwa die Breslauer Universität) bereits etabliert, die Strukturen der Bildung verfestigten sich immer mehr, aus Bildung wurde Ausbildung. Das kulturelle Kapital des bloßen Bildungswissens reichte damit immer seltener aus, wichtiger wurde das symbolische Kapital der entsprechenden Zertifizierung, ein Prozess, der mitunter wunderliche Blüten schlagen konnte.238 Die hier bereits angelegte Betonung des formalen Elements mit der ihm inhärenten Verabsolutierung von Nützlichkeitsaspekten auf Kosten besonders der neuhumanistischen Bildungsinhalte sollte später gerade von Minderheiten innerhalb der bürgerlichen Schichten als bedrohlich wahrgenommen werden;239 die zeitlich wesentlich näher liegende Folge war, dass es für unterbürgerliche, aber aufstrebende Geister nicht mehr so leicht war, mittels ihres erworbenen Bildungswissens einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Graetz ist dafür ein gutes Beispiel, und gerade seine Gefühle bei der Begegnung mit dem bereits arrivierten Honigmann zeigen, dass die Folgen dieses Prozesses bereits im Vormärz ins Bewusstsein zu dringen begannen. Insofern scheint es aus der Rückschau nahezuliegen, dass Graetz dem Mangel an symbolischem Kapital abhalf, indem er nach seiner Rückkehr aus Oldenburg ein Studium aufnahm, um zu promovieren und ein DoktorRabbiner zu werden.240 Gemäß dieser von Graetzens Schülern herausgestellten Handlungslogik hätte also seine Zeit in Ostrowo einzig dazu gedient, das für das Studium nötige Geld zu verdienen.241 In Graetzens Tagebuch lässt 238 Die Diskrepanz zwischen beiden Kapitalien hat Mark Twain in seinen Adventures of Tom Sawyer auf das Schönste mit der Geschichte gezeigt, wie Tom clever jene Zettel erwarb, die das Auswendiglernen von Bibel-Sprüchen zertifizieren sollten, ohne dass er auch nur einen einzigen dieser Sprüche gelernt hätte. 239 Vgl. Mosse, Bildungsbürgertum, 169. 240 Grundlegend zur Entstehung dieses Phänomens, die das Ergebnis eines wesentlich länger dauernden und differenzierteren Prozesses war, als es diese scheinbare Handlungslogik nahelegt, vgl. die vorzügliche Studie von Wilke, „Talmud“. 241 Vgl. etwa Bloch, Biographie, 19 f; Brann, Heinrich Graetz, 9; Meisl, Graetz, 13. – Sie folgen damit Graetzens Selbstdarstellung in seinem Bewerbungs-Lebenslauf für die Fraenckelschen Stiftungen; Aufzeichnungen, 23. Allerdings übersehen sie damit die dem Genre geschuldete Tendenz des Textes, den Lebensweg zu glätten und zielgerichtet erscheinen zu lassen.

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sich ein solch zielstrebiger Lebensplan jedoch nicht erkennen.242 Vielmehr war er nach seiner Rückkehr einigermaßen orientierungslos gewesen und froh, irgendeine Anstellung gefunden zu haben. Das am Ende seines Aufenthaltes in Ostrowo Zusammengesparte stammte im Wesentlichen aus der Großzügigkeit Wehlaus, seines Arbeitgebers, und als Graetz dessen Familie unfreiwillig-vorzeitig verlassen musste, wusste er selbst nicht recht, was geschehen würde: „Also“, schrieb er noch in Ostrowo, „ich gehe von hier nach Breslau und – ja das werden wir ja sehen.“243 Breslau war für einen ehrgeizigen, wenn auch plan- und stellungslosen jungen Menschen aus Posen zu dieser Zeit ein naheliegendes Ziel, auch wenn er gerade als Jude nicht so einfach ein Bleiberecht in der Nachbarprovinz erhalten konnte.244 Zudem gab es für junge Juden dieser Zeit mit einem Studium an der philosophischen Fakultät im Grunde keinerlei realistische Zukunftsaussichten: Die akademische Laufbahn war ihnen versperrt, und bis weit in die 1840er Jahre hinein fanden sich kaum Gemeinden, die einen Universitätsabsolventen als Rabbiner anzustellen bereit waren.245 Allein die Immatrikulation an der Universität bot schlichtweg den zunächst einfachsten Weg, die begehrte Aufenthaltsgenehmigung in Breslau zu erlangen. Zumal das Studium durchaus Graetzens Neigungen entgegenkam, seiner Neugier ebenso wie auch seinem Ehrgeiz. Andererseits hatte er sich wenigstens für seinen Ehrgeiz einen denkbar ungeeigneten Ort ausgesucht, um seinem eklatanten Mangel an symbolischem Kapital abzuhelfen: Denn die Philosophische Fakultät der Universität Breslau verunmöglichte es Juden (als einzige in Frage kommende Fakultät in Breslau wie in ganz Preußen), an ihr 242 Auch die entsprechenden Andeutungen in seinen Tagebuchnotizen noch vor dem Versuch, an eine Prager Jeschivah zu gelangen, sprechen in ihrer naiven Unbedarftheit nicht dafür. Sie zeugen einzig davon, dass es ein Bewusstsein für diese Art des Karriereweges gab; hingegen belegt Graetzens weiterer Lebensweg, v. a. mit der Entscheidung, nach Oldenburg zu gehen, dass es auch noch eine Reihe anderer Optionen gab. Vgl. Graetz, TB, 14 f und 18 f, sowie Wilke, „Talmud“, 554 f. 243 Tagebucheintrag vom [25.2.1842]. Es folgt eine neuerliche Bekundung von Gottvertrauen mit einer Anspielung auf Gen 2,4. Graetz, TB, 117. – Vermutlich konnte Graetz nicht allzu viel Geld ansparen, da er seinen Eltern und seinem Bruder Abraham immer wieder Geld schickte. Vgl. ebd., 103, 105, 107 u. ö. In Breslau hielt er sich dann mit privatem Sprachenunterricht sowie seiner journalistischen Arbeit über Wasser. 244 Als nur geduldeter Posener Jude war ihm gemäß § 25 b) der Vorläufigen Verordnung wegen des Judenwesens im Großherzogthum Posen vom 1.6.1833 die Niederlassung in den westlichen Provinzen der preußischen Monarchie verwehrt, er musste sich in regelmäßigen Abständen um eine Verlängerung seines befristeten Passes bemühen; die dafür notwendige Begründung bot ihm die Aufnahme eines Studiums an der Universität, für deren Besuch allerdings Abitur oder – in seltenen Ausnahmefällen – ein vergleichbares Zeugnis Voraussetzung war. Vgl. Kemlein, Posener Juden, 180 f und 336; Östreich, Auswanderung, 199 ff. 245 Vgl. Wilke, „Talmud“, 561–566.

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zu promovieren.246 Doch selbst die bloße Aufnahme eines Studiums war für einen Lebensweg wie den seinen nicht mehr so leicht zu bewältigen, da in Preußen seit 1834 die Vorschrift galt, dass für den Universitätsbesuch ein Abitur verbindliche Voraussetzung sei.247 Eher zufällig bekam Graetz den richtigen Hinweis, wie er die verwaltungstechnischen Hürden umgehen konnte, auch wenn dies einen längeren Weg durch die Instanzen bedeutete. Auf Anraten eines Bekannten bemühte er sich – wie erwähnt – um ein Zeugnis von Hirsch, das ihm die Tore der Universität öffnen sollte.248 Keine drei Wochen später hielt er den Brief aus Nordwestdeutschland in Händen mit einem amtlich beglaubigten Zeugnis, dass er sich den Stoff des Gymnasiums erarbeitet habe. Von dem beigefügten Schreiben Hirschs war Graetz tief gerührt: „welch ein sanfter, liebesathmender Ton im Brief des B[en] U[siel]“, flötete er für dieses Mal in seinem Tagebuch. Wahrlich, ich muß doch nicht ganz schlecht seyn, wenn B. U. für mich so empfinden kann. […] Er scheint doch unbändig von seinem Amte in Anspruch genommen zu seyn. Gleichwohl hat er sich Mühe gegeben, mir das Zeugnis auszufertigen und vom Magistrat legalisiren zu lassen.249

Mit einem Male schien dem einst so vernachlässigten Famulus wieder jede Kleinigkeit seines Herzenskönigs preisenswert. Nachdem er auch noch ein Zeugnis von Wehlau erhalten hatte (über dessen „marmorkalte[n] Kanzleistyl“250 er jedoch nicht recht froh werden wollte), konnte er Ende Juli endlich bei dem zuständigen Kultusminister Friedrich Eichhorn (1779– 1856) das Gesuch auf eine außerordentliche Immatrikulation einreichen. Das Ministerium antwortete rasch, und nachdem schließlich noch die regionale Oberbehörde ihr placet erteilt hatte, konnte Graetz sich an der Schlesischen Friedrich Wilhelms-Universität als studiosus humanissimus philosophiae einschreiben.251 246 Die Frage des Abschlusses war folglich kein Argument für die Aufnahme des Studiums. – Die Ausschluss-Regelung bestand seit 1840 und wurde erst auf Grund des preußischen Emanzipationsgesetzes von 1847 aufgehoben; es dauerte allerdings noch bis 1849, bis wieder ein jüdischer Kandidat promoviert wurde. Vgl. Wilke, „Talmud“, 614 mit dem Wortlaut des Universitäts-Reglements in Anm. 233; Richarz, Eintritt, 102 f und 129, sowie auch Graetzens Artikel im Orient 5 (1844), 307. 247 Vgl. Lundgreen, Konstituierung, 88 f. 248 Vgl. Graetz, TB, 119. – Im Österreichischen Kaisertum, wo die Rechtslage in ihrer faktischen Auswirkung ähnlich war wie in Preußen, gab es deswegen einen regelrechten Gymnasialtourismus nach Ungarn, wo die entsprechenden Urkunden leichter bzw. überhaupt zu erlangen waren. Vgl. Wilke, „Talmud“, 549 und 555. 249 Tagebucheintrag vom [12.7.1842]. Graetz, TB, 121. 250 Tagebucheintrag vom [27.7.1842]; ebd., 121 f, Zitat 122. 251 Die erforderlichen bürokratischen Schritte notierte er am 22.6. und 12.7. (Hirschs Zeugnis 119 ff), 27.7. (Gesuch an Kultusminister Eichhorn; ebd., 123) und 26.8. (Zustimmung des außerordentlichen Regierungsbevollmächtigten und Geheimen Regierungsrathes Heinke;

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So begann Graetzens offizielle Studienzeit an einer der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen Preußens seiner Zeit. Sein Beispiel zeigt, dass auch das bereits auf das symbolische Kapital einer Maturität ausgerichtete System der Bildungsauslese alternativen Ausbildungswegen noch nicht gänzlich den Zugang zur höheren Bildung verwehrte; dennoch war Graetz unter seinen Kommilitonen in Breslau eine Ausnahmefigur, wie der Dekan der philosophischen Fakultät zu Graetzens Beschämung in seiner Begrüßungsansprache ausdrücklich feststellte.252 Zwar war er bei weitem nicht der einzige immatrikulierte Jude.253 Doch waren es gerade die als Bachurim angesehenen Studenten aus den polnischen Provinzen, denen die bereits etablierten Juden in ihren Studienorten die Befähigung und sogar den Willen zu einem regulären Studium nicht immer zutrauten und gegen die sie polemisierten.254 Graetz stürzte sich jedoch begierig auf die Studien. Bereits vor seiner offiziellen Aufnahme hörte er Collegia. Leider berichtet sein Tagebuch nur in den ersten Monaten seines Aufenthaltes in Breslau von den Veranstaltungen, so dass sich lediglich sein erster Eindruck festhalten läßt. Dieser war kein günstiger: Keiner seiner Professoren – immerhin Kapazitäten wie Ambrosch255, ebd.). – Die entsprechenden Akten finden sich nicht mehr im GStA Berlin und sind vermutlich makuliert worden. 252 Vgl. Graetz, TB, 124. – Insofern ist es wohl auch als Revanche anzusehen, dass Graetz hier bei dem Dekan, dem Chemiker Fischer, festhält, dass dieser ein „meschûmad“, ein zum Christentum übergetretener ehemaliger Jude, ist; in anderen Fällen, wie etwa dem des Philosophen Christlieb Julius Braniß oder dem Literaturhistoriker Guhrauer, unterblieb dieser Hinweis (zu Braniß, bei dem Graetz Philosophie hörte, siehe in diesem Kapitel Anm. 44 sowie unten, Kap. II 2.3; zu Guhrauer siehe unten, FN 266). 253 Nach Richarz waren in dem Zeitraum seines Studiums (1842–1845) an der Universität Breslau zwischen 24 und 33 Juden immatrikuliert, womit ihr Anteil an der Gesamtzahl der Studenten zwischen 8 % und 11 % schwankte; die überwältigende Mehrheit von ihnen studierte allerdings an der medizinischen Fakultät, nach der polemischen Feststellung des Mediziners Benedict sollen 1847 sogar 60 % seiner Studenten Juden gewesen sein. Vgl. Eintritt, 93 und 102. Elf aus der Gesamtzahl jüdischer Studenten sollten später Rabbiner werden, und von diesen wiederum stammten vier aus dem ehemaligen Polen. Vgl. Kaufmann, Geschichte II, 62; Wilke, „Talmud“, 557. 254 Dies gilt insbesondere für Berlin, wo zum einen die Spannungen in der jüdischen Gemeinde bereits weiter zugespitzt waren als in ihrem Breslauer Pendant und wo zum anderen in der hier interessierenden Zeit dreizehn Kandidaten aus den östlichen Provinzen und wahrscheinlich ohne formale Hochschulreife eingeschrieben waren. Vgl. Richarz, Eintritt, 151 f; Wilke, „Talmud“, 557–561; speziell in Breslau war wohl gerade Graetzens Person eine Reizfigur, da die meisten diesbezüglich angeführten Pressepolemiken mehr oder minder deutlich auf ihn Bezug nehmen. Für den Kontext vgl. oben, Kap. II 1.3, und unten, Kap. II 2.3. 255 Joseph Julius Athanasius Ambrosch (1804–1856) war seit 1834 Professor für Philologie und Archäologie in Breslau. Er gehört zu den Begründern der Topographie als wissenschaftlicher Disziplin. Vgl. Foerster, Altertumswissenschaft, 388 f. – Graetz fand sein kunstgeschichtliches Kolleg „auch nicht sehr erquicklich“. Tagebucheintrag vom [23.6.1842]. Graetz, TB, 119 f, Zitat 119. Es scheint bei einem kurzen Hineinhören geblieben zu sein, zumindest wurde ihm diese Lehrveranstaltung nicht testiert.

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Movers256, Stenzel257, Roepell258, Braniß259 oder Bernstein260 – fand zu Beginn vor den Augen des jungen Studenten Gnade. Wieder kam es zum Konflikt zwischen seinem hehren Ideal und der im Vergleich dazu abfallenden Wirklichkeit, die ihn nur enttäuschen konnte. Die Diskrepanz suchte er sich 256 Der katholische Theologe und geweihte Priester Franz Karl Movers (1806–1856) bekleidete eine Professur für alttestamentarische Exegese. Von dessen Fähigkeiten hielt Graetz als Student offenkundig wenig, jener spreche „über Psalmen und jüdische Archäologie wie ein am ha-aretz [= Ignorant/Idiot]“. Graetz, TB, 119. Movers’ Hauptwerk, Die Phönizier (Bd. I–II in 4 Teilen, 1841–1856), sollte Graetz allerdings in seiner Geschichte der Juden sogar mehrfach anführen. Vgl. Bd. I2 (1874), 353, 368, 426 f, 441, 443; Bd. II/2 (1876), 420 u. ö. – Graetz hörte bei Movers im Wintersemester 1842/43 „Religionslehre des alten Testaments“ (testiert als „sehr fleißig“), im Sommersemester 1843 „Psalmarum pars prima“ („sehr fleißig“) und im Wintersemester 1843/44 „Pentateuch“ („ausgezeichnet fleißig“). Anmeldebogen Hirsch Graetz. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. Zur Person vgl. Brann (Hg.), Aufzeichnungen, 146, und Reusch s. v. Movers. 257 Der Erstsemester Graetz urteilte: „Stenzel über französische Revolution, wie ich darüber vortragen würde“. Tagebucheintrag vom [23.6.1842]. Graetz, TB, 119 f, Zitat 119; Stenzel trug sich damals mit dem Gedanken einer Geschichte der Französischen Revolution, die aber nicht ausgeführt wurde. Vgl. Stenzel, Stenzel, 210 f. – Allerdings wird Stenzel in Graetzens Belegbogen mit keiner Veranstaltung erwähnt. 258 In Graetzens Tagebuch findet Roepell keine Erwähnung. Laut seinem Anmeldebogen hatte er bei ihm im Wintersemester 1842/43 ein Kolleg zur „Geschichte der neuesten Zeit“ „sehr fleißig besucht“. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. 259 Christlieb [auch: Christian] Julius Braniß (1792–1873), der sich als erster Jude in Breslau immatrikuliert hatte, sich 1822 aber taufen ließ. 1833 wurde er Ordinarius für Philosophie an der neuen Viadrina. Er bemühte sich um ein eigenes System einer evolutionistischen, anthropozentrischen Ethik spätidealistischer Prägung unter gleichzeitiger Wahrung der göttlichen Persönlichkeit. Vgl. Döring s. v. Braniß, 184; Scholtz, „Historismus“, passim. – Graetzens abschätziges Urteil über ihn deutet auch auf die überhohen Vorstellungen hin, mit denen der junge Mann an die Universität gekommen war, wenn er bemäkelte, dass Braniß weder „Logik, noch die Ästhetik anders gemacht“ habe. Tagebucheintrag vom [27.7.1842]. Graetz, TB, 121 ff, Zitat 122. In der Folge sollte Graetz sich zu einem eifrigen und treuen Hörer von Braniß entwickeln, bei dem er als einzigem Breslauer Professor vier Mal Veranstaltungen besuchte: im Wintersemester 1842/43 „Ueber Leibnitzens[!] Philosophie“ (testiert als „rühmlichst fleißig“), Sommersemester 1843 „Einleitung in die gegenwärtige Philosophie“ („rühmlich fleißig“), Sommersemester 1844 „Geschichte der neueren Philosophie“ (wieder „rühmlichst fleißig“) sowie im Wintersemester 1844/45 „Philosophie der Geschichte“ (in den Promotionsakten noch nicht testiert). UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. – Sehr anschaulich beschreibt David Honigmann, der dieselben Veranstaltungen besucht hat wie Graetz, in seinen Memoiren die Faszination von Braniß‘ Collegia über die spekulative Philosophie der Gegenwart, während auch ihm dessen Vorlesung über Logik „ein ungenießbares strohernes Gericht“ war. Brann (Hg.), Aufzeichnungen, 146; vgl. auch die Analyse von Braniß’ Logik-Studie bei Scholtz, ‚Historismus‘, 55–72. 260 Georg Heinrich Bernstein (1787–1860) kam 1820 als Ordinarius für orientalische Sprachen nach Breslau und muss als einer der wichtigsten Syrologen des 19. Jahrhunderts gelten. Zu ihm vgl. Bickell s. v. Bernstein, 485. Gosche, Jahresbericht, 8. – In Graetzens Tagebuch wird er allerdings nicht erwähnt, obwohl im Sommersemester 1843 und dem folgenden Wintersemester ein Kolleg über die altarabischen Hamasa-Gesänge bei ihm „mit ausgezeichnetem Fleiße“ und „mit musterhaftem Fleiße“ besucht hatte. Anmeldebogen Hirsch Graetz. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67.

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selbst dadurch zu erklären, dass er die Ebenen der Wissenschaft, der Religion und der individuellen Persönlichkeit des Lehrenden vermengte. Folglich konnte das Problem einzig in der Konfession seiner Professoren liegen: „Es wird beim Christen alles so trocken magisterhaft abgeleiert, daß die Poesie wie der Schmetterlingsstaub abfliegt.“261 Von all den historischen, orientalistischen und philosophischen Veranstaltungen, die er besuchte, waren es lediglich diejenigen des Physikprofessors Georg Friedrich Pohl (1788– 1849), die einige Faszination ausübten und unmittelbaren Niederschlag im Tagebuch fanden, und auch dies lediglich im Kontext einer Klassifikation aller Erscheinungen der natürlichen Welt, allesamt zumindest mit „Spuren geistigen Lebens“ versehen (selbst die Metalle und Mineralien). Unter Geist verstand er dabei eine Verbindung aus „Schnelligkeit und Bewußtseyn“, die sich in unterschiedlicher Weise manifestierte, mit wachsendem Anteil des Letzteren, je höher die Daseinsform stehe. An der Spitze dieser Pyramide schließlich schien ihm nun sehr leicht „der höchste Geist auf diese Weise denkbar, im Universum die vollständigste Intelligenz mit der größtmöglichen Geschwindigkeit verbunden – Gott“.262 Überhaupt war zu dieser Zeit sein Gottvertrauen hoch.263 Es konnte mitunter, wie in jener kosmologischen Skizze, zu regelrecht deistischen Ansätzen kommen, ohne dass ihm dies näher bewusst geworden wäre. Er konnte weitgehend mit sich und der Welt zufrieden sein: Sein Leben nahm einen geordneten Gang, er hatte durch das Studium und sein gemeindepolitisches Engagement mehr oder minder klare Ziele vor Augen und überdies auch noch sichtbaren Erfolg – seine Artikel wurden gedruckt, gelesen und diskutiert, und auch an der Universität reüssierte er. Dem Humboldtschen Geiste der Zeit entsprechend studierte er sehr breit, sein Lebenslauf in den Promotionsakten weist Veranstaltungen in sechs Fachrichtungen auf.264 Die von ihm besuchten Veranstaltungen reichten 261 Graetz, TB, 119. 262 Vgl. den Tagebucheintrag vom [13.11.1842]. Ebd., 124 f. Graetz hatte bei Pohl im Wintersemester 1842/43 „Elektromagnetische Erscheinungen“ „rühmlichst fleißig“ gehört sowie im Sommersemester 1844 eine Vorlesung „Ueber Luft und Wärme“, wofür Pohl ihm „rühmlichste[n] Fleiß bezeugt“ hat. Anmeldebogen Hirsch Graetz. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. – Zu Pohl allgemein vgl. Karsten s. v. Pohl, 368 f. 263 Dies wird in einer Reihe von gebetartigen Einschüben und Ausrufen sehr deutlich. Vgl. Graetz, TB, 121, 122 und 123. Dieses Gefühl hielt dann auch noch eine Weile an, als sich neuerlich Schwierigkeiten abzuzeichnen begannen. Vgl. ebd., 127. 264 Sein Lebenslauf in den Jenaer Promotionsakten weist Veranstaltungen in sechs Fachrichtungen auf: „1) Theologiam et criticam me docuit ill. Movers. 2) Orientalia me docuerunt illl. vv Bernstein et Stenzler. 3) Philosophica illl.vv. Branis[!], Nees v. Esenbeck, Kahlert, Thilo. 4) Physicam et rerum naturalium historiam illl.vv. Pohl, Nees v. Esenbeck. v. Boguslawski. 5) Philologica illl. Elvenich et Rohowski. 6) Historica vv.illl. Roepell, Guhrauer.“ Anmeldebogen Hirsch Graetz. UA Jena, Bestand M 307, fol. 66. – Die Aufstellung der testierten Veranstaltungen nennt noch Peuker, bei dem er im Sommersemester 1844 Dantes Inferno „rühmlichst fleißig“ studiert hat. Ebd., fol. 67v.

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von zeitgenössischer Philosophie über Literaturgeschichte des Mittelalters bis hin zur Psalmenexegese. Daneben studierte er Cicero, den Koran, und Dantes Inferno ebenso wie elektromagnetische Erscheinungen oder Licht und Wärme.265 Auffällig ist im Studienplan des später so bedeutenden Historikers, dass er sich in seinen Studienjahren kaum mit Geschichtswissenschaft beschäftigte. Abgesehen von einer kurzzeitigen Teilnahme an Stenzels Kolleg zur Französischen Revolution, hörte er lediglich in seinem ersten Semester den Extraordinarius Roepell zur Geschichte der Neuesten Zeit sowie später zwei Mal den Literaturhistoriker Gottschalk Eduard Guhrauer (1809–1854).266 Das bedeutet freilich nicht, dass er mit den methodischen wie auch geschichtsphilosophischen Positionen der historistischen Geschichtskultur des mittleren 19. Jahrhunderts nur flüchtig in Berührung gekommen wäre; diese hatte als eine breite wissenschaftliche wie weltanschauliche Strömung nicht bloß die Geschichtswissenschaft, sondern auch benachbarte Disziplinen durchdrungen, nicht zuletzt die Philologien und die Philosophie. Hier lagen nun auch Graetzens Studienschwerpunkte. Dies unterstreichen seine eigenen Angaben, die in beiden erhaltenen Lebensläufen die Studien bei dem Philosophen Braniß dankbar herausheben sowie diejenigen bei Bernstein. Gerade dieser bedeutende (und wohlgemerkt christliche) Orientalist machte sich in besonderem Maße um seine jüdischen Studenten verdient und pflegte – vermutlich nicht nur, aber auch – mit Graetz einen engen persönlichen Umgang.267 Im Verkehr mit dem Gelehrten war weder eine „polnische“ Herkunft noch die jüdische Religion ein Hindernis; allerdings war Bernstein damit eine große Ausnahme. Angesichts der beständigen Schwierigkeiten auch im persönlichen Umgang ist es nicht weiter verwunderlich, dass Graetzens Breslauer Freundeskreis im Wesentlichen aus Menschen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund 265 Seine Studienleistungen wurden dabei stets als „rühmlichst fleißig“, „ausgezeichnet fleißig“ oder ähnlich bewertet, lediglich einmal reichte es nur zu einem „fleißig“. Der Ausreißer war im Wintersemester 1842/43 ein Kurs über Logik bei Thilo. Anmeldebogen [der Universität zu Breslau] Hirsch Graetz. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. – Es sei angemerkt, dass Graetzens Wahl der Collegia (einschließlich der naturwissenschaftlichen) und ihre Anzahl durchaus dem üblichen studentischen Curriculum seiner jüdischen Altersgenossen entsprach, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts an einer philosophischen Fakultät studierten und später Rabbiner wurden; vgl. Wilke, „Talmud“, 574–578. 266 Vgl. oben, die Anm. 43 und 49. Bei Guhrauer hörte er im Sommersemester 1843 „Allgemeine Literaturgeschichte vom 15ten Jahrhundert an“ (testiert als „vorzüglich fleißig“) und im Wintersemester 1843/44 „Literaturgeschichte des Mittelalters“ („vorzüglich fleißig“). UA Jena, Bestand M 307, fol. 67. 267 Vgl. Lebenslauf UA Jena, Bestand M 307, fol. 66v, und Graetz, Aufzeichnungen, 24. – Zu Bernsteins Engagement für seine jüdischen Studierenden, der sich nicht zuletzt in seinem Bemühen um die Aufhebung der diskriminierenden Promotionsordnung auswirkte, vgl. Orient 6 (1845), 387, sowie Wilke, „Talmud“, 614.

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bestand, also Juden aus dem Großherzogtum Posen. Denn neben seinen gemeindepolitischen Aktivitäten und den Studien hatte Graetz tatsächlich auch noch ein privates Leben, auch wenn dies in seinem Tagebuch nur sehr selten Niederschlag fand. Es war in Breslau nicht schwierig, solche Erfahrungsgenossen zu finden, da ja Preußens zweitgrößte Stadt einer der Hauptanziehungspunkte der innerpreußischen Migration war, und unter den Posenern, die ihr Glück in der schlesischen Kapitale zu machen suchten, fanden sich nicht wenige Juden.268 Zu ihnen zählten auch die beiden Kinder von Graetzens Wollsteiner Mentor, dem 1834 verstorbenen Bibliothekar Dow Baer Kronthal, Doris (1820–1916) und Louis. Auf Grund des frühen Todes ihrer Eltern hatten beide eine unstete Kindheit gehabt, in der sie von einem Verwandten zum nächsten und dann wiederum zur nächsten Anstellung verschoben wurden. Beide waren jünger als Graetz. Wenngleich es sich ausweislich seines Tagebuches nie um eine so enge und auch für Graetz so anregende Beziehung gehandelt zu haben scheint, wie er sie früher mit Benzion Behrend gehabt hatte, so war es wohl doch ein liebevoller Umgang, den die drei miteinander pflegten, und auch über räumliche Entfernungen riss ihre Freundschaft nicht ab, sondern wurde durch Briefe oder (seltene) Besuche aufrechterhalten.269 Als Graetz nun Doris Kronthal wiedersah, war er regelrecht begeistert von ihr.270 Auch für ihren Bruder Louis empfand Graetz eine tiefe Zuneigung, war jedoch auch eher bereit, dessen Schwächen wahrzunehmen: „der gute herzliche Louis Kronthal, mit einem wachsernen Herz, guter u. böser Eindrücke fähig.“ Gegenüber Louis fühlte Graetz geradezu väterlich und genoss diese Rolle offenkundig: „Es ist eine göttliche Lust, ein Wesen zu haben, das mit Vertrauen auf einen sieht.“271 Als Louis dann eine Stellung im Breslauer Bankhaus Neustetter antrat, teilten sich beide Männer kurzzeitig eine Unterkunft.272 Sie halfen sich gegenseitig bei den spezifischen Problemen wie den für Posener Juden befristeten Aufenthaltsgenehmigungen in Breslau, gingen gemeinsam in Theater und Konzert, und Graetz mühte sich 268 Vgl. Kemlein, Posener Juden, 85 und 139. – Als prominentester Vertreter dieser Westwanderung Posener Juden sei der spätere liberale Politiker Eduard Lasker aus Jarotschin genannt. Vgl. Laufs, Eduard Lasker, 16. 269 So besuchte Graetz 1836 Doris bei ihrem Onkel Kalischer in Jarotschin, wie sie sich noch in ihren Memoiren erinnerte; vgl. Doris Zadek, Tagebuch (LBI JMB MM 84), 8, sowie Graetz, TB, 32. 270 Vgl. Tagebucheintrag vom [12.7.1842]; ebd., 120 f, Zitat 121. – Hierzu vgl. auch unten, Kap. II 2.2. 271 Tagebucheintrag vom [27.7.1842]; Graetz, TB, 121 f, Zitat 122. 272 Vgl. Doris Zadek, Tagebuch (LMI JMB MM 84), 17. – Solche Wohngemeinschaften waren sehr verbreitet und den geringen finanziellen Mitteln geschuldet. Graetz selbst wechselte in dieser Zeit des Öfteren sein Logis. 1843/44 wohnte er beispielsweise mit dem befreundeten Verleger und Buchhändler Salomon Calvary in einer Unterkunft zusammen, die Graetz einmal als „das Sorgenloch“ bezeichnete; vgl. Graetz, TB, 127 und 131 (Zitat).

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sogar redlich ab, „Dorchen“ Französisch beizubringen – doch vergeblich. Doris, die bis ins hohe Alter nicht richtig Deutsch zu schreiben gelernt hatte, vermochte sich die französische Sprache noch viel weniger anzueignen.273 Als Graetz sich allerdings über die Natur ihrer Gefühle zu ihm nicht mehr sicher sein konnte, scheint er sich zurückgezogen zu haben274 – er wollte die Idealität ihrer Beziehung nicht durch Profaneres beflecken, wie es scheint. Zu diesem Kreis gehörte überdies Wolfgang Straßmann (1821–1885), der Sohn eines Kaufmanns aus Rawitsch.275 Straßmann war „ein Ausbund von Witz und Humor“ und zugleich einer der Studenten in Breslau mit dem übelsten Ruf. Seine Eskapaden brachten ihn schließlich so weit, dass er von der Universität relegiert wurde. Einzig Doris Kronthals Erinnerungen geben einen Hinweis auf diesen so ganz anderen Verkehr von Graetz, der jenen Hallodri, aus dem später einmal der Stadtverordnetenvorsteher der Reichshauptstadt Berlin werden sollte, „ungemein lieb“ gehabt habe und regelrecht in ihn „vernart“ gewesen sei.276 Graetzens Tagebuch schweigt sich über Straßmann (wie vermutlich über viele andere) völlig aus, zu wenig hatte dieser und hatte die Rolle als Student mit ihren üblichen Verlustierungen, Aktivitäten, Sorgen und Hoffnungen mit derjenigen Rolle zu tun, die Graetz vorzugsweise in seinem Tagebuch festhielt: derjenigen als Jude. Diese Gewichtung mochte allerdings auch damit zusammenhängen, dass ihm seit dem Bruch bzw. dem Auseinanderleben mit Benzion Behrend ein Freund fehlte, mit dem er seine Ideen und Überlegungen zum Wesen des Judentums so ausführlich diskutieren konnte wie mit dem Jeschivah-Kameraden. Für die profanen Fragen von Alltag, Studium und studentischem Leben gab es offenkundig Gefährten (wie eben Straßmann oder auch Doris Kronthal) – der Student Graetz brauchte anscheinend ein solches „papirne[s] Ich“277 weit weniger als der Jude Graetz. Während Graetzens fünften Semesters ergaben sich konkretere Aussichten für eine berufliche Zukunft: Wohl infolge seiner publizistischen Aktivitäten im Streit mit Geiger und wahrscheinlich auf Grund seines Nimbus’ als 273 Vgl. Doris Zadek, Tagebuch (LBI JMB MM 84), 9 und 17 f. 274 Vgl. Graetz, TB, 122 und 129. – Doris’ Sohn Ignatz Zadek (1858–1931) hielt in seinen Jugenderinnerungen die beiden für ein Liebespaar, auch wenn er wohl lediglich die Perspektive seiner Mutter kannte, die womöglich nicht frei von Eitelkeit ob ihres prominenten Jugendfreundes gewesen sein mag. Aufschluss hätte hierüber wohl der Briefwechsel zwischen Graetz und Doris Kronthal geben können, der nach Zadek noch 1931 zumindest teilweise im Besitz von Graetzens einziger Tochter Flora Cohn gewesen ist. Vgl. LBI JMB MM 84, Ignatz Zadek, Aufzeichnungen, 2. Mittlerweile scheint dieser jedoch tatsächlich verloren zu sein. 275 Zu ihm vgl. Stürzbecher, Arztfamilie Straßmann, 58 f, sowie Strassmann, Die Strassmanns, 47–66. 276 Doris Zadek, Tagebuch (LBI JBM MM 84), 45 und 18. 277 Graetz, TB, 130.

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Hirsch-Schüler soll er im oberschlesischen Gleiwitz für die Rabbiner-Nachfolge gehandelt worden sein. Allein das Gerücht wies bereits auf gewisse Ansprüche an den Kandidaten hin: Im Gespräch solle nämlich „der Dr. Grätz“ gewesen sein – „so gewöhnt sich die Silbe Dr. doch immer mehr an meinen Namen“278, kokettierte der Student noch vor dem Abschluss seines Trienniums. Dahinter verbarg sich eine Entwicklung, die im Judentum parallel zu der Schwerpunktverlagerung in der allgemeinen preußischen Bildungspolitik verlief: Symbolische Kapitalien gewannen immer stärker an Bedeutung, die Promotion wurde mehr und mehr ein Muss für jeden, der sich um einen rabbinischen Posten bewerben wollte. Angesichts des Fehlens anerkannter Kriterien sahen, so beschrieb Graetz selbst die Stituation, diejenigen „Gemeinden, welche wissenschaftliche Tüchtigkeit mit Recht von ihren Seelsorgern verlangt[en], […] in dem Doktortitel theilweise eine Garantie für die wissenschaftliche Würdigkeit eines Kandidaten“. Die Rabbinatskandidaten selbst wiederum benötigten gegenüber dem Staat wie gegenüber den Gemeinden „eine gewisse Autorität“, für die der Nimbus eines Doktortitels notwendig sei.279 Dessen Erwerb standen allerdings einige Schwierigkeiten entgegen: Die Breslauer Philosophische Fakultät ließ, wie erwähnt, lediglich Christen zur Promotion zu. Doch erscheint es fraglich, ob tatsächlich diese Diskriminierung der entscheidende Grund für Graetzens Gang ins Ausland, an die sachsen-weimaranische Universität in Jena war.280 Denn Graetz war „[s]ein Jena“ ausgesprochen peinlich.281 Wäre er dazu lediglich auf Grund der antijüdischen Bestimmungen in Breslau gezwungen gewesen und hätte er also denselben Schritt wie manche andere Juden vor und nach ihm getan, hätte ihm solcher Promotionstourismus kaum zum Schaden gereichen können. Zumal das Phänomen im 19. Jahrhundert durchaus üblich war angesichts der unterschiedlichen Bestimmungen und nicht zuletzt angesichts der Kos278 Tagebucheintrag vom [30.12.1844]; ebd., 138. Dieser (nur gerüchteweise verbreitete) Anspruch ist umso bemerkenswerter, als er sich vor der ersten offiziellen Anforderung eines Doktorats für einen Rabbiner in einer Stellenausschreibung manifestiert; erstmals im Herbst 1846 verlangte nämlich eine Gemeinde (Oppeln) ausdrücklich diesen Titel von einer preußischen Universität, was einige kontroverse Stellungnahmen hervorrief. Vgl. AZJ 10 (1846), 591, sowie Wilke, „Talmud“, 613. – Den besonderen Glanz des symbolischen Kapitals eines solchen Titels, unabhängig von seinem tatsächlichen Nutzen in praktischer oder kultureller Hinsicht, untermauern auch die Beispiele ebd., 612 f. 279 Anschreiben von Graetz an die Philosophische Fakultät der Universität Jena vom 22.2.1845. UA Jena, Bestand M 307, fol. 63r. 280 So stellte Graetz selbst diesen Gang in seinem Bewerbungslebenslauf dar; vgl. Aufzeichnungen, 24. Während Graetzens Schüler diesen Punkt zumeist gänzlich übergangen haben, folgt Michael dieser Linie; vgl. Michael, Graetz, 35. 281 So mit einer überaus sprechenden Anspielung auf die vernichtende Niederlage Preußens (1806) im 4. Koalitionskrieg gegen Napoleon; Graetz, TB, 152. Er reagierte hier auf einen ätzenden Artikel in der AZJ 9 (1845), 532.

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ten eines Promotionsverfahrens. Tatsächlich aber blieben die meisten jüdischen Promovenden zumindest in Preußen und gingen nach Halle.282 Die Voraussetzung hierfür war freilich, dass der Kandidat über ein Reifezeugnis verfügte, womit Graetzens „akademische Illegitimität“ (also der Umstand, dass er ohne ein solches Zeugnis, nur mit ministerieller Ausnahmegenehmigung studierte), neuerlich eine zentrale Rolle spielte. Mit seinem Bildungsgang war ihm ein preußisches Doktordiplom verwehrt283 – und damit sanken seine Chancen auf eine angemessene Anstellung zusehends. Es war der mit ihm befreundete David Cassel (1818–1893), der Graetz auf die rettende Idee brachte: Die Promotion sollte in Jena stattfinden. Allerdings hatte diese Möglichkeit einen Haken, der den Wert des angestrebten Titels empfindlich minderte, wie auch Graetz nur zu gut wusste: Jena, über das „ich so gespottet habe, soll mir zu meiner Ehre und mittelbar zu meiner Existenz verhelfen!“284 Der Hintergrund für sein Schamgefühl war der Umstand, dass die Universität Jena in dem Ruf stand, bei der Verleihung ihrer Doktorhüte äußerst großzügig zu verfahren. Es genügte, eine Schrift (selbst Wissenschaftlichkeit war hierbei nicht immer zwingende Anforderung) einzusenden sowie eine Gebühr zu entrichten, um den begehrten Titel in absentia zu erhalten.285 Insofern war ein Jenaer Doktorhut nur wenig geeignet, Graetzens Mangel an symbolischem Kapital auszugleichen; doch hatte er kaum eine andere Wahl und konnte sich nur um ein möglichst unauffälliges Verfahren bemühen.286 Nicht einmal drei Monate, nachdem Cassel ihn auf den Gedanken gebracht hatte, reichte er die nötigen Unterlagen in Jena ein: die mit Hilfe zweier Freunde ins Lateinische übersetzte, 25 Seiten umfassende Schrift unter dem Titel De auctoritate et vi, quam gnosis in Judaismum habuerit zusammen mit Lebenslauf und Belegbogen sowie der mühsam zusammengesammelten Gebühr von 66 Thalern. Nach gerade einmal zwei Wochen, am 5. März 1845, wurde ihm die Urkunde seiner Promotion ausgestellt287. Als endlich das begehrte Schreiben bei ihm in Krotoschin ein282 Zum Hintergrund vgl. Wilke, „Talmud“, 614 ff. 283 Vgl. Richarz, Eintritt, 144 und 149. – Über die Illegitimität klagte er selbst, nachdem er deswegen in den Breslauer Polemiken denunziert worden war. Graetz, TB, 137. 284 Tagebucheintrag vom [17.11.1844]. Graetz, TB, 137 f, Zitat 138. – Erstmals hier erwähnte Graetz den angestrebten Abschluss (und die administrativen Hürden, ihn zu erlangen). 285 In Halle wurde beispielsweise zusätzlich noch ein Examen in drei Fächern verlangt. Vgl. Wilke, „Talmud“, 615. – Allgemein zu Juden an der Jenaer Universität vgl. den Überblick von Kirsche, Geschichte, hier bes. 114 f. Danach war der Hintergrund für die großzügige Vergabepraxis, dass die Bezahlung der Jenaer Professoren zu den schlechtesten in Deutschland gehörte, so dass sie in besonderem Maße auf die Prüfungsgebühren angewiesen waren. 286 Vgl. etwa Graetz, TB, 141. 287 Das Anschreiben ist auf den 22.2.1845 datiert, das Tagebuch hingegen nennt den 25.2. Der Dekan, der Mineraloge Karl Friedrich Bachmann, empfahl die Promotion auf Grund von Graetzens Anschreiben am 3.3., die Urkunde ist auf den 5.3.1845 ausgestellt. Die Kommission setzte sich aus dem Philologen Heinrich Karl Abraham Eichstädt, dem Historiker Heinrich

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traf, war ungeachtet des bemüht heiteren Tons seine Erleichterung mit Händen zu greifen: Du armes schlechtes Büchlein, du mein Herz mit Papierfasern und Dintenblut, du hast dir wohl nicht träumen lassen, als du dem schlemilhaften Bochur willig deinen Nacken hinhieltest, daß ein Doktor einmal aus diesem metamorphosiert werden wird.288

In der Tat hatte er in relativ kurzer Zeit einiges geleistet, um die ihm zugeschriebene und so plötzlich spürbar gewordene Identität eines ungebildeten und rückständigen polnischen bachurs abzustreifen zu Gunsten derjenigen eines deutschen Doktors der Philosophie.

Luden, den Klassischen Philologen Ferdinand Gotthelf Hand und Karl Wilhelm Göttling, dem Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner, dem Philosophen Christian Ernst Gottlieb Reinold, dem Agronomen Friedrich Gottlieb Schultze und dem Physiker Karl Snell zusammen; ihr „assentior“ stützte sich ausschließlich auf die Feststellung von Graetzens Autorschaft des eingereichten Textes. Vgl. Graetz, TB, 140, sowie die Promotionsakte im UA Jena, Bestand M 307, fol. 61–65. 288 Tagebucheintrag vom [20.3.1845]; Graetz, TB, 140 f. – Graetzens Adressenangabe in seinem Jenaer Anschreiben zeigt, dass Michaels Angabe über seinen Aufenthaltsort nach Abschluss der Dissertation (ebd., Anm. 112) falsch ist: der junge Doktor weilte nicht in Jena, sondern bei Monaschs in Krotoschin. UA Jena, Bestand M 307, fol. 63v.

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2 Festlegungsversuche 2.1 Ansätze zu einem eigenen Identitäts-Modell: Gnosticismus und Judenthum Die jüdische Wissenschaft hatte im 19. Jahrhundert in den Augen der christlichen Forscherzunft keinen sonderlichen Stellenwert. Die Umstände der Promotion von Graetz in Jena und vor allem die Geschwindigkeit des Verfahrens hatte das mehr als deutlich gezeigt. Freilich handelte es sich dabei nicht um einen Einzelfall an der Universität eines deutschen Duodez-Fürstentums sondern vielmehr um eine generelle Einstellung der christlichen (oder zumindest christlich sozialisierten) Forscher gegenüber jüdischen Wissenschaftlern und ihren jüdischen Themen: Denn mit Beginn des Christentums schien nach christlichem Weltverständnis die historische Rolle des Judentums erfüllt; somit gab es keinen Grund, diesem größere Aufmerksamkeit zu widmen. Daran hatte sich auch im Zeitalter Hegels nichts geändert. Wenn sich nun aber Juden ihrerseits mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten über diese Haltung hinwegsetzten, dann konnte es sich im Grunde nur um eine Art religiösen Fundamentalismus’ und Partikularismus’ handeln, die per se dem universellen Anspruch von Wissenschaft diametral entgegenwirkten und darüber hinaus der von Seiten der christlichen Öffentlichkeit erwünschten vollständigen Assimilation des Judentums – also seinem restlosen Aufgehen in der christlichen Bevölkerung – entgegenstanden.1 Von jüdischer Seite aus gab es immer wieder Bemühungen, gegen diese christlich grundierten Vorurteile anzukämpfen und eine akademische Anerkennung jüdischer Wissenschaft durchzusetzen. Dabei galt es, eine solche Beschäftigung mit jüdischen Themen auf der Höhe der zeitgenössischen philologischen und historischen Methoden zu betreiben. Dies sollte zum einen die Anerkennung der christlichen Forscher erringen und zum anderen Kenntnisse über jüdische Geschichte, Kultur und Religion sichern, die aufgrund der zeitgenössischen Lebenssituation von zunehmender Verbürgerlichung und Säkularisierung in Vergessenheit zu geraten drohten. Eine Gruppe junger Juden um Leopold Zunz (1794–1886) hatte sich 1819 in Berlin zu diesem Zweck in dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden zusammengeschlossen.2 1 Am deutlichsten wurde diese Haltung angesichts des Bemühens jüdischer Gelehrter wie Leopold Zunz, ihr Forschungsfeld an einer deutschen Universität zu etablieren. Zu Zunz’ entsprechendem Antrag beim preußischen Ministerium für Erziehung von 1848 vgl. die Dokumentation von Ludwig Geiger, Zunz, 334 ff, sowie Liebeschütz, Judentum, 64 ff; Jospe, Study of Judaism; und – mit einem weiteren Fokus – Brenner, Jüdische Geschichte an deutschen Universitäten. 2 Zum „Verein“ und zur Wissenschaft des Judenthums vgl. Schorsch, Breakthrough; Meyer, Von Mendelssohn, 166–211 mit 244–250; Pelger, Wahrnehmung, sowie den konzisen Überblick bei Wiese, Wissenschaft des Judentums, 59–65.

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Zwar war der Verein recht kurzlebig, und sein Scheitern wurde offenbar, als sich mit Eduard Gans (1796–1839) und Heinrich Heine (1797–1856) zwei der wichtigsten Mitglieder 1825 taufen ließen. Doch hinterließ er einige wichtige Forschungserträge und Grundsatzüberlegungen, aber vor allem den programmatischen Namen für eine ganze Disziplin – die „Wissenschaft des Judentums“. Von Anbeginn an verfolgte diese Forschungsrichtung eine doppelte Absicht: eine emanzipatorisch-apologetische, die auf die Akzeptanz jüdischer Wissenschaft und damit des Judentums ganz allgemein durch die Christen zielte, wie auch eine innerjüdisch-identitätspolitische, die auf moderner wissenschaftlicher Grundlage eine positiv gewertete jüdische Identität schaffen sollte.3 Graetz war erst zwei Jahre vor der Gründung des „Vereins“ geboren worden und besuchte noch den traditionellen Cheder, als sich der Kulturverein wieder auflöste. Wenngleich also der junge Nachwuchswissenschaftler aus Posen um mehr als eine Generation jünger war als die Gründerväter der Wissenschaft des Judentums, so kann man ihn doch nicht gänzlich unabhängig von jenen betrachten. Denn als Graetz 1844 mit seiner Dissertation ein erstes größeres wissenschaftliche Werk vorlegte, hatten sich die historischen Rahmenbedingungen kaum geändert. Schon allein, dass er als Jude grundsätzlich nicht an seiner Heimat-Fakultät in Breslau hatte promoviert werden dürfen, macht dies deutlich, auch wenn dies für den Studenten extra ordinem mehr ein bloßes Ärgernis als eine diskriminierende Maßnahme bedeutet hatte. Angesichts dieser ähnlichen Ausgangslage sind die Unterschiede zu jenen Gründervätern der Wissenschaft des Judentums umso auffälliger, insbesondere, dass Graetz frei von apologetischen Intentionen argumentierte. Dadurch erscheint auch sein methodischer Ansatz – die Verwendung der historisch-kritischen Methode – als grundsätzlich anders motiviert als noch bei Zunz: Jener hatte damit in einem apologetischen Sinne Respekt erheischen wollen; für den jungen Universitätsabsolventen war eine solche Methodik selbstverständlich und bedurfte keiner weiteren Begründung. Seine Aufmerksamkeit lag vielmehr auf inhaltlichen Fragen. So handelt es sich bei der 1845 veröffentlichten Dissertation um ein Werk, das das Bemühen zeigte, sein bisheriges „Streben für das Judenthum“ in neue Gleise zu lenken. Anfangs waren seine Reflexionen über das Wesen des Judentums und über die jüdische Identität des einzelnen vorzugsweise im intimen Rahmen seines Tagebuchs bzw. in eifrigen, wenn auch für den Historiker nicht mehr rekonstruierbaren Diskussionen erfolgt; dann war er in Breslau erstmals von einem breiteren Publikum wahrgenommen worden, als er begonnen hatte, seine spitze Feder publizistisch einzusetzen und gegen ihm missliebige Entwicklungen der jüdischen Reform-Debatten zu agitieren und sie zu bekämp3 Vgl. zu dieser Zielsetzung Meyer, Jüdische Wissenschaft und jüdische Identität.

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fen. Mit der Beendigung seines Studium und der Veröffentlichung seiner Dissertation aber begann er, sein „Streben für das Judenthum“ mit wissenschaftlichen Texten umzusetzen – und auf diese Weise identitätsbildend zu wirken. Diese zunächst noch eher tastenden Versuche der Verbindung von wissenschaftlicher Erkenntnis mit identitätspolitischen Zielsetzungen sollen im Mittelpunkt der folgenden Kapitel stehen. Die von dem jungen Absolventen aus Breslau in Jena eingereichte Dissertation De auctoritate et vi, quam gnosis in Judaismum habuerit konnte durchaus den Anspruch erheben, nicht bloß für ihn persönlich ein wichtiges Werk zu sein, sondern auch der Wissenschaft allgemein ein neues Kapitel zu eröffnen.4 Auf breiter Basis von Quellen, sowohl mischnischer und talmudischer ebenso wie gnostischer Provenienz, machte sich Graetz hier an den Nachweis der Wirkung gnostischer Strömungen im Judentum des 2. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung. Dabei schreckte er auch vor mitunter gewagten Konjekturen nicht zurück. Insbesondere die gnostischen Einflüsse auf das Judentum zeigte er – nicht ohne gewisse allegorische Züge – anhand der Paradiesesreise von vier bedeutenden rabbinischen Gelehrten dieser Zeit, wie sie von der Traditionsliteratur geschildert worden war: Von jenen Vieren sei als einziger R. Akiba unbeschadet aus diesem „Paradies“ zurückgekehrt, Ben Soma und Ben Azzai seien auf jeweils unterschiedliche Art zu Schaden gekommen, während der vierte, Acher, sogar verheerende Folgen für andere gezeitigt habe.5 Graetz deutete als erster das „Paradies“ als Sinnbild gnostischer Weisheit. Somit konnte er diese Erzählung nicht nur historisch neu einordnen und interpretieren, sondern ließ sie auch zu einem Text von eminenter Aktualität werden: als rabbinisches Lehrstück über die Folgen der Beschäftigung mit außerjüdischem Gedankengut. Drei der vier Gelehrten waren in seiner Lesart jüdische Gnostiker, die auf je unterschiedliche Arten an ihrem individuellen „Abweichlertum“ zugrunde gingen, wobei Acher sogar als Informant der römischen Oberherren diente und so zum Verräter des Judentums wurde; der vierte, R. Akiba, habe sich zum Anti-Gnostiker gewandelt und sei dadurch jeder Schädigung entgangen.6 Mit genialischem Scharfsinn und großer Kenntnis der damals bekannten 4 Graetzens Dissertation eröffnete mit der Gnosisforschung ein eigenes Forschungsgebiet; darüber hinaus bestimmte sie für lange Zeit auch die Fragestellungen. Einführend hierzu Leicht s. v. Gnosis/Gnostizismus. IV. Judentum (RGG4). 5 „Vier [Weise] sind ins Paradies eingegangen, nämlich ben Azzai, ben Soma, Achar und R. Akiba. Ben Azzai schaute und starb, ben Soma wurde Geisteswirre, Achar verwüstete die Pflanzungen und R. Akiba entkam glücklich“. So Graetzens Übersetzung der Erzählung aus bChag 14b, die sich auch (mit Abwandlungen) jChag II77b und in tChag II3 findet; im Text zitiert Graetz eine Mechiltah-Stelle anstelle der Toseftah, doch ist das ein Schreibfehler; vgl. Auctoritate, [12], und ders., Gnosticismus, S. 57. – Zum Hintergrund der Aggadah vgl. Maier, Geschichte, 163 f, und Scholem, Jüdische Mystik, 56 f mit Anmerkungen. 6 Vgl. Graetz, Auctoritate, [12–17].

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gnostischen bzw. der sie übermittelnden patristischen Schriften bemühte er sich im letzten Teil seiner Arbeit schließlich zu belegen, dass mit dem Sefär Jetzirah („Buch der Schöpfung“) das wohl früheste Dokument spekulativer Theologie im Judentum aus eben dieser tannaitischen Epoche stamme und in erster Linie eine anti-gnostische Stoßrichtung besitze, ja, er stellte sogar die Hypothese auf, dass es eben R. Akiba gewesen sei, der das Werk verfasst haben könnte.7 Allerdings musste er selbst einräumen, dass zumindest hier seine Beweisführung nicht wasserdicht sei.8 Ursprünglich, wohl noch bei Hirsch, war es die schillernde Figur des „Erzapostaten“ Acher gewesen, die Graetz fasziniert hatte.9 Doch wuchs im Laufe der Arbeit sein Interessenhorizont, und überzeugt von der Qualität seiner Arbeit10 brachte er sie (nun wieder auf Deutsch) im Winter 1845/46 in einer überarbeiteten und erheblich erweiterten Fassung unter dem Titel Gnosticismus und Judenthum heraus.11 In seinem für die Druckfassung verfassten Vorwort hob er sogleich mit einem fulminanten Plädoyer für die wissenschaftliche Untersuchung des Judenthums an – dessen wahres Wesen müsse endlich wieder aufgedeckt werden: „Wenn nirgends, so ist im Judenthume eine wissenschaftliche Verständnismachung und Läuterung seines Inhalts ein unabweisliches Bedürfnis“. Den Grund hierfür sah er in den Folgen von „Ungunst und Unbill des Mittelalters“, die „den geistigen Kern des Judenthums […] mit einer rauhen, abstoßenden Schale umgeben und unkenntlich gemacht“ hatten. Das Ziel könne also nur die Reinigung hiervon 7 Vgl. ebd., [4 und 18–25], sowie ders., Gnosticismus, 8 und 102–131. Die seinerzeit vorherrschende Sicht hatte Zunz aufgestellt, der das Werk in die gaonäische Epoche datierte. Allerdings distanzierte sich Graetz später selbst von seiner dezidierten Frühdatierung und musste seine Ratlosigkeit eingestehen in Bezug auf den genauen Entstehungsort und die Herkunft des Werkes. Vgl. Graetz, Geschichte V (1860), 315 f, Anm. 3. Dies stellt mehr oder minder auch immer noch den Stand der Forschung dar. Zur Einordnung vgl. Brann, Heinrich Graetz, 11 f; Maier, Kabbalah, 38–43; Séd, Sefer Yesîrâ, 514. 8 „quamquam conscius sum, me huic toti quaestioni non abunde satisfecisse.“ Graetz, Auctoritate, [25]. 9 „In einer regnerischen Nacht“, so erinnerte er sich rückblickend auf die Zeit bei Hirsch, „spatzirte ich in den dunklen Straßen Oldenburgs herum, u. unweit des Pastors Haus fiel mir der Gedanke ein, dass ich Achers Apostasie beschreiben u. sie mit einer Parallele in Beziehung zu setzen. Es war mir allerdings durchaus unklar, wie u. was ich daraus machen soll, es war eine Ahnung, u. jetzt habe ich dergleichen geschrieben, der Acher hat mich auf die Idee gebracht, die Monographie zu schreiben, welche mir bereits das Doktorat erworben u. mir noch mehr literarischen Ruhm bringen wird.“ Tagebucheintrag vom [4.7.1845]; Graetz, TB, 149. – Acher, eigentlich Elischah ben Abuja (frühes 2. Jh.), war als eine Art Erzketzer im rabbinischen Schrifttum mit einer damnatio memoriae belegt und wurde nurmehr als Acher, d. h. „der Andere“ bezeichnet. 10 Vgl. Graetz, TB, 150. 11 Zwar nennt das Deckblatt 1846 als Erscheinungsjahr, doch findet sich der erste Hinweis, der das Werk als „erschienen“ bezeichnet, im Literaturblatt des Orients 6 (1845) in Heft 45 vom 5.11.1845, Sp. 719, Anzeige 123. Das Vorwort datiert auf „Oktober 1845“; Graetz, Gnosticismus, VII.

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sein, sowie „den Inhalt des Judenthums nach allen Seiten hin zu scientificiren“, insbesondere in Bezug auf den „dogmatische[n] Theil des Judenthums, seine innerlich-geschichtliche Explikation“. In eben dieser „modalen Entfaltung des jüdischen Lehrbegriffs, in den dogmatischen Bewegungen“ sah er das entscheidende Kriterium „für den Antheil, den das Judenthum an der weltgeschichtlichen Arbeit hat.“12 Kurz: Graetz erstrebte eine Geschichte des Judentums als Idee, und diese Suche nach dem innersten Wesen des Judenthum als Religion war ihm zugleich ein Kapitel Universalgeschichte.13 Als Mittel diente ihm hierzu die Analyse des jüdischen Schrifttums. Die für ihn zentralen Aspekte werden gerade in Gnosticismus und Judenthum deutlich auf Grund der veränderten Akzentuierungen, die der veröffentlichte Text erfahren hatte. Wenngleich die Druckfassung in ihrer Grundanlage durchaus dem Dissertations-Manuskript entsprach und Graetz es in dem Kapitel über die jüdischen Gnostiker und Antignostiker bei jener talmudischen Paradiesesreise der vier Weisen als Ausgangspunkt beließ, so verschob er den Fokus seiner Arbeit von dem einfachen Nachweis gnostischer Einflüsse auf das Judentum hin zu einer Untersuchung des gegenseitigen Verhältnisses. Die beiden unterschiedlichen Titel legen bereits deutliches Zeugnis von dieser Akzentverschiebung ab. Das Dissertations-Manuskript hatte konzise eine These vertreten und die herangezogenen Quellen unter der speziellen Frage, welchen Einfluss die Gnosis auf das Judentum gehabt habe, untersucht. Viele seiner Ideen konnte er angesichts der Kürze des Textes sowie des spezifischen Zwecks allenfalls anreißen. Nun aber hatte er Raum, ausführlich sein Thema zu behandeln und nutzte die Gelegenheit, seine These vor einem weiten Horizont abzuhandeln. Geprägt von Hegels Ideenlehre und ausgehend von Vorstellungen, die an Herders Kugelmodell von Kulturen erinnern, diskutierte er Möglichkeiten und Auswirkungen der Durchmischung von Ideen und Doktrinen im Palästina des 2. Jahrhunderts. Neben dem bereits in der Dissertation angesprochenen Verhältnis von jüdischen und gnostischen Lehren kam nun noch ausführlich das frühe Christentum hinzu, dessen Vertreter er – und damit 12 Alle Zitate Graetz, Gnosticismus, Vf. 13 So auch in der Einleitung: „Die Geschichte der Philosophie weist speziell nach, welche Elemente der neugeborenen Ideen dem Weltzustand, den bereits errungenen und zu Resultaten fixierten Intelligenzen der Völker angehört, und welcher Theil die Individualität mit ihren partikularen Zügen hat. Aber immer wird ein Rest zurückbleiben, der nicht in Rechnung gebracht werden kann; immer werden einige Partikularitäten der neuen Doktrin, des metaphysischen Systems, welche aber im strengen unablöslichen Zusammenhange mit dem neuen Systeme stehen, weder historisch noch biographisch erklärbar sein. Und gerade diese launenhaften Sonderbarkeiten metaphysischer Gestaltungen haben für den unbefangenen Forscher, welcher in keinem metaphysischen System die volle Wahrheit erblickt, sondern in jedem nur einen Theil der Wahrheit, die sich erst in dem Kreisgang der auf- und untergehenden Systeme erfasst und völlig ausgeprägt, diese haben für ihn einen besonderen Reiz. Eine solche metaphysische Abnormität bietet der Gnosticismus der Betrachtung dar.“ Graetz, Gnosticismus, 2.

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durchaus wegweisend – als in steter Auseinandersetzung mit den beiden anderen zeitgenössischen Gruppen sah. Folgerichtig hielt er die Grenzen zwischen diesen drei Gruppen für fließend, die Zuordnungen nicht immer für so eindeutig, wie sie zu sein schienen: Das Wort mîn etwa, das zu seiner Zeit nahezu ausschließlich als polemische Bezeichnung der Rabbinen für die Judenchristen angesehen wurde, sei seiner Meinung nach zu der von ihm behandelten Zeit vielmehr allgemein auf Häretiker, also: auf Gnostiker angewandt worden.14 Mehr noch als diesen ersten Teil seiner Argumentation erweiterte Graetz den zweiten, der sich mit „jüdischen Gnostikern und Antignostikern“ beschäftigte. Nicht allein die provokante und bis heute umstrittene These von der Existenz einer jüdischen Gnosis macht dieses Kapitel außerordentlich bemerkenswert. Vor allem versuchte er sich hier einleitend an einer Definition von jüdischer Identität, deren ganzer Ansatz neuartig war. Denn anders als die Halachah bestimmt, war es seiner Meinung nach nicht bloß die Konversion oder die Abstammung (über eine jüdische Mutter), die jemanden zum Juden machte – entsprechend verstand er unter „jüdischen Gnostikern“ nicht einfach Gnostiker von jüdischer Abkunft, die weiter nichts von Judenthum als die Zufälligkeit der Geburt hatten, wie etwa Cerinth und Valentinus und noch andere, die dem Judenthume entstammt sein sollten.

Ebensowenig reichte es für ihn aus, lediglich die (schriftliche) Torah und ihre Lehren zu bekennen, und dadurch in letzter Konsequenz das Judentum auf eine deistische Konfession zu reduzieren.15 Entsprechend wollte er auch solche Gnostiker nicht berücksichtigt wissen, die lediglich „die alttestamentlichen Voraussetzungen mit in ihr gnostisches System verarbeitet und verwebt haben, wie die unbekannten Verfasser der [Pseudo-]Clementinen und andere“. Für Graetz waren vielmehr jene Gnostiker „jüdisch“, „deren Denkweise […] ganz in dem historischen Judenthum ihrer Zeit gewurzelt, und von jüdischen Ideen durchzogen waren“.16

14 Vgl. Graetz, Gnosticismus, 21–28 sowie 16 f mit Anm. 11. – Zum Stand der Forschung in dieser heiklen Frage vgl. immer noch Schäfer, Synode von Jabne, 46–55. 15 Wahrscheinlich handelt es sich hierbei auch um eine indirekte Spitze gegen jene Anhänger der Reformbewegung im Judentum seiner Zeit, die die Bedeutung des Talmud sowie die ganze Vorstellung von einer am Sinai geoffenbarten mündlichen Torah (tôrah schä-be-al päh) ablehnten. 16 „Unter jüdischen Gnostikern verstehe ich hier weder Gnostiker von jüdischer Abkunft, die weiter nichts von Judenthum als die Zufälligkeit der Geburt hatten […] noch solche, welche die alttestamentlichen Voraussetzungen mit in ihr gnostisches System verarbeitet und verwebt haben […]; sondern solche Individualitäten, deren Denkweise zwar ganz in dem historischen Judenthum ihrer Zeit gewurzelt, und von jüdischen Ideen durchzogen waren, die aber nichts desto weniger die Fangarme ihres Geistes auch nach dem Denkstoff ihrer Zeit, der von gnostischen Vorstellungen angeschwellt war, gestreckt, wodurch allerdings in ihrem Ideenkreise eine mehr oder minder nachhaltige Revolution entstehen mußte.“ Graetz, Gnosticismus, 55.

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Damit blieb er zwar immer noch weit von einer exakten Definition entfernt, dennoch wird das Bemühen um einen stringenten Ansatz deutlich. Demnach bestand „jüdische Identität“ aus zwei Elementen: zunächst aus einer historisch bedingten Form, die mitten im historischen Judenthum der jeweiligen Zeit stand, vor allem aber aus einem unwandelbaren Kern, gleichsam einer Art Essenz des Judentums, die sich in jenen nicht näher bestimmten „jüdischen Ideen“ äußerte. Diese zweifache Bestimmung schloss also eine grundsätzliche historisch-genetische Wandlungsfähigkeit ein, während sie gleichzeitig von einer ewigen Wahrheit ausging. Eine solche Kombination war an sich im Zeitalter des Historismus weder wissenschaftlich noch theologisch innovativ, da wohl jeder Religions-Reformer, religiöse Denker und an solchen Fragen interessierte Wissenschaftler im mittleren 19. Jahrhundert auf genau diese Art und Weise argumentierte. Interessanter ist die Art der Kombination, die Gewichtung der einzelnen Elemente wie auch ihre jeweilige Bestimmung. Und hier bewies Graetz ein beträchtliches Maß an Individualität. Ungeachtet seiner Betonung des historischen Elements räumte Graetz hier der historischen Entwicklungsfähigkeit einen eher geringen und ausschließlich negativen Einfluss auf das Judentum des 2. Jahrhunderts ein: Dieser Einfluss entstamme im Wesentlichen jenen gnostischen Ideen, die in das Judentum der Zeit eingedrungen seien. Er sieht sie lediglich als einen Teil unter anderen in „der Masse fremder, eingedrungener Ideen“, die das talmudische Judentum enthalte – allein welche Ideen dies noch gewesen sein sollen, sagte er in diesem Werk nicht. Dass die gnostischen Ideen fremd waren, daran ließ er keinen Zweifel, auch wenn sie „in der jüdischen Welt in Fleisch und Blut übergegangen waren“, womit er meinte, dass sie einige namentlich genannte Vertreter im Judentum gefunden hatten.17 Ebensowenig ließ er einen Zweifel daran, dass diese Ideen fremd blieben und letztlich wieder ausgeschieden wurden. Nicht bloß auf Grund des Körper-bezogenen Sprachbildes erinnert diese Konzeption an Herdersche Ideen eines organischen Nationalcharakters, der mehr oder minder unwandelbar bleibe. Es steht zu vermuten, dass diese Ideen Graetzens Vorstellungen von einem Wesen des Judentums prägten, das sich in den zitierten „jüdischen Ideen“ manifestierte. Daher stellt sich verstärkt die Frage, worin diese „jüdischen Ideen“ denn nun bestanden haben mögen. In Gnosticismus und Judenthum gibt er vorderhand eine klare Antwort hierauf: das „Grundprincip des Judenthums“, so schreibt er explizit, sei der Monotheismus.18 Es bleibt nicht bei dieser ein17 Graetz, Gnosticismus, 54. – Wenngleich die Metapher eine ethnische Komponente nahelegt, so erscheint dies hier fraglich, da die Ideen stark an einzelne Persönlichkeiten als Träger gebunden zu sein scheinen. Allerdings wird sich die Frage auf Grund der wenigen Indizien im Text wohl kaum erschöpfend klären lassen. 18 Ebd., 51.

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maligen Feststellung. Insbesondere seine Schilderung von Rabbi Akibas legendärem Ende hebt diesen Aspekt heraus: Dieser im Bar Kochba-Krieg führende Rabbine sei, so berichtet der Talmud, nach dem Sieg der Römer von ihnen grausig zu Tode gemartert worden, habe aber bis zum letzten Atemzug seine Glaubensstärke behalten und sei gestorben, während er das Schma, also das fundamentale Bekenntnis zum Monotheismus, rezitierte. Graetz erwähnt dieses Martyrium zwei Mal, beide Male betonend, dass der ehrwürdige Altvordere mit seinem Tode „die höchste Wahrheit des Judenthums“ besiegelt habe.19 Die so hergestellte Assoziierung von R. Akiba mit der monotheistischen Idee als „Grunddogma des Judentums“ ist umso bedeutsamer, als Akiba der unbestrittene Held des Werkes mit seiner Schilderung des Ringens zwischen Gnostizismus und Judentum ist. Dies zeigt bereits der pompöse und zugleich raffinierte Beginn des ihm gewidmeten Teil-Kapitels unmissverständlich: Um würdig von diesem jüdischen Heros zu sprechen, seine äußern und innern Thaten zu beschreiben, die Tiefe seines Gemüthslebens, die Erhabenheit seiner Begeisterung für das in Gefahren schwebende Judenthum, die systematische Klarheit seiner Lehrmethode, das begeisternde Beispiel seiner Lebensrichtung und endlich sein sieggekröntes Märtyrerthum darzustellen, sollte man hierfür alle Blumen der Poesie, allen Glanz der Beredsamkeit, allen Schmelz der Eingenommenheit erborgen. Allein die strenge Wahrheit verschmäht jeden andern Schmuck als den, welchen die Einfachheit ihrer Weise von selbst darbietet. Die Wahrheit legt es nicht darauf an, sanft sich ins Gemüth einzuschmeicheln, sondern bewältigend in den Verstand eindringend, ziehet sie es vor, durch das große offene, wenn auch einfache Portal der Ueberzeugung, als durch die Guirlanden behangene Hinterthüre der Ueberredung einzuziehen. Das Wort der Wahrheit ist nüchtern.20

In der Folge weist Graetz gnostische Einflüsse auf Akiba nach, deren Wirkung letztlich allerdings bloß in dem triumphierenden Gegenentwurf erkennbar ist: Akiba habe „ein eigenes, auf jüdischen Principien beruhendes System [… entworfen,] das sodann zu dem durch die gnostische Häresie eingedrungenen metaphysischen und ethischen System die Opposition“ bilde, mit der monotheistischen Gottesidee als Spitze.21 Als jene „jüdischen Principien“, die Akibas System stützen, zählt der Historiker vier: „Es giebt für Alles eine Vorsehung, die sittliche Freiheit des Willens ist dem Menschen gewährt, die Welt wird mit Güte und Milde regiert, und das Lebensziel liegt im Thun.“22 Gerade diese Prinzipien, die auf Akiba zugeschriebenen Sentenzen 19 Ebd., 85 und 96 (hier ist von der „göttliche[n] Einheit“ als dem „Kernpunkt des Judenthums“ die Rede. – Ähnlich auch 89, wo vom „Grunddogma des Judenthums“ die Rede ist, sowie 34 f und 90. – Der talmudische Bericht über den Tod R. Akibas findet sich in bBer 61b. 20 Graetz, Gnosticismus, 83. 21 Ebd., 95. 22 Ebd., 94 (im Original durch Sperrung noch hervorgehoben).

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(„Apophtegmata“, nennt sie Graetz) aus den Pirkej Avôt zurückgehen, sind bemerkenswert. Denn wenn Graetz ihnen einen jüdischen Charakter beimisst, bringt er hier tatsächlich ein historisch-genetisches Element in seine Argumentation, hatte er doch gerade zuvor noch nachgewiesen, dass sie gegen gnostische Lehren entstanden seien. Entsprechend konnte er sie auch „als ein Glaubensbekenntniß R. Akiba’s seiner Zeit gegenüber“ einleiten.23 Graetzens so entworfenes Modell des Wesens des Judentums basierte also auf einer religiösen und durchaus auch traditionellen Grundlage, wenngleich es mittels eines historisch-genetischen Ansatzes erarbeitet worden war: Unter Akiba sei demnach das Judentum essentiell zum Gegenentwurf gegen den „Irrthum“ des (gnostischen) Zeitgeistes geworden und habe auf diese Weise seine spezifische religiöse Gestalt gewonnen.24 Wäre dies alles gewesen, hätte Graetz jenes Wesen des Judentums auf die Anerkennung einer Reihe von Dogmen reduziert, wie ja auch seine (wenngleich zeittypische) Verwendung der christlich konnotierten Terminologie von einer „jüdischen Dogmatik“ eine solche Intention durchaus nahezulegen scheint. Zwar scheint an dieser Stelle ein solches „theologisches“, ausschließlich religionsorientiertes Bild des Judentums vorzuliegen; allein zumindest für eine solche Interpretation der gesamten Schrift sind Zweifel angebracht. Wenig später schon sollte er sich nämlich – in seinem geschichtsphilosophischen Versuch, der Construction der jüdischen Geschichte (1846) – von der essentiellen Bedeutung des Monotheismus distanzieren. Dies lässt es ausgesprochen fraglich erscheinen, ob Graetzens Vorstellung tatsächlich so theologisch orientiert war, wie sie es vordergründig zu sein scheint. Insbesondere sei gefragt, ob sich in diesem ersten Entwurf Zugehörigkeit zu jenem solcherart konstruierten Judentum und seine eigene Sicht von jüdischer Identität ohne weiteres gleichsetzen lassen. Damit verbunden ist überdies die Frage, ob sich letztlich jüdische Identität über ein Dogma bestimmen ließe. Der gewichtigste Einwand gegen eine solche „theologische“ Sichtweise jüdischer Identität ist die andere der beiden zentralen Figuren seiner Studie: Acher.25 Weitaus stärker als in der Dissertation legte Graetz der Druckfassung ein allegorisches Element zugrunde, indem er nun R. Akiba einen Gegenspieler in der Figur Elischah ben Abujahs gegenüberstellte und beide 23 Ebd., 94. – Einen ähnlichen Zeitbezug postuliert er auch für die übrigen Sprüche der Väter; vgl. ebd., 91. 24 Das dualistische Gottesbild des Gnostizismus wird ebd., 90, als „bodenloser Irrthum“ bezeichnet. – Mit seiner Heraushebung von Akiba als einer Art Gründervater des rabbinischen Judentums folgte Graetz durchaus der talmudischen (wenn auch palästinensischen) Tradition; vgl. pScheq III 47b und pRH I 56d. 25 Graetzens Buch war im Übrigen die erste Studie zu Elischah ben Abuja in der Neuzeit. Vgl. Biale, Historical Heresies, 123. – Allgemein zu Elischah/Acher vgl. Goshen-Gottstein, Sinner; Liebes, Sin.

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somit zu Repräsentanten bestimmter religionsgeschichtlicher Tendenzen stilisierte. Bereits auf der formalen Ebene gelang ihm dies durch die Umstellung der behandelten vier Paradiesesreisenden: Standen in der Dissertation Acher und R. Akiba am Ende der Ausführungen, so bildeten sie nun Anfang und Ende der Darstellung.26 Und auch biographisch stellte er die beiden gegenüber, mit Ben Azzai und Ben Soma als Bindeglieder. Während R. Akiba, aus kleinen Verhältnissen stammend, nach der Erfahrung mit gnostischen Lehren zum Verteidiger des wahren Judentums wird, ist der verwöhnte Acher aus reichem Hause derjenige, der „die Wahrheiten des Judenthums negirt und die Göttlichkeit desselben verkannt hat.“27 Doch ungeachtet seiner Apostasie bleibt Elischah – das sei nachdrücklich betont – für Graetz ein jüdischer Gnostiker, der Apostat behält des ungeachtet eine jüdische Identität.28 Graetzens Definition von jüdischer Identität sprach eben nicht von einem religiösen Bekenntnis – sondern bezog sich gleichsam kulturalistisch auf die Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen: Dieser musste im historischen Judentum seiner Zeit wurzeln und von jüdischen Ideen durchzogen sein. Demnach konnte ein Mensch durchaus – wie eben Acher – sogar religiöse Grundprinzipien des Judenthums negieren; so lange es klar blieb, dass er letztlich von der Grundlage dieser Prinzipien aus argumentierte, würde er für Graetz weiterhin eine jüdische Identität behalten.29 Auch die Komposition des Kapitels spricht für eine solche Einordnung Achers. Denn die Gegenüberstellung mit Akiba bedingt mit ihrer Polarisierung auch eine Symmetrie: So wie Akiba erst gnostische Lehren kennen lernen musste, um sie später auf dieser Grundlage vehement zu bekämpfen, so musste auch Acher stark von jüdischen Vorstellungen geprägt sein, um sie so vehement ablehnen und denunzieren zu können, wie dies gerade von Graetz 26 In Graetz, Auctoritate: Ben Soma [13], Ben Azzai [13 f], Achar [14 f], R. Akiba [15 ff]; in Graetz, Gnosticismus: Achar (62–71), Ben Azzai (71–77), Ben Soma (77–83) und R. Akiba (83–97). 27 Graetz, Gnosticismus, 69. – An späterer Stelle konfrontiert Graetz selbst beider Leben als Doppelbiographie: ebd., 83 ff. 28 Nicht allein wegen der Kapitelüberschrift, sondern eindeutig: „Diese drei Weisen, Achar, ben Soma und ben Azzai, […] nenne ich die jüdischen Gnostiker“; Gnosticismus, 61. 29 Dadurch unterscheidet sich in Graetzens Sichtweise ein bewusster Apostat wesentlich von jemandem, der religiösen Indifferentismus pflegt. Im Falle Achers wird dieser Befund dadurch noch unterstrichen, dass Graetz auch jene Berichte als legendenhaft zurückweist, die von einem Widerruf des Apostaten auf dem Sterbebett wissen wollten. In der Geschichte der Juden wird dieser Bericht zwar als „Sage“, aber unkommentiert wiedergegeben; vgl. bChag 15a sowie Graetz, Geschichte IV (1853), 207. – Dass es sich bei der Akzeptanz einer jüdischen Identität auch im Falle von Apostaten ebenso wenig um eine „nationalistische“ Argumentation auf Grund von Vererbung handelt, die das Judentum gleichsam als Schicksalsgemeinschaft ansieht, verdeutlicht wiederum das Beispiel Akibas, von dem Graetz hier ausdrücklich feststellt, dass er nicht als Jude geboren worden ist oder allenfalls „nur halb dem Judenthum angehörte“. Graetz, Gnosticismus, 85.

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betont wird. Hierzu gehört auch, dass bei allen „fremden“ Einflüssen (wie den mehrmals zitierten griechischen Büchern und griechischen Gesängen) Elischah in Graetzens Darstellung kein blinder Gefolgsmann jener fremde Gedanken war, sondern durch eigenes Nachdenken zu seiner Apostasie gekommen war.30 Die Darstellung von Elischahs Apostasie lässt noch in anderer Hinsicht an dem uneingeschränkt zentralen Charakter des Monotheismus’ für Graetzens Bild von jüdischer Identität zweifeln. Gewiss, Graetz wollte betont wissen, dass „Achars apostatisches Verhalten keineswegs den fessellosen Genuß, sondern die Negation des Judenthums zum allgemeinen Ziel hatten“.31 Bei eingehender Analyse von Graetzens Argumentation stellt sich allerdings heraus, dass er zwar Achers Antinomismus als Ablehnung aller demiurgischen Schöpfung zu Gunsten einer Verehrung allein der göttlichen Weisheit (also von „Gnosis“) interpretiert und sich dieser Antinomismus demzufolge auch auf alle Bereiche rabbinischer Gesetze erstreckte – allerdings nicht gleichermaßen: Für Graetz hatten in Achers Antinomismus die sexuellen Ausschweifungen herausragenden Rang. Dies verdeutlichen die sich steigernden Aufzählungen seiner Übertretungen. So sei es die Folge jener Verachtung der Schöpfungen des Demiurgen gewesen, „daß Achar dem Judenthume den Rücken kehrte, ein gesetzloses Leben führte […] ja sich nicht scheute, mit frecher Stirne geschlechtlicher Zügellosigkeit sich hinzugeben.“32 Sein Antinomismus habe „von der Duplicität der göttlichen Potenzen bis zur Verachtung des dem Demiurgos emanierten jüdischen Gesetzes, und bis zur Negierung der Keuschheitsgesetze“ gereicht.33 Laster-Kataloge wie dieser unterstreichen, dass für Graetz weder die anscheinend zahlreichen Verstöße gegen traditionell-jüdische Vorstellungen, noch seine Parteinahme für die Feinde des Judentums die übelsten Eigenschaften Achers gewesen sind. Vielmehr entpuppt sich eine sexuell verstandene Sittlichkeit als eine weitere zentrale Eigenschaft desjenigen Judentums, welches der „Erzketzer“ tätig abgelehnt habe.34 Dieser spezielle Aspekt von Gesetzesfeindlichkeit beschränkte sich in Graetzens Sicht nicht allein auf Elischah ben Abujah. Sexuelle Sittlichkeit war auch das Leitmotiv in dem Kapitel über Ben Azzai, nun aber verstanden im diametralen Gegensatz zu Achers Zügellosigkeit, nämlich als Ent30 Ebd., 66 sowie 69. 31 Ebd., 63. 32 Graetz setzte damit Acher in Verbindung mit der Richtung der Karpokratianer. Vgl. ebd., 65. 33 Ebd., 66. – Ähnliche Akzentuierungen finden sich noch ebd., 61 und 67. 34 Vgl. auch Biale, Heresies, 123 f. – Bezeichnenderweise nimmt Daniel Boyarin in seiner wichtigen Studie zur Bedeutung von Sexualität in den talmudischen Texten keinerlei Bezug auf Elischah ben Abuja; vgl. Carnal Israel.

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haltsamkeit. Diese Akzentuierung hatte auf der formalen Ebene die Folge, dass auch die beiden weniger bedeutenden rabbinischen Paradiesesreisenden, Ben Azzai und Ben Soma, die Plätze tauschten und somit Ben Azzai als direktes Extrem auf den zügellosen Acher folgte.35 Nach Graetz hatte Ben Azzai die Lehren jener gnostischen Gruppen verinnerlicht, die sich aus dem Alltagsleben zurückzogen und zölibatär lebten. Dies war ihm eine Lebensform, die „dem Judenthum ebenso fremd wie das Mönchswesen“ sei; denn „das Cölibat konnte nur von Außen ins Judenthum dringen, nicht aus demselben sich erzeugen.“36 Dabei brachte er die biographischen Hinweise aus der jüdischen Traditionsliteratur dadurch auf seine spezielle Interpretationslinie, dass er das auf jenen Rabbinen gemünzte Wort chasidût nicht einfach (und gängig) als „Frömmigkeit“ oder als „Mäßigung, Askese“ in einem allgemeinen Sinne deutete, sondern ebenso explizit wie ungewöhnlich als „sexuelle Enthaltsamkeit“ verstand.37 Damit betonte er auch im Falle Ben Azzais die zentrale Bedeutung von sexuellen Sittlichkeitswerten für dessen Ablehnung von Grundwerten des Judentums. Für die Frage nach dem Wesen des Judentums bei Graetz ergibt sich also aus der Analyse von Gnosticismus und Judenthum eine zweifache Bestimmung, nämlich in einem ethischen und in einem religiös-dogmatischen Sinne: Ethisch definierte sich dieses Wesen des Judentums durch die Ablehnung von sexueller Ausschweifung ebenso wie von völliger sexueller Enthaltsamkeit, es bestand vielmehr in einem rechten Maß, das jedoch nicht näher definiert wurde. In einem sich verbürgerlichenden Milieu der mittleren 1840er Jahre ist wohl weniger das Ergebnis dieser Definition erstaunlich als vielmehr der Umstand einer solchen Definition an sich. Denn sie nahm weder einen explizit vorhandenen Argumentationsfaden von anderer Stelle auf, noch kann sie als Antwort auf eine ihr entgegengesetzte These gelten. Es hat geradezu den Anschein, als sei Graetzens Definition in einem argumentativ gleichsam luftleeren Raum erfolgt! Gemildert wird dieser Eindruck dadurch, dass auch auf der zweiten Ebene ein ähnliches Ergebnis erfolgt, sich also eine einheitliche Linie seiner Anschauungen festmachen lässt: In religiös-dogmatischer Hinsicht nämlich wurde für Graetz das Judentum durch jenes R. Akiba zugeschriebene „Glaubensbekenntnis“ definiert, das einen strikten Monotheismus als grundlegendes Dogma beinhaltete. In beiderlei Hinsicht ging es Graetz hier um die rechte Mitte zwischen den Extremen, wie er auch in der Zusammenfassung am

35 Siehe oben, Anm. 26. 36 Beide Zitate Graetz, Gnosticismus, 72, ähnlich 101. – Auf Grund von dessen zölibatären Lebensstils assoziierte er Ben Azzai mit der gnostischen Richtung der Enkratiten und ihrer „überspannten Anschauung“; ebd. 37 Vgl. Graetz, Gnosticismus, 71 und 76. Er bezog sich damit auf die Nachrichten in den ARN 40; bBer 57.

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Ende dieses Kapitels ausdrücklich feststellt.38 Das Judentum, wie er es für das zweite Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in Palästina konstruierte, erwies sich als ungemein kompatibel mit zentralen bürgerlichen Werten des 19. Jahrhunderts wie Triebverzicht, Selbst-Disziplinierung, Mäßigung. Für den jungen Wissenschaftler war die schier ideale Verkörperung dieses juste milieu R. Akiba. Dessen Antignostizismus sei denn auch „von dem heilsamsten Erfolg für die naturgemäße und ungehemmte innere Entwickelung des Judenthums“ gewesen.39 Gerade an seiner Figur wird deutlich, wie Graetz eine historische Entwicklung annehmen konnte, ohne auf einen festen Standpunkt verzichten zu müssen, was das wahre Judentum sei: Bei aller Durchmischung werde „das Fremde“ letztlich doch als solches erkannt und wieder „ausgeschieden“, und sei es nach schweren Kämpfen. Der junge Universitätsabsolvent war ja weit davon entfernt, sich gegen jede Art von weltlicher, nicht-jüdischer Bildung oder gegen die Beschäftigung mit ihr zu stemmen, dafür hielt er sich selbst viel zu viel zugute auf sein Bildungswissen. Dies zeigt auch das letzte Kapitel der Studie, die aus dem Dissertationsmanuskript nur wenig erweitert übernommene Analyse des Sefär Jetzirah. Dieses galt ihm als „ein sehr wichtiges Denkmal für die Anschauungsweise jener Zeit, für die Betheiligung der Juden an dem metaphysischen Interesse“.40 Graetz vertraute ganz auf die eigenständige Stärke seines Judentums, lieferten ihm doch die verschiedenen Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden „für die tiefe Sittlichkeit des Judenthums den schlagenden Beweis […], daß in demselben feindliche Theorien nie zur Consequenz kamen, sondern im wirklichen Leben immer von der sittlichen Macht überwunden wurde[n]“.41 Die Bedeutung von „fremdem“ Gedankengut für das Judentum war demnach weniger eine direkte Beeinflussung in seiner Essenz; vielmehr ist sie einem Enzym vergleichbar (oder zeitgenössisch ausgedrückt: einem „Ferment“), solche Kontakte dienten dazu, dass das Judentum sich seiner selbst bewusst werden konnte und somit das essentiell vorhandene, aber unbewusste Wesen des Judentums zu einer bewussten jüdischen Identität wurde: Im 2. Jahrhundert sei „das Judenthum […] aus dem Verhältniß zum Inhalt seiner Lehre, zur Reflexion geweckt“ worden.42 38 Graetz, Gnosicismus, 100. – Es ist für diese dialektisch aufgebaute Struktur bezeichnend, dass Graetz mit dem vierten Paradiesreisenden, Ben Soma, nicht recht etwas anfangen konnte; entsprechend schwer fiel es ihm, eine konkrete Linie in der Darstellung zu finden, so dass sich der Nachweis „fremder“ Einflüsse allgemein auf „kosmogonisch-gnostische Grübeleien“ beschränkt, die letztlich dessen Verstand verwirrt haben sollen. Und auch im letzten, zusammenfassenden Absatz des Kapitels fand Ben Soma keine Berücksichtigung mehr. Ebd., 100 f und 82 (Zitat). 39 Ebd., 101. 40 Ebd., 131. 41 Ebd., 21 f. 42 Ebd., 131.

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Mit dieser – nach Berger „modernen“ Situation des Judentums – deutet sich schließlich eine weitere, zumindest am Rande bedeutsame Tendenz des Werkes in der Druckfassung an: der konkrete Gegenwartsbezug.43 Gewiss, bereits im ersten Satz hatte Graetz (nicht ohne Koketterie) einen „Mangel an Zeitgemäßheit“ seines Buches feststellt; doch an anderer Stelle des Vorwortes gab er eben diesen Gegenwartsbezug ganz offen zu: die gnostische Epoche biete nämlich eine nicht zu verkennende Analogie mit unserer Zeit dar, man braucht nur für den gnostischen Dualismus den modernen Pantheismus mit seinen direkten oder indirekten Ausstrahlungen zu substituiren, dem ebenfalls das Judenthum entweder sophistisch anbequemt oder apostatisch untergeordnet werden soll; so hat man in den gnostischen und antignostischen Bewegungen innerhalb des Judenthums, die wir zu veranschaulichen versucht haben, ein getreues Spiegelbild der Gegenwart. Es fehlen uns in der Gegenwart nicht an offenen und verkappten Achars, und wollen wir die Hoffnung auf R. Akibas nicht fahren lassen.44

Wenngleich der Haupttext der Darstellung an sich kaum klare historische Parallelsetzungen oder gar direkte Anspielungen aufweist, so machte Graetz wenigstens hier deutlich, dass er eben doch nicht gänzlich „allen Anspruch auf Zeitgemäßheit“45 von vornherein aufgab. Allerdings zeigt sich hier, dass wenigstens im Falle Elischa ben Abujas für Graetz der Zeitbezug eher ornamentalen Charakter hatte: Denn auch wenn er hier die Pantheismus-Vorwürfe gegen die Hegelsche Philosophie aufnahm und ihnen recht eindeutig das Reformjudentum zuordnete (welches sich ihm ja gerade in seinem Breslauer Widersacher Abraham Geiger personifizierte), die folgende Darstellung lässt keine spezifischeren Bezüge zwischen dem „Erzapostaten“ und Geiger erkennen.46 Graetz ging es hier tatsächlich um eine kritische Untersuchung von Elischas/Achers Stellung zwischen Judentum und Gnosis, wie ja auch das eingangs erwähnte Tagebuchzitat in der Rückschau einen Eigenwert des Themas nahelegt: Graetzens ursprüngliche Idee war gewesen, „Achers Apostasie [zu] beschreiben u. sie mit einer Parallele in Beziehungen zu setzen.“ Dabei war es ihm „allerdings durchaus unklar, wie u. was ich daraus machen soll.“47 Vermutlich erst in Breslau, als sich sein eigenes Bild vom Judentum zu jenem gleichsam bipolaren System mit den beiden Polen Hirsch und Geiger verfestigte, kam Graetz auf den Gedanken, wel43 Diesen Aspekt betonen auch Biale, Heresies, 123 f, und Brenner, Gnosis, 47–50. 44 Graetz, Gnosticismus, VIf. 45 Ebd., V. 46 Den Bezug auf Geiger bei Brenner, Gnosis, 48. – Wenngleich dies kaum als Beleg gegen die Gleichsetzung von Acher mit Geiger taugt, so sei doch zumindest darauf hingewiesen, dass in der Geschichte der Juden lediglich Samuel Holdheim mit dem „Erzketzer“ verglichen wird, nicht aber Geiger; vgl. Graetz, Geschichte XI (1870), 566. 47 Tagebucheintrag vom [4.7.1845]; Graetz, TB, 149.

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che nur die gesuchte Parallele zu Acher sein konnte – und dementsprechend fällt der Befund für R. Akiba aus: Zwar lassen sich auch hier keine konkreten Anspielungen auf Zeitgenossen des Verfassers ausmachen; doch legt der wahrhaft hymnische Ton, mit dem der rabbinische Gelehrte stets geschildert wird, den Gedanken an Graetzens frühe Tagebuchkommentare zu Samson Raphael Hirsch aufkommen, etwa wenn er von dem „gefeierten, bewunderten, geliebten R. Akiba“ spricht, dem „hochgefeierte[n] Lehrer“, oder ihn als „Heros“ bezeichnet.48 Anders als für Geiger findet sich für eine solche Assoziation eine starke Stütze, nämlich in dem Umstand, dass Graetz diese erste Monographie aus seiner Feder in demselben hymnischen Tonfall Hirsch zugeeignet hat, genauer: Sr. Ehrwürden, dem Herrn Landrabbiner Samson Raphael Hirsch, dem geistvollen Kämpfer für das geschichtliche Judenthum, dem unvergeßlichen Lehrer, dem väterlichen Freunde, in Liebe und Dankbarkeit.49

Fünf Jahre nach Graetzens Weggang aus Oldenburg im Zorn war Hirsch für seinen ehemaligen Famulus offenkundig nicht mehr die „ängstliche Kreatur“, die es als ein „jüdisches Leben“ ansah, „wie eine Schnecke den ganzen Tag“ in ihrem Haus zu stecken;50 nun stand er Pate für den aktiven Streiter gegen „unjüdische“ Ideen, der am Ende seines Glaubens willen den Märtyrertod starb. Es sei mit Einschränkung festgehalten, dass die Auseinandersetzungen im zeitgenössischen Judentum mutmaßlich den Anstoß dafür gegeben haben, dass Graetz seine Studie zu den Wechselwirkungen von Gnosis und Judentum im 2. Jahrhundert anhand der Konfrontation von Elischah ben Abuja und R. Akiba verdeutlichte; dementsprechend ging es ihm um die ewige, wahre jüdische Identität, ein absolut gesetztes Wesen des Judentums, das freilich für seine eigene Gegenwart Relevanz besaß. Doch bedeutet das nicht, dass er deshalb bei seiner Beschreibung stets konkrete zeitgenössische Bezüge im Hinterkopf gehabt hätte. Selbst der explizite, aber etwas kokette Hinweis auf die Möglichkeit einer Parallelsetzung entsprang wohl vielmehr dem Bewusstsein, dass seine Arbeit 1845 zwar innovativ sein mochte, aber außerhalb des öffentlichen Interesses lag. Dies musste er schon in seinem nächsten Umfeld erleben, als er aus Krotoschin von der Drucklegung des Manuskripts nach Breslau zurückkehrte und selbst enge Freunde kaum Enthusiasmus aufbrachten.51 Und auch das öffentliche Echo blieb gering – die jüdische Presse mit einer weiteren Leserschaft brachte wenig, selbst im 48 Graetz, Gnosticismus, 99, 84, sowie 83 und 100 (beide Male „Heros“); vgl. dazu oben, Kap. II 1.2. 49 Graetz, Gnosticismus, [III] – die Vorhebungen sind wohlgemerkt von Graetz. 50 Tagebucheintrag vom [1.5.1840]; Graetz, TB, 77 f, alle drei Zitate 78. 51 Vgl. ebd., 150.

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Orient fanden sich zwar Anzeigen des Verlegers Monasch, doch keine Würdigung.52 Lediglich Zacharias Frankels kurzlebige Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums sowie die Allgemeine Litteratur-Zeitung brachten – wohlwollende – Besprechungen.53 Nur sehr langsam sollten die von Graetz in der Druckfassung seiner Dissertation aufgeworfenen Fragen von der einschlägigen Forschung aufgenommen und diskutiert werden.54 Sein erster Versuch aber, ein Modell von jüdischer Identität zu entwerfen und exemplarisch auszuführen, stieß auf überhaupt kein Interesse.

2.2 Familienwerte Kurz nachdem er seine Dissertation sowie die für die Promotion notwendigen Unterlagen in Jena eingereicht hatte, war Graetz ins Posensche Krotoschin gefahren, wo er bei dem Drucker und Verleger Bär Löw Monasch (1801–1876) und dessen Familie wohnte.55 Wie bereits erwähnt, sollte Monasch auch der Verleger von Gnosticismus und Judenthum werden. Doch war dies nicht der einzige Grund für den Ortswechsel. Graetz suchte eine Rückzugsmöglichkeit, um seine Gedanken zu ordnen. Doch es kam anders, wie er rasch erkannte: Krotoschin bildet so eine Art Glied zur Verkettung meiner Lebensbestimmungen. Als ich das dummstolze Ostrowo samt meinem halbphiliströsen, hofmeisterlichen, gedankenarmen Leben verließ, hatte ich in Krotoschin eine zeitweilige Zuflucht, um über meinen neuen Aufenthalt nachdenken zu können. Auch bei meinem Austritt aus dem Breslauer Wirrwarr nahm ich zu diesem Orte meine Zuflucht, u. es kann mir theuer zu stehen kommen.56

Sein Gastgeber war nämlich auf der Suche nach einem geeigneten Schwiegersohn für seine noch ledige, 19jährige Tochter Marie (1826–1900), und über die Eignungskriterien hatte der Verleger offenkundig konkrete Vorstel52 Vgl. LitBlOrient 6 (1845[!]), Sp. 719. 53 Vgl. die Rezension des Wollsteiner Rabbiners Hirsch Hirschfeld in ZRIJ 3 (1846), 317–320 und 352–358, sowie Graetz, TB, 161. Der Rezensent in der Allgemeinen Litteratur-Zeitung war der Breslauer Konsistorialrat und Mitherausgeber der Zeitung, Georg Wilhelm Rudolph Böhmer (1800–1863); die Angabe von Michael ist falsch. 54 Am bedeutendsten dürfte zunächst die zweibändige Studie von Manuel Joël: Blicke in die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts (1880) gewesen sein, die viele von Graetzens Gedankengängen aufnahm und auch über jüdische Kreise hinaus wahrgenommen worden ist. Vgl. etwa Krüger s. v. Gnosis, Gnosticismus; Leicht s. v. Gnosis/ Gnostizismus. IV. Judentum; und Scholem, Mystik, 393, Anm. 24, und 395, Anm. 45. 55 Vgl. die Adressangabe in den Promotionsunterlagen („Buchdruckerei Monasch & Sohn. Krotoschin, Großherzogthum Posen“); UA Jena, Bestand M 307, fol. 63v; sowie oben, Kap. II 1.5. – Zu Monasch vgl. Fraenkel, Memoirs, sowie Lewin, Gründung. 56 Tagebucheintrag [Ende März/Anfang April 1845]; Graetz, TB, 141 f, Zitat 142.

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lungen: Gemäß der traditionellen Hochschätzung von Gelehrsamkeit unter den Posener Juden sollte es ein Absolvent einer Talmudschule (Jeschivah) sein, und wenn solches kulturelles noch durch symbolisches Kapital vermehrt werden würde, so war dies nicht unwillkommen. Monasch hatte bereits seine ältere Tochter Julie (geb. 1824) an einen solchen jungen Mann aus Wollstein verheiratet – Graetzens Jugendfreund Benzion Behrend. Dieser hatte zwar keinen akademischen Grad, konnte aber als Buchhändler mit einer für einen Buchdrucker ebenso willkommenen Ausbildung aufwarten. Behrend war Monaschs Teilhaber geworden, doch liefen die Geschäfte schlecht. Insofern bot der ehemals beste Freund von Behrend, den der Buchdrucker auf der Hochzeit 1842 kennen gelernt hatte, eine gute Partie,57 ohne unbezahlbare Forderungen an die Mitgift stellen zu können. Als Graetz nun frisch promoviert erneut in die Posensche Kreisstadt kam, gab es keinen Grund mehr zur Zurückhaltung: „der Vater setzt alles drein, den Doktor zum Schwiegersohn zu haben, u. schickt Schaddechan über Schaddechan [Heiratsvermittler über Heiratsvermittler], läßt mir die anlockendsten Versprechungen machen“. Der so umworbene war sich der Sache nicht so sicher, auch wenn er die (letztlich nicht einhaltbaren) finanziellen Zuschüsse gut hätte gebrauchen können – vorerst sah er seine ihm so kostbare Unabhängigkeit in Gefahr: „Es fröstelt mich, denke ich daran, ein ernstes Lebensverhältnis einzugehen, wobei alle die schneidenden Konsequenzen mit tyrannischer Schärfe sich geltend machen. Gerne möchte ich mich noch aller und jeder Fessel erwehren u. meinem Geist die Freiheit gönnen, die ihm einige Blüten entlockt hat.“58 Vorläufig war der 27jährige Graetz noch nicht so überzeugt, dass der zu erwartende Zugewinn den Verlust an Idealität seiner Existenz, in der er vorerst ausschließlich für das Judentum wirken zu können meinte, wettmachen könnte. Bis zu diesem Frühjahr hatte auch die in Rede stehende junge Dame keine zentrale Rolle in seinem Tagebuch gespielt. Zwar waren bereits vor einer ersten Begegnung der beiden Überlegungen zu einem möglichen Heiratsprojekt angestellt worden, doch war diese Kombination lediglich eine Option unter anderen gewesen. Als sie sich auf der Hochzeit von Benzion Behrend und Julie Monasch kennen gelernt hatten, reichte es von Graetzens Seite lediglich zu der Bemerkung, sie sei „ein niedliches Kind, aber verzogen“ – zu sehr berührte ihn damals wohl noch die Entfremdung von Behrend.59 57 Nach den Memoiren Monaschs sei es zwar der ausdrückliche Wille seiner Tochter Marie gewesen, dass sie keinen Mann heiraten würde, der weniger gebildet sei als ihr Schwager Behrend, doch scheint dies als Motivation ihrerseits fraglich zu sein. Vgl. Fraenkel, Memoirs, 213. 58 Tagebucheintrag [Ende März/Anfang April 1845]; Graetz, TB, 141 f, Zitat 142. 59 Tagebucheintrag vom [17.11.1841]; ebd., 114. – Das Heiratsprojekt mit „Mariechen“ findet sich ebd., 113, wird aber von ihm ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Aussöhnung mit Behrend wahrgenommen, bereits im übernächsten Satz erörtert er seine Chancen bei

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Und wenngleich er in der Folge Marie mit großem Wohlwollen betrachtete, so war sie doch in seinen Augen „so unschuldig, so lieblich“, kurz: ein „Kind“ noch und folglich als Frau wohl mehr oder minder uninteressant.60 Als dann aber im Frühjahr 1845 das Drängen Monaschs größer wurde, ging alles rasch. Ende März noch gab der erhoffte Bräutigam „dieser Affaire einen Fußtritt“, weniger als eineinhalb Monate später handelt es sich bereits um einen seiner „zwei Lieblingswünsche“, „Marichen“ zu heiraten.61 Auf einmal war seine Freiheit nur mehr sekundär: „Und ich – ach meine Freiheit ist geopfert, ich bin Marichen gut, ergeben, verlobt“, jubelte er im Mai. „Obgleich sie vor Menschen noch nicht mein ist, so ist sie vor Gott mein.“62 Doch machte nun die Aushandlung des Heiratskontraktes Probleme, später dann Graetzens unsichere Einkommenssituation. Letzten Endes sollte ihr Verlöbnis fünf Jahre dauern, bis der junge Gelehrte die nötige Anstellung hatte, um seine Braut ehelichen zu dürfen. Die Finanzen seines Schwiegervaters waren zu dieser Zeit schon so zerrüttet, dass das Paar selbst die zugesagte, bescheidene Mitgift nicht mehr erhalten konnte. Des ungeachtet war dies eine Liebesbeziehung von großer Intensität, wie sich schon aus den wenigen erhaltenen, bruchstückartigen Quellen schließen lässt.63 Graetz empfand hierüber nicht allein das Glück erwiderter Liebe, sondern stellte für sich selbst bald fest, dass er nicht so sehr eine Wahl zwischen zwei Werten getroffen hatte (seiner persönlichen Freiheit auf der einen und der Sicherheit einer Bindung auf der anderen Seite), sondern dass die Verbindung mit MaWehlaus Tochter Malchen aus Ostrowo. – Im Vergleich hierzu Graetzens eigene Rückschau auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft für sie: „Als ich zum ersten, zweiten und öfteren Mal M[ariechen] sah, da übermannte es mich, daß sie mein seyn werde“. Tagebucheintrag vom [4.7.1845]; ebd., 149. 60 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [13.6.1842]; ebd., 118. – Offenkundig wird sein Wohlwollen von ihrer Seite mehr als nur erwidert, auch wenn Graetz sich dieser Perspektive kaum bewusst wird. Allenfalls sein gelegentlicher Wechsel in die englische Sprache deutet auf eine Gefühlsaufwallung hin; vgl. etwa ebd., 116. Waren diese Sprachwechsel anfangs eher spielerisch gewesen und konnten auch mehrmals in einem Satz erfolgen, so sollte sich ab dieser Zeit die Tendenz zeigen, dass er vorzugsweise bei intimen Themen die Sprache wechselte; mehrfache Wechsel innerhalb eines Satzes sollten nun nicht mehr vorkommen. 61 Tagebucheintrag [Ende März/Anfang April 1845]; ebd., 141 f, Zitat 142 („Fußtritt“); [4.5.1845], ebd., 142 f, Zitat 142 („Lieblingswünsche“; der zweite dieser Wünsche betraf die Zusammenarbeit mit Frankel). 62 Tagebucheintrag vom [15.5.1850?]; ebd., 143 f, Zitat 144. 63 Aus der Menge von Graetzens Tagebuchzeugnissen: „Aber sie liebt mich auch mit dem ganzen Feuer einer ersten jungfräulichen Liebe, u. meine Liebe zu ihr findet den hellsten vollsten Widerklang.“ Tagebucheintrag vom [15.5.1850?]; ebd., 143 f, Zitat 144. – Eine solche Verbindung aus Liebesbindung und Kalkül dürfte wohl für bürgerliche Schichten der Zeit (wozu auch Monasch und Graetz in dieser Zeit zu zählen sind) üblich gewesen sein, wie Lowenstein feststellt; vgl. Anfänge, 145. Sein Widerspruch gegen Anne-Charlotte Trepps Betonung der emotionalen Ebene wirkt m. E. eher künstlich zu sein, da Trepp die Kalküls-Ebene ja nicht negiert; vgl. ebd., 492 f, Anm. 39, sowie Trepp, Sanfte Männlichkeit, 40–45.

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rie Monasch ihn selbst habe reifen lassen: „Ich bin jetzt fähig, zu meinem heiligen Gott aufzublicken.“64 In seinem Überschwang veränderte sich zwischenzeitlich gar seine Wahrnehmung von Identität wie von der eigenen Person. Seine inbrünstige Liebe ließ ihn den Eindruck gewinnen, dass sich seine personale Identität in diesen Tagen in einem einzigen, qualitativen Aspekt konzentrierte, nämlich demjenigen als Mann und Liebender: mein Leben pulsirt nur für sie; es ist zwar für den Augenblick ein wenig mißlich, daß alle anderen Regungen von dieser verdrängt, überwuchert werden, Ehrgeiz, Begeisterung fürs Judenthum, die Anhänglichkeit an Freunde, selbst die Elternliebe und die Liebe zu den Geschwistern ist ein wenig geschwächt […] die ganze Mannigfaltigkeit meines Seyns ist in das eine Gefühl konzentrirt.65

Er empfand geradezu Marichen als Teil seiner selbst. Besonders deutlich kamen seine Empfindungen mit dem Beginnen eines neuen Heftes seines Journals zum Ausdruck. Sein Tagebuch war lange sein vertrauter Gesprächspartner gewesen, sein alter ego, sein „papirne[s] Ich“.66 Nun gab es eine Frau in seinem Leben, und angesichts dieser Erweiterung seiner personalen Identität schien es ihm nur natürlich zu sein, dass das Tagebuch ein anderes, ein größeres Format als seine vier Vorgänger bekam, wie er dem Heft (!) im Zwiegespräch erklärte: „Jetzt meine papierene Vergangenheit muß ich dir ein größeres Format geben, weil mein Leben jetzt in einem größeren Styl erbaut werden soll, u. weil ich nicht mehr allein stehe. Ich habe jetzt zwei Leben, ein doppeltes, meine Marichen ist mit meiner Existenz verwachsen.“ Diese „Verschmelzung zweier Existenzen“67 war nicht allein Ergebnis eines rauschhaften, aber kurzzeitigen Überschwangs. Noch zehn Jahre später, als Marichen und er bereits einige Zeit verheiratet waren, sprach er von dem „ich-wir“.68 In jener Zeit sollten seine Tagebucheinträge immer sporadischer, summarischer werden. Und es ist wohl vor diesem Hintergrund nur zu verständlich, dass er kurze Zeit darauf mit dem Führen seines Tagebuches gänzlich zu einem Ende kam. Um die „Mannigfaltigkeit seines Seyns“ auszudrücken und zu diskutieren hatte er fortan einen besseren Gesprächspartner. Doch sah Graetz in seiner Angebeteten nicht nur die Geliebte und Vertraute, sie war mehr als dies. Die Frau an seiner Seite bedeutete für den ambitionierten Geist eine geradezu notwendige Ergänzung, die ihm eine 64 Tagebucheintrag vom [15.5.1850?]; Graetz, TB, 143 f, Zitat 144. 65 Tagebucheintrag vom [19.6.1845]; ebd., 147 f. 66 Tagebucheintrag vom [29.2.1843]; ebd., 130 ff, hier 130. 67 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [4.6.1845]; ebd., 144 ff, hier 144. 68 Tagebucheintrag vom 20. Sept. [1855]; ebd., 213–217, hier 214. – Vgl. hierzu auch seine zu dieser Zeit niedergeschriebene lobpreisende Bemerkung über die Ehe im Jeremias-Aufsatz, 5.

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bis dahin unbekannte innere Ruhe zu ermöglichen schien, wie er kurz vor ihrer Hochzeit notieren sollte: „Marie ist für mich der Beisatz, der meinem schwankendem Charakter Härte giebt.“69 Dieses Zitat ist umso bemerkenswerter, als es die in der Forschung zumeist gängige Vorstellung der Geschlechterbeziehungen und ihrer Metaphorik genau umdreht: Demnach seien es Frauen gewesen, die in der Literatur des mittleren 19. Jahrhunderts als schwankende Gestalten und wankelmütige Charaktere bezeichnet wurden, die eines Haltes und der Festigkeit bedurften (beispielsweise „eine Ulme für das schwankende Efeu“).70 Doch was dort oftmals affirmativ als fest etablierte Norm und Vorstellungswelt dargestellt wurde, war tatsächlich ein Gegenstand beständiger Verhandlungen und unablässiger Normierungsversuche. Das 18. Jahrhundert hatte begonnen, auch die bis zum Ancien Régime gültige Geschlechterrollenverteilung in Zweifel zu ziehen und überdies mit Ästhetik, Gefühlsleben, Religiosität und Sittlichkeit neue Kriterien in diese Diskussion eingebracht, was in der Epoche der Empfindsamkeit deutlichsten Ausdruck fand. Diese Kriterien hinterfragten die Definitionen von Mann und Frau und stellten dementsprechend jenes einfache, eindeutig dichotome System in Frage.71 Gleichzeitig sorgte dieses Infragestellen für eine verstärkte Suche nach eindeutigen Rollenbildern für die Geschlechter, was sich auch in der Begrifflichkeit niederschlug – „der männlichste Mann“ bei Schiller war in diesem Sinne keine Tautologie mehr.72 Dabei wurde der Diskurs über die Geschlechterrollen zentraler Teil des öffentlichen Diskurses über die Gesellschaft insgesamt – und blieb es, auch über das Ende der Aufklärungs-Epoche hinaus. Denn die sich etablierenden neuen Formen des Umgangs bedurften weiterhin einer steten Neu-Aushandlung und Bekräftigung. Dass der Lobpreis einer Frau mehr war als bloße Schwärmerei, nämlich immer auch gesellschaftliche Werthaltungen transportiert, liegt demnach auf der Hand. Bei Graetz ist dies in besonderer Weise augenfällig. Für die vorliegende Fragestellung ist dies umso relevanter, als die bei ihm zu beobachtenden Aspekte und Wortfelder (vor allem die Kombination von Judentum, Geschlecht und Sittlichkeit) sich auch in scheinbar anderen Kontexten wiederfinden, die für ihn mit dem Wesen des Judentums zusammenhingen. Denn in Graetzens erotischen Gefühlsaufwallungen fanden sich beständig religiöse Komponenten und umgekehrt. Seine immense Begeisterungsfähig69 Tagebucheintrag vom [1.10.1850]; ebd., 200. 70 Zum Hintergrund vgl. Hausen, Polarisierung, hier bes. 367 ff, und dies., „Ulme“. 71 Vgl. Maurer, Biographie, 232–255; Mix, Männliche Sensibilität; Mosse, Bild, 27–77; Trepp, Männlichkeit; Wunder, „Sonn“, hier bes. 250–268. 72 Das Zitat entstammt bezeichnenderweise dem Epigramm Das weibliche Ideal (An Amanda). Zit. nach Grimm/Grimm, Wörterbuch VI (1885), s. v. männlich, Sp. 1600. – Zum gesellschaftlichen Kontext vgl. etwa Herrmann, Arminius.

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keit war zweifellos ein Grund für seine allgemeine Neigung, die Objekte seines Interesses zu regelrechten Allegorien der Tugenden zu stilisieren, was ja bereits etwa bei Graetzens Huldigungen an Samson Raphael Hirsch deutlich geworden war.73 Mehr noch galt dies für seine Äußerungen zu Liebschaften. Nicht allein dass Graetzens Tagebuchaufzeichnungen vergleichsweise ausführlich und explizit mit Fragen von Sexualität, Sittlichkeit und Geschlechterrollen umgehen; sie zeigen in der beständigen Verquickung seiner Gefühlsausbrüche mit Elementen von disziplinierender Sittlichkeit und sublimierender Religion den heftigen Widerstreit zwischen seinen Wünschen und Sehnsüchten auf der einen und schwersten Befürchtungen und Ängsten auf der anderen Seite deutlich.74 Bereits früher hatte er die geschlechtliche Liebe durch die Verbindung mit der Liebe zu Gott sowie universaler Menschenliebe zu idealisieren gesucht.75 Nicht nur seine jeweiligen Liebschaften wurden so von ihm gefeiert. Auch seine nur-Freundin Doris Kronthal hatte zu Beginn der Breslauer Zeit überschwängliche Hymnen in seinem Tagebuch erhalten: Dorchen sei ein Muster der Bescheidenheit […]. Wie steht sie da, prangend in Jugend, Schönheit, Bildung, ausgerüstet mit allem Zauber tugendhafter Weiblichkeit. Und ich […] sollte sich nicht freuen über die herrliche, fleckenlose Jungfrau?

Auf Abgrenzung bedacht, stilisierte sich Graetz in dieser Situation als „der Freund des Vaters, des Kindes, des heranwachsenden Mädchens“ – obschon dieses Mädchen mittlerweile eine ziemlich selbständige 21jährige Frau geworden war; insofern lässt sich solch eine Idealisierung und insbesondere die Feier fleckenloser Jungfräulichkeit wohl als emphatische Abwehr von womöglich doch vorhandenen starken Gefühlen deuten.76 Erstaunlicher sind dagegen Eintragungen, die hiermit durchaus vergleichbar sind, aber Graetzens Braut Marie Monasch gelten. Obwohl „pudelnärrisch verliebt“77 in 73 Vgl. Kap. II 1.2. – Gleiches, wenn auch mit negativem Vorzeichen, lässt sich wiederum zu Abraham Geiger sagen; vgl. Kap. II 1.3. 74 Vermutlich wäre es ein lohnendes Unterfangen, Graetzens Tagebuch einer eingehenden psychologischen Untersuchung zu unterziehen. Peter Gay verzichtet in seiner tiefschürfenden Studie zu den Sexualitätsvorstellungen des Bürgertums darauf; vgl. Erziehung der Sinne, 447. 75 So notierte er beispielsweise während einer Liebschaft in Ostrowo: „Sobald ein Weib liebt, ist dieser Gegenstand ihr alles, das andre muß diesem weichen oder mit ihm in Verbindung stehen. […] So wollte es Gott. Die Liebe zu einem reinen Frauenzimmer soll das Vorbild der Gottesliebe und der Menschenliebe seyn.“ Tagebucheintrag vom [12.3.1841], Graetz, TB, 106 f, Zitat 107. – Bemerkenswert ist hier im Übrigen der Perspektiven-Wechsel, wenn Graetz seine Beobachtung eines weiblichen Verhaltensmusters („sobald ein Weib liebt“) umstandslos auf männliches Verhalten anwendet („Liebe zu einem reinen Frauenzimmer“) – und von dieser männlichen Perspektive erst eine universale Maxime („Gottesliebe“, „Menschenliebe“) ableitet. 76 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [12.7.1842]; ebd., 120 f, Zitat 121; siehe zu beider Beziehung auch oben, Kap. II 1.4. 77 Tagebucheintrag vom [12.6.1845]; Graetz, TB, 146.

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sie und durchaus nicht unerfahren in Liebesdingen, sorgte der Mittzwanziger Graetz auch in ihrem Falle für eine distanzierende Idealisierung zur Allegorie von eher blutarmen Tugenden78 oder zu einem Bild von geradezu zwanghafter Körperlosigkeit: „Marichen bleibt meine Freude, meine Poesie, die ich mir nicht anders denken kann als in strahlender Glorie engelgleicher Unschuld“.79 Solche Beschwörungen der „Unschuld“ und „Jungfräulichkeit“ Maries, die nahezu alle ihre Erwähnungen im Tagebuch dieser Zeit prägen, nahmen mitunter regelrecht groteske Züge an, wenn Graetz sie zusammen mit einer ausgesprochen sinnlichen Atmosphäre evozierte: O paradiesische Lust umgibt mich, ich athme Engelsathmosphäre, die Welt hat einen neuen festtäglichen Reiz in meinen Augen, die volle Knospe der Poesie ist mir erschlossen u. sie entfaltet einen Blumenkelch nektarsüßer Genüsse. Marichen ist das Zauberwort, das Zaubermädchen, das alle diese Freuden in der Unschuld ihres Herzens geschaffen. Was ist alle Metaphysik, alle dialektisch sich würgenden Wahrheiten, alle geschraubte oder verschrobene Weisheit neben einem solchen reinen Unschuldsmädchen!80

Die folgenden Zeilen erleuchten nicht nur den Kontext, sie werfen sogar ein helles Licht auf Graetzens Vorstellungswelt. Denn offenkundig hatte er strikte Vorstellungen zum vorehelichen Umgang zweier Liebender; gegen diese zu verstoßen bereitete ihm große Seelenpein. Dennoch hegte er große Zweifel an seiner eigenen Standhaftigkeit: „Wie glücklich bin ich, zu einem solchen Besitze gelangt zu seyn, aber auch wie tief besorgt, im Stande zu seyn, ein solches Wesen in ihrer freudigen Unschuld zu lassen.“ Und diese Zweifel hegte er mit Grund, mehr noch, er sah sich selbst auf dem schlimmsten Wege, Marichens Reinheit auszunutzen (und – so darf wohl hinzugefügt werden – zu beflecken): „Aus Mitleiden mit dem schwachen, armen, verbuhlten – wäre sie im Stande gewesen, ihm die Hand zu reichen!“81 Es scheint jedoch nichts geschehen zu sein. Angesichts solch heftigen Widerstreits von Wünschen und selbstquälerischen Befürchtungen vermochte er kaum etwas anderes zu denken, als vor seiner Inbrunst in die Sublimation der Religion zu flüchten: Es hat mich furchtbar frappirt, diese Naivität, diese wahnsinnige Güte, – heiliger Gott, hier in diesem jungfräulichen Herzen hast du dir einen Tempel gegründet. Und das ist wahr, dafür würde ich den Scheiterhaufen bestehen! Welch eine Erhabenheit 78 „Wenn ich mir ein Mädchen extra beim Himmlischen Schaddechan [Heiratsvermittler] zur Frau bestellt u. alle erforderlichen Eigenschaften spezifisch angegeben hätte, könnte ich keine bessere Aquisition machen. Zartsinn, Gesinnungsadel, Weichheit, Aufmerksamkeit, alle Tugenden edler Weiber ohne ihre Fehler.“ Tagebucheintrag vom [9.8.1845]; ebd., 150. 79 Tagebucheintrag vom [22.11.1845(?)]; ebd., 157. 80 Tagebucheintrag vom [27.6.1845 – die Angabe bei Michael (17.) ist ein Druckfehler]; ebd., 148. 81 Beide Zitate ebd.

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der Güte. Ich vermag nicht mehr zu schreiben. Diese Sprache hat mich auf tiefste erschüttert, so ging diese Liebe durch diese Offenbarung in eine Art religiösen Kultes über.82

Bereits früher hatte er Marichens Liebe mit seiner Religiosität in Beziehung gesetzt: „Der Hang einer reinen sittlichen unverdorbenen Jungfrau macht sittlich.“ Woraus er den bereits zitierten Schluss zog: „Ich bin jetzt fähig, zu meinem heiligen Gott aufzublicken.“ Doch Graetz verband mit seiner Braut Marie nicht nur solche gleichsam erlöserhafte Assoziationen.83 Sie hatte in seinen Augen auch noch andere, teilweise einander entgegengesetzte Züge. Mariechen symbolisierte ihm die „heiße Liebe einer Orientalin verbunden mit der Naivität eines Kindes u. der Keuschheit einer Vestalin.“84 Diese Züge verweisen wohl in erster Linie auf Graetzens eigene Begehrlichkeiten, die Aura des Religiösen ist bloße Verbrämung. Zum Vergleich mit dieser Wertewelt, wie er sie um seine spätere Gattin errichtete, sei kurz Graetzens Frauenbild allgemein skizziert, wie es sich auf der Grundlage des Tagebuches rekonstruieren lässt. Schon bei einer flüchtigen Lektüre lassen sich zwei bestimmte Typen herauskristallisieren. Die ersten Frauen, die im Tagebuch näher erwähnt werden, sind zwei Tanten in Wollstein; bei ihnen wohnte der Sechzehn-, Siebzehnjährige anfangs, bevor er in die leer stehende Wohnung seines verstorbenen Mentors, des bereits mehrfach erwähnten Bibliothekars Kronthal, zog. In beiden Fällen stieß der in seiner idealistischen Begeisterung reichlich weltfremde Graetz mit seiner ausschließlichen „Wiss- und Les-Begierde“ bei den eher an den Nöten des praktischen Lebens orientierten Damen auf wenig Gegenliebe: Die erste warf ihn aus dem Haus, weil er sich nicht in ihren Haushalt einpassen wollte; die zweite – „deren Name nur imm[er] zum Fluche sey“ – verlangte tatsächlich Geld für Kost und Logis. Zwar entging Graetz der „bedeutenden, freiwillig verschafften Gefahr“, sich als Lehrer verdingen zu müssen, doch blieb seine Verachtung für seine Zimmerherrin: „Ehr- und Geldgeiz, rächsüchtig, betrügerisch, spekulatif, diebisch, politisch, geil, schwatzhaft, dumm, zanksüchtig und prahlerisch sind die Eigenschaften, die ich an ihr kennen lernte.“ Dass er des ungeachtet in ihrem Haushalt Ruhe zum Lesen und Lernen fand (ganz zu schweigen von der Beköstigung), erwähnte er nur nebenbei.85 82 Ebd. 83 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [15.5.1850?]; ebd., 143 f, hier 144. – Mit dieser gleichsam erlösenden Funktion der Frau für den Mann bewegte sich Graetz innerhalb eines breiten Diskurses männlicher Autoren seit dem späten 18. Jahrhundert; vgl. Ritter, Diskurs, 61 ff. 84 Tagebucheintrag vom [29.6.1845]; Graetz, TB, 148 f. 85 Alle Zitate Tagebucheintrag [Herbst/Winter 1833]; ebd., 2 f.

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Das hier sich verdeutlichende Motiv der Frau, die den Gelehrten von seinen Studien abhält, ist das erste zentrale Motiv in Graetzens Frauenbild. Es findet sich insbesondere, wie bereits gezeigt, eindrücklich in seinen Schilderungen von Johanna Hirsch in Oldenburg, die den verehrten Samson Raphael Hirsch immer wieder mit den Fährnissen von Familie und Leben behelligte, und auch im Wehlauschen Haushalt in Ostrowo scheint es Graetz nicht anders ergangen zu sein: Wiederum sah er das Weib als alltagsverhaftetes Wesen, das – sei es aus Herrschsucht oder einfach aus Dummheit – die ihr grundsätzlich verschlossenen Kreise männlicher Weisheit zu stören trachtet. Ein Sich-Einlassen auf diese „Sphäre von Tassen mit goldenen Rändern und weißer Wäsche“ hätte laut Graetz allein zur Folge, dass der Mann „seiner Sphäre“ entrückt würde und sich nur mehr „weibisch“ verhielte.86 Zwar steht zu vermuten, dass derlei Konfrontationen zwischen den Sorgen und Verpflichtungen des Alltags auf der einen und den Ambitionen in Kunst, Wissenschaft, Religion und Gelehrsamkeit auf der anderen Seite in vielen Haushalten nicht nur des 19. Jahrhunderts vorgekommen sind, die bürgerliche Literatur jedoch entwirft ein gänzlich anderes Bild vom Zusammenspiel „männlicher“ und „weiblicher“ Sphären: Hier (in jüdischen wie in christlichen Kreisen) finden sich gerade für den Typus der Hausfrau und Mutter eher idealisierende Darstellungen. Die Mutter spielt hier eine zentrale Rolle und wurde gerade auch von jüdischen Autoren vor allem als Bewahrerin jüdischer Werte angesehen. Ihnen galt die Familie als Hort von Religion und Sittlichkeit, mit der Mutter als oberster Hüterin dieser Werte, in zentraler Rolle für den Erhalt und die Weitergabe der sittlichen Ordnung.87 Graetz hingegen zeigte in seinem Tagebuch eine gänzlich andere Wahrnehmung. Auch wenn sich Ansätze dazu bereits in seinen Jugendjahren in Posen finden lassen, so kommt zweifellos seinem schlechten Verhältnis zu der mehrfachen Mutter Johanna Hirsch für die Ausformulierung dieser für seine Zeit letztlich ungewöhnlichen misogynen Vorstellungen zweifellos eine zentrale Bedeutung zu. In einer überaus giftigen Miniatur beschrieb Graetz den Alltag dieser jüdischen Bürgerin, und diese zitierenswerte Stelle ist geradezu eine Karikatur der gängigen zeitgenössischen Vorstellungen eines Idealbildes von Sittlichkeit und Bildung – unter auffälliger Ausblendung der Mutterrolle. Stattdessen evozierte Graetz das Bild jener Kühe auf 86 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [7.6.1838]. Ebd., 61 (im Zusammenhang zit. oben, Kap. II 1.2.) 87 Vgl. etwa Hölscher, Weibliche Religiosität?; Hyman, Making, hier bes. 64–84; Sorkin, Transformation, 89 f. – Angesichts der bislang nur geringen Forschungen zu den hier relevanten Fragen bin ich Benjamin Maria Baader zu großem Dank verpflichtet, dass er mir vor Drucklegung Teile seiner Dissertation zur Verfügung gestellt hat, von der dieses Kapitel deutlich profitiert hat: Vgl. nun sein Buch Gender, Judaism, and Bourgeois Culture, hier v. a. die Einleitung sowie Kap. 3 („Beyond Halakhah: Judaism in the Mid-Nineteenth Century“).

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den fetten Weiden von Basan, denen der Prophet Amos Hartherzigkeit und Arroganz vorwarf.88 Johanna Hirsch und mit ihr alle Jüdinnen des aufstrebenden Bürgertums gerieten dem jungen Heißsporn so zu „modernen parôt ha-basan“ [Kühen von Basan]: Bei keiner Klasse hat die Kontagie der Hohen Aufklärung so sehr geschadet, wie bei den Töchtern der jüdischen Krösusse. Sie, die von Natur schon mit einer Dosis Stolz begabt sind, finden bei diesem Verhältnis noch mehr Vorschub. Als Mädchen lassen sie die Väter aus der religiös-indifferenten Zeit alles ohne Ausnahme lernen, womit sie einst prangen können, weil die Väter selbst ohne Lebens-Grundsätze sind. Sind sie einmal Mamsels, dann greifen sie zum Schiller, der ein Liebling der jüdischen Damen geworden ist, wie einst Aristoteles der hispanisch-maurischen Jehudim. Schiller stellt ihnen nur auf ein rosafarbenes Romanleben, und dies wollen die Dämchen in ihrem Kreis wiederfinden, darum blicken sie hoffärtig und verächtlich auf jede nichtschillersche Situation, und die mitzwôt der getreuen Töchter von Palästina müssen vor den Schöpfungen heimischer Anschauungen weichen. Stolz sind sie gegen Religion, stolz gegen jeden, der nicht ihre Bildung besitzt, auch gegen Eltern, zumal wenn diese religiös sind. Ihre Tugend ist eine Anständigkeit – eine Schillersche Scham. Denn so sehr sie auch jeden unanständigen Ausdruck vermeiden, so ist ihr Herz nicht minder ein Sitz von Unflath, der sich nur nicht kund thun darf. Nur wenn sie verheiratet sind, – dann wird die Theorie des jouir de l’amour praktizirt, und sie werden unersättlich, faul, jede Anstrengung und Sorge scheuend – und sie wandern vom Bett zum Sofa und von da wieder zum Bett. Ganz charakteristisch ist es hernach, daß sie nur um die hohen Stände und die Aristokratie buhlen, und da sie den Mittelstand als Juden noch nicht scheel ansehen können, wo sie von diesem im Gegentheil gehaßt und verachtet werden, so schütten sie das ganze Maas ihrer Verachtung auf die untern Stände der Juden – die nicht den Schiller gelesen haben. Ist eine solche Heldin schön – dann ist [die ganze Welt ihr zu eigen], und weh dem Manne, dem sie zu Theil wird – und ist sie nicht schön, dann gesellt sich zu diesen Höllentöchtern noch die Gefallsucht – und ist der Mann ihr nicht streng in Opposition – dann gute Nacht um den Charakter des Mannes, er wird über kurz oder lang ihr Werkzeug – ihr Spielball. In concreto liefert B[raunschweig, die Heimat Johanna Jüdel-Hirschs] solche Muster – die mich aber nichts kümmern; aber daß eine solche Belespritin – so ein trippliges, zimperliches Ding einen B[en]U[siel] beherrschen – ihn zu täuschen [vermag], daß er meint, sie wäre eins mit ihm und religiös – während ihr nichts gleichgültiger ist – diese Betrachtung schneidet mir das Herz.89

Sicherlich war dieses Porträt stark von seiner massiven Aversion gegen Johanna Hirsch geprägt. Und doch verlieh es durchaus seinen sonstigen Ansichten zur Rolle der Frau als Hüterin, gar Herrin des Hauses Ausdruck, wenn auch in böswillig überspitzter Form. Anders als den meisten seiner 88 Am 4,1: „Hört dieses Wort ihr Baschanskühe auf dem Berge Schomerons, die da die Armen pressen, die Elenden bedrücken, zu ihren Herren sprechen: Traget auf und laßt uns trinken.“ (Übersetzung Tur-Sinai). 89 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [26.8.1838]; Graetz, TB, 62 f.

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Zeitgenossen galt ihm dieser Typus Frau nicht primär als sorgende Mutter, sondern als sinnlose Zeitvergeuderin, galt ihm diese Art bürgerlichen Haushalts nicht als Hort von Perfektibilität, sondern bloß als Sammlung toten Wissens, und statt Sittlichkeit und Tugend sah er hier bloß Bigotterie und Eitelkeit wirken. Hirschs – und damit des Mannes allgemein – einzige Rettung vor solchem Schreckensregiment konnte folglich bloß sein, das Heft fest in der Hand zu behalten. Geschehe dies nicht und werde die Frau im Hause übermächtig, so nehme der Schrecken seinen Lauf. Dann vegetiere der männliche Charakter inmitten „launenhafter dummstolzer Umgebung – ja – les femmes – les femmes ce sont les furies de notre vie“.90 Neben Frauen als Hindernis gelehrter Tätigkeit findet sich in Graetzens Weltbild ein zweiter Typus, der des verführbar-schwachen Weibes. Diesem Typus galt zunächst eine Reihe von jugendlichen Schwärmereien von Graetz; die jeweiligen Objekte seiner Sehnsucht hatte er in seinem Tagebuch allerdings bestenfalls mit ihrem Initial bezeichnet.91 Neben einigen anderen Mädchen seines Alters zählten auch zwei seiner Cousinen in Wollstein dazu; als sie ihn auf seinem Weg nach Oldenburg in Leipzig bzw. in Halle wiedersahen, scheinen sie ihm Avancen gemacht zu haben. Wenngleich ihm durchaus klar war, dass hierbei Heiratsabsichten eine Rolle spielten, die durch das symbolische Kapital seiner Berufung durch Hirsch bedeutend gestärkt worden sein mochten, so missfiel ihm dieses Verhalten sehr.92 Sein Missfallen resultierte allerdings nicht allein aus dem konkreten Unbehagen, das er selbst in dieser Situation empfand, es war etwas Grundsätzliches. Als er anderthalb Jahre später in Oldenburg von einer Familientragödie in Halle erfuhr, war sein Kommentar eindeutig: „Meine Tante M […] in Halle ist todt, quod erat desiderandum; aber daß meine Kousine S. sich mit einem Kerl verunehelichte – o Gott – das ertrage ich nicht. Welche Schmach!“ Graetz hatte nur über einen Brief Behrends von dem Vorfall gehört, es scheint kein weiterer Kontakt zu den Verwandten an der Saale bestanden zu haben; gleichwohl sah er sich hiervon tief getroffen. Es schien ihm zweifelsfrei, dass sie charakterlich für solch einen Fehltritt disponiert gewesen sei: „Ich mochte die Dern immer nicht recht leiden. Sie hatte so was hoffärtiges und voluptöses in ihrem Wesen.“ Doch lag seiner Meinung nach der eigentliche Grund hierfür tiefer, nämlich in der Verführbarkeit der Frau an sich, die dann jedem Mann, der es darauf anlegt, zu Willen ist: „Das macht dies herumvagabundiren, der stete Umgang mit frechen Burschen, denen kein Fünkchen Sittlichkeit innewohnt.“ Entsprechend dieser Ideologie des Così fan tutte fragte er sich auch, 90 Tagebucheintrag [5.3.1841] mit deutlichem Verweis auf Johanna Hirsch und Frau Wehlau; ebd., 103 f, Zitat 103. 91 Vgl. etwa die „E.“, die ihn 1833/36 recht lange beschäftigt; ebd., 5–10 passim sowie 14 und – wahrscheinlich (sofern sie denn „E. Schiff“ ist) – 16. 92 Vgl. ebd., 3, 41, 43 und 165.

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wie es um seine andere Cousine in Halle stünde, diejenige, mit der er selbst einst geflirtet hatte – allein lediglich aus Sorge um sein eigenes Gewissen.93 Vergleichbares über weibliche Verführbarkeit und Verführungslust, die den Manne zu „something unjust“ hinzureißen vermag, beschrieb Graetz in aller Ausführlichkeit während seiner Zeit in Ostrowo. Er litt hier unter Langeweile und Aussichtslosigkeit, wodurch wiederum seine „Moralität“ litt – und er selbst wiederum unter dem Wissen seiner Fehltritte.94 In dieser Situation bandelte er unter anderem mit Marianne, der Tochter des Nebenrabbiners Isaak Fischel Goldschmidt, an; ihre Affäre scheint bemerkenswert intim verlaufen zu sein, zumal sie wohl des Öfteren Gelegenheit hatten, sich unbeobachtet zu treffen.95 Von Graetzens Seite aus war es bloß ein Zeitvertreib, zumal er das Mädchen zwar mochte, sie aber für wenig intelligent hielt.96 Die Dinge nahmen ihren Lauf, was der junge Hauslehrer im Nachhinein für Unrecht hielt: I have made something unjust on her. I have touched her bosom. She has permitted it at first, but afterwards she has it repented so much that I would have shed tears. She is innocent. I have the proof. […] I will not render her unfortunate. 93 „Wird es der andern besser gehen, und dann mea culpa! – ana selach na [= vergib, bitte]!“ Alle Zitate aus dem Tagebucheintrag [28.9.1838]; ebd., 65. – Besonderes Gewicht kommt diesem Tagebucheintrag mit seiner Mischung aus Verachtung und Selbstbetroffenheit schon auf Grund des Datums zu. Wie die Schlussformel belegt, schrieb Graetz diese Zeilen sehr bewusst am Rüsttag zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag. 94 Tagebucheintrag [21.9.1841]; ebd., 109. 95 Zumindest nach den Ausführungen von Lowenstein sei dies für jüdische Kreise ungewöhnlich gewesen; vgl. Anfänge, 143–150. Allerdings differenziert er ausschließlich zwischen Juden und Christen und nicht nach lokaler und sozialer Herkunft, zumal ihm für diese Epoche nur eine sehr bescheidene Quellengrundlage für das ohnehin diffizile Thema Sexualität zur Verfügung steht. Da er jedoch selbst für die einschlägigen Stellen bei Graetz bloß „verbale“ Kontakte annimmt, erscheinen seine Ergebnisse in diesem Punkt eher beschönigend; vgl. Anfänge, bes. 145 und 148 f. Für unterbürgerliche Schichten wird zumeist von einer eher weniger strikten Geschlechtertrennung ausgegangen, manche Forscher sprechen sogar von einer „sexuellen Revolution“ im 19. Jahrhundert (Edward Shorter); allerdings ist auch hier die Quellengrundlage nicht gleichmäßig; geographisch stehen vor allem der süddeutsche Bereich und einige städtische Zentren im Blickfeld. Vgl. Shorter, Illegitimacy; dazu Gestrich, Geschichte, 80–83, sowie allgemein Eder, „Gemieth und Lieb“, 30–45; ders., Respektabilität; eine exzellente Fallstudie mit m. E. durchaus vergleichbaren Rahmenbedingungen bietet Kienitz, Sexualität. – Zu Mariannes Vater Goldschmidt (der im Tagebuch bloß unter seinem Vornamen aufgeführt wird) vgl. Biographisches Handbuch I, 376, Nr. 0583. – In regelrechter Thomas Mann-Manier notierte Graetz alle intimeren Andeutungen in dieser Zeit auf Englisch, womöglich aus Distanzierungsbedürfnis. Die Vermutung, er könne dies aus Gründen der Geheimhaltung getan haben, erscheint nicht überzeugend, da die durchaus ähnlich gelagerten Bemerkungen über Malchen Wehlau, die er kurz nach seiner Liebschaft mit Marianne Fischel niederschreibt, entdeckt und verstanden werden – und schließlich zu seiner Entlassung führen. Vgl. Graetz, TB, 116, und oben, Kap. II 1.3. 96 „Marianne ist recht freundlich einnehmend, wenn auch nicht schön, wenn auch manchmal dumm. Ich muß mich auch dumm stellen, que faire. immer über Bücher sitzen kann ich durchaus nicht.“ Tagebucheintrag [14.2.1841]; Graetz, TB, 102.

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In der Folge bemühte er sich jedoch umgehend, die Schuld an den Geschehnissen ihr zuzuschreiben und sich selbst als den überlegenen Geist darzustellen: Therefore I must take measures to supprime her love more than to excite it. It is a very difficult affair, because she is very attached on me. But what to do. I have not begun, She has given me occasion. But I will not abuse her. She is very good, easy to be cultivade.97

Dieses Bild weiblicher Schwachheit und Begierde, gepaart mit moralischer und geistiger Unterlegenheit gegenüber dem Manne stellt denn auch den zweiten Typus von Frauen in Graetzens Weltbild dar. Zwar finden sich mit fortschreitendem Alter, unter dem Einfluss seiner Verbindung mit Marie Monasch und den damit einhergehenden, wachsenden Erfahrungen, auch differenziertere, wohlwollendere und auch neutrale Eindrücke von Frauen; diesen Schluss ergibt zumindest die Lektüre der überlieferten Briefe, ungeachtet des anders gearteten Quellengenres. Doch finden sich die beiden skizzierten, seit seiner Jugendzeit sich herauskristallisierenden Typen von Frauen ungebrochen an zentralen Stellen von Graetzens Werk wieder, vor allem als Schurkinnen in der Geschichte der Juden.98 Wie erwähnt ist diese Präsenz von Sexualität und Sittlichkeit im vorliegenden Zusammenhang insbesondere durch die ständige Verbindung mit dem Thema Religion von Interesse. Gerade hier wird deutlich, dass Graetz den Geschlechtern eindeutige Rollen beimaß – und sie dadurch hierarchisierte. So schrieb er im Vorfeld ihrer Hochzeit über seine Verlobte, die ja (wie zitiert) seinem schwankenden Charakter erst die notwendige Standfestigkeit gebe: sie ist entschieden, reif, aber auch ziemlich gleichgültig gegen das Religiöse. Ich bin ungewiß, soll ich sie darin lassen oder nicht. Einem weiblichen Herzen ist Religion ebenso nöthig wie Liebe; der Mann kann sich schon mit der Kritik durchhelfen.99

Es mag zunächst überraschen, dass ausgerechnet Graetz es für möglich hielt, dass ein Mann auch ohne Religion auskommen könne, wenn auch nur als Notlösung. Dies mag seinen eigenen Erfahrungen in den entbehrungsreichen Jahren zuvor geschuldet sein (dazu später mehr); doch erscheint es plausibler, seine Überlegung als Hinweis darauf zu lesen, dass er unter „Religion“ etwas eher Privates verstand, wohingegen „Judentum“ etwas Umfassenderes meint.100 Dahinter steht freilich die konventionelle hierarchisierende Ge97 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [8.3.1841]; ebd., 104 f. 98 Siehe unten, Kap. II 3.5. 99 Tagebucheintrag vom [1.10.1850]; ebd., 200. 100 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Definitionen von „Religion“ und „Judentum“ in seinem geschichtsphilosophischen Entwurf: „das Judenthum ist im strengen Sinne gar nicht Religion – wenn man darunter das Verhältniß des Erdensohnes [!] zu seinem Schöpfer und seinen Hoffnungen für seine hieniedige Lebensrichtung versteht – sondern es ist in diesem Sinne ein Staatsgesetz“. Graetz, Construction, 88 (16/17 f), zum Kontext vgl. unten, Kap. II 2.3.

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schlechter-Dichotomie – ein Gedanke, der in dieser Arbeit weiter verfolgt werden soll. Das so verstandene „Judentum“ lasse sich demnach rein rational erfassen; doch während ein solcher Zugang für Männer zumindest eine Option darstelle, bleibe er Frauen notwendigerweise verschlossen – die Hierarchie ist offenkundig und hatte Folgen für seine Interpretation der Geschlechterrollen insgesamt. Grundsätzlich bedeutete dieser Mangel an weiblicher Intellektualität, dass es beständige Aufgabe des Mannes war, eine anleitende und beschützende Rolle einzunehmen. So wollte Graetz selbst etwa die „zarte Blume“ Doris Kronthal vor „dem verpesten[den] Hauch des kalten Eigennutzes, der pfützigen Unsittlichkeit, der schnöden Irreligiosität“ beschützen, als diese es bereits ohne ihn geschafft hatte, sich einigermaßen in Breslau einzurichten.101 Graetzens misogyne Haltung wirkt auch deshalb so irritierend, weil er nicht immer so negativ mit Fragen von Liebe, Sexualität und Geschlechterbeziehungen umgegangen war. Als Siebzehnjähriger hatte er einen regelrechten Hymnus auf die Liebe in seinem Tagebuch geschrieben. Zwar war auch hier schon eine Hierarchie eindeutig, wenn er von der „Liebe zu einem würdigen Gegenstande“ sprach. Doch war der Vorgang an sich in keiner Weise negativ konnotiert. Vielmehr verspottete er gerade die Torheit der „sogenannten zivilisirten Menschen“, die „ihren Erfindungsgeist anstrengen, um Hindernisse wider diese [die Liebe] zu erfinden“, da „sie doch von der liebevollen Gottheit zum Vergnügen und zum Vorgenuß himmlischer Seligkeit gegeben zu seyn“ scheine. „Eros“ sah er dabei nicht nur als „de[n] Schutzgeist der Erdenkinder“ an, sondern überdies sogar „in beständigem Kampfe mit dem Satan, Neider der schlichten Freuden“.102 Nach Peter Gay war eine solche Einstellung „keineswegs untypisch für seine Klasse und seine Zeit.“103 Und doch entfernte sich Graetz schon bald von solch anakreontischer Heiterkeit. Mit einiger Wahrscheinlichkeit rezipierte er stark die Vorstellungen, die im Diskurs der Aufklärung über die Geschlechterrollen, vor allem aber über die Rolle der Frau entwickelt worden waren. Hierfür spricht allein schon der Befund aus der Untersuchung seines Tagebuches. Der zitierte Hymnus auf die Liebe war seiner Leidenschaft für ein Wollsteiner Mädchen namens „E.“ entsprungen, dem er u. a. Französischunterricht erteilte. Nachdem bald darauf diese Leidenschaft erkaltet war, tauchten in seinem Tagebuch keine weiteren Frauen mehr auf, für die er sich hätte erwärmen können, bis er sich 101 Tagebucheintrag vom [12.7.1842]; Graetz, TB, 120 f, Zitat 121. 102 Tagebucheintrag auf das Jahr [1834/35]; ebd., 5–9, Zitate 8. 103 Gay, Erziehung der Sinne, 447. – Zwar erscheint m. E. Gays stillschweigend durchgeführter Ansatz bezweifelbar, Graetz bereits als siebzehnjährigen Jeschivah-Schüler ohne Weiteres als Bürger zu zählen; doch steht – wie ausgeführt – zu vermuten, dass in unterbürgerlichen Schichten eine solche Einstellung sogar noch weiter verbreitet gewesen sein dürfte.

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nach seiner Rückkehr aus Oldenburg gleichsam aus Langeweile mit Marianne einließ. Ein Liebesleben scheint in den sechs Jahren nicht existent gewesen zu sein (wohlgemerkt: Es ist das Tagebuch eines adoleszenten jungen Mannes!). Stattdessen hielt er in seinem Tagebuch dieser Zeit neben Ausbrüchen seiner Leidenschaft für Hirsch vor allem Lektüreerlebnisse fest.104 Wie erinnerlich waren es insbesondere Autoren des 18. Jahrhunderts gewesen, die Graetz besonders begeistert hatten, in erster Linie Wieland, aber beispielsweise auch Rousseaus „Emile trug viel bei“, dem jungen Mann die seiner Meinung nach in Wieland verkörperten Tugenden nahezubringen.105 Gerade im literarischen Diskurs der Aufklärung hatte sich jene Ansicht etabliert, dass die Frau auf Grund ihrer Natur (durchaus im Sinne einer biologischdeterminierenden Essenz) charakterlich anders geartet sei als der Mann – eine der wesentlichen Grundlagen für die Vorstellungen über Geschlechterrollen bis weit ins 20. Jahrhundert.106 Die weibliche Natur wiederum konnte (sofern ungebändigt ausgelebt) verheerende Folgen zeitigen. Denn das Weib werde von schädlichen Leidenschaften geprägt, wie etwa Eitelkeit und Putzsucht, dem Hang zur Zeitverschwendung allgemein sowie einem Übermaß an Sinnlichkeit. Gerade auf Grund dieser der Frau eigenen sexuellen Energie seien ihre Eigenschaften sogar geeignet, zur Tyrannei weiblicher Herrschaft auszuarten, sofern ihnen nicht rechtzeitig Zügel auferlegt würden. Diese Zügel könnten nur durch eine Doppelstrategie stark genug ausgebildet werden, nämlich zum einen durch die Stärkung der dem Weibe ebenfalls eigenen Schamhaftigkeit, zum anderen aber durch ihre Unterwerfung unter männliche Herrschaft. Insbesondere Rousseau war es, der beispielsweise in seinem Emile wirkungsmächtig über die Bedeutung von (Hetero-) Sexualität auf die Persönlichkeitsbildung nachdachte. Dabei plädierte er für eine Erziehung der Frau gegen jene ihr eigenen, zerstörerischen Züge – wobei er stets in erster Linie an die Männer (und über sie an die Gesellschaft als Ganzes) dachte: „Von den Frauen hängen [die] Sitten und Leidenschaften [der Männer], ihre Neigungen und Vergnügungen, ja ihr Glück ab. Die ganze Erziehung der Frauen muß daher auf die Männer Bezug nehmen.“107 Diese gerade für die deutsche Rezeptionsgeschichte zentrale Argumentation 104 Für Details vgl. oben, Kap. II 1.1. – Allerdings sei einschränkend festgestellt, dass auch für diese Zeit (die Jahre 1835–1841) einige Beschneidungen der einzelnen Hefte des Tagebuches oder gar Ausreißungen von ganzen Seiten stattgefunden haben, die durchaus gerade erotische oder amouröse Abenteuer betroffen haben mögen. 105 Tagebucheintrag [Oktober/November 1835]; Graetz, TB, 10–13, Zitat 12. 106 Als locus classicus seien hier nur Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit angeführt, wo es heißt: „Des Weibes Natur ist eine andre als des Mannes; sie empfindet anders, sie wirkt anders.“ Auch Wieland berief sich hierauf; zit. nach Ritter, Diskurs, 59, zum Kontext vgl. ebd, 58 ff. Hierzu und zum Folgenden vgl. Carlebach, The Forgotten Connection; Frevert, Meisterdenker; Hull, ‚Sexualität‘. 107 Rousseau, Emile, 394. – Vgl. Hauser, Gesellschaftsbild; Schwarz, Sexual Politics.

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Rousseaus markierte „eine Wende im westlichen Denken über das Verhältnis zwischen sozialen bzw. politischen Strukturen und Heterosexualität“.108 Graetz gehörte offenkundig zu den direkten Rezipienten von Ideen wie diesen. Für eine solche direkte Rezeption von Rousseaus Vorstellungen zur Rolle der Frau, wie er sie in seinem Emile geäußert hat, spricht nicht zuletzt ein besonderes Charakteristikum von Graetzens Denken: Denn wie bereits angedeutet, spielte für ihn die Frau als Mutter keine Rolle. Zwar war auch für Rousseau letztlich eine das häusliche Leben bestimmende Moralität die Grundvoraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft, doch hatte sein Ansatz durchaus gesellschaftskritische Intentionen und bezog sich in erster Linie auf die Orientierung der Frau auf den Mann hin. Mit der Rezeption des direkt nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzten Emile in Deutschland verschob sich der Schwerpunkt dieser Vorstellungen. Johann Bernhard Basedow (1724–1790) oder der auch von Graetz gelesene Joachim Heinrich Campe (1746–1818) betonten die naturgegebene oder gottgewollte Hierarchie der Geschlechter, idealisierten nun aber die Frau zur Mutter und Hüterin des Hauses. In Anspielung auf eine viel gelesene Schrift von Johann Joachim Spalding (1714–1804) wurde dieser Lebensbereich zur „Bestimmung“ der Frau stilisiert.109 Dieser mütterliche Aspekt fehlte bei Graetz gänzlich. Anscheinend konnte er wenig mit ihm anfangen, zumal auch in seinem Freundes- und Bekanntenkreis, sofern er durch das Tagebuch benennbar ist, bis zu dieser Zeit keine Familiengründungen vorgekommen zu sein scheinen. So fanden denn bei ihm Männer stets wohlwollende Beachtung, sogar in ihrer Eigenschaft als Väter;110 hingegen zeigen nicht allein die beiden besonders drastischen Beispiele der Damen Hirsch und Wehlau, dass Graetz in seinen jungen Jahren mit einer Rolle von Frauen als Müttern nichts oder zumindest nichts Gutes anfangen konnte.111 Frauen erschienen ihm nur als tyrannische Megären oder schlimmer 108 Hull, ‚Sexualität‘, 57. 109 Mit dieser Stilisierung bekam die Rolle als Hausfrau und Mutter einen regelrechten Absolutheitsanspruch, wobei eine Frau Kenntnisse und Bildung lediglich durch Praxis, nicht durch Lektüre oder gar Schule oder Studium erwerben können sollte. Graetz vertrat zwar mitunter hieran anklingende Positionen – etwa in seiner Ablehnung von Johanna Hirschs Schiller-Lektüre –, doch spielt der Bereich der Mutterschaft und der Häuslichkeit insgesamt in seinen schriftlich niedergelegten Äußerungen nur eine untergeordnete Rolle. – Zu Rousseaus und Campes Vorstellungen von Weiblichkeit und ihre Ausbildung hin zur Mutterschaft vgl. immer noch Blochmann, ‚Frauenzimmer‘, 26–41, sowie Kersting, Konzepte. 110 Wenngleich auch dieses Thema nur beiläufig erwähnt wird. Vgl. etwa zu Hirsch oder auch zu Goldschmidt Graetz, TB, 66, 107. 111 Gerade für diesen Zusammenhang wäre es wünschenswert gewesen, mehr über seine Beziehung zu seinen Eltern zu erfahren. Doch gibt das Tagebuch als einzig verfügbare Quelle kaum Informationen hierzu preis, abgesehen davon, dass Graetz seine Eltern wie auch seine Geschwister kaum erwähnt. Doch scheint ihn der Tod seiner Mutter im Dezember 1848 stark getroffen zu haben; vgl. ebd., 181 ff.

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noch: als die Männer störende Faktoren. Wieder brachte er dies mit größter Deutlichkeit gegen Hirschs Ehefrau auf den Punkt: „Das ists, was mich erbittert, sie hält ihn auch zum Theil zurück, seinen jederseits herrlichen Charakter zu entfalten.“112 In Graetzens Anschauung erschien die Frau somit als ein entscheidendes Hindernis, dass der Mann seiner ureigenen Bestimmung als Mensch – der Bildung – nachkommen konnte. Dass er diese Haltung nicht allein auf sein intimes Hassobjekt Johanna Hirsch und etwas später auf „die Wehlau“ beschränkte, sondern potentiell auf Frauen allgemein ausdehnte, sollte ihn jedoch in einen bemerkenswerten und tief greifenden Gegensatz zu der überwältigenden Mehrheit seiner Zeitgenossen setzen. Konfessionsübergreifend spielte Theologie im 19. Jahrhundert weit weniger eine Rolle für die Definition von Religion und Konfession als vielmehr soziokulturelle Fragen, die ihren Ausdruck fanden in der vermehrten Betonung des Gefühls, der Innerlichkeit und des Gewissens, mithin durch Ausdrucksformen, die zeitgenössisch als „weiblich“ konnotiert wurden; mitunter ist in der Forschung gar von einer „Feminisierung“ von Religion die Rede.113 Während Graetz also in seinem Tagebuch dieser Jahre eine strikte Trennung der Geschlechtersphären (unter letztlich weitestgehender Ausblendung allen weiblichen Einflusses, ausgenommen natürlich seine zukünftige Frau) predigt, so ging der Zeitgeist nicht zuletzt im Judentum den genau entgegengesetzten Weg: „Fast alle (männlichen) Wortführer der Reformbewegung sahen in den Frauen die schärfste Waffe im Kampf gegen eine nachlassende, das Judentum insgesamt gefährdende Frömmigkeit, weshalb sie vielfältige Anstrengungen unternahmen, um sie [die Frauen] überhaupt erst einmal in das gottesdienstliche Leben zu integrieren.“114 Eine solche verstärkte Einbindung von Frauen in das gottesdienstliche und religöse Leben bedeutete aber für Graetz mit seiner ganz eigenen Rezeption jüdischer Tradition und aufklärerischer Ideen ein Gräuel, sah er hier doch den Mann in seiner intellektuellen Überlegenheit selbst in seinem wichtigsten und ureigensten Refugium bedroht. Denn so wie Graetz ja ein durchaus verführbarer Mann war, wie er sich wohl bewusst war, so galt dies auch für seine Geschlechtsgenossen. Während ihm aber bei Frauen solche Verführbarkeit ein Zeichen von Charakterschwäche bzw. ihrer Defizienz als Frau war, bedeutete die Verführbarkeit der Männer eine grundlegende Störung der erwünschten gesellschaftlichen Ordnung. So hatte er sich 1837, wie bereits erwähnt, ausgerechnet anlässlich eines Besuchs in einem christlich-reformierten Gottesdienst in Xions über die Sittenlosigkeit 112 Tagebucheintrag [29.–31.8.1839]; ebd., 63 f, Zitat 64. 113 Vgl. etwa Baader, When Judaism turned Bourgeois; Ders., Gender; Götz von Olenhusen, Feminisierung; Hölscher, Weibliche Frömmigkeit? 114 Lässig, Religiöse Modernisierung, 52. Zum Kontext und als eine detaillierten Studie dieser Entwicklung, die auch Hirschs Neo-Orthodoxie erfasste, vgl. Baader, Gender.

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im Umgang der Geschlechter miteinander ereifert – und dabei eine eindeutig männliche Warte eingenommen. Im Zusammenhang einer weitgehenden Kritik der christlichen Gottesdienstgestaltung monierte er das wenige Beten, auf Grund dessen die „Gedanken Spielraum [haben] sich auf sinnliche und Sinnlichkeit erregende Gegenstände zu richten“. Was er mit solchen „Gegenständen“ meinte, verhehlte er nicht – war es doch „die Eintheilung, daß die beiden Geschlechter zusammen, oder das männliche Gallerie und das weibliche parterre sitzen“, die das Abschweifen von der Liturgie ermöglichte.115 Dieses harsche Urteil war nicht allein seinem Generalverriss der evangelisch-reformierten Andacht geschuldet. Dass er den Anblick von Gottesdienst-Besucherinnen für männliche Gläubige aus grundsätzlichen Bedenken heraus für verwerflich hielt, zeigte sich in aller Deutlichkeit, als er 1840 aus Oldenburg kommend Station in Hamburg machte und im dortigen Tempel einem Gottesdienst beiwohnte. Es kann nicht wundernehmen, dass der Hirsch-Famulus Graetz keine große Neigung dazu hegte, Gefallen an der Kultusreform im zeitgenössischen Judentum zu finden, die im Hamburger Tempel eine ihrer führenden Institutionen hatte. Doch woran er seine Kritik an einer Gottesdienstform, die er als „abschreckend unjüdisch“ empfand, festmachte, ist beachtlich: „Wie man nur so weit gehen konnte! Frauen dicht neben Mannespersonen. Daß man die Hauptsache des Judenthums so außer Augen setzen kann.“116 In den ihm bis dahin bekannten jüdischen Gebetshäusern dürfte eine strenge Trennung der Geschlechter geherrscht haben, wobei die Frauen auf einer Empore oder gar gänzlich verborgen saßen. Doch wäre es zweifellos übertrieben zu behaupten, Graetz habe in der bloßen Sitzordnung „die Hauptsache des Judenthums“ gesehen. Vielmehr bezog sich sein Entsetzen aller Wahrscheinlichkeit nach darauf, dass hier allgemeine Regeln des Umgangs der Geschlechter miteinander ignoriert und nicht zuletzt auch ihre grundlegende Hierarchie gestört wurde: Jenseits des Bereichs individueller Religiosität war für ihn der Kultus, war das Judentum eine männliche Angelegenheit, bei der der Anblick von Frauen oder gar ihre Nähe nur stören konnte. Insofern stellte eine in dieser Hinsicht sexuell zu verstehende Sittlichkeit für Graetz die „Hauptsache des Judenthums“ dar – ein Befund, der sich auch mit der Untersuchung seiner Schrift zu Gnosticismus und Judenthum deckt.117 115 Beide Zitate Tagebucheintrag vom [26.2.1837 – die Angabe bei Michael (20.) ist ein Druckfehler]; ebd., 31 f, hier 31. 116 Alle drei Zitate Tagebucheintrag vom [1.8.1840]; ebd., 84. – Hirsch selbst sollte später in Mähren die Altgläubigen unter anderem mit seinen Neuerungen in Sachen Geschlechterrollen gegen sich aufbringen, etwa durch die Zulassung der Brautmutter als Begleitung ihrer Tochter in den eigentlichen Synagogenraum. Vgl. Rosenbloom, Tradition, 92, sowie Baader, Gender, Kap. 3. 117 Vgl. oben, Kap. II 2.1.

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Selbst sein Überschwang in Bezug auf Marichen passt in diese Kategorisierung. Denn wie ihre Altergenossinnen trat ja auch sie als Verführerin auf, wenngleich mit entscheidender Veränderung in der Bewertung: Vermutlich gerade weil anscheinend manche der gemeinsamen Intimitäten von ihr ausgingen, erfolgte in seinen Aufzeichnungen die zu Beginn gezeigte Hypostasierung ihrer Reinheit und Unschuld, ihre Stilisierung zu einem engelgleichen (und damit zumindest im Bericht gleichsam körperlosen) Wesen.118 Möglicherweise war diese Entkörperlichung auch schlichtweg notwendig. Denn tatsächlich begehrte der junge Verlobte seine Braut sehr, auch dies wird im Tagebuch unmissverständlich klar.119 Und wie es scheint, war es nicht einmal unüblich, dass beide gemeinsam die Nacht verbrachten, ohne dass es zum Äußersten kommen sollte. Zumindest ein Mal jedoch drängte es ihn, „das Verbot [zu] übertreten, das mir M[arichens] unschuldige Züchtigkeit u. ich selbst mir auferlegt“, doch wurden sie von Maries Mutter gestört – heftige Vorwürfe waren die Folge.120 Insofern ist es nicht einmal unverständlich, dass Graetz die Reize seiner Braut in seinen Aufzeichnungen so weit herunterspielte, wie es nur geht. Dennoch: die Verbindung mit Marichen, der eine seiner beiden „Lieblingswünsche“, war auf gutem Wege – doch zur letzten Erfüllung dieses einen bedurfte es der Beförderung auch seiner wirtschaftlichen Existenz; in diese Richtung zielte der zweite jener beiden Wünsche, wenn auch immer unter den Vorzeichen eines Wirkens für das Judentum in seinem eigenen Sinne. Diese Möglichkeit sah der junge, engagierte Graetz am ehesten in der Zusammenarbeit mit dem Dresdner Oberrabbiner Zacharias Frankel und der von ihm angedeuteten Richtung, die sich als ein „positiv-historisches Judentum“ etablieren sollte.

2.3 Die Konstruktion eines „positiv-historischen“ Judentums? Mitte der 1840er Jahre standen Graetz scheinbar viele Wege offen: Seine Polemiken gegen Geiger hatten ihm Aufmerksamkeit gebracht, und das Doktordiplom verschaffte seinen inhaltlichen Äußerungen mehr Gewicht – eine verhältnismäßig gute Basis also, um sich eine gesicherte Position zu suchen. 118 So etwa im Tagebucheintrag vom 31.8.1847: „M[ariechen] war voller Freude u. Gluth auf dieser Reise. Elle me fut mettre la main sur son sein pur et virginal, elle était chaste et voluptueuse, c’était un charme doux.“ ebd., 173 f, hier 174. 119 Vgl. etwa seinen Deflorationstraum, wobei sich der geträumte „junge Mann“ wohl nur auf ihn selbst beziehen kann; ebd., 172. 120 Graetz verlieh anschließend seiner tiefen Zerknirschung Ausdruck, diesmal auf Griechisch und Hebräisch; Tagebucheintrag [30.8.1846]; ebd., 163. – Zum vorehelichen Zusammensein vgl. auch ebd., 173, 196, sowie womöglich 198 f.

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Doch ungeachtet des somit errungenen symbolischen Kapitals plagten ihn weiterhin Zweifel an der Valuta seiner Erfolge: Er fühlte sich niedergeschlagen, bedenke ich meine schwachen Kräfte, die jetzt zum Kampf herausgefordert werden für eine heilige aber verrathene Sache gegen Böswilligkeit und Sophismus in Konkurrenz mit energischen genialen Kräften. Wird sich da nicht die vernachlässigte Elementarbildung, der Mangel an Schule, der unvermittelte Sprung vom blöden eckigen Bochur zum beredten Wortführer, vom tölpligen Kleinstädter zum weltmännischen auf Imponiren hingedrängten Volkslehrer […?,]

klagte er – und brach mitten im Satz ab. Bei aller verdeckter Eitelkeit und ostentativer Selbstbestätigung vermochte er dem Gedanken an eine bloß „sekundäre Rolle“ durchaus etwas abzugewinnen, in welcher er sich im „Glanz [s]eines Tageshelden“ sonnen konnte (wie weiland bei Hirsch). Als sich ihm nun der Weg zu einer „ersten Rolle“ zum Ruhme des Judentums zu bahnen, sich ein Augenblick zu ergeben schien, in dem seine „ehrgeizigen Träume sich zur Wirklichkeit zu verdichten einen guten Anfang gemacht haben“, musste er doch wieder einmal Gottes Beistand beschwören, um sein Selbstbewusstsein angesichts dieser Herausforderungen zu stärken.121 Konkreter Anlass dieser Reflexionen waren die ausgesprochen ermutigenden Reaktionen auf seine tolldreiste Rezension von Geigers Mischnah-Buch gewesen. Denn im Laufe der Publikation kamen nicht mehr nur aus Breslaus Kreisen Reaktionen; man war auch in Berlin und in Dresden auf ihn aufmerksam geworden: „Dr. Sachs, der Tagesheld, der zu den Personen gehört, die einen symbolischen Eindruck machen, schreibt mir einen sehr komplaisanten feinen Brief“, und vielleicht wichtiger noch: Zacharias „Frankel, der Hochgeehrte, bewunderte und beneidete, der gelehrte Forscher, der männliche Charakter, läßt mich […] auffordern, an seiner Monatsschrift mitzuarbeiten.“ Graetzens Polemiken gegen den Breslauer Rabbiner war sein Entréebillet in die jüdischen Modernisierungsdiskurse geworden, was ihm insofern eine „um so größere Freude [… war], als hier das Judenthum mit [s]einem Ehrgeiz Hand in Hand gehen“ konnte.122 Seine Hymne auf Frankel zeigt freilich auch, dass er selbst seinen Platz keineswegs in der ersten Reihe sah, sondern er sich nun – und zunächst wie stets vorbehaltlos – Frankel anschloss.123 Der in Prag geborene Zacharias Frankel (1801–1875) war seit 1836 Oberrabbiner in Dresden und der wohl bedeutendste Protagonist jenes vermit121 Alle Zitate aus dem Tagebucheintrag vom [19.1.1845]; Graetz, TB, 139. 122 Alle drei Zitate Tagebucheintrag vom [19.1.1845]. Ebd., 139. 123 Vgl. ebd. – Ungeachtet aller in der Folgezeit auftretenden Divergenzen sowohl menschlicher als auch religiöser und wissenschaftlicher Natur, scheint Graetz der Person Frankels auch in späterer Zeit mit großer Bewunderung begegnet zu sein. Moritz Güdemann erinnerte sich sogar an „außerordentliche Zuvorkommenheit und Verehrung, fast möchte ich sagen Unterwürfigkeit, die Graetz“ Frankel entgegengebracht habe, zumindest in den 1850er Jahren; Erinnerungen, 51.

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telnden dritten Weges zwischen Orthodoxie und radikaler Reform, der einen gemäßigten Fortschritt vertrat und von Frankel selbst in den 1840er Jahren als „positiv-historisches“ Judentum bezeichnet wurde.124 Der Dresdner Oberrabbiner hatte seine herausragende Stellung nicht allein dadurch gewonnen, dass er immer wieder klar Positionen zu beziehen wusste; darüber hinaus tat er sich auch organisatorisch hervor, als er – ähnlich Geiger – für seine Richtung ein eigenes Forum der Reflexion wie der Auseinandersetzung schuf. Anders als etwa Fürsts Orient sollte die neugegründete Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums also vor allem jüdischen Tagesfragen und damit verbundenen Themen gewidmet sein, ohne die Wissenschaft (vor allem historische Fragen mit Bezug zur Gegenwart) aus den Augen zu verlieren – Ziel der Zeitschrift war es, durch Auslotung der Möglichkeiten und Grenzen von Reformen in den zentralen Institutionen Rabbinat, Synagoge und Schule eine Orientierung zu geben.125 Dementsprechend begann gleich das erste Heft der Zeitschrift im April 1844 mit einem programmatischen Aufsatz des Herausgebers Ueber Reformen im Judenthum, in dem Frankel seine Ansichten zur Frage der Modernisierung zusammenfassend präsentierte: Einerseits bekräftigte er den Offenbarungscharakter der Torah uneingeschränkt und nahm sie dadurch von jeglicher historischkritischer Untersuchung aus; andererseits aber gab er alle weiteren Bereiche der jüdischen Geschichte – einschließlich der von der sich etablierenden Orthodoxie für geoffenbart erachteten Mündlichen Lehre – frei für Historisierung und wissenschaftliche Bearbeitung. Hier argumentierte Frankel mit einem zweifachen Offenbarungsbegriff. Wie er im Januar 1845 noch präzisierte, betrachtete er durchaus die rabbinische Tradition als Offenbarung, jedoch nicht als unmittelbar durch Gottes Wort inspiriert (und somit dazu berechtigt, einen Absolutheitsanspruch zu erheben); vielmehr entfaltete sich erst in dieser Tradition die am Sinai geoffenbarte Wahrheit des Judentums und stellte zugleich eine Offenbarung eigenen Rechts dar, so dass erst diese beiden Arten der Offenbarung zusammengenommen und gleichberechtigt das Judentum in seiner Gesamtheit darstellten.126 Geprägt von dem allgemein historistischen Geist der Zeit, allerdings besonders beeinflusst von Ideen Herders und Savignys, ging Frankel grundsätzlich vom historisch-ge124 Die „Fortbildung“ des Judentums solle „durch wissenschaftliche Forschung auf positivem, historischem Boden“ erfolgen. [Frankel], Anzeige und Prospectus, 5. – Zur geistesgeschichtlichen Einordnung vgl. Brämer, Frankel, 157–176. Zu Frankel allgemein vgl. neben Brämers umfassender Studie noch Meyer, Response, 84–89; Schorsch, Frankel. 125 Vgl. [Frankel], Anzeige und Prospectus, passim. – Mit dieser Konzeption ähnelte Frankels Zeitschrift stark Abraham Geigers Wissenschaftlicher Zeitschrift für Jüdische Theologie (1835–1848), auch in Bezug auf existentielle Probleme der Teilnahme und der Wirtschaftlichkeit. Vgl. Brämer, Frankel, 212–217, und ders., Auf der Suche, 214. 126 Vgl. Frankel, Die Symptome, 15 f. – Hierzu und zum Folgenden vgl. Brämer, Frankel, 168–174.

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netischen Charakter des Judentums aus. Dabei stellte für ihn die rabbinische Tradition die historische Entwicklung des Judentums dar, die von dem kollektiven Willen der „Gesammtheit“ des Volkes getragen sei. Dieser Konsens des Volkes, wie ihn auch der Talmud (bAS 36a) als konstitutiv anerkenne, sei flankiert von der jüdischen Wissenschaft, bestehend aus Theologen und Volkslehrern.127 In diesem Zusammenwirken von intellektueller Elite und Volk erkannte der Dresdner Oberrabbiner einen Prozess, der die Offenbarung in legitimer Weise fortführte und somit die geoffenbarte Wahrheit des Judentums erst in dessen Geschichte sich entfalten ließ. Dieses durchaus an Friedrich Schleiermacher (1768–1834) anknüpfende Verständnis positiver Religion bot eine Möglichkeit, den in der Moderne aufgeworfenen Widerspruch zwischen der absolut verstandenen Offenbarung und der Deutungsmacht der Tradition aufzulösen – es eröffnete freilich auch vielfach Raum für den Vorwurf mangelnder Eindeutigkeit.128 Einen entscheidenden Schritt dahin, aus seiner individuellen Mittelposition zwischen Reform und Orthodoxie eine eigenständige und klar profilierte Richtung innerhalb des Judentums zu machen, tat Frankel im Juli 1845 auf der zweiten Rabbinerkonferenz in Frankfurt am Main.129 Nachdem er die Braunschweiger Rabbinerversammlung des Vorjahrs weitgehend als Herausforderung, ja als Bedrohung angesehen und in seiner Zeitschrift entsprechend kommentiert hatte, hatte er sich nun zur Teilnahme bereitgefunden, nachdem der gastgebende Frankfurter Rabbiner Leopold Stein (1810–1882) ihm wohl Unterstützung für seine Anliegen zugesichert hatte. Doch stellte sich sehr schnell heraus, dass Frankel mit seinen grundsätzlichen Bedenken gegenüber der ebenso grundsätzlich reformwilligen Versammlung nicht die Gefolgschaft fand, die er vielleicht erhofft hatte. Bereits über den ersten Tagesordnungspunkt, die Frage des Hebräischen als Liturgie- und Gebetssprache, kam es zum Bruch. Ungeachtet einiger kleinerer Konzessionen war der Dresdner Oberrabbiner nicht bereit, von der zentralen Notwendigkeit des Hebräischen als heiliger Sprache im Gottesdienst abzusehen130 – er trat unter Protest aus der Versammlung aus und formulierte sein Austrittsschreiben als ein flammendes Bekenntnis „des positiv-historischen Judenthums“.131 Mehr noch, er veröffentlichte seinen Protest in der Frankfurter Oberpostamtszei127 Frankel, Ueber Reformen, 19 f. 128 Der ambivalente Charakter von Frankels Ansichten wurde besonders in der Auseinandersetzung mit Samuel Holdheim deutlich, dessen Buch Ueber die Autonomie der Rabbinen und das Princip der jüdischen Ehe (1843) der von Holdheim persönlich angegriffene Frankel in seiner Zeitschrift nach einigem Zögern rezensierte; vgl. Brämer, Frankel, 207–212, und Gotzmann, Jüdisches Recht, 221 ff und 238–246. 129 Zum Folgenden vgl. Brämer, Frankel, 225–246. 130 Vgl. die differenzierte Bewertung von Brämer ebd., 238–242. 131 [Frankel, Ausstrittschreiben; in:] Protokolle und Aktenstücke, 86–90, Zitat 88; auch in AZJ 9 (1845), 474–476, Zitat 475; Orient 6 (1845), 245.

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tung, einer der wichtigsten Tageszeitungen des Deutschen Bundes. Mit diesem effektvoll inszenierten Akt markierte er den Bruch mit den Reform-orientierten Rabbinern, obwohl er doch prinzipiell zu ihnen zu zählen war, und verschaffte seiner Position damit die denkbar größte Öffentlichkeit. In der jüdischen Presse – der Allgemeinen Zeitung des Judenthums und dem Israeliten des 19. Jahrhunderts auf Reform-Seite, dem Orient auf konservativer – wurden der Frankfurter Eklat und seine Folgen ausführlich diskutiert.132 Frankel erhielt in der Folge eine Reihe von Dankesadressen und Solidaritätsbekundungen, worunter die Gemeinden Frankfurt und Breslau herausragten. Das Breslauer Schreiben war umso bemerkenswerter, als es nicht bloß aus jener Stadt kam, die die nächste Rabbinerversammlung ausrichten sollte, sondern darüber hinaus es auch noch hinter dem Rücken des dortigen Rabbiners Abraham Geiger entstanden war. Überdies war es von Anhängern aller Lager unterzeichnet, so dass es so scheinen musste, dass ausgerechnet der Hauptort der Reformbewegung, gerade Geigers eigene Gemeinde, den Reformer Lügen zu strafen schien, wenn er im Namen einer Mehrheit der deutschen Juden auftrat! Alles Schwindel und üble Machinationen, heulte die AZJ auf und machte als Initiator Geigers bereits bekannten Gegner aus: Graetz.133 Dieser freute sich derweil diebisch über sein Husarenstück, zumal er außerdem als anonymer Korrespondent im Orient den Eindruck zu vermitteln gewusst hatte, dass sich im Breslauer Judentum eine konservative Bewegung herausbildete.134 Allein dieser Triumph war nur kurzlebig, der Protest war schneller formuliert als eine eigene Position aufgebaut. Dies wurde nur zu deutlich, als Frankel im Jahr darauf seinerseits zu einer „Theologenversammlung“ aufrief, um auf diese Weise zu gegenwartstauglichen Formen von Gottesdienst und Lehre im Sinne seines positiv-historischen Judentums zu kommen. Nach anfänglicher Unterstützung (und heftiger Kritik seitens der Reform wie der Orthodoxie) verlief das Projekt letztlich im Sande, ungeachtet der mehr als vierzig Anmeldungen, die es zwischenzeitlich gegeben hatte.135 Graetz reiste zwar nach Dresden „zur R[abbiner-] V[ersammlung]“, wie er in seinem Tagebuch explizit festhielt, doch fand er sich dort mit den Dresdnern Frankel, Bernhard Beer (1801–1861) und Wolf Landau (1811–1886) allein wieder. Dieses 132 Vgl. den Überblick bei Brämer, Frankel, 242–246, zur Einordnung ebd., 253. 133 Graetz habe sich „mit List und Intriguen die größere Zahl der Unterschriften zu jener Adresse verschafft.“ AZJ 9 (1845), 532 f, Zitat 532. 134 Vgl. Graetz, TB, 151, sowie Orient 6 (1845), 277 f; vgl. die Antwort Frankels ebd., 292. – Zwar sind beide Artikel nicht gezeichnet, doch zählt Brann sie überzeugend in seinem Verzeichnis der Schriften von Graetz auf. 135 Vgl. Frankel, Aufruf zu einer Versammlung jüdischer Theologen. – Zu den Angemeldeten zählten neben Frankel und Graetz beispielsweise auch Rapoport, Sachs, Fürst und sogar Gedalja Tiktin. Vgl. die Liste in Frankel, Einiges, 339, Anm.*. – Zum Projekt einer Theologenversammlung vgl. Brämer, Frankel, 246–254.

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Scheitern war ein herber Schlag. Er hatte große Hoffnungen in das Projekt gesetzt: Nicht nur in bezug auf sein eigenes berufliches Fortkommen, um endlich Marichen heiraten zu können; auch hatte er sich davon einen entscheidenden Ruck für das Judentum erhofft, der nicht nur ohne Geiger stattfinden würde, sondern nicht zuletzt sogar gegen den Breslauer Rabbiner gerichtet sein sollte.136 Die Enttäuschung darüber, dass in Dresden letztlich niemand zusammentreten konnte, musste umso herber sein, als im Monat zuvor in Breslau Geiger selbst immerhin eine weitere reguläre Rabbinerversammlung zusammengebracht hatte; die Freude, dass sie deutlich schwächer besucht gewesen war als ihre Frankfurter Vorgängerin, konnte da nur kurzfristig anhalten. Und auch Graetzens eigene heftigen Polemiken gegen die Geigersche Versammlung in der lokalen wie in der überregionalen Presse – im Orient ebenso wie in der Frankfurter Oberpostamtszeitung und der hochkatholischen Breslauer Allgemeinen Oder-Zeitung – waren allenfalls ein Sturm im Wasserglas gewesen.137 Umso vollmundiger war seine Propaganda zu Gunsten der Frankelschen Versammlung geraten, welche er zu einem epochalen Ereignis von europäischem Rang mit einem gewissen exklusiven Charakter zu stilisieren suchte.138 Angesichts dessen konnte er fast von Glück sprechen, dass die Presseorgane der Reform diesen vollständigen Fehlschlag ignorierten – und nicht zu einer schmählichen Blamage auswalzten! Sein Scheitern auf ganzer Linie ließ Graetz die Reise nach Dresden als „Lari fari wie [s]ein ganzes Leben“ erscheinen.139 Zugleich nahm er nun erstmals die sich entwickelnden Schatten auf dem in seinen Augen bis dahin so glänzenden Bild Frankels wahr, die sich schon länger angedeutet hatten. Zumindest ein weiterer Grund für das Ende des hymnischen Tons auf den ersehnten Heros aus Dresden waren Frankels nicht gar so begeisterte Kommentare und Anmerkungen zu Graetzens Veröffentlichungen in dessen Zeitschrift. Frankel pflegte Beiträge seiner Autoren mit kritischen Kommentaren zu versehen, mitunter auch mit direktem Widerspruch, was immer wieder zu Missstimmungen führte.140 Als Graetz erstmals hier publizierte, nahm er dies in seiner Begeisterung überhaupt nicht wahr: 136 Dies legt der Umstand nahe, dass Graetz darauf gehofft hatte, neben Gedalja Tiktin auch Samson Raphael Hirsch gewinnen zu können; anderthalb Monate später erhielt er einen Brief von Hirsch, worin jener sein Fernbleiben begründete, was bei seinem ehemaligen Schüler bloß Bitterkeit auslöste: „Von Hirsch habe ich heute wieder Brief. Noch der Alte! Nichts thun, amar far niente! Nicht zur Theologen Versammlung, warum? Keine Kompetenz! O, O wie wird es aus dem Judenthum werden! Diese Zersplitterung! Dieses gegenseitige Abstoßen!“ Tagebucheintrag vom [26.10.1846]; Graetz, TB, 167 f. 137 Vgl. ebd., 163. 138 Vgl. etwa den Bericht in der Allgemeinen Oder-Zeitung vom 5.8.1846, Nr. 102, Beilage [unpaginiert]. 139 Tagebucheintrag vom [2.10.1845]; Graetz, TB, 165; ähnlich ebd., 164. 140 Vgl. Brämer, Frankel, 217–220.

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Wieder ein glücklicher Tag, den ich nicht vermuthet. In Frankels Zeitschrift steht meine Arbeit, die Septuaginta im Talmud, mit vielen Komplimenten von Seiten Fr[ankels] versehen – geistreiche Kombinationen – ingeniöse Auffassung wurden sie genannt.141

Was der junge Wissenschaftler hier enthusiasmiert ignorierte war der Umstand, dass Frankel in seiner mehr als drei Seiten langen Nachbemerkung des Herausgebers nicht nur manchen Zweifel an oder Widerspruch zu Graetzens Ausführungen äußerte, sondern auch feststellte, dass seine angeführten Quellen mitunter „gerade das Gegentheil von dem, was er vermeint“ bewiesen.142 Bereits beim zweiten Mal nahm der Gescholtene die Kritik jedoch wahr, ohne sie recht verstehen zu können (oder zu wollen), und als sein Herausgeber ihm beim dritten Male Oberflächlichkeit vorwarf, vermerkte er trotzig: „Und doch bin ich überzeugt, daß ich Recht habe.“ Er fühlte sich verletzt.143 Die Bedeutung von Frankels „Anmerkungen“ scheinen ihm erst im Herbst 1846 klar geworden zu sein. Doch waren sie im Falle des Septuaginta-Aufsatzes und der Besprechung zu den Einleitungsschriften in den Talmud eher marginal. Ungleich zentraler lagen hingegen die Streitpunkte zwischen Herausgeber und Autor im Falle des zweiten Beitrags, den Graetz für die Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums schrieb, im Falle nämlich seiner Construction der jüdischen Geschichte. Diese als „Skizze“ betitelte Analyse hatte nichts Geringeres zum Ziel, als geschichtsphilosophisch das Wesen des Judentums herauszuarbeiten – in letzter Konsequenz also jüdische Identität historisch zu definieren. Damit handelt es sich also bei dieser „Skizze“ um einen Schlüsseltext für die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit und muss insofern eingehender untersucht werden. Graetz eröffnete seinen Text mit der programmatischen, umfassenden Frage: „Was ist Judenthum?“144 Seine Versuche zu einer Antwort zu kommen, stellen nicht allein den in der Forschung am meisten beachteten Einzeltext in Graetzens Werk überhaupt dar; vielmehr handelt es sich auch um den wohl bedeutendsten Beitrag zu Frankels kurzlebiger Zeitschrift überhaupt. Den Herausgeber aber provozierten Greatzens Überlegungen zu einem fundamentalen Widerspruch, auf den noch zurückzukommen sein wird; mehr noch, Frankel leitete Graetzens Deutungs-Versuche mit einer „Selbstver141 Nicht näher datierbarer Tagebucheintrag vom Winter 1845; Graetz, TB, 157. 142 Vgl. Frankel, Nachbemerkung [zu Graetz, Septuaginta], Zitat 438. 143 Vgl. Graetz, TB, 162, und den Tagebucheintrag vom [30[?].8.1846]; ebd., 163 f, Zitat 164, sowie Frankel zu Graetz, Einleitungsschriften, 310. 144 Zitat Graetz, Construction, 81. Zitiert wird im Folgenden nach der Originalausgabe (wegen der leichteren Zugänglichkeit mit zusätzlicher Seitenangabe für die beiden – gekürzten und nicht kritischen – deutschen Neuausgaben von 1936 [Feuchtwanger, Zitat hier 5] und 2000 [Römer, Zitat 9]).

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theidigung“ ein, die die schier unüberbrückbare inhaltliche Distanz der beiden von vornherein unmissverständlich deutlich machte.145 Immerhin ist es diesen Distanzierungen seitens Frankel zu verdanken, dass Graetz seinen geschichtsphilosophischen Essay überhaupt im Tagebuch erwähnt.146 Auf Grund dieser Quellenlage lässt sich weder eine Motivation noch ein genaues Datum für die Abfassung der Construction eindeutig feststellen. Allein es erscheint unwahrscheinlich, dass es sich um eine Auftragsschrift gehandelt haben sollte; zugleich spricht manches dafür, dass sie in den verzweiflungsreichen Monaten des Jahres 1846 verfasst worden war, die erfüllt waren von schweren Sorgen um seine berufliche und familiäre Zukunft. Neben einem vagen Hinweis des Tagebuches147 gilt dies ebenso für die im Text vorherrschende provokante Attitüde eines angry young man sowie die nicht immer konsequente Argumentation. Keineswegs handelt es sich um eine abgewogene und gründlich durchgearbeitete Programmschrift mit weitreichenden Zielsetzungen148 – vielmehr gilt es wohl, den Untertitel ernst zunehmen, der nichts weiter ankündigt als: Eine Skizze. Gleichwohl war das Ziel hochgesteckt, nämlich: „die jüdische Geschichte begrifflich zu construiren“.149 Diese heute leicht missverständliche Formulierung bezog sich auf die „constructive Methode“ als analytischen Zugang und damit auf den Entwurf eines Gedankensystems, aus dem sich entweder die Fülle der jeweiligen Gegebenheiten ableiten lässt oder das die Fülle des Gegebenen ordnen soll.150 Der Text selbst bleibt hinsichtlich der Frage unbestimmt, ob er nun eine phänomenologische oder eine spekulative Zugangsmöglichkeit wählt. Dies zeigt sich etwa in der knappen einleitenden Darlegung: 145 Vgl. Frankel zu Graetz, Construction, 81 und 89 f [fehlt in den beiden populären Neuausgaben]. – Zur Construction vgl. etwa Avineri, Profile, 39–51; Baron, Graetz and Ranke; Cohen, Philosophie; Feuchtwanger, Geschichtsphilosophie; Liebeschütz, Judentum, 135– 141; Meisl, Graetz, 36–39; Michael, Graetz, 47–57; Römer, Nachwort; Schlüter, Geschichtskonzeptionen, 192–205; dies., Gegenentwurf; Schorsch, Ideology, 282–286. 146 „F[rankel] hält mir eine Strafpredigt über die aufgenommene Arbeit, die Konstruktion der jüdischen Geschichte, zu der er eine demonstrirende Note hinzugefügt haben will, aus der ich nicht klug werden kann.“ Tagebucheintrag vom [10.3.1846]. Graetz, Tagebuch, 162. 147 Graetz erwähnt den umfangreichen (und damit Geld verheißenden) Text ungeachtet seiner Situation nicht einmal im Kontext des bereits zitierten Jubels angesichts der Annahme des Septuaginta-Aufsatzes; insofern erscheint November/Dezember 1845 der terminus post quem für Idee und Abfassung der Construction zu sein. Vgl. Graetz, TB, 157. 148 Dies legen Behauptungen nahe, die in der Construction eine Programmatik oder ein Gerüst für Graetzens historiographisches Hauptwerk sehen wollen; vgl. etwa Liebeschütz, Judentum, 135; Meisl, Graetz, 36. – Zum Verhältnis des geschichtsphilosophischen Essays zur Geschichte der Juden vgl. unten, Kap. II 3.3. 149 Graetz, Construction, 84 (Feuchtwanger, 9/Römer, 12). 150 Zum Begriff der Konstruktion bei Kant, Schelling und Braniß vgl. Scholtz, „Historismus“, 46.

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Ueberschaut man die jüdische Geschichte, sowohl ihre active wie ihre passive Seite, nach großen Kategorien, hält man die natürlichen Knotenpuncte fest, die sie in ihrem Verlaufe abgesetzt, hülst man gleichsam aus den Facta die treibenden Gedanken aus, so hat man eben die Momente, die sie in’s Leben gesetzt, so hat man die Keime, welche die Idee des Judenthums virtuell in ihrem Schoße getragen.151

Der elliptische Stil lässt eben offen, ob es nun nur um die vorwaltenden „Ideen“ an sich gehen solle oder auch um den konkreten Geschichtsverlauf, eine Unbestimmtheit, die die gesamte Schrift prägt: In ihr wechseln sich reflektierende Elemente mit deskriptiven Passagen ab, ohne dass ein homogenes Ganzes entstünde. Nichtsdestoweniger handelt es sich um einen bemerkenswerten Essay. Er war der konsequenteste Versuch seiner Zeit, das Wesen des Judentums geschichtsphilosophisch zu bestimmen. Mit ihrem spezifischen Ansatz hatte die Construction kaum Vorläufer, und sie sollte für Jahre auch keinen Nachfolger finden. Gleichzeitig gehört sie zu jenen Schriften jüdischer Autoren (vor allem ethisch-rationalistischer Tendenz), die sich in den 1830er und 1840er Jahren bemühten, das Judentum spekulativ zu fassen: Dass ein solches Vorgehen gleichsam in der Luft lag, zeigt bereits Graetzens eigener Hinweis auf Samson Raphael Hirsch, an dessen Choreb er ja selbst mitgewirkt hatte, dessen religionspädagogischer Ansatz zu einer Systematik jüdischer Lehre ihm jedoch nicht ausreichte.152 Überhaupt stand Graetz den religionsphilosophisch-theologischen Herangehensweisen skeptisch gegenüber, wie sie unter seinen Zeitgenossen im Vormärz so verbreitet waren. Dies gilt insbesondere für Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) mit seiner von Kant beeinflussten Studie zur Offenbarungslehre des Judentums,153 aber auch für Samuel Hirsch (1815–1891) mit seiner stark hegelianischen Untersuchung der jüdischen Religionsphilosophie.154 Näher kam Graetz mit seinem Text Salomon Formstecher (1808– 1889) und dessen Religionsphilosophie; als Teil seiner Auseinandersetzung mit Schelling hatte Formstecher eine umfangreiche Analyse der jüdischen Geschichte gewagt, in der er das Judentum allerdings als einen allein auf die Torah hin orientierten ethischen Monotheismus interpretierte.155 Einen weiteren solchen Versuch verfasste der galizische Maskil Nachman Kroch151 Graetz, Construction, 84 (9/12). 152 Vgl. ebd., 82 und 421 (6 und 95/9 und 76). – Weiter sind etwa Michael Creiznach (1789– 1842) oder Josef Derenbourg (1811–1895) zu nennen, die einen eher dogmatischen Ansatz verfolgten, wenn auch von einem Reform-Standpunkt aus. Vgl. Römer, Nachwort, 83. 153 Steinheim, Offenbarung. – Zu Steinheim vgl. Haussig s. v. Steinheim (in Kilcher), sowie den Sammelband von Schoeps (Hg.), Philo. 154 Hirsch, Religionsphilosophie. – Zu Hirsch vgl. den kurzen Überblick bei Wiedebach s. v. Hirsch (in Kilcher), mit weiterführender Literatur. 155 Formstecher, Religion des Geistes. – Zu Formstecher vgl. Kratz-Ritter, Formstecher; dies. s. v. Formstecher (in Kilcher), sowie immer noch Bamberger, History. An der Oberfläche des Textes bleibt Thomas Meyers Versuch einer Neulektüre.

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mal (1785–1840), der in seiner Darstellung sogar eine differenzierte Dreierperiodisierung der jüdischen Geschichte vornahm, die freilich eher entwickelnd als dialektisch gehalten war und überdies um das Jahr 1648 herum abbrach (das Werk blieb Fragment); dem Volk Israel sei es dabei auf Grund seiner Anhänglichkeit an Gott als den „universale[n] Weltgeist“ (ha-rûchanî ha-klalî) vergönnt gewesen, gleich drei Mal die Entwicklung von Wachsen, Blühen und Niedergang durchzumachen. Die einzelnen Zyklen wurden jeweils eingeleitet durch das Auftreten aufgeklärter Männer, die zu Gunsten von Vernunft und Wissenschaft und den „wahren“ reinen Glauben stritten.156 Krochmals Ansatz eignete ebenso wie den drei anderen genannten ein ausgeprägter universalistischer Zug, der sowohl in der Auseinandersetzung mit dem Christentum (bei Formstecher zudem mit dem Islam) zum Ausdruck kam, sowie in der jeweiligen Bezugnahme auf die gemeinsamen Grundlagen der abrahamitischen Religionen.157 Während Graetz nun in seinem Essay ausdrücklich auf Steinheim und Samuel Hirsch verwies, kannte er zu dieser Zeit wohl weder Formstechers noch Krochmals Texte.158 Dennoch gab es mannigfache Berührungspunkte zwischen der Construction und den erwähnten Werken. Anders als seine vier Zeitgenossen legte Graetz in seinem eigenen Versuch jedoch keinen Akzent auf die Erzvätererzählungen oder auf Moses, für ihn beginnt „das erste Blatt der jüdischen Geschichte mit dem Buche Josua, mit dem Über156 Krochmal, Nachman: Moreh Nevuchej ha-Sman. Lemberg 1851, Zitat nach der 2. Aufl. (Ed. Rawidowicz, London 1961), hier 40 der heb. Zählung u. ö. – Zu Krochmal vgl. Feiner, Haskalah and History, 115–125; Funkenstein, Geschichte, 181–186; Harris, Guiding. 157 Vgl. Meyer, Reform Jewish Thinkers, sowie zuletzt den konzisen Überblick bei dems., Judentum und Christentum, 194–198, der allerdings beide Male Krochmal ausspart. 158 Graetz erwähnt weder in der Construction noch in seinem späteren Geschichtswerk Formstecher; ebensowenig nimmt er indirekt Bezug auf ihn; das lässt sich allerdings nicht als ein bewusstes Ignorieren deuten, da er andererseits dem Offenbacher Prediger freundlich für dessen Hilfe bei einem bestimmten Forschungsproblem dankte; vgl. Graetz, Geschichte XI (1870), 617. Insofern ist diese Nicht-Beachtung des Formstecherschen Werkes wohl schlichtweg dem Umstand zuzuschreiben, dass es allgemein kaum rezipiert wurde. – Krochmals Hebräisch geschriebenes Hauptwerk fällt wiederum aus dem hier diskutierten Zusammenhang, wenn auch weniger wegen der Sprache (die Graetz problemlos zugänglich gewesen wäre) oder weil es als Produkt des galizischen Judentums auch einem anders focussierten geistesgeschichtlichen Kontext entstammt (denn des ungeachtet hat die Forschung im Moreh Einflüsse von Vico, Herder, Fichte und Schelling ausgemacht, und die immense Bedeutung Hegels für Krochmal, der einer von zwei Subskribenten von Hegels Gesammelten Schriften in ganz Galizien gewesen war, steht ganz außer Frage). Vielmehr erschien der Führer der Verwirrten der Gegenwart, der eigentlich die älteste der hier angesprochenen Schriften ist, erst 1851 als von Leopold Zunz postum herausgegebenes Fragment. Dann machte Krochmals Werk allerdings einen beträchtlichen Eindruck auf Graetz, wovon die entsprechende Passage in der Geschichte nachdrücklich Zeugnis ablegt; vgl. Bd. XI (1870), 482–486. – Zum Nicht-Verhältnis von Graetzens Geschichtsphilosophie zu Krochmals vgl. auch Schlüter, Geschichtskonzeptionen.

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gange über den Jordan“, alles Vorherige ist ihm nichts als „die interessante Einleitung und Vorbereitung dazu.“159 Auch kam er ganz ohne Anmerkungen zu der Rolle des Christentums und zu dessen Verhältnis zum Judentum aus – vielmehr entwarf er in der Construction ein gelassen-selbstbewusstes, autonomes Judentum, das sich dennoch seines „Zusammenhanges mit dem Weltganzen“ bewusst ist.160 Bereits diese Formulierung zeigt freilich, dass auch Graetz nicht losgelöst von „dem Weltganzen“ schrieb, sondern vielmehr ein „Sohn seiner Zeit“ war, wie dies Hegel selbst von einem Philosophen verlangt hatte.161 Sein geschichtsphilosophischer Essay entsprang ganz dem Geist des deutschen Idealismus, wie die hegelianische Sprache bereits verdeutlicht. Ähnlich den Schriften Steinheims, Hirschs, Formstechers und selbst Krochmals war Graetzens Text entstanden inmitten der heftigen Richtungs- und Schulstreitigkeiten, wie sie nach Hegels Tod 1831 zunächst über das Verhältnis von Theologie und Philosophie unter den Schülern, Nachfolgern und Kritikern des Meisters entbrannt waren. Verstärkt worden war diese schwere Krise des Idealismus durch den Thronwechsel in Preußen 1840, der mit dem jungen Friedrich Wilhelm IV. einen radikalen Gegner des Hegelschen „neuen Heidentums“ an die Spitze des preußischen Staates gebracht hatte, und der rasch daran ging, der „Drachensaat des Hegelschen Pantheismus“ entgegenzutreten.162 Es schien, als ob die Hegelsche Philosophie in einem „Todeskampfe“ lag, der – ohne einen neuen Gedanken zu gebären – immer neue allgemeinphilosophische wie auch geschichtsphilosophische Systementwürfe hervorbrachte.163 Die Bedeutung dieser Geistesdämmerung für die jüdischen Intellektuellen der Zeit ist bislang kaum ausgelotet worden, und auch hier kann dies lediglich aspekthaft, mit Blick eben auf Graetz geschehen; doch zumindest in seinem Falle waren Zeitumstände und Ort von entscheidender Bedeutung, als er sich anschickte, seinerseits den Versuch einer jüdischen Geschichtsphilosophie vorzulegen. Wie erinnerlich hatte Graetzens Studium seinen Schwerpunkt neben der Philologie auf der Philosophie gehabt. Von zentraler Bedeutung hierfür und zweifellos eine notwendige Voraussetzung für die Abfassung der Construction war dabei sein Lehrer Christlieb Julius Braniß (1792–1873) gewesen, neben dem Orientalisten Bernstein die zweite prägende Gestalt für den jun159 Beide Zitate Graetz, Construction, 92 (21 f/21). 160 So der letzte Satz des Textes über die mutmaßliche „Aufgabe der judenthümlichen Gottesidee“; ebd., 421 (96/77). 161 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, 85. 162 Immer noch grundlegend zur Rezeptionsgeschichte vgl. Ottmann, Individuum. – Das Zitat nach Nipperdey, Geschichte I, 379. 163 So etwa auch die zeitgenössische Kritik von Immanuel Fichte, der den Philosophen „Originalitätssucht“ und „Systemmacherei“ ohne einen verständigen Blick auf das Ganze vorwarf. Zitate Vorschläge, 137 und 146. – Vgl. Scholtz, „Historismus“, 146 ff.

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gen Studenten in Breslau.164 Graetz hatte bei Braniß mehrere Collegia zur zeitgenössischen Philosophie gehört und erst am Ende seines Studiums auch eine Lehrveranstaltung zur Philosophie der Geschichte.165 Dies war das zentrale Arbeitsgebiet von Braniß, dessen 1842 mit einem ersten Band eröffnete Geschichte der Philosophie seit Kant zwar Fragment blieb und in ihrer weit ausgreifenden Einleitung nur bis zur Scholastik kam (sic!), gleichwohl aber wenige Jahre später in einer Sammlung hodegetischer Vorträge (Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart, 1847) einen Abschluss finden sollte.166 Im Hintergrund seiner philosophischen Arbeit stand dabei die Frage des Verhältnisses von Glauben und Wissen(schaft) und damit nach der Rolle von Religion in der modernen Welt. Mit seinem geschichtsphilosophischen Ansatz gelang Braniß auf diesem Gebiet ein System von einiger Eigenständigkeit; zeitgenössisch wurde er sogar in einer Reihe mit Schelling, Trendelenburg und Feuerbach gehandelt.167 Für Braniß war die Suche nach einer Antwort in dieser Frage vielleicht besonders drängend, wie bereits ein kurzer Blick auf sein Leben nahelegt. Denn obschon als Sohn eines Breslauer jüdischen Kaufmanns geboren, hatte er wohl durchaus aus Überzeugung den Weg der Konversion zum Luthertum gewählt und sich 1823 zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern von Johann Gottfried Scheibel (1783–1843) taufen lassen. Scheibel, der Braniß auch menschlich nahestand, war zu dieser Zeit bereits einer der Wortführer der Breslauer Altlutheraner gewesen, die sich vehement der von Friedrich Wilhelm III. verfügten preußischen Kirchenunion widersetzten. Eines der Häupter der Unions-Bewegung war wiederum Braniß’ Lehrer Schleiermacher. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, bei denen es wiederum theologisch um den Streit zwischen Rationalisten und Supranaturalisten ging, bekamen für ihn dadurch zusätzlich eine stark persönliche Komponente168 und wirkten prägend auf ihn: Mit zunehmender Beschäftigung gab Braniß die Vorstellung eines scharfen Gegensatzes von Philoso164 Vgl. oben, Kap. II 1.4. – Zu Braniß vgl. Döring s. v. Braniß (ADB); Gründer, Philosophie, 79–91, sowie als bis heute einzige Monographie Scholtz, „Historismus“. 165 Im Wintersemester 1844/45, das in der Promotionsakte noch nicht testiert ist; vgl. UA Jena, Bestand M 307, fol. 67v. 166 Eine eingehende Diskussion beider Werke bei Scholtz, „Historismus“, 92–110. 167 Vgl. Rosenkranz, Hegels Leben, XXIII. – In späteren Generationen ist der Vorgänger Diltheys auf dem Breslauer Lehrstuhl für Philosophie weitgehend vergessen worden, und nur wenige neuere Arbeiten zur Philosophie des 19. Jahrhunderts erwähnen ihn, vor allem als Lehrer des Dilthey-Freundes Paul Yorck von Wartenburgs (1835–1897). Vgl. etwa Gründer, Philosophie, 79–91 und 370–373; Hünermann, Durchbruch, 300–308. 168 Dies umso mehr, als Braniß lange Jahre lang seine Familie mehr schlecht als recht ernähren konnte und dadurch seine stets prekäre Abhängigkeit von der preußischen Obrigkeit besonders deutlich spürte. Er sah sich, später auch angesichts seines politischen Engagements, immer wieder gezwungen, der Obrigkeit gegenüber seine Loyalität zu beteuern. Vgl. Scholtz, „Historismus“, 3 f (mit Anm. 18), 31 ff und 43.

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phie und christlicher Theologie auf und betrachtete ihr Verhältnis als einen historischen, sich wechselseitig bedingenden Prozess. Damit half er mit, dem so genannten Spätidealismus den Boden zu bereiten.169 Die Ansätze dieses spekulativen Theismus, wie auch das formale Vorgehen, zwar gegen Hegelsche Inhalte zu streiten, sich aber dabei einer Hegelschen Formensprache zu bedienen, prägen auch die Construction der jüdischen Geschichte. Freilich waren es nicht allein Graetzens Studienerfahrungen mit Braniß als denkerischem Vorbild, sondern auch sein eigener Charakter, der ihn derlei Gedankenentwürfen zuneigen ließ. Dies sollte sich später in seiner mitunter staunenswerten Intuition bei der Ordnung verstreuter Hinweise zu einem kohärenten Bild niederschlagen. Ein solches Gedankenspiel notierte er beispielsweise im Frühsommer 1842, als er mit schönster Symbolik auf dem Weg zur Immatrikulation an der Breslauer Universität in der Postkutsche saß. Hier entwickelte er aus der Situation seiner zufällig zusammengewürfelten Reisegruppe heraus eine kleine geschichtsphilosophische Skizze: Wie das Rad des Schicksals so kömmt mir ein Postwagen vor. Er wirft heterogene Personen zusammen, und oft entscheidet ein Stoß des Postwagens über ganze Leben zweier Personen. […] ich ein Sohn Zions zwischen einer Nonne und einem Offizianten! Wir repräsentiren die drei Perioden der Geschichte, aber alle drei modernisirt, alle drei durch den Sprudel der Revolution und den Kühlofen der Polizei gezogen, versteinert und kalt.170

Ungeachtet seiner Dreiteiligkeit mit den vormärzlichen Repräsentanten israelitischen Altertums, christlichen Mittelalters und bürokratischer Neuzeit deutet dieses Aperçu kaum auf eine spezifische Hegelsche Anschauung hin. Vier Jahre später, nach dem Abschluss seiner Studien, hatte sich das gründlich geändert, hatten seine Studien vor allem bei Braniß deutliche Spuren in Struktur und Sprache hinterlassen, durch die seine Ideen in eine spezifisch idealistische Form gebracht wurden, wie sie in ihrer spekulativen Lust wohl nur in der Zeit zwischen Hegels Tod und der heraufziehenden Revolution von 1848/49 möglich war. Insofern ist Graetzens Construction auch Zeugnis für eine bestimmte Aufbruchshaltung unter den jüdischen Intellektuellen der Zeit.171 Im Folgenden sei nun die Construction näher untersucht. Die Skizze gliedert sich zunächst in zwei Teile, die wahrscheinlich nicht als zusammenhängendes Ganzes verfasst worden sind. Der erste Teil erschien im Frühjahr 1846. Graetz analysierte hier nach einigen grundsätzlichen Erörterungen die jü169 Vgl. ebd., 54 und 85–92. 170 Tagebucheintrag vom [17.6.1842]; Graetz, TB, 118 f, Zitat 118. 171 Zu den innerjüdischen Diskursen dieser Zeit vgl. die profunde Studie von Gotzmann, Eigenheit und Einheit, der jedoch leider auf eine über den jüdischen Kontext hinausgehende Kontextualisierung verzichtet.

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dische Geschichte bis zum Ende des Zweiten Tempels und damit den Zeitraum, der von seinen christlichen Zeitgenossen ausschließlich als untersuchenswert verstanden wurde – und dies auch bloß als Vorgeschichte für Monotheismus und Christentum.172 Dieser erste Artikel der Construction war ein in sich abgeschlossener Text, der seinen Gegenstand als beständiges Widerstreiten religiöser und politischer Momente interpretierte. Erst an seinem Ende kündigte Graetz an, unter Umständen eine Fortsetzung in Angriff nehmen zu wollen.173 Es dauerte bis zum Herbst desselben Jahres, bis der „Zweite Artikel“ folgte; dieser baute auf dem ersten auf, führte dessen Gedanken weiter und bediente sich einer ähnlichen Terminologie, doch liegt sein Hauptaugenmerk mit dem philosophisch-spekulativen Element im Judentum der Diaspora auf einem neuen Aspekt.174 Der Anspruch beider Artikel bestand darin, das Wesen des Judentums auszuleuchten. Graetz sprach dabei anfangs ganz in der Terminologie des Idealismus von der „Idee des Judenthums“ oder auch: der „judenthümliche[n] Idee“.175 Dabei zielte er auf nichts Geringeres ab, als diese „Idee“ in einem absoluten Sinne feststellen zu können, postulierte er doch, „die Totalität des Judenthums“ zu erweisen. Als guter Braniß-Schüler suchte Graetz diese „Totalität“ anhand der Geschichte des Judentums aufzuzeigen, denn: 172 Symptomatisch ist hierfür das Verfahren der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste von Ersch und Gruber, die einen eigenen Eintrag Hebräer enthält, der mit A. G. Hoffmann einen Theologen zum Autor hat; dieser kommentierte seinen Gegenstand: „diese einst auf einen kleinen Winkel Asiens beschränkte, von den Völkern des Alterthums verachtete und im Mittelalter kaum geduldete und hart verfolgte, erst in unseren Tagen sich wieder mehr hebende Nation ist an und für sich betrachtet kein Gegenstand, der die Aufmerksamkeit und die Wissbegierde in einem besonderen Grade reizen könnte. Allein es traten mehrere Umstände hinzu, welche ihr eine solche Bedeutsamkeit verleihen. Wie nämlich die wissenschaftliche Bildung der neuern Zeit von den Griechen und Römern ausgegangen ist, so die religiöse von den Hebräern. Überall, wo wir Monotheismus antreffen, dahin ist er aus dem Judenthum gekommen: bei den Christen und Muhammedanern in ihren mannichfaltigen Unter- und Abarten. Aus diesem Volke entsprang sogar der Stifter der vernunftmäßigsten und vollkommensten Religion […]“. Hoffmann s. v. Hebraer, 209. – Weitere Beispiele wären etwa Heinrich Ewalds Geschichte des Volkes Israel, sowie Hegel in seiner Geschichtsphilosophie. – Gleichwohl gehört die Allgemeine Encyclopädie von Ersch und Gruber eher zu den bemerkenswerten Ausnahmen des gängigen christlichen Geschichtsbildes, da sie auch eine Reihe von Einträgen zu Judentum und jüdischer Geschichte enthält, die sogar von jüdischen Autoren stammen. 173 Dieser erste Artikel umfasst in der Erstausgabe die Seiten 81–97 sowie 121–132 (bei Feuchtwanger 5–49/bei Römer 9–42). 174 Vgl. Graetz, Construction, 132 (49/42). – Die Bezeichnung als „erster“ und „zweiter Artikel“ erfolgte erst beim Erscheinen des zweiten Teils; vgl. ebd., 361, sowie abschließend im Inhaltsverzeichnis des Jahrganges, vgl. ZRIJ 3 (1846), 486. Ludwig Feuchtwanger, durch dessen Ausgabe von 1936 die Construction wohl überhaupt erst in ein weiteres Bewusstsein gerückt worden ist, nivellierte diese Zweigliedrigkeit kommentarlos zu einem durchgehenden Text, und dieser Textgestalt ist dann auch ausnahmslos (einschließlich Römer in seiner Ausgabe) die Forschung gefolgt. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Pyka, Identities of Heinrich Graetz. 175 So beispielsweise Graetz, Construction, 84 und 362 (9 und 51/12 und 43).

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„Die Tatsache“ könne „bis zur Evidenz bewiesen werden, daß die jüdische Geschichte in allen ihren Phasen […] eine einheitliche Idee versichtbart, daß sie eben die reale Explikation eines Grundbegriffs bildet“, kurz: die Geschichte des Judentums sei nichts anderes als „der Reflex der Idee“.176 Im Folgenden entwickelt Graetz, an entsprechende Überlegungen seines Lehrers Braniß anknüpfend, ein streng dialektisch aufgebautes Schema der jüdischen Geschichte. Nach einer längeren theoretischen Einleitung legt er (im ersten Artikel) seine Deutung dar, dass das Wesen des Judentums vor allem von „dem Politisch-sozialen“ und „dem Religiösen“ als Hauptfaktoren geprägt worden sei. In jeweils unterschiedlichem Maße haben sie die einzelnen Abschnitte der jüdischen Geschichte geprägt, wie er ausführlich an der Zeit von der Landnahme bis zum Ende der Staatlichkeit 70 n. d. Z. exemplifiziert. Dieser hier ausschließlich behandelte Zeitraum unterteile sich in zwei Perioden, die sich spiegelbildlich um das Babylonische Exil als Achse herum gruppieren: Die „vorexilische“ Periode habe dabei als ein unreligiöses, gleichsam heroisches Zeitalter seinen Höhepunkt bereits zu Beginn mit der Landnahme in Kanaan, während die „nachexilische“ Periode als Zeit zunehmender gesellschaftlicher Auflösung ihren Höhepunkt erst am Ende mit den Religionsstreitigkeiten unter den Herodianern erreicht habe.177 Doch ungeachtet dieses so unterschiedlichen Gepräges „weiß sich [das Judentum] in diesen beiden Zeiträumen als ein und dasselbe“, trage es „in sich dieses Selbstbewußtsein, daß bei aller Verschiedenheit äußerer Erfahrungen und innerer Metamorphosen es eine unteilbare Einheit bildet.“ Diese Behauptung reicht Graetz nun als Beweis dafür aus, dass die beiden Faktoren, der religiöse und der politisch-soziale, sich nicht bloß beide in der postulierten Grundidee des Judentums wiederfinden, sondern darüber hinaus „im Judentum eine Wahrheit werden“. Was auf den ersten Blick an die Einheit von Thron und Altar erinnerte, wie sie im Preußen Friedrich Wilhelms IV. etwa von Friedrich Julius Stahl (1802–1861) lautstark propagiert wurde, erhielt bei Graetz bei aller Teleologie jedoch eine utopische Wendung, indem er die Verschmelzung beider Elemente in einer Wahrheit der Gegenwart weit entrückte – dies sei nämlich erst „in ferne[r] Zukunft“ mit dem Kommen des Messias zu erwarten.178 176 Alle Zitate ebd., 83 f (8 f/11 f). – Dass „die Geschichte […] der Reflex der Idee“ sei, findet sich nochmals, nun als „unbestreitbare[r] Grundsatz“, ebd., 92 (21/21). 177 Die beiden Perioden untergliedern sich ihrerseits wiederum in jeweils drei Phasen. Vorexilisch sei dies: Landnahme/Richterzeit – die Zeit des einigen Reiches zwischen dem Propheten Samuel bis zum Ende der Regierung Salomos – die Zeit der zwei Reiche Juda und Israel bis zu ihrem jeweiligen Ende; nachexilisch die Amtszeit Esras und Nehemias bis zur „Großen Versammlung“ – die Zeit der Makkabäer – die Zeit der religiösen Kämpfe zwischen Pharisäern und Sadduzäern unter den Herodianern und Römern. 178 Graetz, Construction, 92 (21/21).

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In der Anlage stimmte Graetz soweit mit Braniß überein, zumal beide den fundamentalen Gegensatz von Heidentum und Judentum betonten und ihn mit dem Gegensatz von Natur und Geist parallel setzten.179 Dadurch schärften beide zum expliziten Gegensatz, was bei Hegel nur implizit und als dialektische Entwicklung angelegt war. Für den Berliner Philosophen hatten die Juden zwar das Verdienst gehabt, den Monotheismus erkannt zu haben, doch blieben sie bei der bloßen Erkenntnis stehen und sahen sich in dumpfer Abhängigkeit dieses Einen; ein freies Individuum brachten sie nicht hervor, weshalb Hegel sie noch in der Welt des Orients und des persischen Reiches verortete. Die Griechen wiederum hatten in seiner Deutung zwar bereits das Bewusstsein der Freiheit errungen, allein in beschränkter Form, insofern es sich auf einige Menschen bezog, nicht auf den Menschen als solchen. „Erst die germanischen Nationen [seien] im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als Mensch frei [sei], die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur“ ausmache.180 Braniß und Graetz folgten Hegel zwar in seiner starken Betonung der Freiheit; in seinen Bewertungen der einzelnen Epochen folgten sie ihm jedoch nur bedingt. Schon auf Grund ihrer jüdischen Sozialisation und Einsicht konnten weder Braniß noch Graetz die einseitigen und karikierenden Ansichten, die Hegel mit der überwältigenden Mehrzahl der christlichen Denker seiner Zeit vom Judentum pflegte, übernehmen.181 Daraus folgte, dass Braniß und Graetz die von Hegel in Fortführung aufklärerischer Gedanken so stark idealisierte Welt des „freien heiteren Geistes“ der griechischen Stadtstaaten ebensowenig kritiklos übernehmen konnten. Bei Braniß und Graetz erlebte nun „Griechenland“ die am tiefsten greifende Umwertung, indem sie es mit seiner Götterwelt, mit seiner plastischen Kunst der Sphäre der sinnlichen Natur zuschrieben – der Gegensatz des klassischen Griechentums zum Judentum rückte bei den beiden Breslauern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und die Wertung war eine diametral entgegengesetzte.182 Graetz folgte seinem Lehrer allerdings nicht blindlings. Ein wesentlicher Differenzpunkt zwischen beiden bestand in der Synthese ihres dialektischen Schemas. Denn ähnlich wie für den zeitgleich arbeitenden Schelling stellten auch für Braniß Jesus und das Christentum die Synthese aus Heidentum und Judentum dar, in welcher jene beiden 179 Vgl. etwa Braniss, Uebersicht, 24, 307 f, 327 f, 323 u. ö.; Graetz, Construction, 84 f (10 ff/12 ff). 180 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 31. 181 Vgl. zu Hegels Bild von Judentum und Christentum immer noch Liebeschütz, Judentum, 24–40. 182 Vgl. Braniss, Uebersicht, 25 f und 79–307; anders als Braniß verzichtet Graetz allerdings bemerkenswerterweise darauf, das Griechentum beim Namen zu nennen; er setzt das Judentum in Opposition zu einem allgemeinen und etwas amorphen „Heidentum“. Vgl. Graetz, Construction, 84–87 (10–15/12–16) sowie in expliziter Kritik an Hegel 420 (93 f/75).

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ihre weltgeschichtliche Aufgabe erfüllten.183 Graetz vermochte als Jude dem Christen Braniß in dieser Hinsicht nicht recht zu folgen. Zwar sah er, ebenso wie sein Lehrer, die Synthese der widerstreitenden Prinzipien in einem kommenden Messias, doch war für ihn klar, dass dieser Messias erst noch in einer fernen Zukunft kommen würde – und dass dieser ausschließlich in einem jüdischen Kontext zu sehen sei: Das Bild eines von judenthümlichen Institutionen getragenen Staatslebens bleibt das in ferne Zukunft gerückte Ideal des Judenthums: der Messias, wie ihn die Propheten geschaut, die Tradition überliefert und das jüdische Volksbewußtsein aufgenommen, ist der Schlußstein des Judentums.184

Dennoch: Bei aller impliziten Abgrenzung inhaltlicher Art standen Graetzens Ansichten, wie sie sich in diesem ersten Teil der Construction zeigten, denjenigen von Braniß sowohl formal wie strukturell noch sehr nahe. Sechs Monate später jedoch, mit dem Zweiten Artikel der Construction, sprengte er das strenge Schema aus These, Antithese und Synthese und entwickelte Branißens Gedanken zu etwas ganz Eigenem weiter, das ihn selbst über Hegel hinausgehen ließ. Für die nun behandelte jüdische Geschichte nach der Zerstörung des Zweiten Tempels führte Graetz nämlich ein weiteres, ein drittes Moment ein, welches nicht einfach die ersten beiden – das „staatliche“ und das „religiöse“ – in sich aufhob, sondern eine eigene Qualität besaß: „Die geschichtliche Tätigkeit des Judenthums in den siebzehn Jahrhunderten der Zerstreuung war eine theoretische, auf den gedankenmäßigen Ausbau seines Lehrbegriffes und Inhalts gerichtet“. Und etwas später heißt es prononciert: „das Judenthum wird Wissenschaft.“185 Dies be183 Vgl. besonders nachdrücklich (und mit Alexander dem Großen als Zusammenführer der beiden Prinzipien) Braniss, Uebersicht, 98 und 340 f, sowie hierzu Scholtz, „Historismus“, 127. – Diese Anschauung, die sich zwar auf eine Bemerkung Hegels berufen konnte, aber hier ungemein prononcierter vorgetragen wurde, verdiente eine stärkere Einordnung angesichts einer bemerkenswerten Parallele in der Geschichtsschreibung der Zeit: Denn mit Johann Gustav Droysen (1808–1884) formulierte etwa ein anderer Böckh-Hörer eine ganz ähnliche Sicht, wenn er in seiner epochalen Geschichte des Hellenismus (I–III, 1833–1844) Alexander den Großen zur Synthese aus Ost und West stilisierte, welche den Weg für das Christentum geebnet habe. Zu Droysen und seinem zeitgenössischen Kontext vgl. Christ, Von Gibbon bis Rostovtzeff, 50 ff; Knipfing, German Historians; sowie (aus der für diesen Zusammenhang interessanten Perspektive von Alexanders Gegenspieler) Lehmann, Demosthenes, 223 f. 184 Graetz, Construction, 92 (21/21). – Vgl. hierzu Braniss, Uebersicht, 345–352, sowie auch Scholtz, „Historismus“, 138. 185 Beide Zitate Graetz, Construction, 362 f (50 f/43 f). Zwar brachte auch Braniß ein ähnliches Motiv ein (die „Intelligenz“ des Prophetentums, parallel zur heidnischen Philosophie); doch stellte sich bei ihm dieses Motiv noch ganz dialektisch als synthetische Überwindung von Natur und Geist dar und sei als solcher „Triumph Gottes“ die bloße Vorbereitung des Messias; vgl. Braniss, Uebersicht, 316 f. – Graetzens Terminologie ist nicht immer ganz einheitlich, am Ende fasste er diese Richtung als „theoretisch-philosophische“ zusammen; vgl. ebd., 421 (96/77). – Die zweifache Hervorhebung von „theoretische“ im ersten Zitat fehlt in beiden Neuausgaben!

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zeichnete die eigene Charakteristik, die er folgerichtig als Abfolge einzelner jüdischer Denker beschreibt.186 Wegen ihres Verlaufs außerhalb Palästinas nannte er sie die „diasporische Periode“, ohne wegen der jüdischen Existenz in der Zerstreuung die Vorstellung einer „organische[n] Einheit“ dieser Periode aufzugeben. Dass es eine solche Periode überhaupt gab, markierte bereits (wie erwähnt) einen Bruch mit dem üblichen christlichen Geschichtsbild, wie es sich etwa bei Hegel, aber auch noch bei Braniß fand.187 Und auch inhaltlich ist Graetzens Analyse dieses Zeitabschnitts bemerkenswert. Er sieht in ihm zwei widerstreitende Tendenzen vorwalten, die dennoch sich gegenseitig bedingen und erst gemeinsam diese Periode konstituieren: „die durchgreifende Zerstreuung des jüdischen Volkes und also das dadurch bedingte Weltleben des Judenthums, und der Talmudismus, der die Isolierung des Judenthums zum Zwecke hat.“ Während das „Weltleben“ die Integration jüdischer Existenz in die allgemeinen Geschehnisse der Weltgeschichte bezeichnete, meinte Graetz mit dem „Talmudismus“ die Strategie zur Bewahrung des Judentums als einer eigenständigen Entität inmitten der Diaspora; allerdings war für ihn keine dieser beiden Tendenzen dauerhaft allein denkbar.188 Dass diese „diasporische Periode“ „noch in die Gegenwart“ hineinreiche, stellte Graetz durchaus selbst fest.189 Dennoch spielte diese Gegenwart 186 Die einzelnen Unterabschnitte gliedern sich in 1.) die Ausbildung des halachisch-aggadischen Systems, wie es sich im Talmud, den Targumim und Midraschim etc. äußert, doch zählt Graetz ebenso den Sohar und die mystische Strömung innerhalb des Judentums hierzu wie auch Philo mit seinen Schriften; Philo wird sogar so etwas wie der führende Repräsentant dieser Phase, wie sich auch in seiner Gleichsetzung mit Platon zeigt (Graetz, Construction, 370/63/52). 2.) die Verwandlung des aggadischen Kommentars in ein philosophisches System; dies beginnt mit Saadja Gaon, setzt sich mit Judah ha-Levî fort und gipfelt schließlich in Moses ben Maimon (Maimonides, dem „jüdische[n] Aristoteles“ ebd., 413/82/66). Die 3.) und letzte Phase schließlich eröffnet Moses Mendelssohn, der als „jüdische[r] Sokrates“ die Systematiken seiner Vorgänger „humanisirt“ und gleichsam die Philosophie gänzlich wieder in das Judentum zurückführt habe (ebd., 418/90/72). – Allein schon der stete Vergleich jüdischer Denker mit griechischen zeigt freilich, dass die oben skizzierte Umwertung „Griechenlands“ keine grundlegende war, sondern als geschichtsphilosophischer Ansatz gelten darf. Losgelöst von jenem Kontext war Graetz in der Bewertung solcher Klassiker des bürgerlichen Bildungskanons ganz Sohn seiner Zeit. 187 Daraus resultierten gleichfalls jene noch bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschenden Ansichten in Geschichtsschreibung und Philosophie, die unter dem Judentum schon zur Zeit Jesu nur mehr ein im steten Niedergang befindliches „Spätjudentum“ (Wilhelm Bousset) verstanden (und damit dessen notwendige Auflösung implizieren wollten). Vgl. speziell zu Bousset Deines, Pharisäer, 96–135; Waubke, Pharisäer, 257–280, sowie allgemein Wiese, Wissenschaft des Judentums, 142–178. 188 Zitat Graetz, Construction, 363 (52/44). – Insbesondere der etwas schillernde Begriff des „Talmudismus“ hat eine eigenartige Rezeptionsgeschichte gefunden; vgl. hierzu Pyka, Identities of Heinrich Graetz. 189 Graetz, Construction, 363 (52/44).

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in seinem geschichtsphilosophischem Essay nur eine marginale Rolle. Hiermit ist ein weiterer Unterschied zur Philosophie Hegels angesprochen, zudem ein überaus fundamentaler. Denn dessen Geschichtsphilosophie hatte letztlich nach den Ursachen der Dinge gefragt und war somit von einem deutlichen Gegenwartsbezug geprägt gewesen; entsprechend war die Philosophie der Geschichte in Hegels Enzyklopädie der Wissenschaften lediglich ein sekundäres Teilgebiet seiner Geistphilosophie.190 Hegels Nachfolger beantworteten die Frage nach dem Zweck der Geschichtsphilosophie grundlegend anders, und Braniß war womöglich einer der radikalsten unter ihnen – in expliziter Abgrenzung von Hegels Philosophie der Geschichte war für den Breslauer Denker „Geschichtsphilosophie […] die einzige schlechthin universelle, das ganze Reich der Wahrheit umfassende Speculation in sich“.191 Daraus resultierte der Anspruch, dass sie nun nicht mehr so sehr nach den Ursachen bekannter Entwicklungen fragen, sondern ihre Blicke sich letztlich auf die Zukunft richten sollte. Damit verbunden war der Anspruch, nicht mehr nur erkennend, sondern sogar handlungsleitend zu wirken.192 Graetz folgte diesem Ansatz seines Lehrers, ja spitzte ihn sogar noch zu, wenn er konstatierte: „Das Judentum ist keine Religion der Gegenwart, sondern eine der Zukunft.“193 Während der utopische Zug im ersten Teil jedoch mit dem postulierten Messias durchaus konventionell-religiös blieb, fiel dieser Aspekt im zweiten gänzlich weg. Am Schluss des zweiten Artikels fasste Graetz das Fernziel und die „Aufgabe der judentümlichen Gottesidee“ in gänzlich innerweltlichen Begriffen zusammen: „eine religiöse Staatsverfassung zu organisieren, die sich ihrer Thätigkeit, ihres Zweckes und ihres Zusammenhanges mit dem Weltganzen bewußt ist.“194 Die Verbindung dieses säkular-utopischen Zuges mit der Begriffen wie „Staatsverfassung“ hat dafür gesorgt, dass die Construction seit Einsetzen einer Rezeption im 20. Jahrhundert, als Vorläuferin zionistischer Ideen vereinnahmt worden ist.195 Solche Versuche ignorieren freilich die deutliche hegelianische Terminologie, 190 Genauer gesagt der letzte Teil der Lehre vom objektiven Geist und damit auch nur auf der zweiten und vorletzten Stufe seiner Philosophie des Geistes. – Ganz explizit betonte Hegel den ausschließlichen Gegenwartsbezug bei seinen kurzen Ausführungen zu Amerika, dem er bescheinigte, „das Land der Zukunft“ zu sein – und es damit aus der weiteren Betrachtung auszuschließen; vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 114. Zu Bedeutung und Konsequenzen dieses prägenden Gegenwartsbezugs vgl. etwa die kritische Darstellung bei Fueter, Geschichte, 431–439; Helferich, Hegel, 86. 191 Braniss, Aufgabe, 115. – Ganz ähnlich Graetz, Construction, 420 (93 f/74 f). 192 Vgl. ebd., 120. Diese Intention bezeichnete Braniß als „Historismus“, womit er zwar als erster diesen Terminus verwendet, jedoch in einem Sinne, der dem heute üblichen diametral entgegengesetzt ist. Vgl. Scholtz, „Historismus“, 125–138. 193 Graetz, Construction, 90 (18/19). 194 Ebd., 421 (96 [hier ohne Kursivierung]/ 77). 195 Vgl. Pyka, Identities of Heinrich Graetz, sowie die Einleitung zu der vorliegenden Arbeit.

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wie sie etwa in dem gerade zitierten Schlusssatz des Textes mit seiner Betonung des notwendigen „Zusammenhanges mit dem Weltganzen“ Verwendung gefunden hat. Erklärungsbedarf gibt es dabei besonders in bezug auf Graetzens Gebrauch des Begriffs „Staat“. Der junge Geschichtsphilosoph entwickelte hier aus einer spezifisch jüdischen Perspektive heraus seine eigene Interpretation jener zentralen Hegelschen Vorstellung, wie sie sich so auch nicht bei Braniß fand. Hegel galt ja „der Staat“ als „die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist“ und somit als „der näher bestimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt“.196 In der Rezeptionsgeschichte speziell in Deutschland setzte sich rasch eine Akzentuierung durch, die die Hegelsche Vorstellung hin zu einer Vorstellung von „Staat“ als Institution mit geradezu personalen Zügen konkretisierte, die dann auch bald als per se gut, sittlich und vernünftig angesehen wurde. So naheliegend ein solches Verständnis ist, Hegels Begriff greift jedoch weiter, der Philosoph hatte etwas Allgemeineres unter „Staat“ verstanden. Denn Hegel selbst hatte bereits festgestellt, dass der „Staat“ nicht nur eine konkrete Institution oder gar ein Selbstzweck ist, sondern auf einer allgemeineren Ebene auch die Manifestation „des Geistes“ in der Welt – und damit eine Art organisierter Status von Freiheit (verstanden in einem überindividuellen Sinne). Auf eine klassische Formel gebracht: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee.“197 Graetz akzentuierte dieses weiter gefasste Verständnis. Für ihn stellte sich „Staat“ als eine zentrale, mit Gott wie auch mit den Menschen unmittelbar verbundene Organisationsform dar, wie seine Überlegungen zur überweltlichen Gottesidee zeigen: eine adäquate Staatsverfassung sollte der lebendige Träger dieser Idee sein, die sich als Volkssitte, als individuelle Gesinnung in inneren weiteren Schwingungen realisieren soll. – Die geoffenbarte Gottesidee ist nicht um ihrer selbst willen da, um bloß theoretisch gewußt zu werden, sondern will zugleich eine Heilanstalt sein die zeitliche Glückseligkeit zu fördern; die Gottesidee soll zugleich Staatsidee sein.198

196 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 57. 197 Hegel, Grundlagen der Philosophie des Rechts, § 257, 398; insgesamt vgl. ebd., §§ 257– 360, 398–512. – Zu Hegels Staatsbegriff, seinem Hintergrund und seiner Rezeption vgl. Koselleck, s. v. Staat und Souveränität. Vorbemerkung (GGB VI); ders. s. v. Staat und Souveränität. III. „Staat im Zeitalter“ revolutionärer Bewegung (GGB VI), 36–44; Vollrath s. v. Staat (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10), Sp. 1–9 und 36–39. 198 Graetz, Construction, 87 (vgl. 15/16 [beide Ausgaben lesen „immer“ statt „inneren weiteren Schwingungen“! Außerdem fehlt beide Male die Kursivierung von „gewußt“!]). – Mit dieser Synthese von jüdischer Gottesidee und Staatsidee widersprach Graetz allerdings auch in aller Deutlichkeit Hegels Bild vom Judentum, der dieses in Opposition zur Staatsidee gesehen hatte: „Der Staat aber ist das dem jüdischen Prinzip Unangegessene und der Gesetzgebung Mosis fremd.“ Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 243. – Eine nähere Untersuchung von Graetzens Staatskonzeption und ihr Verhältnis zu den zeitgenössischen etwa eines Feuerbach, Marx, Moses Hess oder auch Schlegel wäre wohl aufschlussreich, kann hier aber nicht geleistet werden.

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Und selbst in dem Ersten Artikel der Construction, der vor allem die jüdische Geschichte in Palästina mit der zweimaligen Staatlichkeit zum Thema hat, fand für ihn diese „Staatsidee“ nicht so sehr ihren Ausdruck in den sich herausbildenden, gleichsam allgemein-historischen Institutionen des Königtums oder des Tempels; ebensowenig in der heiligen Sprache Hebräisch. Graetz sah diese „Staatsidee“ vielmehr verwirklicht in den jüdischen und zugleich Hegel-konformen Institutionen des geoffenbarten Gesetzes (der Torah) und in dem „heilige[n] Boden“. Beide Elemente verband Graetz zu einem bemerkenswerten korporealen Bild: „Das Gesetz ist die Seele, das heilige Land der Leib dieses eigenthümlichen Staatsorganismus.“199 Schließlich erweiterte er diesen (im traditionellen Judentum eher ungewöhnlichen) Leib-Seele-Dualismus noch um das israelitische Staats-Volk und formt diese drei Elemente zu einer organischen Einheit: Der scharf abgegrenzte Boden ist da als weiter Spielraum zur ungehemmten Entfaltung der die Gottesidee in ihrer Fülle ausprägenden Gesetze, und das Gesetz wiederum ist da zur Beförderung des socialen Wohles Israel’s. Die Thora, die israelitische Nation und das heilige Land stehen in einem, ich möchte sagen, magischen Rapport, sie sind durch ein unsichtbares Band unzertrennlich verknüpft. Das Judenthum ohne den festen Boden des Staatslebens gleicht einem innerlich ausgehöhlten, halbentwurzelten Baume, der nur noch in seiner Krone Laub treibt, aber nicht mehr imstande ist Aeste und Zweige schießen zu lassen.200

Solche Sätze konnten schon im Vormärz unpassend national wirken. Zacharias Frankel legte als Herausgeber gerade an dieser Stelle seinen flammenden Widerspruch ein, indem er feststellte, dass das Judentum auch in der Diaspora gut in Saft und Kraft stehe und sehr wohl blühe und treibe.201 Er hatte wie wohl alle späteren Leser aus dieser Stelle ein Plädoyer für einen veritablen „Staat“ in Palästina herausgelesen. Und nicht nur diese Passage im ersten Artikel könnte, ohne den skizzierten Zusammenhang zu berücksichtigen, als ein vorweggenommenes Manifest des Zionismus gelesen werden. Es sei jedoch daran erinnert, dass dieser erste Artikel lediglich jenen Zeitraum berücksichtigt, in dem nun tatsächlich ein jüdischer Staat im „heiligen Land“ bestanden hat.202 Bei genauer Analyse des Textes zeigt sich, dass es beide Begriffe zu stark konkretisiert, wenn man die Bedeutung aus dem ersten Artikel auf diejenige im zweiten ausdehnt. In letzterem, in dem Graetz die „diasporische“ Geschichte analysiert, versteht er nämlich den „Boden“ in ei199 Beide Zitate Graetz, Construction, 88 (17 f/18). 200 Ebd., 88 f (18/18). 201 Vgl. Anm. zu ebd., 89 f; dieser Kommentar fehlt in beiden Neuausgaben. 202 Beide Begriffe werden hier in dem heute üblichen Sinne gebraucht. – Für diese spezielle Bezugnahme spricht auch Graetzens Wortwahl, von einer „israelitischen Nation“ anstelle von einem „jüdischen Volk“ zu sprechen, wie dies für die „diasporische Geschichte“ bzw. die „jüdische Geschichte“ als ganzes bei ihm üblich ist. Vgl. hierzu auch unten Kap. II 3.4.

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nem übertragenen Sinne. In der Diaspora (dem „Weltleben“) diene der „Talmudismus“ mit seinen gleichsam umzäunenden Maßnahmen eben dazu, das Judentum vor schädlichen fremden Einflüssen zu bewahren – und habe somit „dieselbe Bestimmung, welche die Naturgrenzen Palästinas für das Judenthum“ in biblischen Zeiten gehabt hätten. Dadurch wird aber deutlich, dass Graetzens oben zitiertes „heiliges Land“ nicht identisch ist mit dem Heiligen Land, denn: „Die talmudischen Umzäunungen machten in der Welt aus jedem jüdischen Hause ein scharf umgrenztes Palästina“.203 Für Graetz bedurfte das Judentum in der Diaspora keines konventionellen Territoriums und keines konkreten „Staats“, um zu blühen. Solche Abgrenzungen waren die wesentlichen Bestimmungen, die Graetz in der Construction für das Judentum traf. Der einzige Versuch einer positiven inhaltlichen Bestimmung war die bereits zitierte Bestimmung der „geoffenbarten Gottesidee“ als einer „Heilanstalt [… um] die zeitliche Glückseligkeit zu fördern“. Hier griff er eine Begrifflichkeit auf, die von der Literatur der Empfindsamkeit in das Zentrum ihres Wertekanons gerückt worden war. Insbesondere Johann Joachim Spalding hatte in seiner außerordentlich einflussreichen und weithin rezipierten Bestimmung des Menschen (1748) „Glückseligkeit“ zum höchsten Ziel des Individuums erhoben; dieses Ziel sei aber nur durch die Menschen- oder Nächstenliebe erreichbar.204 Auch der junge Wieland, der stark von Spaldings Schriften beeinflusst worden war, hatte seinerseits in der Glückseligkeit ein hehres Ziel gesehen und damit wohl wiederum auf seinen jugendlichen Leser Graetz gewirkt.205 In seiner Constructionsschrift nahm Graetz nun diesen Wert auf, deutete ihn aber um, indem er ihn auf ein Kollektiv, das Judentum nämlich, bezog – dessen oberster Zweck sei „ein eudämonistischer“.206 Wie wichtig für Graetz bei seinem Definitionsversuch dieser kollektive Aspekt des Judentums ist, belegt der Nachdruck, mit dem er feststellt, dass das Judentum „keine Religion für das Individuum, sondern für die Gesammtheit [sei], und die Verheißungen und Belohnungen auf die Gesetzeserfüllung gelten nicht dem einzelnen […] sondern sie sind augenscheinlich dem Volksindividuum zugesagt.“ 203 Beide Zitate Graetz, Construction, 366 (56/47 [das „in“ ist hier nicht kursiviert]). – Das Bild der „Umzäunung“ ist eine Anspielung auf Pirkej Avôt 1,1. 204 Spalding, Bestimmung, hier bes. 34. – Hierzu vgl. Eibl, Spalding; Willems, Individualitätssemantik, 112 f. 205 Vgl. oben, Kap. II 1.1. 206 Graetz, Construction, 87 (16/17). – Graetz lehnte sich hier an den galizischen Philosophen Isaak Mieses (1802–1883) und dessen Reform-kritische Schrift Ein Beitrag zur den gegenwärtigen Wirren im Judenthume (1845) an. In Frankels Zeitschrift findet sich eine Rezension dieser Schrift unter dem Pseudonym Fabius, die von Römer unbesehen Graetz zugeschrieben wird; damit übersieht er allerdings die deutlichen Unterschiede, da der Rezensent gerade den eudämonistischen Aspekt in Zweifel zieht; vgl. ZRIJ 2 (1845), 400–407, sowie Graetz, Konstruktion (Ausg. Römer), 10, Anm. 4.

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Diese kategorische Behauptung wiederholt er kurz darauf nochmals, um schließlich deutlich gegen Hegel gewendet festzustellen: Das Judentum „ist in diesem Sinne ein Staatsgesetz“. In deutlicher Abgrenzung zu den meisten jüdischen Autoren seiner Zeit geht Graetz hier sogar soweit zu sagen, dass das Judentum keine Religion sei, sondern lediglich in Teilen „einen religiösen Charakter“ habe. Weiter als eine Verbindung von „Gotteserkenntnis und soziale[r] Glückseligkeit“ ging seine positive Bestimmung des Judentums also nicht.207 Vielmehr versucht er, sich dem Wesen jüdischer Identität durch Abgrenzung anzunähern – diese Abgrenzung sei anfangs sogar der wesentliche Zug des Judentums gewesen: „Das Judenthum stellt sich bei seinem Eintritt in die Geschichte als Negation dar, es negiert das Heidenthum, es tritt gleichsam als Protestantismus auf.“208 Allerdings vermag Graetz auch nur wenig über das dergestalt negierte Wesen des Heidenthums anzugeben. Lediglich die (äußerliche) Formensprache dieses fundamental abgelehnten Heidentums konnte der junge Geschichtsphilosoph definieren: dessen „obszönen Kultus“, der in „Götzenanbetung und Unzucht“ versinke, sowie dessen verweichlichender und Unsitte erzeugender Luxus, kurz: lediglich ein Gegenbild zum Oberbegriff der „Sittlichkeit“ – die postulierte „Idee“ des Heidentums blieb Graetz damit freilich schuldig.209 Dieser nur wenig ausgefeilten Definition wegen bleibt der Gegensatz von Judentum und Heidentum ebenso wie die davon wieder abgeleitete Identitätsbestimmung für das Judentum blass. Allein dass sich „Judentum“ und „Heidentum“ in einem fundamentalen Gegensatz zueinander befinden, verdeutlicht der Braniß-Schüler in einer kühnen Behauptung: „Schon der erste Blick verräth den himmelweiten Kontrast: Heidenthum und Judenthum bilden denselben Gegensatz wie Natur und Geist.“210 Davon leitete Graetz die im Judentum sich manifestierende sittliche Freiheit des Individuums ab. Diese Freiheit zur Wahl des rechten sittlichen Tuns stellte für ihn jedoch „die Idee des Judenthums“ keineswegs vollständig dar, ebenso wenig wie die Transzendenz Gottes. Dies galt ihm sogar für den bei seinen Zeitgenossen so zentralen Monotheismus. Das Wesen des Judentums sei „unendlich reicher, unendlich tiefer; auch nicht einmal in der Negation der Naturvergötterung ruht das Judenthum aus, es ist erst der Anfang seiner Bewegung, was sich in dem ganzen Verlauf der Geschichte erschöpfend erfaßt.“211 Doch wenngleich Graetz hier einmal mehr die Berechtigung seines geschichts207 Alle Zitate Graetz, Construction, 87 f (15 ff/16 ff). 208 Ebd., 84 (10/12). 209 Ebd., 84 f, 86, 92 f, 96 f (bei Feuchtwanger: 11, 12 f, 22 sowie 28 f. – Römer: 13, 15 f, 21 f sowie 26 f). 210 Graetz, Construction, 85 (11/13). – Hierzu vgl. Liebeschütz, Judentum, 140 f. 211 Ebd., 87 (14 f/16).

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philosophischen Zugangs unterstrich, so blieb die eigentliche Bestimmung seines Gegenstandes, des Wesens des Judenthums, auch im Folgenden dunkel. Diese wenigen und vor allem negativen Definitionsversuche des ersten Artikels der Construction reichten aus, um Frankel zu dem bereits erwähnten geharnischten Kommentar zu provozieren. Im Namen von Monotheismus, Universalismus und individuellem Bezug des Judentums fügte er als Herausgeber dem Text seines jungen Protegés eine lange Fußnote bei, in der er Graetzens Gedanken auf das schärfste verwarf. Den zweiten Artikel sollte dann sogar eine Fußnote beschließen, in der der Herausgeber mitteilte, dass Graetz in einer Nachschrift gleichsam seine Thesen aus dem ersten Artikel widerrufen habe; mehr aber mochte er in der Zeitschrift nicht mitzuteilen: „Wir freuen uns, daß der Verf. im Wesentlichen mit unserer Ansicht übereinstimmt“, schrieb Frankel befriedigt, „und bedauern nur, wegen Gedrängtheit des Raumes diese Nachschrift hier nicht wiedergeben zu können.“212 Tatsächlich unterscheiden sich beide Artikel der Construction substantiell. Hatte Graetz bereits im ersten seine eigene einleitende Frage: „Was ist Judenthum?“, nicht beantwortet, so spielte dieses beschworene „Wesen des Judenthums“ im zweiten Artikel gar keine Rolle mehr. Mehr noch – nun gehörte eben dies nicht einmal mehr zu der Aufgabe des Aufsatzes! Denn Graetz räumte nun zwar ein, dass es noch immer „an einem umfassenden Prinzip des Judenthums“ fehle, welches alle zuvor herausgearbeiteten Einzelaspekte in sich berge, also den politisch-sozialen Aspekt der vorexilischen Periode, den religiösen der nachexilischen und den theoretisch-philosophischen der diasporischen Periode; allein „diese Betrachtung gehört nicht zur Construction der Geschichte, da sie der Zukunft“ vorgreife. Anstatt auf der Linie einer spekulativen Bestimmung des „Wesens des Judenthums“ durch Geschichtsphilosophie zu bleiben, war Graetzens Text mit dem zweiten Artikel unversehens zu einer kritischen Analyse verschiedener Ansätze solcher Wesensbestimmung geworden. Allerdings bleiben Zweifel an Frankels abschließender Behauptung, dass Graetz gänzlich auf die Linie des Dresdner Oberrabbiners eingeschwenkt sei. Zwar vermied der junge Gelehrte in diesem zweiten Artikel eine deutliche Fortführung des spekulativen Ansatzes, doch nahm er auch nicht die von Frankel vertretene Position einer konsequenten Konfessionalisierung auf. Im Gegenteil, Graetz stützte nun seine Analyse der (diasporischen) jüdischen Geschichte, indem er sich abschließend erneut auf einige jüdische Denker seiner Zeit berief, die zumindest jeweils einzelne Teilwahrheit des 212 Frankel zu Graetz, Construction, 89 f und 421 (beide Kommentierungen fehlen in den populären Ausgaben; dafür findet sich eine englische Übersetzung von Schorsch in Graetz, Structure, 304 f und 309).

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Judentums erschlossen haben sollen. Die Genannten aber waren nicht mehr dieselben wie in der Aufzählung zu Beginn: Samuel Hirsch und Isaak Mieses fanden nun keinerlei Erwähnung mehr, wohl aber Steinheim, obwohl dieser von Frankel expressis verbis verworfen worden war; zu ihm (und dem ebenfalls weiter genannten Samson Raphael Hirsch) trat nun aber noch Josef Salvador (1796–1873). Ungeachtet der großen Unterschiede, die zwischen Graetzens Geschichtsphilosophie und Salvadors deutlicher Idealisierung der Zeit Moses bestanden, führte Graetz den Franzosen als Kronzeugen für „die sozial-legislative Seite des Judenthums“ an, wohl in dem Versuch, die von Frankel inkriminierte, an Hegel orientientierte Staats-Begrifflichkeit abzuschwächen, ohne in der Sache selbst nachzugeben.213 Doch ungeachtet solcher Kontinuitäten unterscheiden sich die beiden Artikel der Construction in Herangehensweise und Perspektive deutlich. Die Forschung tat sich denn auch stets mit der Einordnung der „Skizze“ schwer, da sie sie bloß als ein kohärentes Ganzes und als das Werk eines Historikers betrachtete. Dabei ist sie vielmehr weder der Geschichtsphilosophie noch der Geschichtsschreibung ganz eindeutig zuzuordnen. Insofern es sich dabei um eine Auseinandersetzung mit dem „Wesen des Judentums“ aus jüdischer Perspektive handelte, konnte sie zudem – in Analogie zu der Begriffsbildung „christliche Philosophie“, wie sie Braniß verstand, als jüdische Philosophie im besten Sinne gelten.214 Zugleich lässt sich hier, gleichsam mit dem Übergang vom ersten zum zweiten Artikel, auch der Übergang von einer philosophisch-spekulativen Herangehensweise hin zu einer eher historischen, ideengeschichtlichen festmachen.215 Was die Bestimmung einer spezifisch 213 Graetz, Construction, 421 (95/76). – Es ist nicht klar, ob Graetz Salvadors Schriften bereits bei der Niederschrift des ersten Artikels gekannt hat und wie gut diese Kenntnisse überhaupt gewesen sein mögen. Denn wenngleich es Berührungspunkte zwischen beiden gibt, so sind doch auch die Unterschiede nicht zu übersehen: So war beispielsweise die für Salvador entscheidende Epoche diejenige des Moses, die ja für Graetz gänzlich aus dem Rahmen jüdischer Geschichte fiel; der für Graetz wiederum so wesentliche „Talmudismus“ war für den Franzosen Ausdruck des Verfalls des Judentums. Insofern wäre es sogar denkbar, dass Graetz kaum mehr als eine vage Ahnung von Salvador gehabt haben mag, zumal jener auch in der Geschichte der Juden keine Erwähnung fand. Demgegenüber betont allerdings Römer (Nachwort, 85) die Abhängigkeit Graetzens von Salvador. Allgemein zu Salvador immer noch Hyman, Salvador. 214 Vgl. Scholtz, „Historismus“, 54. 215 Dies äußert sich besonders subtil kurz bevor sich Graetz explizit auf Hegel bezieht; am Ende des Zweiten Artikels lässt er die „Thaten des Geistes“, in welchen sich die (absolut verstandenen) „ewigen Wahrheiten“ manifestierten, bestehen aus „den concreten Gestaltungen der Kunst, Wissenschaft, Religion, in dem Complex aller dieser Factoren, in Staatsbildung und ganz besonders in der Evolution der Geschichte“. Ähnlich wie ja schon sein Lehrer Braniß drehte er hier die Hierarchie von Geschichte und den Manifestationen des absoluten Geistes zu Gunsten der ersteren um (bemerkenswerterweise veränderte er aber auch die Zusammenstellung der letzteren – handelte es sich bei Hegel um Kunst, Religion und – als höchster – der Philosophie, so trat bei Graetz nun die Wissenschaft an die Stelle der Philosophie, wurde aber durch die Re-

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jüdischen Identität anging, so blieb die Construction allerdings weit weniger deutlich, als es beispielsweise die Druckfassung seiner Dissertation gewesen war. Ihre Unbestimmtheit ausgerechnet in bezug auf ihre vermeintlich zentrale Intention wirkte geradezu wie die Karikierung der Absichten, die Zacharias Frankel mit seiner Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums gehegt hatte – von einer positiv-historischen Definition des Judentums konnte bei Graetz in dieser Schrift wahrlich nicht die Rede sein. So mochte es nicht wundernehmen, dass die einzige größere zeitgenössische Reaktion auf den Essay ein höhnischer Kommentar im stark reform-orientierten Israeliten des 19. Jahrhunderts war216 – Bedeutung konnte die Construction erst gewinnen, nachdem ihr Autor selbst Karriere gemacht hatte und sein Name zum Programm geworden war.

2.4 Die Bedeutung von Freiheit und Sicherheit: Zwischen Revolution und Arbeitssuche Mit der Kontaktaufnahme zu Frankel hatte Graetz einen wesentlichen Schritt getan, um sich im Leben zu etablieren. Als dessen Mitarbeiter hatte er von ihm auch die Ordination erhalten (was ihm zudem weitere Probepredigten ersparte). Damit war ihm – ungeachtet aller Spannungen und Schwierigkeiten, die die beiden Männer miteinander hatten – gleichsam eine konfessionelle Heimat sowie ein Forum gegeben. Außerdem hatte er mit Marichen Monasch eine Frau gefunden, die er heiraten wollte (die er sogar liebte). Um sie aber heiraten zu können (und um sich selbst ein Auskommen zu verschaffen), musste er jetzt eine Stelle finden.217 Das nächstliegende war, eine Anstellung als Rabbiner zu suchen. Doch selbst das war leichter gesagt als getan, da sich die nicht wenigen „Candidaten der jüdischen Theologie“ schon seit den 1830er Jahren heftige Konkurrenzkämpfe um die wenigen Stellen lieferten; erschwert wurde dies durch den Umstand, dass das althergebrachte Ausbildungssystem zusammengebrochen war, ohne ersetzt worden zu sein.218 Graetz brachte für eine solche Karriere gute Voraussetzungen mit, da ja die ersten Gemeinden anfingen, ligion auf den zweiten Rang verdrängt. Doch wie erwähnt war für ihn selbst die Religion eben nur von sekundärer Bedeutung gegenüber der manifest gewordenen Geschichte). Graetz, Construction, 420 (93 f/75). 216 Vgl. Geschichte des Tages: Dr. H. Grätz. In: Israelit des 19. Jahrhunderts 7 (1846), 166 f. – Daneben lassen sich zu Graetzens Lebzeiten lediglich die Kommentare von Frankel in der Zeitschrift selbst festmachen. 217 Vgl. Graetz, TB, 148 f. 218 Zum Hintergrund vgl. Wilke, „Talmud“, passim, zur Stellensituation hier v. a. 494–497 und 590 f.

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dezidiert promovierte Kandidaten zu suchen, er aber zugleich auch für stärker traditionsorientierte Kräfte akzeptabel war. Mit seinem kecken Auftreten gegen Geiger hatte er sich deutlich profiliert und seinen Namen auch überregional bekannt gemacht. Mit Gleiwitz gab es schließlich sogar eine Gemeinde, die sich bereits vor dem Abschluss seines Studiums für ihn interessiert hatte, noch dazu eine der größten und wohlhabendsten Gemeinden in Schlesien. Doch so sehr der junge Universitätsabsolvent und Bräutigam eine Anstellung benötigte, er hatte doch eine Reihe von Vorbehalten. Eine Anstellung, so viel war ihm klar, bedeutete das definitive Ende seiner Freiheit;219 doch sein Widerwillen beschränkte sich nicht allein auf dieses ganz persönliche Motiv, er sah in einer Festanstellung überdies die Korrumpierung und Profanierung jeglichen Ideals: „Ein Beamteter ist ein Greis, u. wenn sein Blut noch so demagogisch in ihm rollt, er muß es bändigen, er muß es in den Karzer der Rücksichten einsperren.“ Sein Ideal waren die Propheten, die er als idealistische, gänzlich ungebunden agierende Gestalten bewunderte: O ihr Propheten, ihr Gottesmänner, wie beneide ich eure Stellung, ihr konntet eure Begeisterung in Flammenströmen ausgießen, ihr hattet kein direktes oder indirektes Examen zu bestehen, ihr durftet frei hintreten und sprechen, wie es eure Seele bewegte. Ihr konntet Gott ohne Gelehrsamkeit, ohne gedrechselte Rhetorik lehren, ihr wart Kinder eines Volkes. Wir aber sind Kinder der Studirstuben.“220

Die Propheten waren sein Ideal, auch in Bezug auf Rabbiner. In seinem Kopf hegte er höchst romantisierende Vorstellungen von einem „rabbinitischen Giganten“ mit langem Bart und „spanischem Rohrstock“, wie er es bereits bei seiner Begegnung mit Salomon Tiktin artikuliert hatte.221 Doch hatte ihn ja Tiktin ebenso enttäuscht wie der Kempener Malbim, und selbst Hirsch hatte diesem Ideal nicht entsprochen. Im Grunde dürfte ihm klar gewesen sein, dass das Ideal keinen Widerhall in der Realität fand. Der neu aufkommende Typus des „Doktor-Rabbiners“, dem der „unmännliche“ Geiger ebenso glich wie er selbst, entsprach seinem Ideal rabbinischer Gelehrsamkeit noch viel weniger: zu wenig repräsentativ, als Persönlichkeit zu wenig beeindruckend. „Unter allen Ämtern ist das Rabbinat am wenigsten für mich geschaffen“, seufzte er folgerichtig inmitten all seiner Hoffnungen auf Gleiwitz, „mir fehlt auf allen Seiten jene Macht der Erscheinung des imponierenden Auftretens, auch ist mein Wissen höchst mangelhaft“. Der entscheidende Punkt für sein Zögern aber war das konkrete Wirken im Gottes219 „Ich kann mich nicht mehr in der eignen Sphäre meiner Individualität bewegen. Das Amt, welch ein schreckliches Wort, das kalte Grab aller freien Entschlüsse, das Leichentuch der Jugend.“ Tagebucheintrag vom [22.9.1845]; Graetz, TB, 152 f, Zitat 153. 220 Tagebucheintrag vom [22.9.1845]; ebd., 152 f, Zitat 153. 221 Vgl. ebd., 120 sowie oben, Kap. II 1.3.

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dienst, die Homilie. Und hier fühlte sich Graetz als Versager: „aber das Predigen! Prrrr!“222 Seine praktischen Erfahrungen waren bislang wenig erbaulich gewesen, und auch seine erste Probepredigt in Gleiwitz wurde ein Fiasko – seine Nerven ließen ihn im Stich, und ohne recht begonnen zu haben musste er die Kanzel wieder verlassen.223 Immerhin, einen zweiten Auftritt wenig später hielt er durch, und wenngleich er „allerdings keinen Beifall erlangt“ hatte, so stärkte das doch sein Selbstbewusstsein, da er das eigentliche Problem erkannte: „ich kenne jetzt meine Stimme, sie ist voll, eindringlich. Aber ich memorire schlecht u. werde daher genöthigt seyn, die Predigten gut auszuarbeiten u. das Blatt vorzuhalten.“224 Mit einem weiteren Teilbereich des Rabbinats konnte Graetz sich ebensowenig anfreunden, der ritualgesetzlichen Tätigkeit des pôssek. Zu sehr war dieser Bereich für ihn mit der Methode des pilpûl verknüpft, jene (wörtlich: „gepfefferte“) Dialektik, die im Lauf der dreihundert Jahre seit ihrer Entwicklung nicht selten zu einer formalistischen und selbstgenügsamen Interpretationsweise erstarrt war.225 Graetz bevorzugte eher eine historisch-philologische Herangehensweise, wie sie in den Jeschivot Posens ansatzweise durchaus gepflegt wurde. Verstärkt wurde diese Neigung dadurch, dass er seine Vorkenntnisse aus Munks Wollsteiner Jeschivah bei seinen Studien gerade der Werke der historisch-kritischen Tübinger Schule der evangelischen Theologie wissenschaftlich ausbauen konnte. In der alltäglichen rabbinischen Praxis waren beide Methoden allerdings eher ungebräuchlich. Und auch für die tatsächliche Tätigkeit als Dezisor war er ungeachtet seiner praktischen Erfahrungen bei Hirsch kaum geeignet, wie er bereits in Oldenburg bemerkt hatte.226 Insofern erstaunt es wenig, dass ihm die Aussicht auf eine lebenslange Beschäftigung mit „Lamentationen u. Kasuistik“, wie er wenig respektvoll die rabbinischen Tätigkeiten beschrieb, wenig behagte.227 Erträglicher erschien ihm eine Position als Religionslehrer. Zwar stand das Sozialprestige dieses Standes unter dem des Rabbiners;228 doch brauchte er keine peinvollen Erlebnisse bei öffentlichen Vorträgen zu befürchten, und da Graetz in diesem Metier bereits Erfahrungen gesammelt hatte, durfte er sich hier sicherer fühlen. Die altgläubigen Teile der Breslauer Gemeinde 222 Beide Zitate aus dem Tagebucheintag vom [6.10.1845]; Graetz, TB, 154. – Vgl. auch ebd., 138 u. ö. 223 Vgl. ebd., 154 f. 224 Tagebucheintrag vom [11.10.1845]; ebd., 154 f, Zitat 155. 225 Vgl. Breuer, Frühe Neuzeit, 205 f. 226 Zu den rabbinischen Lehrmethoden vgl. Wilke, „Talmud“, 191–218. – Graetz führte seine mangelnde Eignung zum „Paskenen“ in Oldenburg auf seine mangelnde Schulung durch Hirsch zurück; vgl. Graetz, TB, 53, sowie oben, Kap. II 1.2. 227 Tagebucheintrag vom [November/Dezember 1845]; ebd., 157. 228 Zur Rolle von Lehrern im Verhältnis zur Rabbinerausbildung im Vormärz vgl. Wilke, „Talmud“, 608 ff.

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hatten sich bereits länger um den Aufbau einer Religionsschule bemüht, der als Gegeninstitution gegen den Geigerschen Lehr- und Leseverein fungieren sollte. Graetz war hierfür als Leiter im Gespräch, und mit der Promotion hatte er auch eine wesentliche formale Voraussetzungen erfüllt.229 In der Folge bemühte er sich darum, die übrigen Zeugnisse zu erwerben: ein staatlich anerkanntes Lehrerzeugnis sowie – als Posener Jude – das Breslauer Bürgerrecht, um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Schlesien zu erhalten. Das kostete allerdings viele Mühen, nicht zuletzt für die nötigen Geldsummen zum Unterhalt der Schule, deren Bestand stets prekär war.230 Doch kaum, dass dies einigermaßen gesichert war und Graetz erste Schritte als Direktor dieser Institution tun konnte, als ihm wegen Differenzen über sein Gehalt auch schon gekündigt wurde. Neuerlich stand er mittellos da, diesmal allerdings ohne irgendeinen „Stummel von Hoffnung“.231 Dem Scheitern folgten Wochen der Verzweiflung und des Hungers. Mit dem Ausbruch der revolutionären Ereignisse, die am 6. März 1848 auch Breslau erreichten, wurde seine Situation in der schlesischen Hauptstadt immer unhaltbarer.232 Schließlich trieb ihn der Hunger zu seinen Eltern ins Posensche Kosten zurück. Ohne eine Aussicht auf Anstellung und weitab von den Zentren der religiösen Debatten, hatte er keine Gelegenheit, sich weiter zu Fragen des Judentums zu engagieren. Graetz verzweifelte in dieser Zeit nahezu an seiner erzwungenen Untätigkeit.233 Nach einigen Monaten reiste er zu Hirsch, der mittlerweile Landesrabbiner in Mähren geworden war. Doch auch dort, in Nikolsburg, „dem klassische[n] Ghetto, wo die Heroen des pilpûl ihre Symmachien kämpften“, erging es ihm nicht besser.234 Ohnehin fokussierte sich das öffentliche Interesse von Nicht-Juden wie von Juden zunehmend auf die politischen Ereignisse, zunächst in Paris, dann wie in einem Lauffeuer an den verschiedenen Orten in ganz Europa. Graetz be229 Vgl. Graetz, TB, 140. 230 Für die staatlich anerkannte Lehrqualifikation hospitierte er am katholischen Schullehrerseminar in Breslau, bis er am 4.11.1847 die Zertifizierung der bestandenen Abschlussprüfungen erhielt; Vgl. Graetz, Aufzeichnungen, 24, und Bloch, Biographie, 33 mit Anm. 1. – Für den Erwerb des Breslauer Bürgerrechts vgl. Graetz, TB, 174, sowie die Briefe an den Gemeindevorstand der Gemeinde in Kosten, wo er wegen seiner Eltern registriert war; ebd., Nr. 2–4, 221 f mit Anm. 1 zu Nr. 4. 231 Die Kündigung war zum 31.12.1847 erfolgt. Tagebucheintrag vom [7.1.1848]; ebd., 174 f, Zitat 175. – Graetzens Verzweiflung, da ja durch das Scheitern auch seine Heiratspläne in weite Ferne gerückt waren, wurde noch dadurch vermehrt, dass auch sein Schwiegervater Monasch inzwischen bankrott gegangen war; vgl. ebd., sowie Fraenkel, Memoirs, 215. 232 Zu den Ereignissen der Revolution von 1848/49 in Breslau vgl. Davies/Moorhouse, Blume Europas, 272 ff; Gürtler, Vereine, 107–184. 233 Vgl. Graetz, TB, 179 f. 234 Tagebucheintrag vom [16.10.1848]; ebd., 180 f, Zitat 180. – Hirsch war am 30.12.1846 gewählt worden; vgl. AZJ 11 (1847), 59, sowie Rosenbloom, Tradition, 83–94.

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schrieb das Zeitgeschehen zwar nur sporadisch und zusammenfassend, aber doch recht umfänglich in seinem Tagebuch.235 Diese Einträge sind insofern von Interesse, weil er hier ein Thema behandelt, das bis dahin in seinem Tagebuch so gut wie keine Rolle gespielt hat: Politik und Zeitgeschehen. Es ist unwahrscheinlich, dass Graetz sich jetzt erst mit diesen Themen beschäftigt haben soll, dafür sind seine Urteile zu klar; in seinem Tagebuch freilich tauchen sie mit eruptiver Urgewalt auf.236 „Ein Racenkrieg ist im Entstehen“, konstatierte er in seinem ersten langen Eintrag dieser Monate, nachdem die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen im Großherzogtum Posen eskaliert waren.237 Gerade für Fragen nach der Identität sind solche krisenhaften Momente sehr aufschlussreich, da wie selten sonst Frontstellungen entstehen und Parteinahmen erzwungen werden, was jeweils auf Grund des Zwangs zur Parteinahme identitätsbildend wirkt. Selbstverständlich muss jedoch bei der Analyse die Ausnahmesituation dieser Identitätsbildung im Hinterkopf behalten werden, um Überbetonungen und Verzerrungen zu vermeiden, da Individuen gerade in solchen Krisenzeiten zu einer Vereindeutlichung neigen, die in ruhigeren Zeiten in dieser Schärfe vielleicht nicht mehr aufrechterhalten werden würden. Für die Juden im Großherzogtum Posen bedeuteten die Konflikte während der Revolution den Zwang zur Wahl zwischen den katholisch-polnischen Insurgenten und der protestantisch-preußischen Obrigkeit – eine oftmals unmögliche Auswahl, auch wenn eine Verweigerung nur zum Preis des eigenen Lebens möglich gewesen wäre.238 Erzwungen wurde somit prinzipiell Neues. Ungeachtet allen Affinität zu deutscher Kultur auf Grund der Leistungen der Aufklärung allgemein und der Haskalah im besonderen hatten sich die Juden Posens stets als eigenständige Gruppe zwischen Deut235 Vgl. Graetz, TB, 176–193 und 198 f. 236 Kemlein betont, dass die revolutionären Ereignisse für viele Posener Juden erstmaliger Anlass gewesen seien, sich mit nichtjüdischen Belangen auseinanderzusetzen; vgl. Posener Juden, 312 f. Wenn sich Kemleins Aussage für ein politisches Engagement verallgemeinern lassen sollte, sagt dies freilich nichts über die entsprechende intellektuelle Beschäftigung aus. Im Falle von Graetz erscheint es mir unwahrscheinlich, dass er sich zuvor überhaupt nicht mit allgemeiner Politik und dem Zeitgeschehen beschäftigt haben sollte, auch wenn diese in seinem Tagebuch so gut wie keinen Niederschlag gefunden haben. Zu den wenigen Ausnahmen vgl. unten, FN 250. 237 Tagebucheintrag vom [29.6.1848]; Graetz, TB, 176–180, Zitat 177. – Im April war es in Wreschen erstmals zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen, weitere Übergriffe fanden in ca. 12–15 Orten des Großherzogtums statt, wobei mehrere Juden ums Leben kamen. Zur Ereignisgeschichte vgl. Kemlein, Posener Juden, 308–321; Mattl, Revolution. Zum Hintergrund vgl. Siemann, Deutsche Revolution. 238 Hierzu und zum Folgenden vgl. Brenner, Zwischen Revolution, 288–298; Kemlein, Posener Juden, 245–321; Toury, Soziale und politische Geschichte, 119–131. – Lindner berührt Posen nur am Rande. Vgl. Patriotismus, 120 f und 250–256.

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schen und Polen angesehen, mit Religion und (oftmals) Sprache als Distinktionsmerkmalen. Solange sie in keine äußere Entscheidungssituation gedrängt worden waren, hatte diese Gruppe der aschkenasischen Judenheit ebensowenig eine preußischjüdische wie eine polnischjüdische Identität, sie war im Laufe des 19. Jahrhundert zunächst eine Posener Judenheit. Auf Grund des Gesetzes von 1833, das hohe rechtliche Grenzen zwischen dem Großherzogtum und dem übrigen preußischen Staat errichtete, konnte es auch innerhalb der Provinz kein Selbstverständnis als deutsche oder preußische Juden geben. Im Vergleich mit Juden aus den russisch-beherrschten Teilen Polens wiederum unterschieden sich die Posener durch den viel höheren Grad an Akkulturation sowie die wesentlich weiter verbreiteten religiöse Reformen, selbst in vermeintlich traditionalen Gemeinden; im Vergleich mit jenen „polnischen Juden“ gehörten die Posener also wiederum zu den „deutschen“ Juden. Kurz: Ungeachtet der jeweiligen Terminologie in der Selbstbezeichnung trifft es wohl am ehesten, allgemein von „Posener Juden“ als einer eigenen Bevölkerungsgruppe zu sprechen. Im Sinne eines situativen Identitäts-Konzeptes kann eine solche Identifizierung freilich nur allgemein gelten. Sobald eine konkrete Konfrontation oder Zuschreibung vorlag, wirkte sich dies gerade auch auf das Selbstverständnis aus. So gab zahlreiche patriotische Bekundungen der Zugehörigkeit zum preußischen Staat und der Anhänglichkeit an das Königshaus, die jeweils mit dem Wunsch zusammenhingen, von der staatsrechtlichen Abtrennung mit den zugehörigen Benachteiligungen von 1833 befreit zu werden. Auch in dieser Perspektive bildete die preußisch-deutsche Kultur die attraktivere Option als die polnische, die gleichsam grundsätzlich mit einer fundamentalen Oppositionshaltung verbunden gewesen wäre. Nachdem bereits 1847 auf dem Vereinigten Landtag die rechtliche Gleichstellung der Posener Juden mit den übrigen Juden im Königreich Preußen erreicht worden war, setzte ein Prozess der Nivellierung der posenjüdischen Identität gegenüber den übrigen preußischen Juden ein, der durch die verheißungsvollen Beschlüsse des Paulskirchenparlaments im Revolutionsjahr weiter befördert wurde. Auch die Akzeptanz jüdischer Aktivisten für nicht spezifisch-jüdische Ziele wie etwa Gabriel Riesser oder Moritz Veit während der Revolution nährte Hoffnungen auf allgemeine Gleichstellung der Juden. Als dann schließlich unter dem Druck der aufkeimenden Nationalitätenkonflikte in Ostmitteleuropa Juden mit „den Deutschen“ gleichgesetzt wurden (wie dies etwa durch die polnischen Nationalkommittees geschah) und unter Repressalien zu leiden hatten, sprach auch das Sicherheitsbedürfnis für eine Hinwendung zur Berliner Zentralgewalt.239 239 Einen bemerkenswerten Sonderfall stellten jüdische Ärzte wie Robert Remak oder Markus Mosse dar; zu ihnen vgl. Kemlein, Posener Juden, 302–308.

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Graetzens Einstellung unterschied sich hiervon zunächst nicht wesentlich. Wie gezeigt, hingen außerhalb seiner Heimatprovinz seine Selbstpositionierungen als Jude aus Polen stets mit der konkreten Situation sowie den jeweiligen Fremdzuschreibungen zusammen, wie sich dies in Oldenburg und in Breslau bemerkbar gemacht hatte. Daraus resultierte auch seine Tendenz, den Begriff „deutsch“ in Bezug auf Juden mit „reformfreudig-akkulturiert“ gleichzusetzen, etwa wenn er über die Berliner Reformgenossenschaft schimpfte: „Von den verdammten deutschen Juden ist noch nie etwas gescheidtes zustande gekommen“.240 Die Ereignisse der Revolutionszeit hinterließen allerdings ihre Spuren auch in Graetzens Wortwahl, die hier eine eigene Charakteristik entwickelte. Bei ihm verselbständigte sich der Begriff „Juden“ und wurde zur eigenen Kollektivbezeichnung. Besonders nach der Radikalisierung der Aufstände in Polen und der religiösen Aufheizung wurde dies deutlich. Er beobachtete die Sorgen der „bornirten und engherzigen Deutschen u. Juden im Herzogthum“, wobei der Zusammenhang nahelegt, dass die Posener Juden bei aller Nähe zu „den Deutschen“ eine eigene Größe darstellten.241 Und etwas später, nach dem preußischen Verfassungsoktroi von 1848, heißt es erstmalig in den Tagebüchern: „wir Juden“.242 Der Hintergrund dieser andeutungsweisen Verselbständigung ist wohl weniger in einer besonderen Wandlung seines Selbstverständnisses zu suchen als vielmehr in dem Auftreten neuer Akteure – während bis dahin in seinen Tagebüchern allenfalls von einzelnen Christen als Individuen die Rede gewesen war, so ging es nun, mit dem Aufkommen von Politik als Thema, um die Nicht-Juden als Kollektiv und ihr Verhältnis zu den Juden. In einem solchen speziellen Zusammenhang wurde aber auch die bisherige Binnendifferenzierung in verschiedene „Judentümer“ (wie Reform, die Tiktin-Partei etc.) obsolet, da sich hier eine neue Abgrenzung eröffnete. Daraus resultierte am Ende dann auch die plötzliche Maskulinisierung aller Juden, als er stolz feststellte: „Nur die Juden, wo sie in den politischen Wirrwarr eingreifen, zeigen sich männlich entschieden“. Überdies repräsentierten „die Juden“ als Kollektiv nun auch politisch das rechte Maß, galten sie ihm doch (in seiner bemerkenswerten Formulierung) als „besonnen u. doch ultra“.243 Doch gilt es, derlei Begeisterung für die Rolle von Juden bei den Ereignissen nicht überzubewerten.244 Wenngleich ihm die „jüdische Sache“ immer noch wich240 Tagebucheintrag vom [14.5.1845]. Graetz, TB, 143. 241 Ähnlich auch der ansonsten nicht recht verständliche Vermerk kurz darauf: „Spannung zwischen Deutschen u. Polen, namentlich Juden.“ Beide Zitate aus dem Tagebucheintrag vom [29.6.1848]; ebd., 176–180, hier 177. 242 Tagebucheintrag vom [18.12.1848]. Ebd., 181 f, Zitat 182. 243 Beide Zitate Tagebucheintrag vom 30. Januar [18]49; ebd., 183 f, hier 183. 244 So erwähnt Graetz beispielsweise diejenigen Juden, die wie etwa Gabriel Riesser oder Moritz Veit in der Paulskirche durchaus führend tätig waren, mit keinem Wort. Statt dessen ist

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tig war, so handelte es sich in diesem Kontext nur um einen Teilaspekt seiner Eintragungen.245 Wichtiger war ihm die Kritik an den bestehenden Verhältnissen246 mit ihrem Gefühl der vermeintlichen Sicherheit, wie er sie im französischen Bürgerkönigtum personifiziert sah. Und durchaus mit Wohlgefallen verglich er Louis-Philippe mit dem babylonischen König Belsazar aus dem biblischen Daniel-Buch, da beide durch ein „Banquett“ aus ihrer Hybris und von ihrem Thron gestürzt worden seien.247 Sein Spott richtete sich dabei auch gegen den auf rationalistischen und wissenschaftsgläubigen Zeitgeist jener „kritischen Menschen des Jahrhunderts, die alles erklären, alles zu klassificiren u. zu rubriciren u. zu analysiren verstehen, ja vielleicht gar [in die Zukunft schauend] sind“.248 Und nicht nur hier idealisierte er seine anti-bürgerliche Haltung durch religiöse Elemente, hegte er doch die „Hoffnung auf einen verbesserten, messianischen Endzustand“, da es ja offenkundig sei, „daß der Communismus in der Sonnenähe sich“ befinde.249 Hier versah er seine schon länger gehegten gesellschaftlichen Ansichten250 mit polianzumerken, dass er erstmals während dieser ereignisreichen Zeit von seinem bis dahin konsequent geübten Brauch absieht, nach dem jüdischen Kalender zu datieren. Vgl. (erstmals) Tagebucheintrag vom 3. Mai [1847]; Graetz, TB, 170. In der Folge datiert er im Tagebuch unregelmäßig nach der christlichen oder nach der jüdischen Zeitrechnung, seine Briefe hingegen, auch die an Gemeinden wie etwa die in Kosten, datiert er durchweg nach christlicher Zeitrechnung. 245 Vermutlich ist dieser andersartige Schwerpunkt auch der Grund, dass sich Michael in seiner Biographie in keiner Weise zu Graetz in der Revolution von 1848/49 äußert. 246 Dem entspricht auch seine Analyse der politischen Gesamtlage im Ende Juni 1848: „Die Bewegung in Europa ist offensichtlich eine dreifache, zuerst eine politische Erscheinung von faulem, bevormundendem Regierungssystem; so in ganz Deutschland, in Italien, in den österreichischen Ländern. Dann ein nationales Streben abhängiger, unterdrückter Nationalitäten nach Selbstständigkeit und Einheit. So die Polen, Czechen, Schleswig-Holsteiner, und selbst das deutsche Einheitsstreben hat diesen Hintergrund. Endlich der sociale Kampf des Menschen gegen die gesellschaftliche Ungleichheit – Arbeiterbewegung, scharf ausgeprägt in Frankreich u. Deutschland, u. selbst in England nicht fremd, Chartisten u. irische Repealer gegen die Parlamente. Die wirksamsten Hebel dafür sind die täglich zunehmende Kreditlosigkeit, das Verschwinden des Geldes, Zunahme des Pauperismus. Proudhon u. Pierre Leraux sind Mitglieder der Nationalversammlung.“ Graetz, TB, 179 f. 247 Tagebucheintrag vom [29.6.1848], 176. – Die Pariser Februarrevolution 1848 hatte ihren Ausgangspunkt in einem (letztlich abgesagten) fund raising-Bankett der liberalen Kammeropposition gehabt; vgl. Bingham, Banquet Campaign. 248 Tagebucheintrag vom [29.6.1848]; Graetz, TB, 176. 249 Tagebucheintrag vom [29.6.1848]; ebd., 179. – Mit einer solchen chiliastischen Erwartung stand Graetz nicht allein, fand sie sich doch bei vielen Radikaldemokraten und Sozialisten dieser Zeit, wie etwa auch bei Moses Hess, Wilhelm Weitling oder Karl Marx. Doch auch weniger politische Geister wie etwa Leopold Zunz hegten ähnliche Erwartungen. Vgl. Brenner, Zwischen Revolution, 296; Nipperdey, Geschichte I, 393 ff; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 574 f. 250 Insbesondere das Geld und die Börse hatten immer wieder verachtungsvolle Kommentare im Tagebuch des mittellosen Schlachtersohnes gefunden; vgl. etwa Graetz, TB, 64 und 65 (1838), 85 (1840), und 127 (1843).

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tischen Etiketten. Doch ungeachtet solcher Rhetorik sind die entsprechenden Schlagworte zu allgemein, als dass er voll und ganz dem sozialistischen Lager zuzuordnen wäre; wahrscheinlicher erscheint eine radikaldemokratische Orientierung, die wohl auch seiner religiösen Grunddisposition eher entsprach. Eindeutig lässt sich freilich feststellen, dass es sich um eine Art „Anti-Establishmentopposition“251 gehandelt hat, in der er sich befand: Aus seiner Ablehnung der Institutionen des Bestehenden machte er ebenso wenig einen Hehl wie aus seiner Verachtung eines als spießbürgerlich wahrgenommenen juste milieu. Graetz identifizierte sich mit den Verfolgten. Daher verstellte ihm, als er bereits in Nikolsburg weilte, die Freude über die 1849 durch den österreichischen Verfassungsoktroi im Habsburgerreich gewährte Emanzipation nicht den Blick für die Unvollständigkeit des Oktrois für die anderen Nationalitäten im Vielvölkerstaat: „Also für uns einen Schritt weiter. Aber auch für die Völker, ohnmöglich können sie diesen Hohn der Militärgewalt ertragen“!252 Er wünschte sich entsprechend den Erfolg der Aufständischen: „Gott gebe nur den Ungarn Sieg u. den Italienern Ausdauer – dann wird alles gut werden“.253 Allein seine Hoffnungen erfüllten sich nicht, mit Schmerz musste er das Scheitern der Revolution und ihre blutige Niederschlagung erkennen: Auf dem ganzen Erdkreise triumphirt der Hochmuth des Königthums, die Engherzigkeit des Mammons, der Trotz der Soldateska, die Scheinheiligkeit u. Verschmitztheit der Pfaffen; u. die wahren Freunde der Menschheit überall geächtet, verfolgt u. eingekerkert oder gar ermordet. Die rote Fahne ist geröthet von dem Blut ihrer Träger.“254

Sein Resümee fiel bitter aus: „Der März war eine großartige Fata Morgana“.255 Wie nicht wenige andere Intellektuelle mit ähnlichen Lebensläufen wie ihm ging auch Graetz aus den stürmischen Revolutionsjahren „um viele Ideale ärmer“ hervor.256 Zunächst aber machte sich vor allem Bitterkeit breit, die

251 Nipperdey, Geschichte I, 390. 252 Vgl. Tagebucheintrag vom [9.3.1849]. Graetz, TB, 187. – Es ist wohl wahrscheinlich, dass Graetz hier einen Hebraizismus verwendet, der statt des hebr. gôjîm im Sinne von „NichtJuden“ „Völker“ setzt. 253 Über den Aufbau der Konstitution hielt er fest: „Nur zwei Faktoren erlangen Geltung, der bewaffnete Adel u. der geadelte Geldmann. Alles Übrige, Masse, Intelligenz wird gänzlich verächtlich behandelt. […] Die Verfassung ist für einen Föderativ-Staat zu straff u. für einen Zentralstaat zu lose.“ Ebd. 254 Tagebucheintrag vom [16.9.1849]; ebd., 193. 255 Tagebucheintrag vom [9.5.1849]; ebd., 190. 256 Tagebucheintrag vom [29.7.1850]; ebd., 194. – Vergleichbare Fälle wären (um nur einige wenige zu nennen) etwa der Historiker Theodor Mommsen oder die Orientalisten Heinrich Plath und Karl Friedrich Neumann. Vgl. Rebenich, Mommsen, 63–71; Walraven, Schriftenverzeichnis, 416 f.

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bei Graetz noch durch den Tod seiner Mutter verstärkt wurde.257 Und auch eine anfänglich von Hirsch in Aussicht gestellte adäquate Beschäftigungsmöglichkeit entpuppte sich als Seifenblase: Der mährische Landesrabbiner hatte seinen ehemaligen Schüler dadurch überredet, bei ihm in Nikolsburg zu bleiben, dass er ihm die Errichtung eines Rabbinerseminars in Aussicht stellte, an dem Graetz unterrichten sollte. Doch wurden die Planungen verschleppt, es gab mannigfaltige Widerstände, und der junge Lehramtskandidat musste sich notdürftig durchschlagen, unter anderem mit geschichtlichen Vorlesungen in der Nikolsburger Jeschivah.258 Die Zusammenarbeit ließ seine Beziehung zu Hirsch neuerlich abkühlen, und weitere Umstände verleideten ihm die mährische Kleinstadt, dieses „dumpfe Loch“, wie er sie bezeichnete.259 Doch auch in Brünn und Wien, wohin es ihn in der Hoffnung auf zahlende Privat-Schüler trieb, fand er kein genügendes Auskommen, selbst die Anwesenheit seiner Verlobten Marie Monasch vermochte nicht, seine Sorgen zu lindern – im Gegenteil.260 Mehr als je zuvor sind die Tagebucheinträge 1850 voller gekränktem Stolz und Verbitterung: Kann jemand begreifen, wie einem zu Muthe ist, der in literarischen Kreisen eine gewisse Rolle gespielt hat, dessen Geist sich zum höchsten Fluge zu erheben, nicht ermattete, jetzt verschollen u. vernachlässigt, verachtet zur Seite geschoben, die schönste Aussicht hat, bald obdachlos in der Welt umherzuirren, u. auf irgend einem Fleck der Erde zu verkümmern u. ruhelos wie ein räudiger Hund zu krepieren.261

Selbst sein Glaube vermochte ihm in dieser Zeit kaum Stärkung zu geben angesichts eines Schuldenberges, seiner Verantwortung für Vater und Braut und der Hoffnungslosigkeit, daran etwas ändern zu können: „Kein Gott kann mir helfen“.262 Dabei war mitunter auch das Bild des von der Gesellschaft 257 Sie war im November 1848 in Kosten gestorben, als Graetz schon in Mähren war [die Datumsangabe von Michael ist unlogisch]; Graetz, TB, 181 sowie 183 und 194. 258 Über Hirschs Wirksamkeit als Reformer der Talmudausbildung in Mähren vgl. Wilke, „Talmud“, 539 f. 259 Tagebucheintrag von Purim, 9. März 1849; Graetz, TB, 187; sowie Bloch, Biographie, 35. 260 Vgl. Graetz, TB, 196 f. – Gerade das Hinauszögern der Heirat aus wirtschaftlichen Gründen war für Graetz wohl eine belastende Erfahrung; vgl. auch ebd., 180 [16.10.1848]. Bemerkenswerterweise scheint es für ihn keinerlei Besonderheit gewesen zu sein, dass seine Verlobte allein mit ihm in einer fremden Stadt gelebt hat, in welcher konkreten räumlichen Trennung vor Ort auch immer. Unter Sittlichkeits-Aspekten scheint mir dies gleichwohl ein festhaltenswertes Detail zu sein. Vgl. Tagebucheintrag vom [5.3.1850]. Ebd., 196. 261 Tagebucheintrag [20.8.1850]. Ebd., 198 f. – Vgl. auch den Tagebucheintrag vom [22.1.1850]: „Die Erde wird noch ein Plätzchen bieten für einen Verhungerten, der Großes gewollt hat, und erbärmlich geendet!“ Ebd., 196. 262 Im gleichen Eintrag heißt es auch, dass er eigentlich 600 Rthlr. „zur Schuldentilgung u. zur ersten Einrichtung“ benötigte. Tagebucheintrag [15.3.1850]. Ebd., 197. – Es sei angemerkt, dass im Tagebuchmanuskript (5. Heft) die folgenden sechs Seiten (133–138) fehlen!

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verkannten Genies, dessen Verdienste nur mit Undank belohnt werden, nicht allzu fern: […] die Menschen verdammen mich mit ihrer Gleichgültigkeit, die Juden kümmern sich nicht um mich, die Orthodoxen, denen ich durch meine schriftstellerischen Leistungen manchen Kitzel verursacht, läßt[!] mich im Stich, er selbst [= Hirsch], der tausend Verpflichtungen hätte, mir auf die Beine zu helfen, und tausend Gelegenheiten hat, alle diese zusammen sehen meinen Schmerz, meinen inneren Gram, nicht um meine aussichtslose Zukunft, nein, einen sich selbst verzehrenden Thätigkeitsdrang, um die Nichtachtung des dummen u[nd] weise sich dünkenden Volkes, um einen dem Hunger u[nd] dem Betteln ausgesetzten Vater, um die dem Versitzen u[nd] dem grauen Zopf geweihte Braut, dieses alles merkt niemand, würde auch niemand abhelfen – gegen dieses Menschenpack soll ich Rücksicht nehmen? Ich schulde der Gesellschaft nur Gram.263

Im Sommer war er gar der Verzweiflung nahe: Graetz sah in sich selbst nichts mehr als „Verzweiflung, innere Leerheit, En[t]artung u. Schwäche!“, und weiter: „O hätte ich nur den Muth zum Selbstmord, um dieser ewigen Qual endlich, endlich zu entgehen; […] Aber mir fehlt Alles, Alles, der Muth zu leben, zu sterben, mich in die Strudel der Welt zu werfen u. einsam zu leben, Alles ekelt mich an, u. nicht eine Feder meiner Seele ist Spannung.“ In seinem Zorn auf die Gesellschaft erging er sich in Phantasien ihrer Zerstörung: Ha welche Wollust in dem Gedanken, dieses Geschlecht von Pfaffen u. Andächtlern, von Diplomaten u. parfümierten Journalisten, von Rechtsverdrehern u. Rechthabern, dieses Gezücht von Anmaßenden u. Herzlosen mit einem Streich aus ihrer Behaglichkeit zu stürzen. O ja die falsche Civilisation, die Tugendhelden, die ihren Eigensinn für Pflicht, ihre Dummheit für Mäßigung, ihre Schweigsamkeit für hohe Weisheit ausgeben. O eine Sündfluth, das ist das Gebet u. der Fluch, die aus meiner düstern Seele dringen. […] Darum eine Sündfluth, ein Gingis-Kahn, u. müßte ich auch untergehn, so wäre doch der Anblick des Jammers anderer eine wollüstige Befriedigung!264

Graetz fühlte sich zutiefst unverstanden, unwürdig behandelt – und er sah diese ganze Verzweiflung als das Resultat seiner „falschen [gesellschaftlichen] Stellung“, wie es ihm in dieser Tagebuch-Klage unvermittelt entfuhr. Seine Missachtung durch die Mitwelt beruhe darauf – und auf deren „Vorturtheilen über Religion, Ehre, conventionellem Anstand“.265 In jenem 263 Nicht genauer datierbarer Tagebucheintrag aus dem Frühsommer 1850. Ebd., 197 f. 264 Alle Zitate aus dem Tagebucheintrag vom [20.8.1850]. Ebd., 198 f. – Die wiederholte Anrufung einer „Sündfluth“ und eines neuen Dschingis Kahn nehmen ein Zitat des ungarischen Generals Moritz Perczel von Bonyhád (1811–1899) auf, das Graetz eingangs höchst beifällig zitiert hatte. 265 Tagebucheintrag vom [20.8.1850]. Ebd., 199.

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Sommer 1850 war dies lediglich ein flüchtiger Gedanke, der sofort abgelöst wurde von dem bereits zitierten Ekel vor der Welt und dem Leben. Doch mit der sich abzeichnenden Besserung seiner Lage und mehr noch nach seiner erfolgreichen Etablierung, machte sich Graetz daran, tatkräftig gegen jene „Vorurteile über Religion, Ehre, conventionellen Anstand“ zu Felde zu ziehen. Tatsächlich sollte insbesondere sein wichtigstes Medium, die Geschichte der Juden im Wesentlichen eine Entfaltung dessen bieten, was für Graetz wahrhaftig Religion und Sittlichkeit waren. Es dauerte zunächst jedoch noch bis September des Jahres, bis sich zumindest eine leise Hoffnung ergab: eine bescheidene Lehrerstelle in Lundenburg. Graetz war sehr unglücklich mit dieser Aussicht, wie nicht bloß der Tonfall des Tagebucheintrages belegt, hieß dies doch, bei geringer Bezahlung weiterhin in dem „klassischen Ghetto“ Nikolsburg verweilen zu müssen und überdies: weiterhin Hirsch unterstellt zu sein, von dem er sich so enttäuscht sah.266 Andererseits bedeutete dieses Angebot auch, dass er endlich Marie Monasch heiraten konnte. Gleichwohl wollte sich nur eine temperierte Freude einstellen: „[…] nun geht’s toll ans Heirathen. Mein Gemüth ist ruhig; ich empfinde nicht jene wallende Freude, jenes übermannende Entzücken, das der Jugend u. Unerfahrenheit eigen ist. Aber jede prickelnde Sorge ist meinem Gemüthe fern.“267 Zugleich war sich der 33-jährige bewusst, wie sehr sich auf ein Mal sein bislang so unstetes, aber eben auch freies Leben ändern sollte. Nicht frei von (wenngleich ironisch gefärbten) Selbstzweifeln übte er in seinem Tagebuch Rückschau auf die frisch getroffenen Entscheidungen: So will ich denn mein bisheriges einsames, beschauliches Leben zum Abschluß bringen, um einem thätigen überwachenden entgegenzusehen. Ich bin dahin gedrängt worden, ohne zu wissen wie. Eine lange Zeit hat mein Inneres gekämpft zwischen Freiheitsdrang und Pflichterfüllung. Wie, ich einem großen Amte vorstehen? Ich den regelmäßigen Zirkel des Ehelebens ertragen?268

Zumindest in dem letzteren Punkt war er sich sehr schnell sicher, dass es die rechte Entscheidung sei und der Preis dafür nicht zu hoch: „Endlich hört die vage Freiheit für mich auf, aber auch die Einsamkeit, die Unbehaglichkeit, die Heimathlosigkeit“.269 So weit die Quellen hier irgendeine Einsicht erlau266 Vgl. Tagebucheintrag vom [4.9.1850]. Sein Gehalt sollte ursprünglich 600 Gulden bei freiem Logis betragen, was er letztendlich noch auf 700 fl hochhandeln konnte. Vgl. ebd., 200. 267 Tagebucheintrag [1.10.1850]. Ebd., 200. 268 Ebd. 269 Tagebucheintrag vom [25.11.] 1850. Ebd., 201 f, Zitat 201.

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ben, war es nicht nur eine Liebesheirat gewesen, sondern blieb bis Graetzens Tod 1891 eine glückliche Verbindung.270 Was allerdings das Amt betraf, so machten sich in Mähren rasch die Schattenseiten der neuen Existenz bemerkbar. Das Salär entpuppte sich als sehr beschränkt, Graetz nahm den Empfang in seiner neuen Heimat als frostig wahr, und bald schon geriet er in die lokalen Kabalen und Eifersüchteleien. Der junge Lehrer von auswärts wurde von den Alteingesessenen sowohl in religiöser wie in politischer Hinsicht kritisch beäugt, es soll sogar zu Denunziationen „wegen demokratischer Gesinnung“ gekommen sein.271 Schließlich war es auch noch zu so etwas wie einem Bruch zwischen Graetz und Hirsch gekommen, als sich Marie Graetz weigerte, ihr Haar mit einem Scheitel, einer Art Perücke, zu verbergen, wie sich dies nach Meinung des Landesrabbiners für eine verheiratete und sittsame Jüdin geschickt hätte. „Dieser bigotte Narr“, schimpfte Graetz im Tagebuch über seinen Vorgesetzten, und haderte mit dem Schicksal, sich nicht aus der Abhängigkeit „dieses dünkelhaften Gottesknecht[s]“ befreien zu können. Neuerlich fühlte sich Graetz zutiefst und allseits ungerecht behandelt: „Die Niederträchtigkeit zum Feinde, die politische Demokratenfresserei zum Richter, die kleinmüthige Unbeholfenheit u. pedantische Gradheit zum Helfer u. die bornirte eingebildete Dummheit zum Rivalen zu haben“, resümierte er seine Lage gegen Jahresende 1850.272 Auch als Hirsch einen Ruf der orthodoxen Aus270 In seinem Memorial-Aufsatz schrieb Philipp Bloch: „Über dem Verhältnis zu ihrem Gatten schwebte bis zum letzten Tage eine Art bräutlichen Schimmers. Infolge des Alters hatten in der letzten Zeit ihre körperlichen und geistigen Kräfte nachzulassen begonnen. Da war es rührend zu sehen, wie ihre Züge, sobald die Rede auf ihren verstorbenen Gatten kam oder es sich um dessen Schriften handelte, sich alsdann belebten, sie an der Unterhaltung oder Verhandlung vollen Antheil nahm und ihre Geisteskräfte nichts zu wünschen übrig ließen.“ Bloch, Biographie, 71, Anm. 1; vgl. auch Abrahams, Graetz, 171. – Hiervon sollte auch Markus Brann bei den postumen Auflagen von Graetzens Geschichte betroffen sein, ohne dies so romantisierend zu empfinden wie der Familienfreund Bloch. Allerdings scheint sich von einem Briefwechsel zwischen Marie Graetz und Brann kaum etwas erhalten zu haben, obwohl offenkundig Graetzens Witwe sowie später die Kinder Flora und Leo Graetz die Neuauflagen persönlich überwachten. Als eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse hierfür vgl. den Brief von Marie Graetz an Brann vom 19.8.1896 zu einer Anmerkung Branns zu Spinoza in der Neuausgabe von Bd. X, „die einer Zurückweisung und Kritik des von meinem Mann gesagten zu ähnlich sieht“, mit der Bitte um Streichung dieser Anmerkung. JNUL Jerusalem, Nachlass Mordechai Markus Brann, Ms. Var. 308, File 481. 271 Vgl. die Tagebucheinträge aus zwischen Sommer 1849 und dem Frühjahr 1851. Graetz, TB, 191 und 202 f, sowie AZJ 17 (1853), 70 und 517 f. – Im Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie dem Österreichischen Landesarchiv, beide Wien, fand sich über diese Vorgänge nichts. 272 Tagebucheintrag vom [3.12.1850]. Graetz, TB, 202 f, alle drei Zitate 203. – Eigentlich war einer der bekanntesten Wahlsprüche Hirschs sein „Sei ein Jude zu Hause und ein Mann auf der Straße“, doch steht dies nur scheinbar im Widerspruch zu seinem Insistieren auf dem Scheitel für eine verheiratete Frau; denn noch Hirschs Schüler Joseph Breuer galt der Schei-

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trittsgemeinde in Frankfurt am Main annahm und Mähren verließ, bedeutete dies nur eine kurzzeitige Erweiterung von Graetzens Freiheit. Denn die österreichische Obrigkeit mochte seinen Schulbetrieb nicht sanktionieren und schloss seine Religionsschule.273 Neuerlich stand Graetz hoffnungslos da – nun aber, nach Heirat und der Geburt seiner Tochter Flora im Juli 1851,274 hatte er auch noch eine Familie zu ernähren.

2.5 Die Historisierung der Tradition Ungeachtet aller mährischen Hoffnungen – Graetz war froh gewesen, das stark traditionsorientierte Mähren verlassen zu können. Damit hatte er nun wieder alle Freiheit der Wahl, ohne allerdings recht wählen zu können. Seine familiären Bindungen drängten zu raschem Gelderwerb. Die Behörden in Österreich verlangten von dem bereits als Demokraten übel Beleumundeten mehr Bescheinigungen, als er beizubringen in der Lage oder willens war. Nach einigem Schwanken, was zu tun sei, entschloss sich daher die Familie im Herbst 1852 auf Anraten von Calvary und Sachs ungeachtet aller finanziellen Bedenken nach Berlin zu ziehen, „ohne Schatten von Aussicht“.275 In sehr einfachen Verhältnissen wohnten sie in der Nähe des Alexanderplatzes.276 Und tatsächlich besserte sich an der Spree die Situation allmählich, nicht zuletzt auf Grund der bedeutenden, wohlhabenden und an tel als das weibliche Äquivalent zur Beschneidung des jüdischen Mannes, also als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Israel; eine solche bedeutungsschwere Interpretation ist jedoch nicht halachisch legitimiert und stellt ebenso einen Modernismus dar wie das Verzichten auf ein Verhüllen der Haare einer verheirateten Frau durch einen Scheitel. Vgl. Heschel, Sind Juden Männer?, 90. Allerdings ist der Scheitel an sich ebenfalls ein umstrittener Modernismus, da er immer noch vortäuscht, echtes Haar zu sein; weshalb er wiederum etwa vom Chatam Sofer (Moses Schreiber, 1762–1839) bekämpft wurde; traditionellerweise müssten die Haare einer verheirateten Frau mit einem Tuch, einer Haube oder etwas Ähnlichem bedeckt werden. 273 Vgl. den rückblickenden Tagebucheintrag vom 9. März 1853. Graetz, TB, 204 f, sowie die Briefe an Hirschs Nachfolger als Landrabbiner, Adam Placzek, vom 23.1. und 17.2.1852. Ebd., 224 f, Nr. 6 und 7. 274 Flora Graetz wurde ausweislich des Tagebuchs am 15.7.1851 geboren. Allerdings haben sich in den entsprechenden Geburtsregistern oder den staatlichen Unterlagen anscheinend weder entsprechende Eintragungen noch anderweitige Hinweise auf Graetz und seine Familie erhalten. Mitteilungen des Jüdischen Museums, Prag, vom 5.5.1999, des Státní Okresní Archiv Bereslav [Lundenburg] se sídilem v Mikulov [Nikolsburg] vom 27.5.1999, und des Státní Ústednií Archiv v Praze, Prag, vom 3.9.1999. 275 Vgl. den rückblickenden Tagebucheintrag vom 9. März 1853. Graetz, TB, 204 f, Zitat 204. 276 Das Adressbuch für Berlin verzeichnet in den Jahren 1853 und 1854 „Graetz Dr. phil.“ in der Landsberger Str. 64 in einem Mietshaus mit achtzehn weiteren Parteien, darunter u. a. mehrere Klempner, Rentiers, Arbeiter sowie einen Arzt als Eigentümer.

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kulturellen wie religiösen Fragen interessierten jüdischen Gemeinde.277 So wurde Graetz im Winter 1852/53 für historische Vorlesungen in einer Veranstaltungsreihe engagiert, mit denen er an seine Jeschivah-Vorträge in Lundenburg anknüpfen konnte. Allein mit Ausnahme der Vorträge von Leopold Zunz war diesem Versuch, eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung für „Candidaten der jüdischen Theologie“278 zu ermöglichen, kein sonderlicher Erfolg beschieden, wie der Korrespondent der Allgemeinen Zeitung des Judenthums konstatierte: „Sachs dagegen und Grätz mußten aus Mangel an Teilnahme ihre Vorlesungen schon früh schließen und Dr. Cassel fand gar nicht erst Gelegenheit, die seinigen zu beginnen.“279 Graetz hatte mit den üblichen Schwierigkeiten beim Vortragen zu kämpfen, was seinen Hörern wohl nicht verborgen geblieben war, und dem Debakel entsprechend blieb das Honorar spärlich.280 Des ungeachtet war dies für ihn eine wichtige Gelegenheit gewesen, von sich hören zu lassen, und er wurde wahrgenommen. 277 Zu den vielleicht überraschendsten Forschungs-Desideraten zur deutschjüdischen Geschichte zählt eine Untersuchung der jüdischen Gemeinde in Berlin im 19. Jahrhundert. Immer noch die beste Gesamtdarstellung ist Geiger, Juden in Berlin. 278 So Graetz in seinem Lebenslauf für die Fraenckel’schen Stiftungen. [Aufzeichnungen], 25. Hiernach sei die Initiative für die Vorlesungen insgesamt vom Vorstand der israelitischen Gemeinde in Berlin ausgegangen. Seine Aussagen werden durch ein Memorandum von Joseph Lehmann für das Kuratorium der Stiftungen ergänzt und modifiziert: Demnach sei die Initiative vom Schulvorstand der jüdischen Gemeinde-Knabenschule ausgegangen, in deren Räumlichkeiten auch die Vorträge gehalten wurden. Freilich habe diese Initiative die Autorisierung des Gemeindevorstands gefunden und von diesem die notwendigen Mittel von 1200 Rthlr aus dem Legaten-Fonds der Talmud-Torah erhalten; allerdings gab es wohl Streitigkeiten, inwieweit eine solche Finanzierung berechtigt gewesen sei. Die Vorträge haben nach Lehmann jeden Abend von sieben bis acht Uhr stattgefunden, jedes Thema sei an jeweils sechs Abenden behandelt worden. Zunz habe über rabbinische Literatur gelesen, Graetz über jüdische Geschichte, Sachs über die Sprüche Salomonis. Lehmann zufolge seien die Vorlesungen gut besucht gewesen, von jeweils 25–30 solcher „Kandidaten“ sowie rund einem Dutzend „Hospitanten“. Zunzens Vorträge seien anregend und „pikant“ gewesen, Sachs hingegen zu abstrakt geblieben. Über Graetz notierte Lehmann: „ein junger Mann, der von kompetenten Beurtheilern sehr gerühmt wird. Sein Geschichtsvortrag soll sehr viele neue Daten und Zusammenstellungen geben, doch habe ich ihn selbst noch nicht gehört.“ Lehmanns Memorandum ist im Original mit den meisten Seminar-Akten vernichtet, wird jedoch von Bloch in den älteren Fassungen seines biographischen Abrisses zitiert: Bloch, Graetz (MGWJ), 239; ders., Graetz (Sonderdruck), 65, und ders., Graetz (engl.), 46, jeweils Anm. 1; allerdings fehlt diese Anm. im Wiederabdruck; vgl. ders., Biographie, 40. 279 AZJ vom 26. September 1853, 506; vgl. auch Graetz, TB, 205. – Die Vorlesungen von 1853 waren das Ende einer Reihe ähnlicher Veranstaltungen, die seit 1851 regelmäßig v. a. von Sachs und Zunz bestritten worden waren, und auf Erfahrungen der beiden Gelehrten noch aus dem Vormärz aufbauten. Vgl. AZJ (1851), 55, sowie Wilke, „Talmud“, 580 f und 588 f. 280 Das Honorar habe laut Tagebuch anstatt der angekündigten 300 letztlich nur mehr 100 Taler betragen. Vgl. Tagebucheintrag vom 9. März 1853. Graetz, TB, 204 f. – Graetz war freilich nicht der einzige Historiker von Rang im 19. Jahrhundert, dessen Ausstrahlung auf dem Katheder begrenzt gewesen zu sein schien. Selbst von einem Leopold von Ranke ist überliefert, dass er etwa 1871 mangels Hörer ein Kolleg vorzeitig beenden musste; Vgl. Schulin, Erfassung, 303.

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Es wäre eine eigenständige wissenschaftliche Arbeit, das Beziehungsgeflecht und die verschiedenartigen Kontakte der zahlreichen herausragenden Persönlichkeiten innerhalb der Berliner jüdischen Gesellschaft dieser Zeit nachzuzeichnen und zu analysieren. Für Graetz jedenfalls brachte sein kurzer Berliner Aufenthalt Kontakte, deren Folgewirkungen von herausragender Bedeutung sein sollten. Dies gilt zunächst für den Stadtverordneten, Mitglied des Berliner Gemeindevorstandes und renommierten Verleger Moritz Veit (1808–1864).281 Veit war einer der bedeutendsten Verleger seiner Zeit:282 Dessen gemeinsam mit Joseph Lehfeldt (bis 1839: Levy) geführter Verlag Veit&Comp. hatte sich besonderen Ruhm mit Ausgaben der Werke etwa Fichtes oder auch Bettina und Achim von Arnims erworben; zugleich gehörten auch einige der führenden deutschen Historiker zu seinen Autoren, so etwa Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen, ebenso der Rechtsgelehrte Friedrich Karl von Savigny. Politisch hatte sich der aus einer der bedeutendsten Berliner jüdischen Familien stammende Veit im Paulskirchen-Parlament (für die Casino-Fraktion) engagiert, war Berliner Stadtverordneter und 1851–1853 der einzige Jude in der Ersten Kammer des preußischen Parlaments. Von 1855 bis 1861 sollte er dem Börsenverein des deutschen Buchhandels vorstehen. Daneben setzte sich Veit, der auch Mitglied im Ältestenrat der jüdischen Gemeinde Berlins war, vehement für die Rechte der preußischen Juden ein. Vermutlich war es dieses Engagement, das Veit veranlasste, sich auch einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen der Wissenschaft des Judenthums anzunehmen, obgleich diese kaum wirtschaftlichen Erfolg versprachen. Hierzu zählten etwa Sachs’ Poesie der Juden in Spanien sowie einige Schriften von Frankel und Zunz. Ein groß angelegtes Projekt sollte bald hinzukommen. Denn im Sommer 1853 erschien im Programm dieses glanzvollen Verlagshauses Graetzens zweites Buch, eine Geschichte der Juden vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmuds. Ein solches Unterfangen war mehr 281 Nach Bloch habe Graetz Veit durch die Vermittlung von Sachs kennen gelernt; Biographie, 40. Doch war eine solche Vermittlung wohl kaum notwendig, allenfalls dass Sachs Graetz die Einladung zu den Vorlesungen besorgt hätte; denn als einer von vier Dozenten dürfte er dann ohnehin mit dem Mitglied im Gemeindevorstand Veit in Kontakt gekommen sein. – Was Graetzens Verhältnis zu Sachs angeht, so wird bereits in dem Tagebucheintrag vom 9. März 1853 deutlich, dass im Zuge des persönlichen Umgangs ihr Verhältnis rasch abkühlte, zumal Sachs wohl infolge eines Trauerfalls sich wenig um die Neuzugezogenen kümmerte. Vgl. Graetz, TB, 204 f. 282 Zu Veit vgl. Geiger s. v. Veit; Lindner, Buchhändler, B5 f, Menz s. v. Veit, sowie vor allem Lindner, Zwischen Biedermeier und Bismarck. Allerdings ist eine ausführlichere Untersuchung zu Veit immer noch ein Desiderat. Zur Verlagsgeschichte vgl. Henze s. v. Gruyter, und Lüdtke, Verlag, 81–88 (der Verlag von Veit ging schließlich über mehrere Zwischenstationen im Verlag de Gruyter auf; die Judaica allerdings wurden bereits 1858 an den Verlag Gerschel in Berlin verkauft; über dessen Verbleib ist nichts bekannt).

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als geeignet, Aufsehen zu erregen. Die Hegelsche Anschauung, dass es eine irgendwie beachtenswerte jüdische Geschichte nach dem Ende des jüdischen Staates nicht mehr gegeben habe, war zwar mittlerweile nicht mehr so präsent, wie sie es noch sieben Jahre zuvor, zu Zeiten der Constructionsschrift, gewesen war.283 Doch der von Graetz gewählte Zeitraum bot für die Form einer historischen Gesamtdarstellung immer noch genug religiösen Sprengstoff: Der die Entstehung des Talmuds umfassende Zeitraum erforderte eine Historisierung jener mündlichen Lehre, die nach Ansicht der jüdischen Tradition ebenso wie der Pentateuch (die Tôrah) Mose unmittelbar von Gott offenbart worden waren. Nicht bloß die Altgläubigen in Breslau hielten diese Glaubenswahrheiten hoch, auch für die sich formierende Orthodoxie hatten sie eine fundamentale Bedeutung. Es hatte seinen Grund gehabt, dass Graetz wenige Jahre zuvor seinen ersten publizistischen Erfolg mit der Polemik gegen Geigers wissenschaftlichen Versuch zu ebendieser Epoche gefeiert hatte. Nachdem sich Graetz seinerzeit als Streiter für die Altgläubigen exponiert hatte, war seine Ausgangslage jetzt umso schwieriger, wenn er sich nun seinerseits an eine positive Darstellung desselben Gegenstandes wagte. Damit nicht genug, konnte er in diesem Zeitraum aber auch nicht umhin, die Frühgeschichte des Christentums mit der Entstehung der Evangelien, der sich ausbildenden Urkirche und später der Geschichte des Christentums als Staatsreligion zu berücksichtigen. Im – auch in Religionsfragen – restaurativen Deutschland war dies ein noch heikleres Unterfangen, zumal er sich einer historisch-kritischen Herangehensweise im Sinne der Tübinger Schule befleißigte, die gleichfalls von seiten der (lutherischen) Orthodoxie in die Kritik geraten war. Soviel war klar – ein solcher Band würde für einige Aufmerksamkeit sorgen und konnte nur mit einem erheblichen Maß an eigenständiger Quellenkritik, mit einer Herangehensweise ohne Berührungsängste erfolgen. Ungeachtet aller Erkenntnisse, die bis auf Graetz zu dieser Zeit getan worden waren, waren dabei selbst grundlegende Fakten und Zusammenhänge noch zu klären. Dies bot ihm als Geschichtserzähler viele Freiheiten, erforderte aber auch ein gehöriges Maß an Quellenkenntnissen, sowohl der talmudischen wie der kirchenväterlichen Literatur. Bereits in seiner Dissertation hatte Graetz seine Fähigkeiten, beide Quellencorpora miteinander zu verbinden und sich gegenseitig beleuchten zu lassen, unter Beweis gestellt. Diesen innovativen und fruchtbaren Ansatz führte er nun fort. Dabei konnte er nicht

283 Als Zeichen hierfür dürfte nicht zuletzt der Umstand zu werten sein, dass die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste neben dem Eintrag „Hebräer“ auch einen eigenständigen Eintrag „Juden (Geschichte)“ beinhaltete, und dieser mit Selig Cassel von einem jüdischen Gelehrten verfasst worden war. Cassels umfangreicher Artikel ist in der Forschung bislang so gut wie nicht berücksichtigt worden.

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bloß auf einzelnen Positionen der Tübinger Schule aufbauen, sondern verfolgte – ähnlich wie Geiger – auch methodisch ähnliche Wege. Die (jüngere) Tübinger Schule, wie sie insbesondere von Ferdinand Christian Baur (1792– 1860) verkörpert wurde, hatte sich insbesondere auf das Neue Testament und die Geschichte des frühen Christentums bis zum Ende des 2. Jahrhunderts konzentriert.284 Nicht zuletzt in Abgrenzung von der älteren Tübinger Schule hatten Baur und seine Schüler einen strikten Rationalismus zur Leitlinie genommen, um die kanonischen Texte des Christentums und deren historischen Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Daraus folgte zumindest in der Theorie eine Absage an jegliche theologischen Vorannahmen, auch wenn zumindest in Bezug auf die Rolle des Judentums dieses Objektivitätsstreben nicht immer recht erfüllt wurde. Gleichzeitig redeten sie aber auch keiner atomistischen Geschichtssicht das Wort. In der vielzitierten Einleitung zu seinem wissenschaftlichen Erstling schrieb Baur: „Den bekannten Vorwurf der Vermengung der Philosophie mit der Geschichte fürchte ich dabei nicht: ohne Philosophie bleibt mir die Geschichte ewig todt und stumm.“285 Gemeint war hiermit nicht das Dominieren geschichtsphilosophischer Vorannahmen sondern vielmehr das Bestreben, Geschichte als Entwicklung innerhalb eines großen inneren Zusammenhangs zu verstehen. Damit verband sich die Erforschung der Einzelheiten und ihre Stellung im übergeordneten Kontext. Für die Tübinger lag dementsprechend ein besonderes Augenmerk auf der Vielgestaltigkeit der religiösen Strömungen im Palästina der apostolischen und nachapostolischen Zeit, insbesondere auf den Auseinandersetzungen zwischen Judenchristen und Heidenchristen, wie sie etwa in der Apostelgeschichte geschildert werden. Diese Auseinandersetzungen wurden als prägend für die Zeit des Urchristentums und die Formierung „der Kirche“ am Ende des zweiten Jahrhunderts angesehen. Für das vertiefte Verständnis dieser Anfänge des Christentums galt es folglich, die überlieferten Texte des Neuen Testaments und der Kirchenväter jeweils als Ausdruck einer bestimmten zeitgenössischen Tendenz politischer und religiöser Art anzusehen, ohne vor dem vermeintlich Wunderbaren haltzumachen. Denn bei „dem Wunder hört alles Erklären und Begreifen auf, und wo der Anfang nicht erklärt und begriffen ist, ist auch kein aus dem Anfang sich entwickelnder Fortang, überhaupt keine Entwicklung und kein geschichtlicher Zusammenhang möglich.“286 „Kritik“ spielte daher in einem dreifachen Sinne, als Text-, Literar- und als Sachkritik, die zentrale Rolle in den Schriften der Tübinger Schule. Forschungspraktisch bedeutete dies, dass der genaue historische Rahmen, aus 284 Hierzu vgl. Fueter, Geschichte, 439 ff, Harris, Tübingen School, hier v. a. 137–180; Köpf, Baur, 451–458. 285 Baur, Symbolik und Mythologie, XI. 286 Baur, Tübinger Schule, 45.

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dem ein Textfragment stammte, zu rekonstruieren sei, um dieses zu datieren und gleichsam ideologiekritisch seine tiefere Bedeutung zu erkennen. Graetz wie Geiger vertraten sehr ähnliche Positionen wie diese von Baur und seinen Schülern, wobei beide die methodischen Erkenntnisse ihrer Studienzeit auf die rabbinischen Texte wie auch auf die Zeugnisse des frühen Christentums anwandten. Gleichwohl waren sie keine mehr oder minder entfernten Schüler Ferdinand Christian Baurs:287 Beide rezipierten lediglich die Ergebnisse von dessen Forschungsrichtung und setzten sich kritisch mit ihnen bei ihren eigenen Arbeiten auseinander, die allein schon wegen der anders strukturierten Quellen durchaus eines eigenständigen Ansatzes bedurften. Allerdings waren die Tübinger Arbeiten wegen ihrer prinzipiellen Anerkennung der Relevanz jüdischer Geschichte für das frühe Christentum für die Wissenschaft des Judentums ausgesprochen kompatibel.288 Dass dies nicht bloß von jüdischer Seite aus so wahrgenommen wurde, belegt eine von Graetzens frühen wissenschaftlichen Arbeiten, ein Aufsatz, den er 1848 in Zusammenarbeit mit dem jungen Geigeranhänger Bernhard Friedmann (1820–1886) in den von Baur und dessen Schüler Eduard Zeller herausgegebenen Theologischen Jahrbüchern veröffentlichte, also in dem wichtigsten Fachzeitschrift für die Theologie der Tübinger Schule.289 Als die beiden jungen jüdischen Wissenschaftler hier ihre Studie über Die angebliche Fortdauer des jüdischen Opfercultus nach der Zerstörung des zweiten Tempels veröffentlichten, befanden sich die Tübinger auf dem Gipfel ihrer Bedeutung.290 In dem genannten Aufsatz ist jedoch von einem entsprechend berechtigten Selbstbewußtsein 287 Vgl. Liebeschütz, Judentum, 123, 136 und 144, sowie zu Geiger nun ausführlich Heschel, Geiger, 106–126. 288 Noch 1884 konnte sich Graetz in einer Geburtstagsadresse an Eduard Zeller „mit bescheidener Bewunderung“ als einen „Verehrer und fleißigen Leser Ihrer Bahn-brechenden Arbeiten“ bezeichnen. UB Tübingen, Md 747–254. 289 Es hat sich keinerlei Schriftwechsel oder sonstiger Hinweis darauf erhalten, wie es zu diesem Aufsatz kam, welches der Hintergrund gewesen ist oder wie der Kontakt zwischen den Autoren und dem Herausgeber Zeller zustandegekommen ist; auch Graetzens Tagebuch sagt nichts dazu aus, ebensowenig zu seinem immerhin bemerkenswerten Kontakt mit Friedmann. Dieser war einer der engeren Anhänger Geigers in Breslau und auch am Lehrverein beteiligt. Später sollte er Rabbiner in Nakel und schließlich in Mannheim werden. Zu ihm vgl. Biographisches Handbuch I, 347, Nr. 515. Wie es scheint, hat sich von ihm kein persönlicher Nachlass erhalten. 290 Ihren Ausgangspunkt hatte die (jüngere) Tübinger Schule in David Friedrich Strauss’ höchst umstrittenen Leben Jesu (1835), in dessen Folge die historisch-philologische Textkritik vor allem auf das Neue Testament und die Geschichte des frühen Christentums angewandt wurde. Den Höhepunkt markiert die Mitte der 1840er Jahre mit der Veröffentlichung von Baurs Paulus, der Apostel Jesu Christi (1845) und Kritische Untersuchungen der kanonischen Evangelien (1847), Schweglers Nachapostolischem Zeitalter (1846). Wenngleich Tübingen innerhalb der Theologie höchst umstritten blieb und auch unter politischen Benachteiligungen seiner Protagonisten zu leiden hatte, war es doch erst ein Werk aus den eigenen Reihen (Albrecht Ritschls Die Entstehung der altkatholischen Kirche (1850, 21857), das die Grenzen seine Methode aufzeigte. – Zur Tübinger Schule allgemein vgl. Harris, Tübingen School.

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nur wenig zu spüren, auch wenn Graetz und Friedmann mit kritischem Raffinement und Gelehrsamkeit die Opfer-Hypothese unter anderem Schweglers zurückweisen konnten. Dieses vorderhand marginale Problem hatte durch seine Eigenschaft als Datierungshilfe etwa für den Hebräerbrief ein gewisses Gewicht bekommen. Doch ungeachtet des eindeutigen Ergebnisses war es eben doch nur ein punktuelles und ein negatives Ergebnis, so dass Friedmann und Graetz angesichts der Difficilitäten der apostolischen Chronologie davor warnten, ihre Schlüsse leichthin in den entsprechenden Kontroversen zu verwenden.291 Erst in den folgenden Jahren sollte Graetz sich daran wagen, seinerseits positive Chronologien und Konjekturen aufzustellen, dies dann aber mit Entschlossenheit. Seine ab Ende 1851 in der neugegründeten Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums (MGWJ) erscheinenden Jüdisch-geschichtlichen Studien sprachen schon eine andere Sprache: Ich will es versuchen hier eine Reihe von geschichtlichen Untersuchungen folgen zu lassen, die dazu beitragen sollen, einige sichere Voraussetzungen für die Bearbeitung der talmudischen Geschichtsepoche zu fixieren und eine pragmatische Behandlung derselben anzubahnen. Nach so vielen gescheiterten Hoffnungen, der Wissenschaft des Judenthums den ihr gebührenden Rang zu vindiciren, soll wenigstens die jüdische Geschichte, das Wunderwerk der Vorsehung, endlich einmal einen Abschluß finden.292

Die Desiderata hatte er bereits klar ausgemacht: Der talmudische Zeitabschnitt […] ermangelt […] einer lichtvollen Darstellung. […] Es fehlt nicht bloß an einem begabten, synoptischen Geschichtsschreiber, der die vereinzelten Thatsachen in pragmatischen Zusammenhang gebracht hätte, sondern sogar an einem trockenen Chronisten […], der die hervorragenden Facta nur in naturgetreuer Auffassung wiedergegeben hätte. Die Thatsachen stehen vereinzelt ohne historisches Band, ja die Geschichte dieser Zeit liefert einen Wald von Notizen, wo man sich oft vergebens nach einem gebahnten Pfade umschauet; oft rennt eine Einzelheit der anderen an den Kopf, daß man an dem Wirrwarr irre werden kann.293

Um in diesem Wirrwarr sicheren Grund zu finden, befleißigte sich Graetz nun in der Tat einer Herangehensweise, deren Parallele zur Methode der Tübinger Schule offensichtlich ist, auch wenn er als Referenzpunkt Descartes angibt: Die Methode müsse sein, 291 Friedmann/Graetz, Fortdauer, 338 und 370. – Bloch, der im Übrigen Friedmann lediglich als „Studienfreund“ von Graetz kennen will, bemerkte zu diesem Aufsatz: „Wie weit der Anteil Friedmann dabei reicht, ist nicht ersichtlich. Die Einleitung zeigt ganz deutlich die Art und den Stilcharakter von Graetz, der diese Arbeit als die seinige anzusehen pflegte.“ Biographie, 34, Anm. 1. Allein bereits der Umstand, dass Friedmann lediglich als „Cand. der jüd. Theol.“ neben dem „Dr. H. Graetz“ firmierte, macht es m. E. unwahrscheinlich, dass seine Autorschaft lediglich eine Gefälligkeitsnennung an einem so renommierten Orte gewesen sein soll. 292 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 115. 293 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 113.

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mit dem Geschichtsstoff so zu verfahren, wie Cartesius es mit dem philosophischen Stoff machte, so lange Alles zu bezweifeln, bis die Wahrheit oder die hohe Wahrscheinlichkeit sich evident herausgestellt hat. Bei aller Verehrung, die wir vor der Autorität der Tannaiten und Amoräer haben, sollen wir ihre geschichtlichen Ueberlieferungen nicht ohne strenge Sichtung auf Treue und Glauben hinnehmen.294

Als Graetz damit begann, die methodischen Erkenntnisse der Tübinger auf die jüdische Geschichte anzuwenden, war deren Stern schon wieder im Sinken, auch in den Wissenschaften machte sich ein gewisser reaktionärer, orthodoxer Zug breit. Von allen Kritikern Baurs war es insbesondere Heinrich Ewald (1803–1875), der auf Grund der methodischen Gemeinsamkeiten gleichfalls heftigste Kritik an Graetz übte. Ewald, seines Zeichens einer der Begründer einer wissenschaftlichen Hebraistik, höchst streitbarer Theologe, einer der Göttinger Sieben und nach seiner Suspension im Königreich Hannover zwischenzeitlich Kollege von Baur in Tübingen, verwahrte sich vehement gegen die schwäbischen Spätdatierungen der neutestamentlichen Schriften, denen auch Graetz folgte, und wetterte gegen alles, was seiner Meinung nach die ewige und universale Botschaft des Christentums in Zweifel ziehen könnte – und dies auch noch scheinbar wissenschaftlich verbräme. In derlei Tendenzen witterte er eine fatale „Unsittlichkeit“ der neueren Zeit.295 Diejenigen „Jude[n] der neuesten Art, wie diese in Deutschland infolge aller seiner jetzigen Zustände möglich und wirklich“ seien – er meinte damit diejenigen Vertreter der Wissenschaft des Judentums, die ähnliche Bahnen wie die Tübinger Schule verfolgten, namentlich Geiger und Graetz – diese Juden also avancierten neben den Tübingern selbst zu den Hauptopfern seiner Fundamentalkritik.296 Da Graetz auch noch die Frechheit besaß, einigen von 294 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 114. – Die Saat zu dieser französisch inspirierten kritischen Methode ist im Übrigen vermutlich durch ein Lektüreerlebnis seiner Jugend geprägt worden, nämlich das Baylesche Dictionnaire historique et critique. Schon die Zeitgenossen hatten dessen skeptische Qualitäten hervorgehoben: Paul Thierry Baron von Holbach (1723–1789) etwa, der Gastgeber der Enzyklopädisten, nannte den Autor voller Sympathie den „berühmte[n] Bayle, der so gut das Zweifeln lehrt“. Zit. nach Momigliano, Alte Geschichte, 122 f; zu Bayle und seinem Verständnis von Kritik vgl. Koselleck, Kritik, 89–94. 295 Vgl. Ewald, Sittlichkeit. – Zum Hintergrund vgl. Harris, Tübingen School, 43–48. 296 Zitat aus E[wald]s Rezension von Graetz, Geschichte IV (1853) in den GgA, 1084. – Wie bereits angedeutet wäre es zu einfach, Ewalds Einstellung zu Geiger und Graetz als simplen Antijudaismus zu klassifizieren, auch wenn sein streitbares Luthertum wohl kaum viel Freiräume gelassen hat; gleichwohl war es ihm möglich, auf einer rein wissenschaftlichen Ebene mit Juden sogar eng zusammenzuarbeiten, wie sich dies etwa in seinen Beiträgen zur Geschichte der ältesten Auslegung und Spracherklärung des Alten Testaments zeigt, die er 1844 gemeinsam mit Leopold Dukes (1810–1891) vorgelegt hat; auch seine führende Tätigkeit im Rahmen der Deutschem Morgenländischen Gesellschaft ist in diesem Zusammenhang beachtenswert. Eine eingehende Darstellung dieses für die Geschichte des 19. Jahrhunderts so wichtigen Gelehrten ist allerdings immer noch ein Desiderat. Als kurze Würdigungen vgl. Bertheau/Bertheau s. v. Ewald. Zu ihm und Geiger vgl. a. Heschel, Geiger, passim.

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Ewalds Ergebnissen zu widersprechen, etwa wenn er beispielsweise einige der Apokrypha des Alten Testaments (Judith, Weisheit Salomons) auf die römische Kaiserzeit datieren wollte, konnte der große Göttinger nicht anders, als Graetz „niedrigkeit des denkens und bestrebens sowie die oberflächlichkeit des betrachtens und des redens“ zu attestieren, was aber „bei seinem Tübingisch-Jüdischen geiste“ kaum wundernehmen könne.297 So stark derlei Debatten ideologisch geprägt waren – die herausragende Bedeutung der behandelten Zeit für die Gegenwart, für das jeweilige Selbstverständnis der Wissenschaftler und der Leser sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht rechtfertigte die Heftigkeit, und dies umso mehr, als sich die Quellensituation wiederum so schwierig und problembehaftet darstellte wie für wenige andere Zeiträume. Gab es doch „keine ruhmreichen Trophäen, keine zeittrotzenden Denkmäler, keine Inschriften, keine Münzsammlung“, wie Graetz feststellte;298 alles was ihm zur Verfügung stand, waren die in der Mischnah, im Talmud und in den darum herumgelagerten Schriften (Tosefta, Baraita, Midraschim etc.) tradierten Äußerungen und Erzählungen, die freilich nicht mit der Intention überliefert worden waren, rabbinische Persönlichkeiten zu beschreiben oder ihren Lebenshintergrund zu erklären; vielmehr ging es diesen Überlieferungen um die Vermittlung bestimmter ethischer Ansichten, rabbinischer Lebensweise und ihres Ideals des Lernens. Diese bis heute nicht gelöste Quellenproblematik suchte Graetz durch Kombination mit der kaum minder problematischen Literaturgattung der Kirchenväter zu meistern. Diesen kombinierenden Ansatz, verbunden mit einer pragmatischen, also auf zeitgenössische Umstände und Intentionen achtenden Interpretationsweise299 hatte Graetz ja bereits in seiner Dissertation für eine ganz spezifische Erzählung, die sogenannte Paradiesesreise der vier Rabbinen, fruchtbar gemacht; Grundlage blieb dabei stets eine kritische, wenn auch wohlwollende Distanz: es gehört dazu aber ein feiner Takt, lebendige Vertrautheit mit Sprache, Redewendung und Redefiguren, endlich eine gewissenhafte Unparteilichkeit und Vorurtheils297 Ewald in seiner Rezension von Graetz, Geschichte III (1855), 234. 298 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 114. 299 Dieser „Pragmatismus“ hat mit jener historiographischen Richtung bis zur Aufklärung kaum mehr als den Namen gemein und entsprach auch nicht jener teleologischen Darstellungsart, die Droysen später als „pragmatische Erzählung“ bezeichnen sollte. Will man sich dessen Typologie bedienen, wäre Graetzens (nicht weiter definierter) Ansatz Droysens dritter Form historiographischer Erzählung zuzuschreiben, die sich für die „spontanen Entwicklungen sittlicher Gemeinsamkeiten andwendbar“ zeige, „für die eines Staates, einer Kirche, eines bürgerlichen Gemeinwesens, eines wirtschaftlichen Emporwachsens, für Recht und Verfassung usw.“ Er unterschied hiervon explizit einen biographischen Ansatz ebenso wie eine „katastrophische“, auf Untergang und Leiden abzielende Geschichtserzählung. Droysen, Historik, 282– 299, Zitat 293. – Zur Problematik rabbinischer Zeugnisse als historische Quellen vgl. Green, What’s in a Name; Stemberger, Einleitung, 55–72.

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losigkeit, nicht Alles, was im Talmud steht, als rabbinische Fabel zu verdächtigen, oder andererseits zum unantastbaren Wort zu erheben.300

Mit dieser mittleren Linie wollte er sich zwischen den „Zionswächtern und den Himmelsstürmern“301 positionieren, und tatsächlich schien sich somit auch die Publikation seiner einzelnen Studien in der von Zacharias Frankel herausgegebenen, „positiv-historisch“ orientierten Monatsschrift zu legitimieren. Allein Graetzens mitunter gewagte Konjekturen und sein mitunter „nicht reif abgewogene[r] Ausdruck“ sorgten auch bei seinem Herausgeber und scheinbaren Mitstreiter Frankel immer wieder für Stirnrunzeln und skeptische Kommentierungen.302 Gefördert wurde Graetzens Herangehensweise freilich durch den Umstand, dass bislang kaum Arbeiten für diesen Zeitraum vorlagen, welche sich um eine historisch-kritische Herangehensweise bemühten. Selbst grundlegende Fragen der Chronologie und der Geographie waren in vielerlei Hinsicht noch zu klären. Auch Versuche, die selbst die bekannten Quellentexte philologisch-kritisch zu erfassen trachteten, waren kaum vorhanden, von entsprechenden Text-Ausgaben ganz zu schweigen. War christlicherseits die nachapostolische Zeit (und damit auch die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Judentum und entstehendem Christentum) gerade erst durch die Tübinger Schule ersten größeren Bearbeitungen unterworfen worden, so steckten die Forschungen zur innerjüdischen Geschichte wie auch zum gesamten Kontext der vorderorientalischen Geschichte außerhalb des römischen Reichskontexts allgemein noch in den Kinderschuhen. Die christliche Forschung konzentrierte sich noch ganz auf die griechisch-römische Antike, das pharaonische Ägypten und einige wenige, damit in Zusammenhang stehende Ereignisse außerhalb dieses Horizontes. Die altorientalischen Wissenschaften allgemein waren gerade erst dabei, den Raum zwischen Ägypten und Indien als Thema zu entdecken. Und auch die Wissenschaft des Judentums, wie sie sich seit 1819 langsam konstituierte, machte gerade um die beiden Talmude und die zugehörige Literatur einen weiten Bogen, zu sehr galt dies noch als der Stoff des traditionalen Lernens der Jeschivôt. Zu den wenigen, die sich dennoch daran gewagt hatten, gehörten Isaak Markus Jost und Julius Fürst, doch vermochten sie sich kaum von einem einfachen Referat der Traditionsliteratur zu trennen. Diesen Mangel an textlicher und philologischer Kritik suchten sie durch eine übermäßige inhaltliche 300 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 115. 301 So Graetzens Freund Raphael Kirchheim in einer Verteidigungsschrift gegen die vernichtende und detaillierte Kritik Samson Raphael Hirschs; Jochanan ben Sakkai, 637. 302 Zitat aus dem Schreiben Frankels an B. Beer vom 23.3.1856 über den III. Band der Geschichte der Juden, zit. nach Brämer, Frankel, 357. Brämer charakterisiert Frankels Haltung gegenüber Graetz völlig zu Recht als „zwiespältig“. Ebd.

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Kritik auszugleichen, so dass ihre Ergebnisse kaum befriedigen konnten. Selig Cassel wiederum hatte zwar in seinem sehr dichten Überblick über die wichtigsten Faktoren jüdischer Geschichte für Erschs und Grubers Allgemeine Encyclopaedie nachdrücklich den Wert des Talmuds auch als historische Quelle betont und anhand einzelner Beispiele seine Position untermauert; von einer klaren Strukturierung des Materials in historischer Perspektive war auch er jedoch noch weit entfernt. Am ehesten entsprach diesem Ziel Salomon Juda Löb Rapoports (1790–1867) ehrgeiziges Projekt einer talmudischen Enzyklopädie, dessen erster, lang erwarteter Band 1852 unter dem Titel Erech Mîllîn auf Hebräisch in Prag erschienen war. Doch vermochten selbst seine umfangreichen Einträge wie etwa zur Chronologie weder ein kohärentes Bild der rabbinischen Zeit zu geben, noch die Entstehung der jüdischen Tradition zu verdeutlichen; dies war freilich auch nicht das Ziel des Prager Oberrabbiners gewesen.303 Aufbauend auf solchen wenigen fremden wie eigenen Vorarbeiten, hatte Graetz nun seine Geschichte des rabbinischen Zeitalters verfasst, in der Veröffentlichung beginnend mit der Gründung des sogenannten Lehrhauses von Jabne nach dem Ende der jüdischen Staatlichkeit 70 n. d. Z. Mit dieser Periodisierung bereits schien er sich von seinen jüdischen Vorgängern grundlegend absetzen zu wollen. Für Jost beispielsweise war die Zerstörung der zweiten jüdischen Staatlichkeit vor allem durch die Zerstörung der Stadt Jerusalem von Bedeutung gewesen; im Vergleich mit dem Einschnitt infolge des Babylonischen Exils und des Endes der Prophetie in Israel handelte es sich für seine religionsorientierte Interpretation hierbei jedoch eher um ein untergeordnetes Ereignis.304 Auch Selig Cassel hatte 1851 auf die rein äußerliche Bedeutung der Tempelzerstörung für das Judentum hingewiesen und in seiner Darstellung das Ereignis an sich sogar gänzlich unterlaufen – für seinen Schwerpunkt auf der rechtlichen und sozialen Stellung der Juden innerhalb des Römischen Reiches war dies letztlich ein ephemeres Ereignis.305 303 Rapoport, Erech Millîn I (mehr nicht erschienen). Für die zeitgenössische Rezeption ist ungeachtet aller Kritik im Detail die Rezension von Zacharias Frankel sehr anschaulich (MGWJ 1 [1851/52]), aber auch Graetzens Darstellung von Rapoports Werk in seiner Geschichte XI (1870), 485 ff und 494–497 (21900, 454 ff und 462–465). – Rapoport hatte sich bereits in den 1830er und 1840er Jahren, als er noch Kreisrabbiner im galizischen Tarnopol war, einen Namen als Wegbereiter einer galizischen Wissenschaft des Judenthums gemacht; insbesondere in den hebräischsprachigen Zeitschriften Bikkurej ha-Ittîm (1828–1831) und dem von ihm 1833–1843 herausgegebenen Kerem Chemed hatte er zahlreiche wegweisende Aufsätze und Einzelstudien veröffentlicht. Mit dem Erstarken der Reformbewegung im Judentum zog er sich später jedoch auf eine verhaltenere, stärker traditionsorientierte Position zurück. Zu ihm vgl. Barzilay, Rapoport, und Feiner, Haskalah, 133–137. 304 Jost, Allgemeine Geschichte I, 9, sowie die Gliederung von Bd. II. – Zum Hintergrund vgl. Pyka, Israel und Diaspora, 37 ff; Schmidt, Coupure, 190 f. 305 Gemäß Cassels Ansatz waren die Folgen des Feldzugs des Pompejus mit der Einverleibung des hasmonäischen Staates in den Verband des Imperium Romanum von wirklich ein-

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Insofern bezog Graetz mit seinem Anfang nicht bloß eine Gegenposition zu den bereits erwähnten christlichen und Hegelschen Anschauungen, dass die Berechtigung jüdischer Geschichte mit dem Untergang des Zweiten Tempels gänzlich aufgehört habe, sondern auch zu der jüdischen Geschichtsschreibung seiner Zeit. Gleichwohl war bei ihm dieser Bruch in der Geschichte nicht so scharf, wie es den Anschein hat.306 Wenngleich dieser Band in ebenjenem historischen Moment einsetzte, in dem die staatliche Hülle vernichtet war und aus der Konkurrenz einander widerstreitender Richtungen des Judentums nur mehr das Pharisäertum übrigblieb, so knüpfte er mit seiner Akzentsetzung eng an die vorangegangenen Entwicklungen an. Dies ergibt sich aus dem Fokus des Werkes. Der hier vorgelegte Band behandelte ja die Geschichte der Juden bis zum Abschluss des Talmuds; diese talmudische Zeit beschränkte sich jedoch nicht allein auf die Redaktionszeit des Talmuds im engeren Sinne (gleichsam ausschließlich als einer „Epoche der Amoräer“). Wie Graetz in seinen jüdisch-geschichtlichen Studien feststellte, würde die Beschränkung bedeuten, sich hiermit auf „die Reife und die Vollendung“ zu konzentrieren. Aber „der talmudische Zeitabschnitt beginnt um viele Jahrhunderte früher, fällt noch innerhalb der Geschichte des zweiten Tempelbaues und […] in die herodianische Regierungszeit.“307 Die hier postulierte Kontinuität über zahlreiche Herrschaftswechsel, mehrere blutig niedergeschlagene Aufstände und den Untergang nicht allein eines jüdischen Staates hinweg deutet auf die spezifische Akzentuierung von Graetzens Geschichte hin, die eine jüdische Perspektive haben sollte.308 Hierfür durfte der Fokus schneidender Bedeutung; vgl. Cassel s. v. Juden (Geschichte), 1. – Geschuldet war die Epochenscheidung der selbst in Erschs und Grubers verhältnismäßig offenem Großunternehmen immer noch vorherrschenden christlichen Anschauung, die jede Art biblischer Geschichte ausschließlich christlicher Deutungsmacht unterworfen wissen wollte; entsprechend war der die vorausgehenden Ereignisse und Entwicklungen behandelnde Eintrag „Hebräer“ von einem Theologen verfasst worden; vgl. Hoffmann s. v. Hebräer. 306 So Schmidt, Coupure, 195 f. 307 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 113. – In der letztlich gedruckten Version datiert Graetz „das talmudische Zeitalter“ schließlich seit dem „von der Gründung des Synhedrion zu Jamnia bis zum Untergange des Exilarchats und der babylonischen Talmud-Akademien. (70–1040.)“ Graetz, Geschichte IV (1853), 6; vgl. auch 9 (41908, 5 sowie 7 f). 308 In diesem Zusammenhang kolportiert die Graetz-Literatur seit Philipp Bloch (Biographie, 50 f) eine Anekdote aus der Entstehungszeit dieses IV. Bandes: „Es war erst kurze Zeit, daß Graetz in Berlin sich aufhielt, als er im Hause von Michael Sachs mit Zunz zusammentraf. Der Hausherr stellte die beiden Männer, die sich persönlich noch nicht kannten, einander vor und bemerkte zum Lobe von Graetz, daß derselbe eben im Begriff sei, eine jüdische Geschichte zu veröffentlichen. ‚Wieder eine Geschichte der Juden?‘ fragte Zunz spitz. ‚Allerdings‘ replizierte Graetz scharf ‚aber dieses Mal eine jüdische Geschichte‘“. – Wenngleich diese Anekdote in der Tat Graetzens spezifische Herangehensweise verdeutlicht, so scheint das geschilderte Ereignis doch eher apokryph zu sein. Denn die Spitze von Zunz wirkt einigermaßen absurd, da es vor Graetz kein deutschsprachiges Werk mit dem Titel „Geschichte der Juden“ gegeben hat (obschon die Formulierung doch einige Werke dieses Titels erwarten ließe); der von Bloch

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nicht allein auf der äußeren Geschichte, auf der Geschichte jüdischer Staatlichkeit sowie – nach deren Zerstörung – auf dem Verhältnis der Juden zu den jeweiligen nichtjüdischen Obrigkeiten liegen. Gleichzeitig sollte es aber auch keine ausschließliche Geschichte des Judentums als einer verinnerlichten Religion sein; für diese hätte dann tatsächlich das Ende der Staatlichkeit ebensowenig eine besondere Bedeutung gehabt wie das Ende des Zweiten Tempels als einer von den Sadduzäern getragenen Institution, da ja das fortlebende Judentum von den mit jenen konkurrierenden Pharisäern geprägt war. Vielmehr ging es Graetz darum darzustellen, „wo Aeußeres und Inneres, Politik und Lehre, Verfolgung und Widerstand in einandergreifen, und jeder geschichtlichen Erscheinung ihre Auszüge und Folgen“ pragmatisch zuzuteilen seien.309 Seine Geschichte bemühte sich, dieser Programmatik zu entsprechen, und hieraus ergab sich auch die Behandlung der Ereignisse des Jahres 70 n. d. Z.310 Denn so eindeutig auch die implizite Aussage zu sein schien, die Graetz mit dem Einsetzen des Bandes gerade hier tat – der Text selbst ließ keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass er unmittelbar an eine vorangegangene Geschichtserzählung anschloss: Das erste Kapitel war mit der Angabe verstehen, dass Judäa „größtentheils der Schauplatz der Begebenheiten“ bleibe – und der zugehörige Text selbst hob an mit der Beschreibung eines day after: Der unglückliche Ausgang des so energisch geführten Krieges, der Untergang des Staates, die Einäscherung des Tempels, die Verurtheilung der Kriegsgefangenen zu den Bleiwerken Aegyptens, zum Verkauf auf den Sklavenmärkten oder zum Kampfe mit wilden Thieren, wirkte auf die übrig gebliebenen Juden mit so niederschlagender Betäubung, daß sie rathlos waren über das, was nun zu thun sei.311

Im Detail wurde diese Kontinuität noch deutlicher. Verschiedentlich berief sich Graetz auf die Darstellung, die er von einzelnen Entwicklungen in einem vorhergehenden Band gegeben habe, damit zahlreiche Verbindungslinien zwischen der Zeit des Zweiten Tempels und der Epoche der Tannaiten und Amoräer herstellend.312 Als zwei Jahre später dieser „vorhergehende“ Band erschienen war, sollte sein Manöver keinerlei Problematiken mehr aufwerfen; als 1853 jedoch selbst beigefügte Hinweis auf die 1846 erschienene Jost-Kompilation Geschichte der Israeliten von Julius H. Dessauer ist wegen des Alters dieser unbedeutenden und kurzlebigen Schrift, vor allem aber wegen ihres anders lautenden Titels wenig überzeugend. Zu Dessauers Buch vgl. a. die Rezension von Selig Cassel in der Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums. 309 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 113. 310 Hierzu vgl. jüngst auch Drews, Überleben, hier bes. 326–331. 311 Graetz, Geschichte IV (1853), 10. 312 Vgl. etwa Graetz, Geschichte IV (1853), S. 88, Anm. 2, zum frühen Christentum, oder zu den Streitigkeiten zwischen den Anhängern Hillels und Schammais ebd., 493.

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Graetzens Geschichte der rabbinischen Zeit erschien, gab es diesen erklärenden Vorgängerband noch nicht – die scheinbaren Verbindungslinien liefen ins Leere. Damit nicht genug, sein hier vorgelegtes Buch firmierte in aller Bescheidenheit als „Vierter Band“ einer Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Der junge und noch kaum bekannte Graetz kündigte damit nichts weniger an, als einen Überblick über ca. dreitausend Jahre jüdischer Geschichte zu geben. Wen er damit zu beerben trachtete, machte der Untertitel klar: „aus den Quellen neu bearbeitet“ nahm in aller Deutlichkeit Josts „aus den Quellen bearbeitet“ in dessen Allgemeiner Geschichte des Israelitischen Volkes auf. Zeitgenössisch sorgte insbesondere der ungewöhnliche Auftakt, ein solches Gesamtwerk gleichsam in der Mitte zu beginnen, für mehr oder minder lauten Spott.313 Dennoch ist letztlich niemals der Schatten eines Zweifels daran aufgekommen, dass Graetz von vornherein ein so ehrgeiziges Unterfangen geplant hatte. Wohl nicht zuletzt angesichts seiner Persönlichkeit wirkte solcher Wagemut bei ihm mehr als wahrscheinlich – zumal er letztlich auch Erfolg hatte und das Werk 1876 mit elf Bänden in insgesamt dreizehn Teilbänden abschließen konnte.314 Scheinbar stützt sogar sein Bewerbungslebenslauf aus dem Jahre 1853 diese Version, schrieb er doch dort selbst, dass er an „der Herausgabe einer Gesamtgeschichte der Juden […] Jahre lang gearbeitet“ habe.315 Und dass er diese Gesamtgeschichte mit ihrem vierten Band begann, rechtfertigte er in der Einleitung damit, dass es sich bei der mischnischen und talmudischen Epoche um die „schwierigste und dunkelste“ Periode in der jüdischen Geschichte gehandelt habe, zumal sie diejenige sei, die bislang „am stiefmütterlichsten […] behandelt“ worden sei.316 Allerdings hatte er noch kurz zuvor, in den bereits mehrfach zitierten Jüdisch-geschichtlichen Studien genau das Gegenteil behauptet: Dort hatte die „große, sechshundertjährige Periode von Herodes bis zum Abschluß des Talmuds“ sowohl „jüdischer- wie christlicherseits eine massenhafte Behandlung erfahren“;317 im Vergleich etwa mit der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte waren beide Aussagen Übertreibungen von durchaus strategischem Charakter. Doch nicht allein aus diesem Grunde sind einige Zweifel an der Vorstellung angebracht, der gerade einmal als Erforscher der 313 Vgl. Stein; Geiger; Frankel zu Graetz, Geschichte IV (1853). 314 Dieser letzte Punkt ist vermutlich nicht gering zu schätzen, handelt es sich doch bei der Geschichte der Juden um eine von nur wenigen vielbändigen Gesamtgeschichten der Juden, die überhaupt vollendet werden konnten. Hier sind vor allem die Werke Josts und Dubnows zu nennen. 315 In dem Lebenslauf anlässlich seiner Bewerbung für die Anstellung am zu errichtenden Jüdisch-theologischen Seminar in Breslau. [Aufzeichnungen,] 25. 316 Beide Zitate Graetz, Geschichte IV (1853), IXf. 317 Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 113.

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rabbinischen Zeit hervorgetretene junge Gelehrte habe sich von vornherein mit dem Gedanken getragen, eines der ehrgeizigsten Projekte der Wissenschaft des Judentums zu wagen, und überdies ausgerechnet im mährischen Lundenburg, weitab von jeder größeren wissenschaftlichen Bibliothek und wohl auch ohne umfangreicheren Zugang zu rabbinischen Quellen an der Verwirklichung dieses Planes gearbeitet. Vielmehr scheint wahrscheinlich, dass Graetz lediglich mit dem Manuskript einer Geschichte des rabbinischen Zeitalters in Berlin erschienen wahr und sich die umfassendere Dimensionierung einer Gesamtgeschichte erst im Verlauf der Vorbereitungen ergeben haben, womöglich sogar erst auf Anregung seitens des Verlegers.318 Zwar fehlt für eine solche Hypothese ein eindeutiger Quellenbeleg – doch ein unzweifelhafter Beleg für die Idee eines von vornherein geplanten Großprojektes fehlt ebenso. In seinem Tagebuch erwähnt Graetz nichts Derartiges. Und der einzige erhaltene Quellenhinweis, der bereits zitierte Bewerbungs-Lebenslauf von Graetz vom 16. Dezember 1853, ist eindeutig beschönigend gehalten.319 Ungeachtet allen Selbstbewusstseins erscheint es 318 Das Veitsche Firmenarchiv enthält keinerlei Unterlagen zu diesem Band; freundliche Mitteilung des Archivs Walter de Gruyter & Co. vom 17. Januar 2001. – Veit wäre nicht der einzige Verleger jener Jahre gewesen, der einen weitgehend unbekannten Nachwuchswissenschaftler zu einer umfassenden Gesamtdarstellung angeregt hat; so ging etwa die dem Graetzschen Geschichtswerk in vielerlei Hinsicht so ähnliche Römische Geschichte von Theodor Mommsen (Bd. I–III erschienen 1854–1857) auf die Initiative der Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel zurück, nachdem sie einen Vortrag von Mommsen über die Gracchen gehört hatten. Vgl. Rebenich, Mommsen, 61; Wickert, Mommsen III, 399, sowie den Brief Mommsens an Gustav Freytag vom 13.3.1877. Mommsen schrieb hier sehr anschaulich aus der Rückschau: „aber Sie wissen ja, wie es in jenen Jahren der Wirren und Irren herging; jeder traute sich alles zu und wenn man einen Professor neckte: wollen Sie nicht Kultusminister werden? so sagte er gewöhnlich ja. So sagte ich denn auch ja“; ebd., 655 f, Zitat 656. 319 Dies gilt nicht nur für seine bereits erwähnte schulische Ausbildung, sondern gerade auch für die Zeit zwischen Lundenburg und Breslau: „Ich blieb in dieser Funktion [als Leiter einer öffentlichen israelitischen Schule in Lundenburg, MPy] nur anderthalb Jahre, weil mein Wirkungskreis zu enge war, und weil mir die Herausgabe einer Gesamtgeschichte der Juden, an welcher ich Jahre lang gearbeitet, zu sehr am Herzen lag. Um diesem umfangreichen Werke die letzte Feile in einer an Bibliotheken reichen Stadt zu geben, zog ich es vor, ins Vaterland zurückzukehren und mich in Berlin niederzulassen.“ [Aufzeichnungen], 25. Wie gezeigt, war es keineswegs ein freiwilliger Schritt, der Graetz aus Lundenburg weggeführt hat, und auch der Weg nach Berlin war nicht so klar, wie es hier klingt. Im Tagebuch findet sich keinerlei Hinweis auf die gute Bibliotheksausstattung; vielmehr heißt es bei der sich abzeichnenden Aussicht auf die Stellung in Breslau: „Mich fesselt nichts in Berlin“ (Graetz, TB, 205). Auch kann angesichts einer Erscheinungsdauer von insgesamt 23 Jahren wohl kaum die Rede davon sein, dass er der Geschichte der Juden nur mehr „die letzte Feile geben“ musste. Gewiss gehören derlei Übertreibungen zum Genre eines Bewerbungs-Lebenslaufs, allein die Passage klingt weitaus realistischer, wenn man an Stelle einer „Gesamtgeschichte“ lediglich „Geschichte des talmudischen Zeitalters“ liest; eine Hintertüre scheint sich Graetz schließlich selbst offengelassen zu haben, da er lediglich von der „Herausgabe“ spricht. – Zum Hintergrund für das Entstehen dieses Lebenslaufes vgl. auch Graetz, TB, 207.

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doch fraglich, ob er in den verzweiflungsvollen vorausgegangenen Jahren in Posen und Mähren ein solches vielbändiges Mammut-Projekt realistischerweise hatte planen können. Selbst wenn er derlei ehrgeizige Pläne gehegt haben sollte, so zeigen seine tatsächlichen Arbeiten dieser Zeit ein anderes, ein wesentlich beschränkteres Bild: Sowohl seine Vorträge in der Lundenburger Jeschivah als auch seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit der talmudischen Epoche, und selbst die umfassende Construction der jüdischen Geschichte hatte sich ja für die nachtalmudischen Jahrhunderte auf einige wenige Punkte der Geistesgeschichte beschränkt.320 Für die ursprüngliche Idee, lediglich eine Geschichte des talmudischen oder rabbinischen Zeitalters zu schreiben, aus der erst später der wahrlich unorthodoxe Beginn einer Gesamtgeschichte wurde, spricht noch ein weiteres Argument. Denn wahrscheinlich hatte Graetz das Manuskript zu diesem Band im Wesentlichen in Mähren geschrieben, wo er, wie gesagt, mehr und mehr unter der Abhängigkeit von seinem ehemaligen Mentor, Samson Raphael Hirsch, litt. Im Herbst 1850 hatte es sich abgezeichnet, dass er in Lundenburg eine bescheidene Stelle bekommen könnte, auch wenn er dafür unter Hirschs Aufsicht bleiben müsse. Nur wegen seiner äußersten Notlage und über die Maßen verbittert fügte er sich diesem Schicksal; doch anstatt weiter in der bis dahin bei ihm vorherrschenden Verzweiflung zu versinken, erwachte sein Kampfgeist, nun sogar noch verstärkt durch den Wunsch nach Rache: Das ist das selige Ende hochfliegender Träume. – u. dann muß ich noch unter seiner [= Hirschs] Protektion stehen. Schmach. Schmach über euch. Aber ich will ja das Geld sammeln, schnorren, u. dann will ich empfindliche Rache an den Bestien aller Art nehmen. Meine Phantasie, die mich jetzt bei neuen Erfindungen verläßt, wird mir gute Dienste leisten. O ja ich will sein li-tzninîm be-tziddâw [„zu Stacheln in seinen Seiten“]. Wir wollen seiner Religiosität den Kappzaum umwerfen, Und dann.321

Graetz hatte wohl oder übel die subordinierte Stellung angenommen, um Marichen heiraten zu können. Und dann hatte er sich anscheinend ans Schreiben gemacht. In der Tat waren nicht wenige Passagen im Werk des ehemali320 Vgl. Bloch, Biographie, S. 35, sowie das Brannsche Verzeichnis, 124–130. 321 Tagebucheintrag vom [4. September 1850] mit Anspielung auf Nu 33,55 und Jos 23,13 (Michaels Stellennachweis ist falsch!). Graetz, TB 200. – Noch im Sommer desselben Jahres hatte er in einem bereits ausschnittweise zitierten Tagebucheintrag über Hirsch und seine vermeintlichen religiösen Zumutungen geschimpft: „Ha, schon ihm zum Trotz – Schrieb er mir jetzt neulich auf meine dringende Anfrage in seinem moralisch diplomatischen künstlich erbauten Styl, er wisse wohl, daß man mich zum [Aufbau eines Rabbiner-]Seminar[s] brauchen würde, aber er könne mir nichts garantiren! Dafür verlangt er aber auch ein Glaubensbekenntnis, daß ich jeden aberwitzigen, tollhäuslerischen dîn des Sch[ûlchan] A[rûch] für eine göttliche Offenbarung halte.“ Graetz, TB, S. 197 f, Zitat 198.

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gen Oldenburger Famulus geeignet, den Wortführer der Orthodoxie vor den Kopf zu schlagen. In Graetzens Darstellung wurden aus den großen Namen der rabbinischen Tradition nun ihre eigentlichen Schöpfer, deren Worte und Taten in einem spezifischen, zeithistorischen Kontext standen. Dies galt insbesondere für die Zeit der Tannaiten (vom Untergang des Zweiten Tempels bis zum Abschluss der Mischnah, 70–ca. 219 n. d. Z.), für die die wenigsten Quellenzeugnisse vorlagen, in der also die größte Freiheit in der Darstellung möglich, aber auch notwendig war. Hier gelangen Graetz eine Reihe regelrechter Kabinettstückchen, indem er die traditionellen fünf Generationen in seiner Darstellung zu letztlich drei zusammenfasste und deren Protagonisten gleichsam dialektisch auf einander reagieren ließ. Zusammengehalten wurde diese Abfolge von Gegensätzen durch die beiden traditionellen Hauptschulen pharisäisch-rabbinischer Auslegung, die „Häuser“ Hillel und Schammai. Graetz charaktierisierte sie nicht allein auf Grund ihrer generellen Auslegungstendenz (Hillel erleichternd, Schammai erschwerend), sondern auch auf Grund ihrer jeweiligen Haltung zu Rom, dabei die Hilleliten als konziliante Friedenspartei deutend und die Schammaiten als Aufrührer und Revolutionäre. Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Orientierung präsentierte der Historiker dann auch die ersten Tannaiten. Der Gründer des Lehrhauses in Jabne und Bewahrer des Judentums im Angesichts des staatlichen Untergangs, R. Jochanan ben Sakkai, wurde ihm so zum Führer einer demokratisch orientierten Friedenspartei, den ersten Patriarchen dieser Epoche, Gamaliel II., charakterisierte er als einen Ordner der Zerstreuten, der beständig um die gerade gewonnene Einigkeit rang und letztlich an seiner Strenge scheiterte; dem folgten noch zwei Gegensatzpaare: zunächst waren dies R. Elieser ben Hyrkanos, den er sich absondern mit unnachgiebiger Starrheit am überkommenen Buchstaben anhängen ließ, während R. Josua ben Chananja eine vermittelnde Position, sowohl exegetisch wie auch politisch, zwischen Juden und Römern einnahm; schließlich in der Weiterentwicklung und Anwendung der so entstandenen Traditionen R. Akiba, der als ebenso strenger wie innovativer Systematiker ein wesentlich ambivalenteres Porträt bekam als in früheren Darstellungen, dessen Rolle während des BarKochba-Krieges dafür stärker betont wurde, sowie als sein Gegenpart R. Ismael ben Elisa, der im Gegensatz zu Akiba als Vertreter der praktischen Vernunft und des gesunden Menschenversandes gezeigt wurde.322 Zusammen mit den Gesetzeslehrern trat aber auch das Gesetz gleichsam ins Leben, wurden aus der am Sinai empfangenen „mündlichen Lehre“ mit einem Mal historisch und nicht selten sogar ganz menschlich-individuell bedingte Lehren – und damit stand Graetz im eklatanten Widerspruch zu der Position, die Hirsch vertrat. Graetzens Ansatz zeigte hier in aller Deutlich322 Vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), 11–72 (41908, 11–59).

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keit seine Geistesverwandtschaft mit der Tübinger Schule, die ja Ähnliches mit den Aposteln Jesu und ihren Nachfolgern unternommen hatte. Es blieb jedoch nicht bei solchen grundsätzlichen, methodisch bedingten Differenzen, die sich ja zumindest in nuce bereits in Oldenburg angedeutet hatten; darüber hinaus würzte Graetz seine Darstellung mit einer Sprache, die dem Wissenden immer wieder Parallelen zur Gegenwart nahelegte: „Es drohte dem Judenthum die Gefahr“, analysierte der junge Historiker die Situation vor der Schaffung eines neuen Zentrums in Jabne, „entweder zu verdumpfen, oder ohne Halt und Schwerpunkt in Splitter auseinander zu fahren“ – solche Formulierungen waren offenkundig dazu angetan, vor dem geistigen Auge des Lesers seine zeitgenössische Konstellation im Judentum mit den beiden Polen der extremen Reform und der sich entwickelnden (Neo-) Orthodoxie zu evozieren.323 Die scharf konturierte Gestaltung der Rabbinen konnte dem Leser Samson Raphael Hirsch ebenso wenig gefallen wie die negative Konnotation, mit der Graetz insbesondere die besonders gesetzestreuen und gleichsam orthodoxen Figuren wie etwa R. Elieser ben Hyrkanos versah. Mehr noch, Graetz streute darüber hinaus auch einige scheinbar harmlose Formulierungen und Akzentsetzungen ein, die kaum weiter auffielen, aber durchaus Spitzen gegen seinen einstigen Lehrer und Vorgesetzten waren.324 Hirsch dürfte dies wohl kaum entgangen sein. Entsprechend heftig fiel denn auch seine Replik aus: In drei auf einander folgenden Jahrgängen seiner neugegründeten Zeitschrift Jeschurun rezensierte er 1855–57 Graetzens Werk auf fast zweihundert Seiten[!].325 Weder an der Methodik noch an den Ergebnissen mochte der Rabbiner dabei ein gutes Haar lassen: „dem 323 Dies umso mehr, als Graetzens einführende Beispiele für diese beiden Richtungen – Asketen und Christen – nur wenig geeignet waren, die folgende Analyse zu bestätigen. Graetz, Geschichte IV (1853), 11. Für die folgenden Auflage wurde dieser Anfang bezeichnenderweise auch eingehend umgestaltet. Vgl. Graetz, Geschichte IV (31893), 9 ff, und (41908), 9 ff. 324 Vgl. v. a. Graetz, Geschichte IV (1853), 45 (R. Josuas Armut, die der gestrenge R. Gamaliel ignorierte); 55 (Erzählung von R. Akibas Gattin, die ihr Haar opfert); 69 f (R. Ismael als den vernünftig-lebensnahen Ausleger im Gegensatz zur „Künstlichkeit“ R. Akibas); hierzu zählen wohl auch die ganze Darstellung von R. Elieser b. Hyrkanos („das starre System“, 47) sowie die Charakterisierung von R. Judah ha-Nasi (v. a. 236 f). – Ein deutliches Indiz für den persönlichen Charakter der Auseinandersetzung zwischen Graetz und Hirsch ist die Anekdote über das Haar von R. Akiba. Wie erinnerlich, hatte gerade die Weigerung von Marie Graetz, ihre Haare mit einem Scheitel zu verhüllen, die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer nachhaltig belastet; in seiner Rezension nun verwies Hirsch ausdrücklich (aber vollkommen unmotiviert) darauf, dass es der bei Graetz herausragend wohlwollend beschriebene R. Ismael gewesen sei, der jene Verhüllung als mosaisches Gebot gelehrt habe; Vgl. [Rez. Hirsch von] Graetz, Geschichte IV (1853), 404. 325 Vgl. [Rez. Hirsch von] Graetz, Geschichte IV in Jeschurun 2 (5617[/1855/56]), 47–69, 89–103, 156–176, 198–214, 315–325, 424–442, 529–549; 3 (5618[/1856/57]), 63–78, 229– 254, 396–413, 557–571, und 4 (5619[/1857/58]), 289–307.

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Verfasser ist die Manie, Alles aus pathologischen Sympathien oder Antipathien zu motiviren, so zum historischen Bedürfnis geworden, dass er selbst klar ausgesprochene Beweggründe verschmäht und hinter Allem den pathologischen Hintergrund der Subjectivität wittert.“ Das Fazit war ein Total-Verriss: Das Buch sei nichts weiter als „ein Produkt der verwerflichsten Leichtfertigkeit und der leichtsinnigsten Ungründlichkeit“, dessen Text sich „vor dem unerbittlichen Strahle der Wissenschaft und Wahrheit […] fast Zeile für Zeile“ in Nichts auflöse.326 Zu diesem vernichtenden Urteil kam er auf Grund der minutiösen Vergleichung von Graetzens Text mit den rabbinischen Quellen. Dabei handelte es sich beileibe nicht um eine Gesamtbesprechung: Hirsch befasste sich nicht einmal mit einem Fünftel des Buches.327 Auch kam er nicht zu einem Ende: Am Ende des Elften Artikels vermerkt er vielmehr ausdrücklich, dass Graetzens Talmud-Belege bis zum Ende der tannaitschen Epoche und damit bis zum Abschluss der Mischnah verfolgen wolle, ohne dies jedoch einzulösen. In seinem zwölften Rezensionsartikel, der die Versammlung von Lydda behandelte, deutete er mit keiner Silbe an, dass damit nun die Gesamtrezension zu einem Ende gekommen sei. Seine Besprechung brach hier schlichtweg ab, ohne am verheerenden Ergebnis der quellengesättigten Beweisführung etwas zu ändern: Graetzens Darstellung beruhe auf „Insinuationen […], welche überall nichts als ein Spiel su[b]jektiver Sympathien und Antipathien hineindichtet und zu diesem Ende die historischen Quellen unserer talmudischen Vorzeit mit der oberflächlichen Willkür eines phantasiereichen Romandichters mißbraucht“.328 Hirschs Rezension sorgte für Aufsehen. Ungeachtet ihrer exorbitanten Länge wurde weniger hierüber spekuliert als vielmehr darüber, weswegen Hirsch sich so lange Zeit mit der Besprechung ließ, wurde doch der erste Artikel mehr als zwei Jahre nach Erscheinen des Bandes publiziert, und Hirsch setzte seine Besprechung noch fort, als bereits der nächste, der dritte Band 1856 erschienen war. In Unkenntnis darüber, wie tiefgreifend das Verhältnis von Graetz und Hirsch zerstört war, interpretierte die jüdische Öffentlichkeit das vernichtende Urteil, das der einstige Lehrer über seinen ehemaligen Schüler sprach, als einen grundsätzlich-dogmatisch motivierten Angriff. Dies erschien umso plausibler, als in Breslau mittlerweile eine Lehranstalt für Rabbiner und Lehrer gegründet worden war, an der Graetz als Dozent wirkte und die sich anschickte, die rabbinische Ausbildung auf 326 Hirsch, [Rez. von] Graetz, Geschichte IV (1853), 55, 50 und 69. 327 Dabei befasste er sich im Wesentlichen mit den ersten drei Kapitel (rund 65 Seiten) sowie den Seiten 185–191 der Geschichte (von 478 Seiten Haupttext ohne Anmerkungen), und behandelte vornehmlich die frühen Tannaiten sowie die Auslegungsmethoden der Häuser Hillel und Schammai und schließlich die Synode von Lydda. 328 Hirsch, [Rez. von] Graetz, Geschichte IV (1853), 571 (Untersuchung bis Abschluß der Tannaitischen Epoche) und 289 (Zitat).

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eine neue Grundlage zu stellen.329 Insofern lag es nahe, Graetz nun als Symbol für das historisch-positive, konservative Judentum zu sehen, das Opfer orthodoxer „Ketzerriecherei“ geworden sei. Hirschs allein auf Graetz gerichteter Angriff mit seiner durchaus gerechtfertigten Detailkritik erfuhr so eine Wendung ins Allgemeine, die das Haupt der Frankfurter Austrittsorthodoxie plötzlich als jüdischen Großinquisitor im Kampf gegen ein liberales, freigeistiges Judentum erscheinen ließ, das für das freie Wort und die freie, objektive Wissenschaft eintrat. Diese – mit gebührenden Abstrichen in der Wertung seither auch in der Forschung tradierte – Interpretation formulierte erstmals der Frankfurter Privatgelehrte, Geiger-Anhänger und GraetzFreund Raphael Kirchheim (1804–1889) im Dezember 1855 in der AZJ, nachdem die ersten beiden Artikel von Hirsch erschienen waren: Wenn der Recensent […] eine Definition der Tradition gegeben und die hier nur berührten Widersprüche zu lösen versucht hätte, dann hätten wir, wenn auch nicht das inquisitorische Recht ihm eingeräumt, in jedem Worte des Herrn Graetz eine Apostasie zu wittern, ihn wenigstens berechtigt gehalten, die dogmatische Ansicht desselben zu würdigen oder zu verwerfen; aber mit unmotivirten hingeworfenen Phrasen ein dogmatisches Urtheil in der Absicht zu fällen, um einen Gelehrten zu verdächtigen, weil er in einer dem Recensenten nicht beliebigen Anstalt lehrt, […] ist ein Verbrechen, welches man nicht einmal einem tadelsüchtigen Recensenten verzeihen kann.330

Diese Vorwürfe konnte und wollte Hirsch nicht auf sich sitzen lassen. Entschieden verwahrte er sich einen Monat später in seiner Hauszeitschrift Jeschurun gegen die Anklage, er sei inquisitorisch und in dogmatischer Absicht gegen Graetz zu Felde gezogen. Mehr aber erbitterte Hirsch die Behauptung, er hätte in Graetz das Breslauer Seminar treffen wollen, wie seine leidenschaftliche Philippika gegen Kirchheim deutlich macht: Wir kennen die Stellung nicht, die der Verf. der Geschichte der Juden, in dieser Anstalt einnimmt, wir wissen nicht wie maßgebend und einflußreich sein Antheil an der Lehre ist, die dort ertheilt wird. Ist’s aber an dem, wie Sie voraussetzen, […] ist dieses Geschichtswerk eine Proble wie dort die Thorah und ihre Urkunden behandelt werden sollen, […] dann, Herr Kirchheim, würden wir nicht, wie Sie uns andichten, so aus dem Versteck heraus, dann würden wir laut, so laut und weit, als nur immer unsere Stimme reicht, die offene Warnestimme erheben: ‚Eltern schickt eure Söhne nicht auf dies Seminar!‘331 329 Hierzu vgl. unten, das Kapitel II 3.2. 330 Vgl. Kirchheim, R. Jochanan ben Sakkai, hier v. a. 638; auf Hirsch nimmt Kirchheim in dem ganzen Artikel immer nur indirekt bezug, versieht ihn aber durchgehend gewissermaßen mit dominikanischen Attributen. – Als Beispiele für die fortdauernde Interpretation der HirschRezension als Angriff auf das Breslauer Seminar vgl. Rippner, Zum siebzigsten Geburtstag, sowie jüngst Brämer, Frankel, 357 f. 331 Vgl. Hirsch, Ein Wort an Herrn Kirchheim, 237–241 (gegen den Dogmatismus-Vorwurf) und 242 f (Zitat).

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Allein ganz so klar erschienen in der Anfangszeit die Strukturen des Seminars eben nicht, und Hirschs Fokus war hier wie in seiner Rezension ganz ausschließlich Graetzens Geschichtsschreibung. Entsprechend krönte der Führer der Neo-Orthodoxie sein grandioses Wort an Herrn Kirchheim mit einem versöhnlichen Schluss, in dem er diesem Kontrahenten die „Liebe zu der Lehranstalt in Breslau, die Liebe zu der literarischen Wissenschaft“ wohlwollend zugute hielt Nicht verzeihen konnte er hingegen seinem eigentlichen Widersacher dessen Buch über die Rabbinen, das seiner Meinung nach besser gar nicht erst geschrieben worden wäre. Hier sei alles nur „Conjektur, Geschichte ist es ohnehin nicht.“332 Wenngleich Hirschs Angriffe also nicht auf Graetzens neue Wirkungsstätte zielten, wie seine Widersacher meinten, so erklärt freilich auch die von ihm selbst angeführte rein wissenschaftliche Motivation seines TotalVerrisses nicht, aus welchem Grunde er sich zwei Jahre für die Rezension eines Werkes Zeit nahm, das ihn offenkundig dermaßen erregt hatte. Ungeachtet der Gefahr, hier ein praeter zu einem propter zu machen, erscheint ein vielleicht banaler, aber gerade in seiner Banalität sehr menschlicher Auslöser wahrscheinlich zu sein: Anfang August 1855 war das Ehepaar Graetz nach Paris gereist und hatte kurz Station in Frankfurt/Main (bei Kirchheim) gemacht – und damit in derselben Stadt, in der ja Hirsch als Rabbiner amtete. Graetz jedoch brüskierte seinen einstigen Lehrer und Freund, indem er einen Besuch willentlich unterließ: „ich war froh, dem hochmüthigen Heiligen eine Beleidigung zuzufügen“, notierte der junge Gelehrte in seinem Tagebuch. „Auch er hat es empfunden u. beklagte sich über die erfahrene Vernachlässigung von meiner Seite“.333 Zwei Monate später begann Hirsch mit der Veröffentlichung seines langen Verrisses.334 Graetz zeigte sich allerdings von dieser Fundamentalkritik wenig beeindruckt: „Eins freut mich dabei, dass ich nun mit diesem Gottestrabanten völlig gebrochen habe. ich mag mit ihm u. seinem Gelichter nichts zu thun haben.“335 Als Graetz dies 1856 niederschrieb, konnte er sich leisten, die Brücken zu Hirsch vollends abgebrochen zu haben: nicht nur waren die übrigen Rezensionen weitgehend zustimmend und wohlwollend gewesen,336 332 Beide Zitate Hirsch, Ein Wort an Herrn Kirchheim, 244. 333 Graetz, TB, 214. 334 In der Einleitung zu Band V, dem ersten, der nach Erscheinen von Hirschs Rezension herauskam, machte Graetz seinerseits öffentlich, dass er mit Hirsch gebrochen hatte, als er jenen nurmehr als „ketzerriechende[n] Klausner“ titulierte. Geschichte V (1860), V. [diese gesamte Einleitung fehlt in den folgenden Auflagen]. 335 Tagebucheintrag 13. April 1856. Graetz, TB, 217 f. 336 Bemerkenswerterweise gilt dies für christliche wie jüdische Rezensenten; selbst Ewald hatte bei aller Kritik an dem Tübinger Geist nicht umhingekonnt, Graetz Respekt für seinen Umgang mit den talmudischen Quellen zu zollen. Vgl. die im Literaturverzeichnis zu Graetz, Geschichte IV (1853) aufgeführten Rezensionen.

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in der Zwischenzeit war mit Band III ein weiterer Teil seines ehrgeizigen Projektes erschienen – vor allem aber hatte er endlich eine feste Anstellung gefunden. Er war mittlerweile ein etablierter Teil jener Geschichtskultur geworden, die Mitteleuropa im 19. Jahrhundert und damit Christen und Juden gleichermaßen auf so einzigartige Weise prägte. Mit einem Mal schien Graetz das Schicksal gewogen zu sein: „die Gegenwart lächelt uns freundlich, u. die Zukunft verheißt uns nur schöne Tage“. Lediglich der drohende Verlust seiner „Lebensfreiheit“ beunruhigte ihn, „aber das wird sich wohl besser machen als wir uns vorstellen“, notierte er hoffnungsfroh.337 Das Ringen um die Bewahrung des Erreichten rückte langsam, aber unaufhaltsam in den Mittelpunkt seines Strebens.

337 Alle drei Zitate Tagebucheintrag vom 16. April [1854]; Graetz, TB, 209–212, Zitat 209.

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3 Identität und Popularisierung 3.1 Im Kontext einer Geschichtskultur Zu den vielen Epitheta des 19. Jahrhunderts gehört dasjenige eines Jahrhunderts der Bildungsidee. Die nicht zuletzt von Wilhelm von Humboldt entwickelte Idee der Bildung des Menschen zielte auf die Stärkung des Individuums, seines Charakters wie seines Horizonts. Diesem beständigen Werden des Menschen entgegengesetzt, aber doch ursächlich verbunden war eine seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer stärker werdende Hinwendung zu dem Vergangenen. Geschichte wurde zu einem Argument, mit dem das Bestehende zu rechnen hatte. Im Zeichen von Aufklärung und Fortschrittsdenken waren Geschichte und Geschichtsschreibung sowohl als wissenschaftliche Disziplin wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu großer Bedeutung aufgestiegen. Nicht die antiquarische Ansammlung von Wissen oder die direkte Umsetzung von historischen Exempla sollten fortan das Ziel sein. Die wissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit bekam eine geradezu staatstragende Rolle. Ihre Nutzbarmachung für die Gegenwart erfuhr eine gewaltige Aufwertung.1 Dies äußerte sich auch in der Lebenswelt der Menschen in Mitteleuropa dieser Epoche. Zumindest in den Städten etablierte sich hier im Laufe des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Geschichtskultur, in der verschiedene Formen von repräsentierter Vergangenheit und Geschichtswissen wirkungsmächtig in der Gesellschaft präsent waren.2 Im Rahmen dieser Geschichtskultur agierten auch die Wissenschaft des Judentums im Allgemeinen und Graetz sowie sein Umfeld im Besonderen. Da dieser Kontext in der Forschung zur Wissenschaft des Judentums bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist,3 scheint es wohl gerechtfertigt, ihn eingehender zu behandeln. 1 Vgl. immer noch Fueter, Geschichte, sowie Jäger/Rüsen, Geschichte des Historismus. 2 Zu dem glücklichen Begriff der Geschichtskultur vgl. (wenn auch leider sehr allgemein) Hardtwig, Vorwort, 8 f; eine Theorie zu diesem Begriff entwirft Rüsen, Historische Orientierung, 209–258. 3 Es ist außerordentlich bezeichnend, dass die bisherigen Forschungen zur Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert sich zwar einer gewissen Beziehung ihres Untersuchungsgegenstandes zum Historismus bewusst sind, jedoch diesen im Wesentlichen auf die Namen Humboldt und Ranke reduzieren. Von den jüngeren Fachgelehrten und den Differenzierungen und Entwicklungen innerhalb des scheinbar so monolithischen Phänomens Historismus wissen diese Arbeiten nichts; erst wieder im Kaiserreich tauchen die Namen Treitschke und mitunter auch Mommsen auf, beide jedoch lediglich wegen ihrer Haltung zum Judentum. Vgl. etwa Carlebach (Hg.), Wissenschaft des Judenthums; Ehrenfreund, Mémoire juive; Meyer (Hg.), Geschichte II und III; Schorsch, From Text to Context; sowie jüngeren Datums Wyrwa, Judentum und Historismus.

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Entscheidend für die Ausbildung jener Geschichtskultur war der Traditionsbruch gewesen, wie er durch die Sattelzeit (Reinhart Koselleck) und besonders die Folgen der Französischen Revolution eingetreten war. Eine Orientierung jenseits rein rationalen Erkennens wurde in dieser entstehenden Welt der Moderne als Notwendigkeit empfunden, und die Suche nach entsprechenden Orientierungspunkten führte rasch zur Suche nach Kontinuitäten, die über jenen Einbruch von Neuerungen hinwegführten, oder aber nach Kontinuitätsbrüchen, die Neuerungen und Freiheit bedeuten konnten. Entsprechend groß war die Bedeutung, die der Geschichte im gesamtgesellschaftlichen Rahmen zukam, und immer mehr wurde sie zum Mittel der Identitätsfindung.4 Diese gemeinhin als Historismus bezeichnete Kultur mit ihrer Hochschätzung von Geschichte als dem zentralen Element kollektiver Identitätsstiftung äußerte sich nicht nur in einschlägigen Zeitschriften und wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern war auch im Alltagsleben präsent, wie etwa in Form von Denkmälern, von Fest- und Gedenktagen sowie nicht zuletzt in populären Medien, in Kunst und Literatur. Die Produzenten wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Geschichte spielten selbst eine große Rolle in diesen Prozessen, wobei ihre Bedeutung stieg, je stärker sie sich der Popularisierung des durch wissenschaftliche Forschungen gewonnenen Wissens verschrieben. Popularisierung soll hier nicht einfach im Sinne jenes älteren, eindeutig hierarchisch organisierten Modells verstanden werden, bei dem ein Experte abgehoben und einsam streng wissenschaftlich Erkenntnisse produziert, die er dann simplifiziert, um sie einem nicht näher spezifizierten, auf jeden Fall aber unwissenden Laienpublikum weiterzugeben.5 Vielmehr wird Popularisierung als ein interaktiver Transformationsprozess verstanden, der zwar durchaus von einem Wissensgefälle zwischen Produzenten und Rezipienten ausgeht, bei dem Letztere aber maßgeblich an dem Prozess beteiligt sind: Die Rezipienten sind stets im Blick des Produzenten, der vielmehr seine popularisierenden Bemühungen spezifisch auf ein bestimmtes Publikum hin zuschneidet. Insofern konstituiert der avisierte Rezipientenkreis das produzierte Wissen, nicht bloß in formaler Hinsicht, sondern auch inhaltlich.6 Entscheidend ist jedoch die Intention, mit der der Produzent antritt. Um den Begriff der Popularisierung sinnvoll als Konzept anwenden zu können (im Unterschied etwa zu einer bloßen Verbreitung von Wissen), muss

4 Angesichts der kaum mehr zu überblickenden Forschung sei aus jüngster Zeit nur genannt Heinssen, Historismus und Kulturkritik, der insbesondere die orientierungsstiftenden Eigenschaften von Geschichtsschreibung betont. 5 Zu diesem diffusionistischen Modell und der berechtigten Kritik daran vgl. Daum, Wissenschaftspopularisierung, 14–41; allgemein vgl. Kretschmann, Einleitung. 6 Vgl. Whitley, Knowledge Producers, 7.

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eine bestimmte Wirkungsabsicht seitens des Produzenten vorliegen, muss dieser das Ziel haben, durch seine Vermittlungsstrategien das Handeln seiner avisierten Rezipienten zu beeinflussen, gar anzuleiten. Durch dieses handlungsleitende Motiv erst unterscheiden sich Popularisierungsprozesse nachhaltig von einfachen Verbreitungsvorgängen. Zwar rückt das Phänomen Popularisierung auf diese Weise in einige Nähe etwa zur Propaganda, doch bei aller Ähnlichkeit sind beide Phänomene nicht deckungsgleich.7 Es ist ohne weiteres möglich, popularisierend in dem gerade skizzierten Sinne tätig zu sein, ohne den Boden seriöser Wissenschaft zu verlassen. Gerade diese Verbindung war ja eben eines der Hauptmerkmale der Geisteswissenschaften im Zeitalter des Historismus, zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht am deutlichsten greifbar war die Interaktion von Geschichtswissenschaft und Gesellschaft bei gesellschaftlichen Veranstaltungen, wie öffentlich begangenen Feier- und Gedenktagen, oder auch bei populären Vorträgen zu wissenschaftlichen Themen, die in großer Zahl stattfanden. Solche Veranstaltungen sind als Teil des allgemeinen Vereinswesens zu sehen, sie dienten ihrerseits dem Bildungsstreben und waren geeignet, nicht nur zu unterhalten oder individuelle Interessen zu befriedigen, sondern ermöglichten den Teilnehmern darüber hinaus auch den Erwerb symbolischen Kapitals: Das Element des Sehens und Gesehenwerdens spielte auch hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Am besten lässt sich wohl an den teilweise beachtlichen Publikumszahlen ablesen, welch große Bedeutung solche Veranstaltungen (sowohl in einer losen Form einfacher Vorträge als auch in der organisierten Form regelrechter Vereine) im gesellschaftlichen Leben des städtischen Bürgertums einnahmen. Den Wissenschaftlern wiederum boten sie die Möglichkeit, Wirksamkeit über die engen Kreise der Fachgelehrten hinaus zu entfalten. Es ging dabei durchaus um Wirksamkeit im Sinne von Beeinflussung und somit letztlich – um Politik. Mit dem hier vermittelten Wissen wurde in dem Sinne Politik gemacht, dass es als eine verbindliche Wahrheit präsentiert wurde, der unterschwellig eine handlungsleitende Funktion zukam. Unterschwellig diente das solcherart popularisierte Wissen nämlich auch zur Vermittlung von spezifischen Identitätsvorstellungen, mithin zu Identitätspolitik. Vor diesem Hintergrund gewannen Fragen um die entsprechenden Bildungsinhalte, mitunter gar wissenschaftliche Spezialfragen eine politische Bedeutung. Beispielsweise war die Entstehung der 7 Das Verhältnis von Popularisierung und Propaganda bedarf allerdings noch einer eingehenden Behandlung. – Insgesamt hat die momentan im Aufschwung befindliche Popularisierungsforschung den Aspekt handlungsleitender Motivationen bislang so gut wie nicht berücksichtigt; für erste vage Ansätze in diese Richtung vgl. Kretschmann, Louis-Philippe, 183 f und 190; Pyka, Religion, 49 und 72; Weber, Glaube und Wissen, 105, sowie grundlegend Kretschmann, Einleitung, 14 f.

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Wissenschaft des Judentums an sich bereits Zeugnis solcher Entwicklungstendenzen, und auch für nicht wenige ihrer Hauptwerke spielte dieser Kontext eine gewichtige Rolle.8 Doch war diese politisch-gesellschaftliche Dimension kein Spezifikum der Wissenschaft des Judentums, sie fand sich auch in anderen Wissenschaftsbereichen. Den Hintergrund boten tief greifende historische Prozesse, nicht zuletzt die allmähliche Entstehung eines bildungsorientierten Massenpublikums. Die Entstehung von Museen als auf ein breiteres Publikum orientierte Institutionen legt deutliches Zeugnis hiervon ab, wie etwa am Beispiel des von Graetz bereits früh besuchten Berliner (heute: Alten) Museums deutlich geworden ist. Ähnliches gilt für das geradezu explosionsartig zunehmende Vereinswesen. Doch betrafen diese Prozesse nicht allein ein unwissendes, aber bildungshungriges Bildungspublikum, sondern auch die Gruppe der Experten an sich: Wie sich nach Hegels Tod in der Philosophie deutlich abgezeichnet hatte, war die Zeit der Universalgelehrten und umfassenden Systematiker allgemein unwiederbringlich zu Ende. Die fortschreitende Spezialisierung und Professionalisierung einzelner Wissensgebiete brachte es mit sich, dass niemand mehr die wissenschaftlichen Ergebnisse aller Bereiche direkt und unmittelbar rezipieren konnte. Vermittelnde Institutionen waren mehr denn je notwendig geworden. Neben den bereits erwähnten Vereinen und Vortragsveranstaltungen kamen Museen diesem Bedürfnis ebenso nach wie Konversationslexika.9 Hinter solchen Vermittlungsinstanzen von Wissen standen nicht bloß interessierte Dilettanten, sondern durchaus Fachleute, zum Teil Experten ersten Ranges. Und es ging letztlich auch hier nicht um die bloße Verbreitung von antiquarischen Kenntnissen. Die öffentlichen Vorträge Theodor Mommsens sind nur ein Beispiel dafür, dass selbst ein historischer Arbeiter sich in der „Pflicht politischer Pädagogik“ sah.10 Solche Veranstaltungen waren zentrale Gelegenheiten der Interaktion und der Aushandlung von Identität. Da wiederum die dahinterstehenden Intentionen und Ansichten stets umstritten waren, entstand ein breites Spektrum an Vereinen und anderweitigen Einrichtungen. Diese Prozesse waren ein Phänomen, das die Gesamtheit eines als bürgerlich zu bezeichnenden Publikums prägte und seine sinn- und identitätsstiftende Wirkung nicht allein in jüdischen Kreisen entfaltete. Dennoch wurde in besonderem Maße die Bedeutung von Bildungswissen und historischen Kenntnissen durch den überproportionalen Anteil von Juden an den verschiedenen, als bürgerlich zu

8 Hierzu allgemein vgl. Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, 166–211. 9 Vgl. Spree, Streben nach Wissen. 10 Vgl. Jäger/Rüsen, Geschichte des Historismus, 2 und 86–90; Wickert, Mommsen III, 227 und 353. – Weitere Beispiele auch aus anderen Bereichen und Epochen finden sich bei Kretschmann (Hg.), Wissenspopularisierung.

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bezeichnenden Gruppen in dieser Zeit gefördert, insbesondere in größeren Städten wie etwa Breslau.11 Ähnliche Konstellationen ergaben sich sogar in den vermeintlichen Arkanbereichen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens. 1858, gegen Ende der preußischen Reaktionsära machten sich die Historiker Max Duncker (1811– 1886), Theodor Mommsen und Graetzens ehemaliger Lehrer Richard Roepell im Verein mit einigen anderen Publizisten und Wissenschaftlern und unter der Ägide des Gothaischen Presse-Vereins an die Gründung der später so einflussreichen Preußischen Jahrbücher. Es sollte sich hierbei um eine Monatsschrift handeln, die ausdrücklich das Wissenschaftliche mit dem Politischen verband, um „in längeren Aufsätzen von möglichster Gediegenheit die Sache des nationalen Liberalismus, den Gedanken des preußisch-deutschen Einheitsstaates vertreten und ihn als das Glaubensbekenntnis der gebildeten Kreise des ganzen Deutschlands unaufhörlich werbend verkündigen“ sollte.12 Das handlungsleitende und identitätsstiftende Potential von Wissenschaft und Literatur sollte hier also durchaus für tagespolitische Fragen genutzt werden – zwar ohne zu platter Propaganda zu gerinnen, doch sollte Wissenschaft ebensowenig Selbstzweck sein. Bezeichnenderweise wurde für die so positionierten Jahrbücher eine der ernstesten Konkurrentinnen ein ausschließlich wissenschaftliches Blatt, nämlich die ein Jahr später gegründete Historische Zeitschrift.13 Der erste Jahrgang dieser sich rasch zum führenden Organ der historischen Fachwissenschaft entwickelnden Zeitschrift wurde mit dem Königsberger Antrittsvortrag Wilhelm Giesebrechts (1814–1889) über Die Entwicklung der modernen deutschen Geschichtswissenschaft eröffnet. Hierin strich der Mediävist zwar „Gründlichkeit der Forschung und Wahrheitsgefühl“ als Charakteristika der deutschen Geschichtswissenschaft seiner Zeit heraus, betonte aber zugleich die Notwendigkeit, Forschung mit kunstvoller und kreativer Darstellung zu verbinden; erst die Freiheit zu Konjekturen sei es, 11 Vgl. van Rahden, Von der Eintracht, 16 f. – Auf Grund der Quellensituation dürfte sich wohl nur in den seltensten Fällen Publikum und Wirkung dieser Veranstaltungen rekonstruieren lassen. Angesichts der Quellenproblematik ist es zudem ausgesprochen gewagt, von irgendwelchen Spezifika einer jüdischen Wissenskultur im 19. Jahrhundert auszugehen, umso mehr, wenn keinerlei Vergleichsstudien getrieben werden. Wie schwierig allein konkretere Aussagen für die innerjüdische Zusammensetzung sind, zeigt etwa Hoffmann, Verbürgerlichung, 154 f. Mit Fokus auf dem herausragenden Zentrum Berlin vgl. jetzt Panwitz, Gesellschaft der Freunde; doch sind weitere sozialgeschichtliche Untersuchungen zu diesem Vereinswesen, zumal in vergleichender Perspektive, ein dringendes Desiderat, um ein klareres Bild der Wissenschaft des Judentums und ihrer Wirkung zu bekommen. 12 So der erste Herausgeber der 1858 gegründeten Jahrbücher, Rudolf Haym (1821–1901), in seinen Erinnerungen. Zit. nach Wickert, Mommsen III, 371. – Zur Frühphase der Jahrbücher immer noch Westphal, Welt- und Staatsauffassung. 13 Vgl. Obenaus, Zeitschriften II, 58.

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die überhaupt erst Fortschritt in der Wissenschaft ermögliche: „Wo Freiheit ist, da ist die Möglichkeit des Irrthums, aber ohne Freiheit und Selbstständigkeit der Forschung gibt es im Sinne der Wissenschaft keine Wahrheit.“14 Dies beinhaltete zudem ein vehementes Plädoyer für eine Wissenschaft mit Standpunkt – lediglich Extrempositionen (worunter Giesebrecht katholische und demokratische Autoren meinte) seien abzulehnen, ein nationaler Standpunkt hingegen geradezu vonnöten: „Der nationale Gesichtspunkt ist so wenig einer universellen Geschichtsanschauung hinderlich, daß sich vielmehr erst aus ihm meines Erachtens eine tiefere und wahrere Auffassung der Universalgeschichte gewinnen läßt.“15 Die Einnahme eines solchen Standpunktes sei es gerade, die der historistischen Geschichtsschreibung ermögliche, sich vorteilhaft und wirkungsmächtig von ihrer (seiner Meinung nach anämischen) Vorgängerin der Aufklärungshistorie abzuheben. Vorläufig jedoch fehle es noch gerade an solchen Darstellungen, die meisten Erzeugnisse der Fachwissenschaft waren ihm noch immer zu trocken – Giesebrecht konstatierte einen Mangel an „glänzender Kunst der Darstellung“ und an dem Vermögen, „von dem frischen Hauche eines nationalen Staatslebens durchweht, eine männliche Gesinnung [zu] kräftigen und [zu] heben“.16 Zu diesen beiden Idealen, der literarischen Darstellung wie der anleitenden Wirkung auf das Publikum, hatte sich drei Jahre zuvor bereits der Herausgeber des neuen Organs, der damals gerade nach München berufene Historiker Heinrich von Sybel (1817–1895), in seiner programmatischen Standortbestimmung der neueren deutschen Geschichtsschreibung bekannt – die Voraussetzung für Geschichtsschreibung sei gerade eine feste Überzeugung des Historiographen, und damit verbunden der Wille, identitätsstiftend zu wirken: „Daß unsere Geschichtsschreibung sich zu Vaterlandsliebe und politischer Ueberzeugung bekannt, hat ihr erst die Möglichkeit zu erziehender Kraft und zu fester Kunstform gegeben.“17 Diesem Bekenntnis entsprechend definierte Sybel auch die Linie seiner Zeitschrift: Sie „soll vor Allem eine wissenschaftliche sein.“ Er beabsichtige „eine historische Zeitschrift, nicht eine antiquarische und nicht eine politische.“ Damit war ein mittlerer Weg bezeichnet, der aktuelle politische Tagesfragen und die damit verbundenen Extrempositionen18 ebenso vermied wie eine „antiquarische“ Herangehensweise ohne einen „noch lebenden Zusammenhang“ mit dem „Leben der 14 Giesebrecht, Entwicklung, 11. – Die Betonung der Rolle von Kreativität und Phantasie hatte schon Wilhelm von Humboldt in seiner Aufgabe des Geschichtsschreibers ausgearbeitet und als die notwendigen „Ahnungsvermögen und Verknüpfungsgabe“ gepriesen, Humboldt, Aufgabe, 586 f; vgl. hierzu Muhlack, Geschichtsschreibung, 73 und passim. 15 Giesebrecht, Entwicklung, 9. 16 Zitate Giesebrecht, Entwicklung, 4 („Gründlichkeit“) und 2 („Kunst“ und „Gesinnung“). 17 Sybel, Ueber den Stand, 350. 18 Sybel nennt hier Feudalismus, Radikalismus und Ultramontanismus. Sybel, Vorwort, III.

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Gegenwart“.19 Die solcherart historischen Werke sollten ihrer Wirkungsmacht sicher sein können, und hierfür Sorge zu tragen, sei das Ziel der Zeitschrift. Was Sybel in seinem Vorwort noch recht umständlich formulierte, verdeutlichte Georg Waitz (1813–1886) in seinem mahnenden Grußwort an den Herausgeber: Die Historische Zeitschrift sollte den Fachhistorikern eine Gelegenheit bieten, sich „über wichtige Fragen zu verständigen“, vermeintlich falsche Tendenzen abzuwehren, den um sich greifenden Dilettantismus zu bekämpfen und nicht zuletzt „zu den weiteren Kreisen zu sprechen, die für geschichtliche Wissenschaft Interesse haben.“ Dabei machte selbst der Mediävist Waitz, der älteste der Rankeschüler und bald schon im Gegensatz zu Sybel eher einem positivistischen Historismus verpflichtet, unmissverständlich klar, dass auch ihm „die Geschichte“ nicht Selbstzweck war – vielmehr solle sie dazu „dienen, die Gegenwart richtig zu fassen und zu beurtheilen.“ Mehr noch, sie habe nicht nur „das Vermögen“, sondern sogar „die Aufgabe […], der Nation für ihre Bildung und ihr Leben Förderliches darzubieten“.20 Kurz: Die sich nach 1848 allmählich etablierende Historikergeneration, die von der Historiographiegeschichtsschreibung als Borussisch-kleindeutsche Schule bezeichnet werden sollte, machte keinen Hehl mehr aus der engen Verbindung von Wissenschaft und Politik, diese war vielmehr unabdingbar, ohne dass sie dabei den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Objektivität aufzugeben dachten. Darüber hinaus aber – und damit prägten sie mehr denn je ihre Zeit zu einer Geschichtskultur – erhoben sie explizit und geradezu exklusiv den Anspruch, auf Grund ihrer wissenschaftlichen Arbeit als Historiker die Gegenwart deuten und mit Sinn versehen zu können. Diese historistische Konstruktion einer deutschen Identität auf Grund des Wissens um die Geschichte sollte in der Tat handlungsleitend wirken – die Geschichtsschreibung war es nun, die zur magistra vitae wurde, und mit ihr die Historiker zu den Praeceptores Germaniae.21 Solches „Pathos einer Sendung“22 der Gelehrten nahm großen Aufschwung mit dem Anbrechen der Neuen Ära in Preußen. Doch lagen die wesentlichen Ansätze hierzu schon früher, sie waren aus der deutschen Nationalbewegung erwachsen und hatten in der Pauls19 Sybel, Vorwort, IV. – Zum Gegensatz zwischen „historischer“ und „antiquarischer“ Herangehensweise (welche immerhin 1859 immer noch so präsent gewesen zu sein scheint, dass Sybel ihn nicht näher erklären musste) vgl. Momigliano, Alte Geschichte, 141–144. 20 Waitz, Falsche Richtungen, passim, Zitate 17, 18, 19 und 20. 21 Pandel weist zu Recht darauf hin, dass die Herkunft des Gedanken aus der alten Hierarchie der Fakultäten stammt, in der die philosophische Fakultät den Studenten der drei übrigen Fakultäten die notwendige allgemeine Grundbildung zu vermitteln gehabt habe; doch beschränkte sich der Anspruch der Historiker dieser Zeit nicht mehr darauf, Lehrer der gesamten akademischen Jugend zu sein; wie gezeigt richtete sich der Anspruch auf das gesamte gebildete Bürgertum – und damit wohl (ungeachtet seines faktisch sozialelitären Charakters) auf die Nation als Ganzes. Vgl. Mimesis; ders., Historik und Didaktik; sowie ders., Wer ist ein Historiker? 22 Nipperdey, Geschichte I, 481.

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kirche einen ersten Höhepunkt erlebt; allerdings bedeutete das Scheitern der Revolution und die nachfolgende Lähmung der Reaktionszeit einen Einschnitt. Es sollte bis in die zweite Hälfte der 1850er Jahre dauern, dass sich diese Historikergeneration wieder verstärkt öffentlich staats- und identitätspolitisch betätigte, dann allerdings mit Nachdruck.23 Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Protagonisten der Wissenschaft des Judentums. Zwar war die Mehrheit ihrer Protagonisten deutlich älter als die liberalen Historiker, und auch war keiner von ihnen Mitglied der Paulskirche geworden, wie dies etwa für Dahlmann, Gervinus oder Droysen galt; dennoch registrierten auch Männer wie Zunz, Jost oder Steinschneider die politischen Ereignisse sehr aufmerksam und hatten sich mitunter wohl sogar an den Barrikadenkämpfen beteiligt.24 Umso verheerender musste es wirken, dass die Emanzipationsgesetze, die während der revolutionären Tage von den meisten deutschen Staaten eingeführt worden waren, in der Reaktionszeit Schritt für Schritt wieder rückgängig gemacht wurden.25 Die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Ausgangslage war also für die Gründerväter der Wissenschaft des Judentums durchaus vergleichbar mit dem sich allmählich von Ranke emanzipierenden Historismus, ungeachtet aller Unterschiede in puncto universitärer Etabliertheit und mehr noch in Bezug auf die jeweiligen konkreten Ziele. Legt man jedoch die Ausgangslage (die politische Machtlosigkeit) sowie die Aspiration (Deutungshoheit der Vergangenheit mit Wirkungsmacht auf die Gegenwart) zugrunde, ergeben sich starke Übereinstimmungen. Diese Tendenz verstärkte sich, je später die Autoren geboren worden waren, und bei den folgenden Generationskohorten deckten sich die entsprechenden Anschauungen mehr und mehr mit denjenigen ihrer christlichen Altersgenossen. Selbst ein eher konsensorientierter Geist wie Zacharias Frankel mochte nicht gänzlich auf eine solche handlungsleitende Wirksamkeit verzichten und entschloss sich – auch auf das Drängen von Freunden und Kollegen hin – neuerlich ein Zeitschriftenprojekt auf die Beine zu stellen, das durchaus einer näheren Vergleichung mit Projekten wie der Historischen Zeitschrift oder der Preußischen Jahrbücher wert wäre: Im Oktober 1851 erschien noch in Dresden das erste Heft dieser neuen Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums (MGWJ).26 23 Die herausragende Bedeutung der Erfahrung von 1848/49 für die kleindeutsch-borussische Generation von deutschen Historikern unterstreichen nachdrücklich Jäger/Rüsen, Geschichte, 87; skeptischer ist demgegenüber Iggers, Geschichtswissenschaft, 120–151. 24 Vgl. Brenner, Zwischen Revolution, 296 f. 25 Vgl. Toury, Soziale und politische Geschichte, 299–313 sowie Tabelle M, 384–388. 26 Seine Haltung bezüglich des Emanzipationsprojektes äußerte Frankel im ersten Heft: Einleitendes, 2; hierzu vgl. auch Brämer, Frankel, 284. – Wenngleich die MGWJ zunächst nur für das konservative Judentum positiv-historischer Richtung stand und bald zum Hausorgan des Breslauer Seminars avancierte, so wurde sie mehr und mehr zu dem zentralen Organ der Wissenschaft des Judentums insgesamt. Sie wurde nach Frankels Rücktritt vom Herausgeberposten

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Frankel selbst sah sein neues Projekt nicht im akademischen Elfenbeinturm: „Jede Periodische Schrift“, so stellte er einleitend im ersten Heft der Monatsschrift programmatisch fest, „muß ihre Berechtigung in sich tragen, muß basiren in dem Bedürfnisse der Zeit in welcher sie entstehet.“ Und auch am Sinn dieser Berechtigung konnte keinerlei Zweifel bestehen: „dem Judenthume neue Theilnahme zu erwecken“, deklarierte Frankel als die ihn antreibende Intention.27 Sein Protégé Graetz war ungeachtet aller Differenzen für dieses Ziel wie geschaffen. Seit dem ersten Jahrgang schon war Graetz ein regelmäßiger Beiträger der Monatsschrift, er sollte sie maßgeblich mitgestalten und ab 1869 sogar als Nachfolger Frankels herausgeben. In den das erste Heft einleitenden Ausführungen gab Frankel als Herausgeber eine Vorstellung von der spezifischen Ausrichtung seiner Zeitschrift, wobei er auch auf die Titelwahl einging; zugleich gab er damit Einblick in sein Geschichtsbild, das mit Blick auf seinen Mitarbeiter Graetz von einigem Interesse ist. Einen auf die Emanzipationsgesetzgebung zielenden, politischen Teil, wie er in seiner Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums noch stark präsent gewesen war, hielt Frankel nun nicht mehr für notwendig: Er sah die „Sonderstellung des Juden […] in Deutschland […] beseitigt“ – „Es liegt daher für ein dem Judenthume gewidmetes Journal weder Bedürfniß noch Berechtigung vor, das Politische in sein Gebiet zu ziehen.“28 Hingegen fokussierte sich sein Interesse auf den religiösen Bereich, auf dem Frankel Handlungsbedarf erblickte. Hier setzte die Monatsschrift auf zwei scheinbar verschiedenen Gebieten an, wie bereits der Titel implizierte: „Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, sie scheinen die wirksamsten Hebel, um die abgespannten Gemüther wieder in Bewegung zu setzen und für das Höhere erneuete Theilnahme zu wecken.“29 Diese bemerkenswerte Unterscheidung war wohl im Wesentlichen Frankels Vorstellungen von Geschichtsschreibung geschuldet, welche nicht frei von antiquarivon Graetz weitergeführt. Nach einer kurzer Unterbrechung 1887–1892 existierte sie bis zu ihrem erzwungenen Ende 1939 ununterbrochen und hochangesehen. Vgl. Brämer, Frankel, 275–296; Suchy, Zeitschriften, 189–192; sowie Wilhelm, Monatsschrift. – Zum Stichwort der Verwissenschaftlichung und Popularisierung sei am Rande angemerkt, dass sich die Wissenschaft des Judentums (wie auch die gleichfalls eher marginalisierte Orientalistik) einige Jahre früher als die Geschichtswissenschaft ein publizistisches Forum in Form einer Zeitschrift geschaffen hat (während die HZ 1859 gegründet wurde, erschien die MGWJ erstmals 1851/52, die gleichfalls in diesem Kontext zu sehende Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft sogar schon 1846); da beide Disziplinen durchaus zum weiteren Kreis der historischen zu rechnen sind und den Anspruch allgemeiner Repräsentativität erheben konnten, zeigt sich an dieser Stelle einmal mehr, wie selbst-beschränkend eine Wissenschaftsgeschichte sein muss, die sich lediglich auf den Mainstream konzentriert. 27 Beide Zitate Frankel, Einleitendes, 2 und 6. 28 Ebd., 2. – Vgl. hierzu Brämer, Frankel, 276 29 Frankel, Einleitendes, 3.

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schen und kontemplativen Zügen waren.30 Dies hing zweifellos mit seinem eigenen Bild von Geschichte allgemein,31 besonders aber von jüdischer Geschichte zusammen – jüdische Geschichte wisse im Wesentlichen „von rüstiger, geistiger Thätigkeit zu erzählen, von Schöpfungen des Tief- und Scharfsinnes“. Dies sei für den Dresdner Oberrabbiner „die eigentliche Geschichte des Judenthumes, seine Literaturgeschichte“. Sie falle wiederum „mit der Religion zusammen, denn auf religiösem Gebiete wurde zumeist gedacht und geforscht“.32 Diesen nahezu ausschließlichen Religionsbezug habe das Judentum erst in der Gegenwart verloren. Erst mit dem allmählichen Zurückweichen der Religion während des 19. Jahrhunderts sei „das Judenthum in das Stadium der Geschichte getreten, und die Forschung sucht nun eine Geschichte für jene frühere Zeit auf. Sie findet sie in den Leiden und herben Entbehrungen.“33 In jenen vergangenen Jahrhunderten nämlich sei die jüdische Rolle in der Geschichte von weitestgehender Passivität geprägt gewesen: Die Begebenheiten der Juden sind von ihrer Hand selten, und nur hier und da auf einzelnen Blättern verzeichnet: gegen außen hatte der Jude keine Geschichte, die Weltereignisse konnten ihn nur schmerzlich ergreifen, er griff nicht in sie ein. Aber auch gegen innen gab es nicht für ihn eigentlich Geschichte, nicht Wechselndes und Vorübergehendes, das der Vergangenheit anheimfalle; sein inneres Leben war Religion.34

Erträglich seien diese Erfahrungen nur durch die Erkenntnis des göttlichen Planes, wie er in dem schlichten Erhalt des Judentums durch alle Zeiten hindurch sich offenbare: „In dieser Erhaltung der Juden waltet die Gottheit, in diesem Selbsterhalten der Juden waltet ein Inneres, Göttliches.“35

30 Die Monatsschrift wolle in ihren historischen Teilen „manchen Abschnitt aus der Vergangenheit bringen, und die Macht des Glaubenswillen und der Glaubenskraft zu vergegenwärtigen suchen. Sie wird aber auch zugleich bestrebt sein den eigentlichen Forderungen an eine Geschichtsschreibung zu entsprechen, und in ihren Mittheilungen dem Historiker Material, das noch weit über das Gebiet des Judenthums hinausgeht, dem gebildeten Leser jene innere Befriedigung, die überhaupt große Vorgänge erwecken, zu bieten.“ Frankel, Einleitendes, 4. – Zur Unterscheidung von Geschichte und Wissenschaft vgl. auch Brämer, Frankel, 276–279. 31 „Geschichte in ihrer letzten Deutung ist die Vereinigung der auseinander liegenden wechselnden und vorübergehenden Erscheinungen auf einem Brennpunkt, von dem aus der Strahl der Gottheit auf die Begebenheiten fällt und in ihnen der über Jahrhunderte hinaus waltende Plan offenbar wird.“ Frankel, Einleitendes, 3. 32 Alle Zitate ebd., 5. 33 Ebd., 4. 34 Ebd., 3. 35 Beide Zitate Ebd., 4. – Einen eigentümlichen Nachklang scheint Frankels Unterscheidung von Religion und Historie in Yerushalmis These von dem Unterschied von religiöser Erinnerung und Geschichtsschreibung zu haben; beide sehen den Bruch mit den Folgewirkungen der Haskalah eintreten. Vgl. Zachor, 87–101.

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Auch der andere Schwerpunkt der Monatsschrift, die Wissenschaft des Judentums, war in Frankels Konzeption immer noch von solchen im Grunde genommen antiquarisch-kontemplativen Zügen geprägt, wenn er schreibt, dass die Zeitschrift zur „Hebung der Wissenschaft des Judenthumes“ beitragen solle, indem sie „Materialien“ bringe „zum Anbaue dieses großen Gebietes“.36 Die geringe Reichweite der Monatsschrift zumindest in ihren Anfangsjahren lässt sie gleichfalls zunächst eher als Teil der zahlreichen, kurzlebigen jüdischen Zeitschriften des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts erscheinen.37 Wenn sie dennoch zu der erfolgreichsten und am längsten lebenden wissenschaftlichen Zeitschrift des deutschsprachigen Judentums wurde, so hing das möglicherweise mit ihrer erfolgreichen Strategie zusammen, (historische) Wissenschaft und Politik so geschickt zu verschmelzen, dass keine der beiden Seiten eindeutig die Oberhand gewann – und dies in einer Form, die durchaus Breitenwirksamkeit für sich in Anspruch nehmen konnte. Die Popularisierung einer bestimmten Vorstellung vom Wesen des Judentums, ohne dieses allzu deutlich in religiöser Hinsicht inhaltlich zu definieren, scheint in der Rückschau der entscheidende Faktor gewesen zu sein.38 In Frankels programmatischer Einleitung las sich das freilich noch sehr apologetisch. Die Zeitschrift sollte als Forum dienen, indem sie dem Nachwuchs Gelegenheit gab, seine Arbeiten zur Diskussion zu stellen – Frankel sah seine Zeitschrift als einen „Sprechsaal, wo ein eigentlicher Gedankenaustausch stattfindet“.39 Derlei gelehrte Debatte an sich wäre wohl kaum geeignet gewesen, ein breiteres Publikum anzusprechen. Solcher zumindest intendierte Mut zur Kontroverse erscheint zunächst kaum als popularisierender Ansatz, dieser setzte ja vielmehr vermeintlich ewige Wahrheiten voraus, die eine absolute Gültigkeit und damit auch ihre Relevanz für jeden Leser reklamieren konnten.40 Erst auf einen zweiten Ebene spielt der Popularisierungs-Aspekt eine Rolle, wobei nicht einmal mehr eine eingehende inhaltliche Wahrnehmung der Streitfragen vonnöten war: Denn das zu popularisierende Wissen bestand nicht in den Inhalten der einzelnen Aufsätze, sondern in dem Wissen darum, „daß Judenthum und Wissenschaftlichkeit sich nicht einander feindlich gegenüberstehen und jenes diese nicht zu

36 Alle drei Zitate Frankel, Einleitendes, 5. 37 Nach einer Polemik in der AZJ habe die Monatsschrift in ihren Anfangsjahren lediglich 200 Abonnenten gehabt. Vgl. AZJ 18 (1854), 479, sowie Brämer, Frankel, 287. 38 Es ist bezeichnend für den Erfolg dieser Strategie, dass Graetz 1869 im ersten Jahrgang nach seiner Übernahme der Redaktion zwar einen einschneidenden Richtungswandel hin zu einer deutlichen Politisierung unternahm, dies aber sehr bald zu Gunsten des traditionellen MGWJ-Kurses aufgeben musste. 39 Frankel, Einleitendes, 6. 40 Vgl. Kretschmann, Einleitung, 16; Pyka, Religion, passim; Stegmüller, Popularisierungsstrategien, 203.

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scheuen brauche“.41 Frankel wollte nicht bloß die Vereinbarkeit von Judentum und Wissenschaft betonen, sondern suchte gerade durch den Nachweis des beständigen „Streben[s] und Ringen[s] nach Wissen […] den Werth des Judenthums“ nachzuweisen.42 Damit zielte Frankel auf die Popularisierung einer tatsächlich apologetisch zu nennenden Position – die Verteidigung der angefeindeten jüdischen Religion mittels des Erweises ihrer Kompatibilität, ja sogar der Wesensgleichheit des Judentums mit zwei der zentralen Werte der Zeit: Wissenschaft und Bildung.43 Bemerkenswert erscheint hier, dass nach Frankel weniger der vermeintlich populäre, auf Erbauung zielende Geschichtsteil als vielmehr der der Wissenschaft gewidmete Teil dazu ausersehen war, ein spezifisches, identitätsorientiertes Wissen zu popularisieren.44 Wenngleich der Wortführer eines positiv-historischen Judentums die große Bedeutung von Geschichte im öffentlichen Diskurs erkannte, so erschien ihm diese Geschichte jedoch als etwas dem Wesen des Judentum Fremdes, etwas das eher eine erbauliche Zutat für gebildete Schichten darbot als Einblicke in das Innerste jüdischer Identität zu ermöglichen. Graetz hingegen mochte sich mit dieser Linie nicht recht anfreunden. Gewiss, sein geistiger Horizont war durch die Prämissen des Aufklärungs-Diskurses grundiert und durch den geschichtsphilosophischen Schwerpunkt seines Studiums in Breslau in einer Art und Weise geprägt, die ihn Frankel nahestehen ließ; und vermutlich lag die Grundlage ihrer engen Zusammenarbeit in der gemeinsamen, festen Überzeugung einer unwandelbaren Essenz jüdischen Wesens. Zugleich waren beide Männer Kinder ihrer 41 Frankel, Einleitendes, 5. 42 Ebd., 5. – Insofern greift Brämer zu kurz, wenn er zu einem Aufsatz Frankels über die Pirke Avôt schreibt, dass dieser „zu einer Zeit religiös-kultureller Verunsicherung kaum einen konstruktiven Wert“ habe; vgl. Brämer, Frankel, 277. 43 Vgl. auch Frankel, Einleitendes, 5: „das Judenthum hat es von jeher ausgesprochen, daß es seinen wesentlichsten Anhaltspunkt in der religiösen Forschung, in der auf religiösem Gebiet sich entfaltenden Geistesthätigkeit finde. Wissenschaft des Judenthums ist sein mächtiger Hebel, ohne sie kein Judenthum: es verfällt, so die Liebe zu seiner Wissenschaft sich verliert.“ – Wenngleich Frankel nicht explizit über sein Verständnis von Wissenschaft reflektiert zu haben scheint, so wird die hier formulierte These durch ein Schreiben vom 26.12.1851 an Steinschneider gestützt, in dem Frankel einen Steinschneider-Aufsatz nur in bearbeiteter Form akzeptieren will; denn der wie immer höchst gelehrte Aufsatz war dem Herausgeber zu gelehrt und fußnotengesättigt, um als Geschichte zu gelten, aber auch „als Wissenschaftliches will der Aufsatz sich nicht geltend machen“; zit. nach Brämer, Frankel, 279. 44 Durch die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in diesem Sinne wird auch Yerushalmis polemische und grob simplifizierende Behauptung obsolet, „die heutige jüdische Vorstellung von der Vergangenheit [sei] weniger von der modernen jüdischen Geschichtsschreibung geprägt als von Literatur und Ideologie“; damit geht der New Yorker Historiker von einer willkürlichen Trennung von tatsächlich in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts vielfach verwobenen Genres aus; vgl. Yerushalmi, Zachor, 100–108, Zitat 103 (schon Amos Funkenstein hatte hiergegen berechtigte Vorbehalte angemeldet; vgl. Funkenstein, Reform und Geschichte, 320, Anm. 61).

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Zeit genug, um ihr Verständnis vom Judentum als unbedingt kompatibel mit Kategorien von Wissenschaftlichkeit und Bildung anzusehen. In ihren Anschauungen gab es dennoch deutliche Unterschiede, die immer wieder für Konflikte sorgten und regelmäßig zum Vorschein kamen. Die divergierenden Ansichten, wie sie in Bezug auf Graetzens Constructionsschrift und die ersten Bände der Geschichte der Juden deutlich geworden sind, sollten sich auch in der Folge durchsetzen. Denn letztlich identifizierte sich der um gut eine Generation jüngere Graetz weit mehr mit der vorherrschenden Geschichtskultur seiner Zeit als Frankel. Entsprechend konnte er zwar davon ausgehen, dass es eine feste, unwandelbare Idee des Judentums gebe, doch sah er gleichzeitig in der Geschichte den „Reflex“ dieser Idee, wie er es in der Construction bereits zum Ausdruck gebracht hatte. Mehr und mehr rückte für Graetz daher die Erforschung der Geschichte in den Mittelpunkt seiner Arbeit über das Judentum, die er gleichzeitig (und gleichrangig!) als Arbeit für das Judentum erachtete.45 Diese Ineinssetzung historiographischer Forschung mit handlungsleitender Wirkungsabsicht ließ Konzepte der Popularisierung von Wissen für die Abfassung seines Werkes eine große Rolle spielen – und rückt ihn eng an die Werke jener Generationskohorte der historistischen Geschichtsschreibung nach Ranke heran, zu der er auch seinem Alter nach gehört.46 Deren wichtigste Leitlinie lag in der Popularisierung von Geschichtswissen in identitätsstiftender Absicht. Ohne in die Filiationsketten und Netzwerke der institutionalisierten deutschen Geschichtswissenschaft einreihbar zu sein,47 erweist sich somit das Graetzsche Œuvre in Form und Intention als Teil eben dieser historistischen Geschichtsschreibung seiner Zeit. Seit Mitte der 1850er Jahre war Graetz nicht allein durch sein Schreiben dazu prädestiniert, zu jener bedeutenden Gruppe liberaler Historiker in Deutschland gezählt zu werden. Mit Frankels tatkräftiger Unterstützung gelang ihm tatsächlich, was er schon früher teils gehofft, teils gefürchtet hatte, der „unvermittelte Sprung vom blöden eckigen Bochur zum beredten Wortführer“, zum „Volkslehrer“48 gar – denn mit dem allmählichen Erfolg seiner 45 In den Arbeiten zur Wissenschaft des Judentums hat sich als eine Art Gretchenfrage das Verhältnis von Religion und Wissenschaft herauskristallisiert, wobei gemeinhin Geiger unterstellt wird, er stelle die Wissenschaft über die Religion, während das Verhältnis bei Frankel genau umgekehrt sei. Vgl. etwa Meyer, Jewish Religious Reform. So schematisch (und m. E. auch methodisch heikel) diese Unterscheidung auch ist, wäre Graetz wohl am treffendsten charakterisiert, wenn man beide Elemente als in seinen Augen gleichrangig ansieht. 46 Graetz war wie Mommsen und Sybel 1817 geboren worden, Ludwig Häusser 1818, die Mediävisten Waitz und Giesebrecht 1813 und 1814. Insbesondere Mommsens Leben weist eine ganze Reihe von bemerkenswerten Parallelen in Bezug auf Herkunft, Ausbildungsgang und wissenschaftliche Arbeit zu Graetz auf, die vergleichend in Beziehung zu setzen eine reizvolle und erhellende Arbeit wäre. 47 Für deren Bedeutung immer noch grundlegend Weber, Priester der Clio. 48 Tagebucheintrag [19.1.1845]; Graetz, TB, 139.

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Geschichte der Juden und mit seinem Engagement an das neu errichtete Jüdisch-theologische Seminar in Breslau sollte Graetz zum ersten jüdischen Historiker des Judentums auf einem Lehrstuhl werden. Dies war zwar keine vollgültige Anerkennung der Wissenschaft des Judentums als universitäre Disziplin, aber des ungeachtet ein Meilenstein in der jüdischen Geschichtsschreibung.

3.2 Am Breslauer Seminar Graetzens „Lebensfreiheit“ erfuhr Mitte der 1850er Jahre in mannigfaltiger Hinsicht Veränderungen, die von einem freiheitsliebenden Geist wie dem seinen in der Tat zunächst als einschneidende Begrenzungen wahrgenommen werden konnten: eine Familie, die Dozentur am Jüdisch-theologischen Seminar, die wissenschaftliche Etablierung. Das war der Preis, den er zu entrichten hatte, doch gewann er dafür eine Sicherheit und einen Status, wie er ihn nie zuvor gekannt hatte. An dessen Annehmlichkeiten sollte sich der von Eitelkeiten nicht freie Graetz durchaus rasch gewöhnen. Sein Ehrgeiz fand jedenfalls in der neuen Situation volle Befriedigung. Ohne dass er zuvor genauere Vorstellungen davon hätte haben können, wie diese Position aussehen sollte, war Graetz nun dort angelangt, wohin er stets gestrebt hatte: Er war endlich in der Lage, nicht allein zu Gunsten seines „Herzensjudenthums“ zu wirken – er sass an zentraler Stelle, um sein Bild vom Wesen des Judentums zu popularisieren und damit das Bild des Judentums ebenso nachhaltig zu prägen wie die Debatte um die jüdische Identität. Graetz war viel zu stark durch die heftigen Auseinandersetzungen um das „wahre“ Judentum sozialisiert worden, als dass er die Bedeutung von Öffentlichkeit hätte gering schätzen können. Und wenngleich seine mangelnden rhetorischen Fähigkeiten eine weiterreichende Wirksamkeit als Vortragender oder als Prediger vereitelten, so verhinderte sein Temperament zugleich, dass der Forscher Graetz ein bloßer Studiengelehrter geblieben wäre. Ähnlich wie Abraham Geiger hatte Graetz stets das Bedürfnis, seine Position wie auch seine Forschungsergebnisse anderen mitzuteilen. Seine zunehmend reger werdende Publikationstätigkeit ermöglichte es ihm, auch direkt auf eine breitere Öffentlichkeit in seinem Sinne Einfluss zu nehmen. Die herausragende Stellung als Medium für die Popularisierung seiner Sicht jüdischer Identität kam dabei der stetig wachsenden und sich erfolgreich etablierenden Geschichte der Juden zu, auf die später noch ausführlich eingegangen werden soll. Parallel hierzu und ungleich direkter war seine Wirksamkeit als akademischer Lehrer. Denn noch während die Drucklegung seines Bandes über die Geschichte der Juden bis zum Abschluß des Talmud erfolgte, hatte sich ihm mit der Gründung des Jüdisch-theologischen Semi-

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nars Fraenckel’scher Stiftung 1854 in Breslau endlich die Möglichkeit eröffnet, in eine dauerhaft gesicherte Stellung zu gelangen. Graetz konnte hier von nun an im intimen Kreise einer jeweils überschaubaren Gruppe von vertrauten Studenten wirken, die später dann als Rabbiner gleichsam als Multiplikatoren dienten. Der am 27. Januar 1846 verstorbene Breslauer Kaufmann und Kommerzienrat Jonas Fraenckel hatte sein beträchtliches Vermögen von weit über einer Million Talern vollständig zu wohltätigen Zwecken vermacht, darunter 100.000 Taler für die Errichtung eines Seminars zur Ausbildung von Rabbinern. Da der Stifter keine genaueren Bestimmungen über Art, Aufbau und Ausrichtung der ins Leben zu rufenden Einrichtung hinterlassen hatte, gestalteten sich die Beratungen seitens der Testamentsverwalter ausgesprochen langwierig und bisweilen durchaus heikel.49 Dabei ergab sich, dass Abraham Geiger, der Mann, auf dessen Ideen diese Stiftung wahrscheinlich ursprünglich zurückging, als ideologisch zu sehr festgelegt von vornherein ausschied. Statt seiner wurde für die Leitung ein in den innerjüdischen Debatten weniger eindeutig festgelegter Mann gesucht, der überdies sowohl eine moderne wissenschaftliche als auch eine traditionale Rabbinerausbildung absolviert haben sollte und insofern weitaus eher für weiteste jüdische Kreise konsensfähig zu sein versprach. Denn das Ziel der Kuratoren der Fraenckel’schen Stiftung war von vornherein hoch gesteckt: „Aut Caesar aut nihil“, hatte das Kuratoriumsmitglied Immanuel Levy (1820–1864) dem beratend hinzugezogenen Industriellen und Publizisten Josef Lehmann (1801–1873) als Losung mit auf den Weg gegeben.50 Den idealen Kandidaten meinte man schließlich in Zacharias Frankel gefunden zu haben, zumal nachdem dieser im Januar 1853 im ersten Jahrgang der Monatsschrift seinerseits die Forderung nach „Schöpfung eines Seminars!“ erhoben und näher begründet hatte.51 In den Verhandlungen über die konkrete Ausgestaltung des Seminars verlangte der Dresdner Oberrabbiner, dass die Anstalt nur „von Einem leitenden Gedanken, von Einem Geiste durchdrungen und belebt sein [muss]: soll ein organisches Ganzes entstehen, so darf auch nur Ein organisirender Gedanke walten.“52 Wenngleich diese strikt gegen alle pluralisierenden Tendenzen (und namentlich gegen Geiger) gerichtete Forderungen zunächst ohne Bestätigung blieben, bedeuteten sie langfristig doch einen ungeheuren Einflussgewinn Frankels und sorgten dafür, dass das Breslauer Seminar 49 Die Gründungsgeschichte des Jüdisch-theologischen Seminars ist in der Zwischenzeit recht gut erforscht, so dass es hier bei einem Verweis auf die entsprechende Literatur bleiben kann; vgl. Brämer, Frankel, 318–341; Brann, Geschichte, 6–60; Wilke, „Talmud“, 669– 681. 50 Zit. nach Brann, Geschichte, 23. 51 Frankel, Jahresschau [1853], 10. 52 Schreiben Frankels an Lehmann vom 24.2.1853; zit. nach Brann, Geschichte, 49.

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seinem „positiv-historischen“ Judentum eine führende Stellung weit über Preußen und Deutschland hinaus sichern sollte. In demselben Geiste hatte Frankel auch einen – ursprünglich rein informellen – detaillierten Organisationsplan für das Seminar entworfen. Dieser zielte auf eine scheinbare Quadratur des Kreises, nämlich die Synthese von wissenschaftlichem Studium im Humboldtschen Geiste und profunder jüdischer Ausbildung in Quellen und Methoden ab. Die „Befähigung zum wissenschaftlichen Rabbiner“ sollte am Ende des auf sieben Jahre hin angelegten Curriculums stehen. Dieser ursprünglich nur informelle Entwurf setzte sich durch und wurde „die Grundanweisung für das gesamte moderne Studium der jüdischen Theologie“, wie der Seminarabsolvent und spätere Nachfolger Frankels, Markus Brann, in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen des Seminars schreiben konnte.53 Zuvor bereits hatte Frankel einen Wunschkandidaten für den Lehrkörper durchgesetzt, seinen frühen Anhänger Graetz;54 daneben konnte mit dem Bonner Privatdozenten Jacob Bernays (1824–1881) ein herausragender Fachmann der klassischen Philologie gewonnen werden.55 Am 10. August 1854 war es dann endlich soweit, in einem kleinen Festakt mit den ersten Seminaristen wurde die Gründung dieser Institution im Seminargebäude in der Breslauer Wallstraße begangen. Die historische Bedeutsamkeit und Feierlichkeit des Augenblicks vermochte nur schwer die in den langwierigen Verhandlungen aufgestauten Missstimmungen überdecken. Graetzens Beschreibung lassen in schonungsloser Offenheit keinen Zweifel daran: Der Schimmer eines Zukunftswerkes beleuchtete diese Scene keineswegs, jeder war mit seinen Hintergedanken beschäftigt. [Das Kuratoriumsmitglied Immanuel] L[evy] schrie seine Anrede an Direktor, Lehrpersonal und Seminaristen polternd heraus, sie war aber ein Meisterstück gegen den Quatsch Fr[ankels], der zwischen Rationalismus und Orthodoxie schwankend, weder Wärme noch Überzeugung hat. Am 53 Brann, Geschichte, 52. – Frankels Organisationsplan ist als erste Beilage abgedruckt ebd., I–XII, Zitat („Befähigung“) V. 54 Vgl. Brann, Geschichte, 42. In diesem Zusammenhang stellt Wilke wohl zu Recht fest, dass es sich hierbei um einen „Akt des politischen Klientelismus“ gehandelt habe, z.T. aus Dankbarkeit für Graetzens früheres Wirken zu Gunsten Frankels; „Talmud“, 675. Für Graetz wiederum bedeutete eine Anstellung in Breslau endlich die ungeachtet seines Freiheitsstrebens ersehnte Existenzsicherung, so dass er ein großes Interesse am Zustandekommen des Seminars unter Frankels Leitung hatte. Vermutlich ist seine Tagebuchbemerkung, er habe Frankel zur Übernahme des Direktorats bestimmt, in diesem Sinne als ein Drängen gegen die verschiedentlichen Zweifel seines Protektors zu verstehen; Tagebuch, 205; zu Frankels Zögern vgl. v. a. Wilke, „Talmud“, 674 mit Anm. 148. 55 Bernays war Sohn von Hirschs Lehrer, des Hamburger Chacham Bernays. Zwar befürwortete er das Seminar, doch hat Brämer wahrscheinlich mit seiner Mutmaßung recht, dass er wohl kaum nach Breslau gegangen wäre, wenn er als Jude irgendeine Aussicht gehabt hätte, in Bonn eine Professur zu erhalten; vgl. Frankel, 335. – Zu Bernays vgl. Bach, Bernays; Brann, Geschichte, 53–58; Fraenkel (Hg.), Bernays; Glucker (Hg.), Bernays; Bollack, Bernays.

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Nachmittag ein Mahl. Sonnabend die erste Fütterung für die ausgehungerten Zöglinge.56

Graetz selbst beklagte sich bereits zu diesem Zeitpunkt über die „unverhehlte Bevorzugung B[ernays]“57 und fühlte sich auch in der Folgezeit hinter den Privatdozenten zurückgesetzt. Wenngleich seine Missstimmungen wenigstens teilweise wohl familiären Sorgen geschuldet waren,58 so stellten sich rasch altbekannte Konstellationen ein: Graetz tat sich schwer damit, eine übergeordnete Autorität, gar Superiorität anzuerkennen. Dies wog umso schwerer, als die von Frankel entworfenen Seminarsatzungen dem Direktor eine große Machtfülle einräumte, der gegenüber dem Kuratorium wie gegenüber dem Lehrkörper das letzte Wort hatte.59 Das äußerte sich beispielsweise darin, dass Frankel als Direktor nach eigenem Gutdünken eine Probezeit verlangen konnte; bei dem erfahrenen preußischen Privatdozenten Bernays verzichtete Frankel zwar auf eine solche Probezeit, bei Graetz jedoch verlangte er ein ganzes Probejahr. Angesichts von Graetzens unkonventionellen Ausbildungsweg mag Frankels Ansinnen nachvollziehbar gewesen sein, sorgte aber für eine heftige Erbitterung bei seinem einstigen Anhänger, der immerhin der ältere der beiden Hauptdozenten war.60 Die von Graetz so verabscheute Ab56 Tagebucheintrag vom [20.8.1854]; Graetz, TB, 212. Ähnlich auch die Erinnerungen von Moritz Güdemann, Das Jüdisch-Theologische Seminar, Sp. 298. – Auszüge aus den Ansprachen Levys und Frankels finden sich bei Brann, Geschichte, 61 ff. 57 Der Rest der Seite und damit des Textes ist abgerissen! Tagebucheintrag vom [20.8.1854]; Graetz, TB, 212. 58 Am 19.12.1854 gebar Marie einen Sohn, der den Namen von Graetzens Bruder Abraham Albert trug; doch starb dieses zweite Kind wenige Tage nach der Geburt, und auch die Mutter schwebte kurzzeitig in Gefahr. Vgl. Graetz, TB, 212 f. – Darüber hinaus hörten die Geldsorgen nicht so bald auf, sein Salär von 600 Talern jährlich bei freiem Logis reichten kaum aus; dies empfand Graetz umso schwerer, als Bernays 100 Taler mehr verdient haben soll, obwohl der – so schreibt zumindest Graetz im Tagebuch – ein geringeres Lehrdeputat zu tragen habe. Vgl. ebd., 207 und v. a. 213. Ähnlich wie das Lehrdeputat orientierte sich auch die Bezahlung wohl eher am Lehrerstand: Zwar erhielt Bernays Breslau in etwa so viel wie ein Ordinarius in Jena oder Rostock (Sachsen und Mecklenburg galten als die am schlechtesten besoldenden Staaten im Deutschen Bund), doch kamen für diese Professoren noch die Kolleg- und Prüfungsgelder hinzu; da am Seminar solche Zahlungen nicht zu entrichten waren, entfielen sie auch als Einnahmequellen der Dozenten. Ein Ordinarius an der Universität Halle konnte (zwischen 1849 und 1870) mit diesen Einnahmen zusammen auf 2.250 Taler Jahresgehalt kommen. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 425. Zur Besoldung preußischer Oberlehrer, die lokal und sogar von Schule zu Schule differieren konnte, vgl. Lexis, Besoldungsverhältnisse, sowie Führ, Schulmann, 437–440. 59 Eine Zusammenfassung der Statuten gibt Brann, Geschichte, 65–74; für die Analyse vgl. Brämer, Frankel, 333 ff. 60 Vgl. Graetz, TB, 213, sowie Brämer, Frankel, 334. – Frankel legte stets großes Gewicht auf eine formale und staatliche Anerkennung und folglich auf das damit verbundene symbolische Kapital; vgl. Brämer, Frankel, 341 sowie 347. Insofern ergab sich daraus ein steter Konfliktherd zwischen ihm und Graetz, der durch seinen ganzen Lebensweg gerade hier verwundbar war und auf entsprechende Zumutungen empfindlich reagierte.

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hängigkeit (nun von Frankels Wohlwollen) führte ebenso wie Frankels mangelnde Sensibilität bald zu auch persönlich ausgetragenen Spannungen: Das Trübe rührt von F[rankel] u. seinem dämonischen Weibe her, die ein wahrer Plagegeist ist, wie ein lächerlicher Tyrann. Seitdem der Lump mir den Streich gespielt, mir die größte Bürde aufgelegt und mich um die Zulage gebracht, hörte das freundliche Verhältnis auf,

schrieb Graetz im September 1855.61 Gefördert wurden solche Missstimmungen zweifellos durch das Seminarprinzip, dass der Direktor ebenso wie die beiden Dozenten mit ihren Familien unter einem Dach wohnten, es also auch im privaten Bereich kaum möglich war, sich aus dem Wege zu gehen.62 Einmal mehr bekam dadurch das Verhältnis zur Ehefrau des Vorgesetzten eine wesentliche Rolle: sie war verstimmt gegen uns, daß wir ihr zu wenig huldigen und gar nichts schwatzen. Im Sommer brach es bei einer Veranlassung aus, sie beschimpfte Marichen, die ihr kurz aber derb erwiderte. Bei der Gelegenheit lernte ich F[rankels] ganz gemeine Natur kennen. Er verlangte geradezu, daß mein Marichen diesem Scheusal von Weibe Huldigung darbringe u. unterthänig sei, und als ich-wir nicht nachgaben, kündigte er mir die Wohnung. Überhaupt gerirte er sich als Herr im Hause und im Seminar, und ließ deutlich durchblicken, daß er Unterthänigkeit verlange. Der eitle Geck beruft sich immer auf sein Verdienst u. die Opfer, die er durch das Aufgeben seines lumpigen Rabbinats [in Dresden] gebracht, um alles nach seinen Kopf durchzusetzen. Die Sache wurde zwar beigelegt, aber der Stachel blieb zurück, der vielleicht nächstens eine Lanze gegen ihn gesteckt werden wird.63

So unangenehm sich das Verhältnis zwischen Dozent und Direktor gestaltete, in der Bedeutung, die beide Gelehrte der Lehre beimaßen, konnten sie sich einig wissen. Kern des Seminar-Curriculums war ein im Geist des Historismus konzipiertes Studium des Talmud, das sich für alle Seminarstudenten verbindlich war. Frankel veröffentlichte 1855 in der Monatsschrift seine Position zu dieser „Lebensfrage“ des Seminars. Es war die Nagelprobe für seine Vorstellungen von rabbinischer Ausbildung, inwieweit sich ein fun61 Tagebucheintrag vom 20. Sept. [1855]; Graetz, TB, 213–217, hier 213. 62 Frankel bewohnte als Direktor den ersten Stock des Seminargebäudes, wo sich auch sein Dienstzimmer befand; für die anfänglich zwei Seminardozenten dienten die beiden Wohnungen à vier Zimmer im dritten Stock des Bauwerkes in der Breslauer Wallstraße 1b, einem großzügigen viergeschossigen Bau an der Stadtgrabenpromenade im Südosten des Stadtgebietes Das Erdgeschoss war ganz der Lehre vorbehalten, das zweite Stockwerk für die Bibliothek und für einen großen Saal (aus dem 1856 die Seminarsynagoge wurde, die hundert Hörern Platz bot, darunter dreißig in der Frauenabteilung). Im Dachgeschoss befanden sich noch vier Räume, die später einigen Seminaristen zur Herberge dienten. Darüber hinaus verfügte das Seminar über einen großen Garten, der von Dozenten und Studenten außerordentlich geschätzt wurde. Vgl. Brann, Geschichte, 75 ff; Güdemann, [Erinnerungen], 371 f; Wilhelm, Seminar. 63 Tagebucheintrag vom 20. Sept. [1855]; Graetz, TB, 213–217, hier 213 f.

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diertes Talmudstudium mit modernen wissenschaftlichen Methoden verbinden ließ. Die im Wesentlichen auf ihn zurückgehende Breslauer Lösung bedeutete letztlich die Neuschöpfung einer rabbinischer Wissenschaft. Erreicht wurde dieses anspruchsvolle Ziel durch die Verbindung von „kursorischen“ Überblicken zur Traditionsliteratur mit „statarischen“ Übungen, die vertiefte Kenntnisse im Umgang mit diesen Texten vermitteln sollten.64 Dazu kamen für die Studenten in der Rabbiner-Abteilung des Seminars Lehrveranstaltungen in Bibel-Exegese, Hebräischer Grammatik, Jüdischer Geschichte, Homiletik, Pädagogik und Kalenderkunde, seit 1857 auch in Religionsphilosophie, sowie das obligatorische Studium an der Universität.65 Den hohen Ansprüchen an die Arbeitsleistung der Studenten entsprachen diejenigen an den Lehrkörper, wobei Graetz zu Recht über sein besonders hohes Deputat klagte. Während in den ersten Jahren Frankel elf Unterrichtsstunden in den zentralen Fächern Pentateuch, Mischnah und Talmud erteilte und Bernays in den klassischen Sprachen sowie Deutsch und allgemeine Geschichte dreizehn Stunden las, musste Graetz in den Fächern Bibelexegese, im Talmudstudium, in hebräischer Grammatik und in der jüdischen Geschichte insgesamt zwanzig Wochenstunden lehren.66 Dieses immense Pensum orientierte sich in Frankels Organisationsplan am Deputat allgemeiner Lehrerausbildungsanstalten.67 Doch ungeachtet dieser Belastung (und der anfänglich damit verbundenen Missstimmung) scheint Graetz dieser Aufgabe mit großer Freude nachgekommen zu sein.68 Einer der ersten Seminaristen, der spätere 64 Frankel, Jahresschau [1855], Zitate 13 und 15. Vgl. hierzu Brämer, Frankel, 346–355, sowie Wilke, „Talmud“, 675–681. 65 Gemäß der Studienordnung von 1873 sollten am Seminar regelmäßig 16 Semesterwochenstunden gehört werden, die sich in den Abschlußsemestern an der Universität auf 11 bis 13 reduzierten. Der Abschluß wurde ursprünglich durch die Absolvierung von Prüfungen erreicht, seit 1869 sollte jedoch jeder Hörer zusätzlich wenigstens eine größere wissenschaftliche Arbeit vorlegen. Vgl. Brämer, Frankel, 349 f, und Brann, Geschichte, 67 ff. 66 Um exemplarisch einen Jahresplan (1856) aufzuführen: „I. Abt. Exegese: Ezechiel, Zacharias, Hiob c. 1–10; I. Makk, Kap. 1–5 mündl. u. schriftl. aus dem Griech. ins Hebr. übers. – 2. Hebr. Gramm.: Wortlehre (Schluss). Partikeln. Syntax. Accentsystem. Terminologie der Massora. – 3. Geschichte: Vom Untergang des Zehnstämmereichs bis zur Makkabäerzeit. – 4. Topographie der Exilsländer (nach Niebuhr und Ritter). – Abt. II. 5. Exegese: Num. u. Deut. ohne Komm. Gen. 1–14 mit Onkelos, Raschi u. Ibn Esra. Die Bücher der Könige. Spr. Sal. 1–18. – 6. Hebr. Gramm.: Laut- u. Accentlehre. Schriftl. Uebungen. – 7. Talmud: Pessachim, letzter Abschn. Sanhedr. bis fol. 48. Schriftl. Uebungen.“ Die von Graetz im Seminar gehaltenen Veranstaltungen sind aufgelistet bei Brann, Geschichte, S. XIX–XXIV, der zitierte Ausschnitt XIX. – Hierzu vgl. Frankel, Seminar [1856], 20 f, sowie Brämer, Frankel, 348. 67 Vgl. Frankel, Organisationsplan, X. 68 Damit unterschied sich Graetz beispielsweise von Leopold (von) Ranke, der seinen Lehrverpflichtungen nur sehr widerwillig nachkam. Sprechend sind diesbezüglich auch die Erinnerungen Wilhelm Diltheys an Ranke: „Ich sehe ihn noch, die Augen nicht auf die Zuschauer, sondern auf die historische Welt gleichsam innerlich gerichtet. Es war nie die Spur von Rhetor in ihm, gar kein Verhältnis zu Zuhörern.“ Zit. nach Jäger/Rüsen, Geschichte, 83.

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Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann, beschrieb ihn in einem Artikel zum fünfzigjährigen Bestehen des Seminars 1904 als „jovial, zugänglich“ und in steten Kontakt mit den Studenten. „Eine rastlose, unermüdliche Tätigkeit, strenge Pflichterfüllung, warme Hingabe an seinen Lehrberuf und aufrichtige Teilnahme an dem Wohlergehen der Schüler zeichneten ihn aus und machten ihn zu einer der festesten Stützen des Seminars.“69 So heikel derlei Memoiren auch als Quelle sind, nach Auskunft der meisten Erinnerungen an das Seminar entsprach der Geist des Hauses in der Wallstraße wohl durchaus dem zeitgenössisch so vielbeschworenen Humboldtschen Ideal akademischer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden.70 Graetzens (wie auch Frankels) tätiges Engagement für seine Studenten beschränkte sich nicht auf den Unterricht allein, sondern äußerte sich in seinen Bemühungen, den Geeigneten unter ihnen nach ihrem Abschluss bei der Stellensuche nach Kräften behilflich zu sein, wie dies aus einer Reihe erhaltener, persönlicher Empfehlungsschreiben deutlich wird.71 Doch auch in seinem Unterricht war er ein fördernder Lehrer, wenn auch weniger durch seinen Vortrag, der „unsäglich trocken [war], denn Graetz besaß gar keine Beredsamkeit“. Vielmehr wirkte er als Förderer und Anreger: „die Hörer erkannten bald, dass sie bei Graetz an der Quelle saßen. An neuen Gesichtspunkten, Anregungen und Winken fehlte es nie, wer selbständig arbeiten wollte, kam bei Graetz auf seine Rechnung“, erinnerte sich Moritz Güdemann,72 ein Urteil, das die wenigen erhaltenen Erinnerungen bestätigen.73 Grundhaltung scheint dabei durchaus gewesen zu sein, die Studenten zu eigenem Denken anzuregen, ein Ehrgeiz, dessen Erfolg die beachtliche Zahl an promovierten Schülern, von Publikationen und nicht zuletzt die beantworteten (und zum Teil veröffentlichten) Preisaufgaben des Seminars wohl bestätigen.74 In Verbindung mit 69 Vgl. Güdemann, Seminar, [ND 300]. 70 Vgl. Güdemann, [Erinnerungen], 370; ders., Seminar. – Die einzige Ausnahme hiervon scheint Kohut zu sein; vgl. Erinnerungen. 71 Vgl. etwa Brief von Graetz an Loeb; Graetz, TB, Nr. 78, 295 f. Ein weiteres bislang unpubliziertes Zeugnis findet sich im Gesudarstevennyj archiv Odesskoj oblasti, Fond 16, Opis’ 107, delo 70, List 62 (ich danke Tobias Grill, München, für diesen Hinweis). – Vgl. auch Güdemann, Erinnerungen, 52. – Für Frankel vgl. Brämer, Frankel, 394 f. 72 Beide Zitate Güdemann, [Erinnerungen], 53. 73 Güdemann, Seminar, [ND 300]. – „Graetz war ein außerordentlich anregender, geistsprühender Lehrer, wenn auch sein Vortrag infolge seines schlechten Organs viel zu wünschen übrig ließ“, schrieb Cäsar Seligmann, der spätere Frankfurter Reformrabbiner und Historiker der Reformbewegung; Erinnerungen, 74. – Weitere Zeugnisse von Graetzens Ausstrahlung und Wirkung als Lehrer finden sich bei Rippner, Geburtstage, S. 28; Wilhelm, Seminar, 56. – Vgl. a. die Widmungsschrift des Münchner Rabbiners, Joseph Perles, in seiner Dissertation: „Meinem verehrten Lehrer und Freunde Herrn Dr. H. Graetz in Liebe und Treue“. Perles, ben Adereth, Vorsatzblatt. 74 Joseph Lehmann hatte bereits 1854 den ersten Betrag (1800 Mark) als Grundkapital für die Honorierung der vom Seminarkollegium gestellten Preisaufgaben ausgelobt. Die gestell-

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den jeweiligen Universitätsstudien sowie den hohen Standards, für die Frankels Seminarorganisation sorgte, führte diese Schulung zu einer gelungenen Synthese aus profunder, am Historismus orientierter Wissenschaftlichkeit und gediegener theologischer wie traditioneller jüdischer Ausbildung, die deutlich mehr war als bloß die Summe von Talmud und Hegel. Nicht zuletzt hieraus resultierte der immense Erfolg und damit auch Einfluss des positiv-historischen Judentums Breslauer Prägung, ungeachtet aller Kritik seitens der Reform und der Neo-Orthodoxie: Bereits die erste Rabbiner-Generation, die Anfang 1862 das Seminar als „Doktor-Rabbiner“ verließ, fand nicht nur rasch Anstellung, sondern sollte bald schon in wichtigen Gemeinden amtieren.75 Sehr schnell entwickelte Breslau eine beträchtliche Anziehungskraft gerade auch auf Studenten aus Österreich, Ungarn, Russland und anderen Ländern.76 Die Arbeit der Lehrenden wurde dadurch zweifellos nicht erleichtert, da die Bildungsvoraussetzungen der einzelnen Kandidaten kaum miteinander vergleichbar waren und nicht wenige den gymnasialen LernStoff nachholen mussten, bevor sie parallel zum allgemeinen Studium an der Universität in der Wallstraße jüdische Wissenschaft betreiben konnten. Desungeachtet gelang es dem Breslauer Seminar, im Laufe der Zeit eine eigenständige Schule zu formen, was umso stärker auffiel, nachdem es nach der Gründung von konkurrierenden Institutionen in den 1870er Jahren seine Monopolstellung verloren hatte. Die „konservative“ Identität seiner Absolventen wurde naturgegebenermaßen durch die Konkurrenz seitens reformorientierter bzw. orthodoxer Seminar-Abgänger eher noch bestärkt. Und auch das Seminar an sich übte eine nachhaltige Wirkung aus. Dies gilt nicht bloß für eigene, konservative Pflanzstätten wie etwa Budapest, sondern selbst für die konkurrierenden Einrichtungen in Berlin – Breslau war für sie die Folie, zu der die Neugründungen Position zu beziehen hatten, zustimmend oder ablehnend. Dementsprechend stellte das Breslauer Seminar nicht bloß ein bedeutsames Vorbild für die Popularisierung jüdischer Wissenschaft dar, sondern darüber hinaus auch für die Professionalisierung jüdischer Wissenschaftler, was umso bedeutsamer war, da alle Versuche scheiterten, eine Beschäftigung ten Aufgaben sind mit den Preisträgern (sofern vorhanden) aufgelistet bei Brann, Geschichte, XLI–XLV; zur beeindruckenden Zahl an wissenschaftlichen Leistungen, die aus den verschiedenen Bereichen des Seminars hervorgegangen sind, vgl. das Verzeichnis der Schüler (1854– 1904) mit einer Auswahl ihrer Publikationen ebd., 140–204. 75 Moritz Güdemann wurde zunächst Rabbiner in Magdeburg, 1867 dann Oberrabbiner von Wien; Joseph Perles (1835–1894) wurde zunächst Rabbiner der Brüdergemeine in Posen, 1871 dann Rabbiner in München; Moritz Rahmer schließlich (1838–1904) wurde direkt nach Thorn berufen, bevor er Rabbiner in Magdeburg wurde. – Vgl. Frankel, Seminar [1862], 57 f, und ders., Seminar [1863], 56, und Brämer, 389–395. 76 Hierzu und zum Folgenden vgl. Weczerka, Herkunft.

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mit der Materie außerhalb christlich-theologischer Fragestellungen an einer deutschen Universität zu etablieren.77 Den Absolventen blieb an Berufsmöglichkeiten lediglich der Lehrberuf an Schulen oder das Rabbinat. Graetz blieb auf lange Zeit der einzige fest angestellte „jüdische“ Historiker überhaupt. Dennoch stand er nicht allein auf weiter Flur, wobei sich die wachsende Gruppe jüdischer Wissenschaftler nach 1862 zunächst weitgehend aus seinen Schülern rekrutierte. Deren beachtlichen (und zum Teil noch heute beachteten) Ergebnisse sprechen sehr für die Leistungsfähigkeit jener Doktor-Rabbiner, Lehrer und anderweitig Tätigen, die neben ihrem hauptamtlichen Beruf wissenschaftliche Studien betrieben, unbekannte Quellen ausfindig machten und bearbeiteten, Artikel und Rezensionen verfassten, und in verschiedenartigster Weise dazu beitrugen, das Kollektiv der Wissenschaft des Judentums darzustellen und sich selbst als sich austauschende Fach-Öffentlichkeit zu konstituieren. Misst man den Grad der Professionalisierung einer wissenschaftlichen Richtung an dem Anteil der promovierten Teilnehmer, dann war die Wissenschaft des Judentums ungeachtet ihrer fehlenden universitären Anbindung hochgradig professionalisiert.78 Damit gehörten sie zwar zu einer Elite, die freilich in ihren Anliegen durchaus repräsentativ für weite Teile der bürgerlichen Schichten der Zeit stand. Die Geschichtskultur im Deutschland des 19. Jahrhundert manifestierte sich freilich nicht allein in wissenschaftlichen Publikationen und akademischer Lehre, sondern gerade auch in der direkten öffentlichen Wirksamkeit etwa von Vorträgen für ein gebildetes Publikum. Auch Graetz konnte sich dem – ungeachtet seiner Ängste und Vorbehalte – nur schwerlich entziehen. In Anbetracht seiner geringen Eignung als öffentlicher Redner hatte er zu seinen Studienzeiten entsprechende Anfragen noch weitestgehend abgelehnt. Einen Auftritt im Geigerschen Lehr- und Leseverein hatte er beispielsweise noch kurzfristig abgesagt.79 Doch die zunehmende Erfahrung sorgte für Selbstbewusstsein, zumal ihm wohl auch entgegen kam, dass er in der Zwischenzeit mit dem Doktor-Titel, der Geschichte und der Anstellung am Seminar einiges an symbolischem Kapital akkumuliert hatte, was seinen Auftritten Sicherheit bieten konnte: musste er doch kein Publikum mehr erobern oder es von seinen Fähigkeiten erst durch den Vortrag überzeugen; er konnte nun 77 Vgl. Brenner, Jüdische Geschichte; Wiese, Wissenschaft des Judentums, 297–305 und 327–360. 78 Während Frankels Herausgeberschaft der MGWJ (1851–1868) hatten fast 80 % der eruierbaren Beiträger der Monatsschrift einen Doktortitel; vgl. Brämer, Frankel, 291, sowie Hoffmann, Verbürgerlichung, 158. – Die hohe Zahl von promovierten Autoren findet sich bis in die Zeit der nationalsozialistischen Repressalien hinein in Zeitschriften der Wissenschaft des Judentums; vgl. Hoffmann, Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft, 139 f. 79 Vgl. oben, Kap. II 1.4.

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als arrivierter und etablierter Historiker auftreten und sich auf sein Anliegen, die inhaltliche Wirkung, konzentrieren. Gleichwohl steht zu vermuten, dass er die Zahl solcher öffentlicher Vorträge beschränkt haben mag, da er sich seiner rhetorischen Schwächen ja durchaus bewusst war (und auch seine Schüler in ihren Erinnerungen dies einhellig bestätigen). Doch finden sich zumindest vereinzelte Zeugnisse eines solchen öffentlichen Wirkens in Breslau, etwa im Rahmen eines „Vereins zur Verbreitung der Wissenschaft des Judenthums“. Entstanden war dieser Verein am Ende der 1850er Jahre aus einer Vortragsreihe von Graetzens Studienfreund Jakob Levy (1819– 1892) über „verschiedene Geistesproducte des jüdischen Alterthums“.80 Die Idee hatte Erfolg, und Ende 1861 konstituierte sich der Verein, der binnen weniger Monate 260 Mitglieder gefunden haben soll. Der enorme Erfolg hing wohl nicht zuletzt mit dem Versuch zusammen, sich im aufgeheizten Klima der Breslauer Gemeinde als „neutraler Boden“ zu verstehen, „auf welchem alle die verschiedenen religiösen Schattirungen in der hiesigen Gemeinde einen Vereinigungspunkt finden sollen“. Folgerichtig wurde die Reihe wöchentlicher Vorträge von Wissenschaftlern aus verschiedenen religiösen Richtungen bestritten: Den Anfang machte der Breslauer Rabbiner Abraham Geiger mit einem programmatischen Vortrag: „Was heißt Wissenschaft des Judenthums?“, in der Folge traten mit Moritz Güdemann und Manuel Joël Vertreter des Seminars auf, während Jakob Levy zwischenzeitlich sogar an der Religionsschule der Altgläubigen lehrte. Als der Verein in der AZJ vorgestellt wurde, stand Graetzens Vortrag kurz bevor, und sogar Frankel wurde angekündigt.81 Im Zeichen der Wissenschaft des Judenthums und ihrer Verbreitung konnten in diesem Verein also die wichtigsten Strömungen scheinbar einträchtig vereint werden.82 80 Hierzu und zum Folgenden vgl. AZJ (1862), 127 f. – Levy hatte sich im gleichen Jahr (1842) wie Graetz extra ordinem in Breslau immatrikuliert, absolvierte aber kurze Zeit später das Abitur, so dass er im preußischen Halle promoviert wurde. 1845–1850 wirkte er im oberschlesischen Rosenberg als Rabbiner und war Mitarbeiter Fürsts beim Orient. Seine beiden Aramäisch-Wörterbücher brachten ihm 1875 eine Honorarprofessur der Universität Breslau ein. Zu ihm vgl. Biographisches Handbuch I, Nr. 1088, 591 f. 81 Allerdings wurde Frankel nur sehr vage und für den nächsten Winter angekündigt, so dass an dessen tatsächlichem Interesse einige Zweifel bestehen. – Güdemann hatte „Über die Entwickelung der Erziehung im Judenthume“ gesprochen, Joël „Ueber den wissenschaftlichen Einfluss des Judenthums auf die nichtjüdische Welt“; daneben hatte es noch Vorträge von R. Finkenstein „über die biblischen Begriffe von Rein und Unrein“ und von Josef Perles „über das Verhältniß Herodes’ zum Judenthum“ gegeben. Neben den im Haupttext genannten waren noch Moritz Abraham Levy, sowie vier weiteren Herren angekündigt. Vgl. AZJ (1862), 128. – Zumindest Joëls Vortrag ist auch gedruckt worden, im Jahrbuch für Israeliten 5623/1862–63, 7–19. 82 Tatsächlich wird es sich wohl eher um eine Folge von Selbstpräsentationen der einzelnen Richtungen gehandelt haben, wobei allenfalls deutlich wird, dass das Publikum dieser noch nicht fest differenzierten Zeit weit offener war, als die Abgrenzung bedachten Vorträge selbst. Eine genauere Rekonstruktion dieser Veranstaltungen lässt freilich die Quellenlage nicht zu.

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Geiger hatte sich seit seiner Berufung nach Breslau 1838 immer wieder darum bemüht, solche Initiativen zu lancieren, zuvorderst mit dem „Lehrund Leseverein“, den Graetz im Orient so scharf kritisiert hatte; doch waren jene Veranstaltungen mit dem Anspruch aufgetreten, sich in erster Linie an jüdische Studenten und Fachgelehrte wenden zu wollen – mithin also an einen überschaubaren Kreis von männlichen Rezipienten, für die das dort dargebotene Wissen weniger etwas mit Bildung zu tun hatte als dass es vielmehr als Mittel für einen bestimmten beruflichen Zweck diente.83 Mittlerweile war jedoch klar geworden, dass ein Zugehen auf ein breiteres gebildetes, aber eben nicht gelehrtes Publikum notwendig wurde, um mehr als bloß eine Handvoll Interessierter zu erreichen. Die Verbreitung des Bildungsideals dürfte ein übriges getan haben, um auch auf Seiten des Publikums ein entsprechendes Bedürfnis nach Wissen und entsprechenden Gelegenheiten zu erweitern. Dementsprechend hatte sich auch der angestrebte Rahmen für solche Veranstaltungen verbreitert. Unabhängig von der (nicht überprüfbaren) tatsächlichen Zuhörerschaft ist es insofern sprechend, dass der anonyme Berichterstatter der AZJ ausdrücklich hervorhob, dass sich „ein überaus zahlreiches Publikum beiderlei Geschlechtes“ eingefunden hatte.84 Bei Gelegenheiten wie diesen kamen sich also Wirkungsstreben der Fachwelt und Bildungshunger einer breiten bürgerlichen Öffentlichkeit dergestalt entgegen, dass sich ein organisiertes Forum zur Popularisierung eines bestimmten Bildungswissens eröffnete, mittels dessen die Suche nach einer jüdischen Identität in der Moderne weiter vorangetrieben werden konnten. Freilich waren solche Prozesse nicht auf den jüdischen Bereich beschränkt, sondern fanden sich auch in anderen Segmenten der bürgerlichen Schichten.85 Neben historischen Vereinen mit öffentlichen Vorträgen bot sich ein weiteres Medium für die Popularisierung historischen Wissens, nämlich durch populäre, literarisch-publizistisch oder erbaulich orientierte Almanache, Kalender und Jahrbücher. Sie boten einem sich säkularisierenden und von Traditionen lösenden bürgerlichen Publikum mehr und mehr notwendige Grundlageninformationen, um religiöse oder lokale Bräuche der eigenen Umgebung oder sogar der eigenen Familie weiterhin zu verstehen, ohne dafür ein größeres Engagement an den Tag legen zu müssen; die ersten jüdischen Publikationen dieser Art, die nicht mehr auf Hebräisch gehalten waren, entstanden in den auch in der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung weiter fortgeschrittenen Niederlanden.86 Für Juden in einer weit83 Vgl. Ludwig Geiger, Einleitung. Breslau 1838–1863, 128 f. 84 AZJ (1862), 128. 85 Vgl. hierzu oben, Kap. II 3.1. 86 Am Anfang standen die Jaarboeken voor de Israëliten in Nederland (Den Haag 1835– 1840). Vgl. hierzu noch immer die Übersicht von L[eon Julius] S[ilberstrom] s. v. Sammel-

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gehend christlich geprägten Umgebung waren solche Informationen von einer größeren Bedeutsamkeit, weil sie bereits die grundlegenden kalendarischen Angaben über die hohen Feiertage benötigten.87 Daneben erhielten diese Sammelwerke Erläuterungen zum jüdischen Jahreszyklus, den rituellen Gebräuchen und mitunter auch Erklärungen ihrer Bedeutung. Hinzu kamen reichhaltige Informationen auch zu christlichen Feiertagen, Messen, sowie Angaben zu Maßen und Gewichten. Diese praktischen Informationen verloren jedoch mehr und mehr an Bedeutung, und bereits bei einem der ersten dieser Erzeugnisse, dem Jahrbuch für Israeliten, dessen zweite Folge von 1854 bis 1865 von dem bedeutenden, später geadelten Pädagogen Josef Wertheimer (1800–1887) in Wien herausgegeben wurde, firmierte der zugehörige Kalender nurmehr als „Beilage“.88 Die unterhaltenden und belehrenden Teile, Erzählungen, Gedichte und Schilderungen von anderen jüdischen Gemeinden gewannen mehr und mehr an Bedeutung. Daneben besaßen schließlich populär gehaltene wissenschaftliche Aufsätze einiges Gewicht. Vorzugsweise handelte es sich hierbei um Portraits bedeutender Juden oder besonders dramatische Szenen „aus der jüdischen Vergangenheit“; nicht selten hatten sie eine vorbildhaft-didaktische Tendenz. Graetz war Wertheimer ebenso wie dessen späterem Mitherausgeber, dem Journalisten und Schriftsteller Leopold Kompert (1822–1886) freundschaftlich verbunden. Der Anlass ihrer Bekanntschaft lässt nicht mehr rekonstruieren, doch war der Breslauer jedenfalls ein regelmäßiger Autor des Jahrbuchs: In seinen beinahe alljährlich gelieferten Beiträgen portraitierte Graetz die Propheten Jeremias und Ezechiel, den Zelotenführer Eleasar ben Chananjah sowie die Staatsmänner Don Josef Nasî, Samuel Ibn Nagrela und Sa‘ad ad-Dawla;89 in einem anderen Jahrbuch beschrieb er dawerke, jüdische, im Jüdischen Lexikon. – Augenscheinlich repräsentieren solche Jahrbücher einen bestimmten Zeitraum in der bürgerlichen jüdischen Publizistik, da sie sich allenfalls einige Jahre lang behaupten konnten; mutmaßlicherweise hing dies mit der Relevanz der kalendarischen Service-Informationen zusammen; doch bedürfen die näheren Zusammenhänge noch einer näheren Untersuchung. 87 Damit unterschieden sie sich auf Grund der unterschiedlichen rituellen Kalender von anderen religiösen (christlichen) Minoritäten innerhalb der christlichen Gesellschaft; denn selbst wo julianischer und gregorianischer Kalender nebeneinander existierten, waren die Unterschiede wesentlich einfacher zu berechnen als zwischen dem lunisolaren Kalender, der der jüdischen Festtagsberechnung zugrunde liegt, und dem jeweiligen christlichen Kalender. 88 Hierbei handelte es sich offiziell um die Fortsetzung einer Gründung von Isidor Busch (1822–1898) und firmierte daher als „Neue Folge“; der von Busch herausgegebene erste Kalender und Jahrbuch für Israeliten bestand 1842–1847 und hatte auf die Mitarbeit u. a. von Zunz, Sachs und Rapoport zählen können. Eine „Zweite Folge“ versuchte Simon Szántó 1866–1868 als Beilage zum Wiener Jahrbuch zu etablieren. 89 Graetzens Beiträge finden sich in sieben der insgesamt elf Jahrgänge des Jahrbuches: Der Zelotenführer Eleasar, Sohn Ananias. Eine Scene aus dem Aufstande der Juden zur Zeit der Zerstörung des zweiten Tempels (1855); Don Joseph, Herzog von Naxos, Graf von Andros und

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rüber hinaus die Eigenständigkeit der Juden auf der arabischen Halbinsel vor Muhammad.90 Dem Rahmen des jeweiligen Veröffentlichungsortes angemessen bediente sich Graetz einer Reihe von Mitteln, die als bewährt zur populären Vermittlung von Wissen gelten können. Dies fängt bereits bei dem jeweiligen ersten Satz an, was von Graetzens Schreib-Talent beredtes Zeugnis ablegt: Sei es als Sentenz, sei es als einleitende Ausführung, stets war dieser erste Satz dazu geeignet, den Leser anzusprechen und Interesse zu wecken.91 Das war umso notwendiger, da die Themen (abgesehen von den beiden Propheten-Aufsätzen) wohl kaum zum Bildungs-Allgemeingut seiner Zeit zählten. Doch auch in der Folge bedient sich Graetz solcher Strategien, die den Leser direkt ansprechen: Immer wieder wird der Text unterbrochen von rhetorischen Fragen, von Auktorialen und kommentierenden Reflexionen, die sich direkt an das Publikum wandten.92 Der Gegenstand wird geradezu vereinnahmt („unser Held“93). Hierzu zählt wohl auch das gelegentliche Abgleiten in eine Spannung steigernde, präsentische Erzählform.94 Seinen kaum bekannten Themen ist wohl auch geschuldet, dass Graetz nicht bloß das Personal seiner Darstellung auf die notwendigen Figuren reduziert,95 sondern darüber hinaus hin und wieder zu direkten Vergleichen mit Figuren oder Geschehnissen greift, die seiner Leserschaft besDonna Gracia Naßi. Eine Biographie (1856); Der Prophet Jeremia. Eine biographische Skizze (1857); Der Prophet Ezechiel. Ein Lebensbild (1858); Der Minister-Rabbiner Samuel IbnNagréla. Eine Biographie (1859); Der jüdische Staatsmann Saod-Addaula und R. Mair von Rothenburg (1862). Nach diesen biographisch angelegten Arbeiten verfasste er noch zwei eher systematische Beiträge zur Frage des Messianismus im Judentum, die hohe Wellen schlugen: Die Verjüngung des jüdischen Stammes (1864), und Die Entwicklungsstadien im Messiasglauben (1865). – Zu Graetzens Verhältnis zu Wertheimer vgl. Graetz, TB, 232, Nr. 16. 90 Graetz, Die freien jüdischen Stämme und das jüdische Reich auf der arabischen Halbinsel vor Muhammed. – Dieser Beitrag erschien im Kalender und Jahrbuch auf das Jahr 5619 (1858–1859) für die jüdischen Gemeinden Preußens, dem dritten Jahrgang. Über die Vorgeschichte dieses Beitrages ließ sich nichts herausfinden, was umso bedauerlicher ist, da das Jahrbuch von dem Berliner Gemeindesekretär (Fischel) Philipp Wertheim herausgegeben wurde, den Graetz 1841 in Kempen kennengelernt, aber damals wegen dessen freigeistiger Attitüde (er nannte sich „Mephisto Kempens“ und hatte sich von seiner Frau scheiden lassen) auf Anhieb nicht gemocht hatte. Vgl. Graetz, TB, 110, sowie oben, Kap. II 1.3. 91 Zwar kann hier keine Poetik des ersten Satzes für Graetzens Schriften erarbeitet werden, gleichwohl lassen sich drei verschiedene Typen erkennen: eine an klassische Sentenzen anschließende Reflexion (Eleasar, Messiasglauben); eine Anspielung auf Zeitfragen in Verbindung mit der jüdischen Diaspora-Existenz (Freie jüdische Stämme; Ezechiel; Samuel IbnNagréla); oder eine knappe, sentenzenhafte Aussage, die Neugierde wecken sollte (Jeremia, Don Joseph, Saod-Addaula, Verjüngung). 92 Vgl. etwa Jeremia, 5 und 26; Ezechiel, 110. 93 Don Joseph Nasi, 7. – Ähnlich auch Jeremia, 16. 94 Vgl. Eleasar, 21 und 28; Freie Stämme, 146. – Wahrscheinlich lehnt sich diese Erzählstrategie an das Historische Präsens der antiken Rhetorik an. 95 So beispielsweise in seiner knappen Diskussion der Quellenaussagen zu Samuel IbnNagréla, 7 und 9.

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ser vertraut gewesen sind – auch im jüdischen Bildungsbürgertum dürften in der Mitte des 19. Jahrhunderts Gruppierungen wie Optimaten und Girondisten weitaus eher geläufig gewesen sein als Zadokiden und Schammaiten.96 Vielleicht weniger selbstverständlich, aber dafür umso bemerkenswerter ist es freilich, dass Graetz ebenfalls die politische Rolle des Propheten Jeremias angesichts der unmittelbaren babylonischen Bedrohung für Jerusalem mit den Auseinandersetzungen zwischen Aischines und Demosthenes im 4. Jahrhundert um die athenische Haltung gegenüber Philipp von Makedonien erklären zu müssen glaubt.97 Öfter bedient sich der Historiker jedoch indirekter Anspielungen, auch auf zeitgenössische Geschehnisse. Wenngleich es sich bei solchen Aktualisierungen oftmals bloß um eine würzende Zutat handelt,98 so gibt es auch bemerkenswert deutliche Stellungnahmen darunter. Dies gilt insbesondere für den Jeremia-Aufsatz. Graetz verfasste sein Propheten-Portrait vor dem Herbst 1857 und damit in der Endphase der Reaktionszeit in Preußen. Dieser Zeithintergrund bot den Subtext für die Darstellung des biblischen Geschehens und verlieh ihm eine eigene Relevanz; Graetz machte sich dabei den Umstand zunutze, dass sein Aufsatz in Österreich und damit außerhalb des Machtbereichs preußischer Zensur erschien. So betonte er ausdrücklich außenpolitisch prekären Mittellage des Königreichs Judäa zwischen „den beiden rivalisierenden Großmächten“ Ägypten und Babylonien. Die regierenden aristokratischen Günstlinge, „ohne Halt im Innern, verriethen ihre Schwäche durch eine wankelmütige Politik diesen beiden Reichen gegenüber […] und machten sich durch dieses Schwanken beiden verdächtig.“99 96 So vor allem in Eleasar, 24–27. – Bemerkenswert ist hierbei die Zusammenstellung; denn während in Graetzens Darstellung vor allem die girondistischen Schammaiten unter Eleasar ben Chananjah mit der hillelitischen Friedenspartei sowie den „hochrothen Zeloten“, den „jüdischen Jakobinern“ (beide Zitate Eleasar, 26) kämpfen und damit in einem konkret konnotierten Rahmen stehen, bekommen die ansonsten blass bleibenden Optimaten mit ihrer antikisierenden Bezeichnung einen Charakter mit Ewigkeitswert: Graetz beschreibt sie als Männer, „die mit ihren egoistischen Interessen das römische Joch nicht empfanden, weil es vergoldet war, und ihnen Freiheit gewährte, ihrerseits das Volk zu knechten. Diese Partei [habe] zu allen Zeiten und in allen Ländern stets einen constanten Charakter“ (Eleasar, 24). Zur Bedeutung solch aktualisierender Tendenzen speziell für das Zeitalter des Zweiten Tempels vgl. unten, Kap. II 2.4.1. 97 Vgl. Graetz, Jeremia, 23. Graetz selbst konstatierte ganz offen, „daß, obwohl die europäischen Juden beinahe ein halbes Jahrhundert zum Bewußtsein erwacht sind, die Gebildeten sich nicht mehr des Judenthums schämen, sondern stolz auf ihre Lehre und Vergangenheit sind, ihnen doch durchschnittlich die griechische und römische Literatur vertrauter ist, als die prophetische, und jeder mythologische Heros geläufiger, als die leuchtenden Heldengestalten der Propheten.“ Ebd., 2. 98 In diesen Fällen wird der rhetorische Charakter dieser Anspielungen sehr deutlich. vgl. etwa die „Schutz- und Trutzbündnisse“ zwischen Juden und Arabern sowie die gegenseitig eingeräumten „bürgerlichen Vortheile“, in Graetz, Freie Stämme, 146 und 151; die Darstellung Ägyptens und Babyloniens als der „beiden rivalisierenden Großmächte“ in Graetz, Jeremia, 6 und 7. 99 Beide Zitate Graetz, Jeremia, 5 f.

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Deutlicher als solche Anspielungen auf die preußische Isolation in der gerade entstandenen weltpolitischen „Krimkriegskonstellation“100 fielen seine Stellungnahmen gegen die inneren Zustände in aus: Die mit Jeremias um die öffentliche Meinung konkurrierenden „Lügenpropheten“ zeichnete er als eine „Art feiler Presse“, die „dem Bestehenden das Wort“ redeten, und schonungslos geißelte er die „politische Zerfahrenheit“ im preußischen Staate in der Endphase der Regentschaft Friedrich Wilhelms IV., die von der „Camarilla“ der hochkonservativen Gebrüder Gerlach beherrscht war: „Das Königthum, eine Art Chalifat geworden, das da herrschte, aber nicht regierte, war von der Aristokratie, den Häuptlingen der Familien, den Feldherren und Priestern in vollständiger Abhängigkeit und Unmündigkeit gehalten.“ Gleichwohl war Graetz nicht mehr der radikal-demokratische Heißsporn in den verzweiflungsvollen Tagen der 1848er Revolution. Mittlerweile hatten sich liberale Züge in seine Anschauungen gemischt, wie die Kritik an den Bedrückungen durch die „‚Fürsten Judäas‘“ (die Anführungszeichen stammen bereits von Graetz) zeigt: Die Bezüge dieser Kritik zur Gegenwart sind sehr ausgeprägt und lassen sich nicht allein als Plädoyer für Verfassung und demokratische Kontrolle, sondern auch für ein starkes Staatsoberhaupt, wie es ein Kaiser wäre, lesen: „Die ‚Fürsten Judäas‘ bedrückten das Volk, wie jede Aristokratie, deren Selbstsucht, Zügellosigkeit und Hang nach Willkür nicht von oben oder unten beschränkt werden. Sie sogen an dem Mark der Nation und erniedrigten sie zur verthierten Horde.“ Seine Hinwendung zum Liberalismus untermauert überdies Graetzens Skepsis gegenüber dem Volk als politischem Akteur: „Das böse Beispiel von oben wirkte entsittlichend auch auf die Volksmassen. Rechtsverdrehung, Gewaltstreiche, Bedrückung, Hinterlist, Lügenhaftigkeit waren an der Tagesordnung.“101 Solcher „Entartung“ von oben wie von unten setzte Graetz nun „die leuchtenden Helden100 Diese Konstellation des europäischen Mächtesystems war im Zuge des Krimkriegs 1853/56 als Konflikt um die Ordnung und Machtverteilung in Mitteleuropa deutlich vor Augen getreten und ließ insbesondere die Interessen der „Flügelmächte“ (England, später erweitert um die USA auf der einen, Russland bzw. die Sowjetunion auf der anderen Seite eines im Wesentlichen bipolaren Systems) einander widerstreiten. Zu Entstehung und Bedeutung vgl. Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, 12 f, Hildebrand, Krimkriegssituation; Mosse, Rise and Fall. – Der Krimkrieg beschäftigte Graetz auch in seinem Tagebuch wie wenige andere politische Ereignisse zuvor: Obgleich seine Sympathien eindeutig auf Seiten der verbündeten Mächte England, Frankreich, Savoyen lagen, erkannte er doch die Gefahren, die dem Pariser Frieden 1856 innewohnten, dem er „Drachenzähne“ entwachsen sah. Und schon in der Frühphase hatte er in Tocqueville’scher Manier hellsichtig die entstehende Weltlage charakterisiert: „Die Zukunft der Menschheit liegt nahe menschlicher Berechnung in der Hand Rußlands u[nd] der amerikanischen Freistaaten, der geschichtlichenn Polarität, bei deren unmittelbaren Berührung einst verzehrende Funken sprühen werden.“ Tagebucheinträge vom 12. April [1856] und 13. Sept[ember 1853]; Graetz, TB, 217 f, Zitat 218, und 206. Mit der Kommentierung des Pariser Friedens reißen seine Tagebucheintragungen allerdings endgültig ab. 101 Alle Zitate Graetz, Jeremia, 6 f.

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gestalten der Propheten“ entgegen, die „die Wahrheit stets zum Angelpunkte ihrer dichterischen Beredsamkeit“ gemacht hatten. Diese Wahrheit aber bestand für Graetz in „Sittlichkeit und Religiosität“ – und beides erhob für ihn die Propheten und mit ihnen das Judentum weit über die Kunst der Griechen und die Eroberungsleistungen der Römer.102 „Sittlichkeit“ und „Religiosität“, so ja die Hypothese der vorliegenden Studie, sind die beiden zentralen Eigenschaften, die für Graetz das Wesen jüdischer Identität ausmachten. Was er sich unter diesen beiden Werten konkret vorstellte und wie sie eingesetzt wurden, soll im folgenden Hauptteil untersucht werden. Hier sei lediglich noch auf Graetzens deutliche Absicht hingewiesen, seine Sichtweise zu popularisieren, also: mit seinen populär gehaltenen Darstellungen im Sinne von Sittlichkeit und Religiosität handlungsleitend zu wirken. Am deutlichsten wird dies in den ersten sechs Jahrbuchs-Beiträgen. Sie sind jeweils einem „großen Mann“ gewidmet, der zum leuchtenden Vorbild stilisiert wird; diese Technik schloss auch eine Heroisierungen in seinem Sinne ein.103 Seine biographische Skizze des Propheten Jeremias empfand Graetz sogar „hinlänglich, zur Bewunderung seiner Größe hinzureißen, und ihn uns als Muster unerschütterlicher, gottergebener Standhaftigkeit zu nehmen.“104 Nirgendwo allerdings wird die popularisierende Intention so unverblümt deutlich wie am Ende des Aufsatzes über den schließlich gestürzten und ermordeten Ilhân-Wesir Sa‘ad adDawla (reg. 1287–1291), wo der Historiker explizit schreibt, dass er „Nutzanwendung aus dieser Geschichte für die Gegenwart […] denkenden Lesern“ überlasse.105 Um angesichts seines plastischen Stils und seiner mitunter gewagten Konjekturen keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen, hatte sich der Historiker beim ersten Text noch veranlasst gesehen, eine „nothwendige Anmerkung“ anzufügen, die feststellte, dass es sich nicht um ein „Phantasiestück“ handele, sondern „auf streng kritischer Quellenforschung“ beruhe, was er allerdings nur sehr kurz ausführte.106 Ansonsten bemühte sich Graetz, eine glatte Darstellung zu geben und somit sicheres Wissen zu popularisieren – 102 Alle drei Zitate Graetz, Jeremia, 2. 103 So etwa im Falle des granadischen Wesirs Samuel Ibn Negrela oder des Herzogs von Naxos, Don Josef Nasi. Diese Strategie fällt besonders im Vergleich mit den entsprechenden Kapiteln in der Geschichte ins Auge; vgl. (für Don Josef Nasi) Pyka, Der Held als Schwächling. – Zu dieser Erzähltechnik in der Nachfolge von Leopold Rankes episch-dokumentarischer Biographik vgl. Hähner, Historische Biographik, 122–134, und Oelkers, Biographik, 300 ff. 104 Graetz, Jeremia, 30. 105 Graetz, Saod-Addaula, 54. 106 Graetz, Eleasar, 33. – Eine Sonderstellung nimmt darüber hinaus die Arbeit über Don Joseph Nasi ein, die zeitlich unabhängig von der Geschichte entstand und einen ausführlichen wissenschaftlichen Apparat besitzt.

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eine eindeutige und nicht-hinterfragbare Wahrheit.107 Dies gilt sogar für die „Biographie“ Don Joseph Nasis, die zeitlich unabhängig von der Geschichte entstand, eigenständige und bedeutsame Forschungsergebnisse präsentieren konnte, und für die er somit nicht auf einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat verzichten mochte; doch bleibt dieser Apparat mitsamt der heftigen Quellendiskussion (ungewöhnlich genug) lediglich in Form von Endnoten dem nicht-wissenschaftlichen Leser weitgehend verborgen, während der Text selbst im Plauderton ein überaus romaneskes Bild eines „spanischen Hidalgo“ vorführt.108 Insofern ist dieses Portrait ein besonders guter Beleg dafür, dass auch Graetzens populär gehaltene Jahrbuchs-Beiträge ungeachtet ihrer darstellerischen Mittel durchaus den Anspruch erheben konnten, wissenschaftlich ernstzunehmende Ergebnisse zu präsentieren. Daneben dienten sie jedoch zugleich als Medium, um ein bestimmtes Wissen zu popularisieren: Das Wissen um das wahre „Wesen des Judentums“, um die jüdische Identität an sich. Diese Funktion hatten sie freilich mit Graetzens zur gleichen Zeit entstehendem Hauptwerk gemeinsam, das diese kleineren Texte gänzlich aus dem Bewusstsein verdrängt hat und das letztlich mit seinen zahlreichen Neuauflagen der einzelnen Bände eine ungleich größere Wirkungsmacht entfalten konnte: Denn Graetzens erfolgreichstes Medium zur Popularisierung seiner Anschauungen war seine monumentale Geschichte der Juden.

3.3 Die Geschichte der Juden – Konzeption und Methode Kurz nach der Eröffnung des Seminars und anderthalb Jahre nach Erscheinen des Bandes über die Zeit der großen Rabbinen bis zum Abschluss des Talmud legte Graetz seine Geschichte der Juden vom Tode Juda Makkabis bis zum Untergange des jüdischen Staates im Jahre 70 n. d. Z. vor. Der Band firmierte als Band III der Geschichte der Juden. Er war insofern direkt mit dem Vorgängerwerk verbunden, doch hatten sich die verlegerischen Rahmenbedingungen in der Zwischenzeit seit 1853 deutlich verändert. Anders als seine Geschichte der talmudischen Zeit erschien dieser Band nämlich nicht mehr im renommierten Berliner Verlag Veit & Comp., und es steht zu vermuten, dass dies tatsächlich mit finanziellen Gründen zusammenhing.109 Stattdessen erschien der Band in Leipzig bei Leopold Schnauß, einem weit107 Vgl. a. Stegmüller, Popularisierungsstrategien in Schlossers „Weltgeschichte“, 206 f (allerdings bleibt bei Stegmüller gerade der Begriff von „Popularisierung“ unscharf). – Zur fundamentalen Bedeutung von „Wahrheit“ für Popularisierungsvorgänge vgl. Pyka, Religion, 50 f. 108 Graetz, Don Joseph, Zitat 1. – Zu diesem Aufsatz und seinem Kontext vgl. Pyka, Der Held als Schwächling. 109 So der gemeinhin sehr abgewogen urteilende Graetz-Schüler Gotthard Deutsch in einem Memorial-Artikel: Graetz, 74.

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hin unbekannten kleinen Verlag ohne ausgeprägtes Profil. Wichtiger freilich war der Rahmen, in dem das Werk nun erschien, wovon Graetz sowohl unter Gesichtspunkten der Popularisierung als auch seines Honorars profitierte.110 Denn dieser Band III erschien als Teil der ersten Jahresgabe des Instituts zur Förderung israelitischer Literatur.111 Nachdem entsprechende Überlegungen bereits seit Jahren diskutiert worden waren, hatte Ludwig Philippson gemeinsam mit Jost und Adolf Jellinek schließlich 1855 dieses Institut als eine Art Büchergilde mit dem Ziel gegründet, „das Interesse der großen Masse zu fesseln, und unterhaltend und belehrend in sie einzudringen“,112 mit anderen Worten: mittels jüdischer Literatur das Wissen und Bewusstsein für das Judentum zu schärfen und zu beeinflussen. Binnen kurzem sollen 1200 Abonnenten beigetreten sein, und zu seinen besten Zeiten hatte das Institut 3600 Mitglieder. Die Verbindung des Gelehrten mit der Büchergilde sollte sich als für beide Seiten fruchtbar erweisen; denn die einzelnen Bände von Graetzens Geschichte stellten mit ihren literarischen Qualitäten für die Subskribenten gleichsam die pièce de résistance dar,113 während der durch Abonnement gewonnene Kundenstamm zugleich für Graetz und seine Anliegen einen weiten Leserkreis sicherte. Allerdings dauerte es rund zehn Jahre, bis das Institut und damit auch Graetzens Hauptwerk im Leipziger Verlag Oskar Leiner gewissermaßen einen Hausverlag fand.114 Seit 1866 erschienen alle neuen sowie die Fol110 Graetz notiert in seinem Tagebuch, dass er nun insgesamt 508 Rthlr Honorar bekommen habe, verglichen mit 360 Rthlr für den vierten Band. Vgl. den Tagebucheintrag vom 13. April [1856]. Graetz, TB, 217 f, hier 218. 111 Zur Geschichte und Bedeutung des Instituts vgl. Horch, Suche, 153–164 und 265 f. – Eine eingehende Untersuchung des Instituts in Bezug auf Subskribentenkreis, tatsächlichen Absatz und damit auch seine Wirkung steht jedoch noch aus. 112 [Philippson,] Aufforderung, 238. – Als Beispiel für eine entsprechende Überlegung vgl. Jost, Beitrag (1835), 360 f. Jost hatte am eigenen Leibe erfahren, wie schwierig es war, über Einzel-Subskiptionen ein größeres wissenschaftliches Werk zu finanzieren; der erste Band seiner eigenen Geschichte der Israeliten hatte es 1820 auf diesem Wege nicht einmal zu hundert Subskribenten in Deutschland gebracht, so dass ohne weitere, ausländische Subskribenten das Projekt dieser Art aus jüdischer Feder nicht hätte gedruckt werden können; vgl. das Vorwort zu jenem Band, X. Graetz profitierte also auch aus organisatorischen Gründen indirekt von den Vorarbeiten des „Vaters der jüdischen Geschichtsschreibung“. 113 So Bloch, Biographie, 58. 114 Das Institut kam 1863 mit seinen Schriften zu Leiner (und damit mit Band VII der Geschichte sowie der zweiten Auflage von Band III); nach einem Wechsel im Folgejahr (so dass auch Bd. VIII bei Nieß erschien) kehrte Philippsons Institut 1865 wieder zu Leiner zurück, in einem Jahr allerdings, in dem Graetz keinen Band vorlegte. Das Institut verblieb nun hier bis zu seiner Auflösung 1873, ebenso wie Graetz, dessen Werke auch über den beiderseitigen Bruch anlässlich des XI. Bandes 1869 hinaus bei dem Verlag erschienen. – Allerdings ließ Graetz alle seine übrigen Schriften wie auch die MGWJ, nachdem er ihre Redaktion übernommen hatte, in anderen Verlagen erscheinen; für jedwede fundierte Überlegung zu den Hintergründen fehlt das Quellenmaterial.

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geauflagen bereits vorgelegter Bände der Geschichte bei Leiner, auch über Graetzens Tod hinaus. 1888 brachte der Verlag schließlich Graetzens dreibändige Volksthümliche Geschichte der Juden heraus.115 Als die letzten noch fehlenden Bände 1876 schließlich vorlagen, umfasste das Werk den gewaltigen Zeitraum von annähernd drei tausend Jahren (bis ungefähr 1848). Diese wurden in dreizehn Teilbänden behandelt, wobei alle Bände noch zu Graetzens Lebzeiten mehrere Auflagen erfuhren. Zum Publikumserfolg trug nicht allein Graetzens fesselnde Sprache bei, sondern auch der Umstand, dass seine Geschichte die Bedürfnisse verschiedener Lesergruppen berücksichtigte – diejenigen der Forscher ebenso wie die eines „bloß“ gebildeten Breitenpublikums. Er hatte diese durch die Zweiteilung der Bände erreicht: Sie bestanden zum einen aus einem Haupttext mit einigen wenigen, vor allem Zitate belegenden Fußnoten, in dem er nur in Ausnahmefällen lateinische oder hebräische Termini gebrauchte und diese zumeist unmittelbar kommentierte. Zum anderen bestanden sie aus erklärenden „Noten“, in denen Graetz spezielle Forschungsfragen diskutierte und schwierige Textpassagen analysierte, nicht zuletzt in den jeweiligen Originalsprachen. Die „Noten“ boten also die wissenschaftliche Grundlagenarbeit. Auch in diesem Punkt markiert der III. Band von 1856 den Beginn des eigentlichen Werkes. Zwar hatte es eine solche Unterscheidung bereits in der Erstausgabe des Bandes über das talmudische Zeitalter gegeben, doch waren dort die Noten im Wesentlichen noch sehr kurze Anmerkungen und Ergänzungen gewesen. Ab 1856 wurden aus diesen Endnoten längere Anlagen, mitunter regelrechte Abhandlungen, die allein schon auf Grund ihrer Länge durchaus als eigenständige Aufsätze gelten konnten.116 115 Diese Verlagswahl ist insofern bemerkenswert, als das 1842 gegründete Haus noch recht jung war und sich noch nicht im Bereich der Literatur und Geistesgeschichte hervorgetan hatte. Sein Hauptstandbein waren technische Publikationen sowie Abrechnungsformulare für die Buchwirtschaft, ein Verlagsprogramm, das in seinem Anwendungsbezug noch durch eine Bibliothek nützlicher Taschenbücher abgerundet wurde. Zwar war im 19. Jahrhundert eine solche thematische Streuung nichts Unübliches (vgl. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, 266); für einen nichtjüdischen Verleger, überdies ohne eine theologische Orientierung, dürfte eine so deutliche Profilierung aber eher ungewöhnlich gewesen sein, zumal in der Folge auch weitere Judaica verlegt wurden. – Als einzigen Literaturhinweis vgl. Gutzmer s. v. Leiner, Oskar (LGB2). – Der Verlag Oskar Leiner scheint im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwunden zu sein. Er existierte in Leipzig bis in die Nachkriegszeit und wurde 1949 nach Düsseldorf verlegt; die Druckerei selbst kaufte der Teubner-Verlag, ohne aber die Verlagsakten zu übernehmen (Mitteilung der Teubner-Stiftung an den Verf. Leipzig vom 21. April 2003). Seit 1957 ruhte die Verlagstätigkeit, 1992 wurde sie offiziell aufgegeben (Mitteilung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels vom 15.1.2001 an den Verf.), das Geschäft wurde 2001 liquidiert (Mitteilung des Amtsgerichts Düsseldorf an den Verf. vom 1.2.2002). 116 Diese Noten konnten sich mitunter auf eine (eng gesetzte) Seite beschränken, zumeist jedoch umfassten sie weit mehr Text, die längste 39 Seiten; dieser Form passte Graetz auch die Noten des ursprünglichen IV. Bandes an, indem er sie für die zweite Auflage zu mehreren län-

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Diese Aufteilung hat allerdings eine weitere Funktion als nur die einer formalen Entlastung des Haupttextes von philologischem Ballast, der dem nicht-akademischen Publikum nur schwer zuzumuten wäre. Denn diese Noten sind mitnichten bloß der Unterbau oder auch die „Zettelbank“,117 in der das Material aufbereitet wird, auf das sich dann der Haupttext stützt. Vielmehr lassen sich im Vergleich beider Teile eklatante Unterschiede festmachen, die auf eine prinzipiell andere Intention hinweisen – und ganz konkrete Popularisierungsstrategien ihres Verfassers nahelegen. Bereits Hirsch hatte in seiner Rezension des IV. Bandes auf diese Diskrepanz hingewiesen, als er sich über die beträchtlichen Unterschiede in Darstellung und Interpretation von R. Akiba wunderte: „Aber man ahnet oft nicht, welche Kluft zwischen einem Text und seiner Note gähnt.“118 Auch in den Folgebänden finden sich solche Unterschiede immer wieder, ebenso wie bei Vergleichen zwischen dem Haupttext der Geschichte und den thematisch verwandten Aufsätzen, die Graetz mitunter in unmittelbarem zeitlichen Kontext in der Monatsschrift veröffentlichte. Solche Unterschiede, auf die im Folgenden näher einzugehen sein wird, belegen mehr als deutlich, dass Graetzens opus magnum eine klassische Meistererzählung darstellt, die ungeachtet ihres wissenschaftlichen Anspruchs eben auch einen eigenständigen Text konstituiert, den es auch mit entsprechender literaturwissenschaftlicher Methodik zu analysieren gilt.119 Den spezifischen Eigenwert des Haupttextes als master narrative belegt überdies die weitere Textgeschichte der Bände, von denen manche noch zu Graetzens Lebzeiten bis zu vier Auflagen erlebten. Graetz überarbeitete nicht wenige dieser Auflagen, was nicht erstaunt, da die Forschungen der Wissenschaft des Judentums wie der Nachbarwissenschaften in den annähernd vierzig Jahren, die Graetz an den einzelnen Bänden gearbeitet hat, enorme Fortschritte sowohl in der Quellenerschließung und -aufbereitung als auch der Interpretation der Einzelergebnisse machten. Graetz selbst steuerte einen beträchtlichen Teil dieser Erkenntnisfortschritte bei. Bei näherer Untersuchung des Textes der Geschichte ergibt sich jedoch nicht das Bild eines beständigen work in progress. Graetzens Bearbeitungen sind zumeist geren Abhandlungen zusammenfügte. – Es ist allerdings zu bemerken, dass solch eine Unterscheidung nicht Graetzens Erfindung gewesen ist, nicht einmal für den Bereich der jüdischen Geschichte; allerdings war die Form der Abhandlung, zu der sich seine Noten rasch entwickelten, durchaus etwas Eigenständiges. Freilich hatte bereits Jost in seiner Geschichte der Israeliten die jeweiligen Textnachweise separat erscheinen lassen, „um nicht den gewöhnlichen Leser durch viele, oft lange Anmerkungen auf jeder Seite zu belästigen“. Bd. I (1820), XIII. 117 So David Kaufmann in seinem Nachruf im Pester Lloyd: Graetz. 118 Hirsch, [Rez. Geschichte IV (1853)], 568. 119 Die vielleicht immer noch beeindruckendste Arbeit dieser Art ist Fulda, Wissenschaft. Dessen wegweisender Ansatz ist allerdings bislang, soweit ich sehe, nicht für spätere Texte aufgegriffen worden.

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eher kleine Korrekturen und Änderungen in Details wie einzelner Formulierungen. Wenn überhaupt erfuhr der Text eher Erweiterungen als dass er umgearbeitet worden wäre. Im Kern gilt dies sogar für den einzigen Band, der vorderhand eine offenkundige Veränderung erfuhr. Der die Zeit des Zweiten Tempels behandelnde Band III konzentrierte sich ja auf eine Epoche, die gerade auch für ein christliches Publikum von größtem Interesse war; dies bedeutete aber, dass er hiermit in Konkurrenz zur akademisch geradezu übermächtigen christlich-theologischen Wissenschaft stand und überdies ein Forschungsgebiet behandelte, das in der zweiten Jahrhunderthälfte geradezu explosionsartig expandierte.120 In der Tat trug Graetz diesem Umstand Rechnung, und das stetige Anwachsen des Bandes machte es notwendig, ihn ab der vierten Auflage 1888 in zwei Teilbänden erscheinen zu lassen. Doch wurde der Haupttext auch hier kaum verändert;121 Erweiterungen betrafen im Wesentlichen Jesus und das frühe Christentum, denen er ab der zweiten Auflage 1863 ein eigenes Kapitel widmete122 sowie wenige längere Exkurse zu einigen Texten der Bibel.123 Zumeist waren es jedoch die Noten, die verändert, überarbeitet und massiv erweitert wurden – und somit den jeweiligen Stand der Forschung diskutierten. Der einmal niedergeschriebene Narrativ blieb weitestgehend unverändert.124 Dies gilt umso mehr für die übrigen Bände, deren Textgestalt kaum Modifikationen unterworfen wurde. 120 Vgl. etwa die Forschungsüberblicke zur Literatur über die Pharisäer: Waubke, Pharisäer; Deines, Pharisäer. 121 Die wenigen tatsächlichen Überarbeitungen des Textes sind lediglich Korrekturen vereinzelter grober Irrtümer wie etwa die Zuschreibung Jochanan ben Sakkais als Schüler von Hillel. Vgl. Graetz, Geschichte III1 (1856), 247, mit Graetz, Geschichte III/15 (1905), 256 mit Anm. 1. 122 Zu dessen Hintergrund vgl. Boyer, Lecture et Rélecture; Heschel, Geiger. – Gegen das Argument, ihm sei die Zeit Jesu und des frühen Christentums schlichtweg zu heikel gewesen, um sie bereits in der ersten Auflage von Band III zu behandeln, spricht schon die Tatsache, dass Graetz das frühe Christentum (und überdies als Teil der jüdischen Geschichte) durchaus behandelt hat: vgl. das fünfte Kapitel von Band IV (1853): „Verhältniß des Christenthums zum Judenthume. Sektenwesen; Judenchristen, Heidenchristen […] Trennung der Judenchristen von der jüdischen Gemeinde […]“; dieses Kapitel umfasst die Seiten 88–128. 123 So etwa zur Kanonizität der Hagiographen (ketubîm) oder zu Kohelet; vgl. Graetz, Geschichte III/15, 236–243. 124 Es war denn auch nur die Erweiterung um einige Noten, die die Aufteilung des III. Bandes in zwei Teilbände notwendig werden ließ; andeutungsweise hierzu vgl. Graetzens Einleitungen zur dritten und vierten Auflage, III3 (1878), VIf, und III/14 (1888), VIf. – Die Konstanz des Haupttextes fand ihren Niederschlag auch in den Inhaltsverzeichnissen, die nur in Ausnahmen (etwa dem Kohelet-Exkurs in III/1) die Erweiterungen berücksichtigten. Besonders deutlich wird dies anhand eines an sich marginalen Fehlers, der sich jedoch in allen späteren Auflagen wiederfindet: Der Unterpunkt über das Wohlwollen des Statthalters Vitellius taucht seit der zweiten Auflage (1863) dieses Bandes richtigerweise am Ende des eingeschobenen elften Kapitels auf, aber auch am Ende des zehnten, wo diese Passage in der ursprünglichen Fassung gestanden hatte.

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Ungeachtet des anwachsenden Wissens und der langen Zeit seiner Entstehung präsentierte sich Graetzens Narrativ so als eindeutig, als frei von Unsicherheiten und Zweifeln – gleichsam als ewige Wahrheit. Seine Geschichte der Juden zeigt Graetz als einen Identitätspolitiker, der mittels dieses populären Textes ein bestimmtes Bild vom Judentum an ein breiteres Publikum vermitteln und in handlungsleitender Absicht durchsetzen wollte.125 Dieses historiographische opus magnum, das wohl zu den wichtigsten und auch einflussreichsten Werken nicht nur der jüdischen Geschichtsschreibung gezählt werden darf, ist von Anlage und Anspruch her zentral für die Frage nach Graetzens Verständnis vom Wesen des Judentums. Selbst die philosophische Durchdringung des Stoffes erweist sich als stärker als in der Construction der jüdischen Geschichte von 1846. Zwar war Graetz in seiner Geschichtsphilosophie darum bemüht gewesen, eine unwandelbare Essenz des Judentums in seiner Geschichte explizit aufzuzeigen, doch hatte er dies letztlich nicht einlösen können; nun verzichtete er zwar weitestgehend auf umfangreiche programmatische Äußerungen, gestaltete hier den Text jedoch auf eine Weise, dass sich in Anlage und Darstellungsweise des Werkes aus den zentralen Aussagen und Erzählstrategien ein bestimmtes, identitätsstiftendes Grundmuster herauskristallisiert. Anhand dieses Grundmusters lassen sich die zentralen Elemente von Graetzens Vorstellung über das Wesen des Judentums ablesen – was angesichts der popularisierenden Grundintention des Werkes wiederum implizite Folgen für seine Vorstellungen jüdischer Identität des Einzelnen hatte: Entsprechend sollen im Folgenden die dem Werk zugrunde liegenden, als unwandelbar und ewig angesehenen Wahrheiten herausgearbeitet und auf ihre Umsetzung hin untersucht werden. Allerdings wird in den ersten erschienenen Bänden dieses Grundmuster noch von einer eher starren Periodisierung überlagert, die in ihren Grundzügen und manchen Bezeichnungen aus der Construction fortwirkte. Mit zunehmendem Abstand allerdings, im weiteren Laufe der Entstehungsgeschichte weichte sich diese korsetthafte Periodisierung immer weiter auf, um schließlich, in der Volksthümlichen Geschichte der Juden nahezu vollständig zu Gunsten eines durchgestalteten Narrativs zu verschwinden. Daher sei zunächst die formale Konzeption des Werkes und ihre Entwicklung kurz beleuchtet. Nachdem auf Drängen von Veit klar geworden war, dass Graetzens Geschichte der talmudischen Zeit zum ersten Baustein einer umfassenden Gesamtgeschichte werden sollte, bedurfte es dafür eines Gesamtplans. An brauchbaren Vorbildern herrschte Mangel, da abgesehen von den veralteten Werken christlicher Provenienz mit missionarischer Grundhaltung (Jacques Basnage, Hannah Adams) sowie einer Reihe von längeren Überblicken 125 Hierzu siehe oben, Kap. II 3.2.

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mit didaktischem Anspruch lediglich von zwei Autoren Gesamtdarstellungen jüdischer Geschichte mit wissenschaftlichem Anspruch vorlagen, von Isaak Markus Jost vor allem seine neunbändige Geschichte der Israeliten126 sowie Selig Cassels umfangreiche Darstellung in Ersch und Grubers Allgemeiner Enzyklopädie.127 Beide Autoren hatten ungeheure Pionierarbeit in der Quellenerschließung geleistet. Allein die Darstellung hatte unter der schieren Menge des Materials stark gelitten, zumal die Anlage ihrer Werke weniger leserfreundlich als eher enzyklopädisch zu nennen ist. Bei Cassel war dies freilich dem Publikationsort geschuldet. Josts Werk hingegen war vor allem durch das Bestreben gekennzeichnet zu zeigen, dass die Juden seit der Zerstörung des Ersten Tempels durch Nebukadnezar 586 v.d.Z. kein zusammenhängendes Volk mehr seien, sondern vielmehr Teil der Gesellschaften gewesen seien, in denen sie gerade lebten; der Umgang mit ihnen habe sich jeweils konstitutiv auf den Nutzen des jeweiligen Landes ausgewirkt, den dieses aus den dort ansässigen Juden ziehen konnte.128 Infolge dieser noch ganz aufklärerischen Kategorien verhaftete Sicht von Emanzipation als „bürgerlicher Verbesserung“ der Juden sowie die Deutung der Religion als einzigem Verbindenden ließ Josts Darstellung in viele einzelne Kapitel zerfallen, die in der Tat nur wenig miteinander zu tun hatten. Doch selbst diese einzelnen Ländermonographien vermochten wenig zu begeistern, was nicht nur an Josts allzu schwerblütiger Sprache lag,129 sondern auch daran, dass wiederum dieses eigentlich so zentrale Element der Religion von ihm kaum Aufmerksamkeit erfuhr, die rabbinische Tradition sogar eine dezidierte Ablehnung. Überdies vermochte die strenge methodische Forderung Josts nach unparteiischer Darstellung, mit der er vor allem antijüdische Vorwürfe und abschätzige Urteile zu zerstreuen gehofft hatte, kaum zu fesseln. Während 126 Jost, Isaak Markus: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage. Nach den Quellen bearbeitet. Bd. I–IX. Berlin 1820–1828; ders.: Allgemeine Geschichte des jüdischen Volkes. Bd. I–II. Berlin 1832 (eine Neuausgabe erschien in Leipzig 1850). – Zu ihm vgl. Michael, Jost; Brenner, Propheten, 54–57; sowie den ausgezeichneten Überblick von Wiese s. v. Jost (in Kilcher, Jüdische Philosophen). 127 Cassel s. v. Juden, Geschichte. – Vgl. zu diesem Fragment gebliebenen enzyklopädischen Mammutwerk jetzt Rüdiger, Ersch/Gruber, zu entsprechenden jüdischen Projekten Engelhardt, Ordnungen des Wissens. 128 „Da wo die Juden als Kinder des Staates betrachtet und behandelt werden, wo sie nur den Namen der Juden trugen, weil sie jüdischen Gottesdienst übten, waren sie treue Unterthanen, vortreffliche Bürger […]; da aber, wo sie als Fremdlinge verstoßen […], als Mitglieder eines anderen Volkes gehaßt und verfolgt wurden, sank ihr Geist in Niedrigkeit […]. Dort lebten sie und vermehrten die Kraft ihres Landes; hier erstarben sie, und schwächten durch ihr Dasein die inneren Kräfte des Landes.“. Zit. nach Wiese s. v. Jost (Kilcher). 129 Nach einer Spöttelei von Josts Jugendfreund Heinrich Heine habe sogar Zunz nach Erscheinen des ersten Bandes 1820 gemutmaßt, dieser sei womöglich deswegen so schlecht geschrieben, damit die späteren Bände desto glänzender wirken möchten. Brief von Heine an Zunz vom 27.6.1823; Briefe 1815–1831, Nr. 69 auf 102 f.

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sein Werk von christlichen Autoren kaum berücksichtigt wurde, trug sie ihm jüdischerseits sogar den Vorwurf ein, fühl- und herzlos gegenüber den Juden in Vergangenheit und Gegenwart zu sein, eine Charakterisierung, die aus heutiger Perspektive dringend einer Revision bedarf. Des ungeachtet war jedoch klar, dass Josts Werk für das weitere 19. Jahrhundert kaum als Vorbild fungieren konnte, schon gar nicht für eine stets mit Hingabe an die Sache teilnehmende Persönlichkeit wie Graetz. Er hatte Josts Geschichtswerk in Oldenburg gelesen und sah sich dabei zu heftiger Wiederrede angestachelt, so dass er sogar versuchte, einen Verriss in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums unterzubringen.130 Auch in der Anfangsphase seiner eigenen umfassenden Geschichte ging er wenig freundlich mit dem „Vater der jüdischen Geschichtsschreibung“ um: In seinem knappen Literaturüberblick zum IV. Band kam er gerade einmal in einer höchst vagen Anspielung vor, im Vorwort zum V. Band verwarf Graetz Josts gerade erschienene Geschichte des Judenthums und seiner Secten etwas sauertöpfisch, ohne dass er den Autor (und ja auch Konkurrenten) namentlich nannte; eine solche damnatio memoriae ist wohl nicht weitab vom wissenschaftlichen Vatermord anzusiedeln. Auch in den Noten zur Geschichte kommt Jost verhältnismäßig selten vor.131 Es sollte bis zu Graetzens eigener historiographischer Etablierung und dem XI. Band der Geschichte dauern, bis er sich zu einem abgewogeneren Urteil über seinen 1860 verstorbenen Vorgänger durchringen konnte und vor allem dessen Verdienst um die Weckung eines historischen Bewusstseins würdigte. Seinen Hauptvorwurf gegen dessen Geschichtsschreibung machte er freilich auch hier in aller Schärfe deutlich: Jost habe bloß „eine Leidens- und Gelehrtengeschichte“ verfasst, er habe sie in „eine Geschichte der Juden des Morgenlandes und des Abendlandes und in noch kleinere, unzusammenhängende Bruchstücke zerbröckelt. […] Sein nüchterner Sinn sah in der Geschichte nur eine Anhäufung von Zufälligkeiten, die keinem Gesetze unterliegen.“132 Graetz hingegen erblickte in der Geschichte vorwaltende Gesetze und war willens, sie auch zu zeigen (hierzu die drei folgenden Kapitel). Darüber 130 In seiner Erregung bediente er sich eines reichlich schiefen Bildes: Jost habe „gewaltige Böcke geschossen, und diese sollen nun auf die Jagd getrieben werden.“ Tagebucheintrag [Oktober/November 1839]; Graetz, TB, 73; eine Veröffentlichung dieses Verrisses ist nicht nachzuweisen. 131 Vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), VII: „Seit den drei Decennien, seitdem die Geschichte der Juden zum letzten Male eine umfassende Bearbeitung erfahren hat, […], sowie Geschichte V (1860), VI: „Die neueste ‚Geschichte des Judenthums‘ habe ich nicht benutzt, weil ich mich nur an primäre Quellen halte.“ – Beide Vorworte fielen mit den jeweiligen Zweitausgaben 1866 und 1871 weg. 132 Graetz, Geschichte XI (1870), 454–457, Zitat 456. – Für die Volksthümliche Geschichte bearbeitete er die Ausführungen zu Jost noch einmal in abmildernder Weise; vgl. Bd. III10 (1922), 594 f.

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hinaus bedingte seine Absicht zu wirken eine Darstellungsform, die künstlerische Mittel nicht scheute und durchaus emotional ansprechen sollte. Denn in der emotionalen, packenden, nicht bloß erbaulichen Qualität jüdischer Geschichte sah er einen ihrer herausragendsten Vorzüge: „Alle historischen Reminiszenzen,“ so hatte er einst gegen Kempner Rabbiner Samuel Holdheim gewettert, „die mit gewaltiger Macht, mir das Herz ergreifen und mir die ganze Glorie der jüdischen Vergangenheit verlebendigen, strahlend machen u. mir die Wollust des Schmerzes eintröpfeln, alles dieses ist dem frechen Kempner ein Greuel, eine Fabel.“ Gegen Jost erhob er ähnliche Vorwürfe.133 In Graetzens Wirkungsabsicht lag vielmehr eine die Sinne und Emotionen ansprechende Darstellung, und eine immer wieder sich dramatisch zuspitzende Fabel war damit Teil seiner Strategie, als Historiker wie als Erzähler. Entsprechend notierte er während seiner Zeit in Ostrowo befriedigt die Wirkung auf die Rabbinerstochter Marianne, als er ihr von seinen Studien erzählt hatte: „Yesterday I told her out of the story of the Jews, and she wept very much.“134 Die Erweckung von Empathie, von Miterleben mit dem dargestellten Gegenstand, war also für Graetz ein zentrales Anliegen. Doch wie schon seine an pietistische Frömmigkeit gemahnende Formulierung von der „Wollust des Schmerzes“ andeutet, wohnte diesem Mitleiden ein eminent aktiver Zug inne. Es handelte sich weniger um den Schmerz über erlittene Verfolgungen, als vielmehr um eine stolze Identifizierung mit der wider alle Anfeindungen erwachsenen und behaupteten Größe.135 Bevor jedoch die Frage nach der Bedeutung von Leiden für das Graetzsche Geschichtsbild eingehender erörtert werden soll, sei die formale Struktur seiner Historiographie kurz beleuchtet, da sich hieraus einige Einsichten in die Argumentations- und Darstellungsweise sowie ihre Bedeutung gewinnen lassen. Formal war die Geschichte der Juden chronologisch aufgebaut. So naheliegend ein solcher Zugang für ein Geschichtswerk sein mag, er bedarf gleichwohl einer bestimmten Ordnung, die ihrerseits wiederum durch ihre Akzentsetzungen und Ausblendungen Sinnstiftung betreiben kann. Graetz hatte dies ja bereits in seiner Construction vorgeführt. Wenngleich er 1846 die von ihm gesuchte Essenz jüdischer Identität nur behauptet, nicht aber herausgearbeitet hatte, so konnte jene „Skizze“ des ungeachtet als Leitfaden gelten, der für eine zusammenhängende Gesamtgeschichte ge133 Tagebucheintrag [4.6.1845]; Graetz, TB, 144 ff, Zitat 146. Vgl. Graetz, Geschichte XI (1870), 456. 134 Tagebucheintrag [5.3.1841]; Graetz, TB, 103 f, Zitat 103. 135 Nach Thomas Macho handelt es sich bei einem solchen Narrativ um eine von drei klassischen Erzählstrukturen von Literatur in identitätsstiftender Absicht: Phantome der Nation. – Jedoch dürfte der Archetypus für diese Strategie nicht im Kreuzestod Jesu liegen sondern vielmehr in der Bindung Isaaks (Gen 22).

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taugt hätte.136 In der Forschung ist denn auch immer wieder angedeutet oder sogar behauptet worden, die Construction stelle eine Art Programm für das spätere Geschichtswerk dar.137 Wie gezeigt, hatte 1846 von einer bewussten Programmatik für ein so ehrgeiziges Projekt keine Rede sein können. In den ereignisreichen Jahren der Zwischenzeit hatte sich Graetz überdies in seinen Ansichten und Fähigkeiten weiterentwickelt, so dass ein Anknüpfen an jene ältere Schrift ohnehin nur mehr partiell möglich war. Freilich erfolgte auch keine dezidierte Abwendung. Noch in den ersten Einleitungen finden sich immer wieder Anspielungen auf die Denkmodelle der Construction.138 Doch je länger Graetz an dem Werk arbeitete, desto schwächer wurden die Bezüge auf seine geschichtsphilosophische Skizze, die übernommenen Teile ihrer Periodisierung verblassten mehr und mehr. Die explizite Periodisierung in geschichtsphilosophischer Absicht, wie sie etwa in den Zwischenüberschriften deutlich wurde, ließ nach; desto stärker rückte der von den Zwängen des Narrativs diktierte Fluss der Erzählung in den Vordergrund. Graetzens Sinnstiftung konzentrierte sich mehr und mehr auf die implizite Strategie durch den Text. Wahrscheinlich ist es dieser Eigendynamik geschuldet, dass am Ende ein Werk mit der ungewöhnlichen Anzahl von elf Bänden in dreizehn Teilbänden stand. Wie es dazu kommen konnte, zeigt die Entwicklung der einzelnen Großüberschriften. Die Erstausgabe des zuerst erschienenen IV. Bandes (1853) firmierte noch als Beginn des „Dritten Zeitraumes der jüdischen Geschichte“, bestehend aus der Geschichte „Vom Untergange des jüdischen Staates bis auf die neueste Zeit. Von 70 bis 1850 nach der üblichen Zeitrechnung“ – und damit eben aus dem dritten Zeitraum, wie er auch von der Construction entworfen worden war. Die in der Einleitung dargelegte Periodisierung folgt den ursprünglichen Bahnen und unterteilt diesen Zeitraum in drei Teile, deren erste, „talmudische Periode“ bis zum Ende der babylonischen Akademien (1040) gereicht habe; eine zweite, „rabbinisch-philosophische Periode“ habe sich im Westen abgespielt und umfasse die rabbinischen und philosophischen Schulen in Spanien, Frankreich und Deutschland und reiche bis zu ihrer Ablösung durch die Haskalah (1760). Die dritte, „philosophisch-kritische Periode“ schließlich sollte die verbleibenden neunzig Jahre seit Mendelssohn behandeln. Wie erinnerlich behandelte dieser Band indes nicht die ganze „talmudische Periode“, sondern lediglich dessen erste 136 Graetz nimmt in seinen Einleitungen immer wieder einzelne Wendungen aus der Construction auf, vor allem die Unterscheidung in eine „vorexilische“ und eine “nachexilische“ Geschichte, was freilich kaum bewusst geschehen sein dürfte; ein expliziter Bezug auf die Construction findet jedenfalls nicht statt. Vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), 5 f; Geschichte III (1856), 1–4; Geschichte V (1860), 5; Geschichte XI (1870), VII. 137 So vorsichtig Meisl, Graetz, 36. 138 Vgl.etwa Graetz, Geschichte V (1860), 2.

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Hälfte bis zum Abschluss des Talmuds (ca. 500 n. d. Z.): Bei der Kapitelgliederung folgt Graetz prinzipiell der Traditionsliteratur und ihrer Zählung einzelner Generationskohorten von Gelehrten: Er besteht also aus der Epoche der Tannaim (70–200) und der Epoche der Amoraim (200–500).139 Diese Gliederung lässt es plausibel erscheinen, dass in der ursprünglichen Konzeption des Werkes das Ganze eine andere Gestalt hätte haben sollen, was durch die ästhetisch wenig befriedigende Anzahl von elf bzw. dreizehn Bänden unterstrichen wird. Es steht zu vermuten, dass die Geschichte der Juden ursprünglich wohl acht Bände hätte haben sollen, wobei sich aus den Angaben in dem ersten erschienen Band auf folgendes Schema schließen lässt: Da die „talmudische Zeit“ mit Band IV beginnt, bleiben drei Bände für die „vor-“ und „nachexilischen“ Zeiträume (womit Graetz bereits ganz offen von einer strengen hegelianischen Gliederung in Dreierschritten abgewichen war). Der „diasporische Zeitraum“ teilte sich nach Ausweis der Gliederung von 1853 in drei Perioden auf, die aus je zwei bzw. im letzten Falle aus einem Bande hätten bestehen sollen: Die gerade begonnene „talmudische Zeit“ hatte er in jenem Band bloß bis zur Hälfte behandelt, der Folgeband sollte also bis zum Untergang der Akademien in Babylonien reichen. Die folgende, in Europa konzentrierte Periode des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hätte mit dem Schwerpunkt Spanien wohl gleichfalls auf zwei Bände rechnen dürfen. Für die Zeit seit der Aufklärung mit dem Schwerpunkt auf Mendelssohn und Deutschland schließlich hätte mutmaßlicherweise ein einziger Band ausgereicht. Diese zugegebenermaßen spekulative Überlegung ist insofern erhellend, als gerade vor diesem Hintergrund die tatsächliche Textgeschichte zeigt, wie der Narrativ seine eigene Dynamik entwickelte und die Periodisierung weiter schwächte: Band V konnte das gesteckte Ziel zwar noch erfüllen, verzichtete aber trotz entsprechender Gliederung vollends auf die inhaltliche Gliederung nach Saburäern und Geonim, eine entsprechend überleitende Einleitung fehlte. Stattdessen erstrecken sich die Kapitel zum entstehenden Islam über beide Epochen, und ein Bezug zu Europa findet hier bereits statt: Die ursprüngliche, an Gelehrtenviten orientierte Gliederung bot nur mehr einen lockeren Rahmen für eine vielmehr an Geistes- und Kulturgeschichte orientierte Geschichtserzählung. Je weiter das Gesamtwerk voranschritt, desto stärker geriet es aus den zu Beginn vorgesehenen Bahnen. Der mutmaßlicherweise ursprünglich bis zur Vertreibung aus Spanien (1492) gedachte Band VI erreichte gerade einmal den Tod Maimonides’ (1204), und auch der Nachfolgeband, der dieses 139 Graetz, Geschichte IV (1853), 1, 6 und 9. – Die Einteilung der Gelehrten folgt im Wesentlichen Abraham Ibn Dauds Sefer ha-Kabbalah (1160/61), wenn auch mit einigen kleineren Abweichungen bei der Zuordnung der einzelnen Rabbinen.

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Ziel sogar im Titel trug, erreichte nur das Jahr 1370, so dass hier mit einer neuen Periodisierung auch eine weitere Einleitung nötig wurde. In Graetzens ursprünglicher Konzeption, wie er sie in Band IV dargelegt hatte, hatte es den hiermit markierten Einschnitt noch in keiner Weise gegeben. Damit nicht genug, Graetz gab hier seine Dreierperiodisierung erstmals vollends auf. Der dritte Zeitraum endete nun mit dem Auftreten Mendelssohns – die Zeitgeschichte wurde damit notgedrungen zu einem neuen, einem vierten Zeitraum. Damit gab der Historiker nicht allein eines der stärksten Strukturprinzipien seiner bisherigen Arbeit auf, darüber hinaus wurde hier vollends deutlich, dass eine geschichtsphilosophisch-idealistische Konstruktion gegenüber dem Eigengewicht des historischen Quellenmaterials im Rahmen eines Narrativs dieser Ausmaße an ihre Grenzen stieß. Die Materialmengen einer großen historischen Meistererzählung ließen sich nicht mehr in ein überkommenes Schema pressen, doch erschien die Bildung einer neuen Einteilung auch nicht mehr dringend genug, um eine deutliche Umstrukturierung des Textes zu erzwingen. Dies ist angesichts der so neu bewerteten Periode umso beachtlicher, als Graetz selbst der Zeit zwischen Maimonides und Mendelssohn eigentlich nur wenig Positives abgewinnen mochte. Diese „dritte Periode“ firmierte denn auch nur als „Periode der rückläufigen Bewegung zur Unkultur und des allmälichen Verfalls in der jüdischen Geschichte“. Desungeachtet bedeutete dies eine immense Aufwertung, da die Zeit nach der Vertreibung aus Spanien in der Construction ebenso wie in dem ersten Periodisierungsentwurf noch weitestgehend ignoriert worden war; nun aber fungierte sie zwar vorerst nur als Übergangszeit ohne jede Charakterisierung, aber doch als eigenständige „Epoche“.140 Im nächsten Band schließlich gewann sie sogar den Rang einer eigenen „Periode“ – bezeichnenderweise aber ohne jeden Kommentar. Die Bände VIII bis X umfassten nun eine eigene, eine vierte Periode, die aber in keiner Weise mehr erläutert wurde.141 Diese plötzlich auftauchende Abgrenzung hätte jedoch allein schon deshalb einer Explikation bedurft, da sie zwei Bände 140 In seiner Untergliederung der Periode fällt auf, dass erstmals die Eckpunkte bestimmend sind, während er sich bislang in seinen Periodisierungen um eine inhaltliche Bestimmung bemüht hatte; dies lässt sich wohl als weiteres Indiz für die schwindende Relevanz einer geschichtsphilosophischen Füllung lesen: „Erste Epoche: Von Maimuni’s Tode bis zum Beginne der systematischen Erniedrigung der Juden in Spanien, 1205–1370. Zweite Epoche: Von dieser Zeit bis zur Vertreibung der Juden aus der pyrenäischen Halbinsel sammt ihren Nachwehen, 1370–1496. Dritte Epoche: Von dieser Zeit bis Mendelssohn oder bis zum Beginne der Emancipation und der Wiederverjüngung der Juden, 1496–1780.“ Geschichte VII (1863), 4. 141 Die Überschriften der einzelnen Bände hierzu lauten: Bd. VIII (1864): „Epoche des gesteigerten Elends und Verfalls“ (ca. 1348–1496); Bd. IX (1866): „Epoche neuer Wanderungen und Ansiedelungen“, bezogen auf die Zeit 1496 bis „zur dauernden Ansiedelung der Marranen in Holland (1618)“, sowie Bd. X (1868): „letzte Stufe des innern Verfalls“, bezogen auf die Zeit bis Mendelssohn (1760).

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voneinander separierte, die ursprünglich als zwei Teile eines einzigen konzipiert waren und immer noch als Geschichte der Juden von Maimuni’s Tod (1205) bis zur Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal. Erste und Zweite Hälfte firmierten. Der Verdacht liegt nahe, dass für Graetz diese Art von sinnstiftender Periodisierung keine große Bedeutung mehr hatte.142 Ein solcher Schluss wird gestützt durch eine geradezu absurd anmutende Beobachtung. 1866, im gleichen Erscheinungsjahr wie Band IX, kam eine überarbeitete zweite Auflage des IV. Bandes auf den Markt. Da Graetz jene ursprüngliche Periodisierung der diasporischen Geschichte in der Erstausgabe vorgenommen hatte, hätte sich hiermit nun der Kreis der Periodisierungsversuche schließen können, sofern der Historiker den alten Text einfach den sich neu ergebenden Einteilungen angepasst oder auch diesen Schluss der Einleitung gänzlich weggelassen hätte. Vermutlich um seinen Lesern den Überblick zu erleichtern und zu ihrer besseren Orientierung behielt Graetz jedoch die einleitende Periodisierung der diasporischen Geschichte bei und verbalisierte damit weiterhin das Gefüge des Textes.143 Allein die hier nun verwendete Periodisierung entsprach keineswegs der in den vorausgegangenen Bänden V bis X entwickelten, ungeachtet einiger Modifikationen. Zwar ließ er auch hier den großen Zeitraum der Geschichte der Diaspora mit Mendelssohns Auftreten enden, so dass der Gegenwart ein ganz eigener Stellenwert zukam. Doch statt der vier Einzelperioden innerhalb dieses „dritten Zeitraumes“, wie sie sich mittlerweile herauskristallisiert hatten, behielt er hier die ursprünglichen drei bei, die überdies auch in der Datierung von denen innerhalb der jeweiligen Bände abwichen. Einfache Druckfehler können dies nicht bedingt haben – in den beiden noch folgenden Auflagen sollte Graetz ebenso wenig daran ändern wie die postumen

142 Dies legt auch eine Chronologische Tabelle für die Geschichte und Literaturgeschichte der Juden von der Makkabäerzeit bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal nahe, die als Anhang zum VIII. Band 1864 erschien; sie verzichtete auf jede weitere Unterteilung und unterscheidet einfach zwischen „vorchristlicher“ und “nachchristlicher Zeit“; vgl. Geschichte VIII (1864), 482–496. – Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedliche Zeitrechnungsbenennung; denn während Graetz hier wie bei ihm zunehmend üblich von „christlicher“ Zeitrechnung spricht, hatte er im IV. Band 1853 von der „üblichen Zeitrechnung“ gesprochen, eine Formulierung, die er auch für die weiteren Bände nicht änderte. Die Frage tauchte später noch einmal im Kontext der hebräischsprachigen Übersetzung auf. Graetz stimmte mit seinem Übersetzer, Saul Pinchas Rabinowitz (1845–1910) darin überein, dass die christliche Chronologie „entweder gar nicht, oder nur nebenher gesetzt werden“ dürfe und plädierte für eine Datierung nach der Babylonischen Gefangenschaft bzw. dem Bau des ersten Tempels. Brief von Graetz an Rabinowitz vom 18.5.1888; Graetz, TB, Nr. 279, 436 ff, Zitat 437. 143 Zu ähnlichen Strategien bei Schlosser vgl. Stegmüller, Popularisierungsstrategien, 206.

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Herausgeber auf Grund des nachgelassenen Materials.144 Die Folge war also, dass innerhalb des sich weiter ausgestaltenden und schließlich immer wieder neu aufgelegten Gesamtwerkes Geschichte der Juden zwei unterschiedliche, einander widersprechende Periodisierungsmodelle nebeneinander existierten. Dass Graetz also selbst bei scheinbar so zentralen Aspekten wie seiner expliziten, geschichtsphilosophisch grundierten Periodisierung den Text nur in sehr eingeschränktem Maße überarbeitete, deutet auf zweierlei hin: Zum einen belegt es, in welchem Maße Graetz an dem einmal erreichten und festgeschriebenen Textbestand festhielt; zum anderen – und damit zusammenhängend –, dass er die geschichtsphilosophische Periodisierung diesem Textbestand, dem Fluss des Narrativs, letztlich unterordnete. Abgesehen von dem wohl bloß veranschaulichenden Überblick in der Einleitung zu Band IV bedeutet dies letztlich die Abkehr von dem idealistisch geprägten Denkmodell der Construction und die Unterordnung der geschichtsphilosophischen Sinnkonstruktion unter die historiographische Meistererzählung. Neben der Gliederung durch zeitliche Periodisierung wurde die Geschichte der Juden (wie etwa auch bei Jost und Cassel) auch durch die Abfolge verschiedener geographischer Zentren jüdischen Geisteslebens strukturiert.145 Freilich war dies nicht zuletzt angesichts der gewaltigen geographischen Extension jüdischer Geschichte in der Diaspora notwendig. Doch im Unterschied zu seinen Vorgängern gelang es Graetz, die einzelnen Teile und Abschnitte sinn- und wirkungsvoll miteinander zu verknüpfen. Seine wichtigsten Darstellungsstrategien waren dabei die Dialektik und die Vorstellung wandernder Zentren. Insbesondere langwierige Auseinandersetzungen um Spezialfragen wie etwa zwischen Sadduzäern und Pharisäern in der Zeit des Zweiten Tempels, zwischen Rationalisten und Traditionalisten nicht nur im Streit um die Schriften des Maimonides oder aber auch in seiner Gegenüberstellung von Sabbatianismus und Spinozismus vermochte er durch eine deutlich dialektische Stilisierung in eine spannungsreiche Beziehung zueinander zu stellen. Ähnlich wie in seinen populären Jahrbuch-Beiträgen griff er auch hier immer wieder zu aktualisierenden Vergleichen mit einem Bezug entweder zur Gegenwart oder aber zu Ereignissen 144 Die zweite „rabbinisch-philosophische Periode“ endet statt mit dem Tod Maimonides’ ungefähr mit dem Ausbruch der maimonidäischen Kontroverse 1230, während das Ende des Gesamtzeitraumes zwar ebenfalls „mit dem Hereinbrechen der neuen Zeit unter Mendelssohn“ begründet wird, doch wird dieses hier nicht 1760 angesetzt, sondern dreißig Jahre später. Vgl. Geschichte IV2 (1866), 1–6; IV3 (1893, Ed. Rosenthal), 1–5; IV4 (1908, Ed. Horowitz), 1–5. – Der XI. Band (1870) sollte mit 1750 noch eine dritte Jahreszahl für den Beginn des Vierten Zeitraumes einführen; diese Abweichungen in der Datierungen sind weder von Graetz noch von einem Späteren jemals thematisiert worden. 145 Zu Graetzens methodologischen Überlegungen hierzu vgl. Talmudische Chronologie, 509, wo er in Anknüpfung an eine Redewendung von Chronologie und Geographie als den „beiden Augen der Geschichte“ spricht.

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aus der christlichen Geschichte, die bei seinen Lesern eher bekannt gewesen sein dürften.146 Der Problematik der geographischen Extension begegnete er mit der Abfolge einzelner Zentren des Geschehens, auf die sich seine Darstellung fokussierte und die er mittels der Denkfigur der translatio in einen sinnvollen Zusammenhang setzte. Dieses Modell, das im 20. Jahrhundert wesentlich ausgefeilter von Simon Dubnow eingesetzt werden sollte,147 basierte ebenso auf Hegels Vorstellung des wandernden Weltgeistes,148 wie es Graetz mitunter aus seinen Quellen gewinnen konnte, wo diese ihrerseits aus einer historischen Traditionsbildung auf Sinnstiftung für die Gegenwart abzielten: Dies gilt etwa für die Abrahamserzählung zur Zeit der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil ebenso wie für die rabbinischen Überlieferungsketten. Vielleicht am deutlichsten wurde diese Technik bei Graetzens Darstellung eines Überganges der gelehrten Suprematie im 10. Jahrhundert vom babylonischen Judentum hin zu den europäischen, insbesondere spanischen Talmudschulen. Graetz konstruierte hier in der Geschichte eine solche translatio, indem er die Geschichte von den Vier Gefangenen aus Abraham Ibn Dauds Sefer ha-Kabbalah (1160/61) übernahm und sie als Illustration für den bei ihm konstatierten, letztlich welthistorischen Ablösungsprozess der alterwürdigen babylonischen Talmudgelehrsamkeit durch die aufstrebenden Schulen im Westen nutzte. Dieser eher strukturierende als essentielle Charakter der Erzählung brachte es mit sich, dass er sich von ihr nicht zu trennen brauchte, auch nachdem die Forschung ihren legendenhaften Charakter erkannt hatte.149 Und selbst in den gelegentlich eingestreuten „Rundblicken“ vermochte Graetz mittels seiner Quellen Kohärenz zu ermöglichen, wie das etwa die Kapitel acht und neun des VI. Bandes zeigen; gerade diese sollte sich später Simon Dubnow in polemischer Absicht herausgreifen, um Graetzens „Synchronismus“ bei der Behandlung der jüdischen Gemeinden rund um das Mittelmeer mangelnden Zusammenhang vorzuwerfen; dabei unterschlug der Autor der Weltgeschichte des jüdischen Volkes jedoch, dass Graetz bei seinem Rundblick lediglich dem Reisebericht des Benjamin von

146 So explizit etwa auch in Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, 158, wo er die Auseinandersetzungen im Hasmonäer-Staat mit England des 16. und 17. Jahrhundert vergleicht. 147 Vgl. Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Einleitung. – Für den Hinweis auf diese Denkfigur danke ich Anke Hilbrenner, Bonn. 148 Vgl. etwa Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 272 f. 149 Graetz, Geschichte V (1860), 7 f (indirekt, aber durchaus mit Anspielung auf den legendenhaften Charakter) und 393; die narratologische Funktion dieser Legende wird noch dadurch unterstrichen, dass Graetz wiederum in der Construction an der entsprechenden Stelle ohne sie auskommt: Hier bedurfte es keines solchen Bindegliedes. Vgl. Graetz, Construction, 377/76 f/50. – Vgl. Cohen, Critical Edition; zum Geschichtsbild hier besonders 189–262.

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Tudela gefolgt war, einer bis heute so zentralen Quelle, dass auch Dubnow seine entsprechenden Kapitel auf diesem aufbauen sollte.150 Angesichts der immensen Probleme, den eine bei den biblischen Zeiten anfangende Gesamtgeschichte des Judentums schon allein auf Grund ihrer schieren zeitlichen und räumlichen Extension an ihren Autor stellte, blieben die erzählerischen Möglichkeiten begrenzt, das entscheidende Problem war stets die Handhabung der Hauptfaktoren Zeit, Raum und Gehalt. Graetz kam hierbei der Verdienst zu, als erster Historiker die Verbindungslinien zwischen den geographisch verstreuten Zentren aufzuzeigen und strukturierend einzusetzen, womit er im Verlauf der Geschichte der modernen jüdischen Geschichtsschreibung eine allmähliche, aber nachdrückliche Schwerpunktverlagerung hin zur thematischen Bündelung einleitete. Wenngleich solche Darstellungsstrategien stets starke Stilisierungen bedingten und die einer historischen Linie folgende Darstellungsweise mitunter die feinen Differenzierungen im Detail vermissen ließ, so ermöglichten sie doch eine zusammenhängende (und nicht zuletzt eben sinnstiftende) Lektüre einer Geschichtsschreibung, deren Gegenstand sonst vermutlich für ein Großteil seiner Leser ob seiner Fremdheit wenig anziehend und interessant geblieben wäre. Ohne solche Mittel wäre Graetzens Geschichte vermutlich ähnlich wirkungslos in der Breite geblieben wie eben die Werke seines Vorläufers Jost. Eine Popularisierung seines Bildes von jüdischer Identität wäre so kaum möglich gewesen.

3.4 Methoden der Sinnstiftung War die Konzeption der Geschichte ungeachtet aller Modifikationen im Verlaufe ihrer Entwicklung darauf angelegt, die Geschichte der Juden als einen sinnhaften und sinnstiftenden Zusammenhang darzustellen, so wirft dies unweigerlich die Frage nach der zugrunde liegenden Methodik sowie nach dem diesem Zusammenhang innewohnenden Gehalt, den ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten auf. Methodisch war Graetz durchaus Kind seiner Zeit. Wenn Heinrich von Sybel in seiner Einleitung zum ersten Heft der Historischen Zeitschrift als Schwerpunkte die Rechts- und Verfassungsgeschichte, die Literatur- und Kirchengeschichte sowie die politische Geschichte als 150 Dubnow, Weltgeschichte I, XXVIIf mit Anm. 1; Dubnow selbst schlägt hier eine Kombination aus Ort, Zeit und Gehalt als Alternative vor, die sich freilich auf dieser theoretischen Ebene nicht als andersartig herausarbeiten lässt. Zu Dubnow allgemein vgl. die Arbeiten von Anke Hilbrenner. – Dieser Eindruck wird freilich durch die Quelle selbst wenigstens nahegelegt, die zwar für Graetz und Dubnow als Reisebericht galt, tatsächlich aber eine enzyklopädische Übersicht des Judentums im späten zwölften Jahrhundert darstellt; vgl. Pyka, Judentum.

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Schwerpunkte des neuen Organs nannte,151 so waren dies Themenstellungen, die sich prinzipiell (unter Berücksichtigung der mit den dem Thema geschuldeten Akzentverlagerungen) auch in der Geschichte der Juden mehr oder minder ausführlich behandelt wiederfinden. Wenn es seinem Argument half, berücksichtigte Graetz allerdings beispielsweise auch sozial- und wirtschaftshistorische Fragen,152 und mit zunehmendem Eifer begeisterte er sich insbesondere für Münzen als historische Quellen.153 Eine umfassende Analyse von Graetzens methodologischem Ansatz und seiner Quellenarbeit ist hier freilich nicht erforderlich. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem ein Aspekt. Wie bereits verschiedentlich (und zumeist kritisch) festgestellt worden ist, bringt Graetz in der Geschichte keine Darlegung seiner Methodik oder seines Ansatzes. Nur sehr vereinzelt nimmt er den Leser auch im Haupttext gleichsam an die Hand und gewährt ihm einen kurzen Einblick in seine quellenkritische Arbeit.154 Die weitestgehende Vermeidung von methodologischen Erläuterungen in der Geschichte hat aber nicht mit einem grundsätzlichen Mangel an Bewusstsein für die entsprechenden Fragen zu tun, wie ein Blick in verschiedene seiner zahlreichen und parallel zur Geschichte veröffentlichten Aufsätze zeigt. Allerdings liegt hier der Schwerpunkt jeweils auf Fragen zu den behandelten spezifischen Epochen.155 Seine Vermeidung einer ausführlicheren Rechenschaft zu Methode und Ansatz im Haupttext der Geschichte ist wohl vielmehr auf die popularisierende Intention zurückzuführen, die auf die Präsentation eben eines kohärenten, kontinuierlichen und sinnstiftenden Narrativs abzielte. Dieses Vorgehen ist freilich keine Besonderheit von Graetz, entsprechende Reflexionen bringen weder Zeitgenossen wie Mommsen oder Sybel noch etwa Graetzens 151 Vgl. Sybel, Vorwort, IV. 152 Vgl. exemplarisch Graetz, Geschichte VII4 [o. D.], 282–285. 153 Vgl. etwa die umfangreiche Note 30 zu den judäischen Münzen der nachexilischen Zeit; Geschichte III4/2 (1888), 819–841. – Theodor Mommsen hatte mit seiner Geschichte des römischen Münzwesens bereits in den 1850er Jahren „der Numismatik ganz neue Dimensionen“ erschlossen und damit „die moderne Geldgeschichte“ begründet; vgl. Rebenich, Mommsen, 59. 154 Vgl. etwa Graetz, Geschichte IV (1853), 108. 155 So kann etwa seinen Jüdisch-geschichtlichen Studien im ersten Band der Monatsschrift durchaus der Rang einer methodologischen „Enzyklopädie“ des wissenschaftlich-historischen Umgangs mit talmudischen Quellen beigemessen werden. Vgl. Graetz, Jüdisch-geschichtliche Studien, hier v. a. 112–115, 157 f, 161 f, oder auch ders., Talmudische Chronologie. – Es sei darauf verwiesen, dass beispielsweise auch Dubnow eine solche Rechenschaft in seiner Weltgeschichte nur am Rande (und in Auseinandersetzung mit dem immer noch populären Graetz) abgelegt hat, aber dafür ausführlich in einem Beitrag für das Jüdische Lexikon zum Thema Konzeption und Methodologie jüdischer Geschichtsschreibung. Graetz hat zwar zu seinen Lebzeiten anscheinend ein vergleichendes Enzyklopädie-Projekt gefördert, doch konnte es erst nach seinem Tode mit der Jewish Encyclopedia erstmals verwirklicht werden, wobei es wohl kein Zufall ist, dass mit Gotthard Deutsch einer seiner Schüler federführend daran beteiligt gewesen war.

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Vorgänger Jost oder sein Nachfolger Dubnow; vielmehr handelt es sich dabei um ein Kennzeichen solcher Meistererzählungen.156 Immerhin ein Mal hat Graetz diesen Prozess der Erschaffung einer Meistererzählung auch für ein breiteres Publikum veranschaulicht, wenn auch bezeichnenderweise nicht im Rahmen der Geschichte, sondern in einem biographischen, populär gehaltenen Almanach-Beitrag von 1856. In einer Art allegorischem Prolog ließ er hier die beiden „Schwestern“ Geschichte und Dichtkunst auftreten, die erst gemeinsam dem bloßen, toten Stoff Leben zu geben vermögen. In diesem launigen Text stellte der Historiker gleichsam Ideal und Wirklichkeit des historiographischen Schaffens gegenüber. Während eine solche Belebung idealerweise durch den „Pygmalionskuß“ der Poesie geschehen solle, sehe gerade im Falle der jüdischen Geschichte die Wirklichkeit hässlich anders aus: Die Dichtkunst „müßte [ihr Material] erst aus schweinsledernen [!] Folianten aufsuchen, aus trockenen Notizen in allen Sprachen des Abend- und Morgenlandes zusammenraffen, ehe sie Gebein an Gebein zu einem Gebilde fügen, ihm Fleisch und Haut ansetzen, Odem einhauchen und zurufen könnte: ‚Stehe auf deinen Füßen!‘“157 Anstelle einer schönen Galathee sei also bloß ein Golem entstanden. Daher bedürfe die Poesie der fachmännischen Unterstützung – es tritt auf: der Historiker höchstselbst! Als allwissender Erzähler, der sich in Auktorialen immer wieder an sein Publikum wendet, tritt er in der Folge dieses Aufsatzes immer wieder in Erscheinung, gibt Vorausdeutungen und Rückschauen – und gesteht gelegentlich mit einem Augenzwinkern ein, dass für weitergehende Schlüsse selbst sein Wissen nicht ausreiche.158 Solche Auktoriale („wir wissen“, „wir sehen“ u. ä.), die die Aufmerksamkeit des Lesers gleichsam lenken, sind ebenfalls sogar ein wesentlicher Bestandteil der Argumentation der wissenschaftlichen Noten im Anhang zur Geschichte, womit Graetz auch hier seine mitunter subtilen Ausdeutungen und gewagten Konjekturen im Text dem Leser transparent zu machen sucht. Bemerkenswerterweise finden sie sich jedoch im Haupttext nur sehr vereinzelt – und im Wesentlichen auf die mutmaßlich zeitnah zu jenem Aufsatz entstandenen Teile von Band V begrenzt.159 Graetz zog es offenkundig vor, ein solches, scheinbar populäres Mittel nur im wissenschaftlich-philologischen Teil anzuwenden, während der popularisierende Haupttext sich eher einer objektiven, geradezu 156 Vgl. auch Stegmüller, Popularisierungsstrategien, 207. 157 Graetz, Don Joseph, Herzog von Naxos, 1. 158 Freilich nicht, ohne im folgenden Absatz genau jene Schlüsse nahezulegen, für die er doch eigentlich keine Belege habe. Vgl. Graetz, Don Joseph, 1 f und 4. 159 Vgl. Geschichte V (1860), 11, 24, 37, 41, 42, 55 sowie 293; Geschichte VI (1861), 167; in der dritten Auflage von Band III (1878) noch 72 als Einschub. Weitere solche Auktoriale sind mir im Haupttext der zu Graetzens Lebzeiten herausgekommenen Bände nicht aufgefallen, doch kann ich ihre Existenz nicht gänzlich ausschließen.

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olympischen Perspektive bediente. Diese war weit mehr geeignet, ungeachtet all der offenen Fragen und dunklen Aspekte, die Graetz mitunter auch im Haupttext nicht kaschieren mochte, den Anspruch einer ewigen Wahrheit zu erheben und aufrechtzuerhalten. Freilich waren es nicht bloß darstellerische Mittel, die die Geschichte der Juden zusammenhielten. Nicht zuletzt waren es jene bereits angesprochenen Gesetze, die Graetz als dieser Geschichte inhärent ansah. Sie waren es letztlich, die jenes Wesen des Judentums mit Gehalt füllen sollten, worum es ihm an erster Stelle ging. Damit aber ermöglichten sie überhaupt erst das identifikatorische Potential des Geschichtswerks, das dann durch den Einsatz der erzählerischen Mittel popularisierend-wirkungsmächtig dargestellt werden konnte. Einen besonders exponierten Rang hierfür kam der Einleitung zum ersten erschienenen Band IV zu, und Graetz nutzte diese Stelle denn auch in entsprechend programmatischer Absicht: „Dieses ist der achtzehnhundertjährige Zeitraum der Zerstreuung“, so hob er an, ein Zeitraum „der beispiellosen Leiden, des ununterbrochenen Märtyrerthums, wie es einzig in der Weltgeschichte vorkommt, aber auch der geistigen Regsamkeit, der rastlosen Gedankenarbeit, der unermüdlichen Forschung.“ Und etwas später: Die äußere Geschichte dieses Zeitraums, eine Leidensgeschichte, wie sie kein Volk in diesem gesteigerten Grade, in dieser umübersehbaren Ausdehnung erlitten, die innere Geschichte eine umfassende Literaturgeschichte der Gotteserkenntniß, die aber alle Kanäle aus dem Stromgebiet der Wissenschaft aufnimmt und mit sich vermischt und vereinigt, wie sie wiederum nur Eigenthum dieses einzigen Volkes ist. Forschen und wandern, denken und dulden, lernen und leiden füllen die lange Reihe dieses Zeitraumes aus. […] Denken ist ein eben so charakteristischer Grundzug der Juden geworden, wie leiden.160

Graetz nahm damit zunächst Positionen von Leopold Zunz, vor allem aber von Frankel auf, deren Geschichtsmodell zwischen einer äußeren Geschichte der Verfolgungen und einer inneren des religiösen und geistigen Lebens unterschied161. Auch andere Autoren dieser Zeit vertraten solche Positio-

160 Beide Zitate Graetz, Geschichte IV (1853), 1 ff. 161 Vielleicht am deutlichsten zusammengefasst von Frankel in seiner Einleitung zum ersten Heft der Monatsschrift, wo es hieß: „Das Judenthum, das gegen außen nur eine Geschichte der Passivität hat, nur von dem an ihm Geschehenen zu erzählen weiß, zeugt in dieser Geschichte selbst von um so tieferem inneren Leben, läßt in ihr wahrnehmen eine Manifestation des Göttlichen, eine Offenbarung der Religion. […] gegen außen hatte der Jude keine Geschichte, die Weltereignisse konnten ihn nur schmerzlich ergreifen, er griff nicht in sie ein. Aber auch gegen innen gab es nicht für ihn eigentlich Geschichte, nicht Wechselndes und Vorübergehendes, das der Vergangenheit anheimfalle; sein inneres Leben war Religion, war ein Aufgehen im Göttlichen, für das Raum und Zeit, die Elemente innerhalb welcher sich die Geschichte bewegt, nicht den Maßstab abgeben können.“ Einleitung, 3. – Zunz’ wenigstens in Bezug auf die äußere Geschichte sehr ähnliche Position in Hispanische Ortsnamen, 115.

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nen162. Insofern weicht die Einleitung zum IV. Band zunächst wenig von jenen vorherrschenden Ansichten jüdischer Geschichte ab, und die Verfechter der These von Graetzens Geschichtsschreibung als einer Leidens- und Gelehrtengeschichte berufen sich naheliegenderweise insbesondere auf sie. Zumal Graetz hier ein regelrecht allegorisches „Doppelbilde“ entwarf: Von der einen Seite das geknechtete Judäa mit dem Wanderstabe in der Hand, dem Pilgerbündel auf dem Rücken, mit verdüsterten, zum Himmel gerichteten Zügen, umgeben von Kerkerwänden, Marterwerkzeugen und dem glühenden Eisen der Brandmarkung; auf der anderen Seite dieselbe Figur mit dem Ernste des Denkers auf der lichten Stirn, mit der Forschermiene in den verklärten Gesichtszügen, in einer Studierstube, gefüllt mit einer Riesenbibliothek in allen Sprachen der Menschen, über alle Zweige des göttlichen und menschlichen Wissens.163

Für die zweite Auflage verdichtete er dieses Doppelbild in der Allegorie einer „Knechtsgestalt mit Denkerstolz“.164 Damit war ihm ein sehr starkes Bild für die jüdische Geschichte in der Diaspora gelungen, das die Motive des Gottesknechts aus Deuterojesaja mit der Imaginationskraft der zeitgleich entstehenden Holzschnitte Gustave Dorés für Eugène Sues Juif errant verband. Gleichwohl war dies ein höchst origineller Einfall gewesen, der sich von den bisher gängigen Allegorien jüdischer Geschichte abhob. Diese zeichneten sich in erster Linie dadurch aus, dass sie von Christen kreiert worden waren; jene Bilder waren stets von einer Aura der Unterlegenheit, des Vergangenen und der Trauer umgeben – dies gilt für die blinde Synagoga der mittelalterlichen Kunst ebenso gilt wie für die weinende Prinzessin Berenike auf den Trümmern des zerstörten Jerusalem165. Graetz hingegen war es mit seiner „Knechtsgestalt mit Denkerstolz“ gelungen, ein Bild zu schaffen, mit dem er eine verachtete, weitgehend fremde und wenn überhaupt als hässlich wahrgenommene Geschichte positiv besetzen konnte. Ja, er scheint geradezu Gedanken aufgenommen zu haben, die sich in der Kunst- und Dichtungstheorie seit dem späten 18. Jahrhundert aus den Betrachtungen Johann Joachim Winckelmanns und Gotthold Ephraim Lessings zur griechischen Kunst und besonders zu der berühmten Laokoon-Plastik entwickelt hatten: Leiden und so162 Vgl. Gotzmann, Eigenheit, 141 f. – In seiner Construction hatte Graetz für die „diasporische Phase“ gleichfalls eine solche Unterteilung in äußere passive und aktive innere Geschichte vorgenommen; doch spielte die „äußere“ so gut wie keine Rolle bei seiner Analyse. Vgl. Construction, 132 (49/42 f). 163 Alle Zitate Graetz, Geschichte IV (1853), 1 f. 164 Außerdem – und dies wohl als Reflex auf seine eigene veränderte Arbeitssituation seit der Eröffnung des Breslauer Seminars hatte seine Allegorie die „Studierstube“ durch den „Lehrsaal“ vertauscht. Beide Zitate Geschichte IV2 (1866), 1. 165 Die insbesondere durch Racines Drama bekannt gewordene Figur der Berenike wird denn auch mit Grund von George Eliot in ihrem (von Graetz im Übrigen sehr geschätzten) Roman Daniel Deronda als die Rolle beschrieben, in der der junge Maler Hans Eliots jüdische Heldin Mirah malen will (Kap. 37); zur Synagoga vgl. Weber, Glaube und Wissen.

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gar Schmerz konnten als Ausdruck innerer Schönheit und Stärke gelten, und gerade in dieser äußersten unheroischen Lage konnte sich das Ideal der Individualität entfalten. Hatte in der Klassik diese Imagologie des griechischen Paradigmas dazu dienen können, dem politisch machtlosen Bürgertum Stolz und Selbstbewusstsein zu geben, so entwarf nun Graetz aus einer vergleichbaren politischen Situation heraus seine Allegorie jüdischer Geschichte, um in der Folge eine selbstbewusste Darstellung des Gegenstandes zu geben.166 Die Folge war, dass das Leiden in Graetzens Meistererzählung zwar quantitativ eine große Rolle spielte; mit den Konnotationen von Passivität und Schwäche, wie sie dem Kampfbegriff der Leidensgeschichte innewohnen, hatte dies freilich nichts zu tun. Denn bereits die betonte Bezeichnung der Leidenden als „Märtyrer“ und der besonderen Schwere der von ihnen erduldeten Leiden167 deuten darauf hin, dass Graetz aus passiven Opfern strahlende und letztlich gar triumphierende Überwinder formte. Programmatisch hieß es dementsprechend wenige Jahre später, er beschreibe die zahlreichen Verfolgungen und Vertreibungen im späten Mittelalter „nicht um den Enkeln der gehetzten Schlachtopfer einen Stachel in die Brust zu senken und die Rachegeister wachzurufen, sondern um für die Duldergröße dieses Volkes Bewunderung zu erwecken und die Thatsache zu bezeugen, dass es, wie sein Urahn, mit Göttern und Menschen kämpfte und Sieger blieb.“168 Statt einer Leidensgeschichte bot seine Geschichte auf dieser Textebene gleichsam eine Passionsgeschichte.169 Bei aller Relevanz des Leidensmotivs war es jedoch nicht konstitutiv für Graetzens Geschichtserzählung. Mit fortschreitender Zeit verschoben sich in seinen Schriften zudem die Akzente und entfernten sich mehr und mehr von der Bedeutung des Leidens für das Judentum: Das ursprünglich so zent166 Vgl. Sahmland, Wieland, 49–65 (mit expliziter Verbindung des „griechischen Paradigmas“ mit der Suche nach einer deutschen Identität während des Ancien Régime). – Zur Rolle Laokoons in den ästhetischen Theorien Winckelmanns und Lessings, besonders die emotionale Bewertung vgl. Althaus, Laokoon; Brandt, „stille Einfalt und edle Größe“; Stierle, Bequemes Verhältnis; sowie die Textauszüge von Winckelmann und Lessing selbst (mit Kommentierungen von Georg Stemmrich) in: Gaethgens/Fleckner (Hg.), Historienmalerei, 233–237 (Winckelmann) und 254–259 (Lessing). 167 So etwa gleichfalls in der zitierten Einleitung: „Hat das Judenthum dieses Zeitraums die ruhmreichsten Märtyrer aufzuzählen, neben denen die gehetzten Dulder anderer Völker und Religionsbekenntnisse fast glücklich zu nennen sind“; Graetz, Geschichte IV (1853), 2. 168 Graetz, Geschichte VII (1863), 2. 169 Mit diesem Ansatz unterschied sich Graetzens Geschichte kaum von vergleichbaren Texten – bereits Ernest Renan stellte in seinem berühmten Vortrag Qu’est-ce que une nation von 1882 fest, dass durchstandenes Leiden und vergangene Unterdrückung ein ungleich machtvolleres Identifikationspotential bergen als Erinnerungen an glückliche Tage allein. Vergleichbare Motive sind etwa Bedrohung durch Nachbarstaaten (etwa Türken und Franzosen in Deutschland, Engländer und Burgunder für Frankreich, oder Habsburger und Franzosen in Italien) oder aber auch Unterdrückung durch Fürstenmacht. Vgl. Renan, Nation.

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rale Motiv verblasste mit dem Fortschreiten der Geschichtserzählung. In den einmal geschriebenen Teilen des Gesamtwerkes schlug sich dies kaum nieder, hingegen sind Änderungen im Detail umso signifikanter. So darf man es wohl als richtungsweisend erachten, wenn er 1866 für die zweite Auflage des IV. Bandes aus der zitierten expliziten Leidensgeschichte der Erstausgabe eine „Geschichte von Leiden“ werden ließ.170 In seinen Schriften dieser Jahre finden sich verschiedentlich Stellungnahmen, die zeigen, dass er die Bedeutung des Leidensmotivs für weitaus geringer erachtete, als dies etwa Frankel noch immer tat. Es lässt sich nicht abschätzen, welchen Einfluss der Direktor des Jüdisch-theologischen Seminars auf das konkrete Schreiben seines Dozenten und engen Mitarbeiter ausgeübt haben mag; doch als Graetz 1868 seinem früheren Mentor als Herausgeber der Monatsschrift folgte, hatte sein Verhalten sehr viel von einem emanzipatorischen Akt. In den Briefen dieser Zeit mokierte er sich etwa über die „Schläfrigkeit“ der Monatsschrift, die Frankel „so zahm und langweilig“ gehalten habe, während es doch „vor allem jetzt“ darum gehe, ob „das Judentum untergehen oder ferner bestehen“ werde.171 Geradezu wie ein Affront gegenüber Frankel musste ein Rundbrief wirken, den Graetz im November als neu antretender Herausgeber an die Mitarbeiter verschickte, und in dem er ankündigte, in Zukunft auf „die monotone Geschichte unbedeutender Gemeinden oder die Biographien untergeordneter Persönlichkeiten oder isolirte Martyriologien und Verfolgungsgeschichten“ gänzlich verzichten zu wollen.172 Auch der zweite Teil jenes so gängigen Urteils über Graetz, also die Gelehrtengeschichte, erscheint bei näherer Untersuchung zweifelhaft. Nicht nur im Falle von untergeordneten Persönlichkeiten, auch bei an und für sich zentralen Gestalten der jüdischen Geschichte hat eine exemplarische Analyse der Darstellung in Graetzens Geschichte gezeigt, dass es sich nicht um biographische Porträts oder Charakterisierungen gemäß dem metho170 Graetz, Geschichte IV (1866), 1. 171 Graetz an Halberstamm vom 8.3.1869; Graetz, TB, Nr. 80, 297 f, Zitat 298 („Schläfrigkeit“), sowie an Kirchheim vom 7.2.1869; ebd, Nr. 79, 296 f, Zitat 297. – Den Hintergrund für Graetzens hohen Ton, der sich überdies in einer reichlich martialischen Metaphorik niederschlug, bot eine neuerliche Rabbinerkonferenz in Kassel im August 1868 zur Reform des Gottesdienstes, die allerdings langfristig so gut wie keine Folgen zeitigte; Graetz selbst war Teilnehmer in Kassel gewesen, wie ein Brief an Güdemann vom 21.10.1868 zeigt (gedruckt in Kobler [Hg.], Jüdische Geschichte in Briefen, 237). 172 Der Affront wurde noch dadurch unterstrichen, dass Graetz keinen Gegenentwurf vorlegte, sondern den gesamten Bereich mittelalterlicher jüdischer Geschichte wegfallen lassen wollte; dieser sei mittlerweile weitestgehend „durchfurcht und durchackert“. Graetz, Gedruckter Rundbrief. Breslau November 1868 (JNUL Bibliothek), [1 f]. – In eine ähnliche Richtung geht im Übrigen auch Graetzens Brief an Samuel Kristeller vom 16.10.1885 (allerdings ist das Schreiben ein wenig sauertöpfisch, nachdem Graetz nicht zur Mitarbeit an der Historischen Kommission für die Geschichte der Juden in Deutschland aufgefordert worden war); Graetz, TB, Nr. 236, 406 f, v. a. 407.

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dischen Vorbild Rankes handelt: Durchweg fehlt seinen Protagonisten die Kohärenz ihrer verschiedenen Eigenschaften, aus ihren verschiedenen einzelnen qualitativen Identitäten wird bei Graetz so gut wie nie eine veritable Persönlichkeit geformt, sie bleiben Typen, wenngleich in vielfarbiger und oftmals evokativer Kostümierung.173 Folglich dienen sie ihm als Repräsentanten des Judentums ihres jeweiligen Zeitalters, als dramatische Verdichtungen bestimmter Aspekte ihrer Zeit. Selbst eine so zentrale Figur wie Moses Mendelssohn, mit dessen Auftreten Graetz in der Periodisierung immerhin seinen vierten Zeitraum begründet und an dessen Wirkungsmacht er keinen Zweifel lässt, macht hiervon keine Ausnahme: Mendelssohn wird ihm „gewissermaßen das Bild dieses Volksstammes“ der Juden, mit verwachsener Gestalt, linkisch, blöde, stotternd, unschön und abstoßend in seiner Aeußerlichkeit. Aber in dieser Volks-Mißgestalt webte ein denkender Geist, der nur, irre geleitet, Hirngespinste verfolgte, und geächtet, sich selbst nicht achtete. Sobald diesem Volksstamme die Wahrheit in ihrem Glanze gezeigt wurde, und daß sie seine Wahrheit ist, so ließ er alsbald sein Wahngebilde fahren und wandte sich dem Lichte zu, und sein Geist begann alsbald seinen Leib zu verklären, seine gebeugte Gestalt zu heben, die häßlichen Züge verloren sich […].174

Diese Metamorphose Mendelssohns zu einem Wiedergänger der Knechtsgestalt mit Denkerstolz zeigt wohl anschaulicher als viele andere Beispiele, wie stark Graetz die Protagonisten in seinen Narrativ einband und ihnen auf diese Weise eine sinnhafte Funktion einräumte. Diese Vorgehensweise hing mit dem grundsätzlichen Ansatz der Geschichte zusammen. Denn andernorts konnte Graetz beispielsweise deutlichst feststellen: „Die Biographie der Hohenpriester ist die Geschichte des zweiten Tempels.“175 In seinem Hauptwerk hingegen spielte die Biographie des Einzelnen lediglich eine untergeordnete Rolle. Abgesehen von dem Sonderfall des Bandes über die rabbinische Zeit, der aus den oben dargelegten Gründen seiner Vorgeschichte eine zumindest partiell andere Gewichtung offenbart,176 spielten Gelehrte nur vordergründig die zentrale Rolle in Graetzens Geschichtsschreibung. Als Repräsentanten ihrer jeweiligen Zeit waren diese Figuren die Exponenten oder sogar nur Handlanger von Ideen, Vorstellungen und Mentalitäten, die außerhalb ihres Verfügungsbereichs lagen. Hierauf wird im nächsten Kapitel nochmals zurückzukommen sein. 173 Exemplarisch ist eine solche Analyse durchgeführt anhand der Figur Don Joseph Nasis (~1514–1579), des Herzogs von Naxos, in Pyka, Der Held als Schwächling? – Zu Rankes episch-dokumentarischer Biographik vgl. Oelkers, Biographik, 300 ff; Hähner, Historische Biographik, 122–134. 174 Graetz, Geschichte XI (1870), 2 f. 175 Graetz, Die absetzbaren Hohenpriester, 585. 176 Siehe oben, Kap. II 2.5, sowie Brämer, Rabbinische Gelehrte, 36.

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Gerade das Ziel einer erfolgreichen Popularisierung eines gehaltvollen Bildes jüdischer Identität wirft die Frage auf, inwieweit ein nur auf Leiden und Gelehrte aufbauender Narrativ für Kontinuität und Kohärenz sorgen – und vor allem: inwieweit er überhaupt sinnstiftend wirken könnte. Diese Fragen stellten sich auch Graetz, und sie stellten sich verschärft, sobald er an die Behandlung der nachtalmudischen Zeit schritt. Vorarbeiten waren hier noch weniger vorhanden als zu den fünfhundert Jahren zuvor, mehr aber noch galt es, einen roten Faden für die Geschichtserzählung zu finden. Eine ausführliche Nacherzählung der rabbinischen Überlieferungsketten mochte von nun an noch weniger ausreichen als zuvor schon, wenn sie denn überhaupt noch vorhanden waren. Zudem erweiterte sich mit der Entstehung des Karäertums sowie der Gründung wichtiger Gemeinden in Europa neben den bestehenden Zentren am Mittelmeer, in Arabien und in Babylonien der notwendigerweise zu berücksichtigende Rahmen einer solchen Arbeit immens. Wenn ihm später sein wahrlich kritischer Nachfolger Simon Dubnow attestierte, ein „architektonisches Genie“177 gewesen zu sein, so ist dies gerade auf dieses Vermögen des Graetzschen Narrativs zurückzuführen, die auseinanderstrebenden Einzelaspekte immer wieder zu einem sinnhaften Ganzen zusammenzufügen. Graetz war sich der Problematik wohl mehr als viele andere bewusst, und so war es kein Zufall, dass es gerade die Einleitung zum V. Band war, in der er die ältere Konzeption grundsätzlich in Frage stellte: „Die Kraft des Widerstandes schien gebrochen“, so sein knapper Zustandsbericht des Judentums seit dem Ende der Staatlichkeit, die Auflösung der Gemeinden in mittelpunktlose Atome, der Untergang der Lehre war nah. Wie hat sich die jüdische Geschichte durch die langen Jahrhunderte doch noch fortspinnen können? Ist sie seit dem Abschluß des Talmud ein bloßes Conglomerat von zufälligen Ereignissen, von Verfolgungen und Martyrologien? Oder hat sie den Charakter einer trockenen Literaturgeschichte angenommen, in welcher Bücher und Schriftsteller die Hauptrolle spielen? Ist die Reihenfolge der nachtalmudischen Geschichte ohne Zusammenhang und Mittelpunkt? Hat sie einen einheitlichen, concentrischen Verlauf, oder zersplittert sie sich in mehr oder minder uninteressante Einzelnheiten[!]? Herrscht darin der Wirrwarr des Zufalls oder die ordnende Hand eines innern Gesetzes?178

Mehr noch, die übermäßige Betonung von (letztlich sinnentlertem) Leiden ohne jedweden positiven Gehalt empfand Graetz als Bedrohung. Eine der Hauptleistungen des Judentums sah er gerade darin, dass es eben nicht den äußeren Zwängen und Repressalien erlegen war: Tausendfach geknechtet, hat sich dieser Stamm im Ganzen die Geistesfreiheit zu wahren gewußt; geschändet und erniedrigt, ist er nicht zur Zigeunerhorde herabgesunken 177 Dubnow, Weltgeschichte IX, 354. 178 Graetz, Geschichte V (1860), 1 f.

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und hat nicht den Sinn für Hohes und Heiliges eingebüßt; verbannt und heimathlos, hat er sich vielmehr ein geistiges Vaterland geschaffen.179

An dieser programmatischen Stelle weist Graetz indirekt nicht allein jene verachtungsvolle Verbindung von Juden und „Zigeunern“ zurück, die durch Martin Luther populär geworden war und sich seit der Aufklärung verstärkter Beliebtheit erfreute.180 Mehr noch, der Historiker inkorporiert hier (wie auch noch an anderen Stellen der Geschichte) eben diesen grundsätzlich bürgerlichen antiziganen Affekt. Er spricht nur deshalb von einer „Zigeunerhorde“, weil diese für ihn den Antipoden schlechthin zum Judentum repräsentiert: unstet, roh, geschichtslos, ohne jede Bindung, kaum mehr menschlich, mit einem Wort: unsittlich.181 Allerdings konnten in bestimmten Fällen auch Juden ein ähnliches Schicksal in Graetzens Narrativ erleiden, solange sie nämlich gleichsam nicht geschichtswürdig sind: Die Juden in Europa haben im eigentlichen Sinne des Wortes erst eine Geschichte, seitdem sie durch das Zusammentreffen günstiger Umstände ihre Kräfte entwickeln konnten und Leistungen hervorbrachten, wodurch sie ihren Brüdern im Orient den Vorrang streitig machten. Bis dahin ist nur von Martyrien zu berichten, die sie von der siegreichen Kirche erlitten, und die sich in allen Ländern mit nur geringer Abwechslung monoton wiederholen. Der Sklave, über den sein übermütiger, unbarmherziger Herr die Peitsche schwingt, ist kein Gegenstand der Geschichte.182

Geschichtlichkeit ist demnach das Ergebnis eigener Leistungen. Das Gebiet, auf dem diese Leistungen erbracht werden sollten, war für ihn während der Zeit der Diaspora eindeutig festgelegt: Es konnte sich im Wesentlichen nur um das Gebiet geistiger Regsamkeit handeln, repräsentiert durch Poesie und Wissenschaft, die ihren Ausdruck in der jüdischen Literatur fanden. Folglich 179 Graetz, Geschichte V (1860), 5. 180 Luther hatte in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen von 1543 dazu aufgefordert, Juden „wie die Zigeuner“ zu behandeln, welche seit 1498 im Heiligen Römischen Reich rechtlich vogelfrei waren. Seit der Aufklärung findet sich ein solcher Vergleich immer wieder und in so unterschiedlichen Textgattungen wie antisemitischen Pamphleten wie etwa Hartwig von HundtRadowskis Judenspiegel von 1819, in romantischen Kunstmärchen, oder auch Christian Wilhelm (von) Dohms emanzipatorischer Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781– 1783). Vgl. die Hinweise in Wippermann, Wie die Zigeuner, 102 ff, 110 f, 236 f und passim. 181 Vgl. auch Geschichte IV (1853), 4 (hier erfolgt die Polarisierung vom Judentum als dem „ewig wandernde[n] Volk“ gegenüber dem „verthierten Landstreicher“ und der „vagabundirenden Zigeunerhorde“), sowie X (1868), 318. In Geschichte VII (1863), 2, spricht er in einem ähnlichen Kontext bloß allgemein von einer „verthierte[n] Horde“. – Es sei nur am Rande bemerkt, dass Graetz Luthers Gleichsetzung von Juden und Zigeunern völlig ignoriert, wenn er sich im IX. Band mit dem Reformator selbst auseinandersetzt; zu dessen Rezeption der Reformation allgemein vgl. Pyka, Bedeutungslosigkeit. 182 Graetz, Geschichte V (1860), 40. – Es steht zu vermuten, dass sich Graetz hier zudem bewusst gegen Jost positioniert, der in seiner Allgemeinen Geschichte des Israelitischen Volkes 1832 noch rhetorisch gefragt hatte, ob es eine „Geschichte der Sclaven“ gebe; Allgemeine Geschichte, 5.

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konnte er 1853 feststellen, dass die Literatur „den Kern der jüdischen Geschichte“ bilde, deren innerer Gehalt wiederum eine „umfassende Literaturgeschichte der Gotteserkenntniß“ darstelle.183 Ein solcher, noch ganz auf den von Zunz und seinen Gefährten eingeschlagenen Pfaden der Wissenschaft des Judentums wandelnder Ansatz erwies sich jedoch für Graetzens Zwecke rasch als zu begrenzt. Mochte er noch als Programm für die Behandlung des talmudischen Zeitraums einigermaßen ausreichen, so zeigte sich schon bei der Zeit des Zweiten Tempels, dass eine solche Leitlinie nicht ausreichen mochte, die Reichhaltigkeit des Gegenstandes auch nur annähernd zu erfassen. Vollends schwierig wurde es, sobald die Beschäftigung mit religiösen und rituellen Fragen offenkundig nicht mehr allein im Mittelpunkt der überlieferten Literatur standen. Auch hier erweist sich die Einleitung zum nachfolgenden V. Band als Schlüsseltext. Hier nämlich revidierte Graetz nun seine eigene, wenige Jahre zuvor propagierte Grundlinie: Die jüdische Geschichte sei nämlich „weit entfernt, eine bloße Literatur- oder Gelehrtengeschichte zu sein, wozu sie Unkunde und die Einseitigkeit stempeln, sondern die Literatur und die religiöse Entwicklung sind eben so wie das hochtragische Maryrologium, das dieser Stamm oder diese Genossenschaft einzuzeichnen hatte, nur einzelne Momente in seinem Geschichtsverlaufe, welche nicht das Wesen desselben ausmachen.“ Die Perspektive öffnete sich nun auch in der Programmatik: „Will man die diasporische Geschichte der Juden näher charakterisieren, so kann man nichts Anderes von ihr sagen, als daß sie vorherrschend eine Culturgeschichte ist, die nicht einzelne Geister zu Trägern hat, sondern ein ganzes Volk.“184 Mit einem solchen „culturhistorischen“ Ansatz überschritt Graetz ganz offen die Grenzen der mittlerweile schon geradezu klassischen Wissenschaft des Judentums und stellte sich selbst in einen Kontext, der im Grunde genommen für einen Historiker des Judentums recht naheliegend war: Die „staatenlose Kulturgeschichtsschreibung in Deutschland“, wie Fueter diese in der Spätfolge der Revolution von 1848 hervorgetretene Richtung genannt hat, hatte es sich ja gerade auf die Fahnen geschrieben, Geschichte jenseits der „großen Mächte“ oder der „großen Männer“ in Staat und Kirche zu schreiben.185 Wenngleich Graetz mit Autoren wie Wilhelm Heinrich Riehl, Gustav Freytag oder Johannes Janssen mit ihrem politischen Konservativismus wenig gemein hatte, so teilte er mit ihnen geschichtsphilosophische Grundüberzeugung von unwandelbaren Volkscharakteren, die allenfalls von dem Boden und der Umwelt, in der sie leben, beeinflusst wurden.186 Dass Graetz sich 183 Graetz, Geschichte IV (1853), 5 und 2. 184 Graetz, Geschichte V (1860), 4 und 6. 185 Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, 566–575 – Zum Folgenden vgl. auch Steinbach, Riehl. 186 Vgl. etwa Graetz, Talmudische Chronologie und Topographie, 509 ff.

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hier ganz bewusst mit der im Entstehen begriffenen Kulturgeschichte assoziierte, belegt seine Betonung, dass es ihm nicht um „einzelne hervorragende Geister“ gehe, sondern um ein ganzes Volk als Träger der von ihm behandelten Geschichte. Allerdings unterschieden sich Graetz und der gerade zu dieser Zeit als Kulturhistoriker hervortretende Riehl sowohl in ihrem geistigen Hintergrund als auch in ihrem Verständnis von „Cultur“. Riehl baute einerseits auf der Vorstellungswelt der Romantik auf, was den partikularen Charakter in seinem Bild von Land und Leuten betonte, berücksichtigte andererseits aber die Lebenswelt der kleinen Leute in einem Maße, die ihn zu einem der Stammväter der modernen Alltagsgeschichte werden ließen. Graetzens Vorstellungen jenes unwandelbaren Wesens des Judentums adaptierte hingegen die Hegelsche Weltgeistlehre, woraus auch ihr universalistischer (und mitunter missionarischer) Zug resultierte.187 Zudem zeigen seine Beispiele wie auch der weitere Text der Geschichte, dass ihn Fragen der Alltagskultur oder der allgemeinen Lebenswelt kaum bis gar nicht interessierten. Geistiges stand im Mittelpunkt seines Interesses, Ideen und Vorstellungen, auch Fragen von Mentalität. Sie sind es, die in seinem Geschichtswerk auf das Wesen hindeuten, das er in der Geschichte herauszuarbeiten suchte. Der Bezug auf die „Culturgeschichte“ diente ihm vor allem dazu, die jeweiligen hervorragenden Geister in ihrer Bedeutung zu relativieren und den Blick auf die Kontinuität ihrer Ideen im Judentum zu schärfen, indem er die Juden als Volk, bei ihm verstanden als Einheit, in den Mittelpunkt zu rücken schien. Diese Perspektivierung der Juden als Volk – selbst vor einem so zweckorientierten Hintergrund – ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings bemerkenswert. Denn die jüdischen Autoren unter seinen Zeitgenossen sahen die Juden nahezu ausschließlich als Religionsgemeinschaft, eine Sicht, von der nicht allein das Geschichtswerk von Jost entscheidend geprägt worden war. Eine Darstellung jüdischer Geschichte als die eines Volkes erschien hingegen im Zeichen der Debatten um Emanzipation und die rechtliche Stellung der Juden innerhalb der verschiedenen europäischen Staaten kaum dazu geeignet, die seit Fichte auf die griffige Formel eines „Staats im Staate“ gebrachten Vorwürfen des Partikularismus’ und mangelnden Anpassungswillens zu entkräften.188 Umso drastischer musste es wirken, dass Graetz nun dezidiert feststellte, dass „die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraumes […] noch immer einen nationalen Charakter [habe]“ und „keineswegs eine bloße Religions- oder Kirchengeschichte“ sei.189 Als Träger dieses 187 Graetz hatte wie erinnerlich bei Braniß in Breslau studiert; siehe oben, Kap. II 1.4. 188 Jene Formel entstammt Fichtes Schrift Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution von 1793 (Zitat in der Ausgabe 1965 auf Seite 149 f); zur Wirkungsgeschichte Katz, A State within a State, zu den Gegenstrategien von Graetzens Zeitgenossen vgl. Gotzmann, Eigenheit, 131–141. 189 Graetz, Geschichte V (1860), 3.

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nationalen Charakters bezeichnete Graetz die Juden hier als „Volksstamm“ oder einfach nur als „Stamm“. Im Sprachgebrauch des mittleren 19. Jahrhunderts war die Vorstellung verschiedener deutscher Stämme fest etabliert und beschrieb eine kulturelle (und auch ethnische) Differenz innerhalb der deutschen Kulturnation, die wiederum geradezu konstitutiv für das Gefüge dieser Nation überhaupt war.190 Als Historiker des Judentums hatte Graetz indes noch einen weiteren Anknüpfungspunkt, führte dieser Sprachgebrauch für sein Thema doch lediglich die biblische Terminologie fort, derzufolge die Juden nach dem Babylonischen Exil nahezu ausschließlich aus den Nachfahren des israelitischen Stammes Judah gebildet worden seien.191 Die dergestalt also durchaus vorhandenen ethnischen Konnotationen waren allerdings deutlich diffuser und weniger greifbar, als dies für einen Begriff wie Volk gegolten hätte. Denn zumindest im jüdischen Kontext konnte der Stammes-Begriff auch in einem bloß religiösen Sinne verstanden werden.192 Allerdings war die Frage nach der Natur des Substrats keine, die Graetz tatsächlich tiefer bewegt hätte, wie seine inkohärente Terminologie verdeutlicht. So benutzte er nur wenig später (wie bereits zitiert) „Genossenschaft“ als Synonym.193 Innerhalb des gesamten Haupttextes der Geschichte der Juden finden sich „Stamm“, „Volk“ und „Nation“ wechselweise, ohne dass jeweils Abgrenzungen oder gar Definitionen festzustellen wären.194 Auch bei einer Ana190 Vgl. Green, Fatherlands, 270–273. 191 Einen solchen Bezug stellt Graetz etwa in Geschichte XI2 (1900), 71, her. – Die ursprünglichen zwölf israelitischen Stämme leiteten sich von den Nachkommen des Erzvaters Jakob ab, die mit dessen Sohn Josef zusammen nach Ägypten gezogen waren. Nach der Reichsteilung unter Salomons Sohn Rehabeam bestand das Nordreich Israel aus zehn dieser Stämme, die allerdings nach der Zerstörung des Nordreichs 722 v.d.Z. durch die Assyrer deportiert worden und in der Bevölkerung des assyrischen Reiches aufgegangen seien. Das Südreich mit der Hauptstadt Jerusalem hingegen bestand vor allem aus dem Stamme Judah sowie den Überresten des Stammes Benjamin; die Nachkommen Levis, die Leviten, wurden als Tempeldiener nicht gezählt. Auf Grund der andersgearteten Politik der Babylonier unterworfenen Völkern gegenüber konnten die Judäer nach ihrer Deportation nach Babylonien 586 v.d.Z. ihren Kollektivcharakter bewahren und nach dem Ende des Babylonischen Reiches 538 v.d.Z. wieder nach Palästina zurückkehren. 192 So deuten die (allerdings nur an dieser Stelle vorkommenden) „Stammeserinnerungen“, denen der Komponist Jacques Fromental Halévy entfremdet gewesen sei, auf eine rein geistige Konzeption von „Stamm“; Geschichte XI, 427. – Für den Gebrauch von Stammes-Konzeptionen im Judentum vgl. van Rahden, Germans of the Jewish „Stamm“ (ich danke Till van Rahden für die Überlassung seines Manuskripts noch vor der Drucklegung), sowie für das zwanzigste Jahrhundert bis zur Weimarer Republik Brenner, Religion, Nation oder Stamm. 193 Vgl. Graetz, Geschichte V (1860), 4: „dieser Stamm oder diese Genossenschaft“. 194 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass Graetz mitunter die Vorlieben wechselte; so ist sehr auffällig, dass beispielsweise im VII. Band (1863) der Begriff „Volk“ vor allem in der Einleitung benutzt wird (1 und 2), danach nur noch 308, wo Graetz den jüdischen und den französischen „Volksstamm“ wegen ihres Esprits feiert); der Begriff „Nation“ findet sich in

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lyse der jeweiligen Kontexte ergibt sich kein genaueres Bild: Zwar scheinen die immer wieder auftretenden Wortkombinationen wie „Stammes- und Religionsgenossen“ oder „Stammes- und Glaubensgenossen“ auf ein eher ethnisches Verständnis von „Stamm“ hinzudeuten.195 Doch stand es für den Historiker auch fest, dass die Existenz des Judentums weniger von ethnischfamilären Aspekten abhing als vielmehr von geistigen.196 Selbst an denjenigen Stellen, wo er von „jüdischem Blut“ spricht, geschieht dies immer nur in Kombination mit „jüdischem Geist“ als der eigentlich befruchtenden Zutat.197 Desgleichen verzeichnet er immer wieder auch Proselyten zum Judentum, ohne dass er allein deswegen in ihnen oder ihren Nachkommen Juden zweiter Klasse sähe.198 Es steht zu vermuten, dass sich Graetz auf dieser Ebene letztlich gar nicht so sehr um die Natur des Judentums als Kollektiv bekümmerte, dass er Begrifflichkeiten wie „Volk“, „Nation“, „Stamm“ zwar durchaus frühzeitig und zur Betonung des Zusammenhanges der Juden über die Kontinente wie über die Zeiten hinweg einsetzte, dass er aber die inhaltlichen Debatten, die sich um die Frage einer ethnisch-biologischen Essenz dieser Terminologie im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entspinnen sollten, in keiner Weise bereits antizipierte. Dafür dass sein Interessenfokus auf etwas anderem lag, spricht auch die explizite Bestimmung jenes „nationalen Charakters“, die Graetz in der Einleitung zu Band V gibt – demnach war der Zusammenhalt der Juden in der Diaspora nämlich von geistigmentalen Momenten geprägt gewesen: Der jüdische Stamm sei „zwar ohne Boden, Vaterland, geographische Umgrenzung und ohne staatlichen Orgadiesem Band für die Juden insgesamt nur ein Mal (388) und ist auch in den Bänden VIII und IX eher rar, während „Volk“ in den nachfolgenden Bänden wieder deutlich häufiger benutzt wird. Einen inhaltlichen Grund für derlei Konjunkturen vermag ich nicht zu erkennen. 195 „Religions- und Stammesgenossen“ (und ähnlich): Geschichte IV (1853), 308; Bd. V (1860), 98 und 341; Bd. VI (1861), 248) Bd. X (1868), 8; Bd. XI (1870), 54, 75; und öfter. – „Stamm- und Glaubensgenossen“ (und ähnlich) Geschichte IV (1853), 308; VI (1861), 286 und 294; und öfter. – „Stammes- und Sprachgenossen“: Geschichte XI (1870), 51. 196 So sah Graetz in den hadrianischen Verfolgungen eine existentielle Bedrohung des Judentums, da die ausgesprochenen Verbote sich gegen die Verbreitung und Befolgung der mündlichen Lehre sowie die Ordinierung des rabbinischen Nachwuchses richtete; vgl. Graetz, Geschichte IV (1853), 181 ff, sowie Jüdisch-geschichtliche Studien, 313 f. 197 Vgl. Graetz, Geschichte VIII (1864), 329; Band XI (1870), 180 (über Rahel Varnhagen, in deren Adern „talmudisches Blut“ geflossen sei, „welches ihr einen so sprudelnden, beflügelten Geist gab“; 368 (über Börne und Heine: „Es floß nicht blos jüdisches Blut in ihren Adern, sondern auch jüdischer Saft in ihren Nerven.“) Auf Grund dieser Stelle, von der er allerdings nur die erste Hälfte zitiert, stellt Meyer Graetz auf eine Stufe mit Heinrich von Treitschke, „the Antisemite“, wie er gerade hier feststellt; Graetz and Treitschke, 6). – Eine Ausnahme macht Geschichte VII (1863), 467, wobei hier das „jüdische Blut“ und der „unvertilgbare Patriotismus“ des Joseph Rodriguez de Castro durch die folgende Darstellung m. E. ironisch gebrochen werden. 198 Genannt sei etwa Helena von Adiabene im 1. Jh. n. d. Z.; Graetz, Geschichte III (1856), 332–336.

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nismus“, er habe „diese realen Bedingungen aber durch geistige Potenzen“ ersetzt. Und weiter: „Ueber die cultivirten Erdtheile zerstreut und sich an den gastlichen Boden fest anklammernd, hörten die Glieder des jüdischen Stammes doch nicht auf, sich in Religionsbekenntniß, geschichtlicher Erinnerung, Sitte und Hoffnung als ein einheitliches Volkswesen zu fühlen.“199 Mithin bildeten die Juden einerseits eine eigenständige Erinnerungs-, Kultur- und Erwartungsgemeinschaft, waren andererseits mit ihren jeweiligen Wohngebieten eng verbunden. Was er also hier diagnostizierte, war die Bildung eines Kollektivs (die Gemeinschaft der Juden) auf Grund von bestimmten identitätsstiftenden Medien, das jedoch immer nur einen gewissen qualitativen Charakter hatte (da ja durch die Anklammerung an den jeweiligen Boden noch andere Bindungen vorhanden waren), ohne dass Graetz hierin einen Konflikt gesehen hätte.200 Freilich waren für ihn in seiner auf Sinnstiftung angelegten Meistererzählung die weiteren Identitätsoptionen nur von sekundärem Interesse. Zentral war die Frage nach dem Wesen des Judentums bzw. dem Wesen der jüdischen Geschichte. In Wiederaufnahme eines Bildes aus der Construction deutete er die jüdische Geschichte als bestehend aus zwei organisch miteinander verbundenen Teilen: Auf der einen Seite der unsterblich scheinende jüdische Stamm, als der Leib, auf der anderen Seite die nicht minder unvergänglich scheinende Lehre des Judenthums als die Seele. Aus der Wechselwirkung dieses Volksleibes und dieser Volksseele spinnt sich der Faden der Geschichte in dem diasporischen Zeitraume ab.201

Die Lehre bestand allerdings nicht einfach aus den Buchstaben der schriftlichen und den Worten der mündlichen Torah, so wenig wie der „jüdische Stamm“ einfach eine eindeutig ethnisch definierbare Gruppe darstellte. Mit beiden Einzelelementen verbunden (und seinerseits eben aus ihren Wechselwirkungen heraus wirkend) war ein Aspekt, der in Graetzens Narrativ zu dem entscheidenden sinnstiftenden Agens jüdischer Geschichte werden sollte. Denn angesichts der immensen Widrigkeiten, mit denen das Judentum als Kollektiv im Laufe seiner Geschichte zu kämpfen hatte, bedurfte 199 Graetz, Geschichte V (1860), 3. 200 Dies war kein Spezifikum der Geschichte der Juden. Erinnert sei an den postulierten „Zusammenhang mit dem Weltganzen“ im Schlusssatz der Construction, und auch in den populären Jahrbuchs-Aufsätzen finden sich solche Positionierungen, etwa in dem Idealbild des Judentums als „in sich fest und überzeugungstreu, nach außen aber nicht ausschließend schroff, sondern entgegenkommend mild“; Graetz, Samuel Ibn Nagrela, 12. 201 Graetz, Geschichte V (1860), 2. – Es sei nur am Rande bemerkt, dass er hier implizit die in der Construction vorgenommene Differenzierung fortführt, dass nämlich in der Zeit jüdischer Staatlichkeit das „Heilige Land“ der „Leib“ jüdischer Geschichte sein konnte, nun aber, nach dem Untergang des jüdischen Staates, eine solche Leibwerdung nur mehr ohne feste geographische Bindung möglich ist; vgl. oben, Kap. II 2.3.

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es einer sehr starken sinnstiftenden, gruppenerhaltenden Kraft. Graetz entdeckte diese in dem Bewusstsein einer Sendung, das er mit einer recht gewagten Parallelsetzung der jüdischen Geschichte in der Diaspora seit der Zerstörung des Tempelstaates 70 n. d. Z. mit der Zeit des Moses illustrierte: Das jüdische Volk führte in seinem achtzehnhundertjährigen Wüstenleben die Bundeslade mit sich, die ein ideales Streben in sein Herz legte, und selbst den Schandfleck an seinem Kleide mit einem apostolischen Glanze verklärte. […] Das hohe Bewußtsein von seinem ruhmreichen Apostelamte erhielt den Leidenden aufrecht, ja stempelte die Leiden selbst zu einem Theile seiner erhabenen Sendschaft.202

Offenkundig war es diese „Sendschaft“, in der Graetz den Sinn und damit auch das innerste Band der jüdischen Geschichte erblickte; folglich würde eine solche missionarische Aufgabe wiederum nicht nur die kollektive Identität des Einzelnen prägen und somit seinem Handeln (oder sogar seinem Leiden) einen Sinn verleihen. Graetz war nicht der Erfinder einer „Mission des Judentums“, auch wenn die Idee verhältnismäßig jung war. Dem traditionellen Judentum war ein solches, auf Weltbeglückung abzielendes Konzept im Grunde genommen fremd gewesen. Diese Vorstellung ist erst im Verlauf der Haskalah entwickelt worden und wurde dann vor allem von den Vertretern der Reformbewegung propagiert:203 Ihrer Meinung nach sei es die Mission des Judentums, den reinen Monotheismus in die Welt zu bringen und unter den Völkern zu verbreiten, zu diesem Zweck sei die Zerstreuung der Juden unter die Völker also geradezu notwendig gewesen. Auch Graetz folgte ein Stück weit dieser Denkfigur; erinnert sei nur an die zentrale Bedeutung des „Weltlebens“ der Juden für seine Geschichtsphilosophie. Und auch in der Geschichte setzte er den dort eingeschlagenen Weg fort, wie insbesondere seine Begründung der Diaspora des Judentums zeigt, die er gegen Ende des III. Bandes gab: Diese Zerstreuung war […] ein Segen und ein Werk der Vorsehung. Die Unvertilgbarkeit und Unsterblichkeit des jüdischen Stammes war dadurch gesichert. In einem Lande verfolgt, zertreten, sammelten sie sich in einem andern und gründeten Stätten für die immer theurer gewordene Lehre. Es waren ausgestreute Saamenkörner, welche von der Vorsehung bestimmt waren, überall hin lautere Gotteserkenntniß und tiefere Gesittung hinzutragen.204

202 Die Passage endet mit den Worten: „Und so tauchte die gewiß seltene Erscheinung auf, daß der Verfolgte überlegen wurde seinem Dränger, der Gepeinigte fast Mitleid hatte mit dem Peiniger, der Geknechtete sich freier fühlte als der Kerkermeister.“ Graetz, Geschichte IV (1853), 4 f. 203 Eine Geschichte dieser Idee einer jüdischen Mission steht jedoch noch aus. Vorläufig vgl. immer noch Josef s. v. Missions-Theorie (JL); Schorsch, Ideology, 270. 204 Graetz, Geschichte III (1856), 298 f.

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Doch wie schon in der Construction, so ist auch hier die „lautere Gotteserkenntniß“, der Monotheismus, weder der alleinige noch der zentrale Wesenskern des Judentums, der durch die Zerstreuung des Judentums verbreitet werden sollte. Denn während Graetz 1846 noch daran gescheitert war, das Eigentliche zu benennen, welches das Wesen des Judentum ausmache, so brachte er es hier nun auf die Formel der „tieferen Gesittung“. Freilich immer noch eine recht vage Formulierung. Gleichwohl sollte der weitere Verlauf zeigen, dass er mittlerweile vermochte, diese Vagheit näher zu definieren, wenn er in einer sehr kurzen Skizze den jeweiligen welthistorischen Sinn der Geschichte von Griechen, Römern und Juden nebeneinander stellt: Wie die Colonisirung der Griechen dazu beigetragen hat, Sinn für Kunst und Wissenschaft unter den verschiedenen Nationen zu wecken, wie die Ansiedelung der Römer dazu diente, ein durch Recht und Gesetz geordnetes Gemeinwesen in vielen Ländern zu fördern, so hat die noch viel ausgebreitetere Zerstreutheit der Juden den nicht zu übersehenden Zweck, den Wahngebilden und den verthierten Lastern des Heidenthums entgegen zu wirken.205

Es erscheint nicht ohne Ironie, dass Graetz an dieser Stelle den Sinn der griechischen und der römischen Geschichte positiv-historisch beschreiben kann, den der jüdischen Geschichte hingegen immer noch nur in Abgrenzung. Doch hatte eine solche sprachliche Wendung keine tiefere Bedeutung mehr. Als Graetz dies Mitte der 1850er Jahre schrieb, wusste er sehr genau, was das Wesen des Judentums ausmache: Sittlichkeit.

3.5 „Sittlichkeit“ als Wesen des Judentums „Sittlichkeit“ gehört zu den zentralen Werten des bürgerlichen Wertehimmels, ohne dass sie in den meisten Arbeiten zum 19. Jahrhundert eine entsprechende Rolle eingeräumt bekommen hätte.206 Die Frage nach moralischen Werten, ihrem Ursprung und ihrer handlungsleitenden Wirkungsweise ist hingegen wesentlich älter; die Wurzeln der Vorstellungen im neuzeitlichen Europa jedenfalls liegen in der griechischen Philosophie ebenso wie 205 Ebd., 299. 206 Dieser Bedeutung (nicht nur für das Bürgertum im 19. Jahrhundert) entspricht der Forschungsstand in keiner Weise. Für einen allgemeinen Überblick vgl. Braun/Stephan (Hg.), Gender-Studien; Daniel, Kompendium, 313–325; sowie gleichsam als Klassiker Brinton, History of Western Morals. Speziell zur Bürgertumsforschung mit ihrer Kritik immer noch prägnant Hausen, Geschichte als patrilinieare Konstruktion. – Zu den ökonomisch-sozialen und politischen Konstituierungsprozessen vgl. Nipperdey, Geschichte I, 255–271; Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 174–241. – Selbst in Hettling/Hoffmann, Bürgerlicher Wertehimmel, taucht „Sittlichkeit“ nicht auf.

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in der Hebräischen Bibel, wobei das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der beiden Ansätze – die Begründung dieser Werte durch rationale Erkenntnis bzw. durch Gottes Setzung – im abendländischen Sittlichkeits-Diskurs zunehmend nivelliert wurde, ohne dass dies immer so klar geworden wäre. Zugleich hatte die Frage nach Sittlichkeit und sittlichem Verhalten oftmals auch einen identitätsstiftenden Aspekt, diente doch gerade die Zuschreibung oder das Absprechen von Sittlichkeit nicht erst in der bürgerlichen Gesellschaft als Distinktionsmerkmal. Beim innerweltlich letztlich nicht entscheidbaren Kampf um den Besitz der letzten Wahrheit konnte „Sittlichkeit“ ebenso jenen entscheidenden „feinen Unterschied“ (Pierre Bourdieu) ausmachen, mittels dessen Hilfe erfolgreich Ausgrenzungsprozesse legitimiert wurden. Steingewordenes Beispiel hierfür sind etwa die Darstellungen der Ecclesia und Synagoga, die an den Kirchportalen in Trier, Freiburg, Magdeburg und Erfurt als Anführerinnen der klugen bzw. der törichten Jungfrauen auftreten – ganz bewusst wurden hier Glaube und Tugend mit Unglaube und Unmoral kontrastiert und auch zu popularisierend-religionspolitischen Zwecken eingesetzt.207 Da Tugenden, sittliche Werte und in ihrer Konkretisierung die Ethik Kernbereiche religiöser Sinnstiftungskompetenzen angingen, war es nicht weiter verwunderlich, dass der Sittlichkeits-Diskurs in besonderem Maße im Kontext religiöser Veränderungen blühte. Dies gilt etwa für die Zeit der Reformation ebenso wie für den Pietismus. Gerade letzterer übte einige Wirkung auf das nachfolgende Jahrhundert aus, indem er sittliches Handeln als Mittel zum Zweck der Glückseligkeit deutete. Der moralische Gehalt dieser Kausalität wurde zwar von Kant im Namen eines antiutilitaristischen Prinzips verworfen, doch sollte die Verknüpfung auf weniger reflektierte, in breiteren Kreisen gepflegte Vorstellungen gesellschaftlicher Verhaltensweisen große Anziehungskraft ausüben. Ideengeschichtlich bedeutsamer blieb hingegen der Königsberger Philosoph, der besonders den universellen Charakter von Sittlichkeit weiter herausstellte:208 Als sittlich wollte Kant verbindliche Normen verstanden wissen, die tauglich waren, auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller und der Handlungsfreiheit eines jeden universal anerkennbar zu sein; dabei sollte dieser „kategorische“ Imperativ absichtsfrei befolgt werden.209 207 Vgl. Sciurie, Ecclesia und Synagoga, sowie Weber, Glaube und Wissen, 105. – Apart, wenn auch weniger eindeutig wertend Graetzens Kontrastierung der „leichte[n], lachende[n] klassische[n] Muse“ und der „ernste[n] hebräische[n] Matrone“ in seinen Ausführungen zur christlichen Hebraistik um Johannes Reuchlin; Geschichte IX (1866), 223. – Innerchristlich war „Sittlichkeit“ als Abgrenzungskriterium bereits im frühen Mittelalter während des Pelagianismusstreites zu höchster Wirkungsmacht aufgestiegen, als sie eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung und Etablierung einer christlichen Orthodoxie um Augustinus gegenüber der pelagianischen „Häresie“ spielte. Vgl. Ilting s. v. Sitte, Sittlichkeit, Moral (GGB V), 878. 208 Hierzu und zum Folgenden vgl. Ilting s. v. Sitte, Sittlichkeit, Moral (GGB V). 209 Vgl. Kant, Grundlegung, 393–400 sowie 421.

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Kants Philosophie nahm zweifellos die religiös fundierte Sicht auf, die die Verbindlichkeit moralischer Normen aus ihrer Setzung durch Gott herleitete und jenes Verhalten als sittlich ansah, welches von dem Willen geprägt war, der göttlichen Setzung zu folgen. Gleichwohl beruhte dieses Befolgen ewiger Werte (aus religiöser Perspektive betrachtet) auf der freien Gewissensentscheidung des einzelnen. Das frühe 19. Jahrhundert meldete jedoch Zweifel an dieser Freiheit wie an dem postulierten Universalismus an. Insbesondere Hegel stellte die universellen Ansprüche von Sittlichkeit und sittlichen Werten in Frage, indem er zumindest deren Verwirklichungen die geschichtliche Bedingtheit aufzeigte; dies galt nicht zuletzt für „den Staat“ als dem „wahrhaften Grund“ und der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“.210 In der Nachfolge Hegels relativierte sich der universell-normative Gehalt des Begriffes der Sittlichkeit weiter zu einem Ausdruck von Gemeinschaftsgefühl. Diese gemeinschaftskonstituierende Bedeutung, etwa in der Historik (1861/62) von Johann Gustav Droysen, rückte den Begriff der Sittlichkeit bzw. der von Hegel übernommenen „sittlichen Mächte“ gar als einen Strukturbegriff in eine gewisse Nähe zu heutigen Vorstellungen von kollektiver Identität.211 Auch für Graetz hatte Sittlichkeit eine eminente Bedeutung für den Zusammenhalt von Gruppen. Dabei knüpfte er jedoch an die universalistischen Positionen Kants an, über dessen Kategorischen Imperativ er mit Hirsch in Oldenburg gesprochen hatte, ohne damals viel davon verstanden zu haben.212 Auch in späteren Jahren scheint die Anerkennung des Prinzips auf Grund von rationaler Erkenntnis für ihn keine notwendige Grundlage für universale Gültigkeit bei solchen letzten Dingen gewesen zu sein. Jedenfalls bemühte er ich noch nicht einmal um eine explizite oder gar programmatische Definition. Auch fehlt eine Herleitung oder normative Einsetzung, ebenso wie in seiner Darstellung jedwede Entwicklung fehlt – „Sittlichkeit“ scheint geradezu ein Phänomen sui generis zu sein, das gleichsam als ein konkretisierter Wiedergänger des Hegelschen Weltgeistes die Weltgeschichte bestimmt. Entsprechend dem Weltgeist bedurfte Sittlichkeit also auch keiner Historisierung; in diesem Punkt dachte Graetz gänzlich in den Kategorien des Idealismus und des idealistisch geprägten Historismus. Allerdings stand er da210 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Dritter Teil (§§ 142–360): Die Sittlichkeit, Zitate § 256, S. 397, und § 257, S. 398. – Vgl. hierzu auch oben, Kap. II 2.3. 211 So etwa: „Diese Gemeinsamkeiten beherrschen uns als sittliche Mächte, wir fühlen ihre Macht über uns mit unserer Selbstbestimmung versöhnt, indem wir sie als sittliche Pflichten erkennen. Wir haben den Ertrag und den Gewinn davon, in ihnen sittliche Güter zu erkennen und zu besitzen, in denen wir das Edelste, was wir haben, die Möglichkeit steten Fortschreitens zum Höheren, verbürgt sehen.“ Droysen, Historik, 203. – Allgemein hierzu vgl. Rüsen, Begriffene Geschichte. 212 Vgl. Graetz, Tagebuch, 52.

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mit nicht allein. Denn eine Hinterfragung des Ewigkeitswertes von Werten setzte ohnehin erst gegen Ende seines Lebens vor allem mit Nietzsche ein.213 Noch gänzlich unangekränkelt von einer sich später durch solchen Werterelativismus abzeichnenden „Krise des Historismus“ konnte Graetz also ohne weiteres von einem Verständnis von „Sittlichkeit“ als gleichsam ewiger Wahrheit ausgehen, ohne dass er sich hierin von seinen Zeitgenossen unterschieden hätte. Auch seine stets präsente Grundvoraussetzung, dass das Judentum das Substrat von „Sittlichkeit“ schlechthin sei und hieraus ein gleichsam missionarischer Auftrag herrühre, war grundsätzlich keine Besonderheit seines Denkens.214 Wodurch sich Graetz hingegen von der Mehrheit seiner Zeitgenossen unterschied, war der spezifische Gehalt, der dem Begriff in seinem Denken eignete. Eine solche Unterscheidung zwischen einem einigenden, eher unspezifischen Band, das ähnlich wie Droysens „sittliche Mächte“ wirkte, und einem konkreteren Verständnis verdeutlicht eine kleine Modifizierung in Graetzens Narrativ: Zu Beginn des III. Bandes spricht Graetz in der Erstausgabe noch von „Religion und Sitte“ als den „theuersten geistigen Güter[n]“;215 später differenzierte er den zweiten Teil dieser Aufzählung zu „Religion, Sittlichkeit und Sitte“.216 Im Gegensatz aber zu der eher unverbindlichen „Sitte“ hatte „Sittlichkeit“ für Graetz einen in hohem Maße moralischen Charakter. Dementsprechend setzte er die Akzente in seiner Darstellung. Gerade diejenigen Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte, die er besonders schätzte, wurden in seiner Meistererzählung durch Betonung ihrer Sittlichkeit besonders herausgehoben.217 Auch ihr jeweiliges Werk erfährt in der Geschichte der Juden eine solche Zuspitzung, etwa die Ethik Philos von Alexandrien, die er folgendermaßen zusammenfasst: „Der Lebenszweck des Weisen und das höchste Gut ist daher Unterdrückung der Sinnlichkeit und aller irdischen Affecte und Erstreben der reinen Sittlichkeit oder Heiligkeit.“ Sittlichkeit sei dabei, so fährt Graetz mit seiner Zusammenfassung fort, „Verehrung gegen Gott“ und „Liebe und Gerechtigkeit gegen alle Menschen“.218 Wenngleich es sich nur um eine analysierende Zusammenfassung handelte, so machte Graetz mit diesem zustimmenden Referat hier eine der äußerst raren, näheren Angaben, was denn „Sittlichkeit“ konkret sein solle. Doch wie oben schon bei Begriffen wie „Nation“ oder „Stamm“ zu sehen war, so gilt 213 Vgl. Joas, Entstehung der Werte, 22 sowie 37–57. 214 Vgl. etwa zu Droysens Geschichtsschreibung Birtsch, Nation als sittliche Idee. 215 Graetz, Geschichte III (1856), 5. 216 Graetz, Geschichte III3/1 (1878), 1. 217 So zum Beispiel Hillel in Geschichte III (1856), 207–213; Philo von Alexandrien ebd., 277–280 und 318 ff; oder Juda ha-Levi in Bd. VI (1861), 140–167. 218 Alle drei Zitate Graetz, Geschichte III (1856), 329.

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auch in diesem Falle die mangelnde definitorische Bestimmtheit eines Begriffs, der einigermaßen zentral für seinen Geschichtsnarrativ ist. Gleichwohl lassen sich gewisse Tendenzen ausmachen. Zunächst einmal gibt es immer wieder Anzeichen, dass es sich um mehr handelt als eine bloße Sammelbezeichnung für einen allgemeinen Tugendkatalog. Dies gilt für „Sittlichkeit“ ebenso wie für den Gegenbegriff der „Unsittlichkeit“. Letztere zählt Graetz beispielsweise in seinem universalhistorischen Fortschrittsglauben zu den Gründen für den Untergang des Heidentums: Diese seien „Unvernunft, Lüge, Betrug und Unsittlichkeit“ gewesen.219 Komplementäre Aufzählungen finden sich auch mit dem Begriff der „Sittlichkeit“ selbst.220 Der Begriff stellt sich somit eher als eine Variable für verschiedene, positiv konnotierte und als normativ angesehene Werthaltungen dar. Allerdings lässt sich ungeachtet dieser Vagheit im Allgemeinen doch eine bestimmte Verständnislinie nachweisen, die die Geschichte überdies mit früheren, oben diskutierten Schriften von Graetz in enge Verbindung rücken lässt. Immer wieder nämlich verengt er den Bedeutungsrahmen von „Sittlichkeit“ auf den Bereich der ehelichen sexuellen Treue und des sexuellen Maßhaltens. So dienten ihm beispielsweise an einer Stelle zur Bekämpfung von (eindeutig sexuell orientierter) „Unkeuschheit“ die positiven Gebote einer „Wahrung der Keuschheit und ehelicher Sittlichkeit“.221 Ein anderes Mal war Sittlichkeit der Gegenbegriff zu der seiner Meinung nach gar zu freizügigen Sexual- und Ehemoral im 3. Jh. n. d. Z.: Der bedeutende Rabbine Rab betrieb in dieser Zeit „mit durchgreifendem Ernste […] die Verbesserung der Sittlichkeit, welche, wie die Religiosität, in der niedern Volksgeschichte einen sehr tiefen Stand hatte. Die ehemalige patriarchalische Einfachheit des Ehelebens war in Babylonien zur dumpfen, thierischen Unsitte geworden. Begegneten sich ein Jüngling und ein Mädchen und waren sich einig zu heirathen, so riefen sie die ersten besten Zeugen dazu, und die Ehe war geschlossen.“ In anderen Fällen „wohnte [der Bräutigam] im Hause des Schwiegervaters in einem allzuvertrauten Verhältniß zur Verlobten.222 219 Graetz, Geschichte IV (1853), 378 f. 220 So etwa zu dem Konvertiten Abner/Alfonso von Burgos im frühen 14. Jahrhundert, der sich als besonderer Verfechter eines „astrologischen Fatalismus“ hervorgetan haben soll: „Alles Uebrige, Religion, Gesinnung, Sittlichkeit, Treue, Ehre war ihm ein bloßes Spiel.“ Geschichte VII (1863), 338. 221 Er beschrieb damit eine Bestimmung der „Synode“ von Lydda während der hadrianischen Verfolgungen, die als unhintergehbare Bestimmungen der jüdischen Gebote die Vermeidung von „Götzendienst, Unkeuschheit und Mord“ vorsah; Geschichte IV (1853), 185. 222 Graetz, Geschichte IV (1853), 318. – Gerade der letzte Satz stimmt einigermaßen befremdlich, da er ebenso gut eine Beschreibung des langen Verlöbnisses von Graetz mit „Marichen“ sein könnte; vgl. oben Kap. II 2.2. In seinem Tagebuch wetterte er in vergleichbarer Situation (aber als Bräutigam) über die Haltungen seiner Zeitgenossen „aus Vorurtheilen über Religion, Ehre, conventionellen Anstand“. Tagebucheintrag [20.8.1850]; Graetz, Tagebuch, 198 f, Zitat 199.

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In einem religiös-konnotierten Kontext, wie ihn eine Geschichte der Juden (oder des „Wesens des Judentums“) darstellt, kann es im Grunde kaum erstaunen, dass Sexualität zum Thema wird, gehört doch deren Steuerung und Nutzbarmachung zu den zentralen Aufgaben von Religion allgemein.223 Und auch für das sich ausbildende Bürgertum bedeuteten Themen wie Sittlichkeit, Moral und Geschlechterbeziehungen zentrale Diskursthemen, mittels derer das eigene Selbstverständnis definiert wurde und sinnhaft zusammengehalten werden konnte. So hatte etwa Carl Welcker in dem von ihm mitherausgegebenen Staatslexikon 1847 festgestellt, dass „das Verhältnis der beiden Geschlecher“ unstreitig das „allgemeinste und wichtigste Verhältnis der menschlichen Gesellschaft“ sei.224 Auch für Graetz war dies ein zentraler Aspekt. So hatte das Thema in seinen Jugendjahren einige Bedeutung als Gegenstand der Reflexion gehabt.225 In seiner Dissertation hatte er es gleichfalls thematisiert. Nun aber, in der Geschichte, sollte unter dem Oberbegriff „Sittlichkeit“ das entscheidende Element von Graetzens Konzeption eines Wesens des Judentums zu finden sein. Dabei spielten Geschlechterbeziehungen und Ehe eine entscheidende Rolle, und mehr und mehr auch Sexualität. Die wenigen textlichen Veränderungen, die er bei den Neuauflagen der einzelnen Bände der Geschichte überhaupt vornahm, betrafen nicht selten gerade Fragen von „Sittlichkeit“. Der Akzent verlagerte sich dabei von den Vorstellungen von Eheführung weg und hin zum Bereich der Sexualmoral. So charakterisierte Graetz den Gegensatz zwischen Hellenisten und „Frommen“ (Chassidim, Graetz spricht von „Assidäern“) in Palästina nach den Erfolgen des „Makkabäus“ genannten Judah als eine Auseinandersetzung der Sittlichkeit. Letztere repräsentierten dem Historiker das „Judenthum mit seiner Sittlichkeit und seinem Ernste“, denen er die hellenisierende Partei gegenüberstellte, die „nur die Schwelgerei, Genusssucht und Schaugepränge der asiatischen Griechen“ nachahmten und deren Streben auf „Gymnasien und Wettkämpfe“ zielte, was Graetz 1856 für „kindische[s] Treiben“ hielt.226 Später fielen die näheren Ausführungen zur Hellenisten-Partei gänzlich weg, übrig blieb nur mehr ihr Gegensatz zur „Sittlichkeit des Juden-

223 „Religionen sind die frühesten kulturellen System zum Schutz der Genvervielfältigung und der Aufzucht von Kindern, von denen wir Zeugnisse besitzen“ – „Darum haben sich Religionen immer mit Geschlechtsverkehr […] und Nahrung, der Schöpfung von Speisegesetzen und systematischer Landwirtschaft beschäftigt und die Herrschaft über sexuelles Verhalten, Ehe und die Stellung der Frauen übernommen.“ Dieser „notwendige Zusammenhang zwischen Religion, Sex und Nahrung ist auch der Grund, warum die Familie die grundlegende Einheit der religiösen Organisation ist.“ Bowker, Religion, XVIII. 224 Zit. nach Frevert, Einleitung, 11. 225 Siehe oben, Kap. II 2.2. 226 Graetz, Geschichte III (1856), 9.

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thums“, die ganz allgemein ihrem „Gelüste“ entgegengestanden habe – kaum ein Leser dürfte hier an bloße Sportveranstaltungen gedacht haben.227 Was hier an dieser Stelle bloß anklingt, ist gleichwohl ein beständig präsenter Aspekt in Graetzens Denken: die Absenz von Frauen unter den aktiv handelnden Persönlichkeiten. Dass dies nicht allein der vermeintlich üblichen, androzentrischen Perspektive des 19. Jahrhunderts geschuldet ist, zeigt bereits die erste Seite seiner Meistererzählung: Denn Graetzens Allegorie des Judentums, die später zur „Knechtsgestalt mit Denkerstolz“ verdichtet werden sollte, war bereits in der ersten Fassung eine ungewöhnliche Allegorie – sie war nämlich nicht weiblich.228 Obwohl es durchaus eine ganze Reihe von bedeutenden Frauen in der jüdischen Geschichte gegeben hat, die in größerem Umfang erwähnenswert gewesen wären,229 ignoriert der Historiker sie zumeist. Selbst eine so herausragende Gestalt wie Doña Gracia Mendes, der er im Verbund mit ihrem Schwiegersohn, dem Herzog von Naxos, immerhin einen seiner populär-gehaltenen Aufsätze gewidmet hatte, fand in seinem großen Geschichts-Narrativ nur mehr eine äußerst marginale Erwähnung.230 Wenn überhaupt Frauen eine aktive Rolle in der Geschichte der Juden spielen durften, dann waren dies fast immer vermeintliche Schurkinnen. Dies gilt für die in der abendländischen Vorstellungsgeschichte ohnehin notorische Kleopatra von Ägypten ebenso wie für die ungleich strahlenderen jüdischen Salonièren Berlins, Rahel Varnhagen und Henriette Herz (1764– 1847). Für Graetz hatten sie jedoch gemein, dass Frauen von ihrer Art, die selbstständig, ohne Anleitung durch Männer handelten und dachten, eine Gefahr für die (männliche) Gesellschaft sein mussten – allerdings durch ihre Schönheit, durch zu viel Geist bei zu wenig Klugheit, durch laszive Verführbarkeit. Stets ist in diesen Fällen eine unkontrollierte und wohl auch unkontrollierbare Sexualität und Verderbtheit im Text präsent.231 Das soll nicht heißen, dass es bei Graetz keine positiven Schilderungen von Frauen gebe. Allerdings zeichneten sich die – wenigen – rundum positiv dargestellten Frauen in Graetzens Darstellung denn auch vor allem durch 227 Graetz, Geschichte III3/1 (1893), 4. 228 Zwar war sie auch nicht dezidiert männlich („das geknechtete Juda“, die „Figur mit dem Ernste des Denkers“), doch kann wohl auch kaum von einer deutlichen Androgynität die Rede sein. Graetz, Geschichte IV (1853), 1. – Der Regelfall solcher Allegorien war hingegen eindeutig weiblich; vgl. Schmale, Geschichte der Männlichkeit, 194. 229 Als immer noch brauchbaren Überblick vgl. Kayserling, Jüdische Frauen. 230 Vgl. Graetz, Geschichte IX (1866), 366–372, sowie ders., Don Joseph. 231 Graetz, Geschichte III (1856), 216 f; Band XI (1870), 155–158 und 175–182. – Die einzige größere Ausnahme von dieser Regel ist die venezianische Dichterin Sarah Copia Sullam, der ein sehr positives Portrait gewidmet wird; mutmaßlicherweise hängt dies vor allem mit der Standhaftigkeit zusammen, mit der sie den Missionierungsbemühungen eines ihrer Verehrer widerstanden hat, und denen von Graetz breiter Raum gewidmet wird. Vgl. Geschichte X (1868), 146 ff.

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eines aus: Sie bleiben passiv und entfalten ihre segensreiche Tätigkeit, indem sie Männern allenfalls den Weg bahnen, vor allem aber ihnen das Feld räumen. Dies ist besonders auffällig im Falle der Königin Salome Alexandra (76–67 v.d.Z.), der einzigen Regentin und damit „Paradefrau“232 in der Geschichte des jüdischen Staates. Wie den übrigen Herodianern auch widmete der III. Band der Regentschaft von Alexander Jannais Witwe gleichfalls ein ganzes Kapitel.233 Allein sie spielt hierin eher eine marginale Rolle, während der Hauptteil dieses Kapitels von den ruhmreichen Taten ihres Bruders eingenommen wird. Die Königin selbst schilderte Graetz als eher schwach, gleichwohl nicht negativ.234 Jedwede Aktivität hätte bloß das ihr in Graetzens Augen gemäße, „sittliche“ Rollenverhalten gestört. Dies galt selbst für den Bereich der Gelehrsamkeit und der Wissenschaft. Graetz verstand unter den an Wissenschaft interessierten ausschließlich Männer: Daher richteten sich auch die „Noten“ am Ende eines neu erschienenen Bandes, wie er 1888 explizit schrieb, „an Fachmänner“.235 Dies entsprach durchaus dem männlich orientierten Habitus der Wissenschaft des Judentums. So konnte bereits Jahre früher der noch junge Abraham Geiger an Leopold Zunz schreiben: „[W]ir sind Männer geworden und wollen Männerkost, wir wollen die Wissenschaft.“236 Und wenngleich eine solche Haltung vermutlich von jedem anderen Wissenschaftler der Zeit geteilt worden wäre, so ist eine solche Männer-Zentriertheit gerade im Falle der jüdischen Geschichtsschreibung nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; denn mit Hannah Adams war es immerhin eine Frau gewesen, die eine der ersten größeren Gesamtdarstellungen des Jahrhunderts vorgelegt hatte.237 Gleichwohl erstaunt es nach dem vorher Gesagten wenig, dass sie weniger wegen der Qualität ihres Werkes von ihm abqualifiziert wird, als vielmehr ihres Geschlechts wegen: „Es war von einer Frau nicht zu erwarten, dass sie sich in die Urquellen der jüdischen Geschichte vertiefen, daraus die Wahrheit schöpfen und sie vom Scheine unterscheiden sollte.“238 In Kenntnis seines Lebensweges drängt sich hier die Frage auf, inwieweit Graetz in diesen Punkten eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen verarbeitete. So spekulativ solche Überlegungen auch immer bleiben müssen, der 232 So Schlüter, Vom Objekt zum Subjekt, 151. 233 Graetz, Geschichte III (1856), 141–155. 234 Vgl. etwa Graetz, Geschichte III/15 (1905), 147. – Graetzens Hauptquelle, Josephus Flavius, hatte hingegen den besonders herrschsüchtigen Charakter Salome Alexandras hervorgehoben. Vgl. Antiquitates XIII, 16, 197–202, v. a. 202. 235 Graetz, Geschichte III4 (1888), VI. 236 Geiger an Zunz vom 13.10.1833; abgedruckt in Ludwig Geiger, Aus Zunz’ Nachlaß, 248. 237 Adams, History of the Jews. – Zu ihr vgl. Lebeson, Hannah Adams; Schmidt, Usefulness, hier bes. 237–253, sowie Brenner, Propheten, 38 f. 238 Graetz, Geschichte XI, 452.

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dezidierte Ausschluss von Frauen aus einer als männlich definierten Sphäre der Wissenschaft (wie auch der Religion) erinnert stark an zahlreiche seiner Tagebucheintragungen, in denen er sich über den schädlichen Einfluss von Frauen auf studierende Männer ereiferte: über seine Tante in Wollstein, die ihn von seinen Studien abgehalten habe, über die Ehefrau von Wehlau in Ostrowo mit ihrer Herrschsucht, vor allem aber über die „Baschanskuh“, Hirschs Gattin Johanna in Oldenburg. Unter Ausblendung aller lebensweltlichen Erwägungen hatte er „Judentum“ in jenen Fällen gleichsam als einen männlichen Arkanraum reklamiert, wo „das Weib“ nach Möglichkeit zu schweigen habe. Da sich aber das Leben diesem idealen Entwurf nicht fügen mochte, hatte er in der Folge die Störerin wenigstens im Rahmen seines Tagebuches ausgeschlossen, indem er – wie erinnerlich – ihre charakterlichen Eigenschaften und ihre Moralität in Zweifel zog. Diese Strategie setzte er selbst in einem Falle weiblicher Gelehrsamkeit ein, in dem die Quellen keinen Ansatzpunkt für seine Haltung geben. Graetz bediente sich daher des vielsagenden Beschweigens. Denn während er im IV. Band für die Lebensbeschreibungen der großen rabbinischen Gelehrten breiten Raum ließ (sofern sie männlich sind), so bedachte er hingegen Beruria, die für die Ausbildung der Halachah nicht unbedeutende Gattin Rabbi Meïrs, gerade einmal mit einem einzigen entsprechenden Satz. Zwar referiert er darüber hinaus auch die Geschichte von der persönlichen Tragödie des Ehepaares, des Todes beider Kinder nämlich; doch ist es hier im Gegensatz zur Traditionsliteratur nicht die Selbstbeherrschung der Frau, die im Unterschied zur Schwachheit ihres Gatten von Graetz betont wird, sondern „R. Meïrs und seiner Frau Gottergebenheit“.239 Wenn er die Frau schon nicht verschweigen konnte, so mochte er sie wenigstens nicht „männlich“-stärker erscheinen lassen als ihren Ehemann. Denn seine ganze Einseitigkeit in der Beschreibung von Frauen und von Geschlechterverhältnissen offenbart wohl vor allem eines: Dass sich nämlich für Graetz die Frage nach „Männlichkeit“, nach der Geschlechts- und Geschlechteridentität des bürgerlichen Mannes dringend stellte. Hiermit sprach Graetz ein Problem an, das üblicherweise erst für das späte 19. Jahrhundert als virulent wahrgenommen wird; im Fin de Siècle sollte diese Frage jedoch zu einem der zentralen Diskurse der bürgerlichen Gesellschaft werden, in der Forschung ist heute sogar von einer regelrechten „Krise der Männlichkeit“ um 1900 die Rede.240 Es ist also dieselbe Zeit, in der im deutschen Kaiserreich mit der Schmutz- und Schundkampagne Sittlichkeit gerade auch 239 Im Übrigen erscheint diese Passage im Vergleich zu seinem sonstigen Stil einigermaßen lustlos und uninspiriert; Graetz, Geschichte IV (1853), 202 f, sowie Kayserling, Jüdische Frauen, 120 ff. 240 Vgl. Eder, Kultur, 168.

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in einem sexuell verstandenen Sinne zu einer politischen Kategorie und einem Kampfbegriff wurde. Wie eingangs erwähnt, sind solche Fragen für die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zumindest in keiner Weise erforscht. Allerdings gibt es zumindest im angelsächsischen Raum während der sozialen Krise der 1840er Jahre durchaus vergleichbare Prozesse, die entsprechenden Niederschlag in der Belletristik gefunden haben. Romane wie Benjamin Disraelis Tancred beispielsweise (der von Graetz rezipiert worden ist) legen hiervon Zeugnis ab.241 Ob es sich dabei lediglich um eine zeitliche Koinzidenz handelt oder tatsächliche Kausalzusammenhänge bestehen, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden. In jedem Falle ist freilich die Parallelität in den Themen bedeutsam. Denn tatsächlich geht es Graetz letztlich weniger um die Rolle und Geschlechteridentität der Frau als vielmehr um diejenige des Mannes. Ein anderes Beispiel aus der talmudischen Zeit belegt Graetzens Sorge um den „männlichen“ Charakter seiner Helden. Denn von einer der wohl wichtigsten rabbinischen Größen des palästinischen Judentums im 3. Jahrhundert, R. Jochanan ben Napacha, überliefert der Talmud ausnehmende Schönheit. Allerdings war es eine sehr spezielle Schönheit, denn der Mann war bartlos. Graetz kann daher nicht umhin zu bemerken, dass dessen „Schönheit mehr weiblicher Art“ gewesen sei, denn der Bart sei „der Ausdruck männlicher Würde“.242 Graetz gleicht allerdings dieses scheinbare Manko aus durch die Betonung von Jochanans äußerst langen Augenbrauen und von seinem gewaltsamen Blick, der angeblich sogar in der Lage gewesen sein soll unwillkürlich zu töten. Nun gelten gerade Augenbrauen in der Traditionsliteratur als „the quintessential symbol of rabbinic Judaism“.243 Doch während Graetz hier lediglich ein durchaus vorhandenes Detail im talmudischen Quellenbericht besonders hervorhebt, so handelt es sich bei der Anekdote mit dem Blick um eine Manipulation – laut Talmud sei es nämlich bloß ein Fluch R. Jochanans gewesen, der solcherart verheerend gewirkt haben soll.244 Es hat den Anschein, als ob der Historiker hier eine seiner Meinung nach missliche Effeminiertheit durch eine gezielte Überbetonung anderer, „männlicher“ Eigenschaften habe ausgleichen wollen – ungeachtet der genauen Quellenwiedergabe.245 Dies ist nicht bloß ein Einzelfall. In Graetzens Konzept vom Wesen des Judentums waren jüdische Herrscher und rabbinische Gelehrte Män241 Vgl. Valman, Manly Jews. 242 Graetz, Geschichte IV3 (1893), 237. – Nur am Rande sei an die Rolle erinnert, die Bärte in Graetzens Tagebucheintragungen gespielt haben; siehe oben, Kap. II 1.2. 243 Boyarin, Unheroic Conduct, 129. 244 Vgl. bBM 84a. 245 Dies war schon der generelle Vorwurf von Hirsch in seiner minutiös überprüfenden Rezension gewesen; siehe oben, Kap. II 2.5.

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ner, und als solche hatten sie „männlich“ zu sein. Unter „männlich“ verstand er wohlgemerkt Eigenschaften wie Stärke, Macht und Gewalt. Mit dem traditionellen jüdischen Männlichkeits-Konzept der Edelkayt hatte dies wenig zu tun.246 Es handelte sich also um ein klassisch heterosexuelles247 set von Eigenschaften, wie es sich im Laufe der christlich-abendländischen Vorstellungswelt entwickelt hatte. Ähnlich wie sein Frauenbild konnten wohl auch diese Vorstellungen mutmaßlicherweise auf seinen vielfältigen, autodidaktischen Jugend-Lektüren aufbauen.248 Die Folgen einer solchen Konzeption liegen auf der Hand: Effeminiertes Verhalten oder gar Homosexualität konnten nicht Teil des Judentums sein. Zumindest an einer Stelle seiner Geschichte erklärte Graetz das auch ganz offen, nämlich bei seiner Darstellung des himjaritischen Reiches im südlichen Arabien, das im 6. Jahrhundert n. d. Z. von mehreren, positiv bewerteten jüdischen Königen regiert wurde. Laut Graetz gab es allerdings unter ihnen eine Ausnahme: Ein Usurpator Laknia-Tanuf bemächtigte sich der himjaritischen Städte Zafar und Sanaa, setzte sich auf den himjaritischen Thron und schändete ihn durch Weichlichkeit und Laster. Von dem Umstande, daß er nach Weiberart Ohrringe trug, erhielt er den Schimpfnamen Dhu-Schanathir (Ohrringträger). Der Wollüstling befleckte die übriggebliebenen Prinzen des himjaritischen Kriegsstammes durch unnatürliche Lüste.

Die unfehlbare Schlussfolgerung hieraus war für den Historiker eindeutig und folgte unverzüglich: „Sicherlich bekannte er sich nicht zum Judenthume.“249 Was hier angesichts dieser naiven Art der Schlussfolgerung vermutlich als eher unbewusstes Resultat seiner Werthaltungen einzuschätzen ist, stellt sich jedoch an anderer Stelle als bewusste Strategie der Ausgrenzung dar. Es handelt sich dabei überdies um ein ungleich prominenteres Beispiel: den jüdischen König Herodes, dem Graetz auf ziemlich elegante Art und Weise 246 Wegweisend hierzu Boyarin, Unheroic Conduct. – Boyarin sieht das Aufkommen eines Krisengefühls in der jüdischen Männerwelt ebenfalls erst um die Jahrhundertwende; allerdings erwähnt er Graetz in seiner Studie nicht. 247 Gemäß der jüngeren Gender-Forschung ist mit „heterosexuell“ gemeint, dass es sich dezidiert gegen jedwede Form mann-männlicher/weib-weiblicher Sexualität oder Emotionalität richtet. 248 Vgl. etwa Herrmann u. a. (Hg.), Machtphantasie Deutschland. – Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass der von Graetz in seiner Jugend so stark bewunderte Wieland eigentlich ein anderes Geschlechterbild pflegte, weshalb er zeitgenössisch, wie erinnerlich, als unmännlich galt. Siehe hierzu oben, Kap. II 1.1. 249 Graetz, Geschichte V (1860), 95 f. – Diese Wertung war ihm so wichtig, dass er sie unter Betonung des Kausalzusammenhangs in der zugehörigen Note 10 nachdrücklich wiederholte: „Dhu-Schanatir[!] war gewiss nicht Jude, da er ganz offen Päderastie trieb, wie sämmtliche Gewährsmänner berichten.“ Ebd., 448 (Hervorhebung von mir, MPy).

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den Beinamen „der Große“ verweigert.250 Wenngleich Herodes zweifellos zu den großen Schurken in Graetzens Geschichtserzählung gehört, so schilderte der Historiker ihn desungeachtet stets mit einem gewissen Respekt. Gegen Ende seiner Regentschaft sollte er ihm sogar eine tragische Größe verleihen – anders also als bei seinen Musterbeispielen weiblicher Verworfenheit (wie etwa Kleopatra, aber auch Herodes’ Schwiegermutter Salome Alexandra). Gleichwohl entwarf Graetz, nachdem er geschildert hatte, wie Herodes das hasmonäische Königshaus weitestgehend ausgerottet hatte, für des Königs weitere Regentschaft ein überaus drastisches Gemälde: Die noch übrigen zwei Dritttheile der herodianischen Regierung bewegen sich ohne Fortschritt und bilden eine lange Kette von kriechender Schmeichelei gegen Augustus und Rom, von Bau- und Schaulust, von tief eingerissener Sittenverderbniß, von unglücklichen Verschwörungen und Hofintriguen und von dadurch herbeigeführten neuen Verbrechen und Hinrichtungen.251

Graetz bemühte sich, auch diesen ungeliebten „Usurpator“ so weit wie möglich auszuschließen – wenn schon nicht aus der jüdischen Geschichte, so doch zumindest aus den Reihen der jüdischen Herrscher: Der glänzende König Judäas wurde ihm daher zum „Halbjuden“. Diese antike PropagandaLosung bringt Graetz ohne jeden Quellenhinweis, und wenn er sie nicht zusammen mit dem griechischen Original anführte, müsste dieser Begriff der analysierenden Erzählung des Wissenschaftlers zugerechnet werden.252 Bereits einige Seiten zuvor hatte er die Bemerkung gemacht, die diese Bezeichnung indirekt halachisch rechtfertigte, nämlich dass Herodes’ Mutter „die arabische Königstochter Kypros“ und damit eine Nichtjüdin gewesen ist.253 Später fügte Graetz noch ein weiteres Argument hinzu, das geeignet schien, den jüdischen König zu diskreditieren: Er stilisierte ihn zum Bisexuellen. Zu den zahlreichen Hinrichtungsopfern des herodianischen Hofes gehörte nämlich auch ein „schöner Jüngling“ namens Carus, „mit welchem der König einen widernatürlichen Verkehr hatte“, dieser sei der „Schandbube“ des

250 „Seine Schmeichler nannten ihn ‚Herodes den Großen‘, die Nation aber nannte ihn nicht anders, als den hasmonäischen Sclaven.“ Graetz, Geschichte III (1856), 234. 251 Graetz, Geschichte III (1856), 220. 252 „Dies war der zweite Todesstoß, den Rom der jüdischen Nation versetzt hat, indem es sie einem Ausländer, einem Halbjuden (ήμιούδαιος), einem Idumäer, der persönliche Beleidigungen zu rächen hatte, auf Gnade und Ungnade presigab.“ Graetz, Geschichte III (1856), 194. Da Graetz ab der zweiten Auflage diesen Band in Geschichte der Judäer umbenennt, wurde somit aus Herodes in der Folge ein „Halbjudäer“; vgl. Geschichte III3/1 (1888), 193. – Zum Hintergrund vgl. Shaye D. J. Cohen, Beginnings, 13–24 (Kapitel „Was Herod Jewish?“, hier bes. 18 f), sowie passim. 253 Graetz, Geschichte III (1856), 181. – Später traute er seinen Lesern diesbezüglich wohl mehr Kenntnisse zu, jedenfalls konkretisierte sich die Herkunft der Mutter als Nabatäerin; vgl. Geschichte III3/1 (1888), 179.

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Herodes gewesen.254 Flavius Josephus, die einzige Quelle über den jungen Mann, gibt diese Information freilich nicht her: Hier ist nur zu erfahren, dass Carus „zu jener Zeit für den schönsten Jüngling galt“.255 Wie schon im Falle des R. Jochanan ben Napacha war Graetz auch hier nicht davor zurückgeschreckt, seine Quellen so zu manipulieren, dass die gewünschte Intention auch in Zeiten deutlich wurde, in denen die ästhetischen Vorstellungen der Traditionsliteratur oder sogar die Grundregeln halachischer Definitionen eines Juden nicht mehr vorausgesetzt werden konnten: Im Bürgerlichen Zeitalter bedurfte es vermeintlich bürgerlicher Werte, um ein Kollektiv sinnvoll zu definieren, um die Ein- und Ausgrenzungskriterien für ein breites Publikum nachvollziehbar zu machen.256 Konstruierte Graetz das Wesen des Judentums also als dezidiert heterosexuell, so stellte er es in seiner Erzählung überdies auch als männlich dar. Nicht nur die höchst ungleichgewichtige Rollenaufteilung in Schurkinnen auf der einen und Helden auf der anderen Seite legt dies nahe, auch die wenigen allegorischen Vergleiche. Anders als bei dem nicht gänzlich festlegbaren Bild zu Beginn des IV. Bandes sollte Graetz später eindeutiger werden. So bringt er zwei Mal das Bild einer Entblößung, um frühneuzeitliche Erläuterungsschriften und ihre Wirkung zu illustrieren: Doch während 254 Graetz, Geschichte III3/1 (1888), 233 f (in der Erstauflage fehlt Carus noch völlig; vgl. die entsprechende Stelle 229 f). – Graetzens Wortwahl ist hier im Übrigen bedeutsam. Denn mit der Bezeichnung als „Schandbube“ zeichnet er den Pagen als eine Art Lustknaben, wodurch gemäß dem klassischen Denkmodell der Altersdifferenzierung von „Sodomiten“ (jüngerer, passiver Verführter gegenüber einem älteren, aktiven und penetrierenden Verführer) Herodes der eigentliche Schuldige ist. Vgl. Eder, „Sodomiten“, 157. 255 Flav.Jos.Ant. XVII, 2,4 [Graetzens Quellenverweis (vgl. Geschichte III3/1 (1888), 234, ist falsch!]. 256 Zwei weitere wichtige Belege für den heterosexuellen Charakter von Graetzens Sicht des Wesens des Judentums liegen außerhalb des eigentlichen Fokus’ dieser Arbeit; doch sollen sie ihrer Wichtigkeit halber hier nicht verschwiegen werden. Denn seine Konzeption, die durch die Zuschreibung von Homosexualität ausschließt, für den Einschluss hingegen ihr Verschwiegen bedingt, zeigt sich in aller Deutlichkeit im 1874 erschienen I. Band der Geschichte der Juden bei zwei der Grundtexte mann-männlichen Begehrens. So brandmarkt Graetz in aller Ausführlichkeit die Verworfenheit der Bevölkerung der Stadt Sodoms wegen ihres homosexuellen Begehrens; die biblische Parallelerzählung über den Stamm Benjamin, verschweigt er jedoch (sie findet nur beiläufig und nur als Ereignis der Zerstörung in einem anderen Band Erwähnung, die Begründung verschweigt Graetz jedoch); vgl. Geschichte V (1860), 219. – Ungleich heikler aber war der locus classicus biblisch sanktionierter Männerliebe: die Beziehung zwischen König Sauls Sohn Jonathan und dessen jungem Feldherrn David. Gehörte doch der spätere König und Psalmendichter zu den zentralen Gestalten jüdischer Erinnerung, überdies auch bei Graetz zu den heroischen Gestalten. Für den deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts wäre es daher unmöglich gewesen, so weit wie manche Rabbinen in den talmudischen Diskussionen zu gehen und hier eine homoerotische Beziehung zu erblicken. Dies hätte in seiner eigenen Konzeption nachgerade den Ausschluss, die Verwerfung dieses Davids aus der jüdischen Gemeinschaft bedeutet. Überaus zartfühlend deutet er vielmehr diese Beziehung als reine „Herzensfreundschaft“. Vgl. Graetz, Geschichte I2 (1908), 203, sowie ebd., 179 und 183.

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der Kabbalist Isaak von Akko „die Blöße seiner Mutter“, der von Graetz zutiefst verachteten Kabbalah, aufdecke, so vergleicht er Leone da Modenas Übersetzungstätigkeit mit der Sünde Hams, der „die Blöße seines Vaters“ Noah aufgedeckt hatte257 – obschon wohl zufällig, so ist diese Gegenüberstellung gerade auch wegen ihrer sprachlichen Parallelität beachtlich. So wird sehr deutlich, dass für Graetz bestimmte Geschlechterrollenmuster gekoppelt waren mit Essenzen jüdischer Kollektiv-Identität: Männlichkeit war demzufolge eine Eigenschaft, die tauglich war, um wahrhaft jüdisches Verhalten zu kennzeichnen.258 Vor diesem Hintergrund ist es nicht einmal abwegig, auch die Bedeutung von Leiden und Martyrium für Graetzens Geschichtsbild in einem anderen Licht zu sehen. Denn in der deutschen Kultur hatte sich seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine veränderte Wahrnehmung des Opfertodes eingestellt. Gleichsam als Fortführung jener Umdeutung, wie sie bereits oben am Beispiel des Laokoons angedeutet worden ist, und wohl auch unter dem Eindruck der Kriege gegen die französischen Armeen war der patriotische Opfertod für das Vaterland Ausdruck von Männlichkeit und etwas Erstrebenswertes geworden: „Das Mannsein, als Mann geboren werden, implizierte als Teil der Geschlechtsidentität diese Opferfunktion.“259 Insofern wäre es denkbar, dass mehr noch, als ohnehin bei Graetz schon deutlich wird, das in der jüdischen Geschichte so präsente Martyrium eine aktive, geradezu heroische Angelegenheit ist, gleichsam eine Art männlicher ErsatzHeroismus für die langjährig in ihrer weit überwiegenden Mehrzahl vom Militärdienst für das Vaterland ausgeschlossenen Juden. Dieser Heroismus würde in Graetzens Geschichtswerk gut zu den ohnehin im reichen Maße vorhandenen Werten wie Religiosität, Bildung und Moralität passen. Damit wäre die Geschichte der Juden vollends zu einer Meistererzählung von Tugenden, oder eher: von universaler bürgerlicher Sittlichkeit geworden.

257 Graetz, Geschichte VII (1863), 216, sowie X (1868), 149. 258 Durchaus im Sinne des Sprachgebrauchs seiner Zeit, aber nichts destoweniger aufschlussreich, sind die Fälle, in denen er Frauen „männlichen Mut“, „männlichen Charakter“ oder etwas Ähnliches zuspricht. In der gesamten Geschichte gibt es nämlich nur vier solcher Fälle, wovon lediglich eine Jüdin ist (nebenbei auch die einzige, die keine Krone trägt): die oben bereits als Ausnahme erwähnte Dichterin Sara Copia Sullam; vgl. Graetz, Geschichte X (1868), 148, sowie oben, Fußnote 26. – Die übrigen „männlichen“ Damen sind Zenobia von Palmyra (IV3 [1893], 273), Toda von Navarra (V [1860], 379), sowie Elisabeth I. von England (IX [1866], 514). 259 Schmale, Geschichte der Männlichkeit, 195.

III Ein „Muskeljudentum“ avant la lettre? – Schlussbetrachtung

Das europäische 19. Jahrhundert war Säkulum von immenser Dynamik. Es war geprägt von zahlreichen machtvollen Prozessen und Bewegungen wie der Industrialisierung und dem wissenschaftlichen Fortschritt, Liberalismus und Kapitalismus, von Parlamentarisierung und dem Kampf um bürgerliche Freiheiten. Es war auch eine Zeit beständiger und einschneidender technischer Veränderungen wie auch noch zahlreicher anderer Strömungen. Mit seiner Dynamik war dieses Jahrhundert damit für die Zeigenossen eine beständige Herausforderung. Zumal sich nicht nur der Alltag beständig wandelte, sondern auch der weltanschauliche Rahmen in einer seltenen Weise dynamisierte. Der Verlust der Deutungsmacht, den Religion allgemein wie auch die verschiedensten Traditionen jeweils für sich hinnehmen mussten, ermöglichte zwar große Freiheiten; allein diese Prozesse zwangen auch stets zu beständiger Orientierung in einer sich verändernden Welt. Fragen wie: „Wer bin ich?“ „Wie bin ich geworden, was ich bin?“ und „Wer will ich sein?“ stellten sich drängender denn je und für eine nie zuvor erreichte Zahl von Menschen. Doch was diese Epoche vielleicht am ehesten auszeichnete, war die Tatsache, dass sie diese universalen Identitätsfragen in einer eigenen Weltanschauung zusammenfasste und im Namen von Bildung und perfectibilité des Menschen zugleich seine Identitätssuche gleichsam zu einem Imperativ werden ließ. Angesichts dieser Zumutung, beständig zu „werden“ und nie einfach „sein“ zu dürfen, war es nur allzu naheliegend, das Heil dort zu suchen, wo einem dieses „Werden“ entgegenkommt – in der Vergangenheit nämlich. Die Hoffnung war, in der Vergangenheit der eigenen Umgebung oder der eigenen gesellschaftlichen Umwelt Antworten auf jene Fragen zu finden, die womöglich einfacher und vor allem: dauerhafter sein sollten, als es die Vorstellung des eigenen Werdens jemals sein konnte. Gerade im Zeitalter der zunehmenden Individualisierung waren die entsprechenden sozialen Vernetzungen und ihr Sinnstiftungspotential für den einzelnen wichtiger denn je. Die Folge war, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu der großen Deutungs- und Sinnstiftungsinstanz des Jahrhunderts aufstieg. Die Historisierung alles Bestehenden bedeutete insofern nicht nur eine mehr und mehr ausgreifende Relativierung von bestehenden, vermeintlich ewigen Wahrheiten, sondern auch die Schaffung von neuen Gewissheiten und Essenzen. Die

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große Zahl historiographischer Meistererzählungen, die in dieser Epoche entstanden, soll hier nur ein Beispiel dafür sein, dass angesichts des beständig wachsenden Detailwissens und der zunehmenden Spezialisierung die Fähigkeit zur sinnstiftenden Verbindung eigentlich heterogener Dinge und Ereignisse eine entscheidende Schlüsselqualität wurde. Die Erkenntnis des „Eigentlichen“ über alle Brüche hinweg, mithin das „Wesentliche“ zu erkennen und darzustellen, gehörte zu den großen Aufgaben der Wissenschaft in jener Geschichtskultur, die so prägend für das 19. Jahrhundert gewesen ist. Der Historiker Heinrich Graetz gehört zu denjenigen Geschichtserzählern des 19. Jahrhunderts, denen eine solche sinnstiftende Verknüpfung heterogenster Bestandteile in herausragender Weise gelungen ist. Als Angehöriger einer herausgehobenen Minderheit war die Erfüllung dieser Aufgabe vielleicht besonders drängend, in seinem spezifischen Falle allerdings auch besonders schwierig. Denn er war letztlich der erste Historiker, der für die jüdische Geschichte einen solchen Versuch in sinnstiftender Absicht unternahm. Denn sein einziger nennenswerter Vorläufer, Isaak Markus Jost, hatte eher alles daran gesetzt, die Heterogenität der einzelnen jüdischen Gruppen in den verschiedenen Ländern zu betonen. Graetzens Geschichte der Juden hingegen ging von der Homogenität „des Judentums“ und der Zusammengehörigkeit der Juden in aller Welt aus, ohne dabei die Verbundenheit ihrer Protagonisten mit den jeweiligen Heimatländern zu ignorieren. Graetzens Suche nach dem einigenden Band hierfür sowie die Frage, was sich ihm in dem Narrativ seiner Geschichte als das „Wesen“ des Judentums darstellte, standen dementsprechend im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. In Anknüpfung an das zu Beginn dieser Arbeit entfaltete Theorie-Modell zur Identität sei dabei an dieser Stelle noch einmal der Konstrukt-Charakter solcher ausgreifender Identitätsvorstellungen erinnert. Die in solchen Narrativen entwickelten Entwürfe kollektiver Identität greifen – abstrakt gesprochen – eine oder mehrere qualitativ bestimmte Teil-Identitäten heraus und setzen sie anschließend absolut, was mit der Erhebung normativer Ansprüche auf dieser Grundlage einhergeht. Daraus ergibt sich die immense Anziehungskraft dieser Entwürfe, da sie auf diese Weise unübersichtliche und komplizierte Sachverhalte fassbar machen und womöglich Sinn geben können. Für die Erkenntnis dieser Prozesse ist es hingegen notwendig, sich den Ablauf solcher Prozesse klarzumachen, um nicht ebenjenen Strategien zur Vorspiegelung ewiger Wahrheiten zu erliegen. Ungeachtet des anderslautenden Anspruchs bleiben qualitativ bestimmte Identitäten (wie eben jüdische Identität) immer nur Teil-Identitäten, die in bestimmten Situationen Relevanz bekommen und dann gebildet werden. Dergestalt flüchtig und prekär ist jede Form von historischer Herleitung an sich bereits ein Konstrukt. Gleiches gilt für die jeweils behauptete Essenz.

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Der Weg, den Graetzens Suche nach einer sinnstiftenden Orientierung genommen hat, ist auf dieser Grundlage mit drei Schwerpunkten untersucht worden. In einem ersten Teil stand die Jugendzeit von Graetz bis zum Ende seines Studiums im Zentrum der Aufmerksamkeit. Den Ausgangspunkt bildete eine Art Urszene, in deren Folge sich erstmals die Bewusstwerdung jener identitätsrelevanter Fragen in seinem Tagebuch niederschlug. Davon ausgehend war die nachfolgende Zeit seines Lebens geprägt von tastenden, in verschiedene Richtungen sich bewegenden Identitätssuchen, die deutlich gemacht haben, dass die jeweils gewählte Option immer nur eine von verschiedenen gewesen ist. Dies galt bereits für die geistigen wie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der preußischen Provinz Posen mit ihrer multi-ethnischen, multi-sprachlichen und multi-religiösen Bevölkerung, eine Situation, die Graetz entscheidend geprägt und die wesentliche Grundlagen dafür gelegt hat, dass er sich in seinem weiteren Leben ungeachtet aller Rückschläge so hingebungsvoll dem Problem jüdischer Identität in der Moderne widmen sollte. Daran anschließend ist sein Verhältnis zu zwei der wichtigsten Stichwortgeber der jüdischen Modernisierungsdiskurse im 19. Jahrhundert erörtert worden: Samson Raphael Hirsch und Abraham Geiger. Graetz ist von beiden in bestimmten Aspekten angezogen worden, ohne dass er sich gänzlich mit ihren Vorstellungen hätte anfreunden können. Da überdies auf der persönlichen Ebene zwischen ihnen reichlich Reibungsflächen bestanden, sollte Graetz lange Zeit zwischen (neo-)orthodoxen und reformorientierten Ansichten oszillieren, ohne sich einer Partei gänzlich zu verschreiben. Mit der Aufnahme des Studiums in Breslau schließlich erfuhr Graetz auch noch in einer anderen Hinsicht die Notwendigkeit, sich selbst zu definieren, da ihm nämlich in der Odermetropole mit ihren sprachlichen, religiös-kulturellen und auch ethnischen Konflikten gleichsam die Rolle eines polnischen Juden zugeschrieben wurde. Waren die im ersten Teil behandelten Prozesse vorzugsweise solche der privaten Identitätssuche, die allenfalls durch einzelne publizistische Äußerungen erweitert wurden, so machte Graetz in der Folgezeit erste Schritte dahin, ein eigenständiges Konzept jüdischer Identität zu entwickeln. Hinzu kam, dass er in dieser Zeit sein Medium zur Positionierung und Verbreitung seiner Ansichten in wissenschaftlichen Texten fand. Mit dieser Phase seiner Auseinandersetzung mit Identität hat sich der zweite Teil dieser Arbeit eingehend beschäftigt. Den Anfang macht hier seine Dissertation, in der insbesondere anhand eines Vergleichs des an der Universität in Jena eingereichten Manuskripts mit der dann ausgearbeiteten Druckfassung bemerkenswerte Festlegungsversuche erkennbar geworden sind. Einen weiteren Versuch in dieser Richtung markierte seine Geschichtsphilosophie, in der er erstmals eine umfassende Construction der jüdischen Geschichte unternahm. Da diese Schrift in einer von Zacharias Frankel herausgegebenen Zeitschrift

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veröffentlicht wurde, schien sich Graetz hiermit deutlich auf der Linie von dessen „positiv-historischem“ Judentum zu positionieren. Allerdings hat die Feinanalyse seiner Texte gezeigt, dass ungeachtet allen Raffinements in Argumentation und Kenntnissen er zu dieser Zeit doch noch immer in Abgrenzungen definieren konnte: Sein Konzept vom Judentum war vorläufig das einer Negation, und eben keine positiv-historische Bestimmung. Auch in einer anderen Hinsicht begann Graetz, sich zu dieser Zeit festzulegen, nämlich als Mann. Mit Marie Monasch, der Tochter seines ersten Verlegers, hatte er die Frau seines Lebens kennen gelernt, die ihn nun veranlasste, auf einer persönlichen Ebene seine bisherigen Vorstellungen von Sittlichkeit und Geschlechterverhältnisse zu modifizieren, ohne dass deren Bedeutung für sein Bild vom Judentum geschmälert wurde. Daneben brachte sein veränderter emotionaler Status es mit sich, dass auch die bürgerliche Positionierung ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte: Auch wenn er dafür in mehrerer Hinsicht seine Freiheit opfern musste, so bedurfte es für eine Eheschließung der materiellen Sicherheit. Insofern ging es Graetz in der Folgezeit primär darum, ein Auskommen zu finden, ein Prozess, der für ihn vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse der Revolution 1848/49 sowie der folgenden Reaktionszeit geradezu existentielle Züge annahm. Die Hoffnungen und zahllosen Enttäuschungen dieser Monate und Jahre sollten ihn zu einer Art angry young man werden lassen, der sich schließlich endgültig von Hirsch, seinem langjährigen Hoffnungsträger in privater wie in jüdisch-identitätspolitischer Hinsicht, abnabelte. Über das hieraus resultierende historische Werk sollte es dann zum offenen Bruch zwischen beiden kommen: In einer umfangreichen Geschichte der talmudischen Zeit historisierte Graetz konsequent die jüdische Tradition der mündlichen Torah und positionierte sich damit eindeutig gegen die entsprechenden Vorstellungen der sich ausbildenden Neo-Orthodoxie, der er immer noch nahegestanden hatte. Sein Buch stand an der Schnittstelle zwischen dem zweiten und dem dritten Teil der vorliegenden Arbeit. Durch seine Intention und seinen Entstehungskontext gehörte es eindeutig in den Rahmen der noch tastenden Festlegungsversuche. Als es dann 1853 erschien, eröffnete es zugleich eine neue Epoche, historiographisch wie in Graetzens Leben. Denn dieses Buch erschien als „Band IV“ jener umfassenden Geschichte der Juden, mit der Graetz seinen Platz in der Geschichte der Geschichtsschreibung erobern sollte und die im Mittelpunkt des dritten Teils der vorliegenden Studie gestanden hat. In seiner historiographischen Meistererzählung gelang es ihm, zu einem kohärenten und konsistenten Gesamtbild jüdischer Geschichte zu kommen, das somit nicht nur sinn- und dadurch identitätsstiftend wirkte, sondern das das hier entworfene Konzept vom Wesen des Judentums auch zu popularisieren trachtete. Im Kontext jener umfassenden Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts wirkte Graetz nun nicht mehr im Stillen, gelegentlich

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im Breslauer Feuilleton oder durch einzelne wissenschaftliche Werke zu Fragen von eher spezieller Natur. Mit dem Erscheinungsbeginn der Geschichte vermochte er, sich am neugegründeten Jüdisch-theologischen Seminar in Breslau als der erste professionelle jüdische Historiker überhaupt zu etablieren. Dort amtierte er als Lehrer für ganze Generationen von Rabbineramts-Kandidaten und hatte somit ein großes Forum von Multiplikatoren zur Verfügung. Daneben aber eroberte er sich mittels seiner so überaus wirkungsmächtigen Geschichtsschreibung, seiner öffentlichen Vorträge und populären Aufsätze ebenso ein denkbar breites Publikum, unter dem er sein sich zu dieser Zeit verfestigendes Bild von einem bestimmten Wesen des Judentums handlungsleitend verbreiten, ja popularisieren konnte. Wie nun dieses Wesen von Graetz konstruiert wurde, worin es bestand und welche Folgerungen er daraus zog, ist Gegenstand der letzten drei Kapitel dieser Arbeit gewesen, deren Fokus auf denjenigen Bänden seiner Geschichte gelegen hat, die die jüdische Geschichte vom zweiten Tempel bis zu seiner eigenen Gegenwart behandeln (III–XI). Anhand dieser Geschichte der Juden in der Diaspora ließen sich die einem solchen Narrativ zugrunde liegenden leitenden Vorstellungen und Ideen deutlich herausarbeiten. Die Analyse seiner Konzeption sowie seiner Erzählstrategien hat gezeigt, dass ursprünglich ein kleineres Format geplant gewesen ist und dass der Narrativ gleichsam eine gewisse Eigendynamik gewonnen hat, was zur zunehmenden Ausweitung des Textes geführt hat, je länger die Arbeit daran dauerte. Gleichzeitig nivellierten sich die ursprünglichen, noch aus der von Hegel geprägten Geschichtsphilosophie stammenden Maßgaben, was vor allem durch das Verschwinden einer klaren und eindeutigen Periodisierung mit teleologischem Charakter deutlich wurde. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass der Haupttext des Werkes ungeachtet zahlreicher Neuauflagen im Lauf der Zeit nur unwesentlich verändert wurde. Vielmehr bedeutete die Geschichte für Graetz die Möglichkeit, eine kohärente, konsistente und kontinuierliche Erzählung als jene Art ewiger Wahrheit zu etablieren, die notwendig ist, um von Verbreitungsprozessen zu sprechen, die in handlungsleitender Absicht Wissen popularisieren. Es ging ihm mit seiner Meistererzählung nicht so sehr um den jeweils aktuellen Stand der Forschung, sondern eben um die zugrunde liegende Idee – eben jenes identitätskonstituierende Wesen des Judentums. In einem weiteren Schritt ist nach den Methoden gefragt worden, mit denen Graetz eine solche Essenz konstruiert hat. Die Untersuchung hat dabei ergeben, dass diejenigen Elemente der Sinnstiftung, die gemeinhin als konstituierend für solche Narrative angesehen werden (vor allem Volk/Nation, sowie in Graetzens Fall die Themen Leiden und Gelehrte), zwar eine Rolle spielen, aber nicht wesentlich sind. Die dahinterstehenden Vorstellungen entpuppten sich als zu wenig reflektiert und als zu wenig autonom, als dass

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sie das „Eigentliche“ hätten ausmachen können. Gleichwohl wurde dabei deutlich, dass Graetz von der Idee einer mission civilisatrice des Judentums unter den Völkern ausging. Im letzten Kapitel wurde einer Hypothese nachgegangen, die sich aus einzelnen Beobachtungen und Befunden der früheren Kapitel ergeben hatte, nämlich dass in Graetzens Fall die Essenz jüdischer Kollektividentität durch den Sammelbegriff der Sittlichkeit beschrieben werden könnte. Wenngleich der Historiker auch hierfür keine eindeutige Definition gibt, so konnte des ungeachtet gezeigt werden, in welchem Maße „Sittlichkeit“ in einem recht eng gefassten, auf Fragen der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse orientierten Sinne seine Geschichtsauffassung geprägt hat. Die Untersuchung seiner sprachlichen Mittel (Allegorien), aber auch seiner Inklusionsund Exklusionsstrategien legte schließlich dar, dass für Graetz „Judentum“ in bestimmter Weise konnotiert ist, nämlich nicht nur politisch liberal und anti-klerikal, sondern vor allem auch männlich und heterosexuell. Was so im Ergebnis für einen Geschichtsnarrativ des mittleren 19. Jahrhunderts wohl kaum zu überraschen vermag, ist freilich als Befund für seine Darstellungsweise durchaus bemerkenswert; denn eine Definition jüdischer Identität, die explizit diese Schwerpunkte setzt, entspricht in keiner Weise dem Fokus der bisherigen Forschung. Dabei sei nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Graetz seine Geschichte schreibt, lange bevor in Deutschland mit der lex Heinze die sogenannte Schmutz- und Schundkampagne einsetzt, die alle Bereiche des Lebens und der Kunst betreffen sollte. Die Argumente und Sprachbilder sind dabei bemerkenswert ähnlich. Zu seiner eigenen Zeit ist Graetzens Konzept vom Judentum als einer sittlichen Veranstaltung jedenfalls nicht rezipiert worden. Umso auffälliger ist es, dass seine Rezeption und Verbreitung erst zu der Zeit die weitesten Ausmaße annehmen, als auch weit über das Judentum hinaus Prozesse wirken, die etwa von einer regelrechten Krise der Männlichkeit sprechen. Vor diesem Hintergrund präsentierte sich dann der zionistische „Muskeljude“ Max Nordaus1 etwa nicht mehr als ein plötzlich auftauchendes Phänomen, sondern bekäme mit einem Mal einen Stammbaum, dessen Wurzeln bis in die Zeit der Aufklärung reichen.

1 Hierzu vgl. jetzt Presner, Muscular Judaism, der jedoch Graetz nur beiläufig erwähnt.

Siglenverzeichnis

(Die Titel in Kapitälchen werden im Literaturverzeichnis ausführlich angegeben, nicht eigens aufgeführte Siglen entsprechen den Richtlinien der RGG4.) AKG AZJ BullLBI dEJ eEJ HebBib HRG IWS JbAS JL JJGL JLB JP JSFUB JüdZsWL Kilcher LGB1 LGB2 NS ÖZG ZsRIJ

Archiv für Kulturgeschichte Allgemeine Zeitung des Judenthums Bulletin des Leo Baeck Instituts Encyclopaedia Judaica [deutsch] Encyclopedia Judaica [englisch]. 1971 Hebräische Bibliographie Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte Die Israeilitische Wochen-Schrift Jahrbuch für Antisemitismusforschung Jüdisches Lexikon Jahrbuch für Jüdische Geschichte und Literatur Das Jüdische Literaturblatt Die Jüdische Presse Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben Kilcher, Andreas B./Otfried Fraisse (Hrsg.) unter Mitarbeit von Yossef Schwartz: Metzler Lexikon jüdischer Philosophen Löffler, Karl/Kirchner, Joachim (Hg.) unter Mitwirkung von Wilhelm Olbrich: Lexikon des gesamten Buchwesens. 1935–1937 Corsten, Severin (Hg.) unter Mitwirkung von Bernhard Bischoff: Lexikon des gesamten Buchwesens. 21985–[2007] Abraham Geiger, Nachgelassene Schriften Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Zeitschrift für die reiligiösen Interessen des Judenthums

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Quellen- und Literaturverzeichnis

1.2 Gedruckte Schriften von H. Graetz* 1

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Quellen

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1.2.3 Sonstige Werke Friedmann, Bernhard/Graetz, Heinrich: Die angebliche Fortdauer des jüdischen Opfercultus nach der Zerstörung des zweiten Tempels, in: Theologische Jahrbücher 7 (1848), S. 338–371. Graetz, H.: Die Anfänge der neuhebräischen Poesie, in: MGWJ 9 (1860), S. 19–29 und 57–69. Vgl. dazu Geiger, [Abraham]: Berichtigung einiger unrichtiger Behauptungen, in: HebBib 3 (1860), 1–4. Graetz, Hirsch: De Auctoritate et vi quam gnosis in Judaismum habuerit. [Phil.Diss. Jena] 1845. [UA Jena M 307 fol. 65 [25bll.]. – Gedruckt als Gnosticismus und Judenthum 1846. [Graetz, H.]: Briefwechsel einer englischen Dame über Judenthum und Semitismus. Stuttgart 1883. Neuausgabe als: Briefe einer Jüdin über das Judenthum in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Stuttgart 1885. Graetz, H.: Die talmudische Chronologie, in: MGWJ 1 (1854), 509–521. Graetz, H.: Die Construction der jüdischen Geschichte, in: ZRIJ 3 (1846), 81–97, 121–132, 361–381 und 413–421. Wieder als: Heinrich Graetz: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze. Mit Fußnoten und einem Nachwort von Ludwig Feuchtwanger. Berlin 1936 (= Bücherei des Schocken-Verlags, Bd. 59). Neuausgabe hg. und mit einem Nachwort von Nils Römer. Düsseldorf 2000. Graetz, H.: Don Josef, Herzog von Naxos, Graf von Andros, und Donna Gracia Vali Nahsi, in: JbI 3 (1856), 1–39. Graetz, H.: Die Ebjoniten des alten Testaments, in: MGWJ 18 (1869), 1–20, 49–71 und 115 f. Rez.: E[wald], H[einrich] in: GGA 1870, Sp. 1401–1408. [Graetz, Hirsch (Heinrich)]: Gegenerklärung gegen die Erklärung des Dr. Philippson, in: MGWJ 18 (1869), 264 ff. Graetz, Hirsch: Gnosticismus und Judenthum. Krotoschin 1846. Rez.: Hirschfeld, H[irsch], in: ZRIJ 3 (1846), 317–320 und 352–358. Graetz, H[irsch (Heinrich)]: Läkät schoschanim. Blütenlese neuhebräischer Dichtungen vom 2. bis zum 14. Jahrhundert. Chronologisch geordnet. Breslau 1861. Rez.: [Geiger, Abraham] in: JüdZsWL 1 (1862), 68–75. Graetz, H.: Der Minister-Rabbiner Samuel Ibn Negrela. Eine Biographie, in: JbI 6 (1859), 1–14. Graetz, H.: Der Prophet Ezechiel. Ein Lebensbild, in: JbI 5 (1858), 95–112.

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Personenregister Personenregister Abraham Ibn Daud 236, 240 Acher s. Elischah ben Abuja Adams, Hannah 231, 264 Adler, Nathan Marcus 57 Akiba 106 f, 111 ff, 115–118, 191 f, 229 Aischenes 223 Alexander der Große 153 Alexander Jannai, König von Judäa 264 Ambrosch, Joseph Julius Athanasius 95 Aristoteles 128, 154 Arnim, Achim von 177 Arnim, Bettina von 177 Auerbach, Jakob 86 Augustinus von Hippo 258 Augustus, röm. Kaiser 268 Bachmann, Karl Friedrich 102 Simon Bar Kochba 111 Baron, Salo Wittmayer 24 ff Basedow, Johann Bernhard 134 Basnage, Jacques 231 Baur, Ferdinand Christian 23, 164, 178 ff, 182 Bayle, Pierre 58 f, 182 Beer, Bernhard 85, 141, 184 Behrend, Benzion 45, 47 ff, 99, 120, 129 Behrend, Julie, geb. Monasch 120 Ben Azzai 106, 113, 115 Ben Soma 106, 113, 115 f Benjamin von Tudela 240 f Berger, Peter L. 13 Bernays, Isaac 57, 212 Bernays, Jakob 212 f, 215 Bernstein, Georg Heinrich 89, 96, 97, 98, 147 Bloch, Philipp 21, 28 f, 174, 176, 181, 186

Beruria 265 Bodmer, Johann Jakob 58 Böckh, August 153 Böhmer, Georg Wilhelm Rudolph 119 Börne, Ludwig 254 Boguslawski, Palm Heinrich Friedrich von 97 Bourdieu, Pierre 39, 258 Bousset, Wilhelm 154 Braniß, Christlieb [oder: Christoph] Julius 95–98, 144, 147–156, 159, 161, 252 Brann, Markus 21, 28 f, 35, 63, 174, 212 Breuer, Joseph 174 Busch, Isidor 221 Buxtorf, Johann 53 Calvary, Salomon 99, 175 Campe, Johann Heinrich 40, 134 Cassel, David 102, 176 Cassel, Selig 178, 185, 187, 232, 239 Cerinthus (Kerinth) 109 Chatam Sofer (s. Schreiber, Moritz) Cicero (Marcus Tullius Cicero) 40, 79, 98 Coppia Sullam, Sara 263, 270 Creiznach, Michael 145 Dahlmann, Friedrich Christoph 204 Dante Alighieri 97 f David, König von Israel 269 Demosthenes 223 Derenbourg, Josef 145 Descartes, René 181 f Dessauer, Julius H. 187 Deutsch, Gotthard 242 Dilthey, Wilhelm 148, 215 Disraeli, Benjamin 266 Döbereiner, Johann Wolfgang 103

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Personenregister

Dohm, Christian Wilhelm (von) 250 Doré, Gustave 245 Droysen, Johann Gustav 153, 177, 182, 204, 259 f Dubnow, Simon 188, 240–243, 249 Dukes, Leopold 182 Duncker, Max 201 Eger, Akiba 38, 63, 66 Eichhorn, Karl Friedrich 94 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham 102 Eleazar ben Chananjah 221, 223 Elieser ben Hyrkanos 191 f Eliot, George 245 Elisabeth I., Königin von England 270 Elischah ben Abuja, gen. „Acher“ 106, 107, 112–115, 117 f Elvenich, Peter Joseph 97 Ersch, Johann Samuel 150, 185 f Ezechiel 221 Ettinger, Shmuel 22 Ewald, Heinrich 150, 182, 195 Feuerbach, Ludwig Andreas 148, 156 Fichte, Johann Gottlieb 177, 252 Fichte, Immanuel 147 Finkenstein, R. 219 Fischer, Nikolaus Wolfgang 91, 95 Fita, Fidel 28 Flavius Josephus 269 Formstecher, Salomon 145 ff Feuchtwanger, Ludwig 150 Fränckel, Jonas 211 Frankel, Zacharias 26, 119, 137–144, 157, 160 ff, 177, 184 f, 204–209, 211–216, 218 f, 244, 247, 273 Freund, Wilhelm 78–81 Freytag, Gustav 36, 90, 189, 251 Friedmann, Bernhard 180 f Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 75, 148 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 147, 151, 224 Fürst, Julius 53, 79 f, 84, 139, 141, 184 Fueter, Eduard 251 Funkenstein, Amos 208

Galliner, Alexander 55 Gamaliel II., Patriarch 191 f Gans, Eduard 105 Gebhardt, Julius 66 f, 87 Geiger, Abraham 23, 71–86, 90 f, 117, 124, 138, 141 f, 163, 165, 179 f, 182, 209 ff, 218 ff, 264, 273 Gerlach, Ernst Ludwig von 224 Gervinus, Georg Gottfried 204 Giesebrecht, Wilhelm 201, 209 Ginsberg, B. 79 Goethe, Johann Wolfgang von 41, 44 Göttling, Karl Wilhelm 103 Goldschmidt, Isaak Fischel 130, 134 Goldschmidt, Marianne 130 f, 133, 234 Gottsched, Johann Christoph 59 Graetz, Abraham [Bruder] 37, 47, 93, 213 Graetz, Jakob [Vater] 34–37, 46, 93, 134, 172 Graetz, Vogel, geb. Hirsch [Mutter] 34–37, 46, 53, 93, 134, 171 Graetz, Leo 27, 174 Graetz, Marie, geb. Monasch 28, 119, 121–126, 131, 137, 142, 162, 170, 172 ff, 192, 195, 213 f, 261, 274 Graetz-Cohn, Flora 27, 100, 174 f Gruber, Johann Gottfried 150, 185 f Güdemann, Moritz 216 f, 219, 247 Guhrauer, Gottschalk Eduard 95, 98 Gutermann, Sophie 42 Häusser, Ludwig 209 Hand, Ferdinand Gotthelf 103 Hardtwig, Wolfgang 16 Haym, Rudolf 201 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 66, 104, 108, 117, 146 f, 149, 150, 152–157, 159, 161, 178, 185, 200, 217, 240, 252, 259, 275 Heine, Heinrich 105, 232 Helena von Adiabene 254 Herder, Johann Gottfried 108, 110, 133, 139, 146 Herodes I. von Judäa, gen. „der Große“ 267 ff

Personenregister Herz, Henriette 263 Heschel, Susannah 83 Hess, Moses 156, 169 Hillel der Ältere 191, 230, 260 Hirsch, Johanna, geb. Jüdel 59, 60, 62 ff, 68, 70, 126, 128 f, 134 f, 264 Hirsch, Samson Raphael 37, 47, 48–64, 66–75, 78, 91, 94, 107, 117, 118, 124, 126, 128 f, 133, 138, 142, 145, 161, 163, 165 f, 170, 171, 174, 184, 190, 191–195, 212, 229, 259, 273 Hirsch, Samuel 145 ff, 161 Hirschfeld, Hirsch S. 66, 119 Hirzel, Salomon 189 Hoffmann, Andreas Gottlieb 150 Holbach, Paul Thierry Baron von 182 Holdheim, Samuel 65, 71, 79, 84, 117, 140, 234 Honigmann, David 71 f, 79, 91 f, 96 Hoym, Karl Georg Heinrich von 76 Humboldt, Wilhelm von 39, 89, 97, 195, 202, 212, 216 Hundt-Radowski, Hartwig von 250 Ismael ben Elisa 191 f Janssen, Johannes 251 Jellinek, Adolf 227 Jeremias 221, 223, 225 Jesus von Nazareth 42, 230, 234 Jochanan ben Napacha 266, 269 Jochanan ben Sakkai 191, 230 Joël, Manuel 219 Josef Nasi, Don 221, 225, 248, 263 Jost, Isaak Markus 26, 84, 184 f, 187 f, 204, 227, 229, 232 f, 239, 241, 243, 250, 252, 272 Josua ben Chananja 191 f Juda ha-Levi 40, 154, 260 Juda ha-Nasi 79, 84, 192 Juda Makkabäus/ha-Makkabi 262 Kahlert 97 Kant, Immanuel 144 f, 258 f Karl der Große 78 Keller, Gottfried 18

331

Kesting, Jürgen 20 Kirchheim, Raphael 184, 194 f Kleopatra von Ägypten 263, 268 Kompert, Leopold 221 Koselleck, Reinhart 12 Kristeller, Samuel 28, 36, 247 Krochmal, Nachman 145 f Kronthal, Doris 99, 100, 124, 132 Kronthal, Dov Baer 39, 47, 99, 126 Kronthal, Louis 99 Khaniah Yanuf [Laknia-Tanuf], gen. Dhu Schanatir 267 Landau, Wolf 141 Landsberg 69 Lasker, Eduard 99 Leiner, Oskar 227 f Lessing, Gotthold Ephraim 41, 245 f Lehfeldt, Joseph (geb. Levy) 177 Lehmann, Joseph 176, 211, 216 Leibniz, Gottfried Wilhelm 42 Leone da Modena 270 Leraux, Pierre 169 Levy, Immanuel 211 ff Levy, Jacob 85, 219 Levy, Moritz Abraham 79, 219 Liebeschütz, Hans 23, 25 Lipschütz, Israel 66 Livius (Titus Livius) 45 Löbusch, Meyer, gen. Malbim 71, 78, 163 Louis-Philippe, König von Frankreich 169 Luden, Heinrich 102 f Luther, Martin 250 Mark Twain 92 Marx, Karl 156, 169 Meïr 265 Meisl, Josef 21 Mendelssohn, Moses 40, 154, 235, 237, 239, 248 Mendes, Doña Gracia [s. auch Josef Nasi] 263 Mieses, Isaak 158, 161 Meyer, Michael A. 24

332

Personenregister

Mommsen, Theodor 170, 189, 195, 200 f, 209, 242 Monasch, Bär Löw 47, 103, 119 ff, 165, 274 Monasch, Julie, s. Behrend, Julie Monasch, Marie, s. Graetz, Marie Moses 256 Moses ben Maimon (Maimonides, Maimuni) 40, 46, 154, 236–239 Mosse, Markus 167 Movers, Franz Karl 96 f Muhammad 72, 98, 222 Munk, Samuel Meyer 37 f, 46, 63, 164 Michael, Reuven 21 f, 27, 29, 35 Mommsen, Theodor 25, 27 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 97 Neumann, Karl Friedrich 170 Niethammer, Lutz 15 Nietsche, Friedrich 16, 260 Nissen, Salomo 79 Nordau, Max 276 Perczel von Bonyhád, Moritz 172 Perles, Moritz 217, 219 Peuker 97 Philipp II. Von Makedonien 223 Philippson, Ludwig 75, 227 Philo von Alexandrien 154, 260 Platon 79, 154 Plath, Heinrich 170 Plessner, Salomo 52 Pörksen, Uwe 15 Pohl, Georg Friedrich 97 Pompeius (Gnaeus Pompeius) 185 Proudhon, Pierre-Joseph 169 Rabinowitz, Saul Pinchas 238 Racine, Jean 245 Raffael da Urbino (Raffaello Santi) 52 Rahmer, Moritz 217 Ranke, Leopold (von) 24, 26, 89, 176, 177, 195, 203 f, 215, 225, 248 Rapoport, Salomon Juda Löw [Schir] 45, 141, 185, 221

Reimer, Karl 189 Reinold, Christian Ernst Gottlieb 103 Remak, Robert 167 Renan, Ernest 246 Reuchlin, Johannes 258 Riehl, Wilhelm Heinrich 251 f Riesser, Gabriel 167, 168 Ritschl, Albrecht 180 Rodriguez de Castro, Joseph 254 Roepell, Richard 89, 96, 98, 201 Rohowski 97 Rousseau, Jean Jacques 40, 133 f Sa’ad ad-Dawla 221, 225 Sachs, Michael 138, 141, 175 ff, 186, 221 Sa’adya Gaon 154 Salome Alexandra, Königin von Judäa 264, 268 Salvador, Josef 161 Savigny, Friedrich Carl von 139, 177 Schammai 191 Samuel Ibn Negrela 221, 225 Saul, König von Israel 269 Scheibel, Johann Gottfried 148 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 144 ff, 148 Schiller, Friedrich 40 f, 60, 123, 128, 134 Schiff, E. [„die E.“] 129, 132 Schiff, Josua 66, 79 Schinkel, Karl Friedrich 52 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich 156 Schleiermacher, Friedrich 140, 148 Schnauß, Leopold 226 Scholem, Gershom 11 Schorsch, Ismar 22 f, 83 Schreiber, Moritz (gen. Chatam Sofer) 175 Schultze, Friedrich Gottlieb 103 Schröckh, Johann Matthias 45 Snell, Karl 103 Sokrates 154 Spalding, Johann Joachim 134, 158 Spindler, Karl 47 Spinoza, Baruch 42, 174

Personenregister Stahl, Friedrich Julius 151 Stein, Leopold 140 Steinheim, Salomon Ludwig 145 ff, 161 Steinschneider, Moritz 204, 208 Stenzel, Gustav Adolf Harald 89, 96, 98 Stobbe, Otto 28 Strauss, David Friedrich 180 Strassmann, Wolfgang 100 Sue, Eugène 245 Süvern, Johann Wilhelm 89 Sybel, Heinrich von 25, 202 f, 209, 241 f Szántó, Simon 221 Terenz (Publius Terentius Afer) 45 Thales von Milet 46 Tiktin, Abraham 77 f Tiktin, Gedalja 73, 79, 81, 141, 142 Tiktin, Shloma Salman (Salomon) 73, 75, 77 ff, 81, 163 Tocqueville, Alexis de 224 Treitschke, Heinrich von 20, 24, 89, 195, 254 Trendelenburg, Friedrich Adolf 148 Troeltsch, Ernst 16 Varnhagen von Ense, Rahel 254, 263 Veit, Moritz 167 f, 177, 189, 226, 231 Virgil (Publius Virgilius Maro) 45

333

Waitz, Georg 203, 209 Wehlau, Jakob 67 f, 93, 94, 121, 126 Wehlau (Jakob Wehlau’s Gattin) 68, 126, 129, 134 f, 264 Wehlau, Malchen 121, 130 Weitling, Wilhelm 169 Welcker, Carl 262 Wertheim, Fischel (Philipp) 72, 222 Wertheimer, Josef 221 Wieland, Christoph Martin 42–45, 58, 133, 158, 246 Wiener, Adolph Meyer (Aron) 66 f Winckelmann, Johann Joachim 245 f Wolff, Christian 40, 42 Valentinus 109 Vico, Giambattista 146 Volkmar, Gustav 28 Wartenburg, Paul Yorck 148 Yerushalmi, Yosef Hayim 206, 208 Zadek, Ignatz 100 Zenobia von Palmyra 270 Zlocisti, Theodor 27 Zunz, Leopold 26, 104 f, 107, 146, 169, 177, 186, 204, 221, 232, 244, 251, 264

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK) Band 1: Joachim Schlör Das Ich der Stadt

Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938 2005. 512 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56990-0 Eine Analyse der modernen Debatten über das Verhältnis von moderner jüdischer Kultur und der Lebenswelt Großstadt – ausgelöst durch die Idee von Moritz Goldstein, 1938 eine »Stadt Israel« zu gründen.

Band 3: Michael Brenner / Gideon Reuveni (Hg.) Emanzipation durch Muskelkraft Juden und Sport in Europa

2006. 272 Seiten mit 10 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56992-4

zueinander, sondern eher wie zwei zusammen aufwachsende Schwestern, so Yuvals These. In seinem provokanten Buch zeigt er, wie diese Beziehung das Bewusstsein von Juden und Christen, insbesondere bei der Herausbildung ihrer Identität geprägt hat.

Band 6: Mirjam Triendl-Zadoff Nächstes Jahr in Marienbad Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne

2007. 246 Seiten mit 8 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56995-5 Mirjam Triendl-Zadoff reist in westböhmische Badeorte und zeigt wie sich in den Sommern vom späten 19. Jahrhundert bis in die 30er Jahre temporäre »jüdische Orte« etablierten, die zu kulturellen Zentren jüdischen Lebens in Europa wurden.

Die hier vorliegende Aufsatzsammlung beleuchtet das Verhältnis von Sport und Judentum in Europa im Kontext der jüdischen Wissenschaften.

Band 7: Annkatrin Dahm Der Topos der Juden

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Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter Aus dem Hebräischen von Dafna Mach2007. 304 Seiten mit 6 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56993-1 Judentum und Christentum verhalten sich nicht wie Mutter und Tochter

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Dahm zeigt anhand der deutschsprachigen Musikliteratur wie sich subtile Beschreibungsstrategien zu eindeutigen Wertungsfolien entwickeln konnten, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in aggressive Diffamierungen verwandelten.

Jüdische Geschichte und Kultur – eine Auswahl Simon Dubnow Buch des Lebens

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Zur Geschichte einer Metapher

Die Metapher vom »Luftmenschen« – eine kritische Zeitdiagnose um 1900.