Jüdische Friedhöfe: Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal 9783205791256, 9783205784777

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Jüdische Friedhöfe: Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal
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Claudia Theune/Tina Walzer

Jüdische Friedhöfe Kultstätte, Erinnerungsort, Denkmal

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

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Gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät, Universität Wien Institut für Konservierung und Restaurierung der Universität für Angewandte Kunst, Wien Jüdisches Erbe. Plattform zur Bewahrung und Erforschung der jüdischen Friedhöfe in Österreich Nationalfonds der Republik Österreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Titelbild: © Privatarchiv Tina Walzer, 2007

ISBN 978-3-205-78477-7

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier

Druck: Primerate, Ungarn

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Inhaltsverzeichnis

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Claudia Theune, Tina Walzer

Vorwort

Rahmenbedingungen der Forschung 9

Tina Walzer

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Otto Lohr Géza Hajós

Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern Vom Umgang mit jüdischen Denkmälern nach 1945 Denkmalschutz, Gartendenkmalpflege, jüdische Friedhöfe

Rezeptionsgeschichte im Spiegel jüdischer Friedhöfe in Österreich und Deutschland 131 171

Michael Studemund-Halévy Grenzenlos und globalisiert. Sefardische Grabkunst in der Alten und Neuen Welt Elana Shapira Jüdisches Mäzenatentum zwischen Assimilation und Identitätsstiftung in Wien 1800–1930

Einzelstudien 187

Michael Guggenberger

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Elgin von Gaisberg, Johannes Cramer, Tobias Horn, Sarah Kuznicki-Fischer, Tobias Rütenik, Anja Tuma Der Fall Berlin-Weißensee. Der größte noch bestehende jüdische Friedhof Europas im Spannungsfeld zwischen Kultort und Denkmalpflege

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Der alte jüdische Friedhof am Judenbichl (Judenbühel) bei Innsbruck. Ein „wiederentdecktes“ Tiroler Kulturdenkmal

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Inhaltsverzeichnis

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Stefan Schmidt

Gartendenkmalpflege am jüdischen Friedhof Wien-Währing

Konservatorische und restauratorische Grundlagenforschung 243

Gabriela Krist

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Johannes Weber

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Andreas Rohatsch

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Martin Pliessnig

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Autorinnen und Autoren

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Konservatorisch-restauratorische Bestandsaufnahme als Tool für die Denkmalpflege Gesteinsverwitterung – Grundlagen und Untersuchungsmöglichkeiten Die Denkmalgesteine historischer jüdischer Friedhöfe in Wien – gesteinskundliche Grundlagen Wettlauf gegen die Zeit. Konservatorische und restauratorische Bestandsaufnahme sowie Zustandsanalyse am jüdischen Friedhof Währing

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Vorwort Es war ein strahlender, ruhiger Sommertag nach einer stürmischen Nacht im Juni 2007. Auf dem jüdischen Friedhof Währing in Wien war eine Gruppe der Anthropologischen Gesellschaft in Wien versammelt. Die geplante Führung erwies sich schnell als undurchführbar, riesige Baumteile waren herabgestürzt und hatten Grabdenkmäler gruppenweise zerstört, andere hingen noch oben in den Baumkronen, jedoch bestand jederzeit die Gefahr, dass sie herabstürzten. Aus dem geführten Rundgang wurde ein Vortrag mit stehenden Bildern. Anschließend kam Otto Urban aus dem Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien auf Tina Walzer zu. Man sehe aus den Institutsräumlichkeiten – untergebracht im Gebäude der ehemaligen Hochschule für Welthandel – den jüdischen Friedhof Währing und überlege, ob und welchen Beitrag die Universität Wien leisten könnte, um dieses wichtige Denkmal zu schützen. Dies war Anstoß zu einer kleinen Reihe von Veranstaltungen an der Universität Wien, wobei Forschung lebendig und praxisnah gestaltet wurde. Es entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Institut, namentlich mit Claudia Theune. Tina Walzer brachte sich mit einem breiten und tiefen fachlichen Wissen zu jüdischen Friedhöfen in Europa ein und Claudia Theune organisierte und moderierte die Veranstaltungsreihe. Zunächst fand mit Kollegen und Studierenden verschiedener Fächer ein interdisziplinäres Seminar statt. Das Interesse am Thema „Jüdische Friedhöfe im Spannungsfeld zwischen Kultort und Denkmal“ war groß, Angehörige der Fachrichtungen Europäische Ethnologie, Judaistik, Kunstgeschichte, Numismatik, Ur- und Frühgeschichte und Zeitgeschichte brachten ihre Perspektiven ein. Dozenten und Studierende beschäftigten sich anhand des jüdischen Friedhofes Währing mit verschiedenen historischen, kulturwissenschaftlichen und restauratorischen Fragestellungen, Methoden und Analysen. Die Ergebnisse mündeten in einer Posterausstellung, die an verschiedenen Orten in Wien und München 2008 und 2009 gezeigt wurde. Wegen des großen Interesses entstand die Idee, Experten zum Thema zu einer Vortragsreihe einzuladen, die mit ihrem spezifischen Fachwissen zur rechtlichen Situation, zur Denkmalpflege und Gartendenkmalpflege, zu Restaurierungsproblemen und zu verschiedenen historischen Aspekten aus regionalem und globalem Blickwinkel vielfältige Themenspektren zu jüdischen Denkmälern darlegen konnten. Es wurde eine überaus anregende Veranstaltungsreihe, die unser Wissen bereicherte und vertiefte. Die Beiträge in all ihrer Originalität, Bandbreite und Vielfältigkeit finden sich hier, überarbeitet und um so manchen Aspekt bereichert, versammelt. Und das Wissen kommt zeitgerecht: Eben hat sich die österreichische Bundesregierung mit Vertretern der einzelnen österreichischen Bundesländer geeinigt, Verantwortung für die Pflege und Sanierung aller jüdischen Friedhöfe in Österreich übernehmen zu wollen. Das Thema wird stärker in der Öffentlichkeit thematisiert und populär. Ein

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Vorwort

wissenschaftliches Bewusstsein für jüdische Friedhöfe, gepaart mit solidem Erfahrungsschatz, ist die beste Voraussetzung dafür, dass diese einzigartigen Orte nun nachhaltig als Kultstätten, Erinnerungsorte und Denkmale bewahrt werden können. Claudia Theune, Tina Walzer, Wien im Juli 2010

Die Veranstaltungsreihe und der Druck des Bandes konnte mit finanzieller Hilfe des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Wien; der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Universität Wien; des Instituts für Konservierung und Restaurierung der Universität für Angewandte Kunst, Wien; Jüdisches Erbe. Plattform zur Bewahrung und Erforschung der jüdischen Friedhöfe in Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich finanziert werden.

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Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern. Grundstrukturen, Rahmenbedingungen, Zustandsbilder

In Österreich sind derzeit 69 jüdische Friedhöfe bekannt.1 Sie lassen sich in eigenständige Friedhofsanlagen, die im Grundeigentum der zuständigen jüdischen Gemeinde stehen, sowie in konfessionelle Abteilungen auf Kommunalfriedhöfen einteilen. Daneben besteht eine bislang unerforschte Zahl jüdischer Gräber im Verband kommunaler oder nichtjüdischer konfessioneller Friedhöfe. Zusätzlich existieren hunderte Grabstellen von Juden außerhalb von Friedhofsverbänden – Massengräber auf freier Flur aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, in denen die Opfer der sogenannten Todesmärsche verscharrt sind. All jene, die in der Nachkriegszeit aus solchen Massengräbern umgebettet worden sind, ruhen heute auf Opferfriedhöfen, in Gedenkstätten oder gekennzeichneten Massengräbern im Verband lokaler Friedhofsanlagen.

Einteilung jüdischer Grabstätten in Österreich Eigentumsverhältnisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich Zu den eigenständigen jüdischen Friedhöfen zählen, in der Reihenfolge der Grundeigentümerschaft: Israelitische Kultusgemeinde Wien: Wien: Floridsdorf, Seegasse, Währing Niederösterreich: Baden, Deutsch-Wagram, Dürnkrut, Gänserndorf, Göttsbach an der Ybbs, Groß-Enzersdorf, Hohenau, Hollabrunn, Horn, Klosterneuburg (Chewra Kadischa), Krems, Michelndorf, Mistelbach, Mödling, Neulengbach (Minjan-Verein), Neunkirchen, Oberstockstall, alter jüdischer Friedhof St. Pölten, Stockerau, Tulln, Waidhofen an der Thaya, Wiener Neustadt 1

Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008.

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Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern. Grundstrukturen, Rahmenbedingungen, Zustandsbilder

In Österreich sind derzeit 69 jüdische Friedhöfe bekannt.1 Sie lassen sich in eigenständige Friedhofsanlagen, die im Grundeigentum der zuständigen jüdischen Gemeinde stehen, sowie in konfessionelle Abteilungen auf Kommunalfriedhöfen einteilen. Daneben besteht eine bislang unerforschte Zahl jüdischer Gräber im Verband kommunaler oder nichtjüdischer konfessioneller Friedhöfe. Zusätzlich existieren hunderte Grabstellen von Juden außerhalb von Friedhofsverbänden – Massengräber auf freier Flur aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, in denen die Opfer der sogenannten Todesmärsche verscharrt sind. All jene, die in der Nachkriegszeit aus solchen Massengräbern umgebettet worden sind, ruhen heute auf Opferfriedhöfen, in Gedenkstätten oder gekennzeichneten Massengräbern im Verband lokaler Friedhofsanlagen.

Einteilung jüdischer Grabstätten in Österreich Eigentumsverhältnisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich Zu den eigenständigen jüdischen Friedhöfen zählen, in der Reihenfolge der Grundeigentümerschaft: Israelitische Kultusgemeinde Wien: Wien: Floridsdorf, Seegasse, Währing Niederösterreich: Baden, Deutsch-Wagram, Dürnkrut, Gänserndorf, Göttsbach an der Ybbs, Groß-Enzersdorf, Hohenau, Hollabrunn, Horn, Klosterneuburg (Chewra Kadischa), Krems, Michelndorf, Mistelbach, Mödling, Neulengbach (Minjan-Verein), Neunkirchen, Oberstockstall, alter jüdischer Friedhof St. Pölten, Stockerau, Tulln, Waidhofen an der Thaya, Wiener Neustadt 1

Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008.

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Burgenland: Deutschkreutz, Eisenstadt (alter und neuer jüdischer Friedhof ), Frauenkirchen, Gattendorf, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach, Mattersburg Israelitische Kultusgemeinde Graz: Burgenland: Güssing, Rechnitz, neuer jüdischer Friedhof Stadtschlaining Steiermark: Graz, Judenburg, Knittelfeld, Trautmannsdorf in Oststeiermark Israelitische Kultusgemeinde Linz: Oberösterreich: Linz, Steyr Israelitische Kultusgemeinde Salzburg: Salzburg: neuer jüdischer Friedhof Salzburg Vorarlberg: Hohenems (Grundeigentum des Vereins zur Erhaltung des jüdischen Friedhofs in Hohenems) Zu den jüdischen Abteilungen im Verband von Kommunalfriedhöfen, aber im Eigentum der zuständigen Kultusgemeinden zählen: Niederösterreich: neuer jüdischer Friedhof St. Pölten, Zwettl Burgenland: Bad Sauerbrunn, Oberwart Gegebenenfalls wurden über jüdische Friedhofsabteilungen auf Kommunalfriedhöfen, die im Grundeigentum der Ortsgemeinden stehen, zwischen den zuständigen Kultusgemeinden und den lokalen Behörden Vereinbarungen über eine Bestandszusicherung auf Friedhofsdauer getroffen: Wien: Döbling (partiell), alter jüdischer Friedhof Zentralfriedhof Tor 1, neuer jüdischer Friedhof Zentralfriedhof Tor 4 Niederösterreich: Bad Pirawarth, Korneuburg Oberösterreich: Gmunden Steiermark: Bad Aussee, Feldbach Kärnten: Klagenfurt Tirol: neuer jüdischer Friedhof Innsbruck Im Verband von Kommunalfriedhöfen wurden zerstört: Wien: Döbling (partiell)

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Niederösterreich: Bruck/Leitha (Grundeigentum Stadt, ungekennzeichnet), Marchegg (Grundeigentum Stadt, Denkmal), Zistersdorf (Grundeigentum Ortsgemeinde, Denkmal) Steiermark: Leoben (Grundeigentum Stadt, Denkmal) Vermutlich existierte in Laa/Thaya ein eigener jüdischer Friedhof gegenüber dem Kommunalfriedhof, der 1945 in einen russischen Soldatenfriedhof umgewandelt wurde.2 Folgende jüdische Friedhöfe stehen im Privateigentum Dritter, zumeist sind sie zerstört, teilweise auch überbaut: Großpetersdorf, alter jüdischer Friedhof Stadtschlaining, alter jüdischer Friedhof Ybbs, alter jüdischer Friedhof Salzburg, alter jüdischer Friedhof Innsbruck, alter jüdischer Friedhof Krems.3 Abgesehen davon existierte in früheren Jahrhunderten eine ganze Reihe weiterer jüdischer Friedhofsanlagen, die zumindest für Niederösterreich zum Teil aus der Literatur noch namentlich bekannt sind, jedoch heute – im Unterschied zu allen oben angeführten – nicht mehr lokalisiert werden können; dazu zählen4 die aus dem Mittelalter stammenden Anlagen von Hainburg, Mödling, Perchtoldsdorf und Wiener Neustadt. In die Neuzeit datieren einerseits die gesicherten Friedhöfe in Grafenwörth5, Spitz und Tribuswinkel6; andererseits bereits 1935 fragliche Friedhöfe in Achau, Bockfließ, Ebenfurth, Eggenburg, Gobelsburg, GroßSchweinbarth, Nieder-Absdorf sowie Schönbühel bei Melk.7

      Die geografische Verteilung der jüdischen Friedhöfe in Österreich ergibt sich aus der historischen Entwicklung der dazugehörigen jüdischen Ansiedlungen bzw. Gemeinden.8 Ein

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Laut Leopold Moses stammte der Friedhof aus dem Mittelalter; vgl. Moses, Niederösterreich, 115. Informationen über die Erreichbarkeit der einzelnen Friedhöfe finden sich auf der Homepage der Israelitischen Kultusgemeinde Wien: www.ikg-wien.at, Zugriff zuletzt Mai 2010. Vgl. Moses, Niederösterreich, bes. 113−117. Ebd., Garten des Hauses Nr. 91. Auch in der Katastralmappe als „Judenfriedhof“ bezeichnet, ebd. 116. Ebd., die zum Haus Nr. 41 gehörige Grundparzelle heißt „Judenfriedhof“. Grundlagenwerke zum Verständnis der österreichischen jüdischen Geschichte sind: BELLER, Wien; BERKLEY, Vienna; BOTSTEIN, Judentum; BOTZ/OXAAL/POLLAK, Kultur; BOYER, Culture; GOLD, Burgenland; GOLD, Österreich; GOLD, Wien; GOMBRICH, Identität; GRAETZ, Ge-

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deutliches Schwergewicht ist in Ostösterreich festzustellen, vor allem in Niederösterreich, aber auch im Burgenland. Gerade die niederösterreichischen jüdischen Friedhöfe entstanden einerseits entlang der Zuwanderungsrouten aus Böhmen und Mähren, andererseits in jenen Industriegebieten, die sich im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts herausbildeten. Entlang der Einwanderungsroute aus Böhmen liegen, von Norden her in Richtung der damaligen Reichshaupt- und Residenzstadt Wien: Waidhofen an der Thaya ganz im Norden des Waldviertels, Zwettl, Horn und Hollabrunn sowie im Donautal Krems, Oberstockstall, Stockerau und Korneuburg. Am südlichen Donauufer finden sich Ybbs bzw. Göttsbach, Tulln und Klosterneuburg. Entlang der Einwanderungsroute aus Mähren, von Brünn kommend in Richtung Wien, liegen: Hohenau als Grenzort sowie Laa an der Thaya, Mistelbach und Zistersdorf. Dürnkrut und Marchegg befinden sich entlang der Grenze zur Slowakei, und schließlich liegen im Marchfeld, nach Wien zu, noch Gänserndorf, Deutsch-Wagram und Großenzersdorf. Bad Pirawarth liegt wohl ebenfalls entlang der Einwanderungsroute, ist aber als Kurort zu seiner kleinen jüdischen Abteilung auf dem Kommunalfriedhof gekommen, ähnlich wie Bad Sauerbrunn im Burgenland – ein beliebter, vor 1938 beinahe ausschließlich jüdischer Kurort am Abhang des Rosaliengebirges, oder Trautmannsdorf in der Oststeiermark (in unmittelbarer Nähe zum Kurort Bad Gleichenberg) sowie, weiter westlich, die berühmte Sommerfrische des Großbürgertums, Bad Aussee, und, mit etwas weniger aristokratischer Anmutung, Gmunden am Traunsee. Entlang der Leitha, des damaligen Grenzflusses zwischen Österreich und Ungarn bzw. der ehemaligen österreichisch-ungarischen Grenze, liegen Gattendorf und Bruck an der Leitha. Zum südlichen Industrieviertel zählen Mödling, Baden, Wiener Neustadt und Neunkirchen, im Einflussbereich des zentralen niederösterreichischen Industrieviertels schließlich befinden sich Neulengbach, Michelndorf und St. Pölten. Weiter im Süden, im Burgenland, liegen die sogenannten Sieben Heiligen Gemeinden (Schewa Kehilot, hebr.), die im 17. Jahrhundert im österreichisch-ungarischen Grenzgebiet auf ungarischer Seite gegründet worden waren und die Flüchtlinge der aus Wien vertriebenen Zweiten Wiener jüdischen Gemeinde aufnahmen: Kittsee, Frauenkirchen, Eisenstadt, Mattersburg, Kobersdorf, Lackenbach und Deutschkreutz. Nach der Volksabstimmung von 1921, die der Friedensvertrag von St-Germain-en-Laye 1919 vorgesehen hatte, wurden diese Ortschaften im Verband des neu geschaffenen „Burgenlandes“ zu österreichischem Staatsgebiet. Zum

schichte; Melinz/Zimmermann Wien, Prag, Budapest; rozenblit, Wien; Spiel, Arnstein; Steines, Steine,Tietze, Juden Wiens: Zur komplexen Nachkrigesgeschichte der Areale vor allem erhellend Duizend-Jensen, Gemeinden; Embacher, Restitutionsverhandlungen; Melinz/Hödl, Liegenschaftseigentum.

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Südburgenland zählen die zum Teil ebenfalls sehr alten Friedhöfe von Oberwart, Stadtschlaining, Rechnitz, Güssing und Großpetersdorf. Entlang des Industriegebietes der Mur-Mürz-Furche bzw. entlang der Südbahnstrecke liegen Leoben (wo das im nahen Erzberg gewonnene Erz verhüttet wird), Knittelfeld sowie Judenburg; zu dieser Art von wirtschaftsstrukturell motivierten Ansiedlungen zählt außerdem noch der alte Industriestandort Steyr am Zusammenfluss von Steyr und Enns in Oberösterreich. Im Rheintal, ebenfalls eine bedeutende Industriezone, befindet sich im Gemeindegebiet der Handelsstadt Hohenems der dazugehörige bemerkenswerte jüdische Friedhof, der seit dem 18. Jahrhundert belegt wird. In den Landeshauptstädten sind die den regionalen jüdischen Zentren zugehörigen, großen Friedhöfe situiert: Graz, Klagenfurt, Linz, Salzburg und Innsbruck. Wien weist heute sechs jüdische Friedhöfe bzw. Friedhofsteile auf, und zwar die älteren selbständigen Anlagen Seegasse sowie Währing – beide auch mit bedeutenden Grabstellen sefardischer Juden aus dem Osmanischen Reich einerseits, Spanien, Portugal bzw. den Niederlanden und Hamburg andererseits. Auch in Floridsdorf bestand bis zur Eingemeindung der Ortschaft nach Wien eine eigenständige Kultusgemeinde, der Friedhof gehört heute zu Wiens 21. Bezirk. Neben den selbstständigen jüdischen Friedhöfen existieren die historisch jüngeren jüdischen Abteilungen auf den Kommunalfriedhöfen Döbling sowie Zentralfriedhof aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert.

Alter und Bedeutung Chronologisch ist der jüdische Friedhof in der Seegasse in Wien der älteste heute noch erhaltene jüdische Friedhof Österreichs. Es handelt sich hier vor allem um den Friedhof der Zweiten Wiener jüdischen Gemeinde, die zwischen 1624 und 1670 bestand. Das älteste sicher datierte Grab stammt allerdings bereits von 1582, denn in den Jahren nach der Vertreibung und Auslöschung der Ersten Wiener jüdischen Gemeinde 1421 hielten sich vereinzelt bald wieder Juden in Wien auf, die dann auf jenem Bestattungsplatz, am nördlichen Ende einer der Stadt vorgelagerten, in der Donau gelegenen Insel, dem sogenannten Werd (mhdt., Insel), zur letzten Ruhe gebettet wurden. Später erhielt der dortige Friedhof den Beinamen Rossau, nach der umgebenden Siedlung. Er wurde noch im 18. Jahrhundert mit Angehörigen der Familien der Hoffaktoren belegt und aufgrund der Sanitätsreform Josephs II. 1783 geschlossen. Sein Nachfolger wurde der jüdische Friedhof Währing (1784–1879). Historisch unmittelbar an den Friedhof in der Seegasse anschließend wären auch die Friedhöfe der Schewa Kehilot im heutigen Burgenland zu nennen, wo wir viele der aus Wien vertriebenen Familien wiederfinden und die, soweit die Areale erhalten sind, neben Seegasse

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und Währing die wertvollsten und ältesten Grabdenkmäler aufweisen. Hervorzuheben wäre hier besonders der alte jüdische Friedhof von Eisenstadt mit seinen Renaissance- und Barockgrabsteinen. Geografisch am anderen Ende des heutigen Österreich wäre noch Hohenems zu nennen, dessen jüdischer Friedhof vor allem aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert ebenfalls kunsthistorisch bedeutende Grabdenkmäler aufweist. Die alte jüdische Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs schließlich bietet in konzentrierter Form eine ungeheure Fülle sehr aufwendiger, enorm ausladender Grabdenkmäler und Gruftanlagen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die in Materialreichtum und Ausstattung den Aufstieg des jüdischen Bürgertums in der Habsburgermonarchie spiegeln, deren Erhaltungszustand aber extrem schlecht ist.

Größenverhältnisse der Areale Die größten jüdischen Friedhöfe Österreichs sind die beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofes in Wien, Tor 1 (52.253 Grabstellen, rund 100.000 Personen, 260.000 Quadratmeter) und Tor 4 (ca. 60.000 Grabstellen, 241.626 Quadratmeter). Das am westlichen Rand des Kommunalfriedhofes gelegene Tor 1 ist der unmittelbare Nachfolger des jüdischen Friedhofes Währing und wird seit 18799 belegt. Tor 4 wurde in den 1920er-Jahren am östlichen Ende des Kommunalfriedhofes angelegt, da Tor 1 bereits innerhalb weniger Jahrzehnte – bedingt durch den starken Zuzug nach Wien nach dem Staatsgrundgesetz von 1867, Flüchtlingswellen nach Pogromen in Russland und Polen in den 1880er-Jahren sowie die Massenzuwanderung nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie ab 1918 – praktisch voll belegt war. An dritter Stelle steht der jüdische Friedhof Währing (rund 30.000 Personen, 21.497 Quadratmeter). Es folgen die jüdischen Friedhöfe von Baden (1.798 Personen, 12.849 Quadratmeter) und Graz (1.453 Gräber, 14.046 Quadratmeter). Auch einige der burgenländischen Friedhöfe sind außergewöhnlich groß; mehrere von ihnen sind jedoch komplett zerstört, da die Grabsteine in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges zum Bau von Panzerabwehrsperren benutzt wurden und später nicht zurückgebracht, sondern als Baumaterial eingesetzt worden sind, wie Deutschkreutz (10.686 Quadratmeter, aber zu den rund 3.000 Gräbern sind heute nur 62 Grabsteine erhalten) oder Mattersburg (heute nur 5 Steine sowie rund 50 Fragmente erhalten von ursprünglich mehreren tausend, 8.621 Quadratmeter). Die Grabsteine in Lackenbach hingegen sind größtenteils 9

Die erste jüdische Abteilung des Zentralfriedhofes bei Tor 1 wurde fünf Jahre nach dessen Eröffnung in Betrieb genommen.

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erhalten geblieben (1.747 Grabstellen, 9.042 Quadratmeter). Der alte jüdische Friedhof in Eisenstadt ist zwar verhältnismäßig klein, weist aber eine hohe Belegungsdichte auf (1.125 Personen, 2.556 Quadratmeter), ähnlich wie Frauenkirchen (1.320 Grabstellen, 5.000 Quadratmeter) oder Kobersdorf (1.354 Grabsteine erhalten, 5.690 Quadratmeter). Alle anderen jüdischen Friedhöfe in Österreich sind wesentlich kleiner und jünger, sodass deren Erhalt im Prinzip viel weniger aufwendig wäre.

Jüdische Massengräber In Österreich sind derzeit 233 Anlagen im jüdischen Kontext bekannt, die Massengräber oder Gedenkstätten für Massengräber umfassen: 3 in Wien, 37 in Niederösterreich, 85 in Oberösterreich, 52 im Burgenland, 50 in der Steiermark, 3 in Kärnten und 3 in Tirol.10 Die erhobenen Grabstellen lassen sich in folgende Kategorien einteilen: 1. Gräbergedenkstätten (24 Anlagen insgesamt) 2. jüdische Friedhöfe (17 Anlagen insgesamt) 3. Ortsfriedhöfe (37 Anlagen insgesamt) 4. freie Flur (7 Anlagen insgesamt) 5. nicht lokalisiert: a) Todesmärsche b) KZ-Opfer (107 Anlagen insgesamt) 6. Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle (30 Anlagen insgesamt) 7. Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen (58 Anlagen insgesamt) Während der NS-Herrschaft wurden zahllose Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge auf dem Gebiet des heutigen Österreich ermordet. Vor allem auf den Todesmärschen der letzten Kriegstage, im April 1945, brachten Bewachungspersonal, umherschweifende Truppenverbände, aber auch Angehörige der Zivilbevölkerung die Schwachen, Kranken und Marschunfähigen um. Ihre Leichen wurden entlang der Marschrouten zumeist notdürftig in Massengräbern bestattet, provisorisch verscharrt, in Flüsse geworfen oder einfach liegen gelassen. Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit verstarben noch unzählige befreite Opfer an den Folgen der 10

Eine Bestandsaufnahme aller bekannten Massengräber auf österreichischem Staatsgebiet findet sich in Walzer, Massengräber Österreich. Zwischen August 2001 und September 2002 wurden im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Erhebungen zu Zahl, Lage, Zustand und Sanierungsbedarf der jüdischen Massengräber in Österreich angestellt. Zu diesem Zweck wurden die Archivmaterialien der IKG Wien sowie die Fachliteratur ausgewertet und Erhebungsbögen zu jeder einzelnen der so eruierten Grabstellen angelegt. Ereignisse, deren Abläufe nur aus den Quellen ersichtlich sind, wurden ausführlich aus den Quellen zitiert. Diese Erhebungsbögen stellen eine Grundlage für Suchaktionen, Lokalaugenscheine, Aufklärungsinitiativen und Sanierungsmaßnahmen dar.

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KZ-Haft, auch sie wurden meist in Massengräbern bestattet. Viele Straßen im Burgenland, der Steiermark, in Ober- und Niederösterreich sind von Massengräbern gesäumt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit veranlassten die Alliierten die Verlegung vieler Gräber vom freien Feld auf die nächstgelegenen Friedhöfe. Leider sind die Aufzeichnungen über diese Aktionen größtenteils nicht mehr erhalten, sodass heute schwer nachzuvollziehen ist, welche Gräber nun tatsächlich verlegt worden sind und welche sich nach wie vor – ungekennzeichnet – entlang der Todesmarschrouten befinden. Nicht alle Massengräber wurden nach 1945 exhumiert; ihre Lokalisierung gestaltet sich heute äußerst schwierig. In vielen Fällen ist es aufgrund der ungenauen Angaben der Zeitzeugen unmöglich, die genauen Grabstellen festzustellen. In solchen Fällen wäre die Anbringung von Gedenktafeln zumindest in der Umgebung der vermuteten Gräber wünschenswert.11 Aufgrund der Bundesgesetzblätter 175/1948 und 176/1948 (Bundesgesetz vom 7. 7. 1948, Kriegsgräberfürsorgegesetz) wurden die Massengräber unter Aufsicht der Bundesbehörden gestellt. Seither entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen den Kultusgemeinden, dem Bundesministerium für Inneres, dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge und dem Österreichischen Schwarzen Kreuz. Gefundene Grabstätten wurden aufgelöst und die Leichen auf den Opferfriedhof Mauthausen überführt. Massengräber, die zu groß für Exhumierungen waren, wurden unter Umständen auch an Ort und Stelle belassen und entsprechend gestaltet. Das Bundesministeriengesetz 1986 legte die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Inneres ausdrücklich fest; im Rahmen der Vollziehung der mittelbaren Bundesverwaltung werden die damit verbundenen Aufgaben vom jeweiligen Landeshauptmann und den ihm nachgeordneten Dienststellen wahrgenommen. Unter ihrem Präsidenten Dr. Ernst Feldsberg startete die Israelitische Kultusgemeinde Wien in den 1960er-Jahren eine Initiative zur Auffindung und Verlegung jüdischer Massengräber in Österreich. Viele noch auf freiem Feld befindliche Grabstätten wurden aufgelöst, die sterblichen Überreste der Opfer auf jüdische Friedhöfe überführt und feierlich wiederbestattet. Dazu kamen Verhandlungen mit Ortsgemeinden, um jene Grabstätten, die sich auf christlichen Friedhöfen befinden, dauerhaft zu sichern. Einige der ins Auge gefassten Vorhaben stießen auf unüberwindbare Schwierigkeiten, da bei Weitem nicht alle Grabstellen lokalisierbar waren, die betroffenen Ortsgemeinden nicht immer ausreichend Informationen zur Verfügung stellten und die Finanzierung von Grabdenkmälern und gärtnerischer Betreuung ungelöst blieb, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Auch in den 1980er- und 1990er-Jahren wurde weiter nach Massengräbern gesucht. Vor allem im Burgenland konnten Opfer gefunden werden, sie wurden auf den neuen jüdischen Friedhof Eisenstadt überführt. In manchen Fällen hatte man 11

Fein, Steine listet hunderte solcher bereits bestehender Gedenktafeln und Gedenkstätten auf und bietet dazu eine detaillierte Bilddokumentation.

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allerdings geringen Erfolg. So sind beispielsweise die in Eberau, Bezirkshauptmannschaft Güssing, vermuteten Grabstellen trotz intensiver Nachforschungen bisher nicht näher lokalisierbar, ebenso wenig wie jene der Opfer der Massaker von Rechnitz, Südburgenland. In einer Detailübersicht stellen sich die Massengräber nach dem letzten Forschungsstand folgendermaßen dar:12

Wien

Aspangbahnhof: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Friedhof Baumgarten: Ortsfriedhof Zentralfriedhof Tor 4: jüdischer Friedhof Niederösterreich

Bei km 46−47 an der Straße Wien–Bratislava: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Abstetten bei Tulln: Grabstätte nicht lokalisiert Aggsbach Dorf: Ortsfriedhof Bad Deutsch-Altenburg: Gräbergedenkstätte Baden: jüdischer Friedhof Brand bei Gmünd: Ortsfriedhof Bruck an der Leitha: Gräbergedenkstätte Echsenbach: Ortsfriedhof Emmersdorf an der Donau: Ortsfriedhof Felixdorf: Gräbergedenkstätte Gleiß bei Sonntagberg: Gräbergedenkstätte Gloggnitz: Ortsfriedhof, möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Göstling an der Ybbs: Gräbergedenkstätte Gmünd: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Großenzersdorf: jüdischer Friedhof Gresten: Gräbergedenkstätte Groß-Siegharts: Ortsfriedhof Hofamt Priel: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen 12

Quellenbasis sind vor allem die Bestände der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, deren Aussagen mit Angaben in Veröffentlichungen abgeglichen wurden: IKG Wien, Archiv, B 19 AD XXVII, c, d Feldsberg-Akte. – IKG Wien, Techn. Abteilung, Ordner Massengräber unfoliiert; IKG Wien, Anlaufstelle, Bestand Synagogen, Kultusgegenstände, IKG Verluste unfoliiert. – IKG Wien, Gebäudeverwaltung, Verzeichnis von Ortschaften, wo sich jüdische Massengräber befinden, undatiert (1952/53), unfoliiert. – IKG Wien, Techn. Abteilung, Ordner Friedhöfe IKG Wien.

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Krenstetten: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Lichtenwörth: Grabstätte nicht lokalisiert Melk: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Neunkirchen: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Petzenkirchen: Ortsfriedhof Puchberg bei Randegg: Ortsfriedhof, Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Sitzenberg-Reidling: Opfer am Friedhof Stockerau bestattet St. Georgen: Grabstätte nicht lokalisiert St. Martin im Waldviertel: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen St. Pölten: ehemalige Synagoge, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle St. Pölten: neuer jüdischer Friedhof Stockerau: Kommunalfriedhof, Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen (?) Stockerau: jüdischer Friedhof Strassberg: Grabstätte nicht lokalisiert Strasshof an der Nordbahn: Ortsfriedhof Unterdammbach bei Neulengbach: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Weissenbach an der Triesting: Grabstätte nicht lokalisiert Wiener Neustadt: jüdischer Friedhof Oberösterreich

Altenfelden, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Ansfelden: Ortsfriedhof; außerdem Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Asten: Gräbergedenkstätte Bachmanning, KZ Bachmanning: Grabstätte nicht lokalisiert Bad Goisern: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Bad Hall: Ortsfriedhof Bad Ischl, Mitterweißenbach, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Bad Ischl, KZ Bad Ischl: Grabstätte nicht lokalisiert Bad Schallerbach: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Dietach: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Ebensee, KZ Ebensee: Grabstätte nicht lokalisiert Ebensee, KZ-Friedhof Ebensee: Gräbergedenkstätte; außerdem Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Edt bei Lambach, Forst Hochholz, KZ Gunskirchen: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle¸ teilweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen

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Enns, Kommunalfriedhof: Ortsfriedhof Enns-Lorch, Friedhof St. Laurenz: Gräbergedenkstätte, teilweise Opfer exhumiert Enns, KZ Enns: Grabstätte nicht lokalisiert Ennsdorf bei Enns: Gräbergedenkstätte Gallspach: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Gmunden: jüdischer Friedhof Grein, KZ Grein: Grabstätte nicht lokalisiert Großraming: Grabstätte nicht lokalisiert Gunskirchen: Ortsfriedhof; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Gunskirchen, Ortsteil Strass: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Hargelsberg: Gräbergedenkstätte; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Hörsching: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Katsdorf: Gräbergedenkstätte Katsdorf, KZ Gusen III: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Kirchdorf an der Krems: Ortsfriedhof, möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Kronstorf: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle; teilweise Opfer exhumiert Lambach: Ortsfriedhof Lenzing, KZ Lenzing: Grabstätte nicht lokalisiert Linz: jüdischer Friedhof Linz, KZ Linz I, VOEST-Gelände: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Linz, KZ Linz II, Bauernberg/Schlossberg: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Linz, KZ Linz III, VOEST-Gelände: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Langenstein, KZ Gusen I/II: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Losenstein; Mauthausen, KZ-Gedenkstätte: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Mauthausen, KZ-Gedenkstätte, Quarantänehof: Gräbergedenkstätte Mauthausen, KZ-Gedenkstätte, Lager II: Gräbergedenkstätte Mauthausen, KZ-Gedenkstätte, Block 19: jüdischer Friedhof Mauthausen, KZ-Gedenkstätte, ehemaliges Zeltlager: Grabstätte nicht lokalisiert Meisseben: Grabstätte nicht lokalisiert

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Moosbach: Ortsfriedhof Neuhofen an der Krems: Ortsfriedhof Neumarkt im Mühlkreis: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Pasching: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Pucking: Ortsfriedhof, freie Flur, Grabstätte nicht lokalisiert; möglicherweise Opfer teilweise exhumiert Reichraming: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Rohrbach in Oberösterreich, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Schleißheim: Gräbergedenkstätte Schlierbach: Ortsfriedhof Sierning: Ortsfriedhof St. Florian bei Linz: Gräbergedenkstätte St. Marien: Gräbergedenkstätte St. Pankraz: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Steinhaus bei Wels, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Steyr, Erdfriedhof (Diözesanfriedhof ): Ortsfriedhof Steyr: jüdischer Friedhof Steyr, Urnenfriedhof (Stadtfriedhof ): Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Steyr, KZ Steyr-Münichholz: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Steyr, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Steyr, nach der Stadt auf einem schmalen Weg Richtung Enns: Grabstätte nicht lokalisiert Sulzbach: Grabstätte nicht lokalisiert Ternberg: freie Flur Ternberg, KZ Ternberg: Grabstätte nicht lokalisiert Thalheim bei Wels, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Thalheim bei Wels, Ortsfriedhof: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle; Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Traun, Stadtfriedhof Linz-St. Martin: Ortsfriedhof; teilweise Opfer exhumiert Traun, Friedhof Linz-Wegscheid: Ortsfriedhof; teilweise Opfer exhumiert Traunkirchen, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Vöcklabruck, KZ Vöcklabruck: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Vöcklamarkt, KZ Schlier Redl-Zipf: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Waldneukirchen: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen

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Wallern an der Trattnach: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Weißkirchen an der Traun: freie Flur; außerdem Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Wels, Stadtfriedhof: Gräbergedenkstätte Wels, KZ Wels I „Waldwerke“, Stadtteil Noitzmühle, an der Traunstraße: Grabstätte nicht lokalisiert Wels, KZ Wels II: Grabstätte nicht lokalisiert Wels-Stadt, Arbeitslager für Juden: Grabstätte nicht lokalisiert Weyer-Land, Ortsteil Anger, KZ Dippoltsau: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Weyer-Land, Ennskraftwerke Großraming, Ennsfluss: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Weyer-Markt: Ortsfriedhof; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Windischgarsten: Ortsfriedhof Burgenland13

Bad Sauerbrunn: Grabstätte nicht lokalisiert Baumgarten: Grabstätte nicht lokalisiert Bonisdorf: Grabstätte nicht lokalisiert; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Breitenbrunn: Grabstätte nicht lokalisiert Deutschkreutz: jüdischer Friedhof Deutsch-Minihof im Lafnitztal: Grabstätte nicht lokalisiert Deutsch-Schützen: Gräbergedenkstätte Donnerskirchen: Grabstätte nicht lokalisiert Eberau, Ortsteil Gaas: Grabstätte nicht lokalisiert Eberau, Schloss Erddy: Gräbergedenkstätte, freie Flur Eberau, Wallfahrtskirche Gaas: Grabstätte nicht lokalisiert Edlitz bei Eberau: Grabstätte nicht lokalisiert Eisenstadt: neuer jüdischer Friedhof Heiligenbrunn, Haargraben: Grabstätte nicht lokalisiert Heiligenbrunn, zwei Grabstellen: Grabstätte nicht lokalisiert Höll: Grabstätte nicht lokalisiert Krottendorf am Klausenbach: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Kukmirn: Grabstätte nicht lokalisiert 13

Vgl. auch das verdienstvolle Grundlagenwerk Szita, Verschleppt.

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Markt St. Martin: Grabstätte nicht lokalisiert Mattersburg: jüdischer Friedhof Neudorf bei Parndorf: Grabstätte nicht lokalisiert Neudörfl an der Leitha: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Neuhaus am Klausenbach: Grabstätte nicht lokalisiert Neusiedl am See: Grabstätte nicht lokalisiert Neustift bei Güssing, Ortsteil Inzenhof: Grabstätte nicht lokalisiert; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Oggau: Grabstätte nicht lokalisiert Purbach-Donnerskirchen: Grabstätte nicht lokalisiert; möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Rechnitz, Unter Pillen: Grabstätte nicht lokalisiert Rechnitz, Kreuzstadel: Grabstätte nicht lokalisiert, Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Rechnitz: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Reinersdorf: Grabstätte nicht lokalisiert Rosendorf: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Schachendorf, Ortsteil Schandorf: Grabstätte nicht lokalisiert, möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Schattendorf: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle, Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Siegendorf: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Siegendorf, Mittlerer Berg: Grabstätte nicht lokalisiert Siegendorf/Krensdorf, unter der Brücke vor Wulkaprodersdorf: Grabstätte nicht lokalisiert St. Margarethen, Privatgarten: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen St. Margarethen, Kommunalfriedhof: Gräbergedenkstätte St. Margarethen, freie Flur: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen St. Martin an der Raab: Ortsfriedhof Strem, zwei Grabstellen: Grabstätte nicht lokalisiert Strem, im Wald zwischen Strem und Reinersdorf: Grabstätte nicht lokalisiert Strem, zwischen Strem und Heiligenbrunn: Grabstätte nicht lokalisiert Strem, Ortsried Neuwald: freie Flur, teilweise Opfer exhumiert Zurndorf, drei Grabstellen: Opfer exhumiert und Grabstätten aufgelassen Steiermark

Auersbach: Grabstätte nicht lokalisiert Bad Gleichenberg: Grabstätte nicht lokalisiert

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Blumau in der Steiermark: Grabstätte nicht lokalisiert Deutsch-Haseldorf: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Edelsbach bei Feldbach: freie Flur; Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Eggersdorf: Ortsfriedhof Eisenerz: Grabstätte nicht lokalisiert Eisenerz, Wald bei Eisenerz: Grabstätte nicht lokalisiert Eisenerz, Leopoldsteiner See: Gräbergedenkstätte Feldbach im Raabtal: möglicherweise Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Frohnleiten-Adriach: Ortsfriedhof Gleisdorf: Ortsfriedhof Gnas: Grabstätte nicht lokalisiert Graz: jüdischer Friedhof Großsteinbach: Grabstätte nicht lokalisiert Hartberg: Ortsfriedhof Hieflau, 2 Grabstellen: Grabstätte nicht lokalisiert Hieflau/St. Gallen: Grabstätte nicht lokalisiert Hochenegg: Grabstätte nicht lokalisiert Hürth: Grabstätte nicht lokalisiert Judenburg: Ortsfriedhof Kalch: freie Flur, teilweise Opfer exhumiert Klöch, Kornberg: Grabstätte nicht lokalisiert Landl/Hieflau: Grabstätte nicht lokalisiert Land/Großreifling: Grabstätte nicht lokalisiert Leoben, Kommunalfriedhof: Grabstätte nicht lokalisiert Leoben, an der Straße Richtung Eisenerz: Grabstätte nicht lokalisiert Liezen: Grabstätte nicht lokalisiert Mühldorf bei Feldbach: Grabstätte nicht lokalisiert Murau: Grabstätte nicht lokalisiert Nestelbach: Ortsfriedhof Paldau: Grabstätte nicht lokalisiert Peggau-Hinterberg: Ortsfriedhof Penzendorf: Grabstätte nicht lokalisiert Pischelsdorf-Schachen: Grabstätte nicht lokalisiert Poppendorf: Grabstätte nicht lokalisiert Präbichl, zwei Grabstellen: eine Grabstätte nicht lokalisiert; eine Grabstätte: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Radkersburg: Grabstätte nicht lokalisiert

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Salla: Ortsfriedhof St. Anna am Aigen: Grabstätte nicht lokalisiert St. Gallen: Grabstätte nicht lokalisiert St. Gallen, 10 km hinter St. Gallen Richtung Weissenbach an der Enns: Grabstätte nicht lokalisiert St. Lorenzen im Paltental: Ortsfriedhof St. Oswald-Möderbrugg: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen St. Peter-Freienstein: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Trautmannsdorf in Oststeiermark: jüdischer Friedhof Vordernberg, Lorenzikirche: Opfer exhumiert und Grabstätte aufgelassen Kärnten

Wolfsberg: zwei Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstellen Velden am Wörther See: Gedenkstätten und Gedenktafeln ohne Grabstelle Tirol

Amras, Soldatenfriedhof: Ortsfriedhof Innsbruck: jüdischer Friedhof Seefeld: Gräbergedenkstätte

         Bei 47 Anlagen in Oberösterreich, die in einem vom oberösterreichischen Landesarchiv veröffentlichten KZ-Gedenkstättenverzeichnis aufgelistet sind,14 ist nach wie vor ungeklärt, ob sich auch Juden unter den Opfern befinden. Die Opfer wurden zum Teil aus ihren ursprünglichen Grabstätten exhumiert und auf Opferfriedhöfe überführt: Allhaming: Waldfriedhof, exhumiert nach Stadtfriedhof Linz-St. Martin Arbing: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Attnang-Puchheim: Ortsfriedhof Bad Hall: Ortsfriedhof, teilweise Exhumierungen nach Stadtfriedhof Linz-St. Martin Bad Ischl: Gemeindefriedhof, exhumiert nach KZ-Friedhof Ebensee Bad Kreuzen: Ortsgemeinde, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Bad Leonfelden: Ortsfriedhof, exhumiert nach Stadtfriedhof Linz-St. Martin 14

Haider/Marckhgott, Gedenkstätten.

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Baumgartenberg: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Buchkirchen: Flurbestattung Engerwitzdorf: Ortsfriedhof, teilweise exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Freistadt: Gemeindefriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Gallneukirchen: katholischer Friedhof, überbettet Gampern: Ortsfriedhof, aufgelöst Grein: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Grieskirchen: Gemeindefriedhof, aufgelöst und in Grabkapelle übertragen Gutau: Ortsfriedhof, aufgelöst Katsdorf: Massengrab auf offener Flur nahe Bahnhof Lungitz, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Kefermarkt: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Lasberg: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Linz: Friedhof Urfahr, teilweise exhumiert nach Marbach Linz: Friedhof St. Magdalena Mauthausen: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Mauthausen: Soldatenfriedhof Mauthausen: Massengrab auf offener Flur nahe Schloss Marbach, exhumiert nach KZGedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Micheldorf in Oberösterreich: Friedhof Heiligenkreuz, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Naarn: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Neumarkt im Mühlkreis: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Offenhausen: Ortsfriedhof, aufgelöst Perg: Gemeindefriedhof, überbettet Pregarten: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Rainbach im Mühlkreis: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Ried in der Riedmark: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Scharten: Ortsfriedhof Schwertberg: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof

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St. Florian: Einzelgrab auf offener Flur, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof St. Georgen am Walde: Ortsfriedhof St. Georgen an der Gusen: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen Lager II St. Konrad: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Friedhof Ebensee St. Oswald bei Freistadt: Ortsfriedhof St. Wolfgang: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Friedhof Ebensee sowie nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen Tragwein: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Traun: Stadtfriedhof Linz-St. Martin Vorderweißenbach: Ortsfriedhof, überbettet Waldburg: Pfarrfriedhof St. Peter, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Waldhausen im Strudengau: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof Wartberg ob der Aist: Ortsfriedhof, exhumiert nach KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Quarantänehof

Rahmenbedingungen für die Erhaltung jüdischer Friedhöfe in Österreich Die jüdischen Friedhöfe Österreichs wurden von den lokalen jüdischen Gemeinden angelegt und von ihnen bis zu ihrer Zerstörung und der Enteignung, Vertreibung und Ermordung der durch den NS-Staat als Juden verfolgten Menschen instand gehalten. Nur an Orten, wo sich nach 1945 wieder eine jüdische Gemeinde bilden konnte, wird auch der Friedhof weiter benutzt, alle anderen jüdischen Friedhöfe sind geschlossen, ihre Existenz ist heute vielfach unbekannt. Sie sind verwaist: Die ausgelöschten jüdischen Gemeinden und ihre ermordeten oder vertriebenen Angehörigen können für die Sanierung der österreichischen jüdischen Friedhöfe keine Verantwortung mehr tragen und ihre Nachfolgeorganisationen sind bei Weitem zu klein, um diese Aufgabe alleine übernehmen zu können. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien hat als Rechtsnachfolgerin aller zerstörten jüdischen Gemeinden in Niederösterreich und dem Burgenland seit 1945 insgesamt mehr als 350.000 Grabstellen zu versorgen. Das überschreitet die Anzahl ihrer heutigen Mitglieder und damit auch ihre Kräfte um ein Vielfaches. Jüdische Friedhöfe zählen zu den letzten übrig gebliebenen Orten jüdischen Lebens in Österreich und legen Zeugnis ab von einer untergegangenen Welt, von der Vergangenheit dieses Landes und von einem wesentlichen Aspekt der Geschichte Österreichs. Ein breites

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öffentliches Bewusstsein für die Bedeutung der jüdischen Friedhöfe fehlt jedoch bis heute. Die meisten der Friedhöfe sind wissenschaftlich nicht bearbeitet, ihr Bestand ist nur in Ausnahmefällen erfasst. Die denkmalpflegerischen Herausforderungen der einzelnen Friedhöfe sind in ein breites Spektrum aufgefächert, variieren die Erscheinungsformen doch zwischen Arealen aus dem 15. und solchen aus dem 20. Jahrhundert, zwischen Anlagen von mehreren tausend und solchen mit nicht einmal zehn Grabstellen. Zu den auch im internationalen Vergleich herausragenden jüdischen Friedhofsanlagen zählen das älteste erhaltene Areal in Wien-Seegasse, die Friedhöfe der Sieben Heiligen Gemeinden im Burgenland, hier vor allem der alte Friedhof in Eisenstadt, sowie die Wiener Friedhöfe Währing und Zentralfriedhof Tor 1. Ein grundsätzliches Problem bei der Erhaltung der jüdischen Friedhöfe in Österreich besteht in dem Umstand, dass vielfach die Zerstörungen der NS-Zeit nicht beseitigt worden sind und bis heute bestehen. Neben baulichen Mängeln stellen sie für das Fortbestehen dieser religiösen Einrichtungen eine ernsthafte Gefahr dar. Zu den Zerstörungen der NS-Zeit kommen heute Vandalismusschäden, Diebstahl, Verluste durch Umwelteinflüsse an der Substanz der Grabdenkmäler sowie Beschädigungen durch laienhafte Betreuung und unsachgemäße Wiederherstellungsversuche. Insgesamt ist ein massiver Substanzverlust an Grabdenkmälern zu konstatieren. Ein jüdischer Friedhof steht im Spannungsverhältnis zwischen Kultort und Denkmal. Prinzipiell trägt die jeweilige Grundeigentümerin die Verantwortung für seinen Zustand. Die staatliche Gesetzgebung beschränkt sich bisher auf den Denkmalschutz. Einrichtungen gesetzlich anerkannter Religionsgemeinschaften sind unter § 2 Denkmalschutzgesetz erfasst und wurden nach der letzten Novelle des Denkmalschutzgesetzes in Listen festgehalten. Doch selbst die Unterschutzstellung einzelner Areale per Bescheid garantiert, wie das Beispiel Kittsee zeigt, noch lange keine ausreichende Betreuung oder gar Sanierung. Neben Regelungen der staatlichen Gesetzgebung gibt es verbindliche religiöse Vorschriften. Ein jüdischer Friedhof ist unauflösbar: Die Halacha (hebr.), das religiöse Gesetz des jüdischen Glaubens, verpflichtet die jüdischen Gemeinden zur immerwährenden Erhaltung ihrer Friedhöfe und aller Grabstätten. Nach der Halacha15 gehört ein jüdisches Grab ausschließlich dem Toten. Es ist auf ewig unantastbar. Dem religiösen Gebot folgend müssen daher ein jüdisches Grab und ein jüdischer Friedhof auf ewige Zeiten bestehen bleiben. Aus dieser grundsätzlichen Regel ergibt sich eine Reihe weiterer Vorschriften, die auch konservatorische und restauratorische Maßnahmen betreffen; so darf der Wurzelstock eines gefällten Baumes nicht ausgefräst oder ausgegraben werden. Auch bei Fundamentierungsarbeiten ist darauf zu achten, dass die eigentliche Grabstelle in keiner Weise tangiert wird. Das beschränkt die möglichen Eingriffe auf eine Schicht von maximal 60 Zentimeter unter dem Bodenniveau. 15

Vgl. beispielsweise Roth, Halacha.

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Während in der Bundesrepublik Deutschland die Pflege und Sanierung der jüdischen Friedhöfe seit 26. Juni 1957 zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geregelt wird, ist es in Österreich bisher zu keiner vergleichbaren verbindlichen Vereinbarung gekommen. Die Pflege der Areale wird von lokalem Engagement getragen – neben den Kultusgemeinden führen Ortsgemeinden und private Vereine diese Aufgaben in Eigeninitiative aus, so gut sie es eben vermögen. An anderen Orten fehlt solches Engagement. Lediglich die gröbsten baulichen Mängel werden aus Gefahrengründen mitunter beseitigt. Eine überregionale Regelung blieb bis 2010 aus. Im Januar 2001 hatte die österreichische Bundesregierung mit der Regierung der USA und dem Bundesverband der jüdischen Gemeinden Österreichs das Washingtoner Abkommen (BGBl. III Nr. 121/2001) zur Regelung von Fragen der Restitution und Kompensation jüdischen Eigentums, das während der NS-Zeit geraubt worden ist, abgeschlossen. Es bezieht sich auch auf die jüdischen Friedhöfe in Österreich. Seither wird um eine politische Lösung zur Umsetzung dieses vertraglichen Zugeständnisses gerungen. Wer ist zuständig – der Bund? Die Länder? Die Ortsgemeinden? Jedenfalls erklärte die österreichische Bundesregierung in diesem Abkommen schriftlich und völkerrechtlich verbindlich, dass Österreich „zusätzliche Unterstützung für die Restaurierung und Erhaltung bekannter und unbekannter jüdischer Friedhöfe in Österreich leisten wird“.16 Eine Lösung ähnlich jener bereits 1957 in Deutschland gefundenen, wo ein Fonds eingerichtet wurde, in den Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam einzahlen, um diese Ziele zu erreichen, erschiene auch in Österreich zielführend. Rechtlich verbindliche Verpflichtungen zur langfristigen Sicherstellung der so dringend notwendigen kontinuierlichen Bewuchspflege, aber auch zur Rettung akut gefährdeter Grabmonumente mochten aber weiterhin jahrelang weder die österreichische Bundesregierung noch die Bundesländer eingehen.17 Die Umsetzung der im Washingtoner Abkommen eingegangenen Verpflichtungen blieb zwischen 2001 und 2010 weder institutionell verankert noch inhaltlich geklärt, da zunächst lange über Kompetenzen und Zuständigkeiten verhandelt wurde. Ein politischer Vorstoß aus dem Jahr 2008, der eine gesetzliche Regelung zumindest für die Instandhaltung der jüdischen Friedhöfe in Österreich nach dem Muster des bereits seit der Nachkriegszeit geltenden Kriegsgräberfürsorge-Gesetzes vorsah, ist bislang gescheitert. Hier war angedacht worden, dem Bund die Instandhaltung der Areale zu übertragen, während Instandsetzungsmaßnahmen im Einzelfall mit den Ländern oder Dritten zu verhandeln gewesen wären. Eine gesetzliche Festlegung der Rahmenbedingungen für Sanierung und Pflege der jüdischen Friedhöfe in Österreich ist, wenn man sich den Zustand der Areale vor Augen führt, vordringlich. Wie die Aufgaben zwischen Bund und Ländern verteilt sind, erscheint dabei von sekundärer Be16 17

Washingtoner Abkommen 2001. Walzer, Bund oder Land.

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deutung. Auch die Länder verfügen über eine ausreichende Infrastruktur, um alle nötigen Instandhaltungsmaßnahmen auf lange Zeit laufend durchführen zu können, während der Bund mit dem Bundesdenkmalamt über eine in Sanierungsfragen kompetente Behörde mit entsprechenden Werkstätten und ausreichend Fachpersonal verfügt. 2009, acht Jahre nach Abschluss des Washingtoner Abkommens, bahnte sich erstmals eine Annäherung der Standpunkte von Bund und Ländern an.18 Sie mündete am 21. Dezember 2009 in ein Gespräch zwischen den Landeshauptleuten der hauptsächlich betroffenen Bundesländer Niederösterreich und Wien, dem Finanzminister-Vizekanzler sowie dem Bundeskanzler. Für die Sanierung aller jüdischen Friedhöfe in Österreich wurde seitens des Bundes die Zahlung von 20 Millionen Euro auf 20 Jahre in Aussicht gestellt. Das deckt etwas weniger als 50 Prozent des tatsächlichen Finanzierungsbedarfes. Die restlichen Mittel sollen von den Grundeigentümerinnen, den Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs, unter Zuhilfenahme von Drittmitteln aus nichtösterreichischen öffentlichen Förderungen, Sponsoring durch Firmen sowie privater Spenden aufgebracht werden. Die beiden Bundesländer sagten die Übernahme der laufenden Pflegeaufgaben, zu beziehungsweise versprachen, sich um die entsprechende Zustimmung der betroffenen Bürgermeister zu kümmern, und konnten sich auch eine Beteiligung an Sanierungsaufgaben vorstellen. Die übrigen sieben Bundesländer sowie die betroffenen Ortsgemeinden machten bis Juli 2010 in der Öffentlichkeit keine auf das Gespräch vom 21. 12. 2009 bezüglichen Zusagen; die entsprechenden Verhandlungen wurden im Jahr 2010 fortgesetzt.

Zur Gestaltung jüdischer Friedhofsanlagen in Österreich Jüdische Friedhofsanlagen sind sowohl aus historischer und kunsthistorischer als auch aus religiöser Sicht von großer Bedeutung. Im Spannungsfeld zwischen Kultort und Denkmal spiegelt ein jüdischer Friedhof die religiöse Entwicklung der dazugehörigen jüdischen Gemeinde, aber auch deren Einbettung in die nichtjüdische Umgebung sowie die Sozialstrukturen der jüdischen Bevölkerungsgruppe und ihre gesellschaftliche Positionierung.

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Jahrelange, kontinuierliche Öffentlichkeits- und Medienarbeit hatte das Thema „Jüdische Friedhöfe“ bis hinauf an die Regierungsspitze ins Bewusstsein der politischen Akteure gebracht, nichtösterreichische Medienberichte waren dabei besonders effizient; vgl. beispielsweise Bernstein, Cemetery; Ritterband, Kulturdenkmal; in Österreich neben der regelmäßigen Berichterstattung in allen großen österreichischen Tageszeitungen sowie dem Wochenmagazin Profil vor allem Walzer, Ehrengräber; Walzer, Entwicklung Währing; Walzer, Erinnerung; Walzer, Klosterneuburg; Walzer, Lehrerfortbildung; Walzer, Niederösterreich; Walzer, Österreich.

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Zwischen Tradition und Haskala Zwischen betont streng religiösen Zugangsweisen und den Ausprägungen der jüdischen Aufklärung spannt sich ein weiter Bogen der unterschiedlichen Erscheinungsformen auf jüdischen Friedhöfen in Österreich. Auf dem Friedhof in der Wiener Seegasse befindet sich das Grab des auch heute noch hochverehrten Rabbiners Schabtai Zwi (Sabbatai Scheftel, Sohn des Rabbiners Jesaia ha-Levi Horowitz, ca. 1590–1660), zu dem seit Jahrhunderten fromme Juden pilgern und das alle Attribute einer Gedenkstätte aufweist, mit Kerzen und einem Kästchen, das die Wunschzettel an den Verstorbenen (Kwittel, jidd.) aufnimmt. Ähnliche Verehrung erfahren auch Rabbiner, die auf dem alten jüdischen Friedhof von Eisenstadt bestattet sind. Die Friedhöfe der Schewa Kehilot im heutigen Burgenland (Abb. 1) sind letzte Überreste von einst sehr großen und bedeutenden jüdischen Gemeinden, was sich an der bemerkenswerten Ausdehnung der Friedhofsareale ablesen lässt. Sie sind aber auch Begräbnisstätten dieser sehr orthodoxen jüdischen Gemeinden. Die Art der Anlagen wie auch Gestaltung der Grabdenkmäler widerspiegeln diese religiöse Ausrichtung sehr deutlich. Der neue jüdische Friedhof in Eisenstadt wiederum, der im 19. Jahrhundert auf den traditionellen alten jüdischen Friedhof folgt, zeigt die Hinwendung zu den Idealen der jüdischen Aufklärung (Haskala, hebr.) bis hin zu einer durchaus modernen Ausprägung. Im direkten Vergleich der beiden nahe beieinander gelegenen Friedhofsareale erschließt sich die Größe und Tragweite des Entwicklungsschrittes, der zwischen einer traditionell orientierten, orthodoxen und einer aufgeklärten Gemeinde liegen kann. Auf dem jüdischen Friedhof von Hohenems lässt sich diese Entwicklung innerhalb einer einzigen Anlage ablesen, gewissermaßen den Berg hinunter: von der Spitze des Hanges, wo sich die älteren, sehr traditionellen Stecksteine befinden, zu den elaborierten Grabdenkmälern des Klassizismus am Fuße des Hügels, und gleich daneben noch zu den Grabstellen des 20. Jahrhunderts, die wieder völlig anders gestaltet sind. In Wien lassen sich die Friedhofsanlagen in Währing und Döbling miteinander vergleichen: Während der Religion verbundene Juden sich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Benutzung eines jüdischen Friedhofes nicht mehr zwingend vorgeschrieben war, immer noch auf dem jüdischen Friedhof Währing bestatten ließen, bevorzugten die assimilierten großbürgerlichen Familien den Kommunalfriedhof Döbling mit seiner jüdischen Abteilung, um das erreichte Sozialprestige auch über den Tod hinaus im Kontext der Mehrheitsgesellschaft repräsentieren zu können.

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Lage Jüdische Friedhöfe finden sich oft in unmittelbarer Nähe eines Spitals (etwa der Friedhof Seegasse in Wien, lange Zeit im Hinterhof des jüdischen Armen- und Siechenhauses gelegen), oder auch, aufgrund von Vorgaben der Landes- bzw. Grundherren, weit außerhalb des eigentlichen Siedlungsgebietes (zum Beispiel die jüdischen Friedhöfe von Mistelbach, Gänserndorf, Klosterneuburg, Michelndorf, Gattendorf, Güssing, Judenburg, Salzburg, Hohenems). Vielfach sind die jüdischen Friedhöfe in unmittelbarer Nachbarschaft zu den christlichen bzw. später kommunalen Friedhofsanlagen situiert (wie etwa in Deutschkreutz, Dürnkrut, Oberwart) oder sie liegen direkt im Verband der Kommunalfriedhöfe (unter anderem Zentralfriedhof Wien, Bad Aussee, Leoben, neuer jüdischer Friedhof St. Pölten), mitunter aber durch eine eigene Mauer begrenzt (vor allem Klagenfurt, Innsbruck, Linz).

Ausrichtung Die Anlage der Areale, und hier vor allem Plan und Orientierung, weisen zumeist die für jüdische Friedhöfe charakteristischen Merkmale auf. Jüdische Friedhöfe sind traditionellerweise nach Osten orientiert, die Grabstellen weisen nach Jerusalem, jenem Ort, zu dem sich die Toten nach der Wiederauferstehung begeben sollen. Entsprechend präsentiert sich das äußere Erscheinungsbild, zumindest der traditionell angelegten Friedhöfe, als Anordnung von Grabdenkmälern, deren Schriftseite entweder nach Osten oder nach Westen zeigt. Die Friedhofsordnung für das Währinger Areal bestimmt, dass alle Toten mit dem Kopf nach Osten bestattet werden müssen, wobei zu Füßen des Verstorbenen der Grabstein zu setzen ist. Tatsächlich folgt die Belegung des Areals diesem Prinzip, wie sich anhand überlieferter Exhumierungsprotokolle aus der NS-Zeit verifizieren lässt. Friedhofsanlagen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts weichen von dieser traditionellen Orientierung oft ab, Grabanlagen können dann durchaus innerhalb einzelner Gräberfelder auch nach Norden oder Süden orientiert sein. Trotz der äußeren Orientierung der Grabdenkmäler wird aber oft die innere Ost-Ausrichtung des eigentlichen Grabes beibehalten. Auf dem jüdischen Friedhof Währing, in den Gruftanlagen entlang der in west-östlicher Richtung verlaufenden Friedhofsmauer, die nach Süden weisen, sind die Leichen mit dem Kopf nach Osten – also quer zur Gruftanlage – bestattet. Zudem sind diese Gruftanlagen außergewöhnlich tief, sodass der zwischen den Leichen vorgeschriebene Mindestabstand von 1,20 Metern eingehalten werden kann. In Exhumierungsprotokollen der NS-Zeit wird beschrieben, dass die Särge mit 1,50 Metern Erdreich Abstand in der Gruftanlage gestapelt waren, dass also die halachisch vorgeschriebene, unantastbare Erdschicht von 60 Zentimetern Mächtigkeit rund um die bestatteten Gebeine offenbar berücksichtigt worden

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ist.19 Die innerhalb des scheinbaren Gruft-Kontextes Bestatteten besitzen in Wirklichkeit jeder für sich das rituell vorgeschriebene eigene, unantastbare Grab. Friedhofspläne Die Anordnung der Grabstellen innerhalb des Friedhofsgeländes kann unterschiedlichen Gesichtspunkten folgen. Bis auf jene im 20. Jahrhundert ganz an die bei christlichen Friedhofsarealen üblichen Gebräuche angelehnten jüdischen Friedhöfe sind die Toten nicht einfach nach raum-ökonomischen Überlegungen bestattet, sondern innerhalb genau definierter Personengruppen. Der zur Verfügung stehende Raum wurde demnach nicht schematisch genutzt, von Gruppe 1 – Reihe 1 – Grab 1 beginnend fortlaufend, bis das Friedhofsgelände voll belegt war. Auf sehr traditionell angelegten Friedhöfen wurden (und werden) Männer, Frauen und Kinder (v. a. Säuglinge) getrennt voneinander in jeweils eigenen Gräberfeldern bestattet. Frauen, die im Kindbett verstarben, wurden oftmals in einer eigenen Gräbergruppe beigesetzt, infolge der Reinheitsbestimmungen: Eine Frau sollte sich nach dem Gebären einer rituellen Reinigung unterziehen; stirbt sie, bevor sie die Möglichkeit dazu hatte, gilt sie im rituellen Sinne als unrein und wird entsprechend in einigem Abstand zu den übrigen Toten auf dem Friedhof beerdigt. Auch Selbstmörder erscheinen in der Regel abseits der übrigen Grabstellen beigesetzt, da der Selbstmord eine gravierende Übertretung religiöser Regeln darstellt. Entlang der Friedhofsmauer bestattet zu werden galt bis ins 19. Jahrhundert als Zeichen geringer Ehre,20 weshalb beispielsweise auf dem jüdischen Friedhof Währing die älteren Gräberfelder, und hier vor allem die Grabstellen prominenter Familien, sämtlich im Inneren des Areals liegen, während sich entlang der Einfriedung lange Zeit ein breiter Streifen unbelegten Raumes hinzog. Opfer eines unnatürlichen Todes (Selbstmörder und Unfallopfer) erscheinen in Währing entlang der südlichen Einfriedungsmauer bestattet, möglichst weit entfernt von den später entstandenen Gruftanlagen der großbürgerlichen Familien. Auch Fremde, die in Wien, meist auf der Durchreise, verstarben, wurden am Rande von Gräberfeldern oder überhaupt am Rande des Friedhofsareals bestattet. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es üblich, in Anlehnung an christliche Friedhöfe gerade an der Friedhofsmauer Bestattungsplätze zur Errichtung großer Familiengruftanlagen zu wählen. Die ältesten Gruftgräber auf dem Währinger Areal stammen von 1861. Hintergrund der Ortswahl ist die Bestimmung christlicher Friedhöfe, dass große Grabdenkmäler nicht innerhalb von Gräbergruppen, sondern am Rande des Areals zu errichten seien, damit durch übersteigertes Repräsentationsbedürfnis nicht über Gebühr 19 Vgl. Walzer, Zerstörungen Währing Forschungsbericht. 20 Vgl. dazu auch die Situation in Berlin, Friedhof Große Hamburger Straße, in: Hüttenmeister/ Müller, Berlin, 96.

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und zuungunsten aller anderen zur Verfügung stehenden Grabstellen Platz beansprucht werde. Dies hatte zur Folge, dass entlang der Friedhofsmauern große, repräsentative Familiengrabdenkmäler entstanden. Im Zuge der Akkulturation wurde diese Bestattungsform von jüdischen großbürgerlichen Familien übernommen, um das erreichte Sozialprestige zur Schau zu stellen. Auf Friedhöfen, wo Männer und Frauen nicht getrennt voneinander bestattet wurden, gruppieren sich Gräber von Angehörigen um den jeweils als erstes in der Familie Verstorbenen. Dem liegt die seit der Antike nachweisbare Überlegung zugrunde, dass Verstorbene auf einem der Familie gehörenden Grundstück bestattet werden sollen.21 In der jüdischen Rechtsvorstellung garantiert nur die private, persönliche Grundeigentümerschaft des Grabes dem Toten die bis zum Jüngsten Tag ungestörte Ruhe. Mitglieder einer Familie tendieren dazu, sich in einem möglichst engen räumlichen Kontext bestatten zu lassen. Da aber der weltliche Gesetzgeber die Bestattung aller Juden innerhalb eines dazu bestimmten Areals forderte, ist in der Folge ein jüdischer Friedhof als Verband von Einzelimmobilien zu verstehen, in dem sich Familien Grundstücke sichern, die dann sukzessive belegt werden. Die einzelnen Familien bilden somit gleichsam Inseln auf dem Areal. Auf dem jüdischen Friedhof Währing ist zunächst die traditionellere Gruppierung der Grabstellen von Angehörigen rund um die Herkunftsfamilie festzustellen: Im Zentrum des Familienensembles liegt die Mutter, Kinder oder Geschwister neben sich, während die dazugehörigen Ehepartner in den Reihen vor oder hinter der Herkunftsfamilie angeordnet sind. Dieses Prinzip wird im Laufe des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Ideen der Haskala durchsetzen, zugunsten der Anordnung rund um die Ehepartner abgelöst; die Grabstellen von Vater und Mutter bzw. Ehemann und Ehefrau liegen nebeneinander, jene der Kinder oder Geschwister in den Grabreihen davor bzw. dahinter. Der Übergang vom älteren zum neueren System lässt sich sehr gut am jüdischen Friedhof Währing beobachten, da dort der zeitliche Kontext der Belegung der Gräberfelder klar ersichtlich ist. Zwar wurden auch in früher angelegten Gräberfeldern zu einem späteren Zeitpunkt noch Angehörige nachbestattet, doch entsprechend den mit einigem Abstand aufeinanderfolgenden Erweiterungsphasen des Areals folgt der zeitliche Ablauf der Belegung von Gräberfeldern im Großen und Ganzen dem räumlichen Verlauf von West nach Ost – im Westen liegen die ältesten Gräberfelder, im Osten die jüngsten. Das Beispiel Währing zeigt auch, wie die innere Ordnung der Gräberfelder mit der Sozialstruktur der jüdischen Gemeinde übereinstimmt. So sind die Gruppen II und IV von den Angehörigen der alteingesessenen und gesellschaftlich sehr angesehenen Hoffaktoren-Familien dominiert, entlang der Friedhofsmauer finden sich die Gruftanlagen der großbürgerlichen Familien, die meist im Laufe des 19. Jahrhunderts als Dank für ihre Verdienste um die Industrialisierung und Modernisierung des Landes auch in den Adelsstand erhoben worden sind. Die 21

Vgl. Künzl, Grabkunst, 69.

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Gruppe V versammelt konservativ bzw. religiös orientierte Personen rund um die Grabstellen bekannter Rabbiner. Entlang der ältesten östlichen Grundstücksgrenze, ursprünglich außerhalb des eigentlichen Friedhofsareals, wurden die im jüdischen Spital Verstorbenen bestattet; später wurde dieser Spitalsteil dann durch die Grundstückszukäufe Teil des allgemeinen jüdischen Friedhofes. Im mittleren und östlichen Teil des Areals dehnen sich große Gruppen mit Armengräbern aus. Fremde wurden in der Regel am Rande des jeweils zur Verfügung stehenden Friedhofsareals bestattet. Ein eigenes Gräberfeld stellt die Gruppe X dar, die von der sefardischen Türkisch-Israelitischen Kultusgemeinde als in sich geschlossener Begräbnisplatz genutzt wurde.

Etagenbestattung Die Unauflösbarkeit eines jüdischen Grabes bedingt, dass für den Erhalt der Friedhofsanlagen besondere Lösungen gefunden werden müssen, da Platzmangel nicht zu einer Auflösung und Neubelegung von Grabstellen führen darf. Exhumierungen sind nur dann zulässig, wenn das bestehende Friedhofsareal zwangsweise aufgelöst wird und die Möglichkeit besteht, Gebeine zu retten und umzubetten, oder wenn der Verstorbene nach Jerusalem überführt und dort, am Ziel der Wiederauferstehung, wiederbestattet wird. In der Regel wird das Raumproblem durch Vergrößerung des Beerdigungsplatzes gelöst, erst in horizontaler Ausrichtung durch Grundstückszukäufe, dann, wenn dies nicht mehr möglich ist, vertikal durch Aufschüttung neuer Friedhofsniveaus. Die Toten sind in solchen Fällen in mehreren unterschiedlichen Etagen bestattet, die einzelnen Gräber bleiben dabei unangetastet bestehen. Bestes Beispiel dafür ist der alte jüdische Friedhof in Prag-Josefov. Um das aktuelle Friedhofsniveau zu erreichen, steigt der Besucher konsequenterweise eine ganze Reihe von Stiegen hinauf. Auf dem jüdischen Friedhof Währing können zwei bis drei Bestattungsniveaus konstatiert werden. Die Grabsteine und Grabdenkmäler der unteren Schichten werden dabei auf das jeweils aktuelle Bodenniveau mitgenommen und dort neu gesetzt. Da sich die Neuaufstellung der alten Steine nach dem vorhandenen Platzangebot richtet, entspricht der optische Eindruck der Friedhofsanlage nicht unbedingt der tatsächlichen Bestattungssituation unter der Erde. Als auf dem jüdischen Friedhof Währing das Naturhistorische Museum Wien in der NS-Zeit Angehörige prominenter Familien für seine sogenannten rassekundlichen Forschungen exhumieren wollte, mussten die Arbeiter feststellen, dass viele der Gesuchten nicht eindeutig identifiziert werden konnten, da an den eröffneten Stellen des Friedhofes übereinander mehr als nur ein Toter lag und man auf diese Weise nicht wissen konnte, wer nun die gesuchte Person war, sodass von einer Verbringung der Gebeine ins Museum in solchen Fällen Abstand genommen wurde.22 22

Vgl. Walzer, Zerstörungen Währing Forschungsbericht.

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Funktionen des Grabsteines Die Erhaltung der Grabsteine folgt dem Gebot der Erinnerung (Zachor, hebr.) und zählt zu den wichtigen Aufgaben der Friedhofspflege, denn nur über den Grabstein ist es möglich, Gemeinden, die ausgelöscht worden sind, zu rekonstruieren bzw. Angehörige und Vorfahren aus solchen untergegangenen Gemeinden zu finden. In diesem Sinne ist ein jüdischer Friedhof auch ein ganz bedeutendes, ein steinernes Archiv, eine Chronik der dazugehörigen jüdischen Gemeinde, und die Grabsteine sollten jedenfalls so lange erhalten werden, bis ein sogenanntes Memorbuch, also eine Abschrift mit den Daten der Gemeindemitglieder vorliegt. Ab diesem Zeitpunkt werden die Grabsteine zumindest aus religiöser Sicht oft als obsolet angesehen und nicht mehr erhalten. Häufig ist auf den Friedhöfen zu bemerken, dass Grabstein-Inschriften nachgezogen worden sind, oft mit Ölfarbe auf Marmor oder anderen kostbaren Steinmaterialien, was zwar den Denkmalpfleger schmerzen mag, aber genau der Erfüllung des religiösen Gebotes entspricht. Nicht jeder kann sich die Erhaltung eines Grabsteines von vielleicht auch nur sehr weitläufigen Familienangehörigen durch professionelle Restauratoren leisten. Das Spannungsverhältnis, in dem der Friedhof zwischen Kultort und Denkmal steht, ist im Umgang mit den einzelnen Grabdenkmälern daher besonders ausgeprägt.

Charakteristika jüdischer Friedhöfe Zu den charakteristischen Elementen eines jüdischen Friedhofes zählen Einfriedung, Gebäude, Wege, Gräber und Grabdenkmäler sowie Bewuchs. Gemeinsam bilden sie das Gesamtensemble der historisch gewachsenen Anlage. Jedes dieser fünf Elemente ist unverzichtbarer Bestandteil des Erscheinungsbildes und daher aus denkmalpflegerischer Sicht schützenswert. Auf eine intakte Einfriedung wird aus religiösen Gründen besonderer Wert gelegt, da einerseits die Toten als unrein gelten und von den Lebenden klar geschieden werden sollen, andererseits die Unversehrtheit des jüdischen Friedhofes unter allen Umständen gewahrt bleiben soll. Dessen Grundstücksgrenzen werden daher möglichst klar und als unübertretbar auch im äußeren Erscheinungsbild festgemacht. Daneben sind auf den meisten Bestattungsanlagen auch folgende für jüdische Friedhöfe charakteristische Strukturen augenfällig: Ein Brunnen oder, moderner, Handwaschbecken bzw. Wasserhahn dient dazu, die vorgeschriebene rituelle Reinigung nach dem Friedhofsbesuch durchführen zu können. Im Waschhaus (Tahara-Haus, hebr.) wird von Mitgliedern der Beerdigungsbruderschaft (Chewra Kadischa, hebr.) die rituelle Reinigung und Einkleidung des Toten vor der Bestattung vorgenommen; mitunter besteht zusätzlich auch eine davon getrennte Aufbahrungshalle.

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Für die Angehörigen der Priesterfamilien (Kohen, hebr. Priester, pl. Kohanim; vgl. den eingedeutschten Familiennamen Kohn), die sich aufgrund des rituellen Reinheitsgebotes nicht unter einem Dach mit den übrigen Toten aufhalten sollen, ist oft ein eigener Zugang zum Friedhofsareal eingerichtet, und zwar dergestalt, dass dieser keinen Abschluss-Querbalken aufweist. Auf diese Weise kann gesagt werden, dass die Toten, die durch dieses Tor getragen werden, nicht das Haus (Beth ha-Chajim, hebr., wörtlich Haus des Lebens, für Friedhof ) der übrigen Toten betreten. Gleich hinter diesem besonderen Tor, das eigentlich nur eine Lücke in der Einfriedung darstellen soll, werden die Gräber der Kohanim angelegt, meist in einer Reihe, sodass diese in größtmöglicher Distanz zu allen anderen Toten bestattet liegen und außerdem, gemäß mancher regionalen Interpretation, nach ihrer Wiederauferstehung möglichst schnell und als erste den Friedhof wieder verlassen können. Ähnliche Überlegungen, die um Fragen der Unreinheit des Begräbnisortes kreisen, bestimmen auch die Pflanzschemata auf jüngeren jüdischen Friedhofsanlagen. Auf älteren Friedhöfen gibt es traditionellerweise ohnehin keinen Grabschmuck bzw. keine Grabbepflanzung, da ja die Toten, unrein, nicht physisch besucht werden, der Friedhof somit nicht regelmäßig von Angehörigen betreten wird und daher auch kein Bedürfnis nach einem „schönen“ Friedhof besteht.23 Ab dem 19. Jahrhundert, mit fortschreitender Akkulturation an ästhetische Präferenzen der umgebenden Mehrheitsgesellschaft, tritt aber der Wunsch nach einer gärtnerischen Gestaltung der Friedhofsgelände auf, und hier stellt sich vor allem die Frage nach dem Umgang mit Bäumen. Bäume entwickeln einerseits Wurzeln, die bis in die Grabstellen hinabreichen und die dort befindlichen Knochen dislozieren können. Sie bilden aber auch ein Blätterdach, und über Gräbern von Kohanim würden sie bewirken, dass diese mit der Zeit unter einem Dach mit den anderen Toten zu liegen kommen. Daher trifft man häufig auf die Anordnung, dass an den Gräbern der Kohanim keine Bäume zu pflanzen seien. Pflanzen, speziell Bäume, sind aber auch in anderer Hinsicht halachisch problematisch, da von einem Toten kein Nutzen gezogen werden darf, Früchte eines solchen Baumes also weder gegessen noch gehandelt werden dürfen, ebenso wenig wie sein Holz verwendet werden darf. Auch Mahnmale für Opfer der Shoa aus der zum Friedhof gehörigen Gemeinde finden sich auf vielen jüdischen Friedhöfen und stellen daher, zumindest für jene Friedhöfe, die noch bis 1933 bzw. 1938 benutzt worden sind, ebenfalls ein konstituierendes Element dar.

23

Das Totengedenken findet in der Synagoge bzw. daheim, am Jahrestag des Todes, zur sogenannten Jahrzeit, statt.

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Traditionelle und aufgeklärte Gestaltungsprinzipien Zu jenen Friedhofsanlagen, deren Gestaltung traditionellen Prinzipien folgt, zählen vor allem Kobersdorf (Abb. 2), Eisenstadt oder Frauenkirchen, aber auch die Wiener Friedhöfe in der Seegasse bzw. Währing, dessen alter Teil ebenfalls als traditionell zu bezeichnen ist. Am entgegengesetzten Ende des Spektrums an Erscheinungsformen jüdischer Friedhöfe stehen die Areale der sehr weitgehend an die nichtjüdische Umgebung akkulturierten Gemeinden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dies zeigt sich einerseits wieder bei Währing, und zwar in seinen jüngsten Gräberfeldern, andererseits demonstrieren es Anlagen wie die jüdischen Abteilungen des Mödlinger Kommunalfriedhofes, des Innsbrucker Westfriedhofes oder des Friedhofes St. Barbara in Linz, aber auch der Kultusgemeinden von Graz und Salzburg. Bestimmend für den Gesamteindruck ist neben Abwesenheit bzw. Vorhandensein gartengestalterischer Elemente vor allem das Erscheinungsbild der Grabdenkmäler.24 Dieses definiert sich oft über die Einhaltung des Gebotes der Wohltätigkeit (Zedaka, hebr.). Jeder Einzelne in der Gemeinschaft ist dazu angehalten, bedürftigen Mitgliedern zu helfen. Vor allem im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Industriellen Revolution und der Entwicklung einer modernen Infrastruktur in Regionen und Gemeinden, wurden Sozialeinrichtungen gegründet, gefördert und durch wohltätige Stiftungen aus Nachlassvermögen unterstützt. Gegenüber dem großen finanziellen Aufwand für solche Stiftungen blieben die Grabsteine der Stifter oft vergleichsweise bescheiden, da eine so oberflächliche, weltliche Sache wie ein Grabdenkmal, das nur der Repräsentation, der Zurschaustellung des eigenen Ruhmes dienen soll, auch als der Idee der Wohltätigkeit diametral entgegengesetzt interpretiert werden kann. Einem kleinen, bescheidenen, traditionellen Steckstein beispielsweise könnte eine ganze Reihe von Motiven zugrunde liegen. Der Beerdigte oder seine Familie verzichteten auf optische Repräsentation des erreichten sozialen Status aus religiösen Erwägungen, aber auch: Der Bestattete und seine Angehörigen hätten sich zwar ein pompöses Grabdenkmal gewünscht, verfügten jedoch nicht über die nötigen finanziellen Mittel, oder, drittens, bei dem unter dem kleinen, bescheidenen Stein Beerdigten handelt es sich um ein Kind. Generell wird in der Fachliteratur25 bemerkt, aschkenasische (von Aschkenas, hebr., Enkel von Noah, Urahn der Deutschen, Aschkenasim, pl., Nachkommen des Aschkenas bzw. der ursprünglich in den deutschen Rheinischen Judengemeinden des Mittelalters beheimateten Juden) Friedhöfe seien durch vertikal orientierte Grabdenkmäler dominiert, sefardische (von Sefarad, hebr., Land, in dem die zehn vertriebenen Stämme des Nordreiches lebten, Obadja 1, 20; im übertragenen Sinne seit dem Mittelalter Sephardim, pl., Synonym für die Juden der 24 Vgl. grundlegend Schwartzmann, Images. 25 U. a. Künzl, Grabkunst, 80.

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iberischen Halbinsel) hingegen durch horizontal orientierte. Für die meisten älteren, traditionellen Friedhöfe trifft diese Beobachtung zu (vgl. die sefardischen Grabdenkmäler auf den jüdischen Friedhöfen Hamburg-Altona, Amsterdam-Ouderkerk oder Venedig-Lido, alter jüdischer Friedhof ). Der jüdische Friedhof Währing bietet auch hier eine Ausnahme – eine ganze Reihe von Grabdenkmälern in der Türkisch-Israelitischen Abteilung lehnt sich in Architektur und Gestaltung eindeutig an die Idee des Totenhauses an. Zwar kennen wir den Typus des Grabhäuschens aus sämtlichen Regionen rund um das Mittelmeer, doch nördlich der Alpen sind derartige Grabmalformen erst aus der Periode des Jugendstil bekannt. Die Grabhäuschen von Währing aus dem 19. Jahrhundert dürften daher in den Kontext eines von Stolz getragenen Herkunftsbewusstseins gehören – man setzte sich als türkischer Jude ein Grabdenkmal „wie bei den Türken“, und das ist in dieser Form in Europa nördlich der Alpen einzigartig. Die strikte Trennung zwischen aschkenasischem und sefardischem Friedhofsteil, wie wir sie beispielsweise in Hamburg-Altona noch beobachten können, tritt in Wien-Währing zugunsten der Lösung von Raumproblemen sukzessive in den Hintergrund. Wurden zu Beginn der Anlage Sefarden noch am Rande des jeweiligen Haupt-Gräberfeldes oder überhaupt in eigenen Gräberfeldern bestattet, so waren sie schließlich, zum Zeitpunkt der Schließung des Areals, zum überwiegenden Teil zwischen aschkenasischen Grabstellen zu liegen gekommen. Lediglich der separat durch die neu gegründete Türkisch-Israelitische Kultusgemeinde angemietete Friedhofsteil in Gräbergruppe X weist eine geschlossene sefardische Belegung auf. Die Grabdenkmäler der zwischen den aschkenasischen verteilten sefardischen Grabstellen aber folgen in ihren Formen allesamt dem traditionellen, horizontalen Gestaltungsprinzip, wobei der Typus der liegenden Schriftrolle, wie er von italienischen Rabbinergräbern bekannt ist, dominiert. Über ganz Europa ausgebreitete Netze familiärer Verbindungen zählen zu den Charakteristika jüdischer Sozialstrukturen. In Zusammenhang mit den Friedhöfen ist es besonders interessant, Grabdenkmäler von Familienangehörigen in ihrer geografischen Streuung, aber auch gestalterischen Vielfalt zu untersuchen. Anhand jener der Familie Teixeira in Amsterdam, Hamburg und Wien beispielsweise lassen sich im direkten Vergleich die unterschiedlichen Ausprägungen von Gemeindewesen und Verhältnis zur nichtjüdischen Umgebung hervorragend ablesen. Eine Gruppe von Personen, die 1670 bei der Zerstörung der Zweiten Wiener jüdischen Gemeinde aus Österreich vertrieben wurden, ließ sich in Berlin nieder, gründete dort die neue Berliner Gemeinde und wurde auf dem Friedhof Große Hamburger Straße in einem eigenen Gräberfeld, der sogenannten Wiener Ecke, bestattet.26 Ein anderes überregionales Phänomen sind die Zerstörungen der NS-Zeit bzw. des Zweiten Weltkrieges. In vielen Fällen sind die Folgen solcher Zerstörungen bis dato nicht beseitigt worden. Die Art und Weise, wie mit jüdischem Erbe in unterschiedlichen Staaten, von un26 Vgl. Hüttenmeister/Müller, Berlin, 95 f.

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terschiedlichen Regimen oder Regierungen umgegangen wurde und wird, ist genauso wie die erhaltenen Grabdenkmäler ein Spiegel der Lebensbedingungen von Juden an den verschiedenen Orten und der Interaktion mit den umgebenden Mehrheitsgesellschaften.

Schrift als Gestaltungselement Die Inschrift eines Grabsteines gibt mit ihrer räumlichen Orientierung, Gestaltung, aber auch ihrer Sprache wichtige Hinweise auf die Position des Einzelnen innerhalb des weit gespannten Feldes zwischen traditionellem religiösem Verständnis, Elementen der jüdischen Aufklärung und Akkulturation an umgebende nicht-jüdische Bräuche. Die spezielle Textanalyse vertieft das Verständnis für die Funktionsweise der lokalen Gemeindestrukturen genauso wie für die lebensgeschichtliche Disposition des Verstorbenen. Für den jüdischen Friedhof Währing als beispielgebende Anlage des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Traditionalität und Aufklärung gilt, dass die Orientierung der Grabsteininschrift ein wesentliches Indiz für die Positionierung des Einzelnen darstellt. Charakteristischerweise ist die Mehrzahl der Inschriften entweder auf der Westseite des Grabdenkmales zu finden oder zum nächstgelegenen Weg hin orientiert. Daraus lässt sich schließen, dass der Aspekt der Repräsentation gegenüber der Darstellung religiöser Überzeugungen deutlich in den Hintergrund getreten ist, entsprechend der Entwicklung der Dritten Wiener jüdischen Gemeinde hin zu einer aufgeklärten, reformorientierten, liberalen jüdischen Glaubensgemeinschaft. Nur ein kleiner Bruchteil der Grabinschriften weist demgegenüber nach Osten. Diese Einschätzung wird durch eine Analyse von Sprache und Textinhalt der Grabsteininschriften unterstützt. Die meisten Grabsteine sind zweisprachig – hebräisch und deutsch – beschriftet, wobei der hebräische Text einerseits Verweise auf religiöse Textstellen umfassen kann, andererseits aber auch Lebensdaten und biografische Details in anderen Sprachen als Deutsch, die mit hebräischen Lettern transkribiert wurden, beinhalten kann. Bei den Sprachen handelt es sich vor allem um Jiddisch oder Judenspanisch (auch: Ladino; bei E. Canetti: Spaniolisch), seltener um Polnisch, Italienisch oder andere Sprachen. Das Verhältnis von hebräischem zu deutschem Text ist ein weiteres Indiz für die religiösweltanschauliche Positionierung des Verstorbenen. Für den jüdischen Friedhof Währing ist zu konstatieren, dass mit dem Grad der Liberalität die Länge des hebräischen Textanteiles ab-, jene des deutschen hingegen signifikant zunimmt. Abstufungen im deutschen Text ergeben sich aus den Textinhalten, die von Lebensdaten und Standardformeln wie „Ruhe in Frieden“ oder „Friede seiner Asche“ über Aufzählungen weltlicher Ehrungen und Positionen bis hin zu Elogen auf Charaktereigenschaften und Leistungen des Verstorbenen in Reimform reichen.

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Ein weiteres Detail, die Gestaltung der Schrift, reicht von kalligrafischen Formen, die an die Tradition der mittelalterlichen jüdischen Text-Illuminationen anknüpfen, hin zu Standardschriften des Industriezeitalters und waren wohl nicht nur äußeres Zeichen der schon erwähnten individuellen Positionierung, sondern auch Resultat der finanziellen Möglichkeiten der Nachkommen (Abb. 3).

        !       Ein Vergleich der historisch gewachsenen Verwaltungs-, Handels- und Siedlungszentren Wien, Prag und Berlin zeigt hinsichtlich des zeitlichen Ablaufes der Entwicklung jüdischer Friedhöfe erstaunliche Parallelen. Die Ergebnisse können für die Entwicklungstendenzen jüdischer Gemeinden in Europa als paradigmatisch gelten, legen sie doch neben lokalen Besonderheiten vor allem überregionale historische Entwicklungskontexte offen. In erster Linie ist der Übergang von traditionellen Gruppengefügen jüdischer Bevölkerungsanteile hin zu den Strukturen eines geordneten Gemeindewesens im Sinne der Staatsverwaltungen vor allem des 19. Jahrhunderts zu beobachten. In Bezug auf die jüdischen Friedhöfe und das Bestattungswesen lässt sich der einschneidende Wechsel zu behördenartig organisierten Verwaltungen einer offiziell anerkannten Religionsgemeinschaft an der Rolle der traditionsreichen Chewra Kadischa, der Beerdigungsbruderschaft, im Verhältnis zum in jener Periode eingerichteten Friedhofsamt bzw. der Friedhofsverwaltung der Kultusgemeinde ablesen. Die Chewra Kadischa, praktisch der Nukleus jedes jüdischen Gemeindewesens, der die Sorge für alle sozialen Aspekte des Gemeinwesens oblag, und zwar neben dem Bestattungswesen vor allem Krankenbetreuung bzw. Spitalswesen und Unterstützung bedürftiger Mitglieder der Gemeinschaft, verwaltete durch die Spendentätigkeit der Mitglieder, die die Erfüllung dieser Fürsorgeaufgaben ermöglichten, mitunter bedeutende Vermögenswerte. Ihre innere Organisation blieb Außenstehenden verborgen, Mitglied zu werden bedurfte eines komplizierten Auswahlverfahrens und Aufnahmeprozesses, es zu sein war eine hohe Ehre und Auszeichnung innerhalb der Gemeinschaft. Die Chewra Kadischa einer jüdischen Gemeinde konnte in Denken und Verhalten sehr elitäre Ausprägungen annehmen. Durch die Staats- und Verwaltungsreformen des späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts wurde auch für jüdische Gemeinschaften eine Art offizielles, geordnetes und an Strukturen der staatlichen Verwaltungen angelehntes Gemeinwesen vorgegeben. Diese offiziell anerkannten neuen Kultusgemeinden gerieten bei ihrem Entstehen in Widerspruch zu den älteren Gemeindeorganisationsformen der Chewra Kadischa und strebten danach, diese zu entmachten, die Verwaltung des Vermögens aus deren Händen in ihre eigenen zu überführen und den Einfluss der elitären

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Gruppe zugunsten der demokratischen Organisationsformen nachstrebenden Gruppenvertretung zurückzudrängen. Schlagend wurden solche Konflikte, wenn es um die Schließung eines jüdischen Friedhofes und die Anlage eines Nachfolgeareals ging. Auslöser waren in den meisten Fällen staatliche Vorschriften über Wahl, Situierung und Benutzung der jüdischen Friedhöfe; so wurden aufgrund von Sanitätsreformen Friedhofsverlegungen mehr oder weniger zeitgleich in verschiedenen Ländern notwendig. Während die Chewra Kadischa für ein Grundstück in ihrer alleinigen Verfügungsgewalt eintrat, beanspruchte zunächst die Kultusgemeinde alleine die Oberhoheit über den Friedhof; später überlegte die Kultusgemeinde Kooperationen mit staatlichen Stellen bzw. Kommunalverwaltungen, konkret die Einmietung auf Kommunalfriedhöfen anstatt der Grundeigentümerschaft über separate Friedhofsareale. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Bevölkerungsgruppe entbrannten in Berlin und Wien gleichermaßen. Interessanterweise wird in Berlin bereits rund ein halbes Jahrhundert früher dieser Kampf zwischen Chewra Kadischa und Kultusgemeinde ausgetragen, während in Wien erst mit der Errichtung des Wiener Zentralfriedhofes die Option einer Beteiligung an einem Kommunalfriedhof diskutiert wird. Die Vorreiterrolle Berlins in der Emanzipation der Juden scheint hier sehr eindrücklich vorgeführt. Der Diskussionsprozess markiert den Übergang von einer ghettoisierten sozialen Minderheit hin zu einer staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaft. In Berlin wurde der Friedhof Große Hamburger Straße 1827 vom Friedhof Schönhauser Allee abgelöst, der diesem Wechsel vorangegangene Streit zwischen Orthodoxen und Reformern hatte zehn Jahre lang angedauert.27 Auslöser war eine Anordnung der Regierung zu Berlin von 1817, den alten Friedhof zu schließen und einen neuen außerhalb der Stadtmauern anzulegen, nachdem 1794 das Preußische Landrecht die Bestattung von Leichen in bewohntem Gebiet verboten hatte. In Wien war der alte jüdische Friedhof in der Seegasse 1783 aufgrund der Sanitätsverordnung Josephs II. geschlossen worden, 1784 wurde der erste Tote auf dem neuen jüdischen Friedhof Währing bestattet. Dieser neue Friedhof lag bereits in unmittelbarer Nachbarschaft des wesentlich größeren, ebenfalls infolge der Sanitätsverordnung angelegten christlichen Währinger Friedhofes, an der äußeren Seite des Linienwalles, jener Befestigungsanlage, die Wiens Vorstädte umfing. Eine Auseinandersetzung zwischen Chewra Kadischa und Vertretern der Wiener Judenschaft, wie sie in Berlin nachzuvollziehen ist, wird aus Wien nicht überliefert. Die Wiener Gemeinde war zu der Zeit jedoch auch noch wesentlich konservativer als jene in Berlin, sodass sich die Frage nach Zuständigkeit und Hoheitsrechten noch nicht gestellt haben mag. Eine vergleichbare, entscheidende Auseinandersetzung fand in Wien erst mit der Schließung des jüdischen Friedhofes Währing aus Platzmangel, 1879, statt, wobei sich die Liberalen 27 Dazu sehr ausführlich und informativ Hüttenmeister/Müller, Berlin, 169–202.

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durchsetzten und so die jüdische Abteilung auf dem Wiener Zentralfriedhof bei Tor 1 zum Nachfolgeareal wurde. Diese Entwicklung wiederum ist vergleichbar mit der Ablöse des Berliner Areals an der Schönhauser Allee 1880 durch den jüdischen Friedhof Weissensee, der derzeit 116.000 Gräber auf 40 Hektar Fläche umfasst. Da der bei Tor 1 des Wiener Zentralfriedhofes zur Verfügung stehende Raum nicht ausreichte, wurde 1916 bei Tor 4 der neue jüdische Friedhof eröffnet, der bis heute belegt wird. Tor 1 und Tor 4 umfassen zusammen rund 118.000 Grabstellen auf einer Fläche von 501.626 Quadratmetern und lassen sich in Größe und Bedeutung durchaus mit der Anlage von Berlin-Weissensee vergleichen. Ähnliche zeitliche Parameter finden wir in Zusammenhang mit dem jüdischen Friedhof Hamburg-Königstraße. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hielt eine HygieneDebatte zwischen staatlicher Verwaltung und jüdischer Gemeinde an, die allerdings erst 1869 zuungunsten der jüdischen Gemeinde mit der behördlich angeordneten Schließung des Areals endete. Der alte jüdische Friedhof in Prag-Josefov wurde aufgrund der Sanitätsverordnung Josephs II. geschlossen, die letzte Beerdigung fand dort 1787 statt. Seine Funktion übernahm das ursprünglich als jüdischer Pestfriedhof genutzte Areal des jüdischen Friedhofes PragŽižkov, das seit 1680 in Betrieb war und ab 1784 als allgemeiner Friedhof der Prager jüdischen Gemeinde diente. 1884 wurden weitere Bestattungen auf diesem Areal behördlich verboten, als Nachfolgeareal wählte die jüdische Gemeinde ein unmittelbar an den Prager Zentralfriedhof Olšany angrenzendes Grundstück in Prag-Strašnice, nach einer Übergangsfrist wurden die ersten Toten dort 1890 beerdigt.28 Die Entwicklung der Größenverhältnisse auf den zeitgleich benutzten Friedhöfen sind durchaus vergleichbar: Hamburg-Königstraße umfasste ursprünglich rund 8.000 Grabstellen auf rund 20.000 Quadratmetern, Wien-Währing rund 30.000 Grabstellen bzw. 9.000 Grabsteine auf rund 21.000 Quadratmetern, Prag-Žižkov umfasste vor der Zerstörung rund 22.000 Quadratmeter, Prag-Strašnice (Olšany) 101.430 Quadratmeter. Auch die seit der Schließung der Areale erfolgten Zerstörungen sind ähnliche: Auf einem Teil des Friedhofes Hamburg-Königstraße befindet sich heute anscheinend, nachdem der Teil in der NS-Zeit abgetrennt worden war, ein Fußballplatz,29 ähnlich wie auf dem zur selben Zeit abgetrennten Teil des jüdischen Friedhofes Währing heute ein gemeinnütziger Wohnbau von 1959/60 steht.

28 Vgl. auch die Darstellung bei Pařík/Hamáčková/Cabanová/Kliment, Prag. 29 Nach Aussage der Stiftung Denkmalpflege Hamburg, Irina von Jagow, von 2. Juni 2010 scheinen allerdings nun Zweifel an dieser Interpretation aufgetaucht zu sein; Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung: Orte der Erinnerung; Hamburg-Altona.

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Der größere Teil des Währinger Areals konnte durch die Vierte Wiener jüdische Gemeinde30 vor der Umwandlung in eine Parkanlage bewahrt werden, wiewohl er seit der Nachkriegszeit als solche flächengewidmet ist. Der Friedhof Prag-Žižkov überstand zwar die Zeit des Zweiten Weltkrieges, wurde unter dem kommunistischen Regime jedoch 1960 zum Großteil erst in einen Park umgewidmet und schließlich beim Bau eines Fernsehturmes 1985−1990 (sic!) komplett zerstört (Abb. 4).31 Die Grabsteine wurden laut Zeitzeugen zur Pflasterung der Prager Flaniermeile Na Přikopě (tschech., Am Graben) benutzt. Der Friedhof an der Berliner Großen Hamburger Straße wurde in der NS-Zeit komplett zerstört; er diente, wie der zerstörte Teil des Währinger jüdischen Friedhofes, in den letzten Kriegswochen als Notfriedhof für zivile und militärische Kriegstote und wurde in der Nachkriegszeit ebenfalls in eine Grünanlage umgewandelt.

Der aktuelle Zustand jüdischer Friedhöfe in Österreich Das Weißbuch 200132 hat offenbar auch bei Behörden zu einer veränderten Haltung gegenüber der Frage der jüdischen Friedhöfe in Österreich geführt. So hat etwa die Stadtgemeinde Leoben das übrig gebliebene Areal des zerstörten jüdischen Friedhofsteiles auf dem Kommunalfriedhof aus der monierten Lagerstätte für Friedhofsabfälle und -gerätschaften in einen vorbildlichen Zustand versetzt. In anderen Gemeinden allerdings hat sich, häufig bedingt durch den Wechsel der politisch Verantwortlichen nach Gemeinderatswahlen, die Situation dramatisch verschlechtert, so etwa in Hohenau an der March. Einen Grundkonsens über die Instandsetzung und Erhaltung der jüdischen Friedhöfe herbeizuführen wäre besonders in solchen Fällen notwendig. Eine verbindliche, alle betroffenen Gebietskörperschaften umfassende Regelung sollte Ziel der Verhandlungen zur Umsetzung des Washingtoner Abkommens 2001 sein. Wie die bisherigen Verhandlungen gezeigt haben, wird eine solche Lösung mehrere administrative Ebenen und unterschiedliche sachlich zuständige, jedenfalls auch kompetente Institutionen einbeziehen und sich an den konkreten Erfordernissen zur Sanierung und Pflege der einzelnen Friedhofsareale orientieren müssen. Es hat sich als unrealistisch herausgestellt, dass eine einzige Ebene oder Institution sämtliche erforderlichen Maßnahmen alleine tragen könnte oder

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Zur Vierten Wiener jüdischen Gemeinde und ihrer Konstituierung vgl. v. a. Adunka, Vierte Gemeinde. Zeitgleich mit der Zerstörung erfolgte die Restaurierung des erhalten gebliebenen, kleinen nördlichen Friedhofsteiles 1986. Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008.

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wollte. Daher wäre ein p r a g m a t i s c h e s Vorgehen entsprechend den konkreten Sanierungs- und Pflegeerfordernissen sinnvoll. Zur konkreten Umsetzung wird die Erstellung von P r i o r i t ä t e n l i s t e n und S t u f e n p l ä n e n empfohlen, um die notwendigen Arbeiten überschaubar zu gliedern, die für deren Umsetzung qualifizierten Stellen zu ermitteln und die sich daraus ergebenden kurz-, mittel- und langfristigen Teilbudgets erstellen zu können. Tatsächlich wurde seitens einzelner Länder, Bundes- bzw. bundesnaher Institutionen und Ortsgemeinden bereits eine Reihe von Einzelaktivitäten gesetzt. Zukunftsfonds und Nationalfonds der Republik Österreich fördern in großkoalitionärer Eintracht laufend Friedhofsprojekte und kooperieren. Insgesamt wäre eine weitere, kontinuierliche Koordination der Vorgangsweisen auf Bundes-, Länder- und Gemeindeebene wünschenswert. Der aktuelle Zustand der Friedhofsareale wird auch in Österreich vom Durchführungsgrad notwendiger Instandsetzungs- sowie Instandhaltungsarbeiten bestimmt. In den Bereich der Sanierungsmaßnahmen fallen alle Schäden, die seit der NS-Zeit, also seit die Friedhöfe nicht mehr durch die ursprünglichen Eigentümer – zumeist die lokalen jüdischen Gemeinden – betreut werden können, aufgetreten sind und bisher nicht beseitigt wurden. Das betrifft zunächst jene Zerstörungen an Grabdenkmälern und Bauelementen, die in der NS-Zeit angerichtet worden sind, aber auch Schäden durch Witterungseinflüsse, Vegetation, Tiere (v. a. Grabungsaktivitäten von Dachsen und Füchsen) sowie alters- und materialbedingte Schäden am Steinmaterial. Der jüdische Friedhof Währing wurde in der NS-Zeit durch Bauarbeiten der Stadt Wien an einem Luftschutzbunker zum Teil völlig zerstört, andere Teile wurden durch Exhumierungsarbeiten im Dienste der „Rassenkunde“ durch das Naturhistorische Museum Wien geschändet, dabei wurden rund 220 Grabstätten zerstört, weitere rund 150 Grabstätten wurden in Rettungsmaßnahmen durch den Ältestenrat der Juden Wiens exhumiert. In der Nachkriegszeit wurde auf dem Bunkerareal durch die Stadt Wien der gemeinnützige Wohnbau Arthur-Schnitzler-Hof errichtet. Der jüdische Friedhof von Mattersburg im Burgenland wurde während des Zweiten Weltkrieges abgeräumt; mehrere tausend zum Teil sehr wertvolle Grabsteine wurden zum Bau von Panzersperren gegen die vorrückende Rote Armee verwendet und nach Kriegsende laut Augenzeugenberichten in Privathäusern verbaut, wo sie sich, zumeist als Bodenbelag, noch heute befinden sollen.33 Ähnlich verfuhren lokale Behörden mit dem jüdischen Friedhof von Deutschkreutz, dessen Grabsteine nicht nur als Panzersperren dienten, sondern auch als Bodenbelag für die Terrasse von Schloss Nikitsch. Auch im südburgenländischen Städtchen Güssing wurden die Grabsteine des jüdischen Friedhofes entfernt; hier wie auf anderen jüdischen Friedhöfen dieses Bundeslandes war es 33

Interview Walzer, Mattersburg. Der ortsansässige Informant wollte seinen Namen nicht nennen, da er Repressalien seitens der Kommunalbehörden befürchtete.

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eine Steinmetzfirma, die die in der NS-Zeit gestohlenen jüdischen Grabsteine bis nach Westösterreich handelte. Im Zuge von Restitutionsverfahren der Nachkriegszeit tauchte dann nur noch ein kleiner Teil der entfernten Grabdenkmäler auf. Bei Tor 4, der neuen jüdischen Abteilung auf dem Wiener Zentralfriedhof, lagern seit 1943 äußerst wertvolle Grabsteine. Sie stammen vom ältesten noch erhaltenen jüdischen Friedhof Wiens in der Seegasse. In der NS-Zeit, als die Stadtverwaltung den Friedhof Seegasse zugunsten eines Spielplatzes für eine öffentliche Schule abräumen ließ, wurden sie hierher verbracht, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Nachdem sie jahrzehntelang vergraben waren, stieß der Fahrer eines Baufahrzeuges in den 1980er-Jahren bei einer Sanierung des Wegenetzes zufällig darauf. Seither liegen die so wiedergefundenen Grabsteine, Wind und Wetter ausgesetzt, in einer Wiese auf dem Friedhofsareal und warten darauf, an ihren ursprünglichen Aufstellungsort in der Seegasse zurückgebracht zu werden (Abb. 5). Auf dem Friedhof in der Seegasse selbst lagert eine Anzahl der bedeutendsten Grabsteine seit Jahren umgelegt in der Wiese, da nach einem Projektstart zur Erhebung des Sanierungsbedarfs die Finanzierung der tatsächlichen Sanierung ungesichert ist. Die umgelegten, zunächst ungeschützten Steine wurden nach Protesten 2008 mit Schutzfolien zugedeckt, unter denen sich allerdings Kondenswasser sammelt. Teile der Umfassungsmauern des neuen jüdischen Friedhofes in Eisenstadt, der Areale in Wiener Neustadt, Mödling, Kittsee, Graz oder Knittelfeld drohen zusammenzubrechen; die hohen Sanierungskosten konnten bisher von keiner Seite aufgebracht werden.34 In den Bereich der Instandhaltung fallen vor allem die laufenden Pflegemaßnahmen für sich ständig neu entwickelnden Bewuchs auf den Friedhofsarealen. Der Pflegezustand des jüdischen Friedhofes Währing ist trotz einer Reihe privat organisierter und finanzierter gärtnerischer Einsätze im Verhältnis zur Bedeutung der Grabdenkmäler und zum Grad der Gefährdung durch unkontrollierten Wildwuchs erschreckend schlecht. Der jüdische Friedhof von Michelndorf liegt in einem Wald und war lange Zeit völlig unbetreut, bis selbst der umgebende Wald besser gepflegt erschien als das eigentliche, eingefriedete Friedhofsareal. Auf dem kleinen jüdischen Friedhof von Tulln, der partiell abgeräumt wurde, stehen in der nunmehr leeren Wiese Betonguss-Stelen als symbolische Grabsteine, während die noch vorhandenen Grabsteine und Grabeinfassungen unter ungepflegtem Grabbewuchs – Eiben, Scheinzypressen – vollständig verschwunden sind. Der Bewuchs des jüdischen Friedhofes Dürnkrut wird auf Initiative eines betagten Nachkommen mehr schlecht als recht gebändigt, öffentliche Unterstützung gibt es nicht. Der Bewuchspflege des jüdischen Friedhofes in Hol34

Aus den Erhebungen des Weißbuches über Pflegezustand und Sanierungserfordernisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich 2001 und 2008 werden hier und in der Folge einige Beispiele herausgegriffen; vgl. Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008.

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labrunn hat sich eine Ortsbewohnerin angenommen, notwendige, aber teure Baumschnittmaßnahmen zu setzen liegt allerdings außerhalb ihrer Möglichkeiten. Der große und bedeutende jüdische Friedhof im burgenländischen Lackenbach ist seit Jahren von hüfthohem Dornengestrüpp bedeckt, während der unmittelbar angrenzende, vom Areal durch einen Maschendrahtzaun abgetrennte sogenannte Zigeunerfriedhof, auf dem Roma und Sinti begraben liegen, ausgezeichnet gepflegt und gemäht ist; das dortige Mähgut wird entsorgt, indem man es augenscheinlich über den Zaun auf den jüdischen Friedhof wirft.

Instandhaltungs- und Instandsetzungsmaßnahmen Seit dem Abschluss des Weißbuches 2001 haben sich in einigen Ortsgemeinden private Gruppen gebildet, die sich auf lokaler Ebene freiwillig für die Pflege und Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe engagieren. Dazu zählen vor allem der Verein Helikon in Gänserndorf, der sich der Friedhöfe im Weinviertel annimmt, der Verein In memoriam Walter Lauber in Klosterneuburg35, die Initiativen von Werner Sulzgruber in Wiener Neustadt, Robert Streibel in Krems und Thomas Schärf in Baden36, der Verein zur Sanierung und Erhaltung des jüdischen Friedhofes in Ybbs, die ARGE jüdisches Leben im Bezirk Korneuburg, das Mauthausen Komitee Steyr (Karl Ramsmaier), der von Nachkommen in St. Gallen, Schweiz, gegründete Verein für die Erhaltung des jüdischen Friedhofes Hohenems in Vorarlberg, der Verein zur Pflege des Währinger jüdischen Friedhofes, die von Nachkommen getragene Organisation Jüdisches Erbe: Plattform zur Erhaltung und Erforschung der jüdischen Friedhöfe in Österreich sowie Gruppen in Neulengbach, Hollabrunn und Mistelbach. Die Vereine, Interessierten und Volontäre leisten wertvolle Arbeit, die wesentlich dazu beiträgt, dass sich das Erscheinungsbild der jüdischen Friedhöfe in den von ihnen betreuten Gemeinden verbessert hat. Dieses freiwillige Engagement führt das große Interesse der örtlichen Bevölkerung an den jüdischen Friedhöfen und ihre Bereitschaft, für die Erhaltung der Reste jüdischen Lebens in ihren Orten einzutreten, vor Augen. Es ist auch geeignet, Wege aufzuzeigen, wie in größerem Rahmen – auf Länder- und Gemeindeebene – in der Frage der jüdischen Friedhöfe vorgegangen und kooperiert werden könnte. Das Engagement der lokalen Zivilgesellschaft kann die langfristig, kontinuierlich von Bund und Ländern zu leisten-

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Vgl. Walzer, Klosterneuburg. Zuvor bereits äußerst verdienstvoll in jahrelanger Arbeit die beiden pensionierten Badener Professoren Meissner/Fleischmann, Baden.

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de Unterstützung jedoch sicherlich nicht ersetzen.37 Die österreichischen Kultusgemeinden konnten mit den meisten Lokalverwaltungen jener Ortschaften, in denen jüdische Friedhöfe liegen, Zugeständnisse über die laufende Pflege durch die Ortsgemeinden selbst erreichen. Solche Vereinbarungen sind jedoch auf die verhandelnden Personen bezogen, auf einer sehr individuellen Ebene angesiedelt und somit kein Garant für eine langfristige Sicherstellung der Instandhaltungsmaßnahmen. Wo keine persönlichen Beziehungen bestehen, ist auch die Instandhaltung nicht sichergestellt. Generell fällt die Aufgabe, Pflegemaßnahmen zu organisieren, den Kultusgemeinden von Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck leichter als jener von Wien, da jede der erstgenannten wesentlich weniger Areale zu betreuen hat, persönliche Kontakte zu Kommunalpolitikern naheliegender und die zu betreuenden Areale viel kleiner sind als die der Wiener Kultusgemeinde, in deren Zuständigkeitsbereich 48 zum Teil sehr große Friedhöfe in Wien, ganz Niederösterreich und dem Großteil des Burgenlandes fallen. Mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien betreut die Israelitische Kultusgemeinde Wien die beiden jüdischen Teile des Wiener Zentralfriedhofes selbst, so gut dies angesichts der enormen Größe der Areale, Anzahl der Bäume und Fülle der Grabsteine eben möglich ist. Flächendeckende Bewuchspflege und gleichzeitige Erhaltung der Grabdenkmäler stellen die Arbeiter aber mitunter vor unlösbare Aufgaben. Die jüdische Abteilung auf dem Innsbrucker Westfriedhof andererseits ist vorbildlich gepflegt, ebenso wie der jüdische Friedhof von Graz, wo die lokale Kultusgemeinde einen auf dem Areal wohnenden Friedhofswärter beschäftigt, oder wie die Areale von Hohenems, Trautmannsdorf in Oststeiermark, Knittelfeld, Judenburg, Klagenfurt, Oberwart, Stadtschlaining, Güssing, sowie die jüdischen Friedhöfe von Salzburg, Linz, Steyr und Gmunden. Zu den notwendigen Vorarbeiten für eine systematische, fachgerechte Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich zählt eine Reihe von Untersuchungen, die bisher noch für kein einziges der österreichischen Areale vollständig durchgeführt worden ist: 1) die Vermessung des Areals 2) die Erforschung der Geschichte von Areal, Baulichkeiten, Bestatteten und lokaler jüdischer Gemeinde 3) die Auffindung und Bearbeitung noch vorhandenen Quellenmaterials zum Areal selbst 4) die Anlage eines Friedhofs- bzw. Grabstein-Inventars 5) die fotografische Dokumentation aller Grabsteine samt Inschriften

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Vgl. dazu auch grundlegend Gälzer, Österreich, und Gälzer/Gälzer, Niederösterreich. Das Standardwerk für den Umgang mit historischen Friedhöfen generell ist sicherlich Historische Friedhöfe, Kassel. Es gibt eine ganze Reihe von Publikationen zu österreichischen Friedhöfen, in denen auch jüdische Areale eine Rolle spielen, diese Bücher sind sehr beliebt und erreichen hohe Auflagenzahlen; vgl. z. B. Pleyel, Wien.

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6) die Rekonstruktion eines Belegplanes 7) die Aufnahme, Transkription, Übersetzung und Interpretation der Grabsteininschriften 8) die Bildung kunsthistorischer Kategorien der Grabdenkmäler 9) die restauratorische Erhebung und Beurteilung der Schadensbilder 10) die Erstellung eines Maßnahmenkataloges sowie 11) die Aufstellung einer Kostenschätzung für Sanierungs- und Pflegemaßnahmen38 Als einziges Areal wurde bisher der jüdische Friedhof im vorarlbergischen Hohenems ab 1999 vom Friedhofsverein in Kooperation mit der Stadt Hohenems, dem Land Vorarlberg und dem Bundesdenkmalamt vorbildlich, sorgsam und fachkundig restauriert. Die Israelitische Kultusgemeinde Linz gab im Jahr 2008 Steinmetzarbeiten an einer Reihe von Grabsteinen der jüdischen Friedhöfe Linz und Steyr in Auftrag. Der Präsident der Salzburger Kultusgemeinde, Marko Feingold, veranlasste die Errichtung von Gedenktafeln auf dem Friedhofsareal, die sämtliche Personen auflisten, deren Grabstellen während der NS-Zeit zerstört worden sind, sowie eine Gedenktafel mit den Namen verstorbener Kinder von Müttern, die Konzentrationslager überlebt hatten, als sogenannte Displaced Persons auch in der Nachkriegszeit in Lagern leben mussten und zu schwach waren, um lebensfähige Kinder zu gebären. Die Kultusgemeinde Innsbruck brachte auf dem neuen jüdischen Friedhof, einer Abteilung des Innsbrucker Westfriedhofes, Gedenktafeln mit den Namen all jener an, deren Grabstätten im Zuge eines Straßenbauprojektes zur Erweiterung des Innsbrucker Südringes 1981 zerstört wurden. 2009 wurde auch die Gedenkstätte am „Judenbühel“ genannten Hügel unterhalb der Innsbrucker Hungerburg eröffnet, die das Areal des alten, bis 1864 benutzten jüdischen Friedhofes einfriedet und kenntlich macht.39 Der Friedhof selbst ist komplett abgeräumt. Die Ortsgemeinde Bad Pirawarth sanierte 2007 die Einfriedungsmauer des jüdischen Teiles des Kommunalfriedhofes auf eigene Kosten, da diese einzustürzen drohte, und jene von Bad Sauerbrunn versetzte den jüdischen Teil ihres Kommunalfriedhofes nach einer erfolgten Mauersanierung wieder in einen tadellosen Zustand, der durch sorgfältige Pflege auch laufend aufrechterhalten wird. Als erster Friedhofsverein konstituierte sich in den frühen 1990er-Jahren auf Initiative des pensionierten Rechtsanwaltes Walter Pagler der Verein Schalom. Über zehn Jahre lang bemühte sich der Verein unermüdlich und sehr verdienstvoll, aber mit geringer Fachkenntnis, um die Wiederherstellung eines würdigen Äußeren vor allem von Tor 1 des Wiener Zen38 39

Vgl. den Exkurs „Der jüdische Friedhof Währing als Pilotprojekt zur Sanierung und Pflege der jüdischen Friedhöfe in Österreich“. Vgl. den Beitrag von M. Guggenberger in diesem Band.

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tralfriedhofes, aber auch von zahlreichen Arealen in Niederösterreich und dem Burgenland. Laienhafte Sanierungsaktionen – Betonstreifenfundamente, in die man die alten Grabsteine ohne Rücksicht auf Steinmaterial, kunsthistorischen Wert oder Inschriftenverluste hineinsteckte, Grabsteinfragmente, die mit Fliesenkleber, in Unkenntnis der hebräischen Schrift, oft falsch herum zusammengeklebt wurden, oder das Nachziehen von Grabsteininschriften – organisierte der Verein mithilfe von Schüleraktionen; zudem wurde auf die Unterstützung des österreichischen Bundesheeres zurückgegriffen, das in „Enttrümmerungsaktionen“ Friedhofswärterhäuschen, wo eine Finanzierung der Sanierung ungesichert war, in die Luft sprengte und das Problem auf diese Weise löste. In Klosterneuburg konnte der Verein In memoriam Walter Lauber seit seiner Gründung im Frühjahr 2007 bereits einen guten Teil des bis dahin verwahrlosten Areals in einen ausgezeichneten Pflegezustand versetzen. Das desolate Friedhofswärterhäuschen wurde abgerissen und mit der Sanierung einzelner Grabdenkmäler begonnen. In Marchegg wurde auf Initiative des Vereines Helikon 2004 eine Gedenktafel für den abgeräumten und nicht mehr erkennbaren jüdischen Friedhof, der sich unmittelbar an den Kommunalfriedhof anschloss, errichtet, ebenso in Zistersdorf. In Güssing wurden rund 20 wiedergefundene Grabsteine 2001 auf das ursprüngliche Friedhofsareal zurückgebracht und dort aufgestellt. Der Rest des seit der NS-Zeit kahlen Hügels war bereits in den 1990er-Jahren mit symbolischen Grabstelen, aus Beton gegossenen Mazewoth (hebr., pl.), bestückt worden, um den Missbrauch des heiligen Ortes als Rodelhügel zu unterbinden. Ähnlich verfuhr die Wiener Chewra Kadischa in Mattersburg; auch dort wurden rund 60 Betonstecksteine als Schutz gegen das Rodeln möglichst flächendeckend auf dem kahlgeräumten abschüssigen Hang des Friedhofes verteilt aufgestellt. Das Areal des alten jüdischen Friedhofes von St. Pölten in Niederösterreich wurde in der NS-Zeit abgeräumt und für öffentliche Sozialeinrichtungen genutzt; der heute noch unmittelbar angrenzend bestehende Niederösterreichische Landeskindergarten zeugt von der missbräuchlichen Verwendung, während sich auf einem Teil des ursprünglichen Friedhofsareals heute eine parkähnliche Anlage, die aus einer leeren Wiese, einigen Überresten des alten Baumbestandes und einem Gedenkstein besteht, befindet. In der steirischen Stahlstadt Leoben war die jüdische Begräbnisstätte Teil des Kommunalfriedhofes und wurde in der NS-Zeit komplett abgeräumt. Heute bietet sie sich dem Besucher als leere Wiese mit einem Gedenkstein dar. Auf einem Teil des ursprünglichen jüdischen Friedhofsareals befand sich 2001 ein Geräte- und Mistlagerplatz des Kommunalfriedhofes, der nach den Erhebungen des Weißbuches allerdings prompt geräumt und in eine würdige, gärtnerisch gestaltete Form versetzt wurde. Am Wiener Zentralfriedhof bei Tor 1, der alten jüdischen Abteilung, wurden an zwei Stellen Trümmerhaufen errichtet, wo man Bruchstücke von Grabdenkmälern, die eine bei-

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Der aktuelle Zustand jüdischer Friedhöfe in europäischen Ländern In jüngerer Zeit hat die Frage der Sanierung und Pflege jüdischer Friedhöfe auch international neue Aufmerksamkeit erhalten. Von jüdischer Seite nehmen sich vor allem zwei Institutionen der Probleme an: das Committee for the Preservation of Jewish Cemeteries in Europe unter Rabbi Y. Y. Schlesinger in London, das vor allem die Rettung der jüdischen Friedhöfe Spaniens unterstützt und 2009 eine Lösung für den jüdischen Friedhof von Toledo aushandeln konnte, sowie die Lo Tishkach Foundation – European Jewish Cemeteries Initiative, ein in Belgien situiertes, 2006 ins Leben gerufenes gemeinsames Projekt der Conference of European Rabbis und der Conference on Jewish Material Claims Against Germany. Lo Tishkach baut derzeit eine Datenbank aller bekannten jüdischen Begräbnisstätten Europas auf. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika unterstützt alle Bemühungen, die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe zu fördern, zu koordinieren und international verbindliche Regelungen zu erreichen, wie zuletzt auf der Prager Nachfolgekonferenz der Washingtoner Holocaust Era Assets Conference von 1998 im Juni 2009.40 In der dort verabschiedeten Theresienstädter Deklaration heißt es zu den jüdischen Friedhöfen:

40 Treibende Kraft dieser Bemühungen war Botschafter J. Christian Kennedy, der damalige Sondergesandte für Holocaust-Angelegenheiten des U.S. Department of State, der für die Durchsetzung dieser Ziele kämpfte, Verbindungen zwischen den Beteiligten zustande brachte und auf die Umsetzung von Verpflichtungen pochte. Die Sache wird mit viel Elan von Douglas Davidson, dem Nachfolger als Special Envoy for Holocaust Issues des U.S. Department of State weiterverfolgt.

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“Jewish cemeteries and burial sites: Recognizing that the mass destruction perpetrated during the Holocaust (Shoah) put an end to centuries of Jewish life and included the extermination of thousands of Jewish communities in much of Europe, leaving the graves and cemeteries of generations of Jewish families and communities unattended, and Aware that the genocide of the Jewish people left the human remains of hundreds of thousands of murdered Jewish victims in unmarked mass graves scattered throughout Central and Eastern Europe, We urge governmental authorities and municipalities as well as civil society and competent institutions to ensure that these mass graves are identified and protected and that the Jewish cemeteries are demarcated, preserved and kept free from descretation, and where appropriate under national legislation could consider declaring these as national monuments.”41 Als weitere supranationale Institution, die sich der jüdischen Friedhöfe annehmen könnte, wäre die UNESCO zu nennen. Sowohl Berlin als auch Hamburg arbeiten daran, die lokalen Areale in die Liste des Weltkulturerbes aufnehmen zu lassen. Diskussionen zeigten allerdings, dass Anträgen potenziell größere Chancen eingeräumt werden, sobald nicht nur ein einzelner Friedhof die Aufnahme in die Liste beantragt, sondern die jüdischen Friedhöfe in einem internationalen Kontext gesehen werden und entsprechend als kulturelles Erbe nicht nur Europas, sondern auch von Übersee-Regionen qualifiziert werden. Dies gilt in besonderem Maße für die sefardischen Friedhöfe, die ja den weit in die Neue Welt ausgreifenden Migrationsbewegungen folgten und heute bis in die Karibik zu finden sind. Aber auch innereuropäische Vergleiche, beispielsweise zwischen Berlin, Wien und Budapest oder zwischen Hamburg, Wien und Prag, sind hier zukunftsweisend.

     "#     In der Bundesrepublik Deutschland, wo rund 2.000 jüdische Friedhöfe heute noch existieren, stellt sich die innerstaatliche Situation weitaus klarer dar als im Nachbarland Österreich. 41

TEREZÍN DECLARATION vom 30. Juni 2009, unterzeichnet von Repräsentanten von 46 Staaten: Albanien, Argentinien, Australien, Österreich, Weißrussland, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Brasilien, Bulgarien, Kanada, Kroatien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Mazedonien (FYROM), Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Israel, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Moldau, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, Ukraine, Großbritannien, USA, Uruguay; als Beobachter nahmen Serbien und der Heilige Stuhl teil; www.eu2009.cz/ en/news-and-documents/news/terezin-declaration-26304, Zugriff zuletzt Juli 2009.

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Mit dem Protokoll der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland zur Kabinettssitzung vom 31. August 1956 wurde der Vorschlag niedergelegt, dass Bund und Länder gemeinsam je zur Hälfte die Kosten der dauernden Pflege der verwaisten jüdischen Friedhöfe tragen sollen; die Länder stimmten diesem Vorschlag zu. Grundlage dieses pragmatischen Vorschlages war die Erklärung der Bundesregierung zur Judenfrage vom 27. September 1951, in der diese ihre Verpflichtung zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung der Schäden, die durch die Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes entstanden sind, anerkannte und sich verpflichtete, zusammen mit den Ländern anstelle der vernichteten jüdischen Gemeinden für die Sicherung und Betreuung der jüdischen Friedhöfe in der Bundesrepublik zu sorgen.42 Seither wird diese Vereinbarung mit einem jährlichen Finanzaufwand von rund 7,5 Millionen Euro (3,5 Millionen Euro aus dem Bundesbudget, der Rest aus den Budgets der Länder) umgesetzt.43 Die praktische Umsetzung der Sanierungs- und Pflegevorhaben an deutschen jüdischen Friedhöfen erfolgt auf Landes- bzw. kommunaler Ebene.44 Die Länder stellen jeweils einen Mitarbeiter zur Aufsicht über die Durchführung der Arbeiten, die Verwendung der Gelder und die Einhaltung der vorgegebenen Regeln ab. Jeder Regierungsbezirk verfügt über einen solchen „Sachwalter für jüdische Friedhöfe“. Der Sachwalter verwaltet überdies einen Sonderfonds zur Finanzierung größerer Vorhaben, wie etwa der Restaurierung von Grabsteinen. Die Kommunalverwaltungen, die grundsätzlich zur Erhaltung und Pflege jüdischer Friedhöfe verpflichtet sind, sorgen für die praktische Umsetzung der nötigen Schritte. Die Landesverbände jüdischer Gemeinden in den einzelnen Bundesländern stellen je einen Friedhofsbeauftragten bereit, der – im Falle des Bundeslandes Hessen beispielsweise einmal pro Woche – kontinuierlich und regelmäßig in der Betreuung der Vorhaben die Interessen der jüdischen Gemeinden wahrnimmt. Das Beispiel Schnaittach in Bayern zeigt einen vorbildlichen Umgang mit einem mittelalterlichen, einem jüngeren (19. Jahrhundert) und einem neuen (20. Jahrhundert) jüdischen Friedhof. Die drei Friedhofsareale stellen unterschiedliche Anforderungen an Pflege und Sanierung. In allen Fällen erinnern Gedenktafeln an den ursprünglichen Zustand und seine Zerstörung während des NS-Regimes, Schilder geben generelle Hinweise auf den Charakter der Areale. Alle Einfriedungen sind in ausgezeichnetem Zustand, alle Friedhöfe mit versperrbaren Türen ausgestattet. Alle noch vorhandenen Gebäude und Grabsteine sind hervorragend 42 Protokoll, BRD 1956, zur Verfügung gestellt vom Bundesinnenministerium Berlin, Friedrich Körner, Leitung Sektion Religionsangelegenheiten, 5. 9. 2001. 43 Freundliche Mitteilung von Herrn Friedrich Körner, Leitung Sektion Religionsangelegenheiten, Bundesinnenministerium Berlin, 5. 9. 2001; Interview Walzer, Berlin. 44 Im Folgenden freundliche Mitteilung von Herrn Hartmut Heinemann, Vorsitz Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen Wiesbaden, 5. 9. 2001, Interview Walzer, Wiesbaden.

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saniert und gepflegt. Bewuchs und Wege sind in ausgezeichnetem Zustand. Auf dem neuesten jüdischen Friedhof erinnert eine Tafel mit zwei Namenslisten an die ursprünglich hier Bestatteten, deren Gräber zerstört worden sind, sowie an die Opfer der Shoa aus Schnaittach. Auf dem mittleren Friedhof wurden die einzig erhaltenen Grabsteinfragmente in Form einer Gedenkmauer erhalten. Über die unmittelbaren Pflegeaufgaben hinaus wurde in Deutschland bereits eine große Zahl jüdischer Friedhöfe wissenschaftlich bearbeitet. Seit rund 30 Jahren bemüht sich die Forschung um die jüdischen Friedhöfe von Frankfurt, Berlin und Hamburg. Darüber hinaus arbeiten mehrere Forscher mit ihren Teams seit Jahrzehnten überregional an der systematischen Erfassung deutscher jüdischer Friedhöfe: Naftali Bar-Giora Bamberger (1919–2000), Frowald Gil Hüttenmeister sowie Michael Brocke, aber auch andere.45 1988 konstituierte sich eine Arbeitsgemeinschaft jüdische Friedhöfe. Brocke gelang es, an der Universität Duisburg das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte als ein Zentrum der jüdischen Epigrafik aufzubauen, das methodisch Pionierarbeit leistet und dessen Bedeutung weit über Deutschland hinausgeht.46 Falk Wiesemann dokumentierte in seiner Bibliografie zu jüdischen Friedhöfen aus dem Jahr 2005 beinahe 10.000 Beiträge und zeigte damit in eindrücklicher Weise die Intensität der Beschäftigung mit dem Thema auf.47 In Berlin arbeitet eine Projektgruppe der Technischen Universität Berlin unter Johannes Cramer an der wissenschaftlichen Inventarisierung von zwei Gräberfeldern des jüdischen Friedhofes Weissensee, um Zeitaufwand und Kosten für eine Gesamtinventarisierung des Friedhofsareals zu ermitteln.48 Das Projekt definiert die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen und wird in Kooperation von Centrum Judaicum Berlin, Jüdischer Gemeinde zu Berlin, Landesdenkmalamt Berlin und Schinkel-Zentrum der Technischen Universität Berlin durchgeführt. Langfristiges Projektziel ist der Antrag auf Aufnahme in die Tentativliste des UNESCO-Weltkulturerbes.

45

Vgl. beispielsweise die ausgezeichneten Publikationen Adler/Engel/Högerle/Hüttenmeister/ Michielin/Sayer, Rexingen; Bamberger, Wandsbek; Brocke/Mirbach, Grenzsteine; Brocke/ Pomerance, Steine; Burnicki, Börneplatz; Etzold, Kulturdenkmal; Haller, Trier; Heinemann/ Wiesner, Alsbach; Hüttenmeister/Rogg, Hegenheim; Hüttenmeister/Müller, Berlin; Kändler/Hüttenmeister, Harburg; Koppenfels, Berlin; Müller, Schönhauser Allee. 46 Mit Epidat betreibt das Steinheim-Institut eine online-Datenbank, die derzeit über 20.000 Grabsteininschriften in wissenschaftlich aufbereiteter Form zur Verfügung stellt; http://www.steinheiminstitut.de/cgi-bin/epidat, Zugriff zuletzt Mai 2010. 47 Wiesemann, Sepulcra; der Band verzeichnet exakt 8.760 Texte. 48 Vgl. dazu im Detail den Beitrag der Berliner Projektgruppe im vorliegenden Band.

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Die Restaurierung und Öffnung des Jüdischen Friedhofes Hamburg-Altona Seit 1953 gehören alle jüdischen Friedhöfe in Deutschland wieder den jüdischen Gemeinden. Prinzipiell hat jede staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft Anspruch auf angemessene Hilfe durch den Staat, unabhängig von den Ereignissen in der nationalsozialistischen Zeit. Seit 1960 stehen alle deutschen Friedhöfe unter Denkmalschutz und haben daher auch Anspruch auf staatliche Unterstützung. Bezüglich der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der jüdischen Friedhöfe in Deutschland existiert seit 1956 eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern. Diese sogenannte Bund-Länder-Vereinbarung funktionierte, wie das Beispiel Hamburg illustriert, jahrzehntelang nicht optimal, da viele Kommunen das für die jüdischen Friedhöfe gedachte Geld einbehielten. Erst seit der Landesverband der jüdischen Gemeinden einen Beauftragten entsendet, wird die Vereinbarung effizient umgesetzt, und zwar auf Zuruf: Die Länder stellen einen Betrag zur Verfügung, und der Bund doppelt um noch einmal diesen Betrag das Gesamtjahresbudget auf. Entscheidungsinstanz ist beispielsweise im Falle Hamburgs die Senatskanzlei, das ist der Bürgermeister der Stadt. Die Vereinbarung betrifft nur historische, das heißt geschlossene Friedhöfe. Allerdings haben die Mittel, die aus der Bund-Länder-Vereinbarung zur Verfügung standen, nie gereicht: Pro Quadratmeter bzw. pro Grab standen 1,70 DM zur Verfügung. In der Königstraße wurde 1611 ein jüdischer Friedhof angelegt, der den jüdischen Gemeinden von Altona, Hamburg und zeitweilig auch Wandsbek als Begräbnisstätte diente und 1869 geschlossen wurde. Bemerkenswert ist die große Anzahl portugiesisch-jüdischer Gräber, die das Areal zusammen mit den über 6.000 aschkenasischen Steinen nicht nur zu einem der größten jüdischen Friedhöfe Norddeutschlands, sondern auch zum ältesten Portugiesenfriedhof in Nordeuropa macht. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Friedhof partiell zerstört. Dazu kamen später Umweltschäden, Vandalismus, Beschädigungen durch unsachgemäßen Umgang mit dem Areal und Diebstahl. Heute ist der Friedhof in der Königstraße umfassend erforscht und fotografisch dokumentiert, alle Grabsteininschriften sind erfasst und übersetzt. Zahlreiche Grabsteine wurden restauriert, andere aufgerichtet. Das Areal wird nach der Erstellung eines eigenen Parkpflegewerkes49 professionell gepflegt und betreut. Im Eingangsbereich wurde in moderner Architektur ein Gebäude errichtet, das Räumlichkeiten für eine kleine Fachbibliothek und einen Vortragssaal, der aus Panoramafenstern den Blick auf das Friedhofsareal eröffnet, zur Verfügung stellt. Das Gebäude wurde nach dem Hamburger Rabbiner Eduard Duckesz benannt. Nachdem die unmittelbaren Forschungsaufgaben in Zusammenhang mit dem Friedhofsareal 49 Vgl. zum Thema Parkpflegewerk für einen jüdischen Friedhof den Beitrag von S. Schmidt in diesem Band.

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abgeschlossen sind, wird nun das Duckesz-Haus zum Zentrum weiterer Forschungsaufgaben, die über den Friedhof Hamburg-Altona bei Weitem hinausgehen. Erforschung, Restaurierung und Bauvorhaben wurden von der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, der Hermann Reemtsma-Stiftung, der Axel Springer Stiftung, der Stiftung Denkmalpflege Hamburg, der Kulturbehörde Hamburg (Denkmalschutzamt) und der Senatskanzlei Hamburg finanziert (Budget: 1,25 Millionen Euro). Grundeigentümerin des Friedhofsareals ist die Jüdische Gemeinde Hamburg, das Duckesz-Haus wurde von der Freien und Hansestadt Hamburg errichtet. Nach erfolgter Sanierung konnte mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Denkmalpflege Hamburg eine Ausstellung zum jüdischen Friedhof Altona produziert werden,50 die dann in mehreren Städten gezeigt wurde.51 Das 2007 eingeweihte Duckesz-Haus wird als „Studienhaus“ für Seminare und Besprechungen genutzt, und jeden Sonntag werden öffentliche Führungen angeboten. Die im Duckesz-Haus untergebrachte Bibliothek stellt Bücher zur jüdischen Geschichte der Dreiergemeinde Altona – Hamburg – Wandsbek, zur jüdischen Kunst, Literatur und Geschichte zur Verfügung. Eine Datenbank des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts (Duisburg) informiert über die auf dem Friedhof bestatteten Personen (u. a. historische und aktuelle Grabsteinfotos, Inschriften in Hebräisch und Deutsch). Erfasst sind vorläufig allerdings nur die aschkenasischen Steine, die Portugiesensteine werden in den nächsten Jahren nachgetragen. Im Duckesz-Haus werden auch die Dokumentation der Grabsteine sowie ein Lageplan des Areals zur Verfügung stehen. Für Erhaltung und Betrieb (Betriebskosten, Personal, Ausstellung) des Duckesz-Hauses fallen rund 1.000 Euro pro Monat an laufenden Kosten an, für die die Stiftung Denkmalpflege aufkommt. Der von der H. H. Reemtsma-Stiftung ins Leben gerufene Eduard Duckesz-Fellow (Etat: 200.000 Euro) wird in den nächsten drei Jahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden und der Stiftung Denkmalpflege nicht nur ein Doktorandenstipendium (drei Jahre) und den Eduard Duckesz-Fellow finanzieren, sondern auch die Kosten für die Bibliothek, für Publikationen, für die Weiterbildung der Friedhofs-Guides, Arbeit mit Schulen und Universitäten sowie für Workshops und Vorträge übernehmen. Ein weiteres Ziel der Stiftungen und der Freien und Hansestadt Hamburg ist die gemeinsame Bewerbung des 50

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Ausstellungstitel: Archiv aus Stein. 400 Jahre Jüdischer Friedhof Königstraße. Begleitender Katalog: Breitfeld/Studemund-Halévy/Weinland, Archiv. Vgl. zum Friedhof auch Studemund-Halévy/ Zürn, Königstrasse, sowie Brocke, Pracht. So in Zusammenarbeit mit dem Bezirksmuseum Währing in Wien, wo der Hamburger Ausstellung eine Ausstellung über den jüdischen Friedhof Währing (kuratiert: T. Walzer) gegenübergestellt wurde; Ausstellungstitel: Orte der Erinnerung. Die jüdischen Friedhöfe Hamburg-Altona und WienWähring. 27. 11. 2008–25. 1. 2009, in Andernach, September 2009, sowie in Hamburg, Orte Der Erinnerung, Juni 2010, Katalog: Walzer/Studemund-Halévy/Weinland, Orte.

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jüdischen Friedhofes Altona zum Weltkulturerbe bei der UNESCO, zusammen mit Curaçao und Barbados.52

Die Situation jüdischer Friedhöfe in Großbritannien, Frankreich, Italien und der Schweiz Frankreich In Frankreich werden jüdische Bestattungen seit 1810 dank der bürgerlichen Gleichstellung von Juden im Zuge der Französischen Revolution nicht mehr auf separaten Arealen, sondern im Verband von Kommunalfriedhöfen durchgeführt. Während die jüdischen Gemeinden zunächst versuchten, auch innerhalb dieser öffentlichen Bestattungsareale eigene Bereiche für ausschließlich jüdische Beerdigungen zu bewahren und diese gegenüber den nichtjüdischen Friedhofsteilen abzugrenzen bzw. einzufrieden, entstanden im Zuge der weitläufigen Akkulturationstendenzen des 19. Jahrhunderts auch jüdische Grabstätten inmitten nichtjüdischer Gräberensembles, und die Einfriedungsmauern der jüdischen Gruppen wurden abgebrochen. Wie die Beispiele der großen Kommunalfriedhöfe von Paris – Père Lachaise, Montmartre und Montparnasse – zeigen, befinden sich die jüdischen Gräbergruppen trotz oder vielleicht gerade wegen der weitgehenden Integration in die Gesamtanlagen der Kommunalfriedhöfe in ausgezeichnetem Zustand. Die örtlichen Verwaltungen machen in Sanierung und Pflege keinen Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Friedhofsteilen. Dies mag mit dem außerordentlich hohen touristischen Interesse an den genannten Orten zusammenhängen. Die mittelalterlichen jüdischen Friedhöfe von Paris hingegen sind zerstört, es existieren aber bedeutende Überreste, vor allem jene in der Rue de la Harpe. Außerdem sind zwei Areale aus dem 18. Jahrhundert teilweise erhalten, die in der kurzen Periode zwischen 1780 und 1810 belegt worden sind: Der zwischen Wohnhausanlagen der 1960er-Jahre eingebettete, vernachlässigte kleine Portugiesenfriedhof von La Villette in der Rue de Flandre sowie der aschkenasische Friedhof von Montrouge.53

Großbritannien In Großbritannien sind laut Lo Tishkach rund 200 jüdische Friedhöfe bekannt. Daneben existieren jüdische Grabstellen auf einer Reihe primär nichtjüdischer Areale. In London wurde 52 53

Interviews Walzer, Hamburg; Walzer, Unesco-Weltkulturerbe. Vgl. einführend sehr gut Jarassé, Paris.

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1839 einer der heute bedeutendsten historischen Friedhöfe der Stadt als Bestattungsanlage in Privatbesitz eröffnet: der Highgate Cemetery (westlicher Teil). 1854 erfolgte östlich anschließend eine Erweiterung. Während der Westteil 1975 für Bestattungen geschlossen wurde, wird der Ostteil nach wie vor aktiv benutzt. Auf einem Hügel am Rande der Großstadt gelegen, thronen imposante Gruftanlagen und Grabhäuschen in Straßen, die in Architektur und Ausmaßen innerstädtische Dimensionen erreichen, als klassizistische Totenstadt hoch über London. Jüdische Grabstellen finden sich über das gesamte Areal verteilt; eines der bekanntesten Grabdenkmäler ist sicherlich jenes von Karl Marx. Der Pflegezustand des Friedhofes ist aufgrund massiven Wildwuchses problematisch, die Wege sind jedoch freigeschnitten und alle Grabstellen zugänglich gemacht. Viele vor allem ältere Grabdenkmäler sind in restauratorischer Hinsicht schlecht erhalten. Das Areal wird seit 1981 von einem privaten Verein, dem Friends of Highgate Cemetery Trust, betreut, nachdem es jahrzehntelang vollkommen verwahrlost war.

Italien In Italien halten vor allem die Ortsgemeinden, aber auch, wo vorhanden, jüdischen Gemeinden die rund siebzig jüdischen Friedhöfe54 instand. Das Erscheinungsbild der zum Teil sehr alten Bestattungsareale präsentiert sich in ausgezeichnetem Zustand (z. B. Pisa, Mantua, Padua, Ferrara, Conegliano, Ancona, Pitigliano). Die beiden jüdischen Friedhöfe am Lido von Venedig zählen zu den interessantesten Anlagen in ganz Europa. Das ältere, bereits 1389 eröffnete Areal ist eine der ältesten erhaltenen jüdischen Friedhofsanlagen Europas und weist eine ganze Reihe bedeutender, historisch wertvoller Grabdenkmäler auf. Der neuere Teil, auf der anderen Seite des dazwischen liegenden Kommunalfriedhofes, wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts benutzt und widerspiegelt in der Formenvielfalt der Grabdenkmäler eine breite Palette vor allem sefardischer Grabkunst. Während der ältere Friedhof gut gepflegt wird, sind die Gräberfelder aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert auf dem neueren Friedhof verwildert, die Wege kaum begehbar. Die Bereiche aus dem späten 19. und aus dem 20. Jahrhundert wiederum sind, da offenbar von höherem öffentlichem Interesse, ausgezeichnet gesäubert und gemäht. Die Pflege wird durch die Jüdische Gemeinde Venedig organisiert. In dem gut erhaltenen historistischen Verwaltungsgebäude des neueren Teiles ist ein Friedhofswärter untergebracht, der dieses Areal bewacht und auch die laufenden Instandhaltungsarbeiten ausführt. Der gute Zustand des alten Friedhofes mag auf finanzielle Ursachen zurückzuführen sein; für einen Besuch dieses Areals wird derzeit unabhängig von der Anzahl der Besucher ein 54

Zahlenangabe Lo Tishkach, www.lo-tishkach.org, Zugriff zuletzt Mai 2010.

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Pauschalbetrag von 200 Euro eingehoben. In der Region Marken wurden in den vergangenen Jahren zwei jüdische Friedhofsareale in großem Rahmen restauriert: der an einem Abhang zum Meer gelegene Friedhof von Ancona sowie der von dichtem Wald bestandene Friedhof der jüdischen Gemeinde von Pesaro. In Pesaro engagierte sich die Fondazione Scavolini gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde von Ancona und der Union jüdischer Gemeinden Italiens für den Erhalt der bedeutenden Bestattungsanlage, deren Beginn ins späte 17. Jahrhundert datiert.55 Der Friedhof liegt an einem bewaldeten Abhang nordwestlich des Stadtzentrums auf Terrassen. Die Gräber blicken zum Meer und sind in traditioneller Weise nach Osten hin orientiert. Rund 150 Kalkstein- und Marmor-Grabdenkmäler aus den Perioden des Klassizismus, der Romantik und des Naturalismus sind erhalten. Das Areal wurde als Teil des Parco Regionale Naturale del Colle San Bartolo unter Schutz gestellt; 2002 konnte der Friedhof der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Holzstege führen nun durch das Areal; auf die Anlage neuer Wege sowie auf die Bereinigung wild aufgegangener Vegetation außerhalb der eigentlichen Gräberfelder verzichtete man weitgehend zugunsten des gewachsenen, naturnahen Eindruckes eines im dichten Schatten hoher Bäume romantisch ruhenden Ortes. Die gartengestalterische Planung wurde von Bianca Maria Rinaldi ausgeführt. Der jüdische Friedhof von Ancona erstreckt sich auf rund 15.000 Quadratmetern, die großteils frei von Bäumen und Büschen liegen. Die ältesten Grabsteine, die ins 16. Jahrhundert datieren, befinden sich an der höchsten Stelle des Areals, das mit rund zehn Metern Höhenunterschied zum Meer abfällt. Von den 1.058 erhaltenen Grabsteinen, deren jüngste aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, befinden sich noch 735 am ursprünglichen Aufstellungsort. Neben der Erneuerung der Einfriedung und der Schaffung einer neuen Zugangssituation zum Areal sowie der systematischen Erschließung der Gräberfelder und Wiederaufstellung dislozierter Grabdenkmäler standen bei dem zwischen 2002 und 2005 durchgeführten Erhaltungsprojekt die Restaurierung einzelner Grabsteine, deren Katalogisierung sowie die Schaffung eines Informationsbereiches für Besucher im Mittelpunkt des Projektes. Im Zuge der Musealisierung des Friedhofes wurden zwei Themenwege angelegt, von denen aus Geschichte und Funktion des Ortes ersichtlich werden und außerdem die Grabinschriften lesbar sind. Zu den einzelnen Grabdenkmälern wurden nach erfolgter Konservierung und Katalogisierung Daten zu Material und Erhaltungszustand, Typologie, Datierung und Interpretation der Inschriften bereitgestellt. Das Progetto di Restauro dell’ Antico Cimitero Ebraico di Ancona – Parco Urbano Cappuccini Cardeto wurde vom Studio Salmoni Associati in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Ancona, Servizio di Riqualificazione Urbana durchgeführt.56

55 56

Vgl. Panzini, Pesaro; Uguccioni, Pesaro. Vgl. Studio Salmoni Associati, Ancona.

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Schweiz In der Schweiz ist die Region des Surbtales für die jüdische Geschichte des Landes von zentraler Bedeutung. In den beiden Orten Endingen und Lengnau durften sich Juden seit dem 17. Jahrhundert niederlassen. Zwischen den Ortschaften wurde 1751 der jüdische Friedhof angelegt; als älteste noch benutzte jüdische Begräbnisstätte der Schweiz steht er unter dem Schutz der Eidgenossenschaft und des Kantons Aargau. Die heute insgesamt rund 2.700 erhaltenen Grabstelen57 aus Sandstein und Muschelkalk sind erstaunlicherweise in Nord-Süd-Richtung orientiert. Auch die innere Einteilung des Areals weist einige Besonderheiten auf; so sind die Gräber der Rabbiner in der Mitte situiert. Traditionellen Gestaltungsprinzipien folgend wurden Frauen, Männer und Kinder in getrennten Gräberfeldern bestattet, Bepflanzungen und Blumenschmuck sind untersagt. Bereits 1920 konstituierte sich der Verein für die Erhaltung der Synagogen in Endingen und Lengnau sowie des Friedhofs, der bis heute die Pflege des Areals trägt. Seit dem 19. Dezember 1963 steht der Friedhof mit Beschluss des Regierungsrates des Kantons Aargau unter Denkmalschutz. Er ist in ausgezeichnetem Zustand. 2009 wurde der Jüdische Kulturweg Endingen-Lengnau eröffnet, ein Besucherleitsystem, das auch den jüdischen Friedhof einschließt. An der Zeremonie nahm die ehemalige Schweizer Bundesrätin Ruth Dreifuss teil, deren Großeltern auf dem bemerkenswerten Areal begraben liegen. Das Projekt wurde durch Subventionen des Kantons und der Gemeinden sowie mithilfe von Institutionen und privater Sponsoren finanziert.

              der Slowakei und in Ungarn Tschechische Republik Die jüdischen Friedhöfe der Tschechischen Republik befinden sich zum überwiegenden Teil in ausgezeichnetem Zustand. Dies ist dem Engagement der Föderation jüdischer Gemeinden in der Tschechischen Republik zu verdanken, aber auch lokalem Interesse. Die Föderation, die gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde Prag Eigentümerin des Prager jüdischen Museums ist, nutzt die verhältnismäßig hohen Eintrittsgebühren ins Jüdische Museum in Prag unter anderem dazu, in ganz Tschechien Synagogen und Friedhöfe wiederherzustellen. Abgesehen davon waren die jüdischen Friedhöfe aber während des Zweiten Weltkrieges nicht zerstört worden und wurden selbst in der Zeit des Kommunismus kontinuierlich gepflegt. Zeitzeu57

Vgl. Endingen-Lengnau, Gräberverzeichnis.

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gen im mährischen T řebič (dt. Trebitsch) etwa berichten, Anrainer hätten sich immer um den Friedhof gekümmert, dies sei eine Selbstverständlichkeit gewesen. Aus Pietät, aber auch um ein gepflegtes Ortsbild zu bewahren, habe man auch den verwaisten jüdischen Friedhof betreut. Heute erscheint der jüdische Friedhof von T řebič sehr gut erhalten, die Synagoge ist renoviert, das Gebiet des ehemaligen Ghettos revitalisiert und touristisch erschlossen. Das Bewusstsein für die jüdische Vergangenheit der Orte mag nicht zuletzt auf die Einrichtung des Jüdischen Zentralmuseums in Prag durch die SS zurückzuführen sein, die plante, dort Zeugnisse des von den Nationalsozialisten zerstörten europäischen Judentums zusammenzutragen. Das Museum wurde zwar 1945 unter Verwaltung der tschechoslowakischen jüdischen Gemeinden gestellt, aber bereits 1950 verstaatlicht und erst 1994 an die Jüdische Gemeinde Prag und die Föderation restituiert. Gemeinsam war allen Perioden trotz der unterschiedlichen ideologischen Zielsetzungen das Interesse an einer Musealisierung zerstörter jüdischer Kultur. Die kontinuierlich gepflegte Rolle als „Bewahrerin jüdischer Kultur“ begünstigte neben Prag auch in anderen Orten die Herausbildung eines Bewusstseins dafür, welchen Wert die Überreste der zerstörten jüdischen Gemeinden darstellen. Daneben spielen ökonomische Überlegungen eine entscheidende Rolle als Motiv für Sanierungen, denn die Überreste der 137 jüdischen Gemeinden Böhmens und Mährens sind für Tschechien auch ein Tourismusmagnet, der jährlich hunderttausende Besucher aus aller Welt anzieht.58 Der alte jüdische Friedhof in Prag war bereits in kommunistischer Zeit touristisch zugänglich, Wege wurden über das Areal gelegt, Grabsteine konservatorisch behandelt. Das Areal in Prag-Žižkov wurde in derselben Zeit zwar großteils zerstört, der übrig gelassene Teil aber 1986 als Sehenswürdigkeit gestaltet, die Grabdenkmäler bedeutender Repräsentanten der jüdischen Gemeinde zusammengestellt, Mahnmale errichtet, Steine renoviert. Der ausgedehnte, seit 1890 belegte Friedhof in Prag-Strašnice (Olšany) stellt sich als parkähnliches Areal mit dichtem Baumbestand dar, in dem Alleen die regelmäßig angelegten, sorgfältig gepflegten Gräberfelder verbinden. Ebenso gepflegt erscheint der jüdische Friedhof von Brünn, des zweiten großen Verwaltungszentrums der Republik. Aber auch die Areale in kleineren Orten, egal ob in Böhmen, wie in Sušice (dt. Schüttenhofen), Dlouhá Ves (dt. Altlangendorf ) oder Rábí, in Strakonice, Kolín, Polná und anderen Städten, oder in Mähren, wie in Ivančice (dt. Eibenschütz), Batelov, Podivín (dt. Kostel), Stražnice (dt. Strassnitz) oder Brtnice (dt. Pirnitz) wurden vielfach bereits Mitte der 1980er-Jahre saniert und sind heute in überraschend gutem Zustand, eine systematische Restaurierung des jüdischen Friedhofs von Mikulov (dt. Nikolsburg) wurde 2001 abgeschlossen.

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Zu historischen Details der einzelnen Areale am besten Ehl/PaŘík/Fiedler, Cemeteries.

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Slowakei In der Slowakei konzentrieren sich die Sanierungsbestrebungen auf Bratislava. Die jüdische Gemeinde ist klein, zählt in Bratislava gerade 600 Mitglieder und hat keinen Nachwuchs. Antisemitismus ist virulent, allzu große Unterstützung aus dem Inland nicht zu erhoffen, daher ist man bei Sanierungsvorhaben in erster Linie auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Der Zentralverband jüdischer Gemeinden in der Slowakei verwaltet seit der Restitution 1.992 Grundstücke – vor allem Synagogen und rund 700 Friedhöfe – die ursprünglich 217 jüdischen Gemeinden gehört hatten. Heute existieren in der Slowakei elf jüdische Gemeinden. Der jüdische Friedhof mit dem Grabmal des berühmten Rabbiners Chatam Sofer, in der kommunistischen Zeit unter einer Straßenbahntrasse verschwunden und dabei großteils zerstört, wurde 2002 auf Initiative ausländischer privater Sponsoren von Grund auf renoviert. Für die Pilgerstätte der jüdischen Orthodoxie wurde ein architektonisch aufwendiger, komplett neuer Zugangsbereich in Beton und Glas geschaffen, die Stadtverwaltung verlegte die Straßenbahnlinie. Bereits wenige Kilometer außerhalb der Hauptstadt ändert sich das Bild. Entlang der March, bis heute die Grenze zum Nachbarland Österreich, scheinen die Überreste jüdischen Lebens in den kleinen Gemeinden noch relativ gut erhalten. 50 Kilometer weiter östlich sind Synagogenbauten, so sie nicht in den vergangenen 25 Jahren abgerissen wurden, in gutem Zustand, doch bis auf die Anlagen der größeren Städte liegen die meisten jüdischen Friedhofsareale verwildert hinter Stacheldrahtverhauen und machen einen verlassenen Eindruck. Mitunter bewachen scharfe Hunde die Grundstücke. Vermutlich sollen sie Friedhofsschändungen verhindern, Graffiti und offensichtliche Zerstörungen jüngeren Datums weisen darauf hin. Vandalen zerstörten 2002/03 die jüdischen Friedhöfe von Košice (dt. Kaschau), Levice (dt. Lewenz) und Zvolen (dt. Altsohl).

Ungarn In Ungarn existieren noch etwa 1.600 jüdische Friedhöfe. Einige werden von lokalen jüdischen Gemeinden oder Kommunalverwaltungen betreut, der Großteil jedoch ist seit Jahrzehnten verwahrlost und durch unkontrollierten Wildwuchs bereits so überwachsen, dass viele Areale gar nicht mehr in der Landschaft sichtbar sind. Die MAZSIT – Stiftung für jüdische Friedhöfe in Ungarn bemüht sich seit 2006 um den Erhalt der Areale, verhandelt mit Behörden, organisiert Aufräumarbeiten und Pflegemaßnahmen, errichtet Gedenktafeln, forscht und publiziert, stellt Daten für die Familienforschung zur Verfügung und betreibt

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eine Website mit laufend aktualisierten Daten zu den einzelnen Friedhöfen.59 Das ungarische Staatsdenkmalamt bemüht sich um eine Erfassung aller jüdischen Friedhöfe in Ungarn, hat aber keine Kapazitäten, die Areale auch entsprechend zu betreuen. Der jüdische Friedhof in Budapest – Salgótarjáni utca wurde 1874 eröffnet und bis in die späten 1950er-Jahre belegt. Mit seinen sehr wertvollen klassizistischen und historistischen Grabdenkmälern, Gruftanlagen und Mausoleen grenzt er an den kommunalen Prominentenfriedhof Kerepesi temető. Die Grabdenkmäler sind mehr oder weniger verfallen, das Areal ist partiell gerodet, aber durch schwere Sturmschäden in Mitleidenschaft gezogen. Müllberge stapeln sich entlang der Einfriedungsmauern, offenbar von außen in den Friedhof hineingeworfen. Das Friedhofswärterhaus ist erhalten und wird bewohnt, während von der Zeremonienhalle nur mehr die Außenmauern stehen – die Kuppel ist 1970 eingestürzt. Der Friedhofswärter bemüht sich, die Wege frei zu halten, scharfe Hunde bewachen das Areal. Der neue, noch benutzte neologe jüdische Friedhof in der Kozma utca grenzt an den Budapester Zentralfriedhof und wurde 1891 eröffnet. Er ist einer der größten jüdischen Friedhöfe Europas, mit Mausoleen im Jugendstil bzw. im Ungarischen Nationalstil und mehreren Gedenkstätten. Das Areal ist größtenteils gepflegt, im nordöstlichen Teil wurde der Baumbewuchs auf dem neueren Gräberfeld 2002 komplett gerodet. Eine Reihe von Friedhofsarealen wurde in den letzten 15 Jahren, großteils mit Mitteln privater Spender, renoviert, beispielsweise das Areal in Mosonmagyaróvár (dt. Wieselburg – Ungarisch-Altenburg). Die Katalogisierung der Grabsteine des noch benutzten jüdischen Friedhofs von Sopron (dt. Ödenburg) in der Tómalom utca ist in Vorbereitung. Dieses Areal wurde von Schülern vor einigen Jahren gerodet, die Einfriedungsmauern wurden erneuert, mehrere Grabsteine neu aufgestellt. In einem Teil des Friedhofsgebäudes wohnt eine Familie, die den Friedhof pflegt und bewacht. Seither werden keine Grabsteine mehr gestohlen. Insgesamt hat sich die Aufmerksamkeit für die Problematik von Sanierung und Pflege der jüdischen Friedhöfe in Europa in den letzten zehn Jahren signifikant erhöht. Viele lokale Initiativen sind entstanden, die sich um einzelne Areale kümmern. Die gesetzlichen Grundlagen für die Erhaltung der Kultorte sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich; die besten Voraussetzungen existieren in der Bundesrepublik Deutschland. Gerade international nehmen Bemühungen zu, verbindliche Regelungen für den Erhalt dieser wertvollen Kulturdenkmäler mit lokalen und staatlichen Instanzen zu treffen. Bisher konnte jedoch auf gesamteuropäischer Ebene keine gemeinsame Formel gefunden werden, und so lange bleibt die Zukunft der Areale lokalem Engagement und Interesse überlassen.

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Exkurs: Der jüdische Friedhof Währing in Wien als Pilotprojekt zur Sanierung der jüdischen Friedhöfe in Österreich Seit dem Abschluss des Washingtoner Abkommens 2001 suchen Nachkommen, Grundeigentümer, Privatinitiativen und Behörden nach Wegen, die dort eingegangenen Verpflichtungen zur Sanierung und Pflege der jüdischen Friedhöfe in Österreich fachlich kompetent und langfristig sicherzustellen. Der jüdische Friedhof Währing erhielt in diesem Kontext die Rolle eines Pilotprojektes, anhand dessen die notwendigen Parameter festgestellt werden sollen. Eine Reihe von Forschungen konnte bereits abgeschlossen werden.

Entwicklung des Areals Der jüdische Friedhof Währing wurde 1784 eröffnet, nachdem Kaiser Joseph II. im Jahr zuvor eine Sanitätsreform erlassen hatte. Diese besagte, dass innerhalb des dicht besiedelten Stadtgebietes keine neuen Bestattungen mehr stattzufinden hätten. Der bis dahin genutzte jüdische Friedhof in der Rossau (heute Wien 9, Seegasse) wurde daraufhin geschlossen. Die Vertreter der Wiener Judenschaft konnten aushandeln, dass ihnen ein Areal, das an den zur gleichen Zeit neu geschaffenen Währinger Friedhof angrenzte, zu Bestattungszwecken überlassen wurde. Im Zuge der Sanitätsreform wurde eine ganze Reihe neuer Friedhöfe entlang des sogenannten Linienwalles, jenes Befestigungsgürtels, der die Vorstädte Wiens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts umgab, angelegt, so auch vor der „Währinger Linie“, die dem dort unmittelbar benachbarten Bestattungsareal ihren Namen gab.60 Seit Mitte des 20. Jahrhunderts liegt der jüdische Friedhof allerdings nach Verlegungen der Bezirksgrenzen im Wiener 19. Bezirk Döbling, und nicht mehr im 18. Bezirk Währing. Der Friedhof diente bis zur Eröffnung des Wiener Zentralfriedhofes, der 1879 eine eigene jüdische Abteilung bei Tor 1 erhielt, als einzige offizielle Begräbnisstätte für Juden, die in beziehungsweise auch um Wien verstorben waren. Das Währinger Areal wurde in jenem Jahr geschlossen. In der zugestandenen fünfjährigen Übergangsfrist bis 1885 wurden nur einige wenige Nachbestattungen von Familienangehörigen durchgeführt; die letzte Bestattung fand 1898 statt. Insgesamt sind nach Angaben der Israelitischen Kultusgemeinde Wien rund 30.000 Personen

60 Im Unterschied zum Ortsfriedhof des Dorfes Währing, Begräbnisstätte Franz Schuberts und Ludwig van Beethovens, der an der damaligen Hauptstraße der Ortschaft lag, Anfang des 20. Jahrhunderts aufgelassen und in eine „Schubert-Park“ genannte Grünanlage an der heutigen Währinger Straße umgewandelt wurde.

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dort begraben.61 Bereits unmittelbar nach der Schließung des jüdischen Friedhofes Währing begann die Israelitische Kultusgemeinde Wien, für die weitere Erhaltung des Areals Sorge zu tragen und nahm einerseits eine Erfassung der Grabdenkmäler und andererseits eine gärtnerische Gestaltung als halböffentliche Grünanlage in Aussicht. Insbesondere an die Erhaltung und Herstellung der Wege, an Pflanzungen sowie an die Erhaltung einzelner Grabstellen und der Aufbahrungshalle war gedacht, „da die Erhaltung des Friedhofes in seiner jetzigen Form ein Gebot der Pietät und zugleich von wichtigstem historischen und rechtlichen Interesse ist.“62 Der namhafte Architekt Wilhelm Stiassny hatte Mitte der 1870er-Jahre im Auftrag der Kultusgemeinde das Areal vermessen und einen Grabstellenplan angelegt, der heute bedauerlicherweise in den Archivbeständen der Israelitische Kultusgemeinde Wien nicht mehr auffindbar ist.63 1903 beschloss das Vertreterkollegium der Kultusgemeinde, auf einem Viertel des Areals eine parkähnliche Anlage zu errichten und beauftragte den ebenfalls bekannten Architekten Max Fleischer mit der Planung. Die Ausführung wurde dem gefragten Gartenarchitekten Jaroslav O. Molnár (er gestaltete auch den Schlosspark Artstetten für Kronprinz Ferdinand) übertragen und die Umgestaltung schließlich auf das gesamte Friedhofsareal ausgedehnt. 1905 war dieses Projekt abgeschlossen, gegen das der prominente Architekt Oskar Marmorek – wie Stiassny und Fleischer Gemeindemitglied – protestierte. Molnár erhielt danach den Auftrag zur kontinuierlichen Pflege des Areals. Vom Ende des Ersten Weltkrieges an bis 1938 wurde der Friedhof vom Friedhofswärter Theodor Schreiber betreut, der in dem zu einem Wohngebäude umgestalteten Tahara-Haus lebte. Der Archivar der jüdischen Gemeinde, Dr. Pinkas Heinrich, arbeitete zwischen 1905 und 1907 an der Erhebung der Grabstellen, wobei er auf Sichtbefunde angewiesen war, da in der aktiven Zeit des Friedhofes erst ab 1860 ein (allerdings sehr lückenhaftes) laufendes Verzeichnis der Bestattungen geführt worden war. Er erhob rund 10.000 Grabsteine und vermerkte, die übrigen Grabzeichen hätten aus Holz oder Metall bestanden und seien zum Zeitpunkt seiner Untersuchungen bereits vergangen gewesen. Nach diesem Quellenbefund ist davon auszugehen, dass nur rund ein Drittel der 30.000 in Währing Bestatteten sich überhaupt einen (teuren) Grabstein hatte leisten können, während alle übrigen auf die Verwendung billigerer Materialien angewiesen waren. Von den um die Jahrhundertwende erhobenen Grabdenkmälern bestehen heute noch rund 7.000. Die Grabstein-Verzeichnisse und Abschriften sämtlicher um 1900 noch lesbarer Grabstein-Inschriften, die Heinrich anfertigte, sind 61 Auskunft IKG Wien, Matrikenstelle. 62 Cahjp, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 732,7 Sigmund Husserl, Geschichte der Friedhöfe der IKG Wien. Unveröffentlichter Bericht im Auftrag der IKG Wien. Wien 1909, Teil c) Der Friedhof in Währing, 52 f. 63 Cahjp, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 2990 1, Wilhelm Stiassny an den Vorstand der IKG Wien 29. 11. 1874.

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in den Beständen des alten Archivs der Wiener Kultusgemeinde erhalten und stellen heute eine wertvolle, wenn auch nicht ohne größeren Aufwand zugängliche Quellenbasis zur Erforschung des Friedhofes dar.64

Zerstörungen Im November 1938 wurden auch auf dem jüdischen Friedhof Währing im Zuge der Pogrome Grabsteine zerstört; ein detaillierter Schadensbericht ist nicht erhalten. Im Vergleich zu den für die beiden jüdischen Abteilungen des Zentralfriedhofes genannten Schadenssummen ist jene für den jüdischen Friedhof Währing die weitaus niedrigste.65 Der Umstand, dass die Schäden durch Vandalismus und Einzelaktionen während der NS-Zeit verhältnismäßig gering geblieben sind, mag mit der Abgeschlossenheit und relativen Unbekanntheit des Areals einerseits, andererseits mit der guten Einsehbarkeit von den umgebenden Wohnhäusern aus zusammengehangen haben. Jedenfalls ist festzuhalten, dass in ganz Wien keine offiziell akkordierten, großangelegten Zerstörungsaktionen auf den jüdischen Friedhöfen seitens der NS-Behörden oder einzelner Parteigliederungen stattfanden, anders als in vielen anderen Orten, wo unter anderem die Anordnung, sämtliche jüdischen Grabsteine systematisch in vier Teile zu zerschlagen, sehr wohl befolgt worden ist. Das Eigentum der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ging in der Folge an die Eichmann-Behörde (in zynischem Euphemismus Auswanderungsfonds für Böhmen und Mähren benannt) über, die die Wiener jüdischen Friedhöfe 1942 an die Stadt Wien verkaufte.66 Bereits 1941 hatte die Gemeinde Wien ins Auge gefasst, auf dem südöstlichen Teil des jüdischen Friedhofes Währing einen Luftschutzbunker zu errichten. Am 14. Juli 1941 begannen die Arbeiten auf dem Friedhofsareal.67 Die Baggerarbeiten waren bereits fünf Tage später größtenteils abgeschlossen. Letztendlich wurde die Ausbaggerung des Löschteiches, so Ernst Feldsberg, damals Leiter des Friedhofsamtes (1963–70 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien) in einem Nachkriegs-Bericht, aufgrund der Kriegsereignisse nicht zu Ende geführt. Die Arbeiten stoppten, nachdem ein Teil des jüdischen Friedhofes Währing von rund 2.500 Quadratmetern auf das Straßenniveau der Döblinger Hauptstraße abgetragen worden

64 Die Bestände des Archivs der IKG Wien vor 1945 befinden sich seit der Nachkriegszeit in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. 65 IKG Wien, Archiv, DO 854 NL-73/Loewy, Nachlass Albert Loewy, Mappe 107, IKG Wien Techn. Abteilung, Bericht 25. 6. 1953. 66 GB Döbling, KG Währing, EZ 226, Urkundensammlung, Tageszahl 1102/42. 67 BDA, Archiv, NS-Materialien, Karton 4, Gemeinde Wien Bauabteilung an Institut für Denkmalpflege 15. 7. 1941.

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war.68 Bei den Aushubarbeiten für die geplante Bunkeranlage wurden mehr als 2.000 Grabstellen zerstört. Die mitsamt dem Untergrund ausgehobenen Gebeine wurden an Depotstellen des Erdmaterials, öffentlichen Plätzen mitten in Wien, so weit wie möglich von Arbeitern der Kultusgemeinde unter den Baggerschaufeln geborgen und in zwei Massengräbern bei Tor 4 am Wiener Zentralfriedhof wiederbestattet.69 Zwischen Juni 1941 und Januar 1942 wurden von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien außerdem 130 prominente Persönlichkeiten exhumiert und auf die neue jüdische Abteilung des Zentralfriedhofes bei Tor 4 überführt. Auslöser dafür war das Vorhaben der anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, Prominente vom jüdischen Friedhof Währing zu exhumieren und zu „rassekundlichen Forschungen“ ins Museum zu verbringen. Auf Wunschlisten waren insgesamt 509 Personen zur Exhumierung vorgesehen. Die Enterdigungsarbeiten des Naturhistorischen Museums fanden zwischen August 1942 und Februar 1943 statt.70 Aufgrund erhaltener Exhumierungsprotokolle können insgesamt 215 Enterdigungen festgestellt werden. Es ist allerdings unklar, ob der Bestand der Exhumierungsprotokolle vollständig erhalten ist. Eine in jüngster Zeit im Rahmen der Erforschung der Geschichte der Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie des Naturhistorischen Museums Wien angelegte Liste der Exhumierten des Jüdischen Friedhofes Währing listet 155 Personen auf. 71 2007 verzeichnete das Inventarbuch der Osteologischen Sammlung der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien unter Inventarnummer 20596 bis 20955, das sind insgesamt 359 Inventarnummern: „Skelette vom Judenfriedhof Wien XIX, Heiligenstadt“.72 Akten des Museums von Februar 1943 sprechen von „nahezu 200“ Exhumierten, eine Zahl, die „sich weiter vermehren“ werde. Im Übergabeprotokoll des Museums an die Israelitische Kultusgemeinde Wien aus dem Jahr 1947 werden 222 Schachteln mit Knochen vom jüdischen Friedhof Währing genannt. In Gruppe 14a am Tor 4 des Zen68 IKG Wien, Archiv, B 19 AD XXVII c,d Feldsberg-Akte, Feldsberg Bericht über den Stand der Vergleichsverhandlungen, welche zwischen der Israelitischen Kultusgemeinde und der Gemeinde Wien wegen Rückstellung diverser Realitäten und Liegenschaften geführt werden 10. 11. 1953. 69 Cahjp, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 1515: XIX. Friedhofs- und Beerdigungsangelegenheiten. 1941−1942, 1857, Feldsberg, Tätigkeitsbericht über die durchgeführte Massenenterdigung auf dem Währinger Friedhof 15. 8. 1941. 70 Vgl. unter anderem die allerdings der Entstehungszeit entsprechend gefärbte Darstellung des nicht unbelasteten ROUTIL, Anthropologie. 71 NHM Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie, Liste der tatsächlich vom jüdischen Friedhof Währing ins Naturhistorische Museum verbrachten Personen, undatiert; eine Pionierarbeit für das gesamte Fach ist der grundlegende Forschungsbericht TESCHLER-NICOLA/ BERNER, Anthropologische Abteilung. 72 NHM, Abteilung für Archäologische Biologie und Anthropologie, Osteologische Sammlung, Inventarbuch AA 15.100–21.316.

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tralfriedhofes in der neuen jüdischen Abteilung wurden, soweit heute feststellbar, 202 Personen wiederbestattet. Die Diskrepanz zwischen übergebenen und wiederbestatteten Gebeinen beträgt 20 Personen. Der Verbleib ihrer Gebeine ist mithilfe der bekannten Archivbestände nicht aufzuklären. Die im Zuge der Exhumierungen geöffneten Gruftanlagen des jüdischen Friedhofes Währing stehen bis heute offen und stellen eine Gefahrenquelle auf dem Areal dar. Die meisten Grabdenkmäler der Exhumierten wurden entfernt. Mitte November 1942 richtete die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Berlin ein Schreiben an die Vertreter aller lokalen jüdischen Gemeinden, in dem es um die „Erfassung von Schrott und Metallen auf jüdischen Friedhöfen“ ging. Sie hatte vom Reichskommissar für Altmaterialverwertung den Befehl erhalten, sämtliche auf jüdischen Friedhöfen bis dahin noch erhaltenen Grabeinfriedungen, Grabmäler und sonstigen Gegenstände aus Eisen oder anderen Metallen entschädigungslos abzuliefern. Auch Friedhofstore aus Metall sollten abmontiert und durch einfache Holzzäune ersetzt werden.73 1943 wurden auf dem jüdischen Friedhof Währing bis auf wenige Ausnahmen, die der Aufmerksamkeit entgangen sein dürften, sämtliche Metallornamente entfernt. Das erhaltene Friedhofsareal wurde am 4. Juli 1955 an die Israelitische Kultusgemeinde Wien zurückgestellt, während der im Zuge des Bunkerbaues zerstörte Teil bei der Stadt Wien verblieb. 1959/60 wurde auf diesem Grundstück ein gemeinnütziger Wohnbau namens Arthur-Schnitzler-Hof errichtet, wobei weitere Grabstellen zerstört wurden. Im Zuge der seit März 1949 andauernden Rückstellungsverhandlungen wurde mit Beschluss der Gemeinderatssitzung vom 21. September 1951 und gegen den Widerstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien die bisherige Widmung: „Friedhof“ außer Kraft gesetzt und das Areal nunmehr als „Grünland – Erholungsgebiet“ (öffentliche Parkanlage) gewidmet.74 Seit 1938 wird der jüdische Friedhof Währing nicht mehr kontinuierlich gepflegt. Die Schäden der NS-Zeit wurden nicht beseitigt. An den Grabdenkmälern sind durch Wildwuchs, Witterungseinflüsse und Vandalismus schwere Schäden entstanden. Der Verfall von Areal und Grabdenkmälern schreitet akzelerierend voran. Sanierungsmaßnahmen konnten trotz seit 2001 verstärkten politischen Bemühungen, Verhandlungen auf Landes- und Bundesebene sowie massiver Öffentlichkeitsarbeit bisher nicht erreicht werden, allerdings veranlasste die Gemeinde Wien 2003 und 2007 Baumschnitte sowie die Anlage eines Baumkatasters. Laufende Verkehrssicherheitsprüfungen finden jedoch bislang nicht statt, das Areal bleibt wegen Gefahr im Verzug für die Öffentlichkeit geschlossen (Abb. 6).

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Cahjp, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 452: XIX. Friedhofs- und Beerdigungsangelegenheiten. 1942–1943. Erfassung von Schrott und Metallen auf jüdischen Friedhöfen, Rundschreiben Reichsvereinigung der Juden in Deutschland 18. 11. 1942. 74 MA 21, Bestand jüdischer Friedhof Währing, MA 18 4. 2. 1952.

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Basis jeder professionellen Sanierung ist eine gründliche wissenschaftliche Erforschung und Erfassung des jüdischen Friedhofes Währing. Die Arbeiten daran werden seit 2001 intensiviert, um für die Umsetzung der Verpflichtungen des Washingtoner Abkommens methodische und fachliche Grundlagen nicht nur für Währing, sondern für alle jüdischen Friedhöfe Österreichs bereitstellen zu können. Auf Grundlage der Materialien von Pinkas Heinrich wurde eine biografische Datenbank erstellt.75 2002 konnten auf deren Basis anlässlich einer Vermessung des Areals erste Vorarbeiten zur Rekonstruktion eines schematischen Belegplanes begonnen werden, als dessen Basis der beauftragte Geometer den jeweils ersten und letzten identifizierbaren Grabstein jeder Grabreihe in seinen Plan der Gundstücksgrenzen einmaß.76 In einem Forschungsprojekt des Zukunftsfonds der Republik Österreich und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien wurden 2006/07 die historische Entwicklung des Areals und die Zerstörungen der NS-Zeit erforscht sowie ein Inventar der zerstörten Grabstellen angelegt.77 2008 erging seitens des Zukunftsfonds der Republik Österreich ein Forschungsauftrag zur Anlage eines historisch-kunsthistorischen Gesamtinventars.78 Darin enthalten sind die sowohl schriftlich-beschreibende als auch bildlichdokumentarische Erfassung sowie Vermessung des gesamten Bestandes aller Grabsteine und Grabdenkmäler im aktuellen Erhaltungszustand, die Erstellung eines kunsthistorischen Formenkataloges und Klassifikation der Grabstellen, die Kategorisierung der Grabdenkmäler nach ihrer historischen und kunsthistorischen Bedeutung sowie die Erstellung einer Prioritätenliste. Daran anschließend sind technische und restauratorische Schadensbeurteilungen sowie eine Kostenermittlung der benötigten Professionisten vorgesehen.79 Die Hochschule für Angewandte Kunst in Wien beteiligte sich am Aufbau eines Wissenspools und vergab ein Vordiplom zur Restauriergeschichte von Zentralfriedhof Tor 1 und Musterrestaurierung einer Grabstelle aus istrischem Kalkstein.80 Auf Basis der dort entwickelten Datenbank stellte eine Gruppe von Studenten der Angewandten mit Unterstützung der Technischen Universität Wien in einer Projektwoche im September 2008 Erhebungen in drei Gräbergruppen des jüdischen Friedhofes Währing an.81 Die Israelitische Kultusgemeinde Wien beauftragte 2008 ein Parkpflegewerk, das vom österreichischen Bundesdenkmalamt finanziert wurde. Es präsentiert unter Berücksichtigung der erhal75 76 77 78 79

Biografische Datenbank, Währing. Belegplan, Währing. Walzer, Zerstörungen Währing Forschungsbericht. Walzer, Inventar Friedhof Währing. Sogenanntes Prammer-Projekt, vorgeschlagen von der Ersten Präsidentin des österreichischen Nationalrates, Barbara Prammer. 80 Pliessnig, Zentralfriedhof; vgl. auch den Beitrag von M. Pliessnig in diesem Band. 81 Bestandsaufnahme, Währing; vgl. auch den Beitrag von G. Krist in diesem Band.

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tenen schriftlichen und vor allem auch bildlichen historischen Quellen82 ein architektonisches Gesamtkonzept zur Sanierung der Bewuchssituation auf dem jüdischen Friedhof Währing, das der historischen Bedeutung und Entwicklung des Areals gerecht wird und gleichzeitig seine Erschließung für eine breite Öffentlichkeit ermöglicht.83 Begleitend wurden zur Abklärung der Wegesituation und der historischen Bodenniveaus von der Abteilung für Bodendenkmale des Bundesdenkmalamtes an Wegschnittstellen Grabungen angestellt.84 Nach Vorliegen der Ergebnisse zur Erfassung des gesamten Bestandes an Grabdenkmälern im aktuellen Zustand, nach erfolgter Kategorienbildung und Prioritätensetzung, Erstellung von Sanierungskonzepten und Vorliegen aktueller Kostenschätzungen liegt es an der Politik, Sanierungs- und Erhaltungsmaßnahmen umzusetzen. Es liegt aber auch an der österreichischen Gesellschaft, zu zeigen, ob die jüdische Vergangenheit in diesem Land für sie von Bedeutung und Interesse ist.

Literatur und Quellen Adler/Engel/Högerle/Hüttenmeister/Michielin/Sayer, Rexingen R. K. Adler/N. Ch. Engel/H. Högerle/G. Hüttenmeister/N. Michielin/A. Sayer, In Stein gehauen. Lebensspuren auf dem jüdischen Friedhof in Rexingen. Dokumentation des Friedhofs und des Schicksals der 300 Jahre in Rexingen ansässigen jüdischen Gemeinde (Stuttgart 1997). Adunka, Vierte Gemeinde E. Adunka, Die vierte Gemeinde. Die Geschichte der Wiener Juden von 1945 bis heute. Geschichte der Juden in Wien, hrsg. Institut für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten, Bd. 6 (Berlin, Wien 2000). Bamberger, Wandsbek N. B. Bamberger, Die jüdischen Friedhöfe in Wandsbek (Hamburg 1997). BDA Bundesdenkmalamt Wien, Archiv, NS-Materialien, Karton 4. Belegplan, Währing Rekonstruktion eines schematischen Belegplanes des jüdischen Friedhofes Währing. Im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, technische Abteilung. Projektleitung T. Walzer in Zusammenarbeit mit Vermessungsbüro Ing. K. Knotzer, Groß-Petersdorf (Wien 2002).

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Walzer, Quellen. Parkpflegewerk, Währing; vgl. den Beitrag von S. Schmidt in diesem Band. Auch Hlavac/ Schmidt/ Walzer, Währing. 84 Parkpflegewerk, Währing.

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Beller, Wien S. Beller, Wien und die Juden 1867−1938 (Wien, Köln, Weimar 1993). Berkley, Vienna G. E. Berkley, Vienna and Its Jews. The Tragedy of Success 1880s–1980s (Cambridge 1988). Bernstein, Cemetery R. Bernstein, A Cemetery Mirroring the history of a City’s Jews. In: New York Times, 13. 5. 2003. Bestandsaufnahme, Währing Jüdischer Friedhof Währing, Bestandsaufnahme 2008. Projektwoche am Institut für Konservierungswissenschaften und Restaurierung-Technologie der Universität für Angewandte Kunst, 6.−10. Oktober 2008, Leitung M. Milcin/T. Walzer, unter Mitwirkung von A. Rohatsch, Technische Universität Wien. Unveröffentlichter Forschungsbericht (Wien 2008). Biografische Datenbank, Währing Sozialgeschichte der Juden in Wien 1784–1874. Biografische Datenbank des jüdischen Friedhofes Währing. Projektleitung T. Walzer. Unveröffentlichtes Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung am Institut für Geschichte der Juden in Österreich (Wien 1995−2001). Botstein, Judentum L. Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938 (Wien, Köln 1991). Botz/Oxaal/Pollak, Kultur G. Botz/I. Oxaal/M. Pollak (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert (Buchloe 1990). Boyer, Culture J. W. Boyer, Culture and Crisis in Vienna (Chicago, London 1995). Breitfeld/Studemund-Halévy/Weinland, Archiv O. Breitfeld/M. Studemund-Halévy/A. Weinland, 400 Jahre Jüdischer Friedhof Königstraße. Archiv aus Stein, Bd. 1 (Hamburg 2007). Brocke, Pracht M. Brocke (Hrsg.), Verborgene Pracht. Der jüdische Friedhof Hamburg-Altona – Aschkenasische Grabmale (Dresden 2009). Brocke/Mirbach, Grenzsteine M. Brocke/H. Mirbach, Grenzsteine des Lebens. Auf jüdischen Friedhöfen am Niederrhein (Duisburg 1988). Brocke/Pomerance, Steine M. Brocke/A. Pomerance, Steine wie Seelen. Der alte jüdische Friedhof Krefeld. Grabmale und Inschriften. Krefelder Studien 11 (Krefeld 2003).

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Burnicki, Börneplatz J. Burnicki, Steine der Erinnerung. Der Konflikt um den Frankfurter Börneplatz und die „Gedenkstätte am Neuen Börneplatz für die von Nationalsozialisten vernichtete dritte jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main“, unveröff. Magisterarbeit (Frankfurt am Main 2000). Cahjp Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, A/W 452, 732/7, 1515, 2990/1. Duizend-Jensen, Gemeinden S. Duizend-Jensen, Jüdische Gemeinden, Vereine, Stiftungen und Fonds. „Arisierung“ und Restitution. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, hrsg. C. Jabloner u. a., Bd. 21/2 (Wien, München 2004). Ehl/PaŘÍk/Fiedler, Cemeteries P. Ehl/A. Pařík/J. Fiedler, Old Bohemian and Moravian Jewish Cemeteries (Prag 1991). Embacher, Restitutionsverhandlungen H. Embacher, Die Restitutionsverhandlungen mit Österreich aus der Sicht jüdischer Organisationen und der Israelitischen Kultusgemeinde. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, hrsg. C. Jabloner u. a., Bd. 27 (Wien, München 2003). Endingen-Lengnau, Gräberverzeichnis Verein für die Erhaltung der Synagogen und des Friedhofs Endingen-Lengnau (Hrsg.), Der Judenfriedhof Endingen – Lengnau. Gräberverzeichnis, 2 Bde. (Baden 1993). Etzold, Kulturdenkmal A. Etzold, Ein Berliner Kulturdenkmal von Weltgeltung. Der jüdische Friedhof Berlin-Weissensee. Jüdische Miniaturen 38 (Berlin 2006). Fein, Steine E. Fein, Die Steine reden. Gedenkstätten des österreichischen Freiheitskampfes. Mahnmale für die Opfer des Faschismus. Eine Dokumentation (Wien 1975). Gälzer, Österreich R. Gälzer, Alte Dorfkirchhöfe in Österreich. Zeugen unserer Kultur – Wege zu ihrer Erhaltung (Gaaden 2003). Gälzer/Gälzer, Niederösterreich R. Gälzer/I. Gälzer, Gärten des Friedens. Ländliche Kirchhöfe und Friedhöfe in Niederösterreich (Gaaden 2006). Gb Döbling, Kg Währing, EZ 226 Grundbuch Döbling, Katastralgemeinde Währing, Einlagezahl 226, Hauptbuch und Urkundensammlung.

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Gold, Burgenland H. Gold (Hrsg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes (Tel Aviv 1970). Gold, Österreich H. Gold (Hrsg.), Geschichte der Juden in Österreich (Tel Aviv 1971). Gold, Wien H. Gold (Hrsg.), Geschichte der Juden in Wien (Tel Aviv o. J.). Gombrich, Identität E. H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Hrsg. E. Brix und F. Baker (Wien 1997). Graetz, Geschichte H. Graetz, Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848) (Leipzig 1900). Haider/Marckhgott, Gedenkstätten Oberösterreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer, redig. S. Haider/G. Marckhgott (Linz 2001). Haller, Trier A. Haller, Der jüdische Friedhof an der Weisegasse in Trier und die mittelalterlichen jüdischen Grabsteine im Rheinischen Landesmuseum Trier (Trier 2003). Heinemann/Wiesner, Alsbach H. Heinemann/C. Wiesner, Der jüdische Friedhof in Alsbach an der Bergstraße. Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 18 (Wiesbaden 2001). Historische Friedhöfe, Kassel Umgang mit historischen Friedhöfen. Kasseler Studien zur Sepulkralkultur Bd. 3 (Kassel 1984). Hlavac/Schmidt/Walzer, Währing C. Hlavac/S. Schmidt/T. Walzer, Jüdischer Friedhof Wien-Währing. Vergangenheit und Zukunft eines historischen Grünraumes. In: Stadt + Grün, 11, Heft November 2008, 28−33. Hüttenmeister/Rogg, Hegenheim G. Hüttenmeister/L. Rogg, Der jüdische Friedhof in Hegenheim (Basel 2004). Hüttenmeister/Müller, Berlin N. Hüttenmeister/C. E. Müller, Umstrittene Räume: Jüdische Friedhöfe in Berlin. Große Hamburger Straße und Schönhauser Allee. Minima Judaica 5 (Berlin 2005). IKG Wien, Anlaufstelle Israelitische Kultusgemeinde Wien, Anlaufstelle, Bestand Synagogen, Kultusgegenstände, IKG Verluste, unfoliiert. IKG Wien, Archiv Israelitische Kultusgemeinde Wien, Archiv, DO 854 NL-73/Loewy, Nachlass Albert Loewy, Mappe 107, B 19 AD XXVII c,d Feldsberg-Akte.

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IKG Wien, Gebäudeverwaltung Israelitische Kultusgemeinde Wien, Gebäudeverwaltung, Verzeichnis von Ortschaften, wo sich jüdische Massengräber befinden, undatiert [1952/53], unfoliiert. IKG Wien, Matrikenstelle Israelitische Kultusgemeinde Wien, Matrikenstelle 2005. IKG Wien, Techn. Abteilung Israelitische Kultusgemeinde Wien, Technische Abteilung, Ordner Massengräber unfoliiert, Ordner Friedhöfe IKG Wien. Interview Walzer, Berlin Interview Tina Walzer – Friedrich Körner, Leitung Sektion Religionsangelegenheiten, Bundesinnenministerium Berlin, 5. 9. 2001. Interview Walzer, Hamburg Interviews Tina Walzer – Michael Studemund-Halévy, Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Irina von Jagow, Stiftung Denkmalpflege, Gabriela Fenyes, Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in Hamburg, Landesrabbiner Dov-Levy Barsilai, jüdische Gemeinde in Hamburg, Ina Lorenz und Andreas Brämer, Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, 10. 1. 2008. Interview Walzer, Mattersburg Interview Tina Walzer – Anonym, Mattersburg 2. 6. 2008. Interview Walzer, Wiesbaden Interview Tina Walzer – Hartmut Heinemann, Vorsitz Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 5. 9. 2001. Jarassé, Paris D. Jarrassé, Guide du patrimoine Juif Parisien (Paris 2003). Kändler/Hüttenmeister, Harburg E. Kändler/G. Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof Harburg (Hamburg 2004). Koppenfels, Berlin J. Koppenfels, Jüdische Friedhöfe in Berlin (Berlin 2005). Künzl, Grabkunst H. Künzl, Jüdische Grabkunst von der Antike bis heute (Darmstadt 1999). MA 21 Stadt Wien, Magistratsabteilung 21, Bestand jüdischer Friedhof Währing. Meissner/Fleischmann, Baden H. Meissner/K. Fleischmann, Die Juden von Baden und ihr Friedhof (Baden 2002). Melinz/Hödl, Liegenschaftseigentum G. Melinz/G. Hödl: „Jüdisches“ Liegenschaftseigentum in Wien zwischen Arisierungsgsstrategien und Rückstellungsverfahren. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Ver-

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der NS-Zeit; Berichte und Dokumentation von Forschungs- und Sammlungsaktivitäten 1938–1945. In: Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938–1945. Senatsprojekt der Universität Wien, hrsg. Akademischen Senat der Universität Wien (Wien 1998), 333−358. Tietze, Juden Wiens H. Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte – Wirtschaft – Kultur. Unveränderter Nachdruck (Wien 1987). Uguccioni, Pesaro R. P. Uguccioni, Studi sulla communità ebarica die Pesaro. Quaderni della Fondazione Scavolini, Bd. 12 (Pesaro 2003). Walzer, Bund oder Land T. Walzer, Bund oder Land? Ein weiteres Jahr im Streit um die Erhaltung des jüdischen Friedhofes Währing. In: DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift 19, Heft 75, 2007, 56−59. Walzer, Ehrengräber T. Walzer, Ehrengräber für jüdische Persönlichkeiten in Wien. In: Illustrierte Neue Welt, August/ September 2005, 34−35. Walzer, Entwicklung Währing T. Walzer, Der jüdische Friedhof Währing. Historische Entwicklung, aktueller Zustand, Perspektiven. In: Währinger jüdischer Friedhof. Vom Vergessen überwachsen (Weitra 2008), 11−23. Walzer, Erinnerung T. Walzer, Der jüdische Friedhof Währing. Ort der Erinnerung und Denkmal einer untergegangenen Welt. Unser Währing 43, Heft 4, 2008, 3−30. Walzer, Inventar Friedhof Währing T. Walzer, Inventar des Jüdischen Friedhofes Währing, Status quo und Klassifikation der Grabstellen und Grabdenkmäler, Forschungsprojekt im Auftrag des Zukunftsfonds der Republik Österreich (Wien 2008−2010). Walzer, Lehrerfortbildung T. Walzer, Textunterlage für die Lehrerfortbildung. In: Währinger jüdischer Friedhof. Vom Vergessen überwachsen (Weitra 2008), 147−159. Walzer, Klosterneuburg T. Walzer, Die Toten ins Leben integrieren. Das Komitee zur Erhaltung des jüdischen Friedhofes Klosterneuburg – in Memoriam Walter Lauber. In: DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift 20, Heft 77, 2008, 4−5. Walzer, Massengräber Österreich T. Walzer, Erhebungen über Massengräber, Mahnmale, Gedenkstätten und Gedenksteine in Österreich. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der IKG Wien (Wien 2002). Walzer, Niederösterreich T. Walzer, Die jüdischen Friedhöfe in Niederösterreich. In: Friedhof und Denkmal. Denkmalpflege in Niederösterreich, Bd. 42 (St. Pölten 2009), 26−29.

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Walzer, Österreich T. Walzer, Die jüdischen Friedhöfe in Österreich. Zustand, Entwicklung, Perspektiven. In: Zeit und Ewigkeit. Erhaltung religiöser Kulturgüter. Beiträge zur 21. Tagung des Österreichischen Restauratorenverbandes. Mitteilungen des Österreichischen Restauratorenverbandes, Bd. 12 (Wien 2009), 116−121. Walzer, Quellen T. Walzer, Die schriftlichen und bildlichen historischen Quellen zur räumlichen und gestalterischen Entwicklung des jüdischen Friedhofes Währing. Parkpflegewerk Jüdischer Friedhof Währing, Teil 1. Unveröffentlichtes Gutachten für Büro Landschaftsarchitektur DI Stefan Schmidt im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Wien 2009). Walzer, Zerstörungen Währing Forschungsbericht T. Walzer, Der Währinger jüdische Friedhof. Historische Entwicklung, Zerstörungen der NS-Zeit, Status quo. Unveröffentlichter Forschungsbericht im Auftrag des Zukunftsfonds der Republik Österreich (Wien 2007). Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008 T. Walzer, Weißbuch über Pflegezustand und Sanierungserfordernisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Mit einer Kostenübersicht von Wolfgang Hirt. 6 Bände. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der IKG Wien. Wien (2001−2002) und T. Walzer, Weißbuch über Pflegezustand und Sanierungserfordernisse der jüdischen Friedhöfe in Österreich. Aktualisierung. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der IKG Wien (Wien 2008). Walzer, UNESCO-Weltkulturerbe T. Walzer, Die jüdischen Friedhöfe in Hamburg-Altona, Berlin-Weissensee und Wien-Währing auf dem Weg zum UNESCO-Weltkulturerbe? In: DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift 20, Heft 78, 2008, 32−35. Walzer/Studemund-Halévy, Orte T. Walzer/M. Studemund-Halévy/A. Weinland, Orte der Erinnerung. Wien-Währing, HamburgAltona. Archiv aus Stein, Bd. 3: Der jüdische Friedhof Altona (Hamburg 2010). Washingtoner Abkommen 2001 Washingtoner Abkommen zwischen der Bundesregierung der Republik Österreich, dem Verband der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, Januar 2001. Wiesemann, Sepulcra F. Wiesemann, Sepulcra Judaica. Bibliographie zu jüdischen Friedhöfen und zu Sterben, Begräbnis und Trauer bei den Juden von der Zeit des Hellenismus bis zur Gegenwart (Essen 2005). www.ikg-wien.at • www.lo-tishkach.org • www.mazsit.org

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Abb. 1: Blick über den nahezu vollständig zerstörten jüdischen Friedhof in Deutschkreutz, Burgenland (Bildnachweis: T. Walzer, Wien 2008).

Abb. 2: Der Waldfriedhof in Kobersdorf, Burgenland, als Beispiel für einen traditionell gestalteten jüdischen Friedhof (Bildnachweis: T. Walzer, Wien 2008).

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Abb. 3: Typische Grabsteckplatte einer Hofjudenfamilie im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit auffallend aufwendiger kalligrafischer Gestaltung, hier Sibille Arnstein, jüdischer Friedhof Währing (Bildnachweis: T. Walzer, Wien 2009).

Abb. 4: Der Fernsehturm auf dem Areal des jüdischen Friedhofes Prag-Žižkov (Bildnachweis: T. Walzer; Wien 2007).

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Abb. 5: Über einhundert barocke Grabsteine, die ursprünglich auf dem jüdischen Friedhof Wien-Seegasse aufgestellt waren, lagern seit ihrer Wiederentdeckung in den 1980er-Jahren ungeschützt in einer Wiese bei Tor 4 des Wiener Zentralfriedhofes (Bildnachweis: T. Walzer, Wien 2008).

Abb. 6: Zerstörungen auf dem jüdischen Friedhof Wien-Währing (Bildnachweis: T. Walzer, Wien 2010).

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Vom Umgang mit jüdischen Denkmälern nach 1945

In unregelmäßigen Abständen werden die Leser meist deutschsprachiger Zeitungen, wie zuletzt in der Süddeutschen Zeitung vom 18. 11. 2008, durch Schändungen von Synagogen, jüdischen Friedhöfen und anderer jüdischer Einrichtungen durch Neonazi-Gruppierungen aufgeschreckt. Dort war zu lesen, dass die Eingangstore der jüdischen Friedhöfe in Gotha und Erfurt geschändet worden sind. Jüdisches Leben in Deutschland ist über 60 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten offensichtlich immer noch nicht selbstverständlich. Die Frage nach dem Umgang mit jüdischen Denkmälern ist sehr eng mit der Frage nach dem Umgang mit der jüdischen Geschichte im Allgemeinen verbunden, stehen doch die jüdischen Denkmäler als Symbole für lange Zeit verdrängte Teile einer Stadt- oder Gemeindegeschichte. Der Umgang mit jüdischer Geschichte stellt eine Besonderheit dar. Mit ihr werden Zeugnisse einer negativ belasteten und negativ empfundenen Geschichte repräsentiert. In der Regel wird nur als bedeutsam empfundene Vergangenheit erinnert und nur erinnerte Vergangenheit erlangt wiederum Bedeutsamkeit.1 Gedenkrituale und Gedenktage brauchen eine Verortung. In Deutschland ist ein neu geschaffener Mittelpunkt für das Gedenken an den Holocaust seit 2005 für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Zentrum Berlins, entworfen von dem New Yorker Architekten Peter Eisenman, ist die zentrale Holocaust-Gedenkstätte Deutschlands, ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die bis zu sechs Millionen jüdischen Opfer des Nazi-Regimes. Finanziert und betrieben wird die Gedenkstätte von einer Bundesstiftung. Oberirdisch stellt es ein Stelenfeld aus ungefähr 2700 Granitblöcken unterschiedlicher Größe dar. Unterirdisch wird zusätzlich ein Ort der Information angeboten, der mit biografischen Daten der Opfer den Stelen ein Gegengewicht zu geben versucht. Durch die Darstellung exemplarischer Lebens- und Familiengeschichten sollen die Namen der ermordeten Juden vor dem Vergessen bewahrt werden. Aufgabe des Ortes der Information ist es auch, als ein Portal zur lebendigen und vielfältigen Gedenkstättenlandschaft in Deutschland und Europa zu dienen.

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Assmann, Gedächtnis, 77.

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Die Shoah brachte das Ende einer eigenständigen deutsch-jüdischen Kultur, deren frühere Träger emigriert waren oder in den Vernichtungslagern ermordet wurden. Im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik war die Existenz jüdischer Gemeinden Teil des Alltags. Ausstellungen von Judaica zeigten in dieser Zeit Objekte einer Bevölkerungsgruppe, deren Präsenz im alltäglichen Leben sichtbar war. Nach 1945 war jüdische Kultur in den meisten Orten gleichbedeutend mit der Vergangenheit.2 Es dauerte lange, bis sich die Mehrheitsgesellschaft wieder für die Vergangenheit der jüdischen Minderheit interessierte.

Überreste jüdischer Vergangenheit in Deutschland Als sichtbares Ergebnis seiner über tausendjährigen deutsch-jüdischen Geschichte ist Deutschland reich an jüdischen Denkmälern verschiedenster Art. Die überwiegende Anzahl der jüdischen Bauten, vor allem Synagogen, Bethäuser, Friedhöfe, Privat- und Geschäftshäuser, stammt aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In diesen zwei Jahrhunderten hatten Juden auch den größten Anteil an der Bevölkerung, der dennoch nicht einmal ein Prozent, gemessen an der Gesamtbevölkerung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, ausmachte.

Mikwot Vor dem 18. Jahrhundert sind die gebauten Überlieferungen jüdischer Geschichte eher spärlich. Eine Ausnahme bildet die bedeutende, aber überschaubare Anzahl mittelalterlicher jüdischer Denkmäler. Reste ritueller Bäder (Mikwot) aus dem Mittelalter sind in Speyer, Worms, Köln, Erfurt und Sondershausen erhalten. Die aus dem Mittelalter überlieferten Ritualbäder sind häufig in die stadtgeschichtlichen Museen integriert. So hat sich das Kölnische Stadtmuseum der 1956 aufgefundenen mittelalterlichen Mikwe angenommen und sie als Außenstelle des Museums für Besucher zugänglich gemacht.3 Die in Speyer entdeckte mittelalterliche Mikwe ist bereits in den 1920er-Jahren vom Historischen Verein der Pfalz betreut worden. Nach 1945 hatte sich das Museum in Speyer auch um den Erhalt der Baureste der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde bemüht.4

2 3 4

Hoppe, Jüdische Geschichte, 323. Hoppe, Jüdische Geschichte, 252. Hoppe, Jüdische Geschichte, 253.

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Synagogen In Worms beherbergt das Raschi-Haus das Jüdische Museum. Es steht genau an der Stelle, an der sich das Lehrhaus befunden haben soll, in dem der bedeutende jüdische Gelehrte Raschi in der Zeit um 1060 studiert hat. Nur wenige mittelalterliche Synagogen haben die Zeiten überdauert. Das wohl bedeutendste Zeugnis mittelalterlichen Synagogenbaus ist die Alte Synagoge in Erfurt, die mit ihren ältesten Bauteilen aus dem 11. Jahrhundert die früheste, bis zum Dach erhaltene Synagoge in Mitteleuropa darstellt. Nach einer behutsamen Restaurierung wurde die Alte Synagoge, nunmehr als Museum genutzt, 2009 mit einer neuen Dauerausstellung zur jüdischen Geschichte Erfurts eröffnet. Aus Erfurt stammen eine Reihe mittelalterlicher Sachzeugnisse, unter anderem auch der Erfurter Gold- und Silberschatz, der vor ungefähr zehn Jahren bei Grabungen in der Stadt unweit der Synagoge gefunden wurde und einen in Europa einzigartigen Schatz aus dem Mittelalter darstellt. Er umfasst ungefähr 600 Gefäße, Schmuck in Silber und Gold aus dem 13. und 14. Jahrhundert, tausende von Silbermünzen und 14 Silberbarren. Zusammen mit der Dokumentation der Baugeschichte der Synagoge soll den Besuchern des neuen Museums ein Überblick über die Geschichte der Erfurter jüdischen Gemeinde geboten werden, die im Mittelalter eine herausragende Stellung in Europa innehatte. Als Beispiel für eine kleine Synagoge einer fränkischen Landgemeinde aus dem Mittelalter sei noch kurz die gotische Synagoge in Miltenberg erwähnt, die dem Stil nach zwischen 1290 und 1300 erbaut worden sein dürfte und von der örtlichen jüdischen Gemeinde bis ins 19. Jahrhundert fast ununterbrochen genutzt wurde. Infolge eines Synagogenneubaus für die nach 1850 stark gewachsene Gemeinde wurde das Gebäude 1875 an eine örtliche Brauerei verkauft, der sie bis heute als Lager dient. Die einschlägige Literatur erwähnt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland ungefähr 2800 Synagogen und jüdische Bethäuser. Die genaue Zahl schwankt in den Angaben. In Bayern standen zu dieser Zeit ungefähr 200 Synagogen. Bis auf die repräsentativen Großstadtsynagogen waren die meisten einfache Landsynagogen oder Bethäuser. Der Grund dafür war, dass in Bayern bis zur rechtlichen und politischen Gleichstellung durch das Reichsgesetz von 1871 die meisten Juden in den ländlichen Gemeinden, überwiegend im nördlichen Teil des Landes, in Franken, und im südwestlichen, in Schwaben, lebten. Die Ansiedlung in den Städten war Juden seit den Vertreibungen im späten Mittelalter nicht mehr erlaubt. In der Folge befinden sich auch die meisten jüdischen Denkmäler in den ländlichen Regionen der heutigen Regierungsbezirke Unterfranken, Mittelfranken und Schwaben. Durch die Pogromnacht 1938 und infolge des Zweiten Weltkriegs wurde in Deutschland ungefähr die

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Hälfte der Synagogen verwüstet.5 Weitere circa 350 Synagogen wurden bemerkenswerterweise erst n a c h dem Zweiten Weltkrieg zerstört.6 Die Nutzung ehemaliger jüdischer Denkmäler ist heute sehr vielfältig. Die Palette umfasst Gedenkstätten, Kulturdenkmäler, Museen, Kirchen, Wohnhäuser, Garagen, Magazine, Feuerwehrhäuser, Fabriken, Werkstätten, Lagerräume, Schuppen, Scheunen und Ställe. Eine große Anzahl ist jedoch ungenutzt.7

  !   " #$  Was macht die jüdischen Denkmäler so besonders im Vergleich zu anderen Denkmälern? Für die staatliche Denkmalpflege sind jüdische Denkmäler heute grundsätzlich denselben Kriterien unterworfen wie nichtjüdische Denkmäler. Für die Denkmal-Listen des späten 19. Jahrhunderts war das Fehlen von einheitlichen Kriterien sicherlich ein Grund, warum Synagogen nicht oder nur ausnahmsweise verzeichnet sind. Die Beurteilung und die Aufnahme jüdischer Denkmäler waren häufig dem Gutdünken des jeweiligen Bearbeiters überlassen. Die moderne Denkmalpflege kann bei der Sanierung und Konservierung jüdischer Denkmäler nur zum Teil auf Archivalien aus dem späten 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Der Kunsthistoriker Theodor Harburger inventarisierte im Auftrag des Bayerischen Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden seit Mitte der 1920er-Jahre jüdische Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern bis zu seiner Emigration nach Palästina 1933. In dieser Zeit fertigte Harburger ungefähr 850 Fotografien von Synagogen, Friedhöfen, Ritualobjekten, liturgischen Gegenständen und anderen Zeugnissen jüdischer Kultur an.8 Die Karteikarten mit seinen Aufzeichnungen und die fotografische Dokumentation nahm er mit nach Israel.9 Eine kommentierte Ausgabe der Aufzeichnungen und der Reproduktionen Harburgers hat das Jüdische Museum Franken in Zusammenarbeit mit den Central Archives in Jerusalem, gefördert von der Landesstelle nichtstaatliche Museen, 1998 herausgegeben10 und damit der Forschung eine Quelle von unschätzbarem Wert zugänglich gemacht. Die von Harburger erstellten Fotografien von Synagogen und ihren Innenräumen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden heute oft die einzigen historischen Grund5 6 7 8 9 10

Korn, German Synagogues, 27. Grellert, New Media, 29. Schwierz, Steinere Zeugnisse, 23. Mehr als Steine, 30. Der Nachlass Theodor Harburgers befindet sich heute in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem. Harburger, Inventarisation.

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lagen für die Überlegungen der Denkmalpflege zur Sanierung und/oder zur Rekonstruktion einer Synagoge. Gleichzeitig mit Harburger war eine Kommission zum Schutz der jüdischen Altertümer in Preußen tätig, 1927 eingerichtet vom Preußischen Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden.11 Von dieser Aktion sind keine Aufzeichnungen und Dokumente überliefert. Auch in Frankfurt arbeitete eine Gesellschaft zur Erforschung jüdischer Kunstdenkmäler, die in ihren Mitteilungen die Ergebnisse der Erfassung publizierte. Auch für die traditionelle Kunstgeschichte waren die Synagogen und andere jüdische Baudenkmäler lange Zeit kein Thema gewesen. Wie die Denkmalpflege konzentrierte sie sich in ihrer flächendeckenden Erforschung von kunsthistorisch bedeutenden Bauten meist auf repräsentative Kirchen, Burgen, Paläste und Bürgerhäuser. In einer ersten Inventarisierung jüdischer Kultbauten, die zwar in die seit 1895 publizierte Reihe Die Kunstdenkmäler von Bayern einging, sind jedoch wichtige Synagogen, wie die von Floß, eingeweiht 1807, nicht verzeichnet. Aufgelistet wurden dagegen die von Elieser Sussmann ausgemalten Synagogen von Horb am Main (1735) und in Bechhofen (1733). Beide wurden als kunsthistorisch wertvoll eingestuft. Ab 1958 erschienen in Bayern die sogenannten Kurzinventare in der Reihe Bayerische Kunstdenkmäler. Im ersten Band, der die Denkmäler in Augsburg behandelt, sind weder die Synagoge an der Halderstraße des namhaften Architekten Fritz Landauer, die während des Ersten Weltkriegs 1917 eingeweiht wurde und zu den bedeutendsten erhaltenen Jugendstilsynagogen in Deutschland gehört, noch die ehemalige jüdische Siedlung in AugsburgKriegshaber genannt.12 Die Augsburger Jugendstilsynagoge ist heute ein wesentlicher Teil des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben und wird auch von der Israelitischen Kultusgemeinde für Veranstaltungen benutzt.

Entwicklung von Museen und Ausstellungen Auffallend ist, dass Synagogen bislang kaum Eingang in die Freilichtmuseen fanden, in denen vor Ort funktionslos gewordene Gebäude exemplarisch zu imaginären Siedlungen und Dörfern zusammengefügt sind. Nur aus Hessen ist mir ein Beispiel bekannt. Seit 1973 beschäftigte sich der Hessische Museumsverband mit jüdischer Geschichte. Im Entwurf für einen Museumsentwicklungsplan, noch im selben Jahr, forderte der Verband eine Museumsdokumentation für die Geschichte und Leistungen der jüdischen Bevölkerung in Hessen.13 Die Verlagerung der Synagoge aus Nentershausen in den Hessenpark scheint ein sichtbares 11 12 13

Hoppe, Jüdische Geschichte, 304. Vollmar, Kulturerbe, 552. Hoppe, Jüdische Geschichte, 244.

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Ergebnis dieser Bemühungen zu sein. Die um 1800 erbaute und 1841 umgebaute Synagoge der Landgemeinde von Nentershausen in Nordhessen wurde in der Pogromnacht 1938 geschändet und verwüstet. Noch im selben Jahr erwarb ein nichtjüdischer Bauunternehmer die ehemalige Synagoge und baute sie zu einer Garage mit drei großen Einfahrtstoren um. Bis 1985 war das Gebäude so weit heruntergekommen, dass es abgebrochen werden sollte. So kam die ehemalige Synagoge in den Hessenpark, wo sie im Zustand von 1925 originalgetreu wiederaufgebaut wurde.14 Von den übrigen Freilichtmuseen in Deutschland sind keine weiteren Umsetzungen von Synagogen bekannt. Das westfälische Freilichtmuseum Detmold besitzt das Haus Uhlmann aus Ovenhausen als Beispiel eines der letzten dörflichen Wohn- und Geschäftshäuser einer jüdischen Familie in Westfalen. Das Haus hatte eine ununterbrochene jüdische Besitzertradition von seiner Erbauung Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Deportation der letzten Besitzer im Jahre 1941.15 Nach seiner Wiedererrichtung im Freilichtmuseum wird in dem Haus seit 2007 die Geschichte des westfälischen Landjudentums von 1800 bis zur Zeit des Nationalsozialismus dokumentiert. Jüdisches Leben in Deutschland wurde nach 1945 von offizieller Seite als beendet betrachtet. Deshalb war die Zerstörung der Synagogen mit dem Nationalsozialismus nicht zu Ende, sondern wurde nach 1945 fortgesetzt.16 Die Inbesitznahme und die Verfügung der Kommunen und Städte über ehemals jüdischen Besitz erfolgten meist ohne Bedenken.17 Ungefähr 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte in der Betrachtung der jüdischen Geschichte ein schrittweises Umdenken ein. Bereits in den 1960er-Jahren fanden erste Ausstellungen zur jüdischen Kultur mit Synagoga. Kultgeräte und Kunstwerke von der Zeit der Patriarchen bis zur Gegenwart in Recklinghausen (1960/61) und Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein in Köln (1964) statt. Diese Ausstellungen stellten lange Zeit die einzigen Quellen für das Wissen über das Judentum nach der Shoah dar. Vielerorts kamen die ehemaligen jüdischen Denkmäler erst wieder ins Bewusstsein, als sich engagierte Bürger, die sich in Vereinen oder Initiativen zusammenschlossen, um ihren Erhalt kümmerten. Ohne das Engagement von Privatpersonen oder Bürgerinitiativen wäre manch jüdisches Denkmal längst vergessen oder verfallen. Nach 1970 erfolgte eine erste Welle der kulturellen Nutzung jüdischer Denkmäler sowie ihre Umwandlung in Museen, Bibliotheken, Archive und Bildungs- und Begegnungsstätten. Die neue Beschäftigung mit dem Judentum und der jüdischen Geschichte wirkte sich auch

14 15 16 17

Museumsführer Freilichtmuseum Hessenpark, 102−103. Michels, Uhlmann, 13. Offe, Ausstellungen, 67−68. Hoppe, Jüdische Geschichte, 221−222.

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auf die Wertschätzung der jüdischen Zeugnisse allgemein aus. Eine Bewegung zum Erhalt von Synagogen setzte ein. Zahlreiche kleinere Synagogenmuseen entstanden. Mit dem Interesse an den Gebäuden, das im Zuge der flächendeckenden Erfassung von Kulturdenkmälern erwachte, stellte sich mehr und mehr die Frage nach einer zukünftigen Nutzung, die im Einklang mit der früheren stand. Obwohl in den meisten Städten und Orten in der Regel nach 1945 keine neuen jüdischen Gemeinden gegründet wurden, erfolgte die Renovierung der Synagogenbauten so, als sollten die jüdischen Gemeinden demnächst ihre Gotteshäuser wieder in Besitz nehmen. Die neue Nutzung war jedoch überwiegend eine kulturelle und weltlich orientierte. Zur Erinnerung an die örtliche oder regionale Geschichte jüdischer Gemeinden wurden meist von engagierten nichtjüdischen Bürgern kleine Ausstellungen und Dokumentationen erarbeitet. Da diese kulturellen Einrichtungen sehr häufig in Dörfern und Kleinstädten geschaffen wurden, die in der Folge nur mit Mühen die offiziellen Gedenkrituale abhalten konnten, stellte sich bald die Frage nach den Überlebensmöglichkeiten dieser neuen Einrichtungen. Was sollte langfristig mit all den erhaltenen Synagogenbauten geschehen? Für die Denkmalpflege stellt der Umgang mit ihnen eine spezielle Aufgabe dar. Gängige Methoden und Zielsetzungen, so die Bewertung nach der geschichtlichen, künstlerischen, städtebaulichen oder volkskundlichen Bedeutung eines Objekts, müssen hinterfragt werden.18 Die häufig angewandte Methode der Rekonstruktion eines Objekts auf den historischen Zustand seiner „Blütezeit“ scheidet bei den meisten Synagogen aus. Den genannten Kriterien für die Beurteilung eines Baudenkmals muss nach der staatlich betriebenen Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus das zusätzliche Kriterium des Erinnerungszeichens und Mahnmals hinzugefügt werden, was den Denkmalbegriff insgesamt komplexer macht.19 Über Jahrhunderte waren Synagogen Seismographen für die gesellschaftliche Situation der jüdischen Minderheit.20 Das architektonische Erscheinungsbild der Bauten, wobei die verschiedenen Stilrichtungen des maurischen, gotischen und romanischen Stils gleichberechtigt nebeneinander standen, war Ausdruck des Selbstverständnisses der jüdischen Gemeinden und der Toleranzfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft. Die Schonung von Synagogen, insbesondere in Dörfern und Kleinstädten, während der Pogrome und Kriege hatte überwiegend zufällige oder pragmatische Gründe. Sie wurden von den Brandstiftungen am 9. und 10. November 1938 meist verschont, weil sie in unmittelbarer Nähe anderer, nichtjüdischer Gebäude standen, die dadurch in Gefahr geraten wären, oder sie blieben erhalten, weil sie durch Zwangsverkäufe bereits vor 1938 die Besitzer gewechselt hatten. In Schnaittach bei Nürnberg 18 Vollmar, Kulturerbe, 550. 19 Rauch, München, 7. 20 Rinderer, Versammlung, 23.

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hatte der örtliche Museumsleiter die Synagoge vor der Zerstörung bewahrt, weil das Gebäude für das neue Heimatmuseum vorgesehen war. Heute ist die ehemalige Synagoge Teil des Jüdischen Museums Franken in Fürth und Schnaittach. Anlässlich des 50-jährigen Gedenkens an die Pogromnacht von 1938 gab die Kultusministerkonferenz der deutschen Bundesländer eine Empfehlung heraus, die bestehenden Zeugnisse jüdischer Kultur in Deutschland zu konservieren und zu dokumentieren. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege startete daraufhin eine Erfassungskampagne von jüdischen Gebäuden, in der Synagogen, Wohn- und Rabbinerhäuser, Ritualbäder, Leichenwaschhäuser, Schulen und Waisenhäuser von historischer Bedeutung Aufnahme in die Denkmallisten fanden. Gleichzeitig begann eine Welle der Musealisierung jüdischer Geschichte. Es entstanden zahlreiche jüdische Museen in Deutschland, wobei sich bei der Darstellung der jüdischen Geschichte ein deutlicher Wandel in der Auffassung des Jüdischen von einer ausschließlich religiös bestimmten Gemeinschaft zu einer geschichtlich und kulturell geprägten Bevölkerungsgruppe abzeichnete.21 In Bayern wurde die erste Überblicksausstellung über die bayerisch-jüdische Geschichte erst zur fünfzigsten Wiederkehr der Pogromnacht 1988 gezeigt. Ein Ergebnis der Ausstellung Siehe der Stein schreit aus der Mauer22 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg war die intensive Beschäftigung mit ihrer jüdischen Vergangenheit auch in kleineren Städten und Gemeinden abseits der großen Zentren. Im Gegensatz zu den Museumsgründungen vor dem Zweiten Weltkrieg, die überwiegend als Museen der jüdischen Gemeinden erfolgten, kümmerten sich jetzt in der Regel Nichtjuden um die Erforschung und den Erhalt des jüdischen Erbes.

Positionen im Umgang mit jüdischen Denkmälern Die neuen jüdischen Museen wurden häufig in ehemaligen Synagogen oder jüdischen Gebäuden untergebracht. Aus der Fülle der restaurierten Synagogen möchte ich drei Beispiele herausgreifen, die unterschiedliche Positionen im Umgang mit jüdischen Denkmälern deutlich machen. Der Diskussionsprozess, wie mit den örtlichen Zeugnissen der jüdischen Geschichte umgegangen werden soll und wie eine politische Gemeinde heute zu ihrer jüdischen Vergangenheit steht, muss jedes Mal aufs Neue in Gang gesetzt werden. Es gibt keine verbindliche Methode für eine Sanierung. Jedes Projekt steht vor einer unterschiedlichen Ausgangslage und bekommt im Laufe des Prozesses seine eigene Dynamik. Entsprechend unterschiedlich fallen auch die Ergebnisse aus. 21 22

Hoppe, Jüdische Geschichte, 260. Siehe der Stein schreit.

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( Im fränkischen Veitshöchheim, einer Gemeinde in der Nähe von Würzburg, hat ein Ensemble, bestehend aus einer Synagoge mit Nebenräumen, einem Ritualbad, dem Vorsängerhaus und einem Wohnhaus mit Resten einer Laubhütte aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Pogromnacht überstanden. Der Grund dafür war wahrscheinlich die Tatsache, dass Synagoge und Vorsängerwohnung bereits um 1930 nicht mehr von der örtlichen jüdischen Gemeinde benutzt wurden. Mit behördlicher Genehmigung wurde der ehemalige Sakralbau, mittlerweile in Gemeindebesitz, nach 1945 zu einem Feuerwehrhaus umgebaut. Die dabei zertrümmerte Innenausstattung fand Verwendung beim Auffüllen des Synagogenbodens. In den 1980er-Jahren beschloss die Gemeinde Veitshöchheim das Feuerwehrhaus aufzugeben und die ehemalige Synagoge einer kulturellen Nutzung zuzuführen. Geplant war eine Galerie für Kunstausstellungen. Bei den anfallenden Sanierungsarbeiten unter der Aufsicht des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege wurden im Boden der Synagoge die Originalreste von Toraschrein und Lesekanzel gefunden. Eine anschließende Grabung brachte weitere Zeugnisse der ursprünglichen Nutzung zutage. Genug, um nach Ansicht der Verantwortlichen die ehemalige Ausstattung zu rekonstruieren und den Innenraum in seinem Erscheinungsbild von circa 1900 wiederherzustellen. Die Gemeinde Veitshöchheim beschloss daraufhin eine Nutzungsänderung für das Gebäude. Anstelle einer Galerie für moderne Kunst sollte ein jüdisches Museum geschaffen werden, in dessen Zentrum die wiederhergestellte Synagoge stehen sollte. Die fehlenden Lampen, Sitzbänke und weitere Ausstattungsdetails wurden nach Vorbildern rekonstruiert. Auch das Ritualbad wurde freigelegt und wieder zugänglich gemacht. Die ehemalige Synagoge ist heute funktionsfähig wiederhergestellt (Abb. 1; 3). Nur für den aufmerksamen Besucher sind Brüche erkennbar, die auf eine schicksalhafte Geschichte des Gebäudes und seiner Nutzer schließen lassen. So wurden bei der Rekonstruktion des Lesepults (Bima) die Fehlstellen sichtbar ergänzt und die zerschlagene Ehrentafel mit den Namen der jüdischen Gefallenen und Teilnehmer des Ersten Weltkriegs aus circa 200 Bruchstücken wieder zusammengesetzt. Die Anbringung der Tafel erfolgte am alten Ort (Abb. 2), in der Nähe des Toraschreins. Die Eröffnung der Synagoge und des Jüdischen Kulturmuseums fand 1994 statt.

Memmelsdorf Eine Gruppe von Privatleuten hat in Memmelsdorf, einer kleinen fränkischen Gemeinde ungefähr 30 Kilometer nördlich von Bamberg, 1993 den Träger- und Förderverein Synagoge Memmelsdorf gegründet, um die örtliche Synagoge aus dem 18. Jahrhundert zu erwerben

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und daraus eine kulturelle Einrichtung mit musealer Nutzung zu machen. Vorausgegangen war in den 1980er-Jahren der Fund einer Genisa, der die örtliche Diskussion um die Neunutzung der ehemaligen Synagoge in Bewegung gesetzt hat. Die Satzung des Vereins sieht vor, die ehemalige Synagoge in Memmelsdorf (Unterfranken) zu erwerben, zu sanieren und einer dauerhaften Nutzung zuzuführen. Mit der Pflege jüdischen Kulturgutes will der Verein einen Beitrag dazu leisten, die Vergangenheit transparent und bewusst zu machen und somit für Gegenwart und Zukunft im Sinne der Verständigung zwischen Judentum und Christentum sowie zwischen Israel und Deutschland zu wirken. Ein besonderes Anliegen des Vereins ist die Jugendarbeit. Die Aufklärung junger Menschen über jüdische Kultur und Religion hat das Ziel, geschichtliches und menschliches Verständnis auch für andere Minderheiten in unserer Gesellschaft zu wecken. Ein weiteres Ziel des Vereins war es, die Erinnerung und die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Zeit des Nationalsozialismus in Memmelsdorf in Gang zu bringen, die auch dort, wie in so vielen kleineren Städten und Dörfer lange tabuisiert war. Nach einem längeren Diskussionsprozess, der auch ein zweitägiges Kolloquium von Fachleuten beinhaltete, kristallisierte sich das Konzept für die künftige Nutzung der ehemaligen Synagoge langsam heraus. Das Gebäude sollte in dem Zustand erhalten werden, in dem es der Verein erworben hatte. Die Mitglieder des Vereins konnten Politiker und Denkmalpfleger davon überzeugen, dass bei der notwendigen Sanierung alle historischen Spuren, die am Gebäude von der Erbauung bis zur letzten Nutzung erkennbar waren, konserviert werden sollten. Die ehemalige Synagoge sollte zu einem Zeugnis für den Umgang mit der jüdischen Geschichte in Memmelsdorf von der Erbauungszeit bis heute werden. Zur vertiefenden Information wurde ein kleines Museum eingerichtet. Die gezeigten Objekte sind hauptsächlich örtliche Dokumente und Architekturteile sowie die Funde aus der Genisa. Heute steht der Hauptraum der Synagoge, der nicht mehr durch das ehemalige Eingangstor betreten wird, sondern durch einen Nebeneingang, als authentischer Ort im Mittelpunkt und eröffnet dem Besucher Perspektiven der Betrachtung, die von der Gegenwart bis zurück in die Erbauungszeit des frühen 18. Jahrhunderts reichen. Der Fußboden blieb in seiner brüchigen Form ebenso erhalten wie die farbigen Wandreste einer Voliere und die verschiedenen Schichten der Wandfassungen. Die Geschichte des Gebäudes kann so als Prozess erlebbar werden.23 Die ehemalige Frauenempore, zwischenzeitlich als Partyraum genutzt, dient jetzt als Seminarraum. Die ursprüngliche Lehrerwohnung, später Gemeindekühlraum, enthält heute einen Informationsraum. Ein kleiner, neu errichteter Anbau nimmt einen Studienraum und die Sanitäranlagen auf. 23

Siehe Broschüre zur Ausstellung Ein unterfränkisches Genisa – was von er jüdischen Gemeinde in Memmelsdorf blieb. Träger- und Förderverein Synagoge Memmelsdorf (Ufr.) e.V. (Würzburg 1998).

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Die Synagoge wurde 2004 eröffnet (Abb. 4). Bei Schülern und Jugendlichen kommt das Konzept gut an. Die Wahrnehmung von Spuren, Details, Wandelementen, Schriftzügen und Zerstörungen soll die Besucher zu Fragen anregen, die mittels des vorbereiteten Arbeitsmaterials zur jüdischen Kultur und Religion beantwortet werden können.24

Hohenems Das dritte Beispiel ist die Renovierung der ehemaligen Synagoge in Hohenems (Vorarlberg). Im österreichischen Hohenems scheint der Umgang mit den jüdischen Denkmälern grundsätzlich ähnlich zu verlaufen wie bei den geschilderten bundesdeutschen Beispielen. Hohenems, seit dem 17. Jahrhundert Sitz einer jüdischen Landgemeinde mit über 300-jähriger Geschichte, besitzt im Ortszentrum ein ehemaliges jüdisches Viertel, in dem noch heute viele Spuren der jüdischen Geschichte erkennbar sind: Der noch benutzte Friedhof, die ehemalige Synagoge, die ehemalige jüdische Schule, das ehemalige Versorgungsheim für die Alten und Armen der jüdischen Gemeinde, zahlreiche Bürgerhäuser und Fabrikantenvillen sowie Häuser von Hausierern und Kaufleuten. Seit den 1970er-Jahren diskutierten Initiativen und Politiker im Ort über die Schaffung eines jüdischen Museums. 1991 erfolgte schließlich seine Eröffnung in der ehemaligen Fabrikantenvilla Heimann-Rosenthal, im Zentrum des einstigen jüdischen Viertels. Das engagierte Team der Museumsfachleute initiierte verschiedene Projekte zur Rückbesinnung auf das jüdische Erbe in der Kommune und zur Wiederbelebung des ehemaligen jüdischen Viertels unter Einbeziehung der Erinnerung an die jüdische Vergangenheit des Ortes.25 Eine vergleichsweise typische Nutzungsänderung hat die Synagoge erfahren. Auch sie wurde 1954/55 in ein Feuerwehrhaus umgebaut. Erste Pläne für den Umbau lagen bereits 1942 in den Schubladen der Gemeindeverwaltung. Mit der neuen Nutzung erfolgte eine vollständige Neutralisierung des Gebäudes durch die Beseitigung aller architektonischen Elemente, die Rückschlüsse auf die ehemalige Funktion zulassen könnten.26 Den Gipfel der Geschichtsverleugnung stellte eine Widmungstafel dar, die bei der Einweihung des Feuerwehrhauses im Treppenhaus angebracht wurde. Die Inschrift lautete: „Feuerwehrgerätehaus u. Säuglingsfürsorge erbaut 1954/55“.

24 Dazu hat der Trägerverein Memmelsdorf ein Programm zur historischen Spurensuche mit dem Titel Lernort Synagoge − Spuren erzählen die Geschichte des fränkischen Landjudentums erarbeitet. 25 Offe, Ausstellungen, 84 ff. 26 Albrich, Mahnmal, 71.

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Erst 1991 rang sich die Stadtverwaltung Hohenems dazu durch, eine neue Tafel anzubringen, die auf die einstige Bestimmung des Gebäudes hinwies. 1993 erhielt das jüdische Viertel vom österreichischen Bundesdenkmalamt den Denkmalstatus als Ensemble. Nach dem Auszug der Feuerwehr 2001 erfolgte im Rahmen einer Sanierung der Rückbau der Synagoge,27 der die Originalsituation wieder erahnen lässt. Die Innenausstattung der ehemaligen Synagoge wurde nicht rekonstruiert. Das Ergebnis der intensiv geführten Diskussionen war, die ehemalige Synagoge und Feuerwehrhaus zu einem Kulturhaus umzubauen, in dem heute die Musikschule der Region und ein Veranstaltungsraum untergebracht sind. Das Jüdische Museum Hohenems startete ein einzigartiges Projekt, um die jüdischen Denkmäler ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und an die gemeinsame österreichisch-jüdische Geschichte zu erinnern. Mit dem Titel Ein Viertel Stadt versuchten Museumskuratoren und Künstler in einer soziokulturellen Projektreihe 1994−1996 durch Aktionen auf das ehemalige jüdische Viertel der Stadt aufmerksam zu machen. Mit publikumswirksamen künstlerischen Aktionen wie Belichtete Häuser, Blick-Stationen und AusZeit wurden Vergangenheit und Gegenwart jüdischen Lebens in Hohenems gegenübergestellt. Mit den teilweise umstrittenen Aktionen gelang es, eine neue Aufmerksamkeit auf das Ensemble „Jüdisches Viertel“ zu lenken und offensichtlich auch einen Bewusstseinswandel im Umgang mit den jüdischen Zeugnissen herbeizuführen. Das Viertel erfuhr eine kurzfristige Aufwertung. Einzelne Privathäuser wurden renoviert. Die Stadtverwaltung setzte eine Architektengruppe ein, die Vorschläge für eine stadtplanerische Perspektive und Konzepte für die Zukunft des ehemaligen jüdischen Viertels entwickeln sollte. Aus den durchaus kontroversen Positionen zur Zukunft der Synagoge kristallisierte sich die Frage heraus, in welcher Form und in welchem Ausmaß der Charakter des Gebäudes als Erinnerungsort selbst thematisiert werden sollte. Sollte das Gebäude primär auf ehemaliges jüdisches Leben verweisen? Inwieweit sollte auch auf dessen Zerstörung und die darauf folgende Phase der Verdrängung Bezug genommen werden? Die durchaus positiv erscheinende Bilanz des Projekts wird dadurch relativiert, dass während der Durchführung ein noch immer von Verdrängung und Tabuisierung geprägter Umgang mit der jüdischen Geschichte in Hohenems offenbar wurde.28 Die kurz vorgestellten Beispiele zeigen drei verschiedene Positionen im Umgang mit jüdischen Denkmälern. Beim ersten Beispiel in Veitshöchheim wurde der in der Denkmalpflege gängige möglichst originalgetreue Rückbau des Gebäudes in einen Zustand angestrebt, in dem es noch der ursprünglichen Nutzung diente. Die geschichtliche Entwicklung wird weitgehend negiert. Erst auf den zweiten Blick stellen sich die Fragen nach dem „Warum“ 27 Rinderer, Feuerwehrhaus, 103. 28 Ein Viertel Stadt.

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der wiederhergestellten Details der Lesekanzel und der Gedenktafel ein. Die zweite Position ist zugleich die extremste. Sie gipfelt in der Erhaltung nahezu aller Spuren der Nutzung und der Veränderungen eines Gebäudes wie im fränkischen Memmelsdorf. Im Falle von Memmelsdorf wird der Besucher von Anfang an bewusst mit der Geschichte des Gebäudes konfrontiert. Die „Warum-Fragen“ drängen sich förmlich auf. Das dritte Beispiel ist durch das Aufzeigen der Spuren am Gebäude bestimmt, die auf eine nachträgliche Beseitigung der jüdischen Geschichte hinzielten, wie bei der Sanierung der Synagoge in Hohenems und der heutigen Nutzung als Kulturhaus.

Friedhöfe Zu den jüdischen Denkmälern gehören auch die Friedhöfe. Oft idyllisch außerhalb von Orten gelegen, sind sie in der Regel ungenutzt, verschlossen und häufig dem natürlichen Verfall preisgegeben. Die wenigen Besucher, meist sind es Nachfahren von Verstorbenen, müssen sich den Schlüssel zum Friedhof bei einer Gemeindeverwaltung oder bei ehrenamtlichen Betreuern abholen. Parallel zum Beginn der staatlichen Denkmalpflege in Deutschland, Ende des 19. Jahrhunderts, begannen sich die israelitischen Kultusgemeinden Gedanken über die Erhaltung und Erforschung ihrer Friedhöfe zu machen. Bereits 1919 erschienen erste Grundsätze zur Inventarisierung der jüdischen Kunstdenkmäler in Deutschland von Ernst Toeplitz in der Allgemeinen Zeitung des Judentums29, die ausdrücklich auch die Grabmalkunst in die Erfassung einschloss. Michael Berolzheimer hatte 1926 in der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung30 angeregt, die jüdischen Grabinschriften in Bayern zu inventarisieren. Die bereits erwähnte Erfassung der jüdischen Kulturdenkmäler durch Theodor Harburger im Auftrag der israelitischen Kultusgemeinden erstreckte sich auch auf die Friedhöfe. 1927 besuchte Harburger den Friedhof in Georgensgmünd, für den bereits damals eine möglichst vollständige Aufzeichnung geplant war, „um aus der künstlerischen Eigenart des Materials wertvolle Rückschlüsse auf die kulturellen Beziehungen der Juden unter sich und zu ihrer Umwelt ziehen zu können“.31 Zur Durchführung des Vorhabens kam es offensichtlich nicht. Der jüdische Friedhof Georgensgmünd erhielt im Inventarband der bayerischen Kunstdenkmäler von Stadt und Landkreis Schwabach von 1939 nur einen dreizeiligen Eintrag. Auch 29 Allgemeinde Zeitung des Judentums 83, Heft 50, 1919 vom 12. 12. 1991, Artikel von Ernst Toeplitz, Eine geeignete Stelle zur Inventarisierung der jüdischen Kunstdenkmäler in Deutschland; zitiert nach Kuhn, Georgensgmünd, 7. 30 Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 2, Heft 1, 1926 vom 1. 1. 1926, Artikel von Michael Berolzheimer, Zur Inventarisierung der jüdischen Grabinschriften in Bayern. 31 Kuhn, Georgensgmünd, 7

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jüdische Friedhöfe und ihre Grabmäler wurden erst seit Ende der 1980er-Jahre in Deutschland verstärkt erfasst. Inzwischen sind in der bayerischen Denkmalliste circa 120 jüdische Friedhöfe verzeichnet.

  )* +  & Einen hohen Standard für die Bearbeitung setzt die umfassende Dokumentation des jüdischen Friedhofs Georgensgmünd, erschienen 2006 in der Reihe Kunstdenkmäler in Bayern. Alle noch lesbaren Inschriften der fast 1.800 erhaltenen Grabmäler des weitgehend unzerstörten Friedhofs wurden transkribiert und ausgewertet. Die einzelnen Gräber sind beschrieben, vermessen, nummeriert, fotografiert und in einen Grundplan des Friedhofs eingetragen. Der jüdische Friedhof Georgensgmünd wurde deshalb für das Pilotprojekt ausgewählt, weil er „einen repräsentativen Querschnitt durch Grabschrift und Grabmalkunst des deutschen ländlich-kleinstädtischen Judentums“32 aufzeigt, der nur bei wenigen Friedhöfen zu finden ist. Die steinernen Zeugen vom 16. bis ins 20. Jahrhundert haben mittlerweile einen erheblichen Wert auch als unersetzliche Geschichtsquellen aus der Zeit vor dem Holocaust. Sie vermitteln vielfach die einzigen erhaltenen Nachrichten von Gemeindemitgliedern und Migrationen und geben Aufschluss über die gesellschaftliche, soziale und ökonomische Struktur des Judentums vergangener Jahrhunderte.

,      )&  +  &  Steine jüdischer Gräber wurden besonders im Mittelalter immer wieder zweckentfremdet. In Nürnberg hat man beispielsweise zwei ehemalige Grabsteine im Treppenaufgang zum Turm einer der Hauptkirchen der Stadt, der Sankt-Lorenz-Kirche, gefunden.33 Einen ähnlichen Missbrauch erfuhren auch die in Würzburg aufgefundenen mittelalterlichen Grabsteine. Im Oktober 2006 wurde das neue Gemeinde- und Kulturzentrum Shalom Europa der jüdischen Gemeinde in Würzburg eingeweiht (Abb. 5). Einen nicht unwesentlichen Platz im Kulturzentrum nimmt das neue jüdische Museum ein. Herzstück des Museums ist eine Überlieferung von mehr als 1400 Grabsteinen und Grabsteinfragmenten aus einem von Juden von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts genutzten Friedhofsareal (Abb. 6). Die sogenannten „Judensteine“ aus der Pleich wurden bei Abbrucharbeiten des ehemaligen Dominikanerin32 33

Kuhn, Georgensgmünd, 9. Die Steine befinden sich heute in der Friedhofshalle des jüdischen Friedhofs in Nürnberg.

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nenklosters St. Markus im Würzburger Stadtteil Pleich entdeckt und geborgen. Sie stellen eine der umfangreichsten Hinterlassenschaften aus einem mittelalterlichen jüdischen Friedhof dar und geben Auskunft und Erkenntnis über rund 200 Jahre Geschichte der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde in Würzburg. Die wissenschaftliche Auswertung der Inschriften auf den Grabsteinen lässt erahnen, dass Würzburg im Mittelalter ein maßgebendes Zentrum für jüdisches Wissen und jüdische Kultur in Europa war. In der anfänglichen Begeisterung über die bedeutenden Funde wollte man die Steine in ihrer Gesamtheit friedhofähnlich ausstellen. Im Laufe der Diskussionen kam man jedoch überein, nur ausgewählte Grabsteine zu bestimmten Themen in die Dauerausstellung des neuen Museums aufzunehmen und das Gros der Grabsteine in einem Magazin zu lagern. Raumhoch in Schwerlastregalen gestapelt, für die Besucher nicht begehbar, aber durch Einblicke wahrnehmbar, bilden die Grabsteine das Zentrum des Museums. Die heutige jüdische Gemeinde Würzburgs stützt sich somit symbolisch auf das kulturelle Gedächtnis der mittelalterlichen Grabsteine. Sie sind Teil des Museumskonzepts, das den Besuchern ein begehbares Judentum in einem jüdischen Erlebnishaus anbietet. Die Ausstellung orientiert sich an den biografischen Gegebenheiten eines jüdischen Lebens für gläubige Juden von der Geburt bis nach dem Tod.

Gedenktafeln, Gedenksteine Der Umgang mit jüdischen Denkmälern bezieht auch die nicht mehr bestehenden Bauwerke ein. Zur gebräuchlichsten Form der Erinnerung an frühere Funktionen oder an geschichtliche Ereignisse nicht nur der jüdischen Geschichte gehört bei Denkmälern das Anbringen von Gedenktafeln oder das Errichten von Gedenksteinen.

München Von den beiden großen Synagogen in München ist nur noch der Rest eines Gitters erhalten. Das bewusst unbebaut belassene Grundstück der auf Befehl Hitlers am 9. Juni 1938, Monate vor der Pogromnacht, abgerissenen Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße ist zum Mahnmal geworden. 1969 ließ die Stadt München einen Gedenkstein errichten, der mittlerweile ein Denkmal – anstelle eines Denkmals – darstellt.34 Die Schwierigkeiten, die mit dem Anbringen einer Gedenktafel und dem Errichten eines Gedenksteins verbunden sind, lassen 34

Rauch, München, 7.

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sich aus einer Schilderung von Richard Chaim Schneider erkennen. In einem Vortrag zur Gedenkkultur in München beschreibt er die Gedenktafel in der Herzog-Rudolf-Straße, in der einst die Ohel-Jakob-Synagoge stand, die 1938 in der sogenannten „Reichskristallnacht“ zerstört wurde. Die Tafel soll daran erinnern, dass hier einmal ein jüdisches Gotteshaus stand. „Diese Gedenktafel ist an der Häuserfassade so weit oben angebracht, dass der normale Fußgänger sich schon halb den Kopf verrenken muss, um sie überhaupt wahrnehmen, geschweige denn lesen zu können. Mit anderen Worten: Gedenken findet in dieser Stadt irgendwie statt, aber in gewisser Hinsicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Oder anders gesagt: Das Gedenken an den Nationalsozialismus in der einstigen ‚Hauptstadt der Bewegung‘ findet jenseits der Wahrnehmung der Gesellschaft statt, ja, so würde ich mal provokant behaupten, an der Öffentlichkeit vorbei. Lassen Sie mich dazu noch ein weiteres Beispiel geben, damit deutlich wird, was ich meine: Im Alten Rathaus befindet sich eine Tafel, die daran erinnert, dass von diesem Ort aus einst der Befehl für die ‚Reichskristallnacht‘ gegeben wurde. Die Stadt München ist sehr stolz, dass sie diese Tafel vor einigen Jahren hat errichten lassen. Nur: warum ist diese Tafel im Inneren des Gebäudes – und nicht außen?“35 Neben den offiziellen Formen des Gedenkens und Erinnerns erfreut sich das eher private Kunstprojekt Stolpersteine immer größerer Beliebtheit. Die Erinnerung vor allem an die Menschen, aber auch an die Häuser, in denen die Menschen wohnten, ist das Ziel dieser Aktion. Um Streitigkeiten mit den heutigen Besitzern der Häuser zu umgehen, werden die Plaketten aus Messing nicht an den Häusern, sondern im Trottoir und damit meist auf kommunalem Besitz eingelassen. Die Stolpersteine sind Teil eines Projekts, das sich zur Aufgabe gemacht hat, die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, aber auch an die der Zigeuner, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig zu halten. Initiator des Projekts ist der Kölner Künstler Gunter Demnig, der seit 2003 in über 345 Orten Deutschlands, ebenso in Österreich, Ungarn und in den Niederlanden tätig war. Einlassungen in Tschechien und Polen sind im Oktober 2008 dazugekommen. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, so Gunter Demnig.36 Die Inschrift auf den Steinen nennt den jeweiligen Namen des Bewohners sowie, soweit bekannt, den Ort und das Jahr der Ermordung. Im Gegensatz zu den Tafeln an den Denkmälern, die leicht zu übersehen sind, sollen die Messingplaketten die Fußgänger „stolpern“ lassen und dadurch Aufmerksamkeit erregen. 35 36

Schneider, Gedenkkultur. Vergleiche Homepage von Gunter Demnig www.stolpersteine.com, Zugriff Mai 2010.

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Die Stadt München hat auf Empfehlung der Israelitischen Kultusgemeinde die Einlassung der Stolpersteine als eine der wenigen Städte und Gemeinden in Deutschland nicht genehmigt. Als Begründung wurde angeführt, dass die Toten durch die kleinen Messingtäfelchen in den Schmutz gezogen werden könnten. Bereits ohne Genehmigung verlegte Stolpersteine mussten auf Anordnung der Stadtverwaltung wieder entfernt werden.

Virtuelle Rekonstruktionen Eine zeitgemäß erscheinende Form des Umgangs mit jüdischen Denkmälern ist die virtuelle Rekonstruktion nicht mehr sichtbarer Bauten. Mit Synagogen in Deutschland haben Studenten der Fachrichtung Architektur an der Technischen Universität Darmstadt ein Projekt zur Bearbeitung der Synagogen des 19. und 20. Jahrhunderts gestartet.37 Aktueller Anlass für das Unternehmen war die Betroffenheit von Studenten und Professoren über einen Anschlag auf die Synagoge in Lübeck 1994. Mithilfe einer dreidimensionalen CAD (Computer Aided Design and Construction)-Simulation sollte die nach der Pogromnacht 1938 zerstörte jüdische Kultur und Architektur wieder sichtbar werden. Die virtuelle Rekonstruktion ermöglicht es dem Betrachter, ein dreidimensionales Computermodell zu betreten und sich in ihm zu bewegen. Natürlich können die zerstörten Bauwerke durch die elektronische Technologie nicht ersetzt werden, aber die Studenten verstanden ihr Projekt als Signal gegenüber den wiederaufkommenden Zeichen von Rassismus und antijüdischer Ideologien. Weiterhin sollte das Projekt einen Beitrag zu der besonders in Deutschland bestehenden Diskussion über den angemessenen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und gegen das Vergessen leisten. Neben dem Staunen über die Pracht der rekonstruierten Synagogenausstattung gibt es auch kritische Stimmen, wie die von Salomon Korn, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Für Korn bleibt eine Künstlichkeit, die nicht überwunden werden kann. Die Menschen lassen sich nicht wieder lebendig machen und deswegen fehlt das emotionale Moment. Die Synagogen werden auf diese Weise nicht in die deutschen Städte und in das Bewusstsein der Bevölkerung zurückkehren, sondern auf bewegte Bilder reduziert.38 Neben der Erinnerung an die zerstörten Bauwerke soll in der virtuellen Welt die Basis für die Schaffung interaktiver Archive gelegt werden. Auf der Homepage des Projekts39 können Nutzer persönliche Einträge vornehmen. Die Anbieter hoffen, dass das virtuelle interaktive Erinnern mehr leistet als die traditionellen Institutionen wie Denkmäler oder Museen. 37 38 39

Details unter www.cad.architektur.tu-darmstadt.de, Zugriff Mai 2010. Korn, German Synagogues, 27. Vergleiche www.synagogen.info, Zugriff Mai 2010.

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Nutzung ehemaliger Synagogen Wie kann eine ehemalige Synagoge, ein jüdisches Gotteshaus, angemessen genutzt werden? Nach einer Schändung ist eine kultische Nutzung nicht mehr möglich. Es lässt sich auch nicht in jeder Stadt oder Kommune aus der ehemaligen Synagoge ein Begegnungszentrum oder ein Museum machen.

Regensburg In Regensburg, wegen seiner über 1000 Einzeldenkmäler mittlerweile in die UNESCOWorld-Heritage-Liste aufgenommen, wurden bei Grabungen 1995 die Fundamente der mittelalterlichen Synagoge aus dem 13. Jahrhundert entdeckt. Der Bau konnte in seinen Fundamenten dokumentiert werden. Auch die Überreste eines romanischen Vorgängerbaus kamen bei dieser Gelegenheit ans Tageslicht. Über den Resten der ehemaligen mittelalterlichen Synagoge auf dem Neupfarrplatz, deren Aussehen Kunsthistorikern bestens durch die überlieferten Kupferstiche von Albrecht Altdorfer bekannt ist, beschloss die Stadtverwaltung im Jahr 2005, ein Bodenrelief fertigen zu lassen, das den Grundriss der ehemaligen Synagoge abbildet. Das von dem israelischen Künstler Dani Karavan entworfene Kunstwerk wird als offene Begegnungsstätte von Einwohnern und Touristen gerne angenommen. Sie ist aber auch Ort wiederholter vorsätzlicher Beschädigung. Mit der Überformung der Fundamente durch ein Kunstwerk im öffentlichen Raum lässt sich der Standort der Synagoge erahnen, doch gibt der Grundriss wenig Aufschluss über den städtebaulichen Zusammenhang in der mittelalterlichen Stadt. Im Dokument Neupfarrplatz, einer Zweigstelle des Historischen Museums der Stadt, wird unter dem Platz das Regensburger Judenviertel, das einst aus rund 39 Häusern um die Synagoge bestand, den Besuchern nahegebracht. Wichtigstes Objekt ist ein bei den Ausgrabungen entdeckter Schatz von Goldmünzen. Auch eine virtuelle Rekonstruktion der Synagoge soll zum besseren Verständnis beitragen.

Frankfurt am Main Die Musealisierung der ehemaligen Synagoge Börneplatz war auch in Frankfurt am Main die Lösung für die Stadtverwaltung. Um 1990 förderten Ausgrabungen am Börneplatz, der vormals Judenmarkt hieß, die Reste einer mittelalterlichen Synagoge, einer der drei großen Synagogen Frankfurts, die alle 1938 zerstört wurden, zutage. Die erhaltenen Fragmente fanden

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Platz in dem neu gegründeten Museum Judengasse, einer Zweigstelle des Jüdischen Museums Frankfurt, das bereits 1988 eröffnet wurde.

Maßnahmen im internationalen Vergleich: Slowakei Der drohende Verfall und Verlust von historischen Zeugnissen betrifft nicht nur Synagogen in Deutschland oder Österreich. Auch in der Slowakei verschwinden zunehmend Synagogen und jüdische Baudenkmäler. Um den Prozess zu stoppen beziehungsweise Bewusstsein für einen Umdenkprozess zu schaffen, wurde von engagierten Bürgern das Slovak Jewish Heritage Center mit Sitz in Bratislava gegründet.40 Das Zentrum arbeitet seit 2006 an der dokumentarischen Erfassung der mehr als hundert Synagogen, meist aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch Bethäuser, Ritualbäder, Schulgebäude und andere jüdische Gemeindebauten werden in die Dokumentation aufgenommen. Ebenso die ungefähr 700 Friedhöfe, von denen viele verwüstet, entweiht oder deren Grabsteine gestohlen wurden. Die Forschungen sind online zugänglich und richten sich an die Wissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit. Ziel des Vorhabens ist es, die Bedeutung des jüdischen Erbes im Lande bekannt und auf die drohenden Verluste aufmerksam zu machen. Dazu dient auch das touristische Projekt Slovak Jewish Heritage Route, das Kurzbeschreibungen und Reisewege zu jüdischen Denkmälern anbietet.41

Dokumentationen Erste Grundlagen für den Umgang mit jüdischen Denkmälern werden vielerorts durch eine Dokumentation der Zeugnisse jüdischer Kultur gelegt. In den 1920er-Jahren gingen, wie die bereits erwähnte Dokumentation von Theodor Harburger zeigte, die Anstöße für die Erfassung der Zeugnisse von den Israelitischen Kultusgemeinden aus. Nach 1945 werden die Dokumentationen in der Regel von nichtjüdischen Auftraggebern bestellt. In Veitshöchheim arbeitet seit nahezu zehn Jahren ein Team von Fachleuten an dem Forschungsprojekt Genisa, in dem sämtliche bekannten Genisot in Unterfranken aufgenommen werden. Material aus circa zehn ehemaligen jüdischen Gemeinden von unterschiedlichem Umfang ist mittlerweile bearbeitet. In einer Datenbank werden die entzifferten Texte und Fragmente gespeichert, teilweise auch fotografiert. Am Ende soll die Datenbank der Forschung über das Internet zugänglich gemacht werden. 40 Details: www.slovak-jewish-heritage.org, Zugriff Mai 2010. 41 Borský, Slovakia 11.

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Ein weiteres, mehrjährig angelegtes Forschungsprojekt widmet sich der Dokumentation der Synagogen und jüdischen Denkmäler in Deutschland und den deutschsprachigen Gebieten. Es wurde von Professor Meier-Schwarz ins Leben gerufen, der zu diesem Zweck das Synagogue Memorial in Jerusalem gründete. Zur Dokumentation der Synagogen in Bayern sind zwei Bände vorgesehen. Das Projekt wird neben dem Freistaat Bayern auch von der Evangelisch-Lutherischen Kirche finanziell unterstützt. In einem Grußwort zum ersten Band, erschienen 2007, bezeichnet der Landesbischof Friedrich die Förderung der Publikation als Ausdruck des Erkenntnisprozesses der eigenen Schuld an der Verfolgung der Juden, der in der Evangelisch-Lutherischen Kirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt hatte. Das wissenschaftliche Konzept der Reihe sieht vor, nicht nur die ehemaligen Synagogen und ihre Geschichte bis zur Zerstörung, sondern auch den Neuanfang der heutigen jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1945 zu dokumentieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Geschichten der Menschen und der jüdischen Gemeinden. Eine nicht unumstrittene Einschränkung wurde gemacht, um die Fülle des Materials zu begrenzen. In dem Katalog sind nur Synagogen zu finden, die um 1930 als Gotteshäuser benutzt wurden.42

Tourismus und Phänomene der Popularisierung jüdischer Kultur Seit einigen Jahren ist eine stärkere Einbeziehung der jüdischen Kultur in touristische Programme zu beobachten. Ein zentrales Ereignis ist dabei der Europäische Tag der Jüdischen Kultur. An dem seit 2004 mittlerweile jährlich im September veranstalteten Tag stehen jüdische Kulturdenkmäler in den Regionen zur Besichtigung offen. 2008 stand der Tag unter dem Motto Musik. Zahlreiche Veranstaltungen zeigten das breite Spektrum der jüdischen Musikkultur von Klezmer bis zur Synagogenliturgie. Frühere Themen waren u. a. Europäische Routen jüdischen Erbes, jüdische Küche, Judentum und Bildung. Der Erfolg der Initiative zeigt sich auch darin, dass im Jahr 2008 bereits Veranstaltungen in 30 europäischen Ländern geplant waren.43 Jüdisches Erbe und jüdische Kultur sind derzeit „in“. Man kann das ganz deutlich in ehemaligen, lange vernachlässigten jüdischen Vierteln z. B. in Berlin, Venedig und Krakau, aber auch in kleineren Städten wie Hohenems, Boskovice und Györ spüren. Auch aus diesem Grund wird jüdisches Erbe erhalten. Ein Blick in die Kulturseiten zeigt überall in Europa eine Flut von Veranstaltungen zum Thema „Jüdisch“. Jüdische Kulturwochen, neue jüdische 42 Mehr als Steine, 30. 43 Detailinformationen zum Europäischen Tag der Jüdischen Kultur: www.jewishheritage.org, Zugriff Mai 2010.

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Museen, jüdische Musik, jüdische Kunst, jüdische Forschungsstätten, um nur einige Beispiele zu nennen. Klezmer-Musik wird in der Regel nicht von Juden aufgeführt, ebenso treten jiddische Folkloregruppen meist ohne jüdische Mitglieder auf.44 Es ist eine jüdische Kultur ohne Juden, mit jüdisch klingenden Namen für Restaurants, Unterkünfte, Weinkeller und Musik. Ruth Ellen Gruber hat sich in ihrem Buch Virtually Jewish kritisch mit dem Thema „Jüdische Kultur ohne Juden“ auseinandergesetzt.45 „Die Zurschaustellung und Ausbeutung des jüdischen Erbes und seiner Örtlichkeiten zum einen und die Schaffung von Infrastruktur und Dienstleistungen durch Tourismusunternehmen zum anderen mussten auf die Bedürfnisse und Erwartungen sehr unterschiedlicher Märkte eingehen“, so Gruber. Die Nostalgie nach der jüdischen Vergangenheit beherrscht die Szene. Der neue Touristenstrom wirkte sich besonders in Prag aus. Die jüdische Geschichte wurde zu einer Attraktion und brachte eine gewaltige Nachfrage jüdischer und nichtjüdischer Käufer nach Souvenirs mit jüdischen Themen hervor.46 Wenig hilfreich für den Umgang mit jüdischen Denkmälern ist die hauptsächlich vom Unternehmergeist geprägte Renaissance der „Wiederinszenierung einer durch den Holocaust vernichteten Kultur in vorgeblich typisch jüdischen Cafés“, verbunden mit allerlei Edel- und Billigkitsch.47 Die Frage, ob sich die Besucher der Szeneviertel wirklich für die jüdische Geschichte interessieren und das Gedächtnis an die jüdische Vergangenheit bewahren wollen oder ob die Orte des historischen jüdischen Erbes und ebenso solche des Holocaust-Gedenkens zu bloßen Touristenattraktionen werden, ist nur am Rande bedeutend. Zu beobachten ist jedoch auch, dass unter den Besuchern jüdischer Denkmäler jetzt verstärkt die nächste Generation der Enkel zu finden ist, die sich über die Herkunftsorte der jüdischen Großeltern in Europa informieren will. Viele Nachfahren der einst geflohenen Juden kommen nicht als Touristen ins Land, sie kommen, um zu trauern und zu erinnern.48 Der Umgang mit der jüdischen Vergangenheit und ihren Denkmälern findet auf verschiedenen Ebenen statt und legt Zeugnis ab von den umfangreichen Bemühungen, die jüdische Geschichte, ihre Gemeinden, Bauwerke und Kulturgüter in Europa zu dokumentieren und zu erhalten. Der Umgang mit jüdischen Denkmälern ist sehr stark durch das Ritual des Gedenkens, vor allem des öffentlichen Gedenkens, an die Opfer des Nazi-Regimes bestimmt. „Wer soll eigentlich gedenken? Wem ,gehört‘ das Gedenken? Wer bestimmt über das Gedenken?“ In dem bereits erwähnten Vortrag über die Gedenkkultur in München stellt Richard

44 45 46 47 48

Kugelmann, Gerüchte, 273–274. Gruber, Virtually Jewish, 131–154. Gruber, Gerüchte, 293. Loewy, Gerüchte, 22. Gruber, Gerüchte, 294.

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Chaim Schneider diese Fragen. In seiner Antwort sagt Schneider, als Jude und Kind von Eltern, die verschiedene Konzentrationslager überlebt haben, brauche er das öffentliche Gedenken an bestimmten Tagen im Jahr nicht, sondern: „Wir gedenken täglich. Wer das Gedenken braucht, ist Deutschland (…), ist die Gesellschaft, die Bevölkerung, die Nachkommen der Täter, der Tätergesellschaft. Für sie ist das Gedenken, ist das Gedenkritual entscheidend. Es ist identitätsstiftend und zugleich Ausdruck eines staatlichen Selbstverständnisses.“49

Literatur Allgemeine Zeitung des Judentums Allgemeine Zeitung des Judentums 83, Heft 50, 1919 vom 12. 12. 1919. Albrich, Mahnmal Th. Albrich, „…dass dieses Mahnmal jüdischer Herrschaft im schönen Markt Hohenems verschwinde.“ In: J. Inama/H. Loewy (Hrsg.) „… wohl eine Illusion“? Geschichte und Gegenwart der Synagoge Hohenems (Hohenems 2004), 51−79. Assmann, Gedächtnis J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München 1999). Bayerische Israelitische Gemeindezeitung Bayerische Israelitische Gemeindezeitung 2, Heft 1, 1926 vom 1. 1. 1926. Borský, Slovakia M. Borský, Synagogue Architecture in Slovakia (Bratislava 2007). Ein Viertel Stadt Ein Viertel Stadt, Hrsg.: Jüdisches Museum Hohenems. Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des jüdischen Museums Hohenems 2, 1997. Grellert, New Media M. Grellert, The Potential of New Media for Acts of Remembrance. In: Synagogues in Germany. A Virtual Reconstruction (Darmstadt 2004), 28−29. Gruber, Virtually Jewish R. E. Gruber, Virtually Jewish: reinventing Jewish culture in Europe (Berkeley, Los Angeles 2002).

49 Schneider, München.

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Gruber, Gerüchte R. E. Gruber, Kitsch-Juden. In: H. Loewy (Hrsg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien (Essen 2005), 287−299. Harbuger, Inventarisation Th. Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern. Herausgegeben von den Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem und dem Jüdischen Museum Franken – Fürth & Schnaittach (Fürth 1998). Hoppe, Jüdische Geschichte J. Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen. Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland (Münster u.a. 2002). Inama, AusZeit J. Inama, AusZeit. Zur Projektreihe des Jüdischen Museums Hohenems in der ehemaligen Synagoge / Feuerwehr. In: J. Inama/H. Loewy (Hrsg.) , „… wohl eine Illusion“? Geschichte und Gegenwart der Synagoge Hohenems (Hohenems 2004), 125−135. Korn, German Synagogues S. Korn, German Synagogues. In: Synagogues in Germany. A Virtual Reconstruction (Darmstadt 2004), 24−27. Kugelmann, Gerüchte Y. Kugelmann, Mit freundlichem Shalom in die Hölle. In: H. Loewy (Hrsg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien (Essen 2005), 271−285. Kuhn, Georgensgmünd P. Kuhn, Jüdischer Friedhof Georgensgmünd. Die Kunstdenkmäler von Bayern, Neue Folge, Bd. 6 (München, Berlin 2006). Loewy, Gerüchte H. Loewy, Der Tanz ums „goldene Kalb“. In: H. Loewy (Hrsg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien (Essen 2005), 9−24. Mehr als Steine Mehr als Steine … Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1. Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland, Bd. 3: Bayern (Lindenberg 2007). Michels, Uhlmann H. Michels, Das Haus Uhlmann aus Ovenhausen. Baubefunde und Restaurierung. In: Freilichtmagazin 2007, 13−23. Museumsführer Freilichtmuseum Hessenpark Museumsführer Freilichtmuseum Hessenpark (Neu-Anspach 1998), 102−103. Offe, Ausstellungen S. Offe, Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich (Berlin, Wien 2000).

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Rauch, München A. Rauch, Münchens Jüdische Denkmäler. In: Denkmäler Jüdischer Kultur in Bayern. Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 43 (München 1994), 7−33. Rinderer, Versammlung A. Rinderer/R. Rinderer/J. Inama, Haus der Versammlung. Zur Baugeschichte der ehemaligen Synagoge in Hohenems. In: J. Inama/H. Loewy (Hrsg.), „… wohl eine Illusion“? Geschichte und Gegenwart der Synagoge Hohenems (Hohenems 2004), 23−49. Rinderer, Feuerwehrhaus A. Rinderer/R. Rinderer, Vom Feuerwehrhaus zum Haus der Kultur. In: J. Inama/H. Loewy (Hrsg.), „… wohl eine Illusion“? Geschichte und Gegenwart der Synagoge Hohenems (Hohenems 2004), 101−115. Schneider, München R. Ch. Schneider, Vortrag zum Thema Gedenkkultur in München (München 23. 2. 2005). Schwierz, Steinere Zeugnisse I. Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation. 2. Auflage (München 1992). Siehe der Stein schreit Siehe der Stein schreit aus der Mauer: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, hrsg. von B. Deneke (Nürnberg 1988). Spuren wahrnehmen Spuren wahrnehmen – Wandel erleben. Träger- und Förderverein Synagoge Memmelsdorf (Ufr.) e.V. Vollmar, Kulturerbe B. Vollmar, Jüdisches Kulturerbe und Denkmalpflege. In: Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 17/88 (München 1988), 549−558.

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Abb. 1: Die Synagoge von Veitshöchheim, Unterfranken, Zustand 1994 (Bildnachweis: H. Becker, Bildarchiv der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen). Abb. 2: Gedenktafel Synagoge Veitshöchheim, Unterfranken, Zustand 1994 (Bildnachweis: H. Becker, Bildarchiv der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen).

 

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Abb. 3: Innenraum Synagoge Veitshöchheim, Unterfranken, Zustand 1994 (Bildnachweis: H. Becker, Bildarchiv der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen).

Abb. 4: Memmelsdorf, Synagoge, Hauptraum nach der Konservierung (Bildnachweis: G. Hagen, Bamberg).

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Abb. 5: Würzburg, Shalom Europa, Jüdisches Museum (Bildnachweis: Architekten BDA, Grellmann, Kriebel, Teichmann, Würzburg).

Abb. 6: Würzburg, Shalom Europa, Jüdisches Museum, Lager der Grabsteine (Bildnachweis: Architekten BDA, Grellmann, Kriebel, Teichmann, Würzburg).

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#$ %&  $     Herrn Ferenc Dávid zum 70. Geburtstag gewidmet

Denkmalschutz und gesellschaftliche Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert Wenn man die politische Geschichte der neuzeitlichen Denkmalpflege kurz skizzieren möchte, um eine gegenwärtige Standortbestimmung vorzunehmen, fällt es auf, dass hinter diesem Kunst- und Kulturbegriff – nämlich dem Denkmal (obwohl das Wort „Monument“ seit der Antike vorhanden ist) – seit der Aufklärung und Romantik unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene stecken. Die Beschäftigung mit diesem Gegenstand und die Absicht, ihn zu bewahren und zu pflegen, hatten nämlich in den nachfolgenden Epochen immer wieder neue Bedeutungen, die man auch bei den gegenwärtigen Diskussionen beachten müsste.1 Der Denkmalbegriff blieb nicht unverändert, obwohl manche Vertreter der DenkmalpflegeInstitutionen dies gerne behaupten.2 Heute gibt es in den internationalen Bestrebungen, das kulturelle Erbe der Welt für die Zukunft zu sichern, im Sinne von UNESCO und ICOMOS drei Ebenen, wie die Denkmalpflege theoretisch und praktisch definiert werden kann: 1. als Schutz von herausragenden Einzeldenkmalen, 2. als Revitalisierung von städtischen oder ländlichen Denkmalensembles und 3. als Integration in die Bewahrung von weiträumigen Kulturlandschaften. Diese drei Annäherungsweisen kennzeichnen gleichzeitig auch die Geschichte der Denkmalpflege seit dem späten 18. Jahrhundert, als man in Europa mit dem systematischen Schutz der Monumente begonnen hat. Zur ältesten Sinnebene des Denkmalbegriffs gehören schon seit dem Mittelalter die Grabdenkmäler, die uns in dieser Ringvorlesung zur Thematik „jüdische Friedhöfe“ beschäftigen.3 Diese wurden als „Erinnerungsmale“ an den Tod und an die 1 2 3

Hajós, Denkmalschutz. Hajós, Denkmalschutz, 21−25. „Der Währinger Jüdische Friedhof – ein Ort der Erinnerung? Jüdische Friedhöfe im Spannungsfeld zwischen Kultstätte, Erinnerungsort und Denkmalpflege“. Ringvorlesung ab 10. Oktober 2008, konzipiert von Tina Walzer und organisiert von Frau Univ.-Prof. Claudia Theune, der ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank zum Ausdruck bringen möchte.

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verstorbene Person meist in den Kirchen oder in ihrer Umgebung errichtet, ihr Begriff ist aber nicht mit dem identisch, was wir heute im Denkmalschutz als „Denkmal“ verstehen. Das Wort Denkmal ist eigentlich „Gedenkmal“ (Gedächtnismal) im ursprünglichen Sinne der deutschen Sprache. Der Begriff4 in der heutigen Denkmalschutzbewegung oder in der Denkmalschutzgesetzgebung bedeutet jedoch nicht mehr ein Monument auf einem Sockel, wie z. B. eine Büste eines berühmten Mannes oder einer berühmten Frau, wie etwa im Wiener Stadtpark, sondern einen x-beliebigen Gegenstand oder Gegenstandskomplex, der durch seine Bedeutung für die Kulturgeschichte der Menschheit wichtig und erhaltungswürdig ist. So kann heute eine französische Kathedrale oder Schuberts Brille auf der gleichen Ebene als „Denkmal“ betrachtet werden. Ein Bauernhaus oder im Extremfall auch eine ganze Stadt kann ebenfalls als Denkmal geschützt werden. Man denke in diesem Zusammenhang an das UNESCO-Weltkulturerbe Wien-Innere Stadt, Graz-Historisches Zentrum und Schloss Eggenberg oder Salzburg. Zuerst müssen wir also klarlegen, wie es zu dieser Entwicklung kam: von einem mittelalterlichen Grabdenkmal letztendlich zu einer gegenwärtigen großräumigen Kulturlandschaft, beide als Denkmale der Menschheit? Zwischen diesen beiden Kategorien ist eine breit gefächerte Palette von Denkmalgattungen möglich, die alle – wenn bedeutend und erhaltungswürdig – von der Gesellschaft geschützt werden müssen, können, sollen ... Also Kirchen, Schlösser, Villen, Bürgerhäuser, Bauernhäuser, Arbeiterwohnhäuser, technische Bauten, historische Straßenzüge und Plätze, dörfliche Ensembles, Gärten und Stadtparks und freilich auch Friedhöfe und speziell jüdische Friedhöfe. Deshalb sollen die spezifischen Probleme der Gartendenkmalpflege erörtert werden, um zu verstehen, warum diese Disziplin sich mit Friedhöfen beschäftigt oder beschäftigen sollte. Zuerst einmal wird eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Denkmalschutzidee vorangestellt, damit der spezifische Gegenstand der Ausführungen besser verständlich wird.

Das Denkmal als nationale Verschmelzung von Kunst und Geschichte Die modernen Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent, die nach dem Zusammenbruch des „ancien régime“ bereit waren, der industriellen Entwicklung so ziemlich alles zu opfern, was als Hindernis im Wege stand, suchten nach bremsenden romantischen Grenzen in einer als beschleunigt empfundenen Zeit der Aufklärung, die viel Verunsicherung und Entfremdung bedeutete. Dieser komplizierte zivilisatorische Prozess wurde durch die Verehrung der nationalen Vergangenheit zum Ausdruck gebracht, die für das 4

Vgl. dazu die Forschungen von Wibiral, Denkmalschutz. – Ders., Denkmal. – Außerdem: FrodlKraft, Denkmalbegriff.

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bürgerliche Subjekt statt der verlorenen „göttlichen und stabilen“ Ordnung des Mittelalters den Eindruck einer triumphalen Kontinuität des Fortschritts in einer immer mehr als unstet erkannten Welt erwecken sollte. Wie bekannt, wurde etwa seit Winckelmann die Kunst „historisiert“ und der Ablauf der Geschichte „ästhetisiert“.5 Das heißt, dass in der Kunst immer weniger die akademischen Regeln nach dem Modell der „ewigen“ Antike, sondern die sich in Entwicklung befindlichen bildhaften Phänomene der immer mehr unmittelbar angeschauten und studierten Natur erstrebenswerte Ideale wurden. „Geschichte“ wurde immer weniger als Mythos einer Wiederkehr des verlorenen Paradieses (sei es christlich oder heidnisch) verstanden, sondern in anschauliche Entwicklungsstufen zergliedert und als unaufhaltsamer Prozess gedeutet. Dieses zweiseitige und dialektische Phänomen (nämlich Kunst als Geschichte und Geschichte als Kunst) hatte die Sichtweise des ganzen 19. Jahrhunderts wesentlich bestimmt. Durch den Begriff der allmächtigen Geschichte an sich, quasi als göttliches Naturphänomen, entstand eine neue Leitidee für die ganze Welt (statt der bis dahin üblichen Vielzahl von „Märchen“, das heißt Geschichten, die nicht in einem abstrakten Überbegriff profaniert und subsummiert wurden, sondern in den Mythologien oder in den biblischen Legenden zerlegt, immer wieder wundertätig nacherzählt werden konnten). So konnte durch die aus diesem aufklärerisch-romantischen Begriff der „Geschichte an sich“ eine universale Entwicklungsidee als neue ordnende Kraft der Welt für die Weltanschauung des Historismus geboren werden,6 ohne welche die Denkmalpflege als gesellschaftliche Notwendigkeit der staatlichen Schutzbestrebungen undenkbar gewesen wäre. Die Weltanschauung des Historismus war eine christliche, europäische und daher gegenüber den anderen Kulturauffassungen der Welt intolerant auftretende Auffassung, obwohl sie sich auf die Aufklärung berief, die an sich mit dem Begriff Toleranz operierte. Tolerant war sie aber bloß in der ästhetischen Anschauung und im wissenschaftlichen Studium der ganzen Welt, die sie aber gleichzeitig bekehren und kolonialisieren wollte. Auch wenn die Freimaurer z. B. die Denkmale der altägyptischen Religion schon im 18. Jahrhundert bemerkenswert und imposant gefunden haben, dachte niemand im Zeitalter von Mozarts Zauberflöte daran, diese Religion in der europäischen christlichen Zivilisation allgemeingültig, d. h. für den Alltagsgebrauch, akzeptieren zu können. Obwohl z. B. ein buddhistischer Tempel schon im 19. Jahrhundert als „Denkmal der Menschheit“ betrachtet werden konnte, der einheimische Umgang mit solchen Tempelbauten und dessen religiöse Philosophie wurde in der europäischen Restaurierungstheorie der Denkmalpflege (bis heute) kaum akzeptiert. Der kumulative, auf die Materie der Gegenstände reduzierte „Alterswert“ der Denkmale – d. h. ihre historische Echtheit – war in Europa mehr auf die erhaltene Materie und weniger auf ihre 5 6

Bentmann, Erinnerung. – Brix/Steinhauser, Geschichte. – Jauss, Geschichte. Koselleck, Standortbindung.

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ursprüngliche Idee konzentriert, die moderne Denkmalpflege ist daher eine „materialistische“ Auffassung gewesen, die man in Asien z. B. nicht akzeptieren konnte oder noch immer nicht kann.7 Wenn ein japanischer Holztempel jedes Jahr erneuert wird, so ist das nicht im Sinne der europäischen Restaurierungstheorie, die den Altbestand unbedingt bewahren möchte und auf die religiöse, zyklisch wiederholende Kontinuität bei der Behandlung der kultischen Bauwerke eigentlich kein Gewicht legt. Die sogenannten „stilechten“ Restaurierungen des 19. Jahrhunderts, die häufig den vielfältigen, durch spätere Veränderungen „verunklärten“ materiellen Bestand eines Denkmals noch negierten (diese Tatsache wurde dann im 20. Jahrhundert scharf verurteilt), um ein besseres Original zu produzieren, als es das tatsächliche Original gewesen ist, waren im technischen Können der historistischen Zivilisation und nicht im offenen Respekt vor der Vielfalt der fremden oder vergangenen Religionen oder Philosophien begründet. Man denke an die neugotischen Kathedralen eines Viollet-le-Duc in Frankreich oder eines Friedrich von Schmidt in Österreich8, wo diese Restauratoren spätere Zutaten in einem mittelalterlichen Bauwerk häufig brutal entfernten, weil sie die universale Entwicklungsidee, also die konkrete Wertigkeit eines nationalen Denkmals nur im vermeintlichen Ursprungszustand und nicht im tatsächlichen Entwicklungsprozess von der Erbauungszeit bis heute gesehen haben. Der Denkmalschutz sollte in dieser ersten romantisch-aufklärerischen Phase zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert den ungestörten Triumph der Entwicklungsidee demonstrieren, unabhängig davon, ob man die ästhetischen Äußerungsformen dieser universalen Entwicklung (also die Denkmale) als wiederholbar (ersetzbar) oder als nicht wiederholbar (einmalig) betrachtete. Die Definition der universalen Entwicklung basierte auf der europäisch-christlichen Sichtweise der Welt. So konnte eine Vielfalt der künstlerischen (auch nichtchristlichen) Äußerungen der Welt seit dem 18. Jahrhundert (wie z. B. in einem „englischen“ Landschaftspark mit Staffagebauten verschiedenen Stils nebeneinander) zwar immer mehr „abbildungshaft“ akzeptiert werden, die noch vorhandene Vielfalt des religiösen Umganges, betreffend diese Gegenstände (z. B. kultische Bauwerke) in den jeweils fremden Kulturen, aber keinesfalls. Barockes Schloss, türkische Moschee, gotische Burg, antiker Rundtempel, bäuerliche Fischerhütte oder ägyptische Pyramide konnten in einem Landschaftspark gleichzeitig unterschiedliche Stimmungen hervorrufen und illustrieren. Damit wurden sie durch den für das spätere 19. Jahrhundert so charakteristischen „Stilpluralismus“ eine neue Experimentierstätte9 für die breit gefächerte Denkmalpflege – sie waren aber keinesfalls vorbildhaft für die westliche zivilisatorische Lebensführung der Zeitgenossen. Die europäisch-christliche Geschichtsauffassung in ihrer aufklärerisch-romantischen Interpretation 7 8 9

Hajós, Denkmalpflege. Frodl, Denkmalpflege. - Ders., Idee. Schepers, Gartenkunst.

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(also der Begriff der „Geschichte an sich“10) thronte über dieser ästhetischen Vielfalt und war die Machtdemonstration einer europäisch-christlichen Vorrangstellung bzw. Überlegenheit, die man eigentlich bis heute nicht bereit ist aufzugeben. Das hat freilich – wie wir noch sehen werden – auch mit der Bewahrung von jüdischen Friedhöfen zu tun, denn in diesen (wenigstens was die älteren vor 1800 betrifft) gibt es keine Romantik − und ohne Romantik wäre die Idee des modernen Denkmalschutzes nie zustande gekommen. Die national ausgerichtete Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich auf hervorragende Einzeldenkmale, welche die bürgerlich-nationale Identität des jeweiligen europäischen Landes ermöglichten und verstärkten. Neben den Denkmalen der Antike – die als Vorgeschichte der europäischen Überlegenheit betrachtet wurden – konnten etwa ab 1800 zuerst die hervorragenden Beispiele des mittelalterlichen Christentums als schützenswerte Denkmale staatlich akzeptiert werden. Allmählich wurde dann bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die ganze europäische Architekturgeschichte bis zum Klassizismus kunsthistorisch erforscht und daher schrittweise denkmalschutzwürdig. Denkmalensembles oder Landschaftszüge wurden aber noch nicht unter Schutz gestellt, denn die industrielle Entwicklung der technischen Zivilisation war noch nicht als negative Belastung, sondern als positive Bereicherung der Umwelt empfunden. Die Wende in dieser Denkweise trat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf, nämlich mit dem ersten Naturschutzgebiet, dem Yellowstone Park 1876 in den USA. Ihn hatte dann Sigmund Freud um 1900 im Sinne der Psychologie als „Verdrängungszone“ der modernen Zivilisation bezeichnet. (Sind die von der UNESCO unter Schutz gestellten Kulturlandschaften11 oder Stadtdenkmale gegenwärtig noch immer Verdrängungszonen unserer westlichen technisch-zivilisatorischen Weltanschauung?) Solche Nationalparks waren die ersten großräumigen Denkmalgebiete der Natur, wo es nicht um isolierte Gegenstände, sondern um ihren organisch gewachsenen Zusammenhang ging. Zu dieser Zeit waren Natur- und Denkmalschutz noch nicht voneinander getrennt. Alte jüdische Bauwerke oder Friedhöfe betrachtete man freilich im Zeitalter des Historismus nicht als denkmalschutzwürdig, denn diese gehörten nicht zum stolzen nationalen Selbstbewusstsein. Allerdings muss man erwähnen, dass Fürst Franz von Anhalt-Dessau in seinem Landschaftspark in Wörlitz als Zeichen seiner Toleranz schon 1787−1790 eine Synagoge neben der christlichen Kirche für die jüdische Bevölkerung seines kleinen „Gartenreiches“ errichten ließ. Die Inschrift beim Eingang des Friedhofs in Gröna bei Bernburg lautete: „Ob Jude, Heide oder Christ, im Tode sind wir alle gleich, darum sei und bleibe Mensch.“ Diese Äußerungen waren jedoch Ausnahmen.12 10 11 12

Koselleck, Standortbindung. Droste/Plachter/Rössler, Cultural Landscapes. Bechtoldt/Weiss, Weltbild Wörlitz.

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Der Begriff Heimat und der kosmopolitische Respekt vor dem „Alter“ Durch die immer rapider werdenden Zerstörungen der alten Siedlungen in der industriellen Gründerzeit und durch die häufig unerträglich gewordene Unmenschlichkeit der Großstädte, die sich in einer rücksichtslosen Bauspekulation äußerte, entstanden neue, dem Fortschritt gegenüber feindlich eingestellte Ideologien, die ihre Zielsetzungen in der Wiederkehr zu natürlichen Lebensformen, in der Idyllisierung des Landlebens und in der Verehrung der bürgerlich intakten Familie sahen. Sie bereiteten im deutschsprachigen Raum den Boden für die um 1900 entstandene Heimatschutzbewegung vor.13 Die Wortschöpfung „Heimat“ geht freilich schon in das 18. Jahrhundert zurück (Justus Möser), sie gewann jedoch eine ideologisch-politische Bedeutung bei den Brüdern Grimm und vor allem bei Wilhelm Heinrich Riehl, der 1861 sein sehr wirksames Buch Land und Leute veröffentlichte.14 Hier wurde ein erbitterter Kampf gegen die Mietkasernen als „krankes“ Phänomen des Kapitalismus geführt. Das erste Mal wurde in Europa die Zerstörung der heimeligen und lieblichen Umwelt der romantisch gesehenen Vergangenheit wortgewaltig angegriffen. Diese Gedanken beeinflussten die Denkmalpflege, die sich parallel zur Heimatschutzbewegung nicht mehr, wie bis dahin üblich, nur mit den hohen Kunstdenkmalen, sondern auch mit den Biedermeierstädten und mit den von der Industrialisierung noch unberührten Dörfern zu beschäftigen begann. Damit kam erstmals bei Kunsthistorikern ein Wunsch zum Vorschein, neben der Beschäftigung mit der „hohen“ Kunst die Denkmalpflege auch als ein Bedürfnis der breiten Massen verständlich zu machen. In Deutschland waren es Ernst Rudorff, der den Begriff „Heimatschutz“ 1897 prägte, sowie Paul Schultze-Naumburg und Georg Dehio, die für diese neuen Zielsetzungen vehement eingetreten sind. In Österreich muss man Karl Giannoni, Hugo Hassinger, Max Dvorák, Hans Tietze und schließlich auch Alois Riegl erwähnen, die alle fast prophetisch für die „Demokratisierung“ des Denkmalbegriffs kämpften und den, wie es Riegl 1905 in seinem Aufsatz Neue Strömungen in der Denkmalpflege formulierte, „sozialistischen“ (d. h. sozialen) Charakter der Denkmalpflege erkannt haben. Alle diese engagierten Wissenschaftler wollten mit der Idee des Denkmalschutzes nicht mehr nur manche Kunst- oder Altertumsliebhaber, sondern das ganze Volk ansprechen.15 Das „Alter“ der Bauwerke sollte in jedem Mensch, unabhängig davon, zu welcher Nation er gehört, Respekt erzeugen, und für diesen Respekt muss man nach ihrer Meinung nicht das Wissen anhäufen, sondern eine emotionelle, ethische Brücke des Gewissens errichten. Dessen ungeachtet, betrieben sie die Wissenschaft Kunstgeschichte, z. B. in der Wiener Schule seit dem späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert, auf einem 13 14 15

Giannoni, Rückschau und Ausblick. Bausinger, Volkskunde, 54 ff. Hajós, Öffentliches Interesse.

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sehr hohen Niveau und schufen eine zeitgemäße Philosophie der Konservierung. Die Losung lautete: „Konservieren statt restaurieren.“16 Die Wiener Denkmalpfleger und Kunsthistoriker Riegl, Dvorák und Tietze waren um 1900 Verbündete der „Moderne“, deren Vertreter wie z. B. Otto Wagner oder Adolf Loos in Wien die Materialechtheit zum obersten ästhetischen Prinzip der Architektur erhoben und die „verlogenen“ Stilfassaden des Historismus mit dem von ihnen als verabscheut empfundenen pathetischen Geschichtsbewusstsein aus dem 19. Jahrhundert mit einer bis dahin nie gesehenen radikalen Konsequenz abgelehnt haben. Das beste Beispiel dafür ist das Loos-Haus auf dem Wiener Michaelerplatz, das mit seiner Schmucklosigkeit 1910 gegenüber der rekonstruierten Barockfassade der Hofburg einen wahren Skandal auslöste. Durch die Radikalität der Moderne konnte sich die Denkmaltheorie von den geschmacklichen Fesseln der Bauschulen endgültig befreien und quasi autonom als objektive Vertreterin der Vergangenheit in der Gesellschaft fungieren. Das war wissenschaftlich ein großer Gewinn, bedeutete jedoch andererseits auf der wirtschaftlichen Ebene eine Isolierung und Vereinsamung. Die modernen Architekten wollten und konnten nicht mehr gleichzeitig auch Denkmalpfleger sein, wie etwa noch Viollet-le-Duc oder Friedrich von Schmidt, die alte Bauwerke restaurierten und neue Architekturen in historischen Formen parallel zueinander errichtet haben. Geschichte als methodische Definition wurde für den modernen Denkmalschutz seit etwa 1900 nicht mehr als ein frei verfügbares „Schatzhaus der Stilformen“ bzw. ein beliebig reproduzierbarer Depotbestand für neue zivilisatorische Aufgaben betrachtet, sondern streng auf ihren materiellen Urkundenwert fixiert und nun als ein unwiederholbares Produkt des Alters respektiert. Der führende Begriff sowohl in der zeitgenössischen Architektur als auch in der Denkmalpflege wurde die Echtheit (Authentizität), die als nicht ersetzbar betrachtet wurde. Damit musste das Denkmal seine herkömmliche Verbundenheit mit dem nationalen Bewusstsein verlassen und von den politischen Interessen befreit, ein Zeugnis des universellen Naturkreislaufs werden, wie dies 1903 im Modernen Denkmalkultus von Alois Riegl formuliert wurde. John Ruskin folgend, postulierte Riegl den übergeordneten Alterswert eines Denkmals gegenüber dem historischen und künstlerischen Wert (The Seven Lamps of the Architecture, 184917). Dies bedeutete eine radikale utopische Hoffnung, dem modernen messianischen Fortschrittsbewusstsein mit einem modernen Geschichtsbewusstsein zu begegnen. In der Verbundenheit von Heimatschutz und Denkmalschutz um 1900 war viel Positives vorhanden: eine ganzheitliche Vorgehensweise, ohne Trennung von Architektur und Natur, wie es später angesehen wurde, also eine Einheit der Heimat (dieser Begriff hatte damals noch nicht den schlechten Beigeschmack wie nach der NS-Zeit in Deutschland und Österreich). 16 17

Olin, Cult of Monuments. Allen, Seven Lamps.

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Heute bemüht man sich wieder, durch die Begriffe „Umwelt“ und „Kulturlandschaft“ wissenschaftlich-methodisch und auch politisch zu dieser Einheit, die als harmonische Symbiose zwischen menschlichen Kulturbemühungen und ästhetisch positiv wirkenden Naturkräften definiert wird, zurückzukehren. Der Begriff der „Heimat“ wurde aber in der Zwischenkriegszeit immer mehr fetischisiert und verlor seine ursprüngliche fortschrittliche Frische. Eduard Spranger schrieb 1923:18 „Von Heimat reden wir, wenn ein Fleck Erde betrachtet wird unter dem Gesichtspunkt seiner Totalbedeutung für die Erlebniswelt der dort lebenden Menschengruppe. Heimat ist erlebte und erlebbare Totalverbundenheit mit dem Boden. Und noch mehr: Heimat ist geistiges Wurzelgefühl. Eben deshalb kann die Heimat nie als bloße Natur angesehen werden: Sie ist erlebnismäßig angeeignete, folglich durchgeistigte und zuletzt durchaus persönlich gefärbte Natur.“ Obwohl in diesem Zitat vieles zutrifft und gut formuliert wurde (die dahinter stehenden Gedanken gehen ursprünglich auf die Landschaftsdefinition von Alexander von Humboldt zurück), war es jedoch so, dass manche Ideen missbraucht werden konnten und der Abstand zur „Blut-und-Boden-Ideologie“ in der Folge immer geringer wurde. Die beiden auch philosophischen Grundbegriffe „Zeit“ und „Raum“ haben seit dem späten 18. Jahrhundert auch die Dialektik von Evolution und Beharrlichkeit (Aufklärung und Romantik) zum Ausdruck gebracht. Das 19. Jahrhundert hatte in der Geschichtsphilosophie des Historismus mechanistische und dogmatische Erklärungsversuche für eine linear ablaufende Zeit hervorgebracht, die nach 1900 berechtigt kritisiert wurden. So bekam der Raum eine ihm gebührende größere Bedeutung, und diese Gewichtsverschiebung schien und scheint bis heute einer immer weiträumiger werdenden Denkmalpflege zu nützen. Die Gefahr jedoch bestand bzw. besteht darin, dass „überzeitliche“ Komponenten der Kultur, sogenannte Konstanten, zuerst einmal in „völkischen“ und nicht veränderbaren Eigenschaften der Raum bildenden Faktoren gesucht wurden. Der Philosoph Ernst Bloch hat sich – und das ist wenig bekannt – auch mit Riegls Kunst- und Denkmalpflegetheorien beschäftigt und in seinem Begriff „Kunstwollen“ auch die aufkeimende Gefahr der „Kulturkreislehre“ gesehen: Diese arbeitete – so Bloch – mit dem „[...] Vorrang, den dann im Faschismus ganz penetrant das Wort Raum, auch Gestalt vor dem unangenehmen Prozesswort Zeit erlangte. So setzte sich hier, anstelle eines allzu geradlinigen ‚Historismus‘, bei Frobenius, Spengler und anderen ‚Morphologen‘ eine Art ‚Geographismus‘ durch.“19 Diese Argumente und Begriffe wurden, weil politisch durch die NS-Ideologie stark belastet, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geltend gemacht oder diskutiert. Die Problematik der räumlichen Erweiterung des Denkmalbegriffs und damit der Denkmal18 19

Spranger, Bildungswert. Bloch, Philosophie, 167 ff.

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pflege blieb aber erhalten. Die Nationalsozialisten schlossen sich der Fortschrittsfeindlichkeit des Heimatbegriffs noch aus dem 19. Jahrhundert an, kritisierten die gründerzeitlichen Großstädte als Orte der Ausbeutung durch das jüdische Großkapital, der Heimatschutz bekam antisemitische Züge, die sie um 1900 noch nicht oder nur sehr geringfügig hatte. Die Verschmelzung von Heimatschutz und Denkmalschutz im Deutschen Reich hatte dann nach dem Zweiten Weltkrieg all die positiven Errungenschaften verunmöglicht, die anfänglich vorhanden waren. In der Schweiz gab es solche Brüche nicht, heute spricht man dort noch ohne Bedenken über Heimatschutz. Außerdem hören wir kurioserweise in den USA von einem Heimatschutzministerium, dem die Einwanderungspolitik obliegt. Man darf nicht vergessen, dass im frühen 20. Jahrhundert ein Kunsthistoriker jüdischer Abstammung, nämlich Hans Tietze, neben Max Dvorák und Alois Riegl, sowohl theoretisch als praktisch an der Verschmelzung von Denkmalschutz und Heimatschutz die größten Verdienste errungen hatte. Tietze (der sich sicherlich nie als „Heimatschützer“, sondern immer als Kunsthistoriker und Denkmalpfleger verstanden hatte) konnte in den Zwanzigerjahren noch nicht ahnen, dass der Begriff „Heimatschutz“ ziemlich bald von den Nationalsozialisten zur „Blut-und-BodenIdeologie“ missbraucht werden würde. In der Abkehrung der Vorrangstellung der europazentrischen Kunst- und Denkmalauffassung spielte in Wien dagegen Joseph Strzygowski eine große Rolle, der in den Dreißigerjahren ein bekannter Antisemit wurde. Zu dieser Zeit begann die kunsthistorische, denkmalkundliche Analyse auch der alten jüdischen Kunstdenkmäler im Orient (was z. T. auch Strzygowskis Verdienst war), meines Wissens nach wurde aber in Österreich bis zur jüngsten Vergangenheit kein einziges historisches jüdisches Bauwerk oder Friedhof unter Schutz gestellt. So gesehen ist die Situation der Denkmalpflege im frühen 20. Jahrhundert sehr komplex und bedürfte noch einer sehr differenzierten Analyse.

Ensembles und Kulturlandschaften als Bestandteile einer „gesunden“ Umwelt Unmittelbar nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, noch in den Vierzigerjahren, war die Frage der nationalen Identität und der sozialpsychischen Gesundheit der gewachsenen (historischen) Wohnumwelt wieder virulent geworden. Nicht nur in Warschau musste die ganze Altstadt rekonstruiert werden, sondern auch in Deutschland und Österreich wurden die stark demolierten Dome als identitätsstiftende Wahrzeichen wieder und in originaler Form aufgerichtet (wie z. B. der Stephansdom in Wien). Daneben brach aber in den 50er-, 60er- und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auch eine zweite industrielle Gründerzeit auf dem europäischen Kontinent aus: „Geschichte“ wurde durch einen aggressiven, rein auf die wirtschaftlichen Überlegungen zurückgehenden Mo-

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dernisierungsschub vielfach verdrängt, in die Altstädte baute man rücksichtslos im nicht beachteten historischen Kontext unproportional herausragende glatte Büro-, Bank- und Wohntürme hinein. Der Philosoph Jürgen Habermas sprach später von der „solitären Arroganz der Moderne“20, welche das historische Wachstum der Städte, Dörfer und Landschaften überhaupt nicht beachtete. In einer isolierenden Betrachtungsweise – hier Zukunft, dort Vergangenheit – spielte die strenge Konservierungslehre der Denkmalpflege daher weiterhin eine wichtige Rolle. Sie schränkte ihre Aufgaben wie schon um 1900 auf die materielle Authentizität der Denkmale ein und suchte nicht (oder nur selten) das kontextuelle Zwiegespräch mit der von der Denkmalpflege unabhängig agierenden Moderne. Auch die Architekten kümmerten sich in den 1950er- bis 1970er-Jahren nur wenig um die historischen Stil- und Sprachformen, viel zu sehr verpönt und belastend wurde noch immer der Historismus des 19. Jahrhunderts empfunden. Es meldete sich aber bald − parallel mit der ersten aufkeimenden Kritik an der „Moderne“ − schon in den 1960er-Jahren das Bedürfnis oder die Sehnsucht nach verlorenen „Ambienten“, nach gewachsenen Ensembles oder, konkreter gesagt, nach den noch immer existierenden Altstadtkernen als wohltuenden Lebensbereichen im Gegensatz zu den modernen Satellitenstädten. Zwei Bücher sollen hier erwähnt werden: Kevin Lynch, The Image of the City, 1960, und Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965. In beiden Werken ging es darum, die Städte des modernen industriellen Zeitalters nicht nur als Produkte von historischen Entwicklungen und auch nicht nur als Orte von Zukunftsprojekten, sondern auch als psychisch wirkende Gestalten zu begreifen. Bei diesen Lehren wurden freilich die Methoden der „Strukturanalyse“ benützt, die in der Kunstgeschichte schon in der Zwischenkriegszeit bei der Vermittlung von historischen Kunstwerken verwendet wurden. In diesen Betrachtungen wurden die Bewohner als Rezipienten von Eindrücken definiert, die in der Großstadt ihr Alltagsleben entscheidend prägten. Solche Ideen konnten von der Denkmalpflege nicht unbeachtet gelassen werden, denn sie suchten seit Riegl und Dehio nach ihrer eigenen demokratischen und sozialen Verankerung in den breiten Schichten der Gesellschaft, sie wollte nicht mehr nur Bildungsgegenstand für Kunst- und Geschichtswissenschaftler bleiben. Im Begriff des Denkmals erschien seit den 1960er-Jahren zwar zögerlich, aber erstmals auch die unmittelbare Betroffenheit der Nutzenden neben den bis dahin nur von außen schauenden Kunstverständigen als Element einer neuen Identifikation. In diesem Zusammenhang sollte das „Malraux-Gesetz“ in Frankreich genannt werden, wo ab 1960 im Pariser Stadtviertel Marais nicht nur eine breiträumige städtebauliche Restaurierung der alten Häuserblocks, sondern auch eine soziale Revitalisierung des bis dahin veralteten und unrenommierten Wohngebietes eingeleitet wurde. Bald folgte eine ähnliche sozial-denkmalpfle20 Habermas, Unübersichtlichkeit, 11−29.

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gerische Revitalisierung der von den Kommunisten regierten Stadt Bologna, und 1968 wurde auch das österreichische Denkmalschutzgesetz für „Ensembles“ novelliert. In Wien sei als erstes Beispiel einer solchen Revitalisierung die Blutgasse hinter dem Stephansdom genannt. Die großen Methoden der wissenschaftlichen Disziplin Denkmalpflege, nämlich Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion, sind von den Anfängen her auf die Einzeldenkmale gemünzt gewesen, diese konnten nur schwer auf den Kontext der Denkmale, für die das Ganze wichtiger ist als die Summe der Einzelnen, umgeschrieben werden. An diesem methodischen Mangel leidet z. B. die österreichische Denkmalpflege, die noch immer keine befriedigenden juristischen Möglichkeiten hat, ein Denkmal-Ensemble effektiv zu schützen. Denn in einem Ensemble21 sind die nicht verbauten Flächen ebenso wichtig wie die verbauten, auf denen die Einzeldenkmale stehen. So gibt es auch viele noch zu überwindende Schwierigkeiten mit den neuesten Aufgaben der Denkmalpflege: mit dem Schutz der historischen Grünflächen und auch mit dem Schutz von ganzen Landschaften, wo Natur und Kultur untrennbar beachtet werden müssen. Wenn Nation und Heimat die beiden Grundbegriffe der Denkmalpflege vor dem Zweiten Weltkrieg waren, wurden diese dann durch den Begriff Umwelt abgelöst, oder besser gesagt ergänzt. Nicht mehr nur die Verschmelzung von Kunst und Geschichte und auch nicht mehr nur der Respekt den eigenen Vorfahren gegenüber, sondern in einer stark globalisierten und industrialisierten Welt wird die Notwendigkeit der Erhaltung der überall bedrohten Diversität in den Vordergrund gestellt. In der naturwissenschaftlichen Ökologie spricht man über die „Biodiversität“, in den kulturellen Sozialwissenschaften über solche anthropologischen Eigenschaften, die sich in einer „kulturellen Diversität“ äußern. Die Grenzen von „Nation“ und „Heimat“ sollten auch in der Denkmalpflege geöffnet und die großräumigsten Schutzgegenstände (wie Nationalparks oder Kulturlandschaften) weltweit vernetzt werden. Man darf nicht mehr überheblich von der höheren Qualität der eigenen Umwelt ausgehen, sondern man müsste die Vielfalt auch in den Erzeugnissen der „Anderen“ als Reichtum, der jeden Bürger in einer globalisierten Welt gleich intensiv betreffen sollte, respektieren. So ist z. B. die World Heritage List der UNESCO zu verstehen, wo ICOMOS (für die Denkmale der Kultur) und IUCN (für die Denkmale der Natur) kooperieren.22 So entsteht eine neue Philosophie für die Denkmalpflege, in welcher der homogen definierte europäische Begriff „Denkmal an sich“, basierend seit dem 18. Jahrhundert auf dem historistischen Begriff „Geschichte an sich“, nicht mehr existieren kann und wo den diversen Denkmalbegriffen der ganzen Welt – vertikal und horizontal – gleichrangig Rechnung getragen werden muss. 21 22

Hajós, Ensemble, 100 ff. Jacques, Historic Cultural Landscapes.

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&  $  Nach dieser allgemeinen Darstellung der Entwicklung der neuzeitlichen Denkmalschutzidee soll kurz auf die jüngste wissenschaftliche Disziplin der Denkmalpflege, nämlich in die Gartendenkmalpflege, eingegangen werden.23 Diese war bis um 1980 in den europäischen Denkmalämtern nicht systematisch und eigenständig, meist überhaupt nicht vorhanden. Die Vertreter der Baudenkmalpflege mit ihrer mehr als hundertjährigen methodischen Tradition konnten mit Pflanzen nur wenig bzw. nichts anfangen. Diese waren lebendig, einem Wachstum und Absterben ausgesetzt, also nicht statisch wie die Bausteine – wie sollte man sie restaurieren oder gar konservieren? In den späten 1970er-Jahren entstanden an mehreren Stellen in Europa wichtige Aktivitäten, die schließlich dazu geführt haben, dass es heute schon fast in jedem Denkmalamt entweder einen Referenten oder eine kleine Abteilung für Gartendenkmalpflege gibt. An erster Stelle soll ein internationales Komitee im ICOMOS für historische Gärten genannt werden, das unter der Federführung des belgischen Gartenarchitekten René Pechère konstituiert wurde. ICOMOS (International Committee for Monuments and Sites) ist eine weltweite Organisation bzw. ein Verein für Denkmalpflege, der schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aktiv ist. Das Spezialkomitee für historische Gärten umfasste viele engagierte Fachleute und wurde von Anfang an mit IFLA (International Federation of Landscape Architects) verbunden, um noch effektiver zu arbeiten. Regelmäßig wurden Tagungen abgehalten. Ziel war es, die Disziplin Gartendenkmalpflege nicht nur in das Bewusstsein der zuständigen Behörden, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit zu verankern. 1981 arbeitete man hier eine sogenannte „Charta von Florenz“ aus, in der die methodischen Prinzipien in vielen Punkten formuliert wurden. Heute ist diese Charta in viele Sprachen übersetzt und überall akzeptiert, wenngleich einige Aktualisierungen notwendig wären. In Deutschland war Dieter Hennebo24 seit den 1960er-Jahren an der Universität Hannover für die gartengeschichtliche Ausbildung der Landschaftsarchitekten tätig. Er hatte viele Schülerinnen und Schüler, die von ihm bei ihren Neuplanungen vertiefte gute Kenntnisse in der Geschichte der Gartenkunst erhalten haben. Ein vergleichbares Institut mit einem solchen wissenschaftlichen Anspruch existierte anderswo lange Zeit nicht. Hennebos Lehrtätigkeit war es zu verdanken, dass in den späten 1970er-Jahren innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftspflege (DGGL) ein Arbeitskreis für historische Gärten gegründet wurde, der ähnlich wie das ICOMOS-IFLA-Komitee jährliche Treffen veranstaltet, wo alle wichtigen Fachleute von Deutschland zusammenkommen, Projekte diskutieren und bei gegebenen Anlässen öffentlich für die Belange der Gartendenkmalpflege auftreten. 23 Hennebo, Gartendenkmalpflege. 24 Hennebo, Gartendenkmalpflege.

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Vor der Wende gab es in der DDR schon lange eine Fachabteilung für historische Gärten im Institut für Denkmalpflege unter der Leitung von Detlef Karg, und man versuchte ab etwa 1980 vom Westen her, die dortigen Referenten immer intensiver anzusprechen. In WestBerlin hat man ab 1979 eine große Abteilung für Gartendenkmalpflege aufgebaut, und Klaus von Krosigk war es zu verdanken, dass hier mustergültige Gartenrestaurierungen (wie z. B. im Schlosspark von Klein-Glienicke) durchgeführt wurden. In England fanden seit den 1930er-Jahren immer wieder auch große Gartenrestaurierungen statt, dort gab es jedoch keine institutionelle Organisation, die diese Arbeiten behördlich koordiniert hätte. Zu den wichtigsten diesbezüglichen Aktivitäten der 90er-Jahre gehörte die mustergültige Revitalisierung von Painshill Park, wo erstmals aufgrund der Forschungen von Mark Laird historische Pflanzen aus dem 18. Jahrhundert systematisch wiederverwendet wurden. Auch in Frankreich und Italien, in Spanien und den Niederlanden gab es viele Fachleute, vor allem Gartenarchitekten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv um die Erhaltung der bekanntesten historischen Gärten und Parkanlagen gekümmert haben, eine internationale methodische Diskussion wurde aber in diesen Ländern erst nach der erwähnten Initiative von René Pechère ermöglicht. Im von ihm gegründeten ICOMOS-IFLA Internationalen Komitee für historische Gärten, dessen Name vor einigen Jahren auf „für Kulturlandschaften“ verändert wurde, konnten alle positiven Kräfte zuerst in Europa und dann in der ganzen Welt gebündelt werden. Der Name der spanischen Gartenarchitektin Carmen Anon Feliú ist zu erwähnen, die nach Pechère den Vorsitz dieses Komitees übernahm und die auf diesem Gebiet jahrzehntelang Großartiges geleistet hat, sie erhielt 2008 von ICOMOS eine selten vergebene große Auszeichnung dafür. Zu den spektakulärsten gartendenkmalpflegerischen Aktivitäten in Europa von 1980−1990 gehörten die Rekonstruktionen von Het Loo in den Niederlanden und Hampton Court in England. In beiden Fällen ging es darum, im Umfeld von Barockschlössern schon lange verschwundene Gärten nach intensiven Forschungen so wiederherzustellen, dass der heutige Besucher ein präzises Bild davon bekommen kann, wie ein Barockgarten wirklich ausgesehen hat. Hier wurde erstmals die Gartenarchäologie systematisch eingesetzt, heute schon überall ein „Muss“ vor jeder Restaurierung. Beide Anlagen wurden und sind noch immer ein großer touristischer Erfolg, obwohl man heute solche totalen Rekonstruktionen schon ablehnt und man die dort bis 1980 vorhandenen Anlagen aus dem 19. Jahrhundert zugunsten einer Rekonstruktion nicht mehr zerstören würde. In beiden Fällen war es jedoch verführerisch, im Erdboden so viele bauliche Reste und auch Relikte von Pflanzen zu finden, die für die Verantwortlichen als verlässliche Grundlage für eine Wiederaufführung der barocken Gartenwelt genutzt wurden. Das Prinzip lautete: Die Einheit von Schloss und Garten sollte wiedergewonnen werden. Heute respektiert man die späteren Entwicklungen einer Gartenanlage auch dann, wenn diese Brüche und Inhomogenität bedeuten.

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Wir haben derzeit manche gegensätzlichen Positionen in der Methodik der Gartendenkmalpflege, weil die manchmal effekthascherischen Rekonstruktionen aus touristisch-politischen Gründen scheinbar überhandnehmen, auch in der Baudenkmalpflege, man denke in diesem Zusammenhang an die geplante Rekonstruktion des Berliner Schlosses. Auch die Diskussion um die Rekonstruktion der Heidelberger Schlossgarten-Terrassen löste große emotionelle Kontroversen aus. Es gibt eine gartendenkmalpflegerische Gruppe um die Dresdner Gartenhistorikerin Erika Schmidt, die jedwede Rekonstruktion von Pflanzenbeständen radikal ablehnt und den Garten als „offenes Kunstwerk“ definiert. Das heißt, die Veränderungen, die Prozesshaftigkeit des Gartens und nicht die Wiederherstellung seiner „ursprünglichen Zustände“ wird in den Vordergrund gestellt. In dieser Diskussion sind die Grundpfeiler der Denkmalpflege an sich schon infrage gestellt, denn die Hauptaufgabe des Denkmalschutzes besteht eigentlich darin, die Erinnerung an die vergangenen Kulturepochen sinnlich, also anschaulich wachzuhalten. Wir in Österreich haben immer versucht, einen methodisch ausgewogenen Mittelweg zu verfolgen, wo Konservierung, Restaurierung und Rekonstruktion in den historischen Gärten von Fall zu Fall abgewogen eingesetzt werden.

' $   &  $  (

 )25 1964 hat der Verfassungsgerichtshof im Rahmen eines Verfassungerkenntnisses die historischen Gärten dem Denkmalschutz entzogen. Hier ging es um einen Konflikt zwischen Naturschutz und Denkmalschutz in einer Salzburger Urzeithöhle, wo Reste der menschlichen Kultur gefunden wurden. Naturdenkmale wie Höhlen gehörten seit den 1920er-Jahren bis um 1960 zum Bundesdenkmalamt. Nach der österreichischen Verfassung ist Naturschutz Ländersache, Denkmalschutz dagegen Bundessache. Der Verfassungsgerichtshof versuchte eine klare Trennlinie zwischen den Produkten der Natur und der Kultur zu ziehen und stellte in einem Nebensatz dieses Erkenntnisses fest: Die gestalteten Naturformen wie Parks sind keine Kulturdenkmale, denn an ihrem Zustandekommen hat die Natur einen größeren Anteil als der menschliche Schöpfungswille. Diese blamable Entscheidung von „schwarzweißsehenden“ Juristen behinderte das Bundesdenkmalamt ab 1964, historische Gärten unter Schutz zu stellen. Diese Juristen verstanden nicht wirklich, was das Wesentliche in einem Garten ist: Nämlich nicht nur seine lebendigen und toten Baustoffe, sondern auch seine Komposition, sei es geometrisch wie in den Barockgärten oder malerisch wie in den sogenannten englischen Parks. 25

Hajós, Gartenforschung. – Ders., Historische Gärten, 58−64.

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Nach Jahrzehnten einer Lethargie hat Gerhard Sailer, Präsident des Bundesdenkmalamtes, 1986 ein Referat für historische Gartenanlagen eingerichtet, das der Unterzeichnete bis 2007 geleitet hat. 1991 wurde auch eine Österreichische Gesellschaft für historische Gärten gegründet und diese beiden Institutionen haben dann mithilfe von engagierten und prominenten Persönlichkeiten 1999 endlich erreicht, dass das österreichische Denkmalschutzgesetz für die historischen Gärten novelliert wurde. Damals wurde ein Disput zwischen Bund und Ländern wegen der Bundesstaatenreform geführt, die Länder wollten die Kompetenz Denkmalschutz für sich beanspruchen. So konnte die damalige Ministerin Gehrer das Einverständnis der Landeshauptleute nur für eine geringe Zahl von Garten- und Parkanlagen (56 Anlagen) als „Bundesdenkmale“ erreichen. In der entscheidenden Sitzung des Parlaments im Sommer 1999 wurde dann noch der verhängnisvolle Beschluss gefasst, dass etwa 30 Privatgärten von diesen 56 nur im Einvernehmen mit dem Eigentümer unter Schutz gestellt werden dürfen. Bei dieser kleinen Gruppe aus allen Bundesländern war kein einziger Friedhof als Grünanlage dabei. Um die Realität vor Augen zu halten, muss man erwähnen, dass es nach rund 20-jähriger Inventarisierung durch Eva Berger26 an der Technischen Universität Wien in Österreich etwa 1.800 historische Grünanlagen gibt, die man eigentlich – wie in allen zivilisierten Ländern der Welt – unter Denkmalschutz stellen sollte. Die Zahl der geschätzten und schutzwürdigen Baudenkmale beträgt etwa 40.000. In dieser in Europa in gartendenkmalpflegerischer Hinsicht einzigartigen und absurden Situation hat sich der Verfasser bemüht, zwischen 1986 und 2007 doch eine funktionierende Gartendenkmalpflege aufzubauen. Einen Großteil der Aktivitäten machte die fachliche Beratungstätigkeit aus, bisher konnten nur ungefähr 25 Gartenanlagen voll rechtskräftig unter Denkmalschutz gestellt werden. Um die prominentesten zu nennen: die Gärten und Parks des Bundes und von Stadtgemeinden oder im Besitz eines Landes wie Schönbrunn, Belvedere, Volksgarten, Burggarten, Rathauspark, Türkenschanzpark in Wien, Hofgarten und Ambras in Innsbruck, Laxenburg und Schlosshof in Niederösterreich, Mirabell in Salzburg usw. Trotz der mangelnden gesetzlichen Lage entstand in den letzten 20 Jahren in Österreich so etwas wie ein neues kulturelles Bewusstsein für das Gartenerbe des Landes. Und das ist eigentlich noch wichtiger als die Gesetze.

Jüdische Friedhöfe Der Denkmalschutz für Friedhöfe war nie ein wirkliches Problem, wenn es um einen christlichen Friedhof und um die Erhaltung von einzelnen künstlerisch-kulturell-geschichtlich wich26 Abgeschlossen 2002.

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tigen Grabdenkmälern ging.27 Vor etwa 10 bis 15 Jahren hatte die Gemeinde Wien beschlossen, endlich die weitgehend schadhaften Grabdenkmäler im unter Denkmalschutz stehenden St. Marxer Friedhof zu restaurieren. Mit einem Projekt wurde damals der städtische Denkmalpfleger Roland Schachel beauftragt. In letzter Minute konnte sich auch die kleine Abteilung für historische Gärten einschalten und ihrerseits wurde die Landschaftsplanerin Cordula Loidl-Reisch beauftragt, den Friedhof nicht nur als eine Summe von Grabdenkmälern, sondern auch als eine Gesamtanlage zu berücksichtigen. Schachel vertrat die Meinung, dass die dicht an den Grabdenkmälern wachsenden Fliederbüsche (damals schon fast in Baumstärke) unbedingt entfernt werden müssten, damit man alles richtig fotografieren könne und die Restauratoren ihre Arbeit unbehindert erledigen könnten. Loidl-Reisch versuchte, ein schonendes Herangehen vorzuschlagen, denn in unseren Augen hatte dieser Biedermeierfriedhof seine Faszination nicht geringfügig in den Verwilderungsprozessen, die bei der Blüte dieser alten Gewächse eine unglaublich dichte Stimmung hervorgerufen haben. Damals gab es seitens der Baudenkmalpfleger und Steinrestauratoren ein großes Unverständnis gegenüber der von der Abteilung für historische Gärten vertretenen Ansicht, dass Pflanzen und Bauwerke manchmal ein unzertrennliches Ensemble bilden, das nicht so schnell ersetzbar ist. Die Sanierung der Baumalleen im St. Marxer Friedhof war dagegen kein Problem. Die später erfolgte Restaurierung des gesamten Friedhofes ging schlussendlich doch in Kompromisse ein, und heute kann der Besucher noch immer viele alte Fliederbüsche an den Grabdenkmälern genießen, obwohl sie freilich etwas ausgelichtet wurden. Die Gartendenkmalpflege führt oft einen hoffnungslosen Kampf in der hierarchischen Denkweise der gesamten Denkmalpflege – nach dem Motto „zuerst Bauwerk, dann Grünzeug“ – und es ist nicht einfach, hier eine befriedigende Kooperation zu erzielen. Es wird als Argument stets die Schädigung durch Vegetation als Argument angeführt. Wir wissen aber aus zahlreichen Beispielen, dass es trotz der tatsächlichen Gefahren immer wieder Lösungen gibt, beiden Komponenten eines Gesamtkunstwerkes, den lebendigen und den toten „Bausteinen“ einer Freiraumkomposition, das Weiterleben zu ermöglichen. Einen ähnlichen und noch drastischeren Fall stellen die Fassadenbegrünungen dar (Adolf Loos hat z. B. solche künstlerisch vorgesehen). Efeu und Veitschi sind die Hauptfeinde der Bauhandwerker, wenn es um die Restaurierung einer Fassade geht. Man kennt aber heute schon Methoden, diese grünen „Vorwände“ sorgfältig abzutrennen und dann an die erneuerte Fassade wieder anzukleben. Klimatisch bieten Pflanzen oft einen gern gesehenen Schutz für Bauwerke. All diese Probleme sind schon bekannt oder werden bei der Restaurierung von jüdischen Friedhöfen wieder auftauchen.28 Wir sind aber froh, dass jüdische Friedhöfe überhaupt als 27 Kitlitschka, Grabkult & Grabskulptur. – Bund Heimat und Umwelt, Historische Friedhöfe. 28 Keil/Forisch/Scheiber, Denkmale.

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intendierte Objekte des Denkmalschutzes angesehen werden. Sie wurden in den ersten beiden großen Perioden der europäischen Denkmalschutzbewegung in keiner Weise als denkmalwürdig angesehen. Weder im Sinne der nationalen Identität noch im Sinne des Begriffs Heimat.29 Die Juden gehörten weder zur bürgerlichen Nation der neuzeitlichen Staaten noch dazu, was man später als eigene Heimat definiert hatte und für die Zukunft retten wollte. Ihre Denkmäler (Grabdenkmäler, Synagogen usw.) waren im Kontext von Denkmallandschaften fremd geblieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, bei uns eigentlich erst im späten 20. Jahrhundert, als der Denkmalbegriff die Grenzen der nationalen Bedeutungswürdigkeit und des heimatlichen Ahnenkults in Richtung des neuen Grundbegriffs Umwelt überwunden hatte oder überwunden zu haben scheint und weltweit moralisch vernetzt wird, wurde es möglich, darüber zu diskutieren, dass der jüdische Friedhof in Währing ein Denkmal in Österreich und von Österreich ist. Erst zu dieser Zeit begann man zu verifizieren, dass auch Minderheiten mit ihren kulturellen Schöpfungen zur nationalen Identität, zur Gesamtheimat und zur schützenden Umwelt eines jeden Landes eng dazugehören. Dieser Prozess ist noch im Gange, wird aber von vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern noch immer nicht verstanden. Nach der Ermordung von 65.400 und der Vertreibung von mehr als 112.000 österreichischen Juden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges leben heute in Wien nur mehr etwa 7.000 Mitbürger mosaischen Glaubens. Es gibt also fast keine Nachkommen, die ihre Grabstätten pflegen könnten. Der jüdische Teil des Zentralfriedhofs ist 260.000 m2 groß, mit etwa 60.000 Gräbern. Jahrzehntelang war auch dieser Denkmalbereich völlig verwahrlost und verwildert. Seit 1991 hat sich die Situation etwas verbessert, als der Verein Shalom – Verein zur Wiederherstellung und Erhaltung der jüdischen Friedhöfe auf Initiative des Wiener Kaufmanns Walter Pagler gegründet wurde. Es konnten zahlreiche Wege saniert, eine Gesamtsäuberung von Bruchholz, Laub und Abfall erfolgen, manche Grabstätten schon renoviert werden und es fand ebenfalls eine ökologisch richtige Durch- und Aufforstung statt. Patenschaften für einzelne Grabdenkmäler wurden gegründet. Trotzdem werden noch immer viele wertvolle Eisengitter weggeworfen. Es gibt heute schon ein von Tina Walzer bearbeitetes, vom österreichischen Staat gefördertes, wissenschaftlich fundiertes Grundinventar der jüdischen Friedhöfe;30 die Grundpfeiler für eine Weiterarbeit sind also gelegt. Die jüngste Auslegung des Denkmalbegriffs ermöglicht dies. Es wäre aber ein großer Fehler, wenn die 68 jüdischen Friedhöfe in Österreich uns als Einwohner mit christlicher Tradition und Begräbniskultur nur zu romantischen Gefühlen 29 Verwaiste jüdische Friedhöfe. 30 Walzer, Weißbuch Friedhöfe Österreich 2001−2002 und 2008.

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und voyeuristischen Sensationslust verleiten würden. Diese Friedhöfe sollten uns vielmehr dazu dienen, unsere eigene Vergangenheit kritisch zu verarbeiten. Erhard Busek schrieb in einer 2006 erschienenen Publikation des Clubs Niederösterreich über jüdische Friedhöfe mit dem Titel Hinter dem Vorhang der Idylle31: „Die Romantisierung im Umgang mit allem, was mit dem Judentum und mit der jüdischen Geschichte zu tun hat, erlaubt es, diese Begrifflichkeiten wieder in ein romantisches Vokabular aufzunehmen und der Ideologie zugänglich zu machen.“ Und er zitiert den französischen Philosophen Alain Finkielkraut aus seinem Buch Die vergebliche Erinnerung32: „Ganz so als wäre nichts geschehen, als hätte keine Katastrophe unsere Epoche zu einer Epoche der Trauer gemacht, sinkt die Nacht der Idylle wieder auf uns herab.“ Erwin Pröll und Ernst Scheiber schrieben 2006 im Vorwort desselben Buches: „Wir dürfen in unserer Begegnung mit dem Judentum jedoch nicht nur einen nostalgischen Blick in vergangene Jahre werfen und nicht dem Fehler unterliegen, jüdische Geschichte zu romantisieren, denn selbige war geprägt von Ausbeutung, Verfolgung und Vernichtung. Vielmehr sollte uns Aufgabe sein, unseren Landsleuten mosaischer Konfession Heimat in unserer Gesellschaft zu geben, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Weltbild in einer Zeit, die ihren Bürgern Liberalität und Internationalität abverlangt, uns zum Vorbild werden könnte.“33 Noch im letzten Jahr meiner aktiven Tätigkeit vor dem Sommer 2007 lud mich die Landeskonservatorin für Wien – seit Juni 2008 Präsidentin des Bundesdenkmalamtes, Barbara Neubauer – zu sich und bat um Hilfe bei der wissenschaftlichen Untersuchung des Währinger jüdischen Friedhofs34. In verdienstvoller Weise wurde von ihr schließlich 2008 ein Parkpflegewerk beauftragt und der kürzlich ernannte Landeskonservator für Wien, Friedrich Dahm, und das Landschaftsarchitekturbüro Stefan Schmidt beschäftigten sich mit dieser Arbeit sehr intensiv.35 Es ist erfreulich, dass ein historischer jüdischer Friedhof nicht nur als Addition seiner Grabdenkmäler, sondern auch als Ganzes mit der komplexen Problematik der Grüngestaltung, der Gartendenkmalpflege und der ökologischen Verwilderung bei uns in Österreich im Rahmen eines internationalen Kongresses im November 2008 diskutiert wurde. Zusammen mit allen rituellen Wünschen und Vorschriften der Juden, mit den Bau- und Steinmetzfragen, die bis jetzt auch in Wien schon aufgetaucht sind. Bei einem Symposion in April 2008 in Berlin wurde die wissenschaftliche Untersuchung des größten jüdischen Friedhofs von Deutschland in Berlin-Weißensee vorgestellt. Das Lan-

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Keil/Forisch/Schreiber, Denkmale, 36−42. Finkielkraut, Vergebliche Erinnerung. Keil/Forisch/Schreiber, Denkmale, 7−10. Hlavac/Schmidt/Walzer, Jüdischer Friedhof, 28 ff. Parkpflegewerk, Währing.

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desdenkmalamt in Berlin hat beschlossen, diese Anlage für die UNESCO-WeltkulturerbeListe zu nominieren.36 In Deutschland, wo die Gartendenkmalpflege viel besser als bei uns gesetzlich und praktisch etabliert ist, hat man überhaupt keine Schwierigkeiten, viel Geld und Energie für eine solche Aktivität zu investieren. In der Diskussion in Berlin tauchte der Gedanke auf, ob es nicht möglich wäre, unsere äußerst schwache österreichische Gartendenkmalpflege mit einem internationalen Vorgehen – gerade am Beispiel eines jüdischen Friedhofs – zu stärken und damit unsere gesetzliche Situation zu verbessern. Es entstand die Idee einer möglichen mitteleuropäisch ausgerichteten Nominierung für jüdische Friedhöfe für die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO. Seit der Aufklärung spielten die Juden in der deutschsprachigen Kultur von Preußen und der österreichischen Monarchie eine ähnlich wichtige Rolle. Berlin kann man gut mit Wien, Budapest oder Prag vergleichen. Es wäre also eine großartige Initiative gewesen. Ein weiterer Kongress sollte vorbereitend arbeiten, jedoch gab es für eine solche Aktivität keine finanzielle Unterstützung, trotz der Zuständigkeit des Unterrichtsministeriums und obwohl das Bundesdenkmalamt in diesem Zusammenhang schon verdienstvolle Maßnahmen gesetzt hat und die Frage der Erhaltung bzw. Pflege der jüdischen Friedhöfe die breite Öffentlichkeit in letzter Zeit sehr bewegt. Obwohl wenig Hoffnung besteht, dass der gesetzliche Schutz der historischen Grünanlagen in Österreich – zu denen auch die Friedhöfe gehören – in naher Zukunft wesentlich verbessert sein wird, so dürfen wir den Kampf um die Erinnerung in unserer gesamten kulturellen Umwelt nicht aufgeben. Es ist allerdings sehr interessant, dass der K. K. Zentralkommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale im Jahr 1909 eine Fachbeurteilung der Restaurierung des Israelitischen Friedhofs in Wien IX. Seegasse 9 veröffentlicht hat, die sehr fortschrittliche Ansichten vertrat: „Zu vermeiden wäre alles, was die große Stimmungswirkung beeinträchtigen könnte, so das Fällen der Bäume, die Beseitigung des unregelmäßigen Graswuchses, Anlegung einer gartenmäßigen Bepflanzung, Anlegung von Schutzdächern über einzelnen Grabsteinen, Überarbeitung der selben oder das Ausziehen der Inschriften in Farbe oder Gold.37 Damals bei der Begründung der modernen Denkmalpflege durch Alois Riegl und Max Dvorák spielte die Stimmungswertigkeit der „gewachsenen“ Ensembles eine wichtige Rolle.

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Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee. Ergebnisse des Experten-Kolloquiums am 17. April 2008, Technische Universität Berlin, Manuskript hrsg. von J. Cramer, J. Haspel und H. Simon. In: Mitteilungen der k. k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale, III. Folge, Bd. VIII, Nr. 7 (Juli 1909), S. 352 f.

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Grenzenlos und globalisiert. Sefardische Grabkunst in der Alten und der Neuen Welt

Über den Tod hinaus Unter prunkvoll verzierten Grabplatten, Sarkophagen und Pyramidalgräbern (ohalim) und gerühmt in bewegenden Eulogien und mit kunstvollen ein- oder zweisprachigen Epitaphien in hebräischer, portugiesischer oder spanischer Sprache, die von messianischer Hoffnung, von Sehnsucht nach Erlösung und vom enganho und desenganho, den Täuschungen und den Enttäuschungen der eitlen Welt, erzählen,1 schlafen ihren letzten Schlaf die Hahamim, die Weisen, und Talmidei Hahamim, die Talmudgelehrten, sowie die Stützen der Portugiesengemeinde – Rabbiner, Kantoren, Gemeindeälteste und Kaufleute – in effektvoll in Stein gehauenen theatralischen Arrangements. Beweint von Engeln, Putti, Eroten und Grazien, die Draperien halten (Abb. 1); beschützt von Engeln und Vögeln und gegenständigen Löwen unter Kronen. Unübersehbar setzen packende biblische Szenen, die besonders zwischen 1660 und 1760 in Hamburg, Glückstadt, Ouderkerk und Curaçao beliebt waren (und die den deutschen Juden immer fremd waren),2 den Vornamen des Verstorbenen effektvoll in Szene (Abb. 4–7). Familienwappen mit Sturmhaube und Marquishelm verweisen auf eine (angebliche) durch einen Taufpaten erworbene aristokratische Herkunft,3 dazu phantasievoll illustrierte Familiennamen wie Chaves (Schlüssel), Lobo (Wolf ) oder Ferro (Anker) und üppig dekorierte Blumenkörbe oder Blumenvasen, wie sie in der holländischen Sepulkralkunst so beliebt waren : Rankengebinde und weinlaubumrankte Säulen, Palmwedel, Kränze, Blumensträuße, Fruchtornamente, Knospenbündel und Trauben, die Weisheit, Fruchtbarkeit und Israel sym1 2

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Studemund-Halévy, Persistence of Images. Wischnitzer, Friedhofskunst, 688: „Den deutschen Juden ist der Bilderkreis, dem die portugiesischen Juden ihre Darstellungen entnehmen, Putten, Totenschädel, Stundengläser, Engel- und Fledermausflügel, ritterliche Wappen mit Federbusch usw., immer fremd geblieben. Auch widerstrebte es ihnen offensichtlich, biblische Stoffe für die Grabplastik heranzuziehen, was die Portugiesen [...] mit Vorliebe taten.“ Künzl, Jüdische Grabkunst, 93. Wegen der zahlreichen Aristokraten jüdischer Herkunft unterscheidet der portugiesische Adel noch heute zwischen puritanos (reinen Juden) und reparos de judaismo (Aristokraten mit jüdischer Herkunft).

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bolisieren; und seltener ein aufgezogener Parochet oder ein ausgebreiteter Königsmantel mit Bekrönung, vermutlich ein Hinweis auf den dänischen Wappenmantel bzw. das Wappenzelt.4 Mütter halten zärtlich und fürsorglich ihre Kinder an die Brüste, der Knochenmann kämpft vergebens mit der himmlischen Macht um einen Sterbenden (Abb. 2) und auf dem kastenförmigen Grabstein eines Mitglieds der Beerdigungsbrüderschaft künden Totenschädel, Schaufel, Tau und Leiter vom Ehrenamt des Verstorbenen (Abb. 3). Überall vanitas oder memento-mori-Motive wie Totenschädel (mit oder ohne gekreuzte Knochen), Stundenglas, Engel- und/oder Fledermausflügel, geschnittene Rosen oder gefällte Bäume, als Relief dekorativ in eine Kartusche gesetzt, als Zeichen für den plötzlichen und zu frühen Tod oder als Strafe Gottes.5 Alles Bilder und Bildprogramme, die seit jeher unbestreitbar Teil jüdisch-kulturellen Lebens gewesen sind, von der Synagogenmalerei der Antike bis zu der jüdisch-katalanischen Buchmalerei des Mittelalters und den kostbar dekorierten jüdischen Heiratsverträgen des 17. und 18. Jahrhunderts. Beeinflusste der Amsterdamer Buchdruck die Grabkunst der „Portugiesen“ im 17. Jahrhundert, so übte gewiss auch die Hamburger und Altonaer Buchmalerei des 18. Jahrhunderts einen nicht geringen Einfluss auf die Grabkunst der portugiesischen und deutschen Juden aus,6 was zum Beispiel das dekorative Titelblatt der berühmten Amsterdamer Haggada aus dem Jahre 1695 belegt, das von Hamburger und Altonaer Künstlern kopiert wurde. Mit aller Macht versuchten die ins normative Judentum zurückgekehrten Portugiesen, sich eine jüdische Vergangenheit zurechtzulegen und Traditionen regelrecht zu erfinden. Unter den großen portugiesischen Familien Amsterdams und Hamburgs wurde es Mode, Genealogien und Familienchroniken zu erstellen oder in Auftrag zu geben. Vielleicht ist der dekorative Stamm- oder Lebensbaum auf sefardischen Gräbern, die mit einer Ausnahme (in Ouderkerk) nur in Hamburg nachgewiesen sind, als ein Neuanfang nach der Rückkehr ins 4

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Auf dem aschkenasischen Friedhof im dänischen Mølegade zeigt auch das Grab der 1731 gestorbenen Särche Goldschmidt diesen Königsmantel, siehe dazu Gelfer-Jørgensen/Kryger, Jewish Sepulchral Art, 233; Abb. 134. In der Haggada von 1739 setzte der Kopist Uri Feibusch das Anfangswort in ein bekröntes Schild, das von zwei bärtigen und Keulen haltenden Männern oder „Wilden Männern“ gestützt wird, die einen purpurfarbenen und mit Hermelin gefütterten königlichen Mantel tragen. Das Wappenschild ist Teil der traditionellen Darstellung des dänischen National- und Königswappens, vgl. Fishof, Buchmalerei, 235−238. − Goudz, Grabsteinkunst. Zur sefardischen Grabkunst auf Hamburger Friedhöfen siehe Studemund-Halévy, Theatrum Sefardicum. − Studemund-Halévy, Persistence of Images. − Studemund-Halévy, Grabkunst, 110−125 − Studemund-Halévy, Pedra e Livro, 251−273. – Grunwald, Portugiesengräber. − Weinstein, Altona. − Weinstein, Women. − Künzl, Jüdische Grabkunst. − Ein Vergleich zwischen den aschkenasischen und sefardischen Grabmälern am Beispiel von Frankfurt, Prag und Ouderkerk, in: Graetz/Künzl, Städtebilder, 129−138. − Graetz/Künzl, Künstlerische Gestaltung, 165−174. – Jakstein, Grabsteine. Fishof, Buchmalerei.

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Judentum zu verstehen und als ein Versprechen auf ein neues jüdisches Leben. Vor allem aber zeugen sie von dem Stolz der ex-conversos und Neu-Juden, die häufig erst über dramatischen Umwegen den Weg in das normative Judentum gefunden haben.7 Ein außergewöhnlicher Stammbaum, der eine große Ähnlichkeit mit dem aus dem iberischen Buchdruck bekannten „Weisheitsbaum“ (arbor scientiae) aufweist,8 befindet sich auf dem Grabstein des Gideon Abudiente, Vater des berühmten Grammatikers und Verfassers des messianischen Predigtbuches Fin de los Días (Glückstadt/Hamburg 1666), Mose Gideon Abudiente. In die Zweige eines verasteten Baums sind neben rätselhaften Einzelbuchstaben und Vögeln die Namen seiner sieben Kinder gehängt: Imanuel, Netanel, Pahdiel, Abraham, Simson, Ester und Mose.9 Wenig verwunderlich also, dass sich die herausgehobene gesellschaftliche Stellung der portugiesischen Großkaufleute und Residenten ostentativ auch in der von der italienischen Renaissance beeinflussten Sepulkralkunst zeigte, hier vor allem in Hamburg und Amsterdam.10 Prunkten die Portugiesen anfangs mit der ostentativen Opulenz des Steines (Größe, Material), wie es uns eindrucksvoll das Grabmal des 1623 in Amsterdam verstorbenen Seidenhändlers Yishak Franco Medeyros zeigt, so trat diese allmählich zugunsten einer raffiniert inszenierten bildlichen Dekoration in den Hintergrund. Dieser Wandel war vor allem den Beziehungen der Portugiesen mit der calvinistischen und lutherischen Gesellschaft geschuldet, die diese Kunst virtuos einsetzte, um religiöse Reformen sichtbar voranzubringen.11

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So halten auf dem Grabstein des Gideon und der Judit Cohen Lobatto die Baumblätter bis zum Ende aller Tage die Namen ihrer elf Kinder fest: Abraham, Ester, David, Netanel, Reuel, Jacob, Joseph, Isaac, Mose, Simson und Rahel. Auf dem Grabstein der Jael Benveniste tragen Palmblätter die Namen ihrer zehn Kinder: Abraham, Joseph, Mose, Aron, Daniel, Sara, Ester, Rahel, Hana und Ribca. Ebenfalls auf einer Palme sind die Namen der elf Kinder des Ehepaars Clara und Josua Palache vermerkt: Graça, Simha, Graça, Joseph, Abigail, Lidisa, Jacob, Rahel, Haim, Ester und Josua. StudemundHalévy, Persistence of Images. Anselmo, Portugal, 176. Dieses Motiv geht möglicherweise auf den portugiesischen Buchdruck bzw. auf den kabbalistischen Baum des spanischen Philosophen Raimundus Lullus zurück, siehe dazu Studemund-Halévy, Grabkunst. Panofsky, Tomb Sculpture. − Scholten, Sumptous Memories. Stuart, Community, 312. – Wischnitzer: Friedhofskunst 687−688: „Während die deutsch-jüdische Grabplastik im 16. und 17. Jahrhundert sich mühevoll die brauchbaren Elemente im herrschenden Stil zusammensuchte … bauten die Portugiesen ihre Grabmäler auf der Grundlage einer kräftigen Tradition, einer bodenständigen Überlieferung aus. Sie stützten sich, wie die christlichen Völker des Abendlandes, auf die mittelalterliche Grabplattentype und stutzten diese, genau wie es die andern taten, in der Formensprache des Barock zurecht. Dass die reiche Formenwelt der zeitgenössischen Kunst ihnen wohl vertraut war, bezeugen die herrlichen Reliefbilder, die man auf den platt im Rasen liegenden Steintafeln auf den eigenartig wirkenden Portugiesenfriedhöfen und besonders auf dem bedeutendsten unter ihnen, der Begräbnisstätte in Ouderkerk, bewundern kann.“

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Der aufmerksame Betrachter machte also mit einer Kunst Bekanntschaft, die bewusst und kunstvoll mit der jüdischen (Neu-)Erfahrung spielte, die über mehrere Generationen ja auch eine neu-christliche war.12 Die Grabsteine der Portugiesen erzählen die Geschichte einer über hundert Jahre währenden Anpassungs- und Akkulturationsbemühung an das normative Judentum und an die christliche Mehrheitsgesellschaft. Sie sind bewegender Ausdruck einer neuen visuellen Sensibilisierung, bedingt durch ein Leben in einer calvinistischen oder lutherischen Welt. Als Neu-Juden waren sie gezwungen, sich mit den kulturellen und sozialen Strömungen ihrer Zeit auseinanderzusetzen und eine neue visuelle Sensibilität, die besonders durch den Buchdruck christlicher und jüdischer Drucker gefördert wurde, zu entwickeln.13 Jüdische Vorlagen standen den erst kürzlich ins normative Judentum zurückgekehrten NeuJuden weniger zur Verfügung als christliche Bildvorlagen. Diese wurden von den Künstlern unabhängig voneinander jüdisch umgedeutet. Entspricht das Bildprogramm in seinem Aufbau und seinen Elementen christlicher Ikonografie, so interpretierten die jüdischen Künstler das Bildprogramm anhand der den christlichen Künstlern unbekannten rabbinischen Schriften (Midrashim). Das Bildprogramm ist somit vor allem Ausdruck eines Transformationsprozesses: Christliche Bilder von biblischen Motiven verwandelten sich dabei in jüdische Bilder von der Geschichte des jüdischen Volkes.14 Die vielfach geäußerte These jedoch, dass die bildreichen Grabsteine der Portugiesen in der sefardischen Diaspora des Westens Ausdruck der christlichen Vergangenheit der ersten Gemeindemitglieder seien – die ersten bildlichen Darstellungen erscheinen jedoch erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts –, kann so nicht aufrechterhalten werden.

Grenzenlos und globalisiert Die Portugiesensteine des 17. und 18. Jahrhunderts bilden mit ihren kunstvoll-verspielten Sprach- und Dekorationsmotiven ein globalisiertes sprachliches (Epigrafie; Hebräisch vs. Portugiesisch/Spanisch) und künstlerisches (Dekoration, Steinmaterial) Netzwerk, das zum einen Zeugnis einer spektakulären jüdischen Kunst ist und zum anderen Einblick in ein multikulturelles und multireligiöses Europa eröffnet. Diese Sepulkralkunst war vor allem das Ergebnis einer einzigartigen jüdischen Globalisierung in der Frühen Neuzeit, 12

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Mann/Tucker, Jewish Art, 10. − Zu heidnischen Motiven in der jüdischen Kunst siehe Freidman, Pagan Images, 124−147. − Saltman, Forbidden Image, 42−53. − Zu den christlichen Motiven auf jüdischen Heiratsverträgen siehe Sabar, Christian Motifs, 47−63.  − Sabar, Ketubbah. In ihrem 1931 erschienenen Aufsatz (Wischnitzer, Holbeinbild) stellte sie grundlegende Beobachtungen zum Verhältnis der jüdischen Bibelillustrationen zu den christlichen Vorlagen an. Kogman-Appel, Sephardic Picture.

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funktionierte die sefardische Diaspora doch wie ein network oder global village: Handel mit den portugiesischen Kolonien in Amerika und Asien, Reisen nach Portugal und Spanien, an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Endogamie, hohe soziale Mobilität und nicht zuletzt das Festhalten an der portugiesischen Sprache verstärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Portugiesen. Und da sie sich weniger über religiöse als über ethnische und soziale Kriterien definierten, betrachteten sie die auf der Iberischen Halbinsel und in anderen Teilen des spanischen Weltreiches zurückgebliebenen conversos weiterhin als Fleisch von ihrem Fleische, auch wenn sie ihre Verwandten auf der Iberischen Halbinsel kritisierten, noch immer in den „Ländern des Götzendienstes“ (terras de idolatria) zu wohnen. Herkunft und neu-christliche Vergangenheit, nicht Reichtum und Bildung bedingten ihren sozialen Status. Für den Dichter und Historiographen der Amsterdamer Gemeinde, Daniel Levi de Barrios, waren Heiraten darum nur mit Mitgliedern der natio lusitana bzw. der nação vorstellbar.15 Jüdische Mentalität beruht auf Mobilität, und zwar in jeder Beziehung: soziokulturell, geografisch und sprachlich. Gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell kann man daher nicht von klar definierten regionalen sefardischen Gemeinschaften in Amsterdam, London oder Hamburg sprechen, sondern eher von einer virtuellen „Groß-Gemeinde“ AmsterdamLondon-Hamburg.16 Das Netzwerk fand seine wirtschaftliche Entsprechung in dem Netzwerk der sefardischen Kaufleute, die sich als Glieder einer nação, einer Nation, empfanden und sich auch so bezeichneten, die ausgedehnten Handel mit sefardischen Juden in der Alten und Neuen Welt, mit conversos und Katholiken auf der Iberischen Halbinsel und mit Kalvinisten und Lutheranern in Nordeuropa trieben.17 Wer als converso weiterhin von Amsterdam und Hamburg Handel mit Spanien und Portugal treiben wollte, was gelegentliche Reisen in diese Länder verlangte, zögerte aus wirtschaftlichen Gründen den Beitritt in eine jüdische Gemeinde hinaus.18 Nicht anders verhielten sich jedoch die Hamburger Kaufleute in Lissabon, die dort Katholiken wurden und nach ihrer Rückkehr wieder Lutheraner.19 Denn es waren weniger religiöse, sondern meist wirtschaftliche Überlegungen, die ausschlaggebend waren für die Wahl der Niederlassung, und der einmal gewählte Ort entschied dann über die jeweilige Religion bzw. Konfession.20 Nicht alle conversos kehrten jedoch ins normative Judentum zurück. Einige von ihnen zogen es vor, ihre christliche Identität beizubehalten, 15 16

Swetschinski, Cosmopolitans, 194−195. Swetschinski, Cosmopolitans, 69. − Idem, Kinship. − Oliel-Grausz, Networks. − Trivellato, Familiarity. − Kagan, Atlantic Diasporas. − Studnicki-Gizbert, Nación. 17 Arnold, Grabinschriften, 32−37. 18 Boyajian, New Christians, 149. 19 Zu diesem Thema siehe Dissertation Poettering, Hamburg und Portugal. 20 De Bruyn Kops, Spirited Exchange, 250.

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andere blieben bei ihrem Doppelleben als Neu-Christen, auch dann noch, als es möglich war, sich offen zum Judentum zu bekennen, einige wenige verließen ihre Gemeinden, kehrten auf die Iberische Halbinsel zurück und offenbarten sich der Inquisition. Die disputed souls, die zerrissenen Seelen, stellten eine dauernde Bedrohung für die neuen sefardischen Gemeinden dar, die sich schwer taten, die Grenzen der neuen jüdischen Identität festzulegen und auch durchzusetzen. Dieses Netzwerk, in dem Herkunft, Familie und wirtschaftliche Interessen eine größere Rolle spielten als die religiösen Unterschiede innerhalb der verschieden Segmente der nação, verdankt seine Vitalität nicht zuletzt diesen engen Bindungen zwischen den ex-conversos und den cristãosnovos auf der Iberischen Halbinsel. Dank ihres Reichtums gelang es ihnen, ihre wirtschaftliche Macht in einen herausgehobenen sozialen Status zu überführen, der gelegentlich die Aufnahme in den Adelsstand nicht ausschloss.21 So ist es nicht verwunderlich, dass sich auf den kunstvoll verzierten Grabsteinen des Hamburger Portugiesenfriedhofes zahlreiche Wappen befinden. Der Stolz auf ihre altjüdische Herkunft war vor allem eine Reaktion auf die Inquisition, die in dem converso einen befleckten Christen (maculado, notado, manchado) sah. Der Aufstieg Amsterdams zum „Jerusalem des Nordens“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkte die Kohäsionskräfte innerhalb des familiären, wirtschaftlichen und kulturellen sefardischen Netzwerks. Als die Nachfrage nach entsprechend des portugiesischen Brauchs ausgebildetem Lehrpersonal mit der Entwicklung der portugiesischen Niederlassungen in London, in Südfrankreich und in der Neuen Welt rapide anwuchs, übten in Amsterdam ausgebildete Rabbiner, Kantoren und Lehrer ihren Beruf zunehmend auch in den Filialgemeinden aus.22 So kamen zum Beispiel fünf der acht Rabbiner der Londoner Gemeinde Shaar Hashamayim aus Amsterdam. In der Hamburger Gemeinde Bet Israel amtierten Abraham HaCohen Pimentel, Jacob Cohen Belinfante oder Jacob Bassan und in den Gemeinden 21

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So ließ sich Abraham Senior Teixeira, der vor seiner Zeit in Hamburg mehrfach zum Konsul der Portugiesischen Nation in Antwerpen gewählt worden war, 1643 vom oficial de armas español bestätigen, dass seine Familie zum portugiesischen Adel gehöre und er deren Wappen führen könne. Jacob Rosales erhielt im Juni 1641 sogar auf sein Gesuch hin vom deutschen Kaiser die Würde des kleinen Palatinats, der überdies ihn und seine Nachkommen vom Makel der jüdischen Abstammung befreite und ihm auch sein Doktorat bestätigte. Und der einige Jahre in Hamburg lebende Uriel da Costa bekennt sich in seiner Schrift Exemplar Humanae Vitae nicht ohne Stolz zu seiner adligen Abstammung: „Parentes habui ex ordine nobilium.“ (Ich hatte Eltern aus dem Adelsstand.) Auf ihre adlige Herkunft stolz waren auch die Familien de Castro, Abendana, Aboab und Mendes de Brito. Über die alma ibérica, die iberische Seele, siehe DEN BOER, Harm, Las múltiples caras de la identidad. Nobleza y fidelidad ibéricas entre los sefardíes de Amsterdam, in: Contreras, Familia, 95−112. Fonseca, Contributo dos sefarditas.

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von Bayonne, Curaçao und Surinam. Die Rabbiner verfassten Bücher in und übersetzten Bücher aus ihren Muttersprachen, sie sammelten Bücher, wie Semuel Abas oder Isaac Aboab da Fonseca, und waren erfolgreiche Buchdrucker wie Menasseh ben Israel.23 So trug auch der Buchdruck, der im 17. Jahrhundert aus Holland den „Buchladen der Welt“ machte,24 wesentlich zur Globalisierung bei, denn die Filialgemeinden in der Alten und Neuen Welt wurden von den sefardischen Druckern Amsterdams mit religiöser und weltlicher Literatur versorgt, die ihrerseits Eingang in die Sepulkralkunst fand.25

Auf einem Feld mit Marmor „Vielerorts setzen die Juden auch Marmorsteine auf die Grabstätten der Verstorbenen. Unterschiedliche Epitaphien, in Versen oder in Prosa, erinnern an die Toten – seinen Namen, seine Verdienste und das Datum seines Todes.“26 Mit seinen 53 erhaltenen, durch die Umweltverschmutzung jedoch bedrohten Marmorsteinen ist der Hamburger Portugiesenfriedhof heute das größte frei stehende Marmorfeld des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland. Aber nicht nur Hamburg verlangte nach Marmor, sondern es war vor allem das christliche und jüdische Amsterdam, das für die Ausschmückung seiner Kirchen und Grabstätten große Mengen des kostbaren Gesteines bestellte. 27 Die Nachfrage nach italienischem Marmor war so groß, dass die Stadt an der Amstel in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum größten Importeur von Marmor avancierte. Der weiße Marmor, der im Auftrag reicher sefardischer Familien in Hamburg, Curaçao oder Amsterdam häufig bereits in der gewünschten Form nach Amsterdam kam, wurde gelegentlich schon in Genua bearbeitet. Aus den spanischen Niederlanden kam schwarzer, grauer und roter Marmor. Den christlichen und vielleicht auch jüdischen Importeuren stand zumindest in Amsterdam häufig ein erfahrener Steinschneider beratend zur Seite.28 Auf den Portugiesenfriedhöfen in Hamburg, Amsterdam, Livorno und Pisa liegen zahlreiche zeltähnliche Marmorgräber (ohalim) in der Form eines spitz zulaufenden Sarkophag- oder Satteldaches mit dreieckigen Schmalseiten, einem langen neutralen Schmuckband und ohne 23 24 25 26 27 28

Studemund-Halévy, Codices Gentium. Hellinga, Bookshop. Studemund-Halévy, Codices Gentium. − Kaplan, Circulation of Books. Modena, Historia, 122. Scholten, Sumptous Memories. Stuart, Community, 276. Von Amsterdam gelangte der bearbeitete Stein dann in die Kolonien, siehe Emmanuel, Precious Stones. − Für Venedig siehe Arnold, Spracharkaden, 283.

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erkennbarem Untergrund bzw. Unterbau.29 Die ohalim erinnern an mittelalterliche Grabmäler aus Toledo,30 kommen aber auch in Italien oder Böhmen auf jüdischen oder christlichen Friedhöfen vor.31 Daneben gibt es nur in Amsterdam höhere aufgetürmte Aufbauten aus einem dreigeteilten Stufenaufbau und einem Abschlussteil mit abgeschrägten Seiten. Die gesamte Fläche der Langseiten wird von je einem hebräischen bzw. einem hebräischen und/oder einem portugiesischen Text ausgefüllt, manchmal nur von einem Familienwappen unterbrochen. Ein reiches Schmuckband aus floralen Elementen rahmt die lang gezogenen Schriftfelder ein. Die Oberkante ist oft zu einem schmalen Band mit Textzeile und/oder floralen Elementen ausgebildet, auf den beiden Schmalseiten finden sich künstlerische Motive wie Baum, Sonne, eine biblische Szene, die an den Vornamen des Verstorbenen erinnert, oder ein aufgeschlagenes Buch mit der Beischrift Keter Kehuna (Krone des Priestertums) oder Keter Tora (Krone der Tora), dazu memento-mori-Motive, florale Elemente, Embleme oder Wappen in barocken Kartuschen.32 In einem Fall wurde das (heute fragmentierte) Zeltdach von vier an den Ecken postierten Engeln getragen. Die ohalim liegen häufig als Gruppe zu zweit oder vier dicht beieinander.33 Im Gegensatz zu den dreidimensionalen ohalim kann die zweidimensionale Oberfläche der liegenden Platte voll genutzt werden. Nach sefardischer Tradition wird der Stein als Platte auf das Grab gelegt, auf aschkenasischen, vereinzelt aber auch auf sefardischen Friedhöfen, steht er jedoch senkrecht. In einigen wenigen Fällen jedoch wurde diese Tradition nicht respektiert, wenn die besitzende Gemeinde ihre Zustimmung verweigerte.34 Die Portugiesen stellten in Dänemark eine Minderheit dar und so durften sie auf dem Friedhof in Mølegade ihre Steine nur aufstellen.35 Die sefardischen Juden in Venedig – sie bildeten die Mehrheit in

29 Studemund-Halévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht, 110−112. − Konijn, As sepulturas, 93−96. 30 Vega, Het Bet Haim, 30. − Künzl, Jüdische Grabkunst, 92. − Konijn, As sepulturas, 95; Abb. 135. 31 Allegranti, Cimiteri di Livorno, 21; 54−80. − Künzl, Jüdische Grabkunst, 114, Abb. 54 (Pisa). − Konijn, As sepulturas, 96 Abb. 137. −  Brenova, Symbols, 200−201. 32 Über Wappen auf sefardischen Grabsteinen allgemein siehe Künzl, Jüdische Grabkunst, 9. − Auf sefardischen Grabsteinen in Hamburg siehe Studemund-Halévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht, 122−123. − In Livorno siehe Konijn, As sepulturas, 96 Abb. 137. 33 Siehe zum Beispiel die Gräber von Abraham und Sara Teixeira in Hamburg und die von Raphael Hizkiau und Rahel Atias in Amsterdam. − Künzl, Jüdische Grabkunst, 92; 129−138. − StudemundHalévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht, 110−111. − Konijn, As sepulturas, 94−95, Abb. 130−132. 34 Die portugiesischen Juden in Dänemark durften zum Beispiel ihre Grabsteine nicht horizontal legen, wie man am Beispiel der Luna Franco sehen kann, die 1716 auf dem 1693 eröffneten Friedhof Møllegade bestattet wurde. Siehe dazu Kryger, Jewish Sepulchral Art, 229−263. 35 Arnold, ‹selhe ponha húa boa pedra›. − idem, Stein und Bewusstsein 4–5. − Kontrastierende Sepulkraltraditionen: Sprach-, Schrift- und Grabmalwahl der sephardischen Juden in Venedig, in: Sörries/ Kröll, Creating Identities, 145−154.

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den jüdischen Gemeinden – konnten sich sowohl für einen aufrecht stehenden oder einen liegenden Grabstein entscheiden. Wichtig war allein die usanza, die verbindliche Vorstellung von Form und Gestaltung der Grabsteine.36 Die flachen, manchmal aufgemauerten Grabplatten schmücken hebräische bzw. portugiesisch-spanische Texte, die auf der Platte entweder umlaufen oder in Zeilen mehr oder weniger kunstvoll untereinander angeordnet sind. Die eingegrabene Schrift ist am Kopf fast immer in hebräischer, am Fuß in portugiesischer Sprache angebracht. Die portugiesischen Texte sind überwiegend in lateinischen Majuskeln (mit oder ohne Kursivschwünge), seltener in Schreibschrift. Dazu kommen fein ziselierte Buchstaben und gemeißelte florale und geometrische Ornamente. Die meist zweisprachigen Grabtexte sind gewöhnlich ornamental oder architektonisch gerahmt: häufig in runden bzw. ovalen Medaillons oder geflochtenen Kränzen oder schwungvoll integriert in barocke Kartuschen oder Pflanzenumrahmungen. Seltener findet man sie auf einfachen oder doppelten Tafeln, die vielleicht „Tafeln des Bundes“, die Gesetzestafeln, symbolisieren sollen. Dazu zahlreiche vanitas- und memento-mori-Motive, die sich nicht aus der jüdischen Tradition erklären, vielmehr einen allgemeinen Symbolwert besitzen und auch in christlicher Grabkunst vorkommen. Die hebräischen Epitaphien sind immer in hebräischer Schrift, die portugiesischen, spanischen, französischen, englischen, holländischen und deutschen Epitaphien immer in lateinischer Schrift.37 Aljamiado-Texte, also nicht-hebräische Texte in hebräischer Schrift, sind in der westlichen Diaspora im Gegensatz zur Grabsprache der Sefarden im Osmanischen Reich nicht bekannt. Abgesehen von Berufsbezeichnungen (Rabbiner, Kantor, Lehrer etc.) oder Namen der Monate und Feste, gibt es wenige hebräische Wörter, die in lateinischer Schrift wiedergegeben werden, wie zum Beispiel das Wort TAL (hebr. Tau) in einer portugiesischen Grabinschrift für die 1635 verstorbene Sara Miriam Senior Coronel.38 Ist die Sprachverteilung auf den Grabsteinen der (alten) sefardischen Friedhöfe von Hamburg, Amsterdam und Curaçao ähnlich (neben Hebräisch, Portugiesisch, Hebräisch/ Portugiesisch auch einige Grabtexte in Spanisch, Englisch, Französisch und Deutsch), so zeigen die (jüngeren) Friedhöfe von Surinam zwar keine größere Auswahl an Sprachen (Hebräisch, Portugiesisch, Spanisch, Französisch, Holländisch, Englisch), aber die Anzahl der einsprachigen Inschriften in Hebräisch ist bei weitem geringer als in Hamburg, Amsterdam oder Curaçao. Und die Landessprache Holländisch ist in Surinam weitaus zahlreicher vertreten als Deutsch in Hamburg.39 36 37

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Arnold, Sepulkraltraditionen, 149. In Venedig sind schon seit 1617 Grabinschriften in lateinischer Sprache überliefert. Auf zahlreichen hebräischen Grabinschriften wurden später Zusätze in lateinischer Schrift angebracht, weil die Angehörigen die Grabstätten so leichter finden konnten, apud Arnold, Sepulkraltraditionen, 150−151. Studemund-Halévy, La mort, 353–363. Nach Ben-Ur/Frankel, Remnant Stones, zeigen die 661 Epitaphien des sefardischen Friedhofs von

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Wie die ohalim, so sind auch die Grabplatten häufig mit dekorativen und allegorischen Abbildungen geschmückt: Reliefs mit figürlichen Szenen zu biblischen Themen; eine Hand aus den Wolken fällt mit der Axt einen Baum, Wappen, Todessymbole wie Totenschädel, Gebeine, Sicheln oder Sanduhren etc. In Amsterdam zeigen einige Platten bis zu vier Bildszenen mit biblischen Motiven, aus Hamburg ist nur eine Bildszene bekannt, häufig kombiniert mit den klassischen Todessymbolen bzw. mit der Hand aus den Wolken. Die Platten schließen oben horizontal ab, andere mit einem Rundbogen, mit oder ohne Verbindung von Säulen. Ranken und Blumengebinde, Kartuschen und auch Pilaster dienen dazu, die Fläche der Platte künstlerisch aufzugliedern und Bildfelder zu schaffen (Abb. 1). Erhöhte Rosetten, häufig in der geometrischen Zierfigur des „ewigen Rades“, sowie runde, rosettenähnliche Verzierungen an den Ecken außerhalb der Einrahmung begrenzen den Stein, so wie man es von den jüdischen Sarkophagen der Antike kennt.40 Dieser Dekor zitiert zeitgleiche katholische Vorbilder auf der Iberischen Halbinsel und erinnert an protestantische Vorbilder in Nordeuropa. Häufigste Schmuckelemente sind neben den Rosetten breite Traubenranken, Perlstäbe oder Palmenzweige, Voluten und Draperien. Zu den bevorzugten Motiven gehören die allegorischen memento-mori-Symbole, die allein oder in Verbindung mit Bildlegenden einen Großteil der Grabsteine schmücken. Die Künstler der im 17. und 18. Jahrhundert populären Vergänglichkeits- oder VanitasSymbole berufen sich auf entsprechende Bibelverse wie Jesaia 40,6, den Psalm 102,15 und auf Hiob 14,1−2. In Holland ist es vor allem der Maler Joris Hoefnagel, der am Anfang des 17. Jahrhunderts Allegorien des (kurzen) Lebens mittels Blumen (meist Rosen), Insekten, Vögeln, Grablampen (mit Rauch) und Totengebein darstellt.41 Zu den Symbolen der Vergänglichkeit, die auch auf den norddeutschen Portugiesenfriedhöfen vorkommen, gehört der Engel mit Trompete, der den Tod des Verstorbenen verkündet; das Stundenglas/die Sanduhr (allein oder auf einem Totenkopf ) signalisiert die dem menschlichen Leben gesetzte Grenze und ist Symbol für das Verrinnen der Zeit („Du bist Erde und sollst Erde werden“, 1. Mose 3,19). Die Engel- und Teufelsschwingen zu beiden Seiten des Totenkopfes weisen auf Himmel und Hölle; der Totenschädel, mit oder ohne gekreuzte Gebeine; Totenschädel, aus dessen leeren Augenhöhlen Ähren hervorwachsen (Abb. 2); die Waage und die Posaune auf das Jüngste Paramaribo folgende Sprachverteilung: Holländisch: 171 (25,9 %); Portugiesisch: 152 (23 %); Spanisch: 18 (2,7 %); Hebräisch: 15 (2,3 %); Englisch: 8 (1,2 %); Hebräisch/Portugiesisch: 235 (35,7 %); Hebräisch/Holländisch: 21 (3,2 %); Hebräisch/Spanisch: 19 (2,9 %); Hebräisch/Englisch: 1 (0,1 %); Hebräisch/Französisch: 1 (0,1 %); Holländisch/Portugiesisch: 2 (0,1 %); Spanisch/Portugiesisch: 1 (0,1 %); Portugiesisch/Spanisch/Hebräisch: 6 (0,9 %). 40 Die den Portugiesensteinen sehr ähnlichen Grabsteine vom christlichen Friedhof in Hamburg-Kirchwerder zeigen an den Ecken Engelsköpfe oder die Embleme der vier Evangelisten, vgl. Grolle, Predigt, 25. 41 Konijn, As sepulturas.

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Gericht; die Hand Gottes, die den Toten vor dem Knochenmann rettet (Abb. 1), sowie eine Hand mit einer Waage als Zeichen für das Abwägen der Taten des Verstorbenen. Die Hand, die aus den Wolken kommt und mit einem Beil (Axt) einen Baum abschlägt, symbolisiert die Gewalt Gottes über das Leben des Menschen. Dieses alte Motiv stammt aus der Antike und gelangte aus der jüdischen Tradition wohl auch in die christliche Kunst. Als Symbol für göttliche Macht und Kraft wird es vor allem in der sefardischen Welt verwendet, ist aber auch auf aschkenasischen Friedhöfen in Ost- und Westeuropa sowie in der christlichen Emblematik des 16. Jahrhunderts weit verbreitet.42 In einigen Fällen ist der Hand, die den Baum fällt, ein Engel zugeordnet, der entweder als Todesengel der jüdischen Tradition (malach-hamavet) zu verstehen ist oder von dem der das Schicksal der Menschen begleitenden Schutzengel der christlichen Tradition abgeleitet ist. In Surinam schlägt der Engel einen Baum oder er hält eine Axt. Und schließlich finden wir dieses Motiv auch auf Amuletten und Toraschilden (tassim). Der Verstorbene hat in der Regel das fünfzigste Lebensjahr nicht erreicht, sein früher Tod kann auch als Strafe für seine Sünden gedeutet werden und verweist auf das biblische karet, die Bestrafung durch die Hände des Himmels.43 Eine besondere Bedeutung kommt der geknickten bzw. geschnittenen Rose zu, als Symbol für den Tod zur Unzeit Verstorbener, aber auch als Verheißung, die nicht in Erfüllung ging. Das Bild der Rose kann aber auch als Sinnbild für die Verheißung Gottes an das jüdische Volk verstanden werden: „Ich will sein wie der Tau für Israel, es blühe wie die Lilie“ (Hosea 14, 6). Das hebräische Wort für „Lilie“ wird umgangssprachlich im Sinne von „Rose“ gebraucht. Rosen stehen seit der Antike als Symbol der Erneuerung des Lebens. Dem Mythos nach sind sie aus dem Blut des Adonis, des jeweils wieder auflebenden Vegetationsgottes, entstanden. Der frühe Tod bei Kindern oder Jugendlichen wird häufig durch eine geschnittene Rose oder durch eine Sichel, die Weizengarbe mähend, dargestellt. Die schlichten Kindergräber in Surinam hingegen zeigen keinen auch noch so bescheidenen Grabschmuck.44 Die noch immer unzureichenden Kenntnisse über die sefardischen Friedhöfe erlauben kein befriedigendes Urteil über das ikonografische Programm. So zeigen 140 von 1724 Grabsteinen der aschkenasischen und sefardischen Friedhöfe von Surinam eine bildliche Darstellung (8,12 %),45 auf dem Hamburger Sefardenfriedhof sind es jedoch über 30 %. In Surinam zeigen Grabsteine zahlreiche Motive, die auf dem Hamburger Portugiesenfriedhof fehlen: je 42 Konijn, As sepulturas, 104 Abb. 157. − Künzl, Jüdische Grabkunst, 95. 43 Auf den jüdischen Friedhöfen von Surinam gibt es 137 Grabsteine mit bildlichen Darstellungen, davon zeigen über 40 Prozent dieses Symbol. Ben-Ur, Still Life. − Ben-Ur/Frankel, Remnant Stones. 44 Ben-Ur/Frankel, Remnant Stones. 45 Cassopora Creek: 216/24 (11 %); Jodensavanne: 462/31 (6,7 %); Old Sephardi Cemetery of Paramaribo: 661/44 (6,7 %) und Old Ashkenazic Cemetery of Paramaribo: 385/41 (11,5 %), siehe Ben-Ur/Frankel, Remnant Stones.

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zweimal Beschneidung, Schaubrote, Kindbett oder Sterbebett; von den in Hamburg zahlreichen biblischen Gestalten (Daniel, Abraham, Isaac, Jacob, Joseph, Rahel) ist in Surinam nur eine Darstellung von Jacobs Traum von der Himmelsleiter vorhanden. Überwiegen in Hamburg und Surinam bildliche Darstellungen auf Grabsteinen von Männern, so schmücken Engelsdarstellungen vor allem die Grabsteine von Frauen. Und gelegentlich weist ein Grabstein mit der Darstellung eines Zuckerrohrs und eines Kaffeestrauchs auf die geografische Lokalisierung des Friedhofs hin.46

Bild und Name Neben der Verknüpfung von Namen und Bibelversen zeigen die sefardischen Grabsteine in Hamburg, Glückstadt, Ouderkerk, London, Surinam, Curaçao, Jamaica und Barbados immer wieder in Relief gearbeitete biblische Bildszenen, die den biblischen Vornamen des Verstorbenen dekorativ illustrieren:47Abigail (Abigail mit Geschenken für David); Abraham (Bindung des Isaak; Bündnis zwischen Abraham und Abimelech; Abraham bewirtet die drei Engel; Abraham vor dem Zelt, die Verheißung Gottes vernehmend; Abraham betrachtet die Sterne); Adam und Eva (Adam und Eva mit der Schlange im Paradies); Daniel (Daniel in der Löwengrube) (Abb. 4) ; Elias (Elias mit dem Himmelswagen); Esther (Esther und Ahasverus); Isaac (Bindung des Isaak; Isaak auf dem Felde betend)(Abb. 5) ; David (David mit der Harfe; David mit der Schleuder); Elias und Hana (Elias mit Hana im Tempel); Jacob (Jacobs Traum von der Himmelsleiter; Jacob trifft Rahel am Brunnen; Jacob erkundigt sich nach der Gesundheit seines Onkels Laban; Jacob als Pilger);48Joseph (Joseph im Brunnen (Abb. 6) ; Joseph mit den Schafen); Mordechai (Mordechai im königlichen Ornat zu Pferde); Moses (Moses mit den Gesetzestafeln; Moses, Wasser aus dem Felsen schlagend); Rahel (Rahel mit den Schafen; Rahel beim Schöpfbrunnen; Rahel trifft Jacob; Tod der Rahel); Ribca (Rebekka reicht Abrahams Knecht einen Trank); Samuel (Gott erscheint Samuel im Tempel) und Selomo (Weltenrichter Salomo; König Salomo trifft die Königin von Saba). Die Darstellung einer biblischen Gestalt entsprach zum einen der jeweiligen Mode, zum andern aber bedienten sich die Steinmetze mithilfe ihrer Auftraggeber der im 17. Jahrhundert populären Einblattdrucke und der littérature à la mode. So brachte König Christian Albrecht

46 Ben-Ur/Frankel, Remnant Stones, 534 Nr. 214. 47 Grunwald, Portugiesengräber. − Künzl, Jüdische Grabkunst. − Weinstein, Altona. − StudemundHalévy, Pedra e Livro. 48 Vgl. auch die Darstellung der Jacobs-Szenen im Livro dos Minhagim: Studemund-Halévy, Jacob Cohen Belinfante.

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von Dänemark begabte Maler, Kupferstecher, Bildhauer und Buchdrucker nach SchleswigHolstein. Dänische und deutsche Druckerpressen veröffentlichten überreich ausgeschmückte Ausgaben von Virgils Ecloga und Georgica, Jorge de Montemayors Diana und Giovanni Battista Guarinis El Pastor Fido.49 Um 1559 verwendete der spanische Dichter Jorge de Montemayor in seinem auch von den Amsterdamer und Hamburger Portugiesen gelesenen Schäferroman Los siete libros de la Diana Teile aus den Dialoghi di Amore. Der Hamburger Rabbiner, Gelehrte und Büchersammler Semuel Abas hat mindestens zwei Ausgaben dieses Werkes besessen: eine spanische (Filon y Sofia, Dialogos de Amor) und eine italienische (Dialogi [!] di Amore).50 Und auf die sefardische Dichterin Isabel/Rebecca Correa, Mitglied der Amsterdamer literarischen Gesellschaft Los Sitibundos, geht die erste spanische Übersetzung Pastor Fido von Battista Guarini zurück. Dank der populären Schäferstücke lässt sich vielleicht auch das reizende Dekolleté der Rahel da Fonseca auf dem Hamburger Portugiesenfriedhof erklären (Abb. 7).51 Auf allen Friedhöfen der sefardischen Diaspora ist eine nahezu identische Distribution der biblischen Vornamen festzustellen, unter denen Abraham bei den Männern und Sara bei den Frauen bei Weitem am häufigsten vertreten sind. Was die Darstellung biblischer Szenen betrifft, werden überwiegend männliche Darstellungen bevorzugt, ohne dass dafür eine zufriedenstellende Erklärung gegeben werden kann. Zahlreiche Grabsteine tragen zwei Vornamen, so zum Beispiel auf dem Stein des 1765 verstorbenen Hamburger Kantors Jacob Rafael Cohen Belinfante. Der zweite Name wurde anlässlich einer rogativa gegeben, zum Beispiel Rafael (hebr., Gott heilt), Haim (hebr., Leben), Hizkiyahu (dieser biblische König wurde sehr alt), Miriam (die Schwester von Mose und Aron wurde von der Lepra geheilt)52 oder Hanna (Mutter des Propheten Samuel).53 In diesem Fall wird immer der erste Vorname des Verstorbenen illustriert, in der Grabinschrift selbst wird aber häufig auf den zweiten Vornamen Bezug genommen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der Kantor Cohen Belinfante sein Minhagim-Buch mit den Jacobsszenen ausgeschmückt hat. In einigen wenigen Fällen geht eine bildliche Darstellung wohl auf die Tatsache zurück, dass die Darstellung ursprünglich für einen christlichen Auftraggeber bestimmt war bzw. auf einer christlichen Vorlage beruhte: So ist zum Beispiel der künstlerisch anspruchsvolle Grabstein des 1717 in Amsterdam verstorbenen Samuel Senior Teixeira vermutlich die Arbeit eines christlichen Steinmetzen. Der Grabstein der 1635 verstorbenen Rahel Debora Chilão auf dem 49 Weinstein, Altona. 50 Studemund-Halévy, Codices Gentium, 287−319. – idem, Ecos ibéricos. 51 Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon. −  idem, Persistence of Images, 147. − Zu Isabel Correa siehe Bitton, Poétesses. 52 Studemund-Halévy, La mort, 353−363. 53 Zu der rogativa siehe Nahon, Mudado. −  Studemund-Halévy, Jacob Cohen Belinfante. −  BenUr/Frankel, Remnant Stones, 21.

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Hamburger Portugiesenfriedhof trägt auf der Rückseite eine christliche Inschrift, der Stein wurde also „recycelt“. Unklar ist jedoch, auf welchem Wege er auf den jüdischen Friedhof gelangte und ob die Portugiesen über die ursprüngliche Verwendung informiert waren.54 Die Grabsteine der Portugiesen wurden zumindest in der Anfangszeit von christlichen Steinmetzen auf der Grundlage präziser christlicher Bild- und Textvorlagen bearbeitet.55 Die stilistische Ähnlichkeit mit den christlichen Grabsteinen des Hamburger Friedhofs in Kirchwerder legt diese Vermutung nahe.56 Die Vorlagen gehen zum Teil auf christliche Druckwerke und Bücher zurück, die in den Bibliotheken der Portugiesen gesammelt wurden. Da sie jedoch von Juden und für Juden erworben und von einer jüdischen Gemeinde als ein jüdischer Grabstein akzeptiert wurden, künden sie von einem Verstorbenen, der als Jude gelebt hatte und stolz war, dies seiner Gemeinde und den späteren Generationen mitteilen zu können.

Phönix, Pelikan und Schmetterling Sefardische Friedhöfe illustrieren nicht nur mit biblischen Legenden die Geschichte des jüdischen Volkes, sondern sie zeigen in einigen Fällen auch Abbildungen von Tieren, die in der Mythologie der Antike und in der jüdischen Folklore eine große Rolle spielten. Unter den zahlreichen Tierdarstellungen in der sefardischen Sepulkralkultur sind besonders der Phönix, der Pelikan und der Schmetterling zu erwähnen (Abb. 3). a) Der Phönix, der sich nach jüdischer Tradition weigert, im Paradies vom Baum der Erkenntnis zu essen, und Noah nicht zur Last fällt, da er nichts isst, symbolisiert für die Portugiesen das Martyrium der Marranen und die Wiedergeburt des Judentums, aber auch das ewige Leben. Hiob rühmt seine Kinderliebe (Hiob 29, 13−17) und für die Rabbiner und Kirchenväter steht der Phönix für die Wiederauferstehung der Toten. Abbildungen eines Phönix, der aus der Flamme verjüngt aufersteht, sind aus dem jüdischen Buchdruck, in Ketubbot, auf Münzen und auf Fayencen bekannt57 und auch auf jüdischen Ritualobjekten wie Bechern, 54 55

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Studemund-Halévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht, 98; Abb. 17; 104. Zur Diskussion über die Frage, ob der Künstler oder das Motiv jüdisch oder christlich ist, siehe Epstein, Dreams. − idem, Egypt, 33−52. − idem, Idols. −  Wolfthal, Picturing Yiddish. − Weinstein, Sepulchral Monuments. −  Kaplan, New Jerusalem. −  Konijn, As sepulturas, 96. − Arnold, Sepulkraltraditionen, 151. Grolle, Predigt. Alle Beispiele aus Mintz-Manor, Signs and Comparisons. −  eadem, Symbols and Images. − den Boer, Spanish and Portuguese. −  Baart, Portuguese faience, 18–24; Bauche, Sefarden 293–306. − idem, Lissabon-Hamburg. −  Studemund-Halévy, Persistence of Images.

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Hanukkaleuchtern und auf Amuletten (für Gebärende) zu finden. In den sefardischen Diaspora-Gemeinden wurde das Schicksal der von der Inquisition auf den Scheiterhaufen geschickten conversos aufmerksam verfolgt. Für den, der für seinen Glauben den Märtyrertod auf sich nahm (ha-nisraf chai al yihud kedushat shemo – el quemado vivo por la unidad de santidad de su nombre) wurden in den Gemeinden besondere Hashkava-(Gedenk-)Gebete gesprochen, aber nur für die, die als überzeugte Juden gelebt hatten (Hascaba de los quemados por santificamiento del nombre del Dios): „El Dio el grande el barragan y el temorozo vengue vengãça de su siervo el Sáto (hulano) el quemado vivo por la unidad de santidad de su nombre. [Möge der große, der allmächtige G’tt seinen heiligen Diener rächen, der bei lebendigem Leibe verbrannt wurde.]“58 In zahlreichen Gedichten wurde der Märtyrer gedacht: „Hebreo soy, enemigos, / mi esposa es la Ley sagrada, / mi Dios, solo el de Israel, / mi honor, morir por su causa. / Prendedme, echadme al incendio, / que por que sea su flama / mi carro triumphal, ya es / de Elias mi vigilancia. [Hebräer bin ich, Feinde, meine Braut ist das heilige Gesetz, mein G’tt ist allein [der G’tt] Israels, meine Ehre ist es, für seine Sache zu sterben. Nehmt mich, werft mich ins Feuer, und so wie seine Flammen mein Triumphwagen sein werden, so ist Elias mein Beschütze.]“59 Im Gegensatz zur Kunst der Protestanten und Katholiken, die den Glaubenstod in Bildern und Stichen dargestellt haben, ist die Abbildung eines Autodafés eines jüdischen Künstlers bzw. in einem jüdischen Buch nicht belegt. Wird der biblische Vorname Elias häufig auf sefardischen Grabsteinen mit der Legende von seinem Feuerwagen in Szene gesetzt, so haben sefardische Autoren den Phönix immer wieder mit der Auferstehung und dem Propheten Elias in Verbindung gebracht: (i) „Não fabuloza phénix renovado / das cinzas materiais vos canta a fama, / alma sim de Eliau que zela e ama / sobre e nos deixa espirito dobrado“; 60 (ii) „Foste Phénis que aumenta seu estado, / por não ter nele a morte juridição / e ardeste assim vivo em tenção, / que hás-de-sair das cinzas renovado“;61 (iii) „Com fé dada do Céu em flama acesa, / mete o zelo de Deus ao novo Elias, / Phénix que em suas ditosas cinzas frías / ressuscita Israel com mais firmeza.“ (Abb. 3)62. Auf dem Grabstein des Hamburgers Semuel Hisquiau Esteves verweist der Phönix, der erneuert aus dem brennenden Nest hervorgeht, auch auf das Martyrium des Gläubigen (Abb. 3). Um das Medaillon herum zieht sich ein portugiesischer Spruch: „Nacemos para morrer, morremos 58

Seder Berachot. Orden de Bendiciones Y las ocaziones en que se deven dizir, Madrid 5447/1687, 300f.−303 f. Das Hamburger Hashkava-Buch, das sich bis 1939 im Besitz der Hamburger Familie Sealtiel befunden hatte und nach dem Krieg in den Besitz von Gershom Scholem gelangte, gilt heute als verschollen. 59 Barrios, Contra la verdad. − Siehe Bodian, Law of Moses, 193−195. 60 Jacob de Pina, Soneto de Jacob de Pina al glorioso Martirio de Ishac de Almeida Bernal. In: Elogios / que zesos dedicaron / a la felice memoria de Abraham / Nunez Bernal [...], Amsterdam 5415/1655, 138. 61 David Jessurun, Foste ouro que estiveste soterrrado, EH 2 F 09, 75 [471]. 62 Ezechiel Lopez Rosa, Soneto: In: Barrios, Triumpho, 21.

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para viver. [Wir sind geboren, um zu sterben, und wir sterben, um zu leben.]“ (Mishna Avot 4, 22). In den sefardischen Diasporagemeinden wurde das Schicksal der von der Inquisition auf den Scheiterhaufen geschickten conversos aufmerksam verfolgt. b) Der Pelikan wird vom Psalmisten als Ausdruck des trauernden Zions gewertet und gehört in dieser Deutung zu den religiösen Symbolen („Ich gleiche dem Pelikan der Wüste, bin wie der Uhu der Trümmer. Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache“, Psalm 102, 7−8, 25). In der christlichen Ikonografie symbolisiert er Jesus Christus.63 In der jüdischen Grabsymbolik Osteuropas ist er der einsame, wachsame Vogel und das trauernde Zion, Symbol des früh vollendeten Lebens. Die Kinderliebe des Pelikans rühmt zum Beispiel Hiob („Das Straußenweibchen hat seine Lust gebüßt: ist wohl ihr Fittig der des Storches und des Pelikans?“, Hiob 39,13). Auf den Grabsteinen von Frauen wird der Pelikan bzw. das Pelikanweibchen als aufopferndes Muttertier beschrieben, das mit dem Schnabel seine Brust aufreißt, um seine Jungen mit dem eigenen Blut zu nähren. Bei den Marranen erhält der Pelikan als Symbol für die jüdische Mutter eine neue Bedeutung, so zum Beispiel auf dem Stein der 1639 in Hamburg verstorbenen Ester Hana Aboab. Weiters ist der Pelikan ein beliebtes emblematisches Symbol im jüdisch-portugiesischen Buch- und Fayenceschmuck des 16. und 17. Jahrhunderts. In Amsterdam schmückt die Darstellung eines Pelikans die Synagoge Muiderstraat, das niederländisch-israelitische Hospital Rapenburger Plein und das portugiesisch-israelitische Hospital. 64 Im Physiologus, einem im 2. Jahrhundert entstandenen Buch frühchristlicher Tiersymbolik, heißt es: „Der Pelikan ist ein Vogel, die Schlange ist seinen Jungen Feind. Was macht nun der Pelikan? Er befestigt sein Nest in der Höhe und macht darum einen Zaun von allen Seiten wegen der Schlangen. Was tut nun die hinterlistige Schlange? Sie beobachtet nach allen Seiten, woher der Wind weht, und von daher bläst sie den Jungen ihr Gift zu, und sie sterben sofort. Da kommt der Pelikan und sieht, dass seine Kinder tot sind. Mit seinen Flügeln schlägt er seine Seite, und das Blut tropft auf seine Kinder und sie werden zum Leben erweckt.“ Der Pelikan wurde besonders seit dem 13. Jahrhundert ein beliebtes Motiv christlicher Kunst. c) Der Schmetterling, der von Juden und Christen gleichermaßen als Symbol für die Seele („Seelenbegleiter“) und als ein sich wandelnder Lebensabschnitt verstanden wird, kommt auch in der hebräischen Buchmalerei vor. Bei den aschkenasischen Juden symbolisiert der Schmetterling seit dem 19. Jahrhundert die Unsterblichkeit der Seele und ihre Befreiung aus dem Körper. Auf dem Hamburger Portugiesenfriedhof ist der Schmetterling nur auf dem Grabstein des 1825 verstorbenen Jacob Mussaphia Fidalgo vertreten. 63 Grolle, Predigt, 112 (Grab des 1642 gestorbenen Elers, Friedhof Kirchwerder). 64 Diesen Hinweis verdanke ich Michael Lohrer (Lübeck).

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Die bildlichen Quellen: Haggadot, Ketubbot, Minhagim-Bücher, Bücher und Fayencen Die jüdische Buchmalerei wurde im Mittelalter zum Zufluchtsort aller ästhetischen Wünsche und erlaubte die Weiterführung der alten, allgemein verbreiteten Traditionen, nämlich der im Altertum entwickelten biblischen Bilderwelt.65 Der größere und wegen seiner Bilderfülle wichtigere Teil illustrierter Handschriften stammt aus Europa. Hier unterstanden die Juden christlichem Einfluss, der figürliche Abbildungen in der jüdischen Buchkunst etablierte. Da die für den Gottesdienst bestimmten Bücher niemals bebildert waren (Talmud, Tora), kamen als Vorlage nur die religiösen Schriften für den häuslichen und persönlichen Gebrauch in Frage. Die jüdischen Auftraggeber und ihre (meist) christlichen Steinmetze griffen bei der künstlerischen Gestaltung folglich auf diese Bücher sowie auf christliche Druckwerke des 17. Jahrhunderts und auf hebräische Bücher zurück, die in den jüdischen und christlichen Bibliotheken vorhanden waren: Gesetzeskodizes, allgemeine wissenschaftliche Texte zu Medizin oder Astronomie und vor allem Haggadot, die die Pesah-Geschichte erzählen, dazu MohelBücher, Esterrollen (Megillot), Minhagim-Bücher,66 reich verzierte Ketubbot (Heiratsverträge), Mizrah-Tafeln sowie Siddurim- und Mahzorim-Gebetsbücher für die Wochen- und Feiertage. Architektonische Elemente in den kunstvoll dekorierten hebräischen Inkunabeln und in der Buchmalerei, wie Säulentor und gedrehte Säulen, Grabsteine mit Giebelabschluss und zwei aufgesockelten Säulen, deren gedrehter Schaft mit Weinlaub und Weintrauben umrankt ist, waren ein häufig belegtes Motiv auf den Titelseiten hebräischer illustrierter Handschriften und ein beliebtes Motiv im jüdisch-christlichen Buchschmuck des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie sollen an die Tempelsäulen Jachin und Boaz erinnern (1. Könige 7, 15−22)(Abb. 1). Im Hebräischen wird die Titelseite eines Buches „Torseite“ genannt, was natürlich sofort die Vorstellung eines Tores oder einer Pforte assoziiert. Jüdische Buchgestalter machten sich diese Assoziation zunutze und bemühten sich, sie weiterzuentwickeln. In frühen und vor allem in Italien gedruckten Büchern krönte die Titelseite daher die Worte des Psalmisten: „Dies ist die Pforte des Ewigen, Gerechte treten da ein.“ Ein schönes Beispiel ist das reich verzierte Grab der Debora Hana Mussaphia: Über zwei Sockeln erheben sich mit Weinlaub und Weintrauben umrankte gedrehte Säulen, welche oben mit einem Bogen verbunden sind. In der Lünette halten zwei trauernde Grazien ein Stundenglas (Abb. 1) .67 Motive, die wir auf den portugiesischen Friedhöfen finden, schmücken auch jüdische Ritualobjekte wie Tas (Toraschild), Parokhet (Toravorhang), Rimonim (Torakronen), Hanukkaleuchter, Amulettbehälter, aber auch 65 Sed-Rajna, Begriff, 10−14. 66 Studemund-Halévy, Jacob Cohen Belinfante, 445−469. 67 Studemund-Halévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht, 106.

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Medaillen oder Gürtelschnallen.68Amsterdamer und italienische ketubbot (Heiratsverträge) rühmen mit illustrativen Bibelversen die Namen von Braut und Bräutigam, so zum Beispiel einen Daniel mit „Daniel, Mann des Wohlgefallens“ (Daniel 10, 11) oder eine Ester mit „Ester gewann Gunst in den Augen aller“ (Ester 2, 15). Auf kunstvolleren ketubbot erscheinen häufig Zeichnungen von biblischen Szenen mit Personen, nach denen die Braut oder der Bräutigam benannt waren. Das ikonografische Programm der ketubbot gelangte also nicht nur gelegentlich in die Sepulkralkunst.69 Weitere Vorlagen lieferte die protestantische Grabkunst Norddeutschlands. Das ikonografische Programm des christlichen Friedhofs in Hamburg-Kirchwerder zeigt zum Beispiel mit der Darstellung des Sündenfalls70, der Kreuzigung oder der Anbetung des Heilands am Kreuze sowie mit den zahlreichen memento-mori-Motiven,71 dass der Einfluss der christlichen Steinmetze auf die jüdische Sepulkralkunst des 17. Jahrhunderts nicht unterschätzt werden darf. So geht möglicherweise der Totenkopf, aus dessen Augen Weizenhalme sprießen und der auf jüdischen wie auf christlichen Friedhöfen zu finden ist, auf die Bibelübersetzung Luthers zurück.72 Eine weitere Bereicherung des ikonografischen Programms erfuhr die Sepulkralkunst über die Einfuhr von portugiesischen Fayencen nach Hamburg,73 über die eine Auktionsliste aus dem Jahre 1639 über die portugiesischen Haushalte informiert.74 Drei von ihnen können dem reichen Kaufmann Diego (Abraham) Teixeira de Sampayo zugeordnet werden.75 So zeigen einige Krüge den Sündenfall, der ebenfalls auf einem jüdischen Grabstein in Glückstadt76 und einem christlichen in Hamburg-Kirchwerder abgebildet ist.77 Ein weiteres Motiv, das sich häufig auf den Fayencen findet, ist das pfeildurchbohrte Herz, Attribut der in der ka-

68 Benjamin, The Sephardi Journey, 94−135. − Für Curaçao siehe Maslin, Jewish Ceremonial Objects. − Für Hamburg siehe Schliemann, Goldschmiede, no. 307. 69 Zahlreiche Beispiele in: Sabar, Christian Motifs. −  idem, Ketubbah. −  idem, Masel Tow. 70 Grolle, Predigt, 127. 71 „Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder deranderen eines.“ (1 Korinther 15, 35–42). − Grolle, Predigt. − Siehe auch die Darstellung des Sündenfalls auf einer Fayence (Studemund-Halévy, Portugal in Hamburg, 191) und auf einem Grabstein in auf dem jüdischen Friedhof Glückstadt (Faust/ Studemund-Halévy, Betahaim). 72 Grolle, Predigt. 73 Baart, Portuguese faience, 18−24. − Bauche, Sefarden, 293–306. −  idem, Lissabon-Hamburg. − Studemund-Halévy, Persistence of Images. 74 Bauche, Lissabon-Hamburg, 37. 75 Bauche, Lissabon-Hamburg, 47. − idem (Hrsg.), Vierhundert Jahre, 41, 158 ff. (no. 73). 76 Faust/Studemund-Halévy, Betahaim. 77 Grolle, Predigt.

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tholischen Welt Iberiens als Heilige verehrten Theresa von Avila.78 Für die Portugiesen in Nord- und Westeuropa symbolisiert das Herz die Liebe unter Eheleuten. Da dieses Motiv im christlichen Nordeuropa unbekannt war, haben es die Neu-Christen vielleicht aus Spanien und Portugal mitgebracht.79 Die Hamburger und Amsterdamer Sefarden verwenden dieses Symbol der gebundenen Liebe auf etlichen ihrer Heiratsverträge. Abgebildet sind die pfeildurchbohrten Herzen auf den ketubbot von Abraham Sarfatij und Esther Abenyacar (Amsterdam 1624) und von Manuel Teixeira und Rahel de Mattos (Hamburg 1648).80

Die literarischen Quellen Das Verfassen von Epitaphien war vor allem eine Kunst poetisch begabter Rabbiner, die mit ihren hebräischen Epitaphien, gespeist aus Tora und Talmud, dem Verstorbenen ein ehrendes, bleibendes und schönes Andenken setzten.81 Zwar stand die Absicht im Vordergrund, den Verstorbenen als einen gottesfürchtigen Menschen darzustellen, doch zeugten diese dekorativen, bildbeladenen Grabsteine auch vom Stolz des Verstorbenen und den seiner Familie. Und den Stolz, wenn nicht als Jude geboren, so doch wenigstens als Jude gestorben zu sein. Nicht wenige Grabsteine wurden daher schon zu Lebzeiten in Auftrag gegeben. Die Auftraggeber trafen detaillierte Dispositionen über Material, Dekoration und Grabinschrift zur ewigen Ehre des Verstorbenen. Wer es sich leisten konnte, bestellte Inschriften bei Gelehrten und Dichtern, bestimmt für die bewundernden Blicke des großen und gebildeten Publikums, andere bedienten sich ungeniert aus bekannten oder unveröffentlichten Epitaphien bzw. aus poetischen Anthologien.82 Von Leone de Modena (Venedig) sind etwa 400 hebräische Epitaphien bekannt,83 von Selomo de Oliveyra (Amsterdam) etwa 50 und von Mose Abudiente und Abraham Meldola (Hamburg-Altona) einige wenige. Von den Hamburger Rabbinern verfasste allein Mose Abudiente seine eigene Grabinschrift.84 Von Selomo de Oliveyra stammt die Grabinschrift für den Hamburger Rabbiner und Philologen David Cohen de Lara;85 Mose Abudiente verfasste nicht nur die enigmatische Grabinschrift für seinen Schwiegervater Paulo de 78 In der klerikalen Kunst und christlichen Ikonografie steht das Herz besonders hoch in der Wertschätzung als Attribut zahlreicher Heiliger; siehe auch Bauche, Lissabon-Hamburg, 45. 79 Nahon, Espace religieux, 243−272. − idem, Mudado. 80 Bauche, Lissabon-Hamburg, 45. 81 Für Venedig siehe Arnold, selhe ponha húa boa pedra, 69−83. 82 Bregman, Golden Way. −  eadem, Bundle of Gold. 83 Berliner, Luchot avanim. − Bernstein, Luchot avanim II. − Arnold, Sepulkraltraditionen, 150. 84 Fuks/Fuks-Mansfeld, Hebrew and Judaic Manuscripts, 141 [HS ROS. 566]. 85 Brombacher, Chofne Zetim. − eadem, Poetry on Gravestone.

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Pina alias Reuel Jessurun nach einer poetischen Vorschrift aus seiner 1633 in Hamburg gedruckten Gramatica Hebraica,86 sondern wahrscheinlich auch die für Sara Miriam Senior Coronel87 sowie für Mitglieder der deutschen Juden. Joseph Francês, für den Amsterdamer Daniel (Levi) de Barrios ein Hamburger Camões, verfasste eine Grabinschrift für den Hamburger Oberrabbiner Isaac Jessurun.88 Auf den Altonaer Kantor, Notar und Übersetzer Abraham Meldola, der auch Grabinschriften verfasste und für Predigten immer wieder Gedichte schrieb,89 geht die Grabinschrift für den bedeutenden, in Hamburg geborenen Reformer und Pädagogen Naftali Hirz Wessely zurück. Dabei bediente sich Meldola aber eines Lobgedichtes des Amsterdamers Joseph Franco Serrano, das dieser jedoch nicht für Wessely, sondern für den großen Amsterdamer Rabbiner Isaac Uziel verfasst hatte.90 Die Grabinschrift für seinen Bruder Moses Wessely entspricht mit Ausnahme des Vornamens der des in Amsterdam verstorbenen Isaac Uziel.91Auch die Grabinschriften für die auf Curaçao gestorbenen Jacob Lopes da Fonseca und Ishac Henriques Farro wurden in Amsterdam verfasst.92 Die Grabinschriften waren als literarische Schöpfungen gedacht und sind damit heute ein legitimer Bestandteil der hebräischen, portugiesischen und spanischen Literatur.93 Mögliche Hinweise auf die dichterischen bzw. künstlerischen Vorlagen geben uns die bedeutenden sefardischen Rabbinerbibliotheken des 17. Jahrhunderts, in denen sich neben Talmudica und Hebraica zahlreiche Gedichte, Romane und Theaterstücke in spanischer, portugiesischer, italienischer und französischer Spra-

86 Klijnsmid, Se qual o ouro, 319−373. – Maleakhi, Moshe Gideon 307−317. −  Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon. Manuskripte seiner zahlreichen hebräischen Epitaphien befinden sich in Amsterdamer Bibliotheken. 87 Studemund-Halévy, La mort, 353−363. 88 Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon. 89 Studemund-Halévy, Jerusalém. Die Lusiaden des Camões erfreuten sich unter den Sefarden großer Beliebtheit. Ausgaben seiner Werke befanden sich auch in den Amsterdamer und Hamburger Rabbinerbibliotheken, und besonders die Amsterdamer Poeten zitieren ihn immer wieder, so zum Beispiel Barrios, Bello Monte, 264−265 („Alma minha gentil“), oder Juan de Pina, der in seinem Canção funebre auf den Tod des Amsterdamer Oberrabbiners Saul Levi Mortera das Gedicht Fermosa e gentil Dama, quando vejo des portugiesischen Nationaldichters Luís de Camões zitiert, das seinerseits auf das Gedicht Di pensier, di monte in monte von Petrarca zurückgeht; siehe dazu Studemund-Halévy, Ecos ibéricos. − Germano, La Poésie. 90 Das ursprünglich in hebräischer Sprache verfasste Gedicht erschien 1683 als Octava Acrostica in dem Buch Triumpho del Govierno Popular (Amsterdam 5443/1683) des Daniel Levi de Barrios. Sarraga/ Sarraga, 330−370. Siehe auch Studemund-Halevy, Persistence of Images. 91 Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon; idem, Persistence of Images. 92 Oliel-Grausz, Relations. 93 Brown, Spanish, Portuguese, and Neo-Latin Poetry. − Brown/Karau, La poetisa, 439−480. − idem, Genio y figura, 469−477.

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che finden.94 Zahlreiche Gedichtsammlungen Hamburger Rabbiner befinden sich in den Amsterdamer Bibliotheken Ets Haim und Rosenthaliana.95 Eine weitere, noch immer nicht systematisch ausgewertete Quelle für Grabinschriften sind die sermões, die Predigten in portugiesischer Sprache, da die Gemeindemitglieder keine oder nur geringe Kenntnisse des Hebräischen hatten. Zwischen 1639 und 1800 wurden in Amsterdam mehr als 8.000 Predigten gehalten, von denen die meisten verloren sind und nur wenige gedruckt wurden.96 Diese sermões sind nicht nur wichtige Sprachzeugnisse, sondern auch gemeindegeschichtliche Dokumente, denn sie schildern häufig Konflikte in den betreffenden Gemeinden.97 Eine systematische Lektüre dieser Predigten würde neben einem besseren Verständnis der Gemeindegeschichte sicherlich auch die Lektüre zahlreicher Epitaphien erleichtern. Viele Epitaphien legen den Schluss nahe, dass die Portugiesen nicht nur mit der iberischen Barockliteratur und ihren intellektuellen und politischen Ideen sowie gesellschaftlichen Werten vertraut waren, sondern auch mit der jüdisch-spanischen bzw. jüdisch-arabischen Literatur.98 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Erwähnung des „himmlischen Taus“ auf dem Grabstein der 1635 in Hamburg verstorbenen Sara Miriam Senior Coronel.99 Mit dem himmlischen Tau lässt die Grabinschrift ein Motiv anklingen, das als „Wassersegen“ in der jüdischen Literatur bekannt ist, mit dem Gott einst den Frommen zu neuem Leben erwecken wird. Der himmlische Tau – im biblischen Hebräisch bedeutet das Wort auch Regen – bezeichnet eine Wasserquelle für pflanzliches Leben (Hosea 14, 6−8) und symbolisiert das Leben und die Güte Gottes (Zacharias 8, 12). Im sefardischen Ritus wird am Ende der Regenperiode und zu Beginn der Sommerperiode ein besonderes Gebet für den Tau gesprochen, das Teil des Mussaf-Gottesdienstes am ersten Tag des Pessachfestes bildet, weil man überzeugt ist, dass die „Tau-Lager“ an diesem Tag geöffnet würden. Und im Mussaf-Gebet zum Laubhüttenfest heißt es: „Der himmlische Tau wird eines Tages alle jene auferwecken, die in ihren Gräbern schlafen.“ Und weil nach rabbinischer Auffassung die Toten vom himmlischen Tau leben, den Gott seinem Volk wegen der Verdienste Abrahams auf ewig versprochen hat (Psalm 110, 4), wird in den Pirke de-Rabbi Elieser der himmlische Tau zu einem Garanten der Auferstehung für die

94 Siehe dazu Studemund-Halévy, Codices Gentium, 287−319. −  Kaplan, Circulation of Books. 95 Fuks/Fuks-Mansfeld, Hebrew and Judaic Manuscripts. 96 So soll Menasseh ben Israel 450 Predigten, Saul Levi Morteira über 1.400 und Isaac Aboab da Fonseca über 1.000 verfasst haben. Hamburger Predigtsammlungen sind die von Semuel Yachia alias Álvaro Dinis (Trinta Discursos, Hamburg 1629), Livro da Providencia divina, Hamburg 1663 von Isaac Jessurun und Questoens & discursos academicos ([Hamburg] 1688) von Abraham Cohen Pimentel. Siehe Lieberman, Sermons 49−72. 97 Fonseca, Contributo dos sefarditas, 64−65. 98 Kaplan, Exclusion, 62−86. 99 Studemund-Halévy, La mort, 353−363.

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Nachkommen Jacobs und das Volk Israel: „Rebekka sagte zu Jakob: Mein Sohn, [in] dieser Nacht werden die Schätze des Taus eröffnet.“ In der hebräischen und arabischen Dichtkunst Andalusiens gehört der Wassersegen über dem Grab zu den beliebtesten literarischen Topoi.100 Die Vorstellung des Grabes als getränkter Garten geht auf Jesaia 58, 11 zurück: „Und wird Deine Gebeine stärken, und Du wirst wie ein getränkter Garten sein.“ Dieses poetische Bild zitiert nach der Ferrara-Bibel (1553) auch die Grabinschrift des 1648 in Hamburg gestorbenen Abraham Haim Jessurun: „Und wird Deine Gebeine stärken, und Du wirst sein wie ein getränkter Garten und wie ein Wasserquell, dessen Wasser nicht täuschen.“ 101 In mindestens vier weiteren Hamburger portugiesisch-hebräischen Grabinschriften wird das Bild des himmlischen Taus zitiert.102 Einen möglichen Einfluss sefardischer Grabsprache auf die der Aschkenasen zeigt das aus der Antike bekannte SISTE VIATOR-Motiv („Verweile, Wanderer!“), das auf den Friedhöfen der Aschkenasen eher selten ist und erst im 19. Jahrhundert häufiger auftritt, zum Beispiel in Potsdam. Dieses bei den Sefarden beliebte Motiv findet sich übrigens auch in den Sonetten des portugiesischen Nationaldichters Luís de Camões, dessen Gedichte sich unter den Hamburger Portugiesen großer Beliebtheit erfreuten.103 Auf dem aschkenasischen Areal des jüdischen Friedhofs Königstrasse ist das Motiv unter dem Einfluss der Sefarden (?) jedoch häufig vertreten: Der Tote spricht mit dem Besucher bzw. der Besucher richtet das Wort an den Verstorbenen, die Worte des Epitaphs werden dadurch gleichsam zu einem Gruß, den der Wanderer dem Toten entbietet, und zu einem Gebet für den Verstorbenen, das darum häufig mit dem Wort Amen endet: „Wanderer, der Du hierher kommst, lobe ihre Erinnerung, nehme Dir an ihren Tugenden ein Beispiel.“ (Hamburg, sefardisch); „Siehe, der da vorbeizieht hier zwischen den Gräbern, bleibe stehen und wehklage um eine teure Frau, denn sie war Stütze für Arm und Reich.“ (Hamburg, aschkenasisch, Nr. 0237 von 1806).

Mit den Augen der anderen Wie sehr dieses theatrum sefardicum, diese häufig theatralisch inszenierte sefardische Sepulkralkunst in Wort und Bild, sowie die kunstvolle Kombination der Symbole, der Bilder und der Sprachen vor allem die nicht-jüdischen Besucher faszinierte, erfahren wir aus den zahlreichen Reiseberichten des 17. und 18. Jahrhunderts. Wie sehr diese Kunst aber wegen ihrer

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Schippers, Spanish Hebrew Poetry, 279−286. Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon. Studemund-Halévy, La mort. −  idem, Biographisches Lexikon. Não passes, caminhante! – Quem me chama? (Bleib stehen. Wanderer! – Wer ruft mich nun?). − Über Camões und die Hamburger Portugiesen siehe Studemund-Halévy, Coimbra. − idem, Ecos ibéricos.

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Opulenz zumindest am Anfang Kritik nach sich zog, zeigen die zum Teil heftigen Reaktionen der Rabbiner, die den zur Schau gestellten Reichtum und Prunk entschieden kritisierten, aber wegen der wirtschaftlichen Macht der Bankiers und Großkaufleute, die den Gemeindevorstand beherrschten, notgedrungen hinnehmen mussten.104 So umfassend über den Prunk und den Reichtum der Sefarden im Amsterdam des 17. Jahrhunderts informiert wird, so dürftig ist die Quellenlage in Hamburg: Nur von einem Palais hat sich eine Zeichnung erhalten,105 kein Rabbinerporträt ist überliefert und kein Reisebericht erwähnt den Portugiesenfriedhof und seine Steine. Es kam weder zur Errichtung einer sefardischen Synagoge (im 17. Jahrhundert) noch ließen sich die Rabbiner oder die Mitglieder der europaweit agierenden Residentenfamilien Senior Teixeira, Curiel oder Rosales porträtieren. Die spärlichen Quellen berichten jedoch vom Reichtum und Luxus der Bankiers, Großkaufleute und Residenten. Die Hamburger sahen mit großen Augen den offen zur Schau gestellten Luxus der Portugiesen und standen erstaunt vor den prunkvollen Häusern der portugiesischen Großkaufleute und Residenten, die die Bewunderung der Besucher, aber auch Neid hervorriefen, der von den Geistlichen mit dem Argument geschürt wurde, dass die Juden „ihre Häuser wie Paläste bauen“. So notierte der schwedische Offizier Galeazzo Gualdo Priorato, der im Auftrag des schwedischen Königshauses 1663 in Hamburg weilte: „Es gibt in Hamburg etwa 120 portugiesische und 40 bis 50 deutsche jüdische Häuser. Die Portugiesen wohnen in der Altstadt und treiben großen Seehandel [...]. Die Juden haben eine öffentliche Synagoge und haben viele Privilegien. Ihnen dürfen keine Lasten auferlegt werden. Sie dürfen Häuser mieten wo es ihnen gefällt.“106 Über die Aktivitäten, den Reichtum und Luxus der Hamburger Portugiesen waren die portugiesischen und spanischen Inquisitionsgerichte erstaunlich gut informiert. So wies zum Beispiel der Denunziant Semuel Aboab die spanische Inquisition immer wieder darauf hin, dass diese Juden Residenten, Konsuln, Faktoren, Korrespondenten und Avisenschreiber waren und dass die prunkvollsten Häuser, in denen wie selbstverständlich fremde Könige und Fürsten logierten, natürlich den portugiesischen Residenten gehörten, die den Königen und Fürsten vor allem als im internationalen Handel erfahrene Bankiers dienten.

104 Siehe dazu Weinstein, Sepulchral Monuments. 105 Studemund-Halévy, Portugal in Hamburg, 224. 106 Galeazzo Gualdo, Hamburg; zitiert nach: Berkefeld, Hamburg, 49−50. − Studemund-Halévy Hamburger Sefarden, 197.

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„Es residiren in Hamburg verschiedene Minister fremder Mächte, nehmlich: [...] Don Diego Tesceira, ein Portugiese [...] Ein desgleichen von Portugal: Herr Nunez da Costa, Portugiese.“107 Neben dem Reichtum und der Tatsache, dass die Hamburger Portugiesen als Juden große gesellschaftliche Anerkennung genossen, versäumten es Reisende, die sich in Hamburg aufhielten, selten, auf die große Bildung, Weltläufigkeit und Gastfreundschaft dieser Residenten hinzuweisen. 1688 schrieb Gregorio Leti in seinem immer noch wenig bekannten Bericht über Hamburg, dass die Handelsstadt ein bedeutendes Zentrum der Gastfreundschaft und Kultur in Mitteleuropa sei und dass unter den Hamburger Residenten keiner einen größeren Ruf habe als Manuel (Isaac) Senior Teixeira: „Der Resident der Herr Teixeira macht der Stadt große Ehre, weil er sich bemüht, die Fremden zu ehren und zu schmeicheln, und die Bürger der Stadt mit großer Vorsicht und Liebe zu behandeln, so dass sein prächtiges Haus einem wie ein Theater dünkt und ein Gasthaus der Höflichkeit.“108 In seinem prächtigen Wohnhaus am Jungfernstieg, das rasch zu einer Sehenswürdigkeit avanciert und ein „irdisches Paradis“ genannt wird,109 empfangen die Teixeras wichtige Hamburger Persönlichkeiten sowie auswärtige Geschäftspartner und Vertreter europäischer Fürstenhäuser. Kein Wunder also, dass der aufwendige Lebensstil der Hamburger Residenten nicht nur den Neid der Hamburger und den Zorn der Lutheraner hervorrief, sondern auch vom Ausland kritisch beobachtet wurde. Für die Hamburger Lutheraner war die Tatsache, dass die Portugiesen Kutschen besaßen und christliche Dienstboten beschäftigten, schwer mit ihren Grundsätzen zu vereinbaren, dass die Juden in einer christlichen Gesellschaft nur Fremde sein konnten, den Christen unterworfen, und ihnen nur der Stand der Knechtschaft zustand. So protestierte die Geistlichkeit immer wieder gegen die sonn- und festtäglichen Kutschfahrten und Ausritte und gegen die Anstellung von Dienstboten, was doch allein hohen Standespersonen zukomme. Da der

107 Galeazzo Gualdo, Hamburg 49−50. 108 Leti, Ritratti historici 378. − Studemund-Halévy, Minister fremder Mächte, 162. − idem, Hamburger Sefarden, 198. Ob Leti auch Hamburg besucht hat bzw. mit Hamburgern korrespondierte, ist nicht bekannt, kann aber vermutet werden (mündliche Mitteilung von Jonathan I. Israel). Seine Bücher jedoch waren einigen Hamburger Portugiesen bekannt. Siehe dazu Studemund-Halévy, Codices Gentium, 287−319. 109 Hoevelen, Deutsche Grosse, 65. − Vgl. auch die Schilderung von Gregorio Leti von dem Amsterdamer Wohnhaus des Jerónimo Nunes da Costa: „Dieses Haus ist das komfortabelste und das großartigste, zumindest der Stadt [Amsterdam]. Es besitzt einen unvergleichlichen Garten. Und von dem Haus könnte man sagen, es sei ein Hof, denn man sieht dort eine große Anzahl von Fremden“: Leti, Del teatro Brittanico, 406.

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Friedhof außerhalb der Stadt lag und die Leichenwagen einen langen Weg vor sich hatten, erregten die besonders prachtvollen Leichen-Kutschen der Residenten ihren Zorn. Bei der Beerdigung von Abraham Senior Teixeira kommt es zu heftigen Tumulten, bei der „fast alle das Gefolge bildenden Mitglieder, sowohl auf dem Wege nach dem Begräbnisplatz wie auf dem Heimweg, vom Pöbel (canalha) misshandelt und beschimpft (avexados) werden. Man öffnet gewaltsam die Wagen und bewirft die darin befindlichen Personen, gegen allen Respekt, mit Schneebällen und Schmutz.“110

Universale Fremde Die Geschichte der Neuchristen zwischen Atlantik und Nordsee ist geografisch, kulturell, religiös und familiär mit den Begriffen Durchreise und Weitergabe verbunden.111 Die Durchreise manifestiert sich im Verlassen des iberischen Raumes (terras de idolatria) und im ununterbrochenen Emigrationsfluss in Länder mit eingeschränkter oder vollständiger Religionsfreiheit (terras de bom judesmo), wobei die wohlhabenden Neuchristen im 16. und 17. Jahrhundert zunächst häufig in Antwerpen Station machten, bevor sie nach Italien und später ins Osmanische Reich weiterzogen, und erst dort dem Bund Abrahams beitraten. Nur in religiöser Hinsicht allerdings bedeutete diese Durchreise einen Bruch, denn zum einen blieben wirtschaftliche und diplomatische Verbindungen zur Iberischen Halbinsel bestehen, zum anderen rissen die kulturellen Bindungen, für die die literarische und apologetische Produktion der Juden von Amsterdam und ihr „Kult“ der Hispanität einen überzeugenden Beweis liefern, niemals ab.112 Damit kam der Weitergabe eine wesentliche Bedeutung zu, die Lücke zu schließen, verlief doch die Rückkehr ins normative Judentum über das Erlernen einer für sich in Anspruch genommenen Tradition, derer die meisten Neu-Juden durch mehrere Generationen christlicher Erziehung verlustig gegangen waren. Die jüdischen Traditionen mussten die Gründer der Gemeinde erst erlernen, war doch die erste jüdische Gemeinde, der sie angehörten, eine Gemeinde, die sie selbst gerade erst gegründet hatten. Diese Lücke innerhalb der Traditionskette machte die Weitergabe des Judentums zu einer wirklichen Mission, die vor allem den geistigen Führern wie Rabbinern und ihren Hilfskräften anvertraut wurde. Die vor der Inquisition geflüchteten Emigranten von der Iberischen Halbinsel durften sich in Hamburg und Amsterdam zu ihrer neuen Religion bekennen, ohne jedoch als Gemeinde de jure anerkannt zu sein. Da ihnen die Calvinisten und Lutheraner den Bau von Synagogen 110 Studemund-Halevy, Minister fremder Mächte. 111 Oliel-Grausz, Relations. 112 Germano, La Poésie.

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zunächst nicht erlaubten, waren sie gezwungen, ihre Gebete in Privathäusern abzuhalten.113 Auch der Ankauf eines Begräbnisplatzes in Hamburg oder Amsterdam wurde ihnen anfangs verwehrt, ihre Toten mussten sie auf kirchlichen Friedhöfen begraben.114 Auch als die Zahl der Portugiesen immer größer wurde, ließ die rechtliche Anerkennung lange auf sich warten. Erst als die Portugiesen 1611 außerhalb Hamburgs einen Begräbnisplatz erwerben konnten, wurde ihnen 15 Jahre später auf den Kohlhöfen innerhalb der Stadtgrenzen ein provisorischer Platz angeboten, den sie bis 1653 belegen konnten. Zahlreiche Stelen auf dem Friedhof Königstrasse erinnern noch heute an diesen 1653 aufgelassenen Binnenfriedhof (Bet Haym del dentro) und die dort Bestatteten.115 Der wirtschaftliche Erfolg der Portugiesen sowie die Möglichkeit, in der Elbmetropole Handel treiben zu können, sprach sich nicht nur auf der Iberischen Halbinsel herum. Bald setzte sich die Gemeinde aus Mitgliedern aus Amsterdam und Antwerpen, Nizza und Bordeaux, Livorno und Venedig, Oran und Salé, Saloniki und Konstantinopel, später auch aus Indien und Brasilien zusammen. Was nicht selten zu Konflikten führte, denn mit der Zuwanderung bestand die Gemeinde nicht mehr allein aus Neu-Juden (judeus novos), sondern vermehrt auch aus Alt-Juden (judeus velhos), aus Menschen also, denen die christliche bzw. krypto-jüdische Erfahrung fehlte. Es waren gerade diese aus traditionellen sefardischen, spanischsprachigen Zentren stammenden Alt-Juden Nordafrikas, Italiens und des Osmanischen Reiches, die einen entscheidenden Anteil an der Rejudaisierung hatten, als Rabbiner, Kantoren und Lehrer. Zu ihnen stießen Alt-Christen (cristãos velhos) von der Iberischen Halbinsel, die wegen ihres Luthertums (luteranismo) von der Inquisition verfolgt worden waren, waren es doch gerade conversos aus Antwerpen, die Luthers Schriften gedruckt und auf die Iberische Halbinsel geschmuggelt hatten.116 Später unterhielten zahlreiche dieser zum Judentum konvertierten Alt- und Neu-Christen intensive Beziehungen mit nonkonformistischen, schwärmerischen Christen, von denen einige zum Judentum konvertierten, wie zum Beispiel Benedictus Sperling aus Altona.117 Es kann daher kaum überraschen, dass die Wiederannäherung der portugiesischen Juden an das Judentum, auch nachdem sie sich wieder in jüdischen Gemeinden konstituiert und sich der Autorität der mündlichen Lehre unterworfen hatten, von starken ideologischen und intellektuellen Spannungen geprägt blieb. Die emigrierten conversos hatten häufig in mehre113 114 115 116

Swetschinski, Cosmopolitans, 10−12. – Huussen, Legal Position, 25−41. −  Braden, Judenpolitik. Studemund-Halévy/Zürn, Zerstört die Erinnerung nicht. Ibd. Da auch Alt-Christen von der Inquisition verfolgt wurden, zeigten diese nicht selten ein großes Interesse an der krypto-jüdischen Religionskritik, siehe dazu Bodian, Law of Moses, 178−179. − Zu den Neu-Juden siehe Studemund-Halévy, Les aléas de la foi, 363–382. 117 Strauss, Conversion, 166−174.

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ren Ländern gelebt, hatten unterschiedlichste kulturelle, soziale und wirtschaftliche Einflüsse aufgenommen. Ihre Rückkehr ins normative Judentum konnte nicht verbergen, dass ihre Lebens- und Denkweise stark von den Erfahrungen determiniert wurde, die sie über Generationen hinweg im Schatten der katholischen Kirche gesammelt und verinnerlicht hatten. Wegen ihrer außergewöhnlichen Sprach- und Grabkunst gehören die sefardischen Friedhöfe zu Recht zu den bedeutendsten jüdischen Begräbnisstätten der frühen Neuzeit. Forschungen zahlreicher Historiker, Kunsthistoriker, Sprachwissenschaftler und Genealogen haben uns in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass die bewegenden Vitae der hier bestatteten Neu-Juden unterschiedlicher nicht sein konnten und ihre Kunst als ein Ergebnis einer globalisierten jüdischen Kunst und eines sefardischen Selbstverständnisses verstanden sein will. Angesichts dieser unterschiedlichen kulturellen, ideologischen und sozialen Identitäten verdienen die Friedhöfe der Portugiesen, die Biografie der hier Bestatteten, die Epitaphien, die Grabdekoration und die prunkvollen Bildprogramme eine eingehende religions- und mentalitätsgeschichtliche sowie eine systematisch-historische, kunsthistorische und linguistische Betrachtung.

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Cemetery of Altona-Königstraße, Hamburg. In: M. Studemund-Halévy (Hrsg.), Die Sefarden in Hamburg. Zur Geschichte einer Minderheit. Bd. 2 (Hamburg 1997), 551–660. Weinstein, Sepulchral Monuments R. Weinstein, Sepulchral Monuments of the Jews of Amsterdam in the Seventeenth and Eighteenth Century (PhD, New York 1979). Weinstein, Women R. Weinstein, Women of Valor in commemorative Imagery. In: Proceedings of the Eight World Congress of Jewish Studies. Division D (Jerusalem 1982). Wischnitzer, Friedhofskunst R. Wischnitzer, Alte Friedhofskunst. Der Jude II, 10, 1917, 688–691. Wischnitzer, Holbeinbibel R. Wischnitzer, Von der Holbeinbibel zur Amsterdamer Haggadah. Monatsschrift zur Geschichte und Wissenschaft des Judentums 75, 1931, 269–286. Wolfthal, Picturing Yiddish D. Wolfthal, Picturing Yiddish. Gender, Identity, and Memory in the Illustrated Yiddish Books of Renaissance Italy (Leiden 2004).

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Michael Studemund-Halévy

Abb. 2: Der Knochenmann kämpft vergebens mit der himmlischen Macht um einen Sterbenden. Grabsteindetail vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

Abb. 1: Weinende Putti mit Shjofor verweisen auf die Trauer, der Totenkopf mit gekreuzten Knochen ist ein beliebtes memento-mori-Motiv. Grabstein vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

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Abb. 3: Auf dem kastenförmigen Grabstein eines Mitglieds der Beerdigungsbrüderschaft künden Totenschädel, Schaufel, Tau und Leiter vom Ehrenamt des Verstorbenen. Grabstein vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

Abb. 4: Daniel in der Löwengrube. Grabsteindetail vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

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Michael Studemund-Halévy

Abb. 5: Isaac auf dem Felde betend. Grabsteindetail vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

Abb. 6: Joseph im Brunnen. Grabsteindetail vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: J. Faust, Neukirchen-Vlyn).

Abb. 7: Die Abbildung Rahel mit den Schafen zeigt Rahel im reizvollen Schäferinnengewand, das üppige Dekolleté erklärt sich durch das Interesse der Sefarden an der Schäferlyrik. Grabsteindetail vom jüdischen Friedhof Altona, portugiesischer Teil (Bildnachweis: Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg).

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Jüdisches Mäzenatentum zwischen Assimilation und Identitätsstiftung in Wien 1800–1930

Der Einfluss des jüdischen Assimilationsprozesses auf die Visualisierung der Wiener Moderne war von verschiedenen Motivationen der Akteure geprägt. Von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den 1930er-Jahren versuchten mehrere Generationen jüdischer Mäzene, sich in der Wiener Gesellschaft durch die Förderung von Kunst zu etablieren. Meine einführende Hypothese lautet, dass bürgerliche Juden durch ihr Mäzenatentum und durch ihre Förderung von zeitgenössischer Kunst und Architektur Grenzen in ihren Assimilationsprozessen definieren, um die kollektive jüdische Identität zu bewahren.1 Ausgangpunkte für die Diskussion meiner Hypothese sind zwei wichtige Argumente aus dem Vorwort des Standardwerks Die Juden Wiens (1933) des zu seiner Zeit berühmten Wiener Kunsthistorikers Hans Tietze. Das erste Argument betrifft den gegenseitigen Einfluss von Juden und ihrer Wiener Umgebung (Gesellschaft, kulturelles Erbe etc.): „[…] im XIX. Jahrhundert an Zahl und Geltung stürmisch angewachsene jüdische Minderheit ihre Umgebung verändern, gleichzeitig zersetzen und befruchten und von dieser zersetzt und befruchtet werden musste. Aus diesem Prozeß, der ein unverlierbarer Teil des historischen Daseins so gut Wiens wie der Wiener Juden ist, sind beide als neue Gebilde hervorgegangen, anders als sie ohne diese Einwirkung geworden wären.“2 Das zweite Argument im Vorwort zu Tietzes Bestandsaufnahme weist auf eine kreative Lösung hin, die aus dem Spannungsfeld zwischen Selbstbehauptung und Assimilation entwächst: „Wie alle anderen Gruppen westeuropäischer Juden haben auch die Wiener [Juden] an der gegensätzlichen Doppelheit völkischer Gemeinschaft und kultureller Assimilation teil; zwischen den beiden Polen völliger nationaler Behauptung und restlosen Aufgehens in der Umgebung hat sich auch hier eine spannungsreiche Fülle von Lösungsversuchen entwickelt.“3 Ich werde Tietzes Argumente aus jüdischer und kunstgeschichtlicher Perspektive diskutieren: Die Historikerin Paula Hyman differenziert in ihrem Buch Gender and Assimilation in

1 2 3

Der folgende Essay bezieht sich auf das zweite Kapitel meiner Dissertation: Shapira, Assimilating. Tietze, Juden Wiens, 9 f. Tietze, Juden Wiens, 10.

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Modern Jewish History4 zwischen Assimilation als soziologischem Prozess und Assimilation als Projekt. Der soziologische Prozess begann nach Hyman mit der Akkulturation und beinhaltete „the acquisition of the basic markers of the larger society such as language, dress and the more amorphous category of ‘values’.“5 Dieser Prozess wurde in einigen Fällen mit biologischer „Fusion“ abgeschlossen.6 Als „Projekt der Assimilation“ beschreibt Hyman die offizielle Reaktion von Funktionären jüdischer Gemeinden in Europa und in den USA auf die Emanzipation als kollektive jüdische Politik.7 Sie untersuchte die Genderrollen in diesem Assimilationsprojekt und kam zur Erkenntnis einer diskriminierenden Arbeitsteilung: Jüdischen Frauen wurde die Verantwortung für die Erhaltung der religiösen Tradition zu Hause zugeschrieben, während jüdischen Männern die Freiheit für volle Integration im öffentlichen Leben zugestanden wurde. Hymann schließt die Einführung zu ihrem Buch mit der These: „The project of assimilation contained an unacknowledged source of tension: the assumption that limits could be set to assimilation, that Jews would not disappear completely within the larger society, that individual mobility would not conflict with group survival.“8 Hymans Argument über das offizielle Assimilationsprojekt kann man auch für das kulturelle Assimilationsprojekt anwenden, welches von prominenten jüdischen Mäzenen getragen wurde und das ich als „Designed Assimilation“ bezeichne. Beim Assimiliationsprojekt der Wiener Juden kann man die Grenzen der Assimilation daran erkennen, dass es darum ging, das jüdische Erbe an die nächste Generation bzw. an künftige Generationen weiterzugeben. Wie sehen diese selbst gesetzten Grenzen im Assimilationsprozess im Fall jüdischen Kunstmäzenatentums aus? Die Beantwortung dieser Frage habe ich in zwei Teile geteilt: Der erste Teil beschreibt die Narrative von „Assimilation als Projekt“ von 1800 bis 1938. Der zweite Teil zeigt Kontinuitäten in diesen Narrativen.

Mehr als 130 Jahre Narrativ „Assimilation mit Stil“ oder „Assimilation als Projekt“ Was ich als „Assimilation als Projekt“ bezeichne, ist eine ästhetische Selbstbehauptung zur Überbrückung der Kluft zwischen dem, was Tietze als völkische Gemeinschaft und Assimila4 5 6 7 8

Hyman, Gender. Hyman, Gender, 13. Hyman, Gender, 13: „[…] the dissolution of the minority by biological merger with majority through intermarriage.“ Hyman, Gender, 14. Hyman, Gender, 48.

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tion bezeichnete. Chronologisch kann man dieses Narrativ in vier verschiedene Perioden und Stile unterteilen: Die erste Periode fällt in die Zeit des Biedermeier, die Zeit der großen Salons von Fanny von Arnstein, ihrer Schwester Cäcilie Eskeles und ihrer Tochter Henriette PereiraArnstein sowie der Errichtung der ersten aschkenasischen Synagoge in Wien; die zweite Periode gehört dem Historismus an (eine eklektische Komposition verschiedener historischer Stile wie Hellenistik, Gotik, Renaissance und Barock) und der Zeit der Ringstraßen-Mäzene; die dritte Periode fällt in den Sezessionismus (inklusive Jugendstil und moderne Architektur sowie expressionistische Kunst) und die Zeit der Moderne-Mäzene. Die vierte Periode entspricht der Fortsetzung einer Art von modernistischem Stil und der Zeit der zweiten Generation der Architektur der Moderne, der expressionistischen Richtung und Förderung von zeitgenössischer Kunst. Die erste Periode beginnt mit dem Salon einer charismatischen Frau am Anfang des 19. Jahrhunderts: Fanny von Arnstein (Abb. 1). Die sozialen Veranstaltungen in den Salons der Arnsteins, ihrer Schwester Cäcilie Eskeles und ihrer Tochter Henriette Pereira fußten auf der unausgesprochenen Vereinbarung zwischen den Wiener Juden und Kaiser Franz I. hinsichtlich ihrer Mitwirkung in der Stadt. Jüdisches Wirken in Bezug auf die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung findet ihren Ausdruck in öffentlichen Veranstaltungen für eine kleine Elitegruppe von Aristokraten, Politikern und Künstlern.9 In einer Welt von legitimierten Vorurteilen, in der Diskriminierungsgesetze gegen Juden das Leben beeinflussten und jegliches Reisen zwischen Städten und über Grenzen hinweg behinderten, behaupteten diese drei Frauen ihren kulturellen Einfluss nicht nur aufgrund des Reichtums von Vater und Ehemännern, sondern in erster Linie aufgrund ihrer Selbstdarstellung. 1888 reklamierte Friedrich Uhl, Redakteur und Journalist der Wiener Zeitung, in seinem Buch über die Wiener Gesellschaft Wien 1848– 1888 10 die zelebrierten Biedermeier-Salondamen als eine Verbindung von orientalischer Abstammung und deutscher Erziehung. Ihre kulturelle Autorität allerdings haben die jüdischen Frauen durch ihre „hohe“ deutsche Erziehung reklamiert: „[…] Von den Frauen, welche mit Madame Herz und der Rahel-Varnhagen in Berlin in geistiger Schwesternschaft verbunden waren, zierte allerdings nur mehr eine geringe Anzahl die Palais Fries, Arnstein, Pereira, Eskeles u.s.w., aber aus den Frauen tönte doch noch die Sprechweise und die Geistart der hohen Schulen Berlins und Frankfurt, welchen Städten die Mehrzahl der Wiener Bankiers entstammte.“11 Der Bau der ersten aschkenasischen Synagoge in der Stadt Wien (1827) war Resultat des Finanzierungsbeitrags jüdischer Bankiers für den Krieg gegen Napoleon.12 Die Idee zu

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Shapira, Kunst. Uhl, Gesellschaft, 498. Uhl, Gesellschaft, 498. Vielmetti, Bedeutung.

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dieser Synagoge konnte auch durch ein geschicktes soziales Netzwerk der angesprochenen Biedermeier-Salons gefördert werden. Die Fassade dieser ersten aschkenasischen Synagoge, die am äußeren Rand des ersten Wiener Gemeindebezirks errichtet wurde, sollte – ganz im Gegensatz zur Tradition katholischer Sakralbauten – unauffällig sein. Gestaltet wurde der Innenraum, den Besuchererwartungen entsprechend, als eine modische Biedermeierhalle. Zur selben Zeit drangen der Bankier von Arnstein und die Geschäftsmänner Biedermann und Wertheimstein durch die Platzierung ihrer Häuser inmitten adliger und bedeutender Wiener Familien in den öffentlichen Raum ein, wie auf der Wiener Landkarte um 1830 zu sehen ist. 13 Die zweite Periode beginnt mit der Errichtung der zweiten aschkenasischen Synagoge, dem Tempel in der Leopoldstadt, mit einer auffälligen maurischen Fassade, die eine würdige visuelle Selbstbehauptung zum Ausdruck bringt, wenngleich der Tempel in einer kleinen Seitenstraße im zweiten Bezirk errichtet wurde (1858). Der Bau des Leopoldstädter Tempels machte die Anwesenheit von Juden in Wien zu einer öffentlichen Affäre (im doppelten Sinn).14 Jüdische Präsenz konnte man nun nicht mehr abstreiten oder verschweigen. Die Eröffnung des Tempels löste zahlreiche positive Reaktionen in liberalen Zeitungen aus.15 Fast zehn Jahre später, 1867, wurden den Juden erstmals der ungehinderte Aufenthalt und die Religionsausübung durch das Staatsgrundgesetz gestattet. Zu dieser Zeit entschieden sich dieselben Bankiers und Geschäftsmänner, welche die Errichtung des Tempels mit der maurischen Fassade in der Leopoldstadt unterstützt hatten, bei der Errichtung ihrer Palais an der Ringstraße gegen den maurischen Stil als exotisch und fremd und erbauten ihre neuen Zinspaläste im Zentrum der Stadt in historistischem Stil. Sie entschieden sich absichtlich dafür, mit dem hellenistischen und klassizistischen Stil vertraute Architekten zu engagieren, um ihre Identifikation mit der hellenistischen Kultur nach außen hin zu demonstrieren (Abb. 2). Diese Mäzene sahen sich als Nachfolger der „Hellenisten-Juden“ der Antike, die verschiedene Riten und Einstellungen der hellenistischen Kultur adaptierten und sich zugleich weiter als Juden definierten. Wie der Philologe Theodor Gomperz in einem Artikel gegen den Zionismus (1896) vorgeschlagen hat, wurde die hellenistische Kultur als eine gemeinsame kulturelle Basis mit liberalen Christen gewählt, um gegenseitigen Respekt sicherzustellen.16 Bankiers und Geschäftsmänner wie Max Gomperz, Gustav Epstein, Eduard Todesco und andere unterstützten auch die Bauten verschiedener Gebäude für Kunst und Wirtschaft wie das Musikvereinsgebäude, das Künstlerhaus, die Börse und das Österreichische Museum für Kunst und Indus13 14 15 16

Carl Graf Vasquez, Pläne der Stadt Wien bzw. der Polizeibezirke innerhalb des Linienwalls: Gesamtplan Wien. Kolorierte Lithografie (um 1830). Feuilleton – Kleine Wiener Chronik. In: Die Presse, Wien, vom 20. Juni 1858, S. 2. Häusler, Orthodoxie, 34. Gomperz, Essays, 198. – Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: Die Zeit, vom 29. Februar 1896.

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trie. Die neuen Mäzene setzten entlang der Ringstraße den historistischen Stil – Repräsentant eines imperialen Stils – als Mittel und auch als Zeichen für ihre „erfolgreiche“ Integration in die Wiener Gesellschaft ein. Die öffentlich zugänglichen Räume in ihren Zinspalais statteten sie im italienischen Renaissancestil aus.17 Die Ringstraßen-Mäzene schrieben ihre jüdischen Geschichtsnarrative als Teil des etablierten europäischen Narrativs neu: durch Inspirationen, die ihre Architekten etwa in Villen der Medici oder in venezianischen Kirchen fanden, sowie durch den Erwerb alter Meisterwerke aus adeligem Besitz. Ihre grandiosen Zinspaläste und ihre finanziellen Unterstützungen verschiedener kultureller Institutionen und Stiftungen in der Nähe zur Hofburg trugen zur Anerkennung von Wien als Zentrum der Monarchie Österreich-Ungarn bei. Verschiedene Autoren und Künstler haben diesen Beitrag der jüdischen Ring-Mäzene zu Wien hervorgehoben. Um 1869 schrieb der Journalist Joseph Weyl die folgende Skizze für den berühmten Johann-Strauss-Walzer An der schönen blauen Donau: „Wer uns’re Wienerstadt / Hübsch lang nicht g’sehen hat / Der find’t kein Haus mehr fast / Denn wo man nur hinschaut steht A Palast / Der Ring ist ein Juwel / Dort wohnt ganz Israel / In zehn Jahren baun’s bequem / Sich dorten ein neues Jerusalem.“18 Und tatsächlich sieht man in Wien 30 Jahre später eine visuelle Referenz zu Jerusalem mit dem Haus der Secession. Die dritte Periode des Narrativs „Assimilation mit Stil“ oder „Assimilation als Projekt“ ist die wichtigste und spiegelt die neue Positionierung von Juden in Wien wider. Dieser Teil in der Geschichte wirft mehr Licht auf den jüdischen Assimilationsprozess und bietet neue Erklärungen für die Formation der Wiener Moderne. Diese Periode beginnt um 1890 und endet mit dem Ersten Weltkrieg. Zu den ersten architektonischen Beispielen zählen die Wiener Stadtbahn-(heute U-Bahn-)Stationen von Otto Wagner und das Haus der Secession von Josef Maria Olbrich. Die Secession wurde hauptsächlich von Karl Wittgenstein, dem Vater von Ludwig Wittgenstein, finanziert.19 In Olbrichs Grabmal für den Herausgeber des Fremdenblattes Isidor von Klarwill (1898) und Oskar Marmoreks Grabmal für seinen Bruder Josef Marmorek (1902) erkennt man auch den Einfluss des Secessions-Hauses auf jüdische Grabmäler. Diese Periode der Moderne endet mit einem anderen architektonischen Meisterwerk, finanziert von den Schneidern Leopold Goldman und Emanuel Aufricht: das Goldman & Salatsch-Haus, geplant vom Architekten Adolf Loos, der in Opposition zur Bewegung der Secession stand (Abb. 3). Beide Häuser, das Haus der Secession und das Goldman & SalatschHaus, fasste man als Affront gegen die historistischen und lokalen Traditionen auf. Beide

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Wagner-Rieger/Reissberger, Theophil von Hansen, 232. Frühe Version des berühmten Johann-Strauss-Walzers An der schönen blauen Donau vom jüdischen Wiener Journalisten, Übersetzer und Bibliothekar Josef Weyl (Joseph Aloys Peter Weil), etwa 1869. Günther, Wittgenstein, 163. – Shedel, Art, 56 f.

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Häuser wurden von katholischen und deutschen Nationalisten, aber auch von konservativen und assimilierten Juden entweder als „orientalisch“ und fremd abgelehnt oder gefeiert.20 Einer der Gründe, warum diese Häuser soviel Kritik provozierten, war ihre Errichtung in unmittelbarer Nähe zu zwei wichtigen Gebäuden: Die Secession stand in der Nähe der Karlskirche und das Goldman & Salatsch-Haus nahe der Hofburg. Die maßgeblich durch die Unterstützung jüdischer Mäzene ermöglichten neuen Häuser stellten die Integrität und Autorität der zwei wichtigsten Institutionen infrage: die der Monarchie und die der römischkatholischen Kirche. Die Gebäude dienten dazu, das Interesse ihrer Finanziers öffentlich zum Ausdruck zu bringen und eine neue visuelle Kultur zu kreieren, um ein neues Narrativ der historischen kulturellen Wurzeln an ein europäisches Publikum zu richten. Parallel zu dieser Entwicklung wurde eine andere Praxis fortgesetzt, die schon bei den Biedermeier- und Historismusgenerationen zu sehen war, nämlich jene, zeitgenössische Kunst zu unterstützen. Allerdings gab es nun einen entscheidenden Unterschied: Die Biedermeier- und Historismus-Mäzene hatten ihre Porträtmaler sorgfältig ausgewählt, um ihr „jüdisches Aussehen“ zu kaschieren und möglichst unauffällig zu erscheinen. Dies war zu dieser Zeit jedoch auch ein Tabubruch, weil Juden nach mittelalterlicher Tradition immer anders als die anderen aussehen sollten. Ihr Versuch, sich wie Christen zu kleiden, galt anfangs als Beleidigung für die Christen. Die neuen Mäzene ließen sich – im Gegensatz zu ihren Vorfahren – eher von Außenseitern und provokanten Künstlern wie Gustav Klimt und Oskar Kokoschka porträtieren. Beide – heute anerkannte und geschätzte Künstler – stellten die akademische Tradition: Klimt durch seine Faszination für die sogenannte „Schwarze Romantik“ und seinen dekorativen Stil (wie zum Beispiel in seinen Bildern Judith I, 1901, und Adele Bloch-Bauer, 1907), und Kokoschka durch sein Bestreben, die existenzielle unsichere Position seiner Klienten durch expressionistischen Stil aufzuzeigen (wie zum Beispiel in seinem Porträt von Peter Altenberg, 1909).21 Dieser Affront gegen die Tradition geht zurück auf die Assimilationskrise im Zuge der Wahl von Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien und der Dreyfus-Affäre in Frankreich. Aber was am Ende entstand, war eine neue moderne Kultur sowohl für säkulare Juden wie auch für liberale Christen. Die Kunstkritikerin und Sprecherin der Secessionsbewegung und von Gustav Klimt, Berta Zuckerkandl, sprach über diese kulturelle Fusion durch die Moderne. Anlässlich der Eröffnung des Kabaretts Fledermaus (1907) formulierte sie in der Wiener Allgemeinen Zeitung: „Seit einem Jahrzehnt vereinigt unsere Stadt Elemente, welche durch eine starke Einheitlichkeit des Empfindens, durch eine besonders regsame schöpferische Kraft, ja durch ein gemeinsames ästhetisches und ethisches Glaubensbekenntnis eng 20 Aus der „Reichpost“ vom 13. November 1898; zitiert nach Kapfinger/Krischanitz, Secession, 132. – Hevesi, Sezession, 70. 21 Natter, Fürstinnen. – Shapira, Pioneers.

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aneinandergekettet sind. Die Kunstkultur, an deren Kristallisation sie arbeiten, hat weit über unser Land hinaus mächtige Förderungskeime gebracht.“22 Die vierte Periode beginnt mit dem Tod von Kaiser Franz Joseph und dem Beginn der Ersten Republik nach dem Ersten Weltkrieg. Sowohl Adolf Loos als auch Josef Hoffmann wirkten weiter, aber die neue Generation der zweiten Wiener Moderne war stark von ihren jüdischen Studenten wie Josef Frank und Oskar Strnad beeinflusst. Hier finden wir eine Fortsetzung jüdischen Mäzenatentums der Moderne: Jüdische Autoren und Geschäftsmänner unterstützen neue progressive Architektur als Vorbild, allerdings nicht mehr im Stadtzentrum wie bei den Vorgängergenerationen, sondern im 13. und 19. Bezirk. Berühmte Beispiele sind der Autor Jakob Wassermann, der Oskar Strnad für seine Villa (1914) engagierte, der Schuhfabrikant Dr. Julius Beer (1928−1930) (Abb. 4) und der Papierfabrikant Hugo Bunzl (1936), die Josef Frank und Oskar Wlach als Architekten für ihre Villen wählten,23 und auch die Tochter von Karl Wittgenstein, Margaret Stonborough-Wittgenstein, die Paul Englemann und ihren Bruder Ludwig Wittgenstein für ihre moderne Villa im 3. Bezirk in der Kundmanngasse engagierte. Das letzte Beispiel zeigt, wie sich der neue Trend weiter im Narrativ von „Assimilation als Projekt“ herauskristallisiert, wonach die dritte Generation assimilierter – im Fall der Wittgensteins sogar getaufter – Juden jüdische Architekten bevorzugt engagierte, um die Zukunft der jüdischen Volksgemeinschaft zu sichern. In ihrem Tagebuch schrieb Stonborough-Wittgenstein 1918 über ihre jüdische Herkunft: „Die jüdischen Geschichten, obwohl sie an sich gar nicht so gut sind, beschäftigen mich noch immer. Allein der Gedanke, dass ich aus einem derartigen Milieu stammen kann, das mir so fern + seltsam scheint! Dabei zieht es mich in der Theorie an; ob, weil es so ausgefallen ist oder wegen der Blutsverwandtschaft, das kann ich nicht entscheiden. Und welch eine merkwürdige Religion! Eine, die man nicht nebenbei betreiben kann, wie die andern die ich kenne, sondern eine die wirklich in fast alle Handlungen des täglichen Lebens eingreift + sie färbt. Sie muß deswegen viel schwerer abzuschütteln sein.“24 In der Kunst sehen wir eine jüdische Renaissance in den Werken jüdischer Künstler wie Max Oppenheimer und Georg Merkel und, parallel dazu, durch wichtige Persönlichkeiten im Kunstbetrieb wie den Kunsthistoriker und Gründer der Neuen Galerie in Wien (1924) Hans Tietze und den später geschäftsführenden Vizepräsidenten des Hagenbundes Otto Kallir-Nirenstein, die weiter die Moderne Kunst in Wien förderten. Wie vielfältig und kreativ die jüdische Selbstbehauptung war, werde ich durch weitere Beispiele belegen.

22

B. Zuckerkandl, Kunst und Kultur. Das Kabarett „Fledermaus“. Wiener Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1907, 3. 23 13. Bezirk, Wenzgasse 12, und 19. Bezirk, Chimanistraße 18. 24 Prokop, Bauherrin, 99.

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Jüdische Selbstbehauptung als Kontinuität im Narrativ „Assimilation als Projekt“ Wie schon am Anfang dieses Essays festgestellt, wurde von den meisten religiösen und säkularen jüdischen Mäzenen und auch prominenten getauften Mäzenen mit jüdischer Herkunft ein doppeltes Ziel verfolgt: Im historischen Narrativ „Assimilation als Projekt“ oder „Assimilation mit Stil“ war der Bau einer gemeinsamen kulturellen Ebene ein Ziel, welches eine Annäherung zwischen Juden und Christen ermöglichen würde. Parallel dazu wurde die Absicht verfolgt, diese Assimilation in Grenzen zu halten, jüdisches Erbe für die zukünftige jüdische Volksgemeinschaft als Kollektiv zu bewahren und die kulturelle Einzigartigkeit dieser Minderheit zu erhalten. Diese Vorsorge für die Volksgemeinschaft ist nicht nur altruistisch, sondern auch egoistisch motiviert, um die eigene persönliche Identität – auch wenn wir über einzelne getaufte Juden sprechen – intakt zu halten. Wenn man über Mäzenatentum spricht, geht es um Selbstpositionierung und Identitätsstiftung. Diese Identitätsstiftung, oder die Bewahrung von kulturellen Differenzen, könnte man auch in gegensätzlichen Verhaltensweisen sehen: z. B. in einer letzten Spende für die Synagoge oder den Tempel, eine Erinnerung an die sefardische jüdische Herkunft, Wunschäußerungen, nach Jerusalem zurückzukehren, in einer Identifikation mit „hellenistischen Juden“ oder mit alten Generationen Wiener jüdischer Mäzene, und mit Erinnerungen an den Exodus aus Ägypten oder eine Reise nach Ägypten und Palästina. 1814 war Fanny von Arnstein in der Stadt Wien wegen des Imports eines Christbaums anlässlich eines ihrer grandiosen Feste bekannt geworden. Sie war auch eine der ersten jüdischen Frauen, die den jüdischen „Dresscode“ aufgegeben hatten.25 1819 spendeten Nathan von Arnstein und Henriette Pereira in Erinnerung an die verstorbene Frau und Mutter Fanny einen Toravorhang für den zukünftigen Stadttempel.26 Der Toravorhang aus Samt, Seide und Stickerei trägt die hebräische Inschrift „Vor ihrem Tod hat diese außerordentliche Frau Feigele [Fanny] Baronin von Arnstein […] diese Gabe dem Gotteshaus als ein Geschenk von Herzen versprochen [...].“27 Der Grabstein von Fanny befindet sich auf dem Währinger Jüdischen Friedhof. 1810 konvertierten ihre Tochter Henriette und deren Ehemann Aaron Heinrich Pereira zum Christentum. Die folgende Generation, Fanny von Arnsteins Enkelsohn Ludwig, 25

Paucker, Bildnisse, 30: „Ein Druck aus dem Jahre 1800 [Sammlung Jewish Museum, London] zeigt in einer Gruppe von Juden vor einer Synagoge in Deutschland drei junge Frauen mit kurz geschnittenem Haar im zwangslosen Kostüm á la Directoire. Für die Karikaturisten war es just diese Übernahme einer gewagten neuen Mode, die ihnen eine willkommene Angriffsfläche bot, als hätten jüdische Frauen kein Recht, sich so wie andere Frauen zu kleiden.“ 26 Zu dieser Zeit dienten im Dempfingerhof ein paar Räume als Gebetsräume. 27 Kohlbauer-Fritz, Frauen, 55.

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wollte die sefardische jüdische Herkunft seines Vaters durch die byzantinistisch-maurische Fassade seiner Villa in Altenberg in der Nähe von Tulln (1843–1847) in Erinnerung bewahren. Die maurische Fassadengestaltung ist eine ästhetische Repräsentation des bis in die Gegenwart fortwirkenden, historisch-kulturellen Bezugspunkts sefardischer Juden, und seit dem 19. Jahrhundert auch für aschkenasische Juden.28 Die Architekten Ludwig Förster und Theophil von Hansen planten die Villa von Baron Ludwig Pereira zehn Jahre vor der Errichtung des Leopoldstadttempels. In einem Bericht schreibt Förster, dass Pereira selbst die Grundidee für seine Villa gezeichnet und an seine Architekten zur Realisierung weitergegeben habe.29 In seiner Erklärung über den Stil der Villa im gleichen Artikel benutzte Förster dasselbe Argument wie fast zehn Jahre später für den Stil des Leopoldstädter Tempels: Der Stil entspricht dem „Charakter der Israelitischen Nation“ am besten.30 Im April 1868 wurde das erste „Tableau vivant“ in einem sorgfältig inszenierten kulturellen Happening im Salon von Sophie Todesco vorgestellt: das Bild des deutschen Künstlers Eduard Julius Friedrich Bendemann Die Trauernden Juden im Exil (1831/1832). Es ist nicht ganz klar, ob die Idee dazu eine neue Konstruktion von jüdischer Identität war, wie Karlheinz Rossbacher vorgeschlagen hat,31 oder einfach eine Demonstration von jüdischem Geschichtsbewusstsein. Der Wunsch, nach Zion zurückzukehren, ist zu dieser Zeit eher romantisch als konkret zu interpretieren. 30 Jahre später, als Theodor Herzl mit seinen Versuchen begann, diesem Wunsch eine reale Gestalt zu geben, publizierte der Bruder von Sophie Todesco, der Philologe Theodor Gomperz, in der liberalen Zeitschrift Die Zeit einen Artikel gegen den Zionismus, worin er eigentlich den Assimilationsprozess lobt und, wie zuvor erwähnt, auch die hellenistischen Juden als Vorbild für seine Existenz im Exil reklamierte.32 Wie ausgeführt, drückten die meisten jüdischen Mäzene entlang der Ringstraße ihre Identifikation mit hellenistischen Juden mit ihren Stadtpalais aus (siehe Abb. 2). Die nächste Generation identifizierte sich weiter mit dem hellenistisch-jüdischen Erbe. Sigmund Freud selbst zeigte den Grundstein für seine intellektuellen Ambitionen und die Psychoanalyse durch den Ödipus-Mythos in seinem Buch Die Traumdeutung auf. Darin beschreibt er deutlich seine Identifikation mit den „Trauernden Juden im Exil“. In seinem 28 Schorsch, Myth, 60. 29 Ludwig Förster, Die Baron Pereira’sche Villa auf der Herrschaft Königstetten im Tullnerboden nächst Wien. Allgemeine Bauzeitung (Wien 1849) 14: „Der Bauherr hat eigenhändig die Grundidee zu seinem Gebäude aufgezeichnet und die Architekten Förster und Hansen mit der Ausarbeitung und Ausführung der Baupläne beauftragt.“ 30 Siehe Anm. 29. – Zum Leopoldstädter Tempel siehe Förster, Bethaus, 14. 31 Rossbacher, Literatur, 135. 32 Gomperz, Essays, 198.

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Traum „Mein Sohn, der Myop“ nimmt Freud Bezug auf den berühmten Satz „An den Wassern Babels saßen wir und weinten“ (Psalm 137), und damit Bezug auf die „Gseres“ – das Pogrom gegen die Juden – und den Auszug aus Ägypten.33 Im Prozess der neuen Positionierung der Juden in Wien war die Identifizierung mit Ägypten wichtig. Dies zeigt das Foto des Felsentempels von Abu Simbel, das in Wien über Freuds Couch in seinem Behandlungszimmer hing,34 oder die von Adolf Loos gewählte Ausstattung der Wohnungen und Villen der meisten seiner jüdischen Klienten mit alten ägyptischen Hockern.35 Die Erinnerung an Ägypten war also ebenso wichtig für die Wiener Juden in ihrem Assimilationsprozess wie die hellenistische Tradition. Das können wir auch bei einem anderen jüdischen Mäzen an der Ringstraße, Philipp von Schey, nachvollziehen. Sein Vater, Friedrich von Schey, ließ sein Palais von den beiden Architekten Johann Romano und August Schwendenwein in neoklassizistischem Stil einrichten (1864). Friedrich war auch Förderer des Künstlerhauses und des Musikvereins sowie des Museums für Kunst und Industrie. Der Journalist und Autor Julius Bauer hielt im Haus von Baron und Baronesse Philipp Schey in Bad Ischl im August 1908 eine später publizierte Tischrede, in der er den Abend als Erinnerungsfest beschrieb, und seine Rede mit einer humoristischen Schilderung der Teilnahme des Ehepaars Schey am Exodus aus Ägypten begann.36 Julius Bauer verkehrte unter anderem im Kreis der Kunstmäzenin Jenny Mautner und deren Mann, dem Großindustriellen Isidor Mautner. Jenny Mautner sammelte europäische Meisterwerke und Designprodukte der Wiener Werkstätte. Sie war die Tante von Fritz Waerndorfer, dem Finanzier der Wiener Werkstätte und Mäzen von Gustav Klimt. Waerndorfer hatte sich für eine andere Art jüdischer Identifikation entschieden. Er wählte eine moderne Adaption des Rituals, den Beginn des Sabbats am Freitagabend als Braut zu grüßen,37 indem er in seinem von Margaret MacDonald modern eingerichteten Musiksalon einen Wandfries mit den sieben Prinzessinnen aus dem symbolistischen Theaterstück von Maurice Maeterlinck anfertigen ließ.38 Ein anderer Mäzen der 33 34 35 36 37

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Freud, Traumdeutung, 426−428. Druck nach einem Aquarell von Ernst Körner; siehe Marinelli, Götter, 20, 29. Zu Loos und seine jüdischen Klienten siehe Shapira, Autorship. Bauer, Tischrede, 2. – Philipp Schey von Kromola und Evelina Rothschild, geb. Landauer, heiraten 1878. Rabbi Schlomo Alkabez aus Zefat (16. Jahrhundert) verfasste die Hymne Lecha Dodi zur Begrüßung des Sabbats mit dem folgenden Refrain: „Auf mein Freund der Braut entgegen, Königin Sabbat wollen wir empfangen.“ Die Worte des Refrains und die wiederholten Worte „Kehre ein, Braut“ sind aus dem Talmud übernommen. Rabbi Chanina, so berichtet der Talmud, zog sich jeden Sabbat seine besten Kleider an und sprach: „Kommt, lasst uns empfangen die Königin Sabbat.“ Rabbi Janai tat dasselbe und sprach: „Kehre ein, Braut, kehre ein, Braut“ (Talmud, Schabbat 119a, Bava Kama 32b). Eine frühere romantische Darstellung dieser Zeremonie findet man bei Heinrich Heines Gedichtsammlung Prinzessin Sabbat (1851). – Siehe auch Shapira, Modernism, 74, 90.

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Wiener Werkstätte und Gustav Klimts war Victor Zuckerkandl. Zuckerkandl, der Schwager der Kunstkritikerin Berta Zuckerkandl, engagierte Josef Hoffmann und die Wiener Werkstätte, um ein neues Haus für das Sanatorium in Purkersdorf nahe der Wiener Stadtgrenze zu bauen. Zuckerkandl hatte zwei Porträts von Baron und Baronin Pereira in seiner Sammlung, angefertigt von Moritz Michael Daffinger, um seine Identifikation mit der älteren Generation jüdischer Wiener Mäzene auszudrücken.39 Unter jenen, die mit expressionistischen Künstlern und Literaten zusammenarbeiteten, ist der Autor Albert Ehrenstein, der auch aus der Arbeiterklasse – aus Ottakring – stammte, zu nennen. Ehrensteins autobiografische Erzählung Tubutsch wurde 1911 mit Illustrationen von Oskar Kokoschka publiziert.40 Mit dem Essay Zion in seinem Buch Menschen und Affen (1926) kritisierte Ehrenstein die zionistische Bewegung und wählte den christlichen Mythos und das Hassobjekt „Ahasver“ (Der ewige Wanderer) als Sinnbild des jüdischen Schicksals.41 Auf einer Reise drei Jahre später entlang des Mittelmeeres gemeinsam mit Oskar Kokoschka besuchten die beiden auch Palästina. Trotzdem blieb Ehrenstein bei seiner antizionistischen Einstellung. Prominente Unterstützer von Kokoschka fanden ihre jüdische Identifikation in einer rebellischen Art und Weise in der ostjüdischen Kultur und in berühmten Persönlichkeiten aus Galizien. So besuchte beispielsweise Karl Kraus, laut Kokoschka, oft zusammen mit seinem Freund Adolf Loos und ihm selbst, Kokoschka, das jiddische Theater.42 Das erste jüdische Museum in Wien – das von hauptsächlich säkularen und akkulturierten Juden initiiert und geführt wurde – zeigte eine ideale Zimmereinrichtung aus Galizien mit der Freitagabend-Inszenierung von Isidor Kaufmann.43 Der von mir eingangs bezüglich der engen wechselseitigen Beziehung von Juden und Nichtjuden in Wien zitierte Kunsthistoriker und Kunstsammler Hans Tietze wurde zusammen mit seiner Frau Erica von Oskar Kokoschka porträtiert (1909). Tietze selbst hatte auch eine leitende Rolle in der Förderung moderner Kunst in Wien während der 1920er- und 1930er-Jahre inne. Sein Sohn Andreas schreibt in einem Vorwort zur Neuauflage von Die Juden Wiens (1987), dass Hans Tietze dieses Buch geschrieben hätte, weil er nach vielen Publikationen über die Wiener Kulturgeschichte und seiner Arbeit über den Denkmalschutz verstanden hätte, wie wichtig der Beitrag der Juden für diese Stadt war.44 Tietze war vermutlich bereits als Kind getauft worden. Es erstaunt daher, mit wem er in seinem Buch sympathisierte: Nicht nur mit assimilierten, westlich orientierten Familien, sondern auch mit dem Rab39

Siehe Abbildungen in: Kunsthandlung C. J. Wawra (Alfred Wawra), Nachlass General Direktor Dr. Victor und Paula Zuckerkandl [Auktionskatalog] (Wien 1928) Kat. Nr. 63-64. 40 Ehrenstein, Tubutsch. 41 Ehrenstein, Menschen, 43. 42 Kokoschka, Leben, 88. 43 Postkarte „gute Stube“, von ca. 1903. Jüdisches Museum Wien, Sammlung IKG, Inv.-Nr. 917. 44 Tietze, Gleit, 7−8.

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biner Josef Bloch, der gegen den zeitgenössischen Antisemitismus auf verschiedene Art und Weise, politisch und auch mit juristischen Mitteln, kämpfte. Die Selbstverständlichkeit dieses „Ostjuden“ könnte die Erneuerung jüdischer Volksgemeinschaft in der Zukunft bedeuten und den Assimilationsprozess für eine Weile in Grenzen halten: „Sein von der grundsätzlichen Leisetreterei des Offiziellen Wiener Judentums so sehr abweichender Ton kam frisch aus dem Osten, wie die Gesinnung, die ihm die Schärfe gab; der junge Rabbiner brachte aus Galizien, wo er schwere Knaben- und Lehrjahre verbracht hatte, die tief fundierte Gelehrsamkeit und den urwüchsigen und schlagfertigen Witz, darüber hinaus aber das ungebrochene Selbstvertrauen des Ostjudentums mit. Die Selbstverständlichkeit, mit der er jedes jüdische Interesse und nur jüdische Interessen verteidigte, und die Unbekümmertheit, mit der er sich an Gegnern rieb, machte ihn nicht nur zum schwarzen Schaf des Parlaments, dem er als Mitglied des Polenklubs, nicht einer deutschen Partei, was ihm die liberalen Juden nie verziehen, von 1883 bis 1895 angehörte, sondern auch zum Schreckgespenst für alle jene seiner Glaubensgenossen, die in der Assimilation an die Umgebung das Heil erblickten.“45 Das Buch von Tietze illustriert diese doppelten Ziele jüdischer Mäzene: Auf der einen Seite steht die Suche nach einer Basis für ein gemeinsames Zusammenleben und kreatives Arbeiten, auf der anderen Seite die Hoffnung, neue Grenzen im Assimilationsprozess zu setzen, um die jüdische Volksgemeinschaft als Kollektiv zu bewahren. Zum Schluss will ich aus Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie (1908) über den jüdischen Assimilationsprozess als kreativen Stimulus in der Wiener Moderne zitieren. Der Aristokrat und Musiker Georg von Wergenthin sagt darin zu seinem Freund Heinrich Bermann, der Hauptfigur im Buch, dass er an die Assimilation glauben müsse. Darauf antwortet Bermann: „Assimilation … ein Wort, … Ja, sie wird wohl kommen, irgendeinmal … in sehr, sehr langer Zeit. Sie wird ja nicht so kommen, wie manche sie wünschen – nicht so, wie manche sie fürchten ... es wird auch nicht gerade Assimilation sein ... aber vielleicht etwas, das sozusagen im Herzen dieses Wortes schlägt. Wissen Sie, was sich wahrscheinlich am Ende herausstellen wird? Daß wir, wir Juden, mein ich, gewissermaßen ein Menschheitsferment gewesen sind – ja, das wird vielleicht herauskommen, in tausend bis zweitausend Jahren.“46

45 Tietze, Juden Wiens, 232. 46 Schnitzler, Weg, 252.

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Literatur Bauer, Tischrede J. Bauer, Tischrede, Gesprochen am 9. August 1908 bei Baron und Baronin Philipp Schey in Ischl (Wien 1908). Ehrenstein, Tubutsch A. Ehrenstein, Tubutsch (Wien 1911). Ehrenstein, Menschen A. Ehrenstein, Menschen und Affen (Berlin 1926). Förster, Bethaus L. Förster, Das israelitische Bethaus in der Wiener Vorstadt Leopoldstadt. Allgemeine Bauzeitung 1859, 14−16. Freud, Traumdeutung S. Freud, Die Traumdeutung, Bd. 2 (Frankfurt am Main 2000). Gomperz, Essays Th. Gomperz, Essays und Erinnerungen (Stuttgart 1905). Günther, Wittgenstein G. Günther, Karl Wittgenstein und seine Bedeutung für den Aufbau und die Entwicklung der österreichischen Volkswirtschaft. In: Neue österreichische Biographie, Bd. 4: 1815–1918 (Wien 1927), 156−163. Häusler, Orthodoxie W. Häusler, „Orthodoxie“ und „Reform“ im Wiener Judenthum in der Epoche des Hochliberalismus. Studia Judaica Austriaca 6: Der Wiener Stadttempel 1826–1976 (Eisenstadt 1978), 29−56. Hevesi, Sezession L. Hevesi, Acht Jahre Sezession (März 1897 bis Juni 1905). Kritik – Polemik – Chronik (Wien 1906). Hyman, Gender P. E. Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women (Seattle, London 1995). Kapfinger/Krischanitz, Secession O. Kapfinger/A. Krischanitz, Die Wiener Secession. Das Haus: Entstehung, Geschichte, Erneuerung (Wien, Köln, Graz 1986). Kohlbauer-Fritz, Frauen G. Kohlbauer-Fritz (Hrsg.), Beste aller Frauen. Weiblich Dimensionen im Judentum (Wien 2007). Kokoschka, Leben O. Kokoschka, Mein Leben (Wien 2008).

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Marinelli, Götter L. Marinelli (Hrsg.), „Meine … alten und dreckigen Götter“. Aus Sigmund Freuds Sammlung (Wien 1999). Natter, Fürstinnen T. Natter, Fürstinnen ohne Geschichte? Gustav Klimt und die „Gemeinschaft aller Schaffenden und Genießenden“. In: T. G. Natter/G. Frodl (Hrsg.), Klimt und die Frauen (Köln 2000), 57–75. Paucker, Bildnisse P. Paucker, Bildnisse jüdischer Frauen 1789–1991. Klischee und Wandel. In: J. Dick/B. Hahn (Hrsg.), Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert (Wien 1993), 29−46. Prokop, Bauherrin U. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein. Bauherrin, Intellektuelle, Mäzenin (Wien, Köln, Weimar 2003). Rossbacher, Literatur K. Rossbacher, Literatur und Bürgertum. Fünf Wiener jüdische Familien von der liberalen Ära zum Fin de Siècle (Wien, Köln, Weimar 2003). Schnitzler, Weg A. Schnitzler, Der Weg ins Freie (Berlin 1990). Schorsch, Myth I. Schorsch, The Myth of Sephardic Supremacy. Leo Baeck Institute Yearbook 34, 1989, 47−66. Shapira, Pioneers E. Shapira, The Pioneers: Loos, Kokoschka and Their Shared Clients. In: T. G. Natter (Hrsg.), Oskar Kokoschka. Early Portraits from Vienna and Berlin 1909−1914 (New York 2002), 50−60. Shapira, Assimilating E. Shapira, Assimilating with Style: Jewish Assimilation and Modern Architecture and Design. The Case of the „Outfitters“ Adolf Loos and Leopold Goldman and the Making of the Goldman & Salatsch Building. Diss. (Univ. für angewandte Kunst Wien 2004). Shapira, Modernism E. Shapira, Modernism and Jewish Identity in Early Twentieth Century Vienna: The Patron Fritz Waerndorfer and his House for an Art Lover. Studies in the Decorative Arts 13/2, 2006, 70−75. Shapira, Autorship E. Shapira, Tailored Authorship: Adolf Loos and the Ethos of Men’s Fashion. In: R. Franz/I. Podbrecky (Hrsg.), Leben-Mit-Loos (Wien 2008), 53−72. Shapira, Kunst E. Shapira, Kunst und Repräsentation: Darstellungen jüdischer Salondamen in Wien um 1800. In: S. Hödl (Hrsg.), Salondamen und Dienstboten. Jüdisches Bürgertum um 1800 aus weiblicher Sicht. Juden in Mitteleuropa (Wien 2009), 10−18.

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Shedel, Art J. Shedel, Art and Society. The New Art Movement in Vienna 1897−1914 (Palo Alto 1981). Tietze, Gleit A. Tietze, Zum Gleit. In: Tietze, Juden Wiens, 7−8. Tietze, Juden Wiens H. Tietze, Die Juden Wiens (Wien, Leipzig 1933) (Reprint 1987). Uhl, Gesellschaft F. Uhl, Die Gesellschaft. In: Gemeinderat der Stadt Wien (Hrsg.), Wien 1848–1888, Bd. 2 (Wien 1888). Vielmetti, Bedeutung N. Vielmetti, Die Bedeutung des Tempels in der Seitenstettengasse für die jüdische Gemeinde in Wien. In. W. Plat (Hrsg.), Voll Leben und voll Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der Jüdischen Österreicher (1190 bis 1945) (Wien 1988), 130−142. Wagner-Rieger/Reissberger, Theophil von Hansen R. Wagner-Rieger/M. Reissberger, Theophil von Hansen (Wiesbaden 1980).

Abb. 1: Fanny von Arnstein (Bildnachweis: Illustrierte Monatschrift 1865, S. 195; Privatbesitz).

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Abb. 2: Theophil von Hansen, Palais Epstein, Detail der Fassade, Eingang (1868−1871) (Bildnachweis: C. Theune, Wien)

Abb. 3: Inserat für AutomobilFirmen mit zwei Fotografien des Goldman & Salatsch-Hauses oben links und unten Mitte (Bildnachweis: Allgemeine Automobil-Zeitung, 27. April 1913, mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Nationalbibliothek).

Abb. 4: Haus Beer, Straßenseite (Bildnachweis: Fotograf unbekannt).

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Michael Guggenberger

Der alte jüdische Friedhof am Judenbichl (Judenbühel) bei Innsbruck. Ein „wiederentdecktes“ Tiroler Kulturdenkmal

Der Judenbichl in Mühlau,1 heute eine Katastralgemeinde von Innsbruck, ist gegenwärtig fixer Bestandteil des Naherholungsgebietes der Innsbrucker Bevölkerung. Auf seiner Kuppe befindet sich ein ausgedehntes Plateau mit einem öffentlichen Kinderspielplatz, der vor allem für junge Familien ein beliebtes Ausflugsziel darstellt. Dass auf dem Hügel auch ein alter jüdischer Friedhof situiert ist, war allerdings bis vor Kurzem nur wenigen bekannt, was nicht weiter verwundert, da die letzte Beerdigung vor bald 150 Jahren stattfand und die Begräbnisstätte seit vielen Jahrzehnten unter einer Wiese verborgen liegt, sodass die Erinnerung daran verblassen musste. Selbst der Stadtgemeinde Innsbruck als Grundbesitzerin war nicht mehr bekannt, welch bedeutsames Kulturdenkmal auf der Parzelle, die sie dereinst erworben hatte, unter der Vegetation schlummerte. Es kursierte denn auch die irrige Annahme, der Friedhof sei ganz oben unter dem Spielplatz situiert; unlängst wurde die Begräbnisstätte weiter hangabwärts, im Garten einer Villa, vermutet.2

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Der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee zählt mit seiner Grundfläche von rund 40 Hektar und etwa 116.000 Grabstellen zu den größten jüdischen Friedhöfen Europas. Vor diesem Hintergrund und angesichts dieses Zustands und der kaum überschaubaren Fläche des Friedhofes richtete die Jüdische Gemeinde zu Berlin anlässlich des 125. Jahrestages der Eröffnung des Friedhofes im September 2005 einen Appell an die Bundesregierung, sich stärker für den Erhalt des Friedhofes einzusetzen und schlug vor, diesen in die UNESCO-Welterbeliste eintragen zu lassen – eine Forderung, die auch der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit unterstützt. Als Voraussetzung für eine solche Initiative wurde im Winter 2008 in einem institutionsübergreifenden Pilotprojekt eine Strategie zur vollständigen Inventarisation entwickelt und umgesetzt, die 2009 noch einmal überarbeitet und ergänzt wurde.1 Das Inventarisationsprojekt soll Grundlagen für die Begründung des Welterbe-Antrages schaffen. Die einzelnen Arbeitsfelder des Programms umfassen die Bereiche: Geoinformation, Datenverarbeitung, Archivdatenaufnahme und -auswertung, Grabinschriften, Architektur, Restaurierungsbedarf und -kosten, Vegetationsaufnahme, Gartendenkmalpflege und Ökologie. Beauftragt wurde zunächst ein Vorprojekt (Pilotprojekt), mit dessen Durchführung die Technische Universität Berlin betraut wurde.2 Ziel des Vorprojektes war es, eine Grundlage zu schaffen, auf der

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2

Das Programm und die Struktur der Arbeiten wurden gemeinsam vom Centrum Judaicum (Hermann Simon), der Jüdischen Gemeinde, dem Landesdenkmalamt Berlin (Jörg Haspel) und der Technischen Universität Berlin (Johannes Cramer) aufgestellt. Die Arbeiten wurden im Winter/Frühjahr 2007/2008 unter Leitung von Johannes Cramer von einem personenstarken Bearbeiter-Team durchgeführt: Tobias Rütenik (Koordination, Datenbank), Isabelle Frase (Architektur), Sarah Kuznicki-Fischer (Archivdaten, Inschriften), Elgin von Gaisberg (Architektur), Mathias Handorf (Datenbank), Tobias Horn (Material, Restaurierungsbedarf und -kosten), Anja Tuma (Architektur) und Leilah Haag (Geoinformation). Ebenfalls von der TU Berlin wurde die Aufnahme der Vegetation und der Bereich Ökologie unter Leitung von Ingo Kowarik von Moritz von der Lippe, Leonie Fischer, Andreas Lemke, Dirk Martens durchgeführt; der Bereich Gartendenkmalpflege wurde von Caroline Rolka, Landesdenkmalamt Berlin, betreut.

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sowohl das Programm der geplanten Gesamterfassung als auch das bisher gedachte Konzept zur Denkmalpflege (Bewahren, Erhaltung, Pflege des Friedhofes) überprüft werden kann, um so optimal Zielstellung, Zeit und Kosten aufeinander abzustimmen. Die Erfassungsmethode und vor allem die Ergebnisse der Datenauswertungen sollen im Folgenden nach einer kurzen Einführung zur Stellung des jüdischen Friedhofes in Berlin-Weißensee innerhalb der jüdischen Sepulkralkultur Deutschlands dargestellt werden.

Jüdische Friedhöfe in Deutschland und Berlin In Deutschland gibt es etwa 2.000 jüdische Friedhöfe, die heute überwiegend geschlossen sind. Im Gegensatz zu den meisten Synagogen sind aber viele von ihnen trotz zahlreicher Schändungen und Zerstörungen in der Zeit des Nationalsozialismus noch vorhanden. Anzumerken ist, dass sich in Deutschland vor allem die Aschkenasim, also die west- und osteuropäischen Juden angesiedelt hatten, was sicherlich auch auf die Entwicklung und Gestaltung des Kultortes „Friedhof“ Einfluss hatte.3 Berlin ist wie keine andere Großstadt in Deutschland durch eine große Zahl von Friedhöfen geprägt – bis 1914 fanden hier über 140 Friedhofsgründungen statt. Zu begründen ist dies damit, dass die einzelnen christlichen Gemeinden Berlins an ihrem jeweiligen Bestattungsrecht festhielten. Durch die Verfügung im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (§ 184), nach der „[...] in Kirchen und bewohnten Gegenden keine Leichen beerdigt werden sollen [...]“,4 waren die Gemeinden nun gezwungen, ihre neuen Begräbnisstätten außerhalb der Stadt anzulegen. Das explosionsartige Anwachsen der Bevölkerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machte dann weitere Friedhofsneugründungen bei gleichzeitig größerem Flächenbedarf notwendig; analog zur gleichzeitig wachsenden Stadt wanderten damit die Begräbnisplätze immer weiter nach außen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Entwicklung der Begräbnisplätze der Jüdischen Gemeinde in Berlin zu betrachten – dies ganz besonders, weil eine Auflassung und Wiederbelegung der Grabstellen, wie auf christlichen Friedhöfen möglich und üblich, nach jüdischem Kult nicht vorgesehen ist. Vor der Shoah lebte fast ein Drittel der deutschen Juden in Berlin. Die älteste Grabstätte im Berliner Raum entstand mit dem Juden-Kiewer (aus dem Hebräischen: Kever – Grab) in Spandau, der erstmalig 1324 erwähnt wird.5 Erst im 15. Jahrhundert ist die Existenz jüdischer Friedhöfe in Spandau für Spandauer und Berliner Juden durch Grabsteine belegt. 1510 wur3 4 5

Siehe dazu den Beitrag von Michael Studemund-Halévy in diesem Band. Knufinke, Bauwerke, 127. – Etzold, Grabstätten, 30. Etzold u. a., Friedhöfe, 21.

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den die Juden aus der Mark Brandenburg und damit auch aus Berlin und Spandau vertrieben und der Juden-Kiewer abgeräumt.6 1539 bis 1571 existierte ein jüdischer Friedhof in der Judengasse (Berlin-Mitte), von dem aber heute keine Spuren mehr nachzuweisen sind. Erst seitdem der Große Kurfürst (Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg) 50 jüdische Familien nach Brandenburg zur Förderung der Kapital- und Kreditwirtschaft holte, kann von einer kontinuierlichen Anwesenheit von Juden in Berlin gesprochen werden. Am 10. September 1671 hatten die beiden ersten der aus Wien vertriebenen jüdischen Familien einen Schutzbrief erhalten – auf diesen Tag wird die neuzeitliche Gründung der Berliner Gemeinde zurückgeführt.7 Nur ein Jahr später, 1672, wurde ein neuer Friedhof unmittelbar vor dem Spandauer Tor der Berliner Festungsanlagen, in der Großen Hamburger Straße, angelegt und eingeweiht. Dieser jüdische Friedhof ist nach dem Juden-Kiewer in Spandau der älteste, sicher belegte und zudem der erste größere Begräbnisplatz der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Beerdigungen fanden hier bis 1827 statt. 12.000 Menschen sollen auf diesem Friedhof bestattet worden sein.8 Der Friedhof wurde 1943 geschändet und zerstört. Seit 2009 ist die ehemalige Grünanlage wieder als jüdischer Friedhof geweiht und erkennbar gestaltet, ein symbolischer Grabstein erinnert an den hier beerdigten großen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Die Fläche Berlins hatte sich im 18. Jahrhundert und Anfang des 19. Jahrhunderts vergrößert. Die neue Stadtgrenze bildete eine weiter außen liegende, mehrfach erweiterte Zoll- und Akzisemauer.9 Obwohl von der Gesundheitsbehörde schon 1774 gefordert und 1794 laut Gesetz verfügt worden war, innerhalb dieser Mauer keine Beisetzungen mehr zuzulassen, richtete die preußische Regierung erst 1817 und noch einmal 1824 dringende Aufforderungen an die Jüdische Gemeinde zu Berlin, den alten Friedhof zu schließen und einen neuen außerhalb der Stadt anzulegen.10 Der geforderte neue jüdische Friedhof wurde 1827 weiter nördlich vor dem Schönhauser Tor der Akzisemauer an der Schönhauser Allee eröffnet11 und war beinahe zehnmal so groß wie der Vorgänger in der Großen Hamburger Straße: Auf einer Fläche von 6

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Die Grabsteine fanden im 16. Jahrhundert Verwendung beim Bau der Spandauer Zitadelle (1520− 1533). Diese ältesten jüdischen Grabsteine wurden 1955 bei Restaurierungsarbeiten in der Zitadelle Spandau entdeckt. Sie gehören der Zeit zwischen 1244 und 1474 an. Insgesamt wurden 65 Steine gefunden. Sie stammen vermutlich von verschiedenen Friedhöfen; siehe Etzold, Grabstätten, 13 ff. Siehe z. B. Etzold u. a., Friedhöfe. – Brocke, Spandau. – Melcher, Weissensee, 10. Etzold, Grabstätten, 21 ff. – Hüttenmeister/Müller, Räume, 22 ff. Die Akzisemauer wurde in den 1730er-Jahren angelegt, später mehrfach erweitert und erst um 1867 abgetragen; siehe dazu LDA, Denkmale, 12f. Etzold, Grabstätten, 13 ff. Es dauerte 30 Jahre, bis die Gemeinde einen geeigneten Ort gefunden hatte, der den Bestimmungen entsprach. Bei der Eröffnung hielt der Rabbiner Jacob Joseph Oettinger seine Eröffnungsrede in deutscher Sprache, was zu weiteren Differenzen innerhalb der mehr und weniger liberalen Strömungen in der Berliner Gemeinde führte; siehe dazu Melcher, Weissensee, 15, sowie Etzold, Grabstätten, 30 ff.

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fünf Hektar befinden sich rund 22.800 Einzelgräber und 750 Erbbegräbnisse; das Gelände ist durch ein Wegesystem in Ost-West- und Nord-Süd-Richtung in einzelne Grabfelder aufgeteilt, die Begräbnisse sind nach Osten ausgerichtet. Bis 1880 wurden hier alle Berliner Juden beigesetzt.12 Obwohl der jüdische Friedhof Schönhauser Allee durch die Nationalsozialisten schwer beschädigt wurde, ist er dennoch im Gegensatz zum Friedhof in der Großen Hamburger Straße als solcher erhalten geblieben und gilt deshalb als ältester noch heute erkennbarer jüdischer Begräbnisort Berlins; auch wenn hier angemerkt werden muss, dass der heutige Friedhof das Ergebnis eingehender Restaurierungsarbeiten ist. Dominiert werden die Grabfelder durch überwiegend einfache Grabmale, sodass einige Flächen noch an das Aussehen des älteren jüdischen Friedhofes in der Großen Hamburger Straße erinnern. Eine ganz neue Entwicklung und einen ganz neuen Grabmal-Typus auf den jüdischen Friedhöfen in Berlin zeigen aber die mit monumentalen und aufwendigen Architekturen eingefassten oder überdeckten Familienbegräbnisstellen, die nun hier entlang der Friedhofsmauer und an den breiten Hauptwegen erscheinen; sie sind seit den 1860er-Jahren zunehmend nachweisbar.13 Auch wenn sie formal grundsätzlich vergleichbar sind mit den gleichzeitigen Grabarchitekturen auf christlichen Friedhöfen, besteht doch ein entscheidender Unterschied darin, dass innerhalb der Architekturen auf dem jüdischen Friedhof Schönhauser Allee stets jede Grabstelle, ganz der Tradition entsprechend, durch einen eigenen Grabstein gekennzeichnet bleibt – und dies sogar innerhalb von Grabgebäuden. Sowohl die Anlage von Erbbegräbnissen als auch ihre Einfassung oder Überdeckung mit Architekturen waren nicht nur Ausdruck eines zunehmenden Repräsentationsbedürfnisses, sondern spiegelten vermutlich auch das Gefühl einer neuen Sicherheit und Sesshaftigkeit wider – denn schließlich waren die Erbbegräbnisse auch für zukünftige Generationen angelegt.14

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Erst mit der Eröffnung des neuen Friedhofes in Weißensee, 1880, wurde jener in der Schönhauser Allee offiziell geschlossen; dennoch gab es bis in die 1970er-Jahre noch vereinzelte Bestattungen auf reservierten Grabstellen, wie etwa die des Malers Max Liebermann im Jahr 1935. Diese Beobachtung ist ein Ergebnis der Magisterarbeit „Offene Grabarchitektur auf Berliner Friedhöfen von 1871−1914. Typologie und Bewertung einer bisher unbeachteten sepulkralen Bauform“ von Elgin von Gaisberg (Röver) (unveröff. Manuskript) (1992 FU Berlin). Wie zahlreiche Entwürfe zu christlichen Grabanlagen wurde zumindest eine der Grabarchitekturen auf dem jüdischen Friedhof im Architektonischen Skizzenbuch 1862 veröffentlicht: Etzold u. a., Friedhöfe, 54. Zum Architektonischen Skizzenbuch siehe http://de.wikipedia.org/Architektonisches_Skizzenbuch, Zugriff Dezember 2009. Siehe auch Hüttenmeister/Müller, Räume; zur Entwicklung der jüdischen Friedhofstradition im 19. Jahrhundert siehe auch Simon, Gemeinde, 8.

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Der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee Bereits in den 1870er-Jahren zeichnete sich angesichts der rasch wachsenden Jüdischen Gemeinde Berlins ab, dass die Fläche an der Schönhauser Allee bald vollständig belegt sein würde: Lebten 1812 noch 3.000 Juden in Berlin, war ihre Zahl 1874 bereits auf 45.464 angestiegen.15 Daher musste ein neues Friedhofsgelände wiederum außerhalb der Wohnbebauung der Stadt erschlossen werden – diese hatte sich in der Fläche und Einwohnerzahl inzwischen ebenfalls vervielfacht, sodass nun auch der Friedhof in der Schönhauser Allee innerhalb der städtischen Bebauung lag. Die Gemeinde erwarb deshalb vorausschauend ein großes Gelände im damals weit vor den Toren der Stadt liegenden Weißensee, das als dauerhafter Begräbnisort der Jüdischen Gemeinde Berlins bis weit in die Zukunft reichen sollte. Zur gleichen Zeit hatte sich aufgrund von zunehmenden Differenzen über die liberalen Strömungen in der Berliner Gemeinde 1868 die orthodoxe jüdische „Austrittsgemeinde“ „Adass Jisroel“ abgespalten. Diese erwarb 1873 ein eigenes Friedhofsgelände (Wittlicher Straße) nur 2 km nordöstlich von dem Friedhof der Hauptgemeinde in Weißensee entfernt. Auf dem nur kleinen Gelände befinden sich 3.000 Grabstellen, die ausschließlich als Reihengräber angelegt und mit einfachen Grabsteinen versehen sind; Erbbegräbnisse und repräsentative Grabarchitekturen waren hier untersagt.16 Der Friedhof der Berliner jüdischen Gemeinde – der jüdische Friedhof Weißensee – wurde 1880 eingeweiht.17 Er war damals nicht nur der größte Begräbnisplatz in Berlin (Friedhof Friedrichsfelde 25 ha), sondern gilt bis heute als einer der größten erhalten gebliebenen jüdischen Friedhöfe in Europa. Der Gebäudekomplex am Haupteingang im Nordwesten, der 1879/80 nach dem Entwurf von Hugo Licht erbaut wurde, umfasst eine Trauerhalle, ein Leichenhaus und ein Bürogebäude im Stil der Neorenaissance. Das große Friedhofsgelände ist entsprechend seiner nordwestlichen Ausrichtung durch ein symmetrisches Wegesystem in einzelne Grabfelder aufgeteilt (Abb. 1): Das Wegenetz besteht zunächst aus Hauptwegen und Plätzen und ist weiter unterteilt in „Gevierte“ und rechtwinkelige Felder, die z. T. um Plätze gruppiert sind; an wenigen Stellen werden diese „Gevierte“ durch ein diagonales Wegenetz – ausgehend von einem zentralen Platz – unterteilt, so dass hier dreieckige Felder entstanden 15 16 17

Vgl. Meyer, Neuzeit. Zur Geschichte des Jüdischen Friedhofes Weißensee siehe Etzold, Grabstätten, 36, und Etzold u. a., Friedhöfe, 75. Etzold u. a., Friedhöfe, 26−30. Die Haltung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gegenüber dem Preußischen Staat wird schon durch das Gebet des Rabbinatsassessors Dr. Ungerleider zu Eröffnung des Friedhofes deutlich, der darin um „… den Segen des Himmels auf den Kaiser, sein Haus und das Reich …“ bat, als Ausdruck der politischen Orientierung der Gemeinde, dem Bekenntnis zu Kaiser und Reich (Melcher, Weissensee, 17 f.); siehe außerdem Knufinke, Architektur, 179 ff.

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sind; eine Orientierung der Grabstellen nach Osten ist bei der Ausrichtung und Einteilung des Geländes nicht mehr gegeben. Die Haupt- und auch Nebenwege wurden als Alleen angelegt und die Plätze durch bepflanzte Rondelle gärtnerisch gestaltet. Ein U-förmig ummauerter Bezirk im südwestlichen Bereich des Friedhofsgeländes umschließt ein Ehrenfeld, das 1914 unter Leitung von Reichsbaumeister Alexander Beer für die Bestattung der im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten angelegt wurde. Eine zweite Trauerhalle, die 1910 mit der zunehmenden Belegung des Friedhofes nach Südosten errichtet worden war und seit 1924 in Verbindung mit einem zweiten Eingang an der Südostseite des Friedhofes die Wege verkürzen sollte, wurde im Sommer 1943 durch eine Brandbombe zerstört.18 Betrachtet man nun den Grabmalbestand, so ist zunächst festzustellen, dass auf dem 1880 gegründeten Friedhof Weißensee im Großen das weitergeführt und auch weiterentwickelt wird, was auf dem Vorgänger an der Schönhauser Allee bereits angelegt war: Felder mit traditionellen, bescheidenen und weniger bescheidenen Grabsteinen, gefertigt in Sandstein oder verschiedenen Hartgesteinen, und entlang der Friedhofsmauer sowie am Rande der Gräberfelder, entlang der Wege, zumeist Erbbegräbnisse mit mehr oder weniger aufwendigen Architekturen (Abb. 2). Dennoch spiegelt der spätere Friedhof Weißensee insgesamt noch vielschichtiger als sein Vorgänger die zunehmenden Reformen und Freiheiten in der Grabgestaltung, aber auch nachträgliche Reglementierungen in der Friedhofsordnung wider. Zugleich ist der Friedhof Ausdruck der fortschreitenden Akkulturation des Berliner Judentums, sichtbar vor allem durch zahllose repräsentative Erbbegräbnisse freier Gestaltung.19 Betrachtet man den aktuellen Zustand der Grabfelder, bietet sich ein sehr ungleiches Bild: Der Pflegezustand reicht

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1942 erreichte die Zahl der Bestattungen ihren Höhepunkt infolge vieler Selbstmorde (zwischen 1933 und 1945 begingen 1.907 Juden in Berlin Selbstmord). Es gibt Grabfelder, auf denen die Asche von 809 in Konzentrationslagern ermordeten Juden begraben ist. In der Zeit der Deportationen bot der Friedhof Schutz – es gibt Berichte von Verstecken in Grabbauten (Dach und Gruften). Nach 1945 wurde der Friedhof von der Berliner Ost-Gemeinde weitergenutzt und verfiel zunehmend, da die nur kleine Gemeinde mit der Pflege überfordert war. 1977 erkannte der Ost-Berliner Magistrat den Friedhof als „Denkmal der Kulturgeschichte“ an und übernahm Personalkosten für die Pflege. Das Stadtgartenamt stellte Wege und Grabanlagen teilweise wieder her (in den 1920er-Jahren waren noch 200 Personen für die Pflege zuständig, in den 1980er-Jahren nur 16 Angestellte). In den 1980er-Jahren wurde eine Schnellstraße durch das Friedhofsgelände geplant (schon bei Kauf des Geländes vorgesehen, daher waren die Grabstellen in diesem Bereich nie belegt worden). Die Planung wurde 1988 aber aus politischen Erwägungen fallen gelassen. Nach der Wende kam keine Verbesserung. Das Personal wurde lediglich durch ABM-Kräfte aufgestockt und es folgten einzelne Sanierungsmaßnahmen wie auf dem Grabfeld P4, finanziert mit Spenden, gesammelt durch den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Zur Entwicklung der jüdischen Friedhofstradition im 19. Jahrhundert siehe auch Simon, Gemeinde, 8 f.

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von „besenrein“ wie das Feld P4, das in den 1990er-Jahren hergerichtet wurde, aber eine Ausnahmeerscheinung darstellt, über Felder mit neuem Spontanaufwuchs und Überwachsungen der Grabsteine, die teilweise im Versturz liegen, bis hin zu vollständig überwachsenen Feldern, die ein nahezu undurchdringliches Dickicht aus umgestürzten Grabsteinen, Efeu, Sträuchern, Bäumen und Stauden zeigen. Eine solche Bandbreite ist auch an den Architekturen der Erbbegräbnisreihen zu beobachten.

Das Projekt Im Rahmen des Pilotprojekts wurden zunächst vier Grabfelder (A1, M1, P4 und U4) in möglichst unterschiedlichem Erhaltungszustand für die Inventarisierung exemplarisch ausgewählt (Abb. 1). Unter diesen vieren wurden in einer ersten Projektphase das große Feld A1 im vordersten Bereich des Friedhofes bearbeitet, das einen mittleren Pflegezustand aufweist, sowie das stark überwucherte Feld U4 im hinteren Bereich. 2009 folgten die Grabfelder M1 und P4.20 Während die bisherige Forschung zur Inventarisation von jüdischen Friedhöfen sich lange fast ausschließlich mit Grabinschriften und ihrer Dokumentation befasst hat – was ohne Frage schon bei dem zunehmenden Verfall der Grabsteine sinnvoll und dringlich ist –, war es das Ziel dieser Inventarisation, den Friedhof Weißensee interdisziplinär zu erfassen. Insbesondere durch seine Größe und fast 130 Jahre andauernde Nutzung ist der jüdische Friedhof Weißensee eine außerordentliche Quelle mit einer Fülle von Informationen für vielfältige Forschungsgebiete, wie die jüdische Kultur- und Sozialgeschichte, die jüdische/hebräische Epigrafik, die Bau- und Kunstgeschichte, die Bau- und Gartendenkmalpflege und den Naturschutz. Im Vorprojekt galt es also zwei entgegengesetzte Anforderungen zu vereinen: Die differenzierte Betrachtung eines breiten Spektrums von Inhalten einerseits und die möglichst effiziente Dokumentation einer großen Menge von Untersuchungsobjekten andererseits. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen erarbeitete das Team eine Erfassungsstruktur – in diesem Fall war eine Datenbank unumgänglich – und einen möglichst effizienten Ablauf der jeweiligen Arbeitsschritte.21 Die Datenbank leistet eine einheitliche Dokumentation über die fachlichen Grenzen hinweg, die eine Verknüpfung aller Sachthemen innerhalb einer Struktur und die Möglichkeit

20 In einer zweiten Kampagne im Winter 2009 wurden die zwei Felder M1 und P4 aufgenommen. Die Auswertung wurde im Mai 2009 abgeschlossen und ist daher nicht mehr Bestandteil der vorliegenden Darstellung. 21 Die Datenbank wurde im Wesentlichen von Tobias Rütenik und Mathias Handorf entwickelt.

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der EDV-gestützten Auswertung bietet. Bestimmt wird die Datenbankstruktur durch die spezifischen Eigenheiten der vorhandenen Informationsträger, zu denen neben den eigentlichen Grabmalen die sie umhüllende Vegetation und die Archivalien wie Sterberegister und Belegungspläne zählen.22 Erst durch die Belegungspläne können die Personendaten mit einem bestimmten Grabmal auf dem Grabfeld identifiziert und die Grabmale überdies einem durch das geografische Messnetz klar definierten Ort zugeschrieben werden. Die Grundbausteine der Datenbankstruktur werden von den sechs Themenkomplexen bestimmt, die sich aus der Zielstellung des Projekts, den Fragen aus den verschiedenen Forschungsbereichen und dem vorhandenen Bestand (also die Archivalien und Grabmale) ableiten: die Personendaten aus den Archivalien, eine Fotodokumentation der Grabmale, die Inschriften auf dem Grabmal, die Grabmalbeschreibungen, Angaben zu Material, Zustand und Schäden der Grabmale sowie die Vegetation auf der Grabstätte. Um innerhalb dieses komplexen Beziehungsgeflechts die Informationen der einzelnen Themenbereiche eindeutig aufeinander beziehen zu können, bildet die Grabstätte die Grundeinheit. Im Unterschied zur Grabstätte, die durch das real existierende Grabmal gekennzeichnet ist, entspricht die Grabstelle der beerdigten Person – also den Daten aus den Archivalien (Abb. 3). Auch die Zuordnung von Grabmal und Grabstätte ist keineswegs eindimensional: Während das Grabmal auf einer Grabstätte innerhalb der Reihenbelegung im Feld entweder einer Person oder in einigen Fällen auch einem Paar, zumeist einem Ehepaar zugewiesen ist, sind die sogenannten Erbbegräbnisse in der Zuordnung der Grabmale deutlich komplexer. So werden zwar bei den meisten Erbbegräbnissen mehrere Grabstellen (Verstorbene) von einem gemeinsamen Grabmal begrenzt oder eingefasst, bei vielen sind den einzelnen Bestatteten (bzw. Grabstellen) aber zusätzlich auch gesonderte Grabmale zugeordnet. Andere Erbbegräbnisse wiederum sind lediglich durch eine gemeinsame Einfassung gekennzeichnet, die einzelnen Grabstellen sind hier aber mit einem eigenen Grabmal versehen, die ganz unterschiedliche Formen haben können.23 22

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Die Belegungspläne sind für den jüdischen Friedhof Weißensee als analog maßstäbliche Lagepläne zu jedem Grabfeld angelegt. Auf ihnen ist jede einzelne Grabstelle der dort Bestatteten mit der zugehörigen Bestattungsnummer dargestellt. Durch die Bestattungsnummer ist der Bezug zu den Personendaten im Archiv hergestellt. Die gemeinsame Einfassung ist heute zumeist nur noch durch Steinschwellen an vier Seiten des Erbbegräbnisses (in einigen Fällen zusätzlich durch Steinpfosten an den Ecken) erkennbar; diese Schwellen dienten aber ehemals vorhandenen Gittereinfassungen als Schwelle.

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Neben der Verknüpfung der Themenkomplexe miteinander erfordert auch die Abgrenzung von Begriffen innerhalb eines Themenkomplexes eine Systematisierung, die im Folgenden anhand der Erfassung der Grabarchitektur im Detail dargestellt wird. Die Erfassung der einzelnen Grabmale hat zum Ziel, die Bandbreite der verschiedenen Grabmalformen mit einer einheitlichen Struktur zu erfassen – das heißt einzelne Typen zu definieren und zu klassifizieren. Darüber hinaus galt es aber auch, die weit gefächerten formalen Merkmale und Einzelphänomene der Grabmale gezielt und systematisch aufzunehmen, sodass diese abrufbar und vergleichbar sind. Das Ergebnis dieser Systematisierung der Grabmalformen zeigt, dass der übergeordnete Begriff „Grabmal“ zunächst unterteilt wird in die beiden Gruppen „Grabstein“ (Abb. 4) und „Grabbau“. Der „Grabbau“, der fast ausschließlich bei Erbbegräbnissen vorkommt, wird in seiner räumlichen Dimension in Bezug auf die Grabstätte erfasst: Erstreckt sich die Architektur an einer Seite der Grabstätte, wird sie mit dem tradierten Begriff „Wandgrab“ bezeichnet, umfasst sie die Grabstellen an zwei oder drei Seiten, wird sie als Rahmenarchitektur, und wenn sie die Grabstätte an vier Seiten einschließt, als Umfriedung bezeichnet. Eine weitere architektonische Erscheinungsform ist das Grabgebäude, das im Unterschied zu den vorgenannten drei Architekturformen ein Dach aufweist. Die verschiedenen Gliederungs- oder Einzelformen innerhalb dieser Untertypen – wie Ädikulen, Pilastergliederungen, Säulenstellungen oder Schmuckgitter – werden als weitere Spezifikationen in der Datenbank erfasst.24 Den Normalfall auf den Grabfeldern bildet aber die große Gruppe der Grabsteine, die wesentlich komplexer ist. Zunächst ist hier grundsätzlich zu unterscheiden, ob der jeweilige Grabstein horizontal oder vertikal ausgerichtet ist.25 Die große Formvielfalt innerhalb der Gruppe Grabsteine – hier vor allem unter den vertikal ausgerichteten – erfordert noch weitere Differenzierungsstufen, die schließlich die Untertypen definieren. Als Benennung dieser Untertypen können tradierte Begriffe wie Scheinsarkophag, Stele, Obelisk, Pfeiler, Ädikula, aber auch hebräische Bezeichnungen wie Mazzewa und Zijun verwendet werden. Als sinnvoll erwiesen sich zudem die beschreibenden bzw. „bildlichen“ Begriffe Tafel, stehender sowie liegender Grabstein, Pultstein oder Kleinarchitektur, und schließlich funktionale Bezeichnungen wie Gemeindestein, womit ein von der Gemeinde gestifteter Stein bezeichnet wird. Wie 24 Da die Anzahl der Grabbauten insgesamt geringer bleibt – auf den Feldern A1 und U4 wurden rund 80 Grabbauten aufgenommen, was nur 4 % der dort insgesamt erfassten Grabmale ausmacht –, ist der hier erforderliche höhere Anteil an zusätzlichen Beschreibungen von Einzelmerkmalen vertretbar. 25 Diese erste Unterscheidung bei den Grabsteinen ist hier erst einmal rein formal motiviert, wird aber bei der weiteren Inventarisierung des Friedhofes und auch bei späteren Auswertungen im Vergleich zu anderen jüdischen Friedhöfen noch von Bedeutung sein – insbesondere vor dem Hintergrund sephardischer und aschkenasischer Traditionen in der Verwendung von Grabmalformen.

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bei strengen Typologien üblich, sind allerdings fließende Grenzen zwischen den Untertypen kaum zu vermeiden. Der große Vorteil der hier vorgestellten Systematik liegt nun darin, dass den festgelegten Typenbezeichnungen gemeinsame Eigenschaften wie Maßverhältnisse, Proportionen und/ oder auch formale Kurzbeschreibungen zu- bzw. übergeordnet sind. Erst in Verbindung damit ist die eindeutige Definition der Untertypen möglich. Sicherlich konnten bei dieser Systematisierung noch nicht alle vorkommenden Grabmalformen auf Friedhöfen berücksichtigt werden, sie ist jedoch so angelegt, dass sie jederzeit erweitert werden kann. Ziel dieser Erfassung von Grabmalformen ist aber nicht nur die Systematisierung ihrer Bandbreite, sondern auch die Beschreibung ihrer Einzelmerkmale und Phänomene. Letztere werden daher möglichst weit gefächert und dennoch gezielt und systematisch in festgelegten, automatisierten Feldern des Eingabeformulars der Datenbank aufgenommen und sind so abrufbar und vergleichbar. Möglich wird dies durch die einheitliche Gliederung der genannten Grabmalform-Untertypen in die festgelegten horizontalen Zonen Unterbau (1), Sockelzone (2), Schaft bzw. Mittelteil (3), Abschluss (4), Aufsatz (5) – ohne dass jede dieser Zonen bei den einzelnen Grabmaltypen vorkommen muss. Wie sich bei der Erfassung zudem gezeigt hat, kann diese Unterteilung grundsätzlich auch für den Grabbau gelten.26 Das Eingabeformular der Datenbank ermöglicht die übersichtliche Erfassung aller relevanten Dateneingaben auf einem Bildschirm mit einem Blick durch Überschriften, Gruppierungen und beigefügte Erläuterungsskizzen (Abb. 5).27 Die leichte Orientierung im Feld und die sichere Zuordnung der Informationen werden durch Anzeige von Identifizierungsdaten aus anderen Tabellen im Formularkopf sichergestellt (Grabstättennummer, Name und Bestattungsnummer, die der Bearbeiter auf dem Grabmal in einigen Fällen wiederfinden kann). Durch verschiedene Schaltflächen können bei Bedarf weitere Fenster mit zusätzlichen Informationen eingeblendet und überdies ein externes Formular mit Fotografien vom Grabmal aufgerufen werden. So lässt sich auch bei fehlender bzw. unleserlicher Namensinschrift (oder Begräbnisnummer) ein Grabmal genau identifizieren. Optional lassen sich auf vergleichbare Weise alle Personendaten – so z. B. die Sterbe- und Steinsetzungsdaten – anzeigen. Zu den Grabmalformen im Feld öffnet sich auf dem Eingabeformular des Datenblattes erst nach der Anwahl des entsprechenden Grabmaltyps und des Grabstein-Untertyps die zugehörige Skizze 26 Als zusätzliches Hilfsmittel wurde ein Übersichtsblatt angelegt, auf dem die vielen unterschiedlichen Formen oberer Abschlüsse, die an den Grabsteinen vorkommen, dargestellt und mit festgelegten Begriffen bezeichnet sind; diese Übersicht soll nicht nur die Auswahl erleichtern, sondern vor allem auch eine einheitliche Benennung der jeweiligen Form gewährleisten. 27 Die Datenbank wurde mit dem Programm MS Access erstellt. Damit entfällt die Einrichtung eines Servers. Die Software ist allgemein verfügbar und erleichtert so den Zugriff durch verschiedene Institutionen ohne spezielles Fachpersonal.

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mit der oben beschriebenen Einteilung des Grabmals in horizontale Zonen (Abb. 5). In die festgelegten nebenstehenden Eingabefelder können innerhalb der entsprechenden Zonen 1–5 formale und formspezifische Merkmale wie auch Begriffe zu Oberflächen und anderes mehr angewählt werden; diese Begriffe sind voreingestellt, sofern sie häufig vorkommen, können aber bei Bedarf ergänzt werden. Im Vorprojekt wurden mit 64.000 übertragenen Personendaten, 2.600 Inschriften und 1.800 Beschreibungen der Grabmale, die aus fast 3000 Materialien bestehen und etwa 2.800 Schäden aufweisen, gerade einmal 1,8 % der Gesamtanlage erfasst.28

Ergebnisse Den Nutzen für die Erforschung und Pflege des jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee zeigt im Folgenden die erste Auswertung der Erfassung von Archivalien, Inschriften, Grabmalen sowie Material, Schäden und Vegetation. Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass hier erst die Datensammlung von zwei Feldern ausgewertet werden konnte, wird in der Kombination fachübergreifender Inhalte schon jetzt das eigentliche Potenzial des Projektes deutlich. So lassen sich flächendeckend und nachvollziehbar Fragen beantworten, die durch die Verknüpfung zweier Themengebiete überhaupt erst gestellt werden können. 160 Informationen zu jeder Grabstätte und die Verwendung standardisierter Begriffe eröffnen ungeahnte Kombinationsmöglichkeiten und Fragen, wie: Wie alt wurden die jüdischen Bewohner Berlins? Auf welchen Steinarten gehen die Inschriften am schnellsten verloren? Verursachen Spontangehölze Schäden an den Grabmalen? Welche Grabsteine waren zu bestimmten Zeiten besonders in Mode? Kommen bestimmte Formen in bestimmten Materialien vor? Die Auswertung erfolgt in Form von Diagrammen und Karten: Etwa 90 Diagramme zeigen zeitliche Abläufe oder Mengen und Verteilungen und in rund 70 Karten lassen sich durch GIS-Auswertungen der Datenbank Ausbreitungs- und Verteilungsmuster studieren.29

28 Diese Daten beziehen sich lediglich auf die Grabfelder A1 und U4. 29 Bei dem hier angewendeten Geoinformationssystem (GIS) werden die Datenbankabfragen mit den digitalisierten, georeferenzierten Belegungsplänen der Grabfelder verknüpft.

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Archivdaten Zu Beginn der vollständigen Grabmalinventarisation war es zunächst notwendig, die schematischen und mit Bestattungsnummern versehenen einzelnen Belegungspläne der Grabfelder mit Personendaten zu verknüpfen, um so sämtliche Grabmale bestimmen zu können – eingeschlossen solche, deren Inschriften oder Bestattungsnummern nicht mehr lesbar sind. Die Archivdatenaufnahme ist somit Basis und inhaltliche Voraussetzung der gesamten Inventarisation.30 Erfasst wurden: Bestattungsnummer und Ort Reihen- oder Zwischengrab; Erbbegräbnis deutscher Vor- und Nachname sowie bei verheirateten Frauen der Geburtsname Stand Wohn- und Sterbeort Geburts-, Sterbe- und Beerdigungstag jüdischer Name (in hebräischen Lettern, transkribiert in lateinische Lettern) Steinsetzungsdatum und Steinsetzer Erdbestattung oder Urnenbestattung Bemerkungen Die Auswertung der Archivdaten kann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten und auf zwei Arten erfolgen: zum einen durch die Auswertung der einzelnen Archivdaten und zum anderen auf Grundlage der Archivdaten verknüpft mit anderen Themengebieten. Als Ergebnis der Erfassung lässt sich zunächst festhalten, dass die Angabe des jüdischen Namens in den Sterberegistern der auffälligsten Veränderung innerhalb der Archivdaten unterliegt. Wurde und konnte der jüdische Name im Zeitraum 1880 bis 1893 noch zu 91 % angegeben werden, so erfährt diese Angabe schon im 2. Buch mit nur 65 % einen deutlichen Rückgang. Nur sieben Jahre später, im 4. Buch, erreicht die Angabe mit nunmehr noch 10 % einen Tiefstand, um dann in Folge bis heute gänzlich wegzufallen. Diese Entwicklung kann durchaus als deutlicher Ausdruck einer bereits zunehmenden Säkularisierung innerhalb der Berliner Jüdischen Gemeinde gewertet werden. Überdies ergänzt die Auswertung der Archivdaten, die durch Aktenverlust und mangelnde Überlieferung entstandenen Wissenslücken: Die Verteilungskarte der Grabstellenbelegung weist das Grabfeld A1 als Reihenfeld mit Zwischengräbern aus – zumeist für Ehepartner –, dagegen aber das Grabfeld U4 als reines Reihenfeld ohne Zwischengräber.31 30 Neben den Belegungsplänen liegen die Daten der Verstorbenen von 1880 bis heute fast vollständig vor. 31 Laut § 94 und § 97 der Friedhofsordnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin von 1909, Berlin, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 2 #225.

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Erst durch diese Planabfrage kann dann außerdem die komplexe, gewachsene Struktur eines Grabfeldes, oder auch die mehrerer Grabfelder im Vergleich zueinander und bei einer Gesamterfassung die Struktur des Friedhofes insgesamt abgebildet werden.

Inschriften Eine vergleichbare Tendenz zeigt die Auswertung der Inschriften auf den Grabmalen; aufgenommen wurden: der Inschriftentext (hebräische und lateinische Lettern), das Material bei Verwendung von Inschriftenlettern, die Klassifizierung der Inschriften in lesbar, schlecht lesbar und nicht lesbar, die Sprache der Inschrift, der Anbringungsort der Inschriften (Wegseite = V-Seite, dem Grab zugewandt = R-Seite oder beidseitig) und die Ornament- und Symbolbestimmung innerhalb des Textfeldes. Als Inschriftensprachen kommen auf den Grabfeldern A1 und U4 Deutsch in lateinischen Buchstaben (A1: 1280/U4: 515), Hebräisch (fast nur auf A1: 441/U4: 16), Deutsch-Hebräisch (nur hebräische Einleitungs- und/oder Schlussformeln, A1: 27/U4: 27), Deutsch in hebräischen Buchstaben (A1: 10/U4: 0) und Deutsch-Hebräisch (A1: 78/U4: 52) vor. Unter diesen bilden auf Feld A1 Hebräisch und Deutsch in den Jahren 1880 bis 1885 den Hauptanteil der Inschriftensprachen. Auf dem später eröffneten Feld U4 ist zwischen 1915 bis 1920 ein Rückgang des Hebräischen und eine gleichzeitige Dominanz des Deutschen zu verzeichnen. Betrachtet man die Platzierung der Inschriften, ist festzustellen, dass auf A1 die Grabsteine noch überwiegend auf beiden Seiten und zweisprachig beschriftet wurden (55 %), auf Feld U4 sind hingegen die Inschriften zu 84 % auf eine Steinseite, auf die dem Grab zugewandte R- Seite beschränkt und in der Regel in deutscher Sprache. Dies könnte seinen Ursprung in der neuen Beerdigungs- und Friedhofsordnung von 1909 haben, welche die R-Seite als die Hauptinschriftenseite festlegte.32 Darüber hinaus ergab die Auswertung hinsichtlich der Lesbarkeit der Inschriften eine direkte Abhängigkeit vom verwandten Material: Während auf Feld A1 die nicht lesbaren Inschriften überwiegen (57 %) und dort in der Hauptsache Sandstein und Marmor verwendet wurden, sind auf Feld U4 71 % lesbare Inschriften auf die dort vorherrschende Verwendung von Hartgesteinen zurückzuführen. 32

Siehe Anm. 31.

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Grabmalformen Bei der Auswertung der Grabmalformen, die bereits vor ihrer Erfassung in Gruppen und Typen strukturiert worden waren, lohnt zunächst ein Blick auf die Verteilung der GrabsteinUntertypen innerhalb der Grabfelder A1 und U4. Hier lassen sich insgesamt sechs nennenswerte Gruppen herausfiltern: Stele, Tafel, Gemeindestein, Pultstein, stehender Grabstein und Ädikula; andere Formen kommen auf beiden Feldern nur vereinzelt vor und bleiben zusammen unter 10 %. Bemerkenswert sind nun die Unterschiede in der prozentualen Verteilung dieser Grabstein-Untertypen auf Feld A1 und U4: So dominiert auf dem 1880 eröffneten Feld A1 die große Gruppe der Stelen (43 %), gefolgt von den Tafeln (22 %) und dann mit einem größeren Abstand von den Gemeindesteinen (13 %); die übrigen Untertypen bleiben wiederum unter 10 %. Auf dem erst ab 1916 belegten Feld U4 herrscht dagegen der Gemeindestein als größte Gruppe vor (32 %), die Stele nimmt zwar immer noch eine zahlenstarke Position ein (27 %), als dritte und vierte gleichgewichtige Gruppen erscheinen hier nun aber Pultsteine und stehende Grabsteine häufiger (12 %). Auffällig ist zudem das geringere Vorkommen der Tafeln (6 %). Die Gründe für diese verschiedenen „Vorlieben“ für einzelne Grabsteintypen, die sich auf Feld A1 und U4 widerspiegeln, wurden bereits genannt: Sie sind in dem unterschiedlichen Belegungsbeginn bzw. -zeitraum, den historischen Ereignissen und dem jeweiligen Belegungstyp der beiden Felder (A1 = Reihenfeld mit Wahlstellen und U4 = reines Reihenfeld) zu suchen.33 Hervorzuheben sind außerdem die unterschiedlichen Erscheinungsformen der großen Gruppen Stele und Tafel auf A1 und U4 (Abb. 2). Betrachtet man diese beiden GrabsteinUntertypen näher, fallen auf dem älteren und größeren Feld A1 innerhalb der großen Gruppe Stele in erster Linie solche mit pyramidalem sowie die nah verwandten mit dreieckigem Abschluss als besonders häufig auf – und unter den Tafeln solche aus Marmor oder Sandstein, die allerdings eine größere Bandbreite in der Form ihres oberen Abschlusses bieten. Die Verteilungskarte von A1 beweist dann auch das gehäufte, geradezu massenhafte Vorkommen beider Varianten der Untertypen Stele und Tafel auf dem gesamten Grabfeld. Umso auffälliger ist der Vergleich mit dem Feld U4, denn hier kann ihr Vorkommen nur noch als „spärlich“ bezeichnet werden (Abb. 6). Wie sich anhand weiterer Abfragen überdies feststellen lässt, erscheinen die genannten Varianten der Stelen und Tafeln auf beiden Feldern A1 und U4 gleichzeitig und durchgehend bis Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Sand33

So fällt überdies die hohe Zahl der Gemeindesteine auf dem Feld U4 auf, auf dem v. a. auch während des Ersten Weltkriegs bestattet wurde; die Gesamtanzahl von 166 Gemeindesteinen übertrifft sogar die des größeren Feldes A1 mit 146.

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steintafeln älter sind als die aus Marmor; denn schließlich fällt auf, dass die Sandsteintafeln oftmals ohne Unterbau aufgestellt wurden, ein Bild, das von anderen, besonders auch älteren jüdischen Friedhöfen vertraut erscheint. Weitere Abfragen der Datenerfassung bestätigen diese erste Beobachtung und schärfen das Ergebnis: Tatsächlich sind immerhin mehr als 60 % der Sandsteintafeln ohne Unterbau aufgestellt worden, die Marmortafeln dagegen zu 96 % – also fast ausschließlich mit dem auch sonst häufig vorkommenden Unterbau in Form stilisierten Bruchsteinmauerwerks. Betrachtet man in diesem Zusammenhang den oberen Abschluss der Tafeln, wird das Bild noch klarer: Bei den Sandsteintafeln ohne Sockel überwiegt der dreieckige Abschluss neben verschiedenen anderen Formen deutlich. Die Marmortafel mit Unterbau erscheint dagegen zu 98 % mit Rundbogenabschluss. Damit können hier zwei eindeutige Formen herausgefiltert werden: Die schlichte Sandsteintafel ohne Unterbau mit dreieckigem Abschluss und die rundbogige Marmortafel auf einem Unterbau aus stilisiertem Bruchsteinmauerwerk; diese Variante wurde allerdings vereinzelt auch in Sandstein gefertigt. Die Annahme, dass sich in der Verteilung dieser beiden Tafel-Varianten aus Sandstein und Marmor ein zeitliches Nacheinander in der Entwicklung widerspiegeln könnte („Mode“), also die schlichten Sandsteintafeln ohne Unterbau früher datieren, lässt sich allerdings nicht nachweisen. Vielmehr fanden sowohl die Sandsteintafeln ohne Unterbau als auch die Marmortafeln mit Unterbau parallel auf A1 und U4 bis in die 1920er-/1930er-Jahre Verwendung. Bei der Wahl der beiden letztgenannten Grabsteinformen ging es offenbar eher um Traditionen, die von den jeweiligen Auftraggebern bewusst mehr oder weniger gewahrt wurden.

Material und Zustand der Grabmale Die Kartierung des Grabfeldes A1 ergab, dass nicht nur die Grabbauten, sondern auch die Grabsteine hauptsächlich aus lokalen Sandsteinen und Marmor hergestellt wurden. Lediglich die Grabsteine der Ehrenreihe (erste Reihe am Hauptweg) bestehen zu 80 % aus dunklen, zumeist aus Skandinavien stammenden Hartgesteinen. Demgegenüber findet Sandstein auf U4 fast nur noch für Pultsteine Verwendung (72 %), die Gemeindesteine, die hier ein Drittel der Grabsteine ausmachen, sind durchgehend aus Beton und die Grabbauten vorwiegend aus Muschelkalk gefertigt. Betrachtet man schließlich den heutigen Zustand der Grabsteine und Grabbauten, sind als häufige Schadensbilder, vor allem an den Sandsteinen, starke Verwitterungen, die den Querschnitt der Steine empfindlich schwächen, Rissbildungen und auch Störungen des gesamten Baugefüges festzustellen. Einige Steine, besonders die dünnen Stelen und Tafeln mit geringem Querschnitt, drohen gar zu brechen. Hinzu kommt, dass infolge der zumeist rahmenförmigen Verwitterung, die hauptsächlich den Kernbereich der Sand-

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steinoberflächen betrifft, nur noch wenige der Grabinschriften lesbar sind (Abb. 7). Dennoch stehen mehr als die Hälfte der vorhandenen Grabsteine zumindest im Feld A1 aufrecht oder sind nur geringfügig geneigt, sodass die Standsicherheit von zwei Dritteln dieser Grabsteine als „dauerhaft gewährleistet“ (mehr als 20 Jahre) bewertet werden kann. Als Ursachen der mangelnden Standsicherheit lassen sich für das besonders betroffene Feld U4 hauptsächlich biogene Faktoren benennen: Neben der Überwachsung durch Efeu, die für das Ablösen und Herabstürzen vieler Schriftplatten der Pultsteine verantwortlich ist, sind es im Wesentlichen Wurzelhebungen und herabstürzendes Totholz. Zudem können abgestorbene und niedergehende Äste einzelne Grabsteine nicht nur schädigen, sondern auch gänzlich zu Fall bringen. Umstürzende Bäume schlagen hingegen ganze Schneisen durch die Grabfelder. Die Grabbauten sind außerdem oftmals gefährdet durch Sprösslinge, die zwischen Friedhofsmauer und Rückwand der Architektur emporwachsen – was schon dadurch begünstigt wird, dass laut Friedhofsordnung von 1909 die Grabbauten mit der Friedhofsmauer lediglich durch einen Halbstein verzahnt werden mussten.34 Als weitere schadensverursachende Faktoren sind schließlich konstruktive Mängel wie fehlende Verdübelungen von Steinen untereinander, Verwitterungen, mangelhafte Fundamentierungen und Setzungen ohne erkennbare Ursachen zu nennen.

Ausblick Wie gezeigt werden kann, bieten bereits die Ergebnisse des Vorprojektes zum jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee mehr als nur Einzelerkenntnisse, die mit der Erfassung weiterer Felder, Grabmale und Personen noch zunehmend an Aussagekraft gewinnen werden. Denn hier können Bestimmungen, Bestattungs- sowie Grabmalformen und damit die Entwicklung des Kultortes jüdischer Friedhof im späten 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert einerseits und die nicht minder vielschichtigen Probleme der Denkmalpflege andererseits sichtbar gemacht werden. Als Aufgabe bleibt nun, die wachsenden Erkenntnisse der Inventarisation weiter auszuwerten und die Besonderheiten des jüdischen Friedhofs Weißensee zu formulieren. Wir sind so gesehen an einem – wenn auch guten – Anfang.

34

Friedhofsordnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin von 1909, Berlin, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 2 #225.

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Literatur Brocke, Spandau M. Brocke, Die hebräischen jüdischen Grabmale in Spandau 1244−1474. Ausgrabungen in Berlin. Forschungen und Funde zur Ur- und Frühgeschichte 9, 1994, 8−116. Etzold, Grabstätten A. Etzold, Jüdische Grabstätten und Friedhöfe in Berlin. In: Nachama/Simon, Grabstätten, 1−173. Etzold u. a., Friedhöfe A. Etzold/J. Fait/P. Kirchner/H. Knobloch, Die jüdischen Friedhöfe in Berlin (Berlin 1991). Hüttenmeister/Müller, Räume N. Hüttenmeister/Chr. E. Müller, Umstrittene Räume. Jüdische Friedhöfe in Berlin. Große Hamburger Straße und Schönhauser Allee. Minima Judaica Bd. 5 (Berlin 2005). Knufinke, Architektur U. Knufinke, Die Architektur jüdischer Friedhofsbauwerke in Berlin. Architectura 37, 2007, 169−194. Knufinke, Bauwerke U. Knufinke, Bauwerke jüdischer Friedhöfe in Deutschland. Schriften der Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa, Bd. 3 (Petersberg 2007). LDA, Denkmale Landesdenkmalamt Berlin [Hrsg.], Denkmale in Berlin. Bezirk Mitte. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland (Petersberg 2003). Melcher, Weissensee P. Melcher, Weissensee. Ein Friedhof als Spiegelbild Jüdischer Geschichte in Berlin (Berlin 1986). Meyer, Neuzeit M. A. Meyer, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2. Emanzipation und Akkulturation. 1780−1871 (München 1996). Nachama/Simon, Grabstätten A. Nachama/H. Simon (Hrsg.), Jüdische Grabstätten und Friedhöfe in Berlin (Berlin 1992). Simon, Gemeinde H. Simon, Friedhöfe als Einrichtungen der Gemeinde. In: A. Nachama/H. Simon (Hrsg.), Jüdische Grabstätten und Friedhöfe in Berlin (Berlin 1992) 7−11.

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Abb. 1: Gesamtplan des Friedhofes mit den bearbeiteten Grabfeldern (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2009).

Abb. 2: Grabsteine im Feld und Grabbau in den Erbbegräbnis-Reihen (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2009).

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Abb. 3: Beziehungsgeflecht der Informationen (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2008).

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Abb. 4: Untertypen der Grabsteine (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2008).

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Abb. 5: Eingabeformular zur Erfassung der Grabmalarchitektur (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2008).

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Abb. 6: Verteilungskarte der Stelen mit pyramidalem oder dreieckigen Abschluss – dunkelgrau – sowie der Tafeln aus Marmor oder Sandstein – hellgrau – Grabfelder A1, U4 (Bildnachweis: TU Berlin 2008).

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Abb. 7: Grabmal 01101022 auf Grabfeld A1. Im Einzelfall können die sächsischen Sandsteine durch die Verwitterung soweit ausdünnen, dass diese zu brechen drohen (Bildnachweis: Technische Universität Berlin 2008).

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Historische Friedhöfe als historische Gärten Historische Friedhöfe sind aus Sicht der Denkmalpflege dem übergeordneten Thema „Historische Gärten“ zuzuordnen. Sie sind komplexe Werke aus Geländeform, Baulichkeiten in Form von Einfassungsmauern, Toren, Gebäuden, Weg- und Platzanlagen sowie der vielfältigen Vegetation, den Einzelbäumen, Baumreihen, Alleen, den Hecken und Kletterpflanzen bis hin zu den Sträuchern, Stauden und Sommerblumen der einzelnen Grabstellen. Die oft kunstvoll bearbeiteten Steine der Grabmäler können den Umfang von Kleinarchitekturen annehmen und sind natürlich die zentralen Elemente des Friedhofes. Die Charta von Florenz (Charta der historischen Gärten) aus dem Jahre 1981 liefert den gedanklichen Hintergrund und Rahmen für die Vorgangsweise auch beim Umgang mit historischen Friedhöfen: „Artikel 2: Der historische Garten ist ein Bauwerk, das vornehmlich aus Pflanzen, also aus lebendem Material, besteht, folglich vergänglich und erneuerbar ist. Sein Aussehen resultiert aus einem ständigen Kräftespiel zwischen jahreszeitlichem Wechsel, natürlicher Entwicklung und naturgegebenem Verfall einerseits, und künstlerischem sowie handwerklichem Wollen andererseits, die darauf abzielen, einen bestimmten Zustand zu erhalten.“1 Entscheidend bei der Betrachtung des Friedhofs als historisches Gartenmonument ist die ganzheitliche Sicht auf die Anlage, welche eine isolierte Vorgangsweise, wie etwa nur die Sanierung der Grabsteine, ausschließt: „Bei jeder Instandhaltungs-, Konservierungs-, Restaurierungs- oder Rekonstruktionsmaßnahme […] muss die Gesamtheit seiner Elemente in Betracht gezogen werden. Sie isoliert zu behandeln, hätte eine Veränderung der Gesamtwirkung […] zur Folge.“2 1 2

Charta von Florenz, 1981, Art. 2. Charta von Florenz, 1981, Art. 10.

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#  $  X$ $     Insbesondere jüdische Friedhöfe stellen durch die Regeln der Halacha3 eine Besonderheit für den denkmalpflegerischen Umgang mit Friedhöfen dar. Das jüdische Gedenken an die Toten ist nicht an den Friedhof gebunden, und der Friedhof erfüllt somit eine zum christlichen unterschiedliche kultische Aufgabe. Das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus, die Vertreibung, Ermordung und Zerstörung jüdischen Lebens in Wien und anderswo gibt dem Friedhof eine neue Aufgabe des Gedenkens über den religiösen Kult hinaus. Für Juden wie für Christen wird der Friedhof zum Denkmal im ursprünglichen Sinn: ein Ort der Erinnerung an Gewesenes. Nicht nur die Grabmäler, sondern der gesamte Friedhof erzählen die Geschichte vom jüdischen Leben in seiner Vielfalt, von Frömmigkeit und Assimilation, und von der Vernichtung und Zerstörung dieser Kultur im Dritten Reich, konzentriert an einem Ort. Dabei macht die Überlagerung von Landschaft, Vegetation und Steinen den Lauf der Zeit besonders intensiv erlebbar. Denkmale sollen sich nicht auf eine isolierte Periode konzentrieren, sondern die in ihnen wahrnehmbare Geschichte bis heute in ihrem Ablauf sichtbar machen. So ist der behutsame Umgang mit der vorgefundenen Substanz des Denkmals eine der komplexesten Aufgaben. Das Freilegen der älteren Schichten opfert immer die jüngeren, darüber liegenden. Im Falle der jüdischen Geschichte Österreichs liegt über den Gräbern die Schicht der NS-Gewalt, die durch die dringend erforderliche Restaurierung nicht unsichtbar werden darf. Insofern verschärft sich hier am Friedhof in Währing der allgemeine Anspruch an den generellen Umgang mit Denkmalen. Für Gartendenkmale stellt die vor allem vegetabile Substanz des Denkmals besondere Anforderungen an den Umgang. Innerhalb der Kategorien Instandhaltung und Konservierung einerseits sowie Restaurierung und Rekonstruktion andererseits erfordert das pflanzliche Material eine regelmäßige Erneuerung der Substanz; sei es in jährlicher Abfolge beim Blumenschmuck oder in Perioden von 100 und mehr Jahren bei Gehölzen. Sind Instandhaltung und Konservierung Tätigkeiten, die gewissermaßen in einer Tradition erfolgen, von Gärtnergeneration zu Gärtnergeneration weitergegeben werden und lediglich einer denkmalpflegerischen Begleitung bedürfen, so erfordert ein Bruch in solchen Traditionen, sei es durch eine Periode fehlender Mittel, fehlenden Verständnisses oder Interesses für die Anlage, einen umfassenderen Eingriff in die Strukturen des Objektes. Traditionelles Wissen muss durch eine gründliche Untersuchung, die von der Durchsicht und Sammlung aller dieses Objekt sowie vergleichbare Anlagen betreffenden Dokumente 3

Die Halacha (hebräisch ¥¤ auf deutsch „Gehen“, „Wandeln“) ist der Name des rechtlichen Teils der Überlieferung des Judentums im Unterschied zur Aggada.

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ausgeht, unterstützt oder ersetzt werden, „so dass der wissenschaftliche Charakter des Eingriffes sichergestellt ist“4: „Der restaurierende Eingriff muss die Entwicklung des betreffenden Gartens berücksichtigen. Grundsätzlich darf nicht eine Epoche der Anlagegeschichte auf Kosten einer anderen bevorzugt werden […].“5

&     >  Zentrales Instrument der Gartendenkmalpflege ist das Parkpflegewerk. Es trachtet ein umfassendes Bild der Entwicklung des Denkmals zu zeichnen und greift dazu auf historische Forschung zurück. Oft wird eine solche erst im Rahmen des Parkpflegewerks betrieben. Gleichzeitig erfolgt die physische Erkundung des Denkmals. Dazu ist neben den Mitteln der Vermessung und der fotografischen Dokumentation vor allem die Gartengrabung von Bedeutung. Mehr als ein Baudenkmal „versinkt“ das Gartendenkmal durch Ablagerungen aus Laubfall und Erosion unter jüngeren Bodenschichten. Die Struktur des Bauwerks Garten ist dann an der Oberfläche nicht mehr erkennbar. Archäologische Geländeschnitte und Flächengrabungen legen eine, oft auch mehrere Referenzebenen des Objekts frei. Die botanische Erkundung des Geländes kann mithilfe von Zeigerpflanzen Aufschluss über die Lage und Verteilung der ehemaligen Rasen- und Gehölzflächen geben. Durch Überreste der Leitarten vergangener Gartenepochen kann fallweise sogar der historische Artenbestand angesprochen werden. Am Friedhof Währing konnten beispielsweise Rosen, Buchs, Immergrün und andere Pflanzen des alten Grabschmucks, wie er auf den Gräbern assimilierter jüdischer Familien in Verwendung stand, gefunden werden. Die Zusammenschau der Befunde aus der Gartenanalyse führt zur Festlegung eines oder mehrerer gartendenkmalpflegerischer Leitzustände. Diese Auswahl erfordert bei Denkmalen generell, und insbesondere bei Gartendenkmalen, welche der Dynamik der Vegetation unterliegen, besondere Sorgfalt. Gartendenkmale wurden häufig über Generationen von Gärtnern oft durchaus kreativ weitergepflegt und dabei auch verändert. Die Vielschichtigkeit des Denkmals muss vorrangig sein gegenüber der plakativen Darstellung eines Zustandes, vor allem wenn dies auf Kosten der Zerstörung von wertvollen Befunden jüngerer Gartenepochen geht.

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Charta von Florenz, 1981, Art. 15. Charta von Florenz, 1981, Art. 16.

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1. 2. 3. 4. 5.

Dokumentation/historische Analyse Bestandsanalyse (Vermessung, Kartierung, Grabungen) Denkmalbewertung (Gartendenkmalpflegerischer Leitzustand, anlagenhistorische Karte) Nutzungsanalyse Denkmalpflegerische Zielplanung (Maßnahmenkatalog, Zielplan, Definition der denkmalverträglichen Nutzungen, Vorschläge zur Öffentlichkeitsarbeit) 6. Erhaltungs- und Restaurierungskonzept Tab. 1: Schritte des Parkpflegewerks

#  > %$Y   ;'@ [\]^_ Im Falle der jüdischen Friedhöfe Österreichs und auch des jüdischen Friedhofes in WienWähring sind die NS-Zeit sowie die Jahre der Zweiten Republik die Phase des großen Bruches in der Anlagenpflege. Den Jahren der ideellen und materiellen Zerstörung und der Flächenverluste auf dem Friedhof Währing folgten in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Zeiten der völligen Vernachlässigung. Die vorgeschädigte bauliche Substanz war weiterem Verfall ausgesetzt, wild aufgegangene Bäume und Sträucher nahmen überhand (Abb. 2) und verdrängten die Reste planmäßig gesetzter Gartenpflanzen. Schließlich entstand ein Zustand, der im Jahr 2009 letztendlich zur Beauftragung eines Parkpflegewerkes6 führte. Der jüdische Friedhof Währing war ein Kind der Josephinischen Reformen. Eröffnet um 1784 als Hauptbegräbnisstätte der jüdischen Bevölkerung Wiens, wurde das ursprünglich angekaufte Grundstück rasch zu klein, sodass der Friedhof bis zu seiner Schließung in den 1880er-Jahren mehrfach erweitert wurde. Diese Erweiterungen, markiert durch Alleen und Baumreihen, bestimmen noch heute die Struktur des Friedhofs. Bei seiner Schließung umfasste der Friedhof rund 30.000 Grabstellen. Die jüngste bewusste Veränderung des Friedhofs vor den Zerstörungen während des nationalsozialistischen Regimes war die parkartige Gestaltung des Areals, welche von der liberal orientierten Wiener jüdischen Gemeinde um 1900 veranlasst wurde. Sie umfasste eine Wegeerschließung sowie umfangreiche Pflanzungen. In der NS-Zeit wurde der Friedhof, neben Zerstörungen an den Gräbern, auch eines Teils seiner Fläche beraubt. Hier errichtete die Gemeinde Wien in den 1960er-Jahren dann den sogenannten Arthur-Schnitzler-Hof. Seit Kriegsende blieb der Friedhof weitgehend sich selbst überlassen.

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Die historische Recherche brachte eine Fülle schriftlicher und bildlicher Belege zutage. Vor allem zu den sehr anspruchsvoll konzipierten baulichen und gärtnerischen Veränderungen in der Zeit um 1900 liegen umfangreiche Abrechnungslisten des mit der Umgestaltung betrauten Gärtners vor. Fotos aus den 1920er-Jahren zeigen das Ausmaß der Umsetzung dieser Konzepte der letzten bewussten Umgestaltung des Friedhofs. Leider fehlt bis heute der entscheidende Entwurfs- oder Ausführungsplan, auf dem die Umgestaltung beruht. Der Plan könnte die einzelnen Maßnahmen in ihrer Gesamtheit und ihrem Kontext zeigen. Ohne diesen Plan kann der Zusammenhang nur durch Grabungen erschlossen werden. Frühere Zustände hingegen sind, über Katasterpläne hinausgehend, kaum dokumentiert. Vegetationstechnische Analysen sowie erste Suchgrabungen an ausgewählten Stellen konnten die Quellen aus der Zeit um 1900 bestätigen: Beispielsweise wurden die auf historischen Abrechnungen aufscheinenden Wegeaufbauten und Entwässerungseinrichtungen lagegenau ergraben (Abb. 3), sodass vermutet werden kann, dass auch andere Elemente aus den detailreichen Abrechnungen gebaut bzw. gepflanzt wurden. Als ältere Elemente des Friedhofs konnten die Lindenreihen bestimmt werden, deren Alter anhand von Jahresringzählungen ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts datiert wurde. Zum Friedhof und seiner Geschichte gehört aber auch die Ebene der Zerstörung während des nationalsozialistischen Regimes: Teile des Friedhofs sind in der NS-Zeit in ein Trümmerfeld aus übereinandergeworfenen Grabsteinen verwandelt worden, das durch die Vernachlässigung der Jahrzehnte nach dem Krieg von einem Dickicht aus Holundersträuchern, Götterbäumen und Eschen überzogen wurde.

`;$ > %$   ;%  den jüdischen Friedhof Währing Auf diesen Befunden aufbauend wurde in Abstimmung mit der Grundeigentümerin, der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, und dem Auftraggeber, dem Bundesdenkmalamt, ein generelles Konzept für die Sanierung des Friedhofs entwickelt, das als generellen Leitzustand die Zeit nach 1900 vorsieht. Bereiche der Zerstörungen aus der NS-Zeit sollen jedoch ebenso bewahrt werden wie noch vorhandene ältere Friedhofsstrukturen. Die Zugänglichkeit des Friedhofs muss in enger Abstimmung mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien so entwickelt werden, dass die Würde des Friedhofes nicht verletzt wird. Die denkmalpflegerische Zielplanung sieht einen geführten Weg durch den restaurierten Friedhof vor, der, beginnend mit den Zerstörungen und der Verwilderung, sich gleichsam wie ein zeitlicher Schnitt in die Geschichte des Friedhofs hinein bewegt. Mit der spezifischen Struktur dieses Friedhofs kann eine solche zeitliche Abfolge auch räumlich erfasst werden. Gleichzeitig wird getrachtet, auch das Spektrum der jüdischen Bevölkerung quer durch alle sozialen Schichten abzubilden.

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Die Freilegung tieferer Schichten des Friedhofs wird jedoch nicht nur aus kunsthistorischer Sicht erforderlich. Vor allem ist es die substanzielle Erhaltung der Grabdenkmäler, welche eine Abtragung des Geländes bis zu jener Ebene erzwingt, die als letzte gärtnerisch bearbeitet wurde: Bäume und Sträucher, die im Laubhumus der vergangenen 80 Jahre stocken, beschädigen die Gräber durch Holz- und Wurzelwachstum. Die Huminsäuren der bis zu 30 Zentimeter dicken, jüngsten Bodenschicht greifen vor allem die ältesten Steine, die dünnen Sandsteinplatten, in ihrer Grundsubstanz an. Ohne ein flächiges Entfernen dieser Schicht sind alle Bemühungen um die Erhaltung der Grabsteine in situ sinnlos. Die angestammte Vegetation des Friedhofs muss, nachdem eine genaue Bestandsaufnahme erfolgt ist, entweder unmittelbar erhalten bleiben oder lagerichtig nachgepflanzt werden. Werden Wurzelstöcke oder andere Reste der alten Vegetation gefunden, so kann nach genauer Prüfung eine Nachpflanzung erfolgen. Als erster Schritt der Umsetzung des Parkpflegewerks soll in den kommenden Jahren eine der Gräbergruppen des Friedhofs exemplarisch restauriert werden. Damit werden Erkenntnisse über Dauer und Umfang der erforderlichen Maßnahmen und nicht zuletzt auch die zu erwartenden Kosten für eine generelle Restaurierung des Friedhofs gewonnen. Es ist zu hoffen, dass mit diesen ersten Schritten die europaweit einzigartige Qualität dieses Friedhofs erhalten und wieder erlebbar gemacht und die tragische Vernachlässigung des jüdischen Erbes Österreichs beendet wird.

Literatur Charta von Florenz, 1981 Charta von Florenz: Charta der historischen Gärten, verfasst vom Internationalen Komitee für Historische Gärten ICOMOS-IFLA, 1981; download von http://www.bda.at/downloads/1212/, Zugriff Mai 2010. Parkpflegewerk, Währing Jüdischer Friedhof Währing, Parkpflegewerk. Im Auftrag der IKG Wien. Ausführung: Büro Landschaftsarchitektur S. Schmidt, bearbeitet von M. Anderwald/G. Kranebitter/G. Rennhofer/S. Schmidt. Historische Recherche, Auswertung, Text T. Walzer. Grabungen Bundesdenkmalamt Abteilung für Bodendenkmale Martin Krenn, Grabungsleitung U. Scholz. Unveröffentlichtes Gutachten (Wien 2008−2009).

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Abb. 1: Plan des jüdischen Friedhofes Währing (Bildnachweis: Büro Landschaftsarchitektur S. Schmidt, Wien 2009).

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Abb. 2: Unkontrolliert flächiger Aufwuchs von Gehölzen auf dem jüdischen Friedhof Währing (Bildnachweis: T. Walzer, Wien).

Abb. 3: Archäologische Ausgrabung der Wegebeschaffenheit (Bildnachweis: U. Scholz, Wien).

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Konservatorisch-restauratorische Bestandsaufnahme ;;  #$ 

Bestandsaufnahmen haben in den letzten zehn Jahren in der restauratorischen Praxis in allen Fachbereichen, von der Gemälde- bis zur Steinrestaurierung, an Bedeutung gewonnen und sind gegenwärtig allgemein anerkannte Voraussetzung für eine wissenschaftlich fundierte restauratorische Intervention. Die Bestandsaufnahme ist sowohl für das Einzeldenkmal bzw. das singuläre Objekt der Beginn der restauratorischen Auseinandersetzung, stellt aber vor allem für die Behandlung von zusammengehörigen Denkmalen (Ensembles) oder Sammlungsgruppen und -beständen für jeglichen Eingriff Grundvoraussetzung dar. Vorausgeschickt wird, dass sich die Konservierung/Restaurierung heute als eigenständige wissenschaftliche Disziplin definiert. Sie wird von den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften flankiert und unterstützt. Gemeinsames Ziel ist die Erhaltung, Pflege und Restaurierung unseres kulturellen Erbes. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht das Denkmal, das Objekt, das es bestmöglich zu erhalten gilt. Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen schaffen das Verständnis für das kulturelle Umfeld und für das Objekt selbst, die Erkenntnisse zum technologischen Bestand und zur Herstellung sowie den Einblick in die Schadensursachen und den Erhaltungszustand. Auf den gemeinsam von Naturwissenschafterinnen/Wissenschaftern und Restauratorinnen/ Restauratoren durchgeführten Untersuchungen, die in die Bestandsaufnahme einfließen, basiert nun das Konservierungs- und Restaurierungskonzept, das von der Restauratorin/dem Restaurator erstellt wird. Ziel und Konzept der restauratorischen Interventionen sind mit der Denkmalpflege zu diskutieren und abzustimmen. Danach erst kann die Restauratorin/der Restaurator mit der praktischen Arbeit beginnen und erste Musterrestaurierungen durchführen. Was ist nun eine konservatorisch-restauratorische Bestandsaufnahme und welche Elemente beinhaltet sie? Eine Bestandsaufnahme umfasst: 1. Objektvorstellung 2. Technologischer Bestand – Material und Techniken 3. Erhaltungszustand und Schäden 4. Restaurierungsziel, Konservierungs- und Restaurierungskonzept

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Zusätzlich kann die Bestandsaufnahme erste Kostenschätzungen sowie eine Fotodokumentation enthalten. Weiters kann eine Muster- oder Modellrestaurierung, die auch oftmals als Basis für folgende Leistungsausschreibungen dient, aus der Bestandsaufnahme hervorgehen und das Projekt abschließen.

Objektvorstellung Hier, am Beginn der Bestandsaufnahme und als Einführung, wird auf das Objekt, im vorliegenden Fall auf ein Ölgemälde aus dem 19. Jahrhundert, aus geisteswissenschaftlicher Perspektive eingegangen (Abb. 1). Die kunsthistorische Beschreibung beinhaltet sowohl eine Datierung als auch eine regionale Zuordnung, gegebenenfalls auch Angaben zur Ikonografie. Ebenso gilt es, die Maße des Kunstwerkes anzuführen, bei Gemälden werden zuerst die Höhe, dann die Breite und erforderlichenfalls die Tiefe in Zentimetern angegeben. Eine Kurzbeschreibung der verwendeten Materialien und Herstellungstechniken, bei diesem Beispiel Ölfarbe auf Leinwand, schließt den ersten Punkt der Bestandsaufnahme ab.

Technologischer Bestand – Material und Techniken Die Charakterisierung des technologischen Bestandes ist der erste zentrale Teil der konservatorisch-restauratorischen Bestandsaufnahme und soll hier am Beispiel eines anatomischen Wachsmodells aus dem Josephinum (1784−1788) diskutiert werden (Abb. 2). Das Objekt weist eine Vielzahl unterschiedlicher Materialien und Herstellungstechniken auf, die es zu erfassen und zu dokumentieren gilt. Man beginnt dabei mit den strukturellen Elementen des Objekts, im gegebenen Fall einem Gerüst aus Kupferdrähten, welches als Skelett dient, und um welches Wachs frei aufmodelliert wurde. Manche Teilbereiche der Plastik sind auch gegossen. Das Wachs, der Hauptbestandteil des Objekts, ist farbig gestaltet, zum Teil einoder durchgefärbt und zum anderen Teil mit einer polychromen Fassung versehen, die bis ins feinste Detail gestaltet ist. Den Abschluss der elaborierten Polychromie bilden öl- und harzhaltige Überzüge, die matte oder glänzende Oberflächen bilden. Das Wachsobjekt liegt auf einem in Falten gelegten Seidenstoff, dieser wiederum ist an einer Trägerplatte montiert, die aus edlen Furnierhölzern besteht. Das ganze Objekt ist von einer Glasvitrine umgeben, die eigens für dieses Modell gefertigt wurde und zum Originalbestand zählt. Zur Klärung des Objekt-Bestandes wurden materialwissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt. Analysen im Rasterelektronenmikroskop (REM) dienten zur Verifizierung der Metallbestandteile. Fourier-Transformations-IR-Spektroskopie (FTIR) wurde eingesetzt, um

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die unterschiedlichen Bindemittel der Wachsmischung und der Überzüge zu identifizieren. Strahlendiagnostische Untersuchungen, im Speziellen mittels UV-Licht, wurden zusätzlich vorgenommen, um die Firnisfrage zu klären.

Erhaltungszustand und Schäden Die Erfassung des Erhaltungszustandes und die Interpretation der Schäden ist der zweite zentrale Teil der Bestandsaufnahme und fußt natürlich auf dem technologischen Bestand. Die komplexe Aufgabe der Schadenserfassung und -beurteilung soll nun am Beispiel der 32 Gartenskulpturen aus Sterzinger Marmor im Schlosspark Schönbrunn abgehandelt werden (Abb. 3). Begonnen wird am Einzeldenkmal mit einer Überprüfung der statischen Problemzonen, im vorliegenden Fall des Sockels, der auf seine Tragfähigkeit überprüft wird. Ebenso sind Setzungsfugen und Rissgefüge im Skulpturenbestand zu analysieren. Nach der statischen Begutachtung werden das Gestein an sich und alle gesteinsimmanenten Schäden untersucht. Physikalische, chemische und biogene Einflüsse wirken sich auf das Gestein, oft auch in Kombination, unterschiedlich aus. Mittels Dünnschliffmikroskopie lassen sich Verwitterungsverläufe nachvollziehen und Schadensursachen auf den Punkt bringen. Im Fall des Sterzinger Marmors ist dies eine Aufrauung der Gesteinsoberfläche durch Herauslösen der Einzelkristalle bzw. Gesteinskörner, bedingt durch die kontinuierliche Bewitterung und den Frost-Tau-Wechsel. Ebenso gilt es, frühere Reparaturen und Altrestaurierungen zu dokumentieren: Haben in der Vergangenheit eingebrachte Konservierungsmaterialien Schäden verursacht oder sind sie ohne Auswirkung auf den Bestand? Von der Einzelskulptur arbeitet man sich zum Ensemble vor, und von den statischen, strukturellen Schäden zur Oberfläche. Die gesammelten und zusammengetragenen Untersuchungsergebnisse werden in einer Schadenskartierung veranschaulicht (Abb. 4). Ein Schadenskatalog, der alle aufgefundenen Schäden benennt und aufzeichnet, wird vor allem im Fall der Bearbeitung eines Ensembles oder Sammlungsgruppe angefertigt. Er erleichtert eine systematische Erfassung aller Schadensbilder und hilft, eine begriffliche Übereinstimmung in der Datenerfassung zu erzielen. Nach Abschluss der Schadenserfassung und -analyse bzw. Interpretation der Schäden und Schadensbilder wird der Skulpturenbestand in entsprechende Erhaltungskategorien eingeteilt. Häufig bedienen wir uns der Schulnoten (1−5), um Erhaltungszustände zu klassifizieren. 1 bedeutet einen sehr guten Zustand und keinen restauratorischen Handlungsbedarf. 5 kennzeichnet sehr schlechte Erhaltungszustände, eine Substanz- bzw. Bestandsgefährdung und

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erfordert eine möglichst sofortige restauratorische Intervention. Die Kategorien 2−4 bezeichnen konservatorisch-restauratorische Eingriffe unterschiedlicher Natur und Dringlichkeit.

Ziel und Konzept der Konservierung/Restaurierung, Musterrestaurierung Nach Abschluss der Bestandsaufnahme ist es meist die nächste Aufgabe, das Ziel der Konservierung und Restaurierung zu definieren. Dies ist generell und knapp gehalten. Mit welchen konkreten Maßnahmen ich zu den Resultaten der restauratorischen Intervention gelange, fasst das Konservierungs- und Restaurierungskonzept zusammen. Hier werden zudem Einzelmaßnahmen diskutiert und anzuwendende Materialien und Techniken erörtert. Ebenso können Testreihen zur Festlegung der Vorgangsweisen herangezogen werden. Häufig werden auch Musterflächen angelegt. Die Abbildung zeigt einen weiß gefassten Teilbereich an der Skulpturengruppe des Ehrenhofbrunnens, Schloss Schönbrunn (Abb. 5). Ursprünglich trug der Brunnen eine weiße Fassung, die das kostbare Material Marmor vortäuschen sollte. Über die ästhetischen Fragestellungen hinaus diente die Musterfläche im vorliegenden Fall als Bewitterungsversuch, indem das Alterungsverhalten des neu entwickelten Anstrichsystems (Silikonfarbe mit Glasplättchen) im Jahreszyklus überprüft werden sollte. Testreihen, Musterflächen und Musterrestaurierungen als Hilfsmittel dienen vor allem als Grundlagen für die Diskussion mit Auftraggeberinnen/-gebern bzw. den Eigentümerinnen und Eigentümern. Sie ermöglichen auch eine Veranschaulichung des gewünschten oder geplanten Resultats und sind außerdem Basis für eine erste Kostenschätzung. Alle in der Bestandsaufnahme zusammengetragenen Informationen werden nun schriftlich ausgewertet und in einem Report zusammengefasst, der mit Abbildungen zu versehen ist. Der abschließende Untersuchungsbericht sollte zu den wesentlichen Aspekten und Fragen kurz und prägnant Stellung nehmen und Auftraggeberinnen/Auftraggebern Hilfestellung und Entscheidungshilfe für die weiteren Vorgehensweisen geben. Nach der Bestandsaufnahme sollten im Falle eines Denkmalensembles ein Überblick zu vorkommenden Materialien und Herstellungstechniken vorliegen. Ebenso sollten Schäden und Schadensursachen abgeklärt und Prioritäten für den restauratorischen Handlungsbedarf festgelegt sein.

Restaurierung als aktuelles Berufsfeld Das Arbeits- und Berufsfeld der Konservierung und Restaurierung hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert und differenziert. Waren es in der Vergangenheit umfassende Eingriffe, die auch stark von Rekonstruktions- und ästhetisch dominierten Aufgaben bestimmt waren,

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sind es jetzt an erster Stelle bestands- und substanzerhaltende Maßnahmen, die das Berufsfeld bestimmen. Der Minimaleingriff ist heute Richtlinie. Die zeitgemäße Konservierung und Restaurierung unterscheidet gegenwärtig folgende Arbeitsfelder: 1. Bestands-(Substanz-)erhaltung 2. Vorbeugende (passive, präventive) Konservierung 3. Konservierung 4. Restaurierung 5. Ergänzung 6. Rekonstruktion 7. Pflege 8. Wartung Heute ist also in allen Fachbereichen die Bestandserhaltung das oberste Ziel, es gilt auch, das Objekt und seine Geschichte zu bewahren. Der historisch „gewachsene Zustand“ (mit Veränderungen und Altrestaurierungen) oder der „Alterswert“ (nach Alois Riegl) müssen dabei berücksichtigt werden. Die vorbeugende (oder passive, präventive) Konservierung hat insbesondere im musealen Umfeld erste Priorität. Das Umfeld – die klimatischen Bedingungen, die Licht- und Beleuchtungssituation sowie die Luftschadstoffe – muss analysiert und, wenn für den Fortbestand des Objektes notwendig, modifiziert werden. Im Außenbereich sind es vor allem die Luftschadstoffe und die spezielle Bewitterungssituation, die untersucht werden müssen. Als präventive Maßnahmen kommen u. a. bei frostempfindlichen Materialien im Winter Skulptur-Einhausungen zur Anwendung. Die Konservierung ist die vordringliche aktive Maßnahme, sie beschäftigt sich mit den für die Erhaltung unbedingt notwendigen Arbeitsschritten. Dazu zählen strukturelle, statische Interventionen, die für die Lebensverlängerung des Denkmals bzw. des Objektes unbedingte Voraussetzung sind, aber auch Materialfestigung und Malschichtkonsolidierung sind hier zu berücksichtigen. Bei Reinigungs- und Freilegungsaufgaben ist entscheidend, ob diese für die Lebensverlängerung tatsächlich Bedingung sind. Über eine Konservierung hinaus geht die Restaurierung, die sich außerdem mit ästhetischen Fragestellungen, wie Ergänzung und Retusche, beschäftigt. In der Vergangenheit war eine Restaurierung nur dann erfolgreich, wenn auch ein hoher Komplettierungsgrad erreicht wurde („im neuen Glanz erstrahlen ...“). Die Rekonstruktion ist ein Spezialfall der Restaurierung, der in der Gegenwart oft in den Hintergrund tritt. Rekonstruktionen sind in der Steinrestaurierung nur dann gerechtfertigt, wenn sie statisch bedingt sind oder wenn prominente, ikonografisch wichtige Teilbereiche eines Denkmals bzw. einer Skulptur fehlen.

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Wartung und Pflege sind heute in der Denkmalpflege wichtige neue Berufsfelder der Restaurierung. Kontinuierliche, zyklische Pflege soll große und kostenintensive Restaurierungskampagnen ablösen bzw. Intervalle zwischen Restaurierungen hinauszögern. Ist doch der Beruf der Restauratorin/des Restaurators aus dem Handwerk und dem Künstlertum entstanden – Restaurierungsgeschichte ist ein aktuelles Forschungsfeld – , gibt es in Österreich seit 1933 an der Akademie der bildenden Künste eine fundierte akademische Restauratorinnen- und Restauratoren-Ausbildung, an der Universität für angewandte Kunst seit 1964. Heute wird nach wie vor ein 5-jähriges Diplomstudium an beiden Kunstuniversitäten angeboten, das mit Magistra/Magister artium abschließt. Darauf aufbauend kann ein zweijähriges (ab dem Studienjahr 2009/10 ein dreijähriges) Doktoratsstudium angeschlossen werden. Die beiden österreichischen Universitäten mit akademischer Restauratorinnen- und Restauratorenausbildung haben fachliche Schwerpunktsetzungen abgestimmt, sodass an der „Bildenden“ Wandmalerei, Papier und Holzobjekte und an der „Angewandten“ Stein, Objekte mit Schwerpunkt Metall sowie Textilrestaurierung als Spezialisierungsrichtungen angeboten werden. Die Gemälderestaurierung, die zudem an beiden Häusern eingerichtet ist, ist das traditionelle Berufsfeld, aus dem sich die anderen Fachdisziplinen entwickelt haben. Die Bestandsaufnahme schafft also nicht nur Klärung zum Objektbestand und dessen Erhaltungszustand, sondern ist auch notwendige Voraussetzung für die Entwicklung eines konservatorisch-restauratorischen Maßnahmenkonzeptes. Darüber hinaus schafft sie, wenn es um ein Ensemble oder Sammlungsbestände geht, eine Entscheidungsgrundlage für erhaltungsspezifische Schwerpunktsetzungen und Prioritäten für die restauratorische Intervention. In Zeiten der Verknappung finanzieller Mittel für Denkmalpflege und Denkmalerhaltung – das gilt auch für Sammlungen und Museen – sind Bestandsaufnahmen auch als gute Investition zu verstehen, da sie Auftraggeber/innen mit den notwendigen Informationen ausstatten, bestandserhaltende und restauratorische Schwerpunkte sinnvoll und nachhaltig zu setzen. Sie liefern die Entscheidungsgrundlage. Sind in der Vergangenheit verstärkt punktuelle Schwerpunktsetzungen durch Einzelrestaurierungen erfolgt, gilt es heute, knapper werdende Ressourcen vorwiegend für präventive Konservierung und bestandserhaltende Maßnahmen, also weitgehend „unsichtbare“ Interventionen, einzusetzen. „Sichtbare“ Arbeitsschritte, über die reine Konservierung hinausgehende Maßnahmen, also Restaurierung und Rekonstruktion, sind, wenn nicht auf den gesamten Sammlungsbestand gleichermaßen zu übertragen, hintanzustellen. Die Behandlung eines Ensembles oder einer Objektgruppe erfordert von den Restauratorinnen und Restauratoren besondere Erfahrungen. Die ästhetischen Zielvorstellungen der restauratorischen Intervention, also wie sich die Objekte nach Abschluss der Behandlung präsentieren sollen, müssen im Vorfeld definiert, getestet und auf die Objektgruppe über-

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tragen werden. So sollten Reinigungs- und Komplettierungsgrad im Vorfeld festgelegt werden. Besonders degradierte und geschädigte Objekte sollten in ihrer Behandlungsstrategie auf Objekte mit guten Erhaltungszuständen abgestimmt werden. Nach Abschluss der Interventionen sollte ein einheitliches, gepflegtes Erscheinungsbild der Objektgruppe bzw. des Sammlungsverbandes vorliegen. Die Qualität der Bestandsaufnahme ist nicht mit dem Umfang des Dokumentationsmaterials, das während der Untersuchungen zusammengetragen wird, und der Quantität der naturwissenschaftlichen Materialanalysen, die zur Identifikation der Herstellungstechnologie und Schadensbestimmung durchgeführt werden, gleichzusetzen. Umfangreiche Analysen und restauratorische Untersuchungen müssen ausgewertet und entsprechend interpretiert werden. Das „auf den Punkt bringen“ ist hier gefragt. Die Diskussion mit allen in das Projekt involvierten Disziplinen ist Voraussetzung für das Gelingen der Bestandsaufnahme und die erfolgreiche Erstellung und Umsetzung des Konservierungs- und Restaurierungskonzeptes.

Literatur Bacher, Kunst E. Bacher, Kunst oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege. Studien zu Denkmalschutz und Denkmalpflege Bd. 15, hg. vom Bundesdenkmalamt Wien (Wien, Köln, Weimar 1995). Krist, Bestandsaufnahme G. Krist, Bestandsaufnahme – Sammlungsanalyse – Musterrestaurierung am Beispiel der Gemäldesammlung auf Schloss Greillenstein, NÖ. IIC Restauratorenblätter 24/25, hg. von der Österreichischen Sektion des IIC (Klosterneuburg 2005), 221−226. Krist, Angewandte Kunst G. Krist, Universität für angewandte Kunst Wien: Restauratorenausbildung im Rück- und Ausblick. Restauro 6, 2002, 404−407. Krist/Griesser-Sterscheg, Bachelor G. Krist/M. Griesser-Stermscheg, Bachelor/Master – quo vadis? University Studies in Conservation at the University of Applied Arts in Vienna. In: Proceedings of the Interim Meeting ICOM-CC WG Education and Training, Vienna 20.−22. 4. 2007, hg. von ICOM-CC und Ruuben, Tannar (Helsinki 2008), 25−28. Krist, Kostüme G. Krist/R. Knaller/E. Hösl, Kostüme, Tapisserien & Co. Die Textilrestaurierung an der Universität für angewandte Kunst Wien. IIC Restauratorenblätter 27, hg. von der Österreichischen Sektion des IIC (Klosterneuburg 2008), 19−24.

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Abb. 1: Damenporträt „Amalia“, nach Amerling, frühes 19. Jh., Öl auf Leinwand (Bildnachweis: Institute of Conservation, Universität für Angewandte Kunst, Wien). Abb. 2: Anatomisches Wachsmodell, Josephinum – Sammlung der Medizinuniversität Wien, 1784−1788 (Bildnachweis: Institute of Conservation, Universität für Angewandte Kunst, Wien).

Abb. 3: Gartenskulptur, Schloss Schönbrunn, 18. Jh., Sterzinger Marmor (Bildnachweis: Institute of Conservation, Universität für Angewandte Kunst, Wien).

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Abb. 4: Ehrenhofbrunnen, Schloß Schönbrunn, Schadenskartierung (Bildnachweis: Institute of Conservation, Universität für Angewandte Kunst, Wien).

Abb. 5: Ehrenhofbrunnen, Schloss Schönbrunn, Musterfläche (Bildnachweis: Institute of Conservation, Universität für Angewandte Kunst, Wien).

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& ! >  {&     Untersuchungsmöglichkeiten

Die Verwitterung von Gesteinen ist ein natürlicher Prozess, dem wir die Herausformung von Landschaftsreliefs, aber auch deren Einebnung verdanken, ebenso wie sie für die Bildung lebensnotwendiger Böden verantwortlich ist. Stets sind es die Kräfte der Atmosphäre, die in der einen oder anderen Weise zu Lösung, Umwandlung, Abtrag und Zerkleinerung von Gesteinen beitragen. Die Sedimentgeologie beschäftigt sich vorwiegend mit dem Produkt solcher Prozesse, den Sedimenten, während die Verwitterung selbst nur für Randdisziplinen von Interesse ist. Eine dieser wissenschaftlichen Sparten hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gesteinszerstörung im denkbar kleinsten Maßstab zu studieren und Möglichkeiten zu erforschen, ihr entgegenzuwirken. Zunächst soll kurz erklärt werden, warum sich Naturwissenschafter mit oft nur mikro- bis millimeterkleinen Formen des Materialverlustes befassen. Wenn wir von Stein oder steinartigen Werk- und Baustoffen sprechen, die unser Kultur- und Architekturerbe formen, dann begreifen wir sehr bald, dass ein bedeutender Teil ihres Wertes in Form und Oberfläche liegt. Besonders anschaulich wird das an folgenden Beispielen: Eine Skulptur teilt sich in der Formensprache mit, häufig auch in der spezifischen Struktur ihrer Oberfläche. Der Verlust oder die alterungsbedingte Veränderung einer dieser Ausdrucksformen führt zwangsläufig weg von der gewollten Aussage. Oft genug müssen wir diesen Informationsverlust akzeptieren, und nicht selten verbinden wir die Alterung auch mit einem ästhetischen Wertzuwachs – Stichwort „Patina“. Aber wie steht es mit Kunstwerken, die ihre Bedeutung alleine aus einer zweidimensionalen Ebene beziehen, etwa Fassaden- oder Wandgemälde? Zugleich die Grenzfläche zwischen zwei ganz unterschiedlichen Systemen, nämlich dem Mauerwerk und der Atmosphäre, über die alle möglichen Formen des Stoffund Energieaustausches ablaufen, liegt der gesamte Wert dieser Objekte doch in den wenigen Zehntelmillimetern ihrer verletzlichen Oberfläche. Nicht viel anders verhält es sich bei Inschrift- und Grabsteinen: Wenige Millimeter an Materialverlust, die in der Natur kaum wahrgenommen werden, können den Totalverlust des dokumentarischen oder künstlerischen Werts eines solchen Objektes bedeuten. Für die Konservierung und Restaurierung von Kunstobjekten aus Stein sind also Vorgänge von Bedeutung, die von anderen Disziplinen nicht ausreichend berücksichtigt werden, auch wenn von dort fallweise wichtige Erkenntnisse bezogen werden können. Hier seien neben

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der Geologie und Petrografie vor allem die Chemie, Festkörperphysik, Meteorologie und Mikrobiologie angesprochen. Sie alle können wichtige Beiträge zu unserem Thema liefern, das lautet: Warum und wie verwittern Steine und wie können wir ihren Erhalt bestmöglich bewerkstelligen? An dieser Stelle muss auch noch umrissen werden, was unter einem „Stein“ im Sinne unserer Fachdisziplin zu verstehen ist: Ein mineralischer, also nichtmetallischer und vorwiegend oder zur Gänze anorganischer Werkstoff, der natürlichen Ursprungs sein kann – Naturstein – oder der auf technischem Wege künstlich hergestellt wurde – Kunststein, Mörtel oder Ähnliches.

Grundfaktoren der Verwitterung In Hinblick auf die auslösenden Faktoren wird in den meisten Lehrbüchern zwischen drei Grundtypen der Gesteinsverwitterung unterschieden, nämlich der chemischen, der physikalischen und der biologischen Verwitterung. Wenn auch diese Einteilung etwas für sich zu haben scheint, da sie auf dem Verursacherprinzip beruht, ist sie doch oft ungeeignet, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass in Wirklichkeit zwei oder mehr dieser Faktoren in komplexer Weise zusammenwirken. Im Folgenden sollen die Schadensmechanismen nach der Art ihrer Beanspruchung des Werkstoffs besprochen werden; dabei wird im Rahmen der Möglichkeiten sowohl auf die jeweils auslösenden Faktoren als auch auf die relevanten werkstoffeigenen Kenngrößen Bezug genommen.

Lösungsvorgänge Die Bestandteile von Natursteinen und Mörtelmaterialien der Denkmalpflege weisen im wässrigen Medium sehr unterschiedliche Löslichkeiten auf. In der Reihenfolge abnehmender Löslichkeit stehen natürlich gipshaltige Mörtel und Stucke an erster Stelle. Mit einer theoretischen Löslichkeit von ca. 2 g/l ist Gips – Calciumsulfat-Dihydrat – dermaßen wasserlöslich, dass er für Außenanwendungen meist nicht infrage kommt. In der Praxis kommt hier allerdings das zum Tragen, was grundsätzlich für alle mineralischen Werkstoffe gilt: Die realen Löslichkeiten liegen oft unter den theoretischen, aus Tabellenwerken ersichtlichen Werten. Kenngrößen wie Korngröße oder spezifische Oberfläche und kapillaraktive Porosität des Werkstoffs spielen ebenso eine Rolle wie der Grad der Ausgesetztheit der Oberfläche gegenüber dem Niederschlag. So ist zu erklären, dass sich etwa mittelalterliche Außenputze aus dichtem Hochbrandgips oft gut erhalten haben, während Gipsstuck im Freien meist schon nach wenigen Jahren zerstört ist.

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Auf der Skala wasserlöslicher mineralischer Komponenten folgt der Kalk. Dieser kommt in Form von Calciumkarbonat in vielen wichtigen Baustoffen vor, wie etwa in kalkgebundenem Sandstein, Kalkstein oder Marmor bzw. im Kalk- und Zementmörtel. Die theoretische Löslichkeit liegt zwischen 2 % und nahezu 50 % der Gipslöslichkeit und hängt von der mineralogischen Modifikation – Calcit oder Aragonit – und vom Kohlesäuregehalt bzw. dem pH-Wert des Wassers ab. Saure Luftschadstoffe erhöhen die Löslichkeit bzw. können zur Bildung leichter löslicher Salze wie vor allem Gips führen – die meist schwarzen Gipskrusten in den wettergeschützten Bereichen unserer Fassaden und Skulpturen sind bekannt. In der Praxis sind jedoch wiederum die petrophysikalischen Kenngrößen für die Lösungsraten maßgebend. Für Marmor und dichten Kalkstein ist der Lösungsangriff des Niederschlagswassers zwar ausreichend, um einen Politurverlust innerhalb weniger Jahre zu bewirken, beträgt aber mit ca. 0,3 mm Oberflächenabtrag pro Jahrhundert nur einen Bruchteil der Verlustrate von über 6 mm pro Jahrhundert, die etwa an den hochporösen Leithakalken gemessen wurden. Weit weniger löslich bzw. reaktiv als Sulfate und Karbonate sind die Silikatminerale, die etwa Quarzsandsteine und viele dichte Werksteine wie z. B. Granite aufbauen. Die nach geologischen Zeitmaßstäben bedeutsamen hydrolytischen Verwitterungsvorgänge der Silikate, die meistens keine eigentliche Auflösung der Minerale, sondern eher deren Umbildung zu Sekundärprodukten bewirken, sind für die Zerstörung der Werksteine von wenig Bedeutung. Die Politurbeständigkeit mancher Silikatgesteine wird nach Jahrtausenden gemessen, sofern keine physikalisch-mechanischen Verwitterungseinflüsse hinzugekommen sind.

Ausfällungsvorgänge Wo Stoffe gelöst und die betreffenden Lösungen migrieren, wie etwa durch Porensysteme, dort ist auch häufig mit deren erneuter Ausfällung zu rechnen, und zwar in erster Linie in den Trocknungshorizonten des Werkstücks. Die mit diesem Prozess verbundene Umlagerung von Komponenten kann zur Ausbildung einer Abfolge von unterschiedlich festen oder dichten Zonen im Millimeter- bis Zentimeterbereich führen, die auf physikalisch-mechanische Beanspruchung ganz verschieden reagieren. Die klassischen Verwitterungsprofile vieler Werksteine gehen auf solche Vorgänge zurück und machen deutlich, wie sehr chemische und physikalische Mechanismen gemeinsam zur Verwitterung beitragen: Über einer durch Bindemittelverlust entfestigten Auslaugungszone liegt ein verdichteter Ausfällungshorizont, der auf hygrische und thermische Faktoren meist mit erhöhter Volumenzunahme reagiert und dadurch Scherspannungen zum Untergrund hervorruft. Eine konservatorische Festigung kann sich in solchen Fällen schwierig gestalten, da ja das Festigungsmittel zunächst die dichte Zone durchdringen muss, um dorthin zu gelangen, wo es benötigt wird.

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Auf demselben Prinzip beruht auch das Erscheinungsbild feingliedriger karbonatischer Werkstücke, die auf der beregneten Seite durch Verlust des Bindemittels absanden, während ihre wettergeschützte Seite dicke Krusten tragen, die gelegentlich abplatzen. Üblicherweise ist es Gips, bei dolomitischen Mörteln sind es aber auch Magnesiumkarbonate, die als Salze geringer Löslichkeit solche Schadensbilder erzeugen. Die Schwarzfärbung der Gipskrusten ist wohl eine Folge der mikrobiologischen Aktivität und weniger der eingelagerten Russpartikel, wie vielfach behauptet wird.

Feuchtedehnung Nicht nur Holz, auch mineralische Feststoffe erfahren bei Befeuchtung eine gewisse Vergrößerung ihres Volumens, vorausgesetzt, sie verfügen über entsprechende Poren in ihrem Gefüge. Man unterscheidet hier zwischen hygrischer und hygroskopischer Dilatation, je nachdem, ob die Quellung durch Wassersättigung des Porenraums oder durch die Aufnahme von Wasserdampf aus der umgebenden Atmosphäre hervorgerufen wird. In beiden Fällen sind es vor allem die sehr feinen Poren, die für den Quellvorgang verantwortlich sind. An ihren Wänden lagern sich die Wassermoleküle mit derart großer Affinität zum Feststoff an, dass gewissermaßen mehr Wasser eingelagert wird als dem Platzangebot entspricht. Oft sind Tonminerale an den Korngrenzen des Gefüges, deren Zwischenschichten ja als Feinporen gelten können, die Ursache für erhöhte Feuchtedehnung – von der Keramik ist ja das Quellverhalten bildsamer Tone allgemein bekannt. Die Bedingungen finden sich vor allem in einigen Sandsteinsorten und führen unter stetiger Feuchteeinwirkung zu deren Volumenzunahme über lange Zeiträume hinweg. Aber auch tonfreie Steine können quellen, zum Beispiel, wenn sich durch Vergipsung des Steingefüges eine feine Sekundärporosität aufgebaut hat. Beim Vorliegen leicht löslicher Salze im Porenraum kann ebenfalls ein erhöhtes Quellverhalten des Steins oder Mörtels verzeichnet werden, hier allerdings eher als Folge der Hydratwasseraufnahme durch die Salze. Die hygrische Dehnung von mineralischen Werkstoffen kann bis zu 2 mm/m betragen und liegt damit in einer mit der Wärmedehnung vergleichbaren Größenordnung. Theoretisch tritt bei der Trocknung wieder eine Schrumpfung um den gleichen Betrag ein, in der Praxis verhält sich jedoch ein mineralischer Werkstoff nicht elastisch genug und bildet irreversible Gefügestörungen aus, die eine Rückkehr zur Ausgangsdimension wenig wahrscheinlich machen. Die Neigung zur Feuchtedehnung kann durch eine Behandlung mit speziellen Quellminderern reduziert werden. Sind Salze die Ursache, dann kann nur eine Salzextraktion helfen.

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Wärmedehnung Nahezu alle Stoffe dehnen sich bei Erwärmung aus und ziehen sich bei Abkühlung wieder zusammen. Wiederum verbleibt einem mineralischen Werkstoff, einmal durch thermische Dilatation verformt, aufgrund seiner geringen Plastizität ein Rest von Deformation, der mit Gefügestörungen verbunden ist. Die entstandenen Mikrorisse leisten dann der weiteren Verwitterung mehr oder weniger stark Vorschub. Im Gegensatz zur Feuchtedehnung sind dichte Baustoffe naturgemäß mehr betroffen als poröse, da die einzelnen Komponenten keinen Platz zur Volumenvergrößerung haben. Da dunkle Oberflächen mehr Strahlungswärme absorbieren als helle, spielt die Steinfarbe ebenfalls eine Rolle. Die Ableitung der Wärme in das Innere des Baustoffs ist wiederum bei dichten Materialien größer. Daraus kann man ableiten, dass poröse Baustoffe mit dunklen Oberflächen, wie sie etwa durch schwarze Gipskrusten entstehen, einen besonders ausgeprägten thermischen Gradienten aufweisen. Die augenscheinlichsten Deformationen durch Sonneneinstrahlung findet man allerdings bei einer hellen Steinsorte, nämlich dem kristallinen Marmor. Marmorplatten an Fassaden oder als Grabsteine, die stets von derselben Seite besonnt werden, können sehr starke Verbiegungen erfahren. Dies liegt an der spezifischen Eigenart des Kalkspats, sich bei Erwärmung nur in einer Richtung zu dehnen, sowie an der Fähigkeit dieses Minerals zur Ausbildung innerkristalliner Gleitflächen. Von der gewöhnlich durch Sonneneinstrahlung verursachten Erwärmung unterscheidet sich die Hitzeeinwirkung bei Brand durch die wesentlich höheren Temperaturen, die mit einer plötzlichen Ausdehnung und Trocknung, aber auch mit der Umwandlung bzw. dem Zerfall einzelner Minerale einhergeht.

Frost Das Volumen des Wassers nimmt beim Frieren um etwa 9 % zu. Wenn dies im Inneren des Porensystems geschieht, dann können die damit verbundenen Drucke zu Gefügeschäden führen. Im Gegensatz zur früher vertretenen Ansicht, dass dafür zumindest 90 % des verfügbaren Porenraums mit Wasser gefüllt sein muss, weiß man heute, dass das Eiswachstum in großen Poren beginnt und auch dann Sprengdrucke entfalten kann, wenn die feineren Poren frei von Wasser sind. Da jedoch der Frost häufig von einer Trocknung begleitet wird, die bei grobporigen Werkstoffen rascher erfolgt als bei fein- oder gemischtporigen, sind vor allem Materialien mit einem signifikanten Feinporenanteil von Frostschäden betroffen.

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Von verschiedenen an sich frostbeständigen Natursteinsorten ist bekannt, dass sie im frisch gebrochenen Zustand frostempfindlich sind. Die Werkstücke sollten vor ihrer Aufstellung im Freien eine Zeit lang austrocknen; das dabei abgegebene Porenwasser kann durch spätere Bewitterung nicht mehr aufgenommen werden. Frosteinwirkung dürfte auch die Ursache dafür sein, dass manche kristalline Skulpturmarmore im mittel- oder nordeuropäischen Klima eine eigenartige Form der Tiefenverwitterung erfahren, die bis hin zum unerwarteten Versagen der Standfestigkeit führen kann. Da dies besonders bei Skulpturen auftritt, die in schlecht durchlüfteten Nischen stehen, wird vermutet, dass die Luftfeuchtigkeit in den sehr feinen Poren des Marmors kondensiert und nur oberflächlich trocknen kann. In solchen Poren friert das Wasser nur bei sehr niedrigen Temperaturen, was die geografische Verbreitung dieses spezifischen Schadens erklären würde. Für die Diagnose dieser Verwitterungsform, die an der Oberfläche nicht erkennbar ist, eignen sich Ultraschalluntersuchungen.

Schadsalze Zu den häufigsten Verursachern von Schäden an historischer Bausubstanz und oft auch an Grabsteinen und Skulpturen zählen die löslichen Salze. Ihre Herkunft kann sehr unterschiedlich sein und ist nicht immer zweifelsfrei zu ermitteln, so wichtig dies auch für eine Schadensbehebung wäre. Dabei wird oft übersehen, dass bereits geringe Gehalte an löslichen Salzen im Porenwasser substanzschädigend wirken können, wenn es bei langfristiger Feuchtezirkulation zur Salzanreicherung in stets denselben Zonen kommt. Nur ein vergleichsweise geringer und leicht erkennbarer Teil der Schadsalze bildet sich aus chemischen Reaktionen von Baustoffkomponenten selbst; dies betrifft vorwiegend den bereits besprochenen Gips, wenn er sich durch die Einwirkung schwefelhaltiger Luftschadstoffe gebildet hat, bisweilen auch lösliche Verbindungen, die sich aus der geologischen Bildung bzw. der Erzeugung des Werkstoffs ableiten lassen. An dieser Stelle wäre auch die Oxidation von Eisensulfiden zu erwähnen, die etwa in Form von Pyrit in vielen Gesteinen auftreten und an der Atmosphäre unter Abspaltung von Schwefelsäure oxidieren können. Aber auch lösliche Rückstände bzw. Reaktionsprodukte aus Restaurier- und Reparaturmaterialien sind hier anzuführen, die häufiger als vermutet zur Schädigung der Originalsubstanz führen. Ein überwiegender Anteil solcher Produkte, ob sie nun zementhaltige Massen oder wasserlösliche Silikat- oder Silikonsysteme sind, bringen alkalische Substanzen ein, die zur Bildung von Kalium- oder Natriumsalzen führen. Häufiger jedoch werden Salze der Struktur von außen zugeführt, in erster Linie aus dem Boden, wo fast immer lösliche Bestandteile in ausreichender Menge vorhanden sind. Abhän-

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gig von den jeweiligen geologischen Gegebenheiten oder den Nutzungsbedingungen des umgebenden Terrains gelangen unterschiedliche Mengen und Mischungsverhältnisse von Sulfat-, Nitrat- und Chloridsalzen mit der Bodenfeuchte in das Mauerwerk oder in den Stein. Im Porengefüge bewegen sich Salze ausschließlich in gelöster Form, also unter der Einwirkung von Wasser. Jedes Salz besitzt eine spezifische Löslichkeit, die zudem von Faktoren wie der Temperatur und den Lösungsgenossen mit beeinflusst wird. Steigt der Gehalt an Salzionen in der Lösung über den jeweiligen Sättigungswert, dann kann es zur Kristallisation kommen. Dies ist vor allem dort der Fall, wo Wasser verdunstet, wobei leicht löslichere Salze noch unter trockeneren Bedingungen in Lösung bleiben als schwer lösliche, die früher auskristallisieren. Im Kreislauf von Lösungszirkulation im Porenraum und Verdunstung an den Werkstückoberflächen kommt es dadurch zur selektiven Anreicherung unterschiedlicher Salze in verschiedenen Zonen eines Objekts. Die Kristallisation von Salzen ist seit Langem als wichtiger Schadensfaktor bekannt. Infolge des Kristallwachstums wird Druck auf die Porenwände des Werkstoffs ausgeübt, der besonders in Oberflächennähe die Materialfestigkeit übersteigt und zu Absanden oder Abschuppen führt. Die Schäden können derart gravierend sein, dass sie im Laufe der Zeit zu statischen Problemen führen. Dabei liegt auf der Hand, dass jede Trocknung eines salzbelasteten Objekts mit dem Risiko weiterer Kristallisation behaftet ist. Restauratorische Eingriffe zielen deshalb zunächst darauf ab, die Salze im gelösten Zustand zu extrahieren oder, wenn dies nicht in ausreichendem Maße möglich ist, ihre Kristallisation durch die Schaffung kontrollierter Klimabedingungen zu minimieren. Beide Ansätze sind nur bedingt wirksam und erfordern überdies flankierende Maßnahmen zur Reduzierung des Feuchtenachschubs aus dem Inneren, um einen nachhaltigen Erfolg zu versprechen. Abgesehen von der Kristallisation gibt es noch einen anderen Mechanismus, der zur Schädigung durch Salze führen kann. Es ist dies die Aufnahme bzw. Abgabe von Hydratwasser in das Kristallgitter mancher Salzarten, die in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchte verläuft und ebenfalls mit Volumenänderungen und Sprengdrucken verbunden ist. Zur Einstellung geeigneter Klimaparameter ist die Kenntnis der betreffenden Salzarten wichtig. Schließlich ist auch auf das hygroskopische Verhalten vieler leichtlöslicher Salze hinzuweisen, die aus der umgebenden Luft so lange Wasser aufnehmen, bis sie sich darin lösen. Für jedes dieser hygroskopischen Salze gelten bestimmte Klimabedingungen, bei deren Überschreiten das Salz zu zerfließen beginnt bzw. deren Unterschreiten zum Auskristallisieren des Salzes führt. Wiederum kann ein stabiles Raumklima dazu beitragen, das Schadensrisiko zu minimieren. Im Außenbereich, wo dies nicht möglich ist und die Luftfeuchte gewöhnlich keine besonders niedrigen Werte erreicht, wird man Feuchteflecken feststellen, wo hygroskopische Salze angereichert sind. Sie lassen sich oft leicht extrahieren, womit die Oberfläche innerhalb kurzer Zeit trocknen kann.

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Charakteristische Schadensbilder Die beschriebenen Verwitterungsmechanismen stehen zum überwiegenden Teil mit Faktoren in Zusammenhang, die auf Stoff- und Energieaustausch zwischen seinem Inneren und der Atmosphäre beruhen. Da Stoffaustausch – in erster Linie Wasser und wässrige Lösungen – über die inneren Hohlräume des Werkstoffs erfolgt, spielen hier die jeweiligen Porenverhältnisse eine große Rolle. Poröse Ziegel sind von dichtem Fugenmörtel in einer salzbelasteten Mauer umgeben (Abb. 1). Es ist leicht erkennbar, dass hier der Altbestand einer unsachgemäßen Sanierung mit Zementmörtel zum Opfer fiel, eine Situation, die leider nur allzu häufig anzutreffen ist. Innerhalb eines homogenen Werkstücks hingegen bauen sich Zustandsgradienten unterhalb der Oberfläche auf, die mit schichtweise unterschiedlicher Materialbeanspruchung korrelieren. So ist etwa die Feuchtequellung in den stärker durchnässten Oberflächenzonen größer als im trockeneren Inneren, der Frost bzw. die Erwärmung durch Sonneneinstrahlung wirkt an der Oberfläche stärker als innen, Salze kristallisieren an oder nahe der Oberfläche usw. Bei manchen dieser Situationen – besonders bei Feuchteeintrag über die Oberfläche oder bei Salzkristallisation – ist die Grenzfläche zwischen den unterschiedlich beanspruchten Zonen scharf, bei anderen, nämlich der Wärmedehnung, eher fließend. Besonders im ersten der genannten Fälle entstehen Scherspannungen an Schichtgrenzen, die sich durch Relativbewegungen abbauen und dazu führen, dass sich die Oberfläche schalen- oder schollenförmig abhebt (Abb. 2), während die Beanspruchung durch Strahlungswärme häufiger zur Deformation ganzer Werkstücke führt (Abb. 3). Abbildung 4 zeigt die skizzierten Zusammenhänge in schematischer Form. Lediglich solche Werkstoffe, in denen einzelne Mineralkörner mit einem mineralischen Bindemittel zusammengehalten werden, neigen statt zur Schalen- oder Schollenbildung dann zum Absanden, wenn die Kornbindung durch Lösungsvorgänge abgebaut und das Lösungsprodukt abgeführt wird.

Untersuchungsverfahren zur Schadensdiagnose und zur Festlegung von Restaurierungskonzepten Grundsätzlich sind viele gängige Methoden der Chemie, Physik, Petrografie oder der Materialprüfung allgemein dazu geeignet, einen Steinschaden auf Art, Ausmaß und Ursache zu untersuchen und die Vorgaben für Konservierungseingriffe zu erstellen. Dennoch hat sich in den letzten Jahrzehnten eine eigene materialwissenschaftliche Disziplin entwickelt, die sich nicht nur einiger dieser Verfahren bedient, sondern sie auch den Bedürfnissen angepasst

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bzw. auch eigenständige Prüfmethoden entwickelt hat. Dies ist die Folge einiger spezifischer Anforderungen, die an die Untersuchung von geschädigter Kunst- und Denkmalsubstanz zu stellen sind: Einerseits müssen zerstörende Probenahmen unterbleiben oder sich auf ein Minimum beschränken, und überdies ändern sich infolge der Verwitterung Materialkennwerte und Zustandsparameter schon innerhalb weniger Millimeter unterhalb der Oberfläche. Solche Profile können durch Pauschalanalysen von Proben eines Werkstücks meist nicht erkannt werden. Spezielle Verfahren sind gefragt, deren Resultate mangels repräsentativer Probendimensionen zwar meist keinen streng quantitativen Aussagewert haben können, die stattdessen aber ausreichende Auskünfte zu den skizzierten Fragestellungen geben müssen. Für die Untersuchung von Steinen und Mörteln aus historischer Architektur oder Skulptur können folgende Methoden als Standard gelten: Ultraschall-Laufzeitmessungen, üblicherweise im Durchschallungsmodus durchgeführt: Vollkommen zerstörungsfrei können solche Messungen größere Risse im Inneren detektieren und erlauben überdies eine Abschätzung des Elastizitätsmoduls und damit des Gefügezustands pauschal über die Messstrecke. Häufig auch zur Erfolgsbewertung von konservierenden Maßnahmen zur Gefügefestigung eingesetzt, ist diese Methode jedoch nicht immer sensibel genug, um hierfür eindeutige Aussagen zu ermöglichen. Messungen des Bohrwiderstands: Diese Untersuchung kann als zerstörungsarm gelten; mit einem handelsüblichen Steinbohrer wird die Materialfestigkeit von der Oberfläche ins Innere kontinuierlich registriert, wodurch Verwitterungsprofile in Millimeterabschnitten erfasst werden können. Darüber hinaus kann das Bohrmehl aufgesammelt und für chemische oder mineralogische Analysen verwendet werden. Homogenität und Feinkörnigkeit sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einsatz dieser Methode, die dann auch zur Beurteilung von imprägnierenden Festigungsmaßnahmen herangezogen werden kann. Mikroskopische Untersuchungen an Proben: Wiewohl nicht zerstörungsfrei und nur ausnahmsweise zu quantitativen Messwerten führend, bietet die Vielzahl bildgebender Mikroskopieverfahren doch den Vorteil, Gefügezustände in Abhängigkeit von der Tiefe studieren sowie Verwitterungs- und Konservierungsprodukte lokalisieren und identifizieren zu können. Die Möglichkeiten reichen von der Polarisationsmikroskopie an Dünnschliffen, einer klassischen Domäne der Erdwissenschaften, über die UV-Fluoreszenz- und Kathodenlumineszenz-Mikroskopie bis hin zur Rasterelektronen-Mikroskopie mit ihren Möglichkeiten der chemischen Mikroanalyse durch Röntgenstrahlen. Auf diese Weise können fast immer wichtige Informationen erhalten werden, vorausgesetzt, der

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Bearbeiter verfügt über ausreichende Erfahrungen zum optimalen Einsatz und zur Interpretation der Befunde. Salzanalysen: Aufgrund der komplexen Verteilungsmuster von Salzen steht und fällt die Aussagekraft von Salzanalysen mit der Wahl der Probestellen am Objekt. Je nach Fragestellung wird man quantitative Analysen der löslichen Bestandteile im Probenvolumen durchführen oder mit den angesprochenen Methoden der Mikroskopie eher qualitative bzw. mikromorphologische Untersuchungen von Ausblühungssalzen vornehmen. Eine Kombination beider Ansätze führt in den meisten Fällen zum besten Ergebnis. Weitere Untersuchungsverfahren: Eine Anzahl von Diagnose- und Prüfmethoden, die über den heutigen Standard hinausgehen und nur vereinzelt eingesetzt werden, weil sie aufwendig oder noch nicht ausgereift sind, können im Rahmen dieses Beitrags nicht näher behandelt werden. Als Beispiele seien Radaruntersuchungen genannt, die heute zunehmend feine Tiefenauflösungen erreichen, oder von der Medizin übernommene computertomografische Methoden, die allerdings nur an mobilen Objekten beschränkter Größe zum Einsatz kommen können.

Literatur Amoroso/Fassina, Stone decay G. Amoroso/V. Fassina, Stone decay and Conservation (Amsterdam 1983). Charola, Salt E. A. Charola, Salts in the deterioration of porous materials: an overview. Journal of the American Institute for Conservation 39/3, 2000, 327−343. Charola, Stone deterioation A. E. Charola, Stone deterioration in historic buildings and monuments. Proceedings of the 10th International congress on Deterioration and Conservation of Stone Vol. 1 (Stockholm 2004), 3−14. Doehne, Salt E. Doehne, Salt weathering: A selective review. In: Natural Stone, Weathering Phenomena, Conservation Strategies and Case Studies, Special Publication 205 (London 2002), 51−64. Fitzner, Hohlraumgefüge B. Fitzner, Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem Hohlraumgefüge von Natursteinen und physikalischen Verwitterungsvorgängen. Mitteilungen zur Ingenieurgeologie und Hydrogeologie 29, 1988.

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Abb. 1: Selektive Verwitterung poröser historischer Mauerziegel durch Salz- oder Frosteinwirkung. Der dichte Zementmörtel der Fugen, der aus einer „Sanierung“ stammt, hat den Schaden zumindest mitverursacht (Bildnachweis: J. Weber, Wien).

Abb. 3: Durchbiegung einer Marmorplatte aufgrund von Wärmedehnung; bei Marmoren ist diese Erscheinung sehr häufig zu beobachten (Bildnachweis: J. Weber, Wien).

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Abb. 2: Schalenbildung bei Sandstein im Bereich aufsteigender Feuchte (Bildnachweis: J. Weber, Wien).

Abb. 4: Schemazeichnung zur Verdeutlichung der Kausalität zwischen Verwitterungseinflüssen und oberflächenparallelen Scherspannungen in einem homogenen Werkstück (Bildnachweis: J. Weber, Wien).

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Andreas Rohatsch

Die Denkmalgesteine historischer jüdischer Friedhöfe in Wien – gesteinskundliche Grundlagen

Aus gesteinskundlicher Betrachtungsweise stellen gerade jüdische Friedhöfe aus dem 19. bis frühen 20. Jahrhundert wertvolle Dokumente zur Gesteinsverwendung dar, da diese aus rituellen Gründen praktisch unverändert überliefert wurden. Auch schwer geschädigte Grabdenkmale aus Naturstein wurden meist nicht konserviert, restauriert oder gar erneuert, wie dies bei christlichen Grabstätten meist der Fall ist. Man kann bei christlichen Friedhöfen davon ausgehen, dass im Allgemeinen alle 20 bis 30 Jahre der Steinbestand grundlegend ausgewechselt wird, da auch die Friedhofskultur und Grabanlagengestaltung gewissen relativ kurzfristigen Modeströmungen unterliegt. Dies soll nicht bedeuten, dass bei jüdischen Friedhofsanlagen keine Modeströmungen zu beobachten sind, der praktisch unveränderte Bestand belegt jedoch den − im Gegensatz zu christlichen Anschauungen völlig gegensätzlichen − Zugang zur Bedeutung des Grabes als wirklich ewige, unveränderbare Ruhestätte der/des Verstorbenen. Dieses quasi eingefrorene Abbild einer historischen Gesellschaft, das den sozialen Status und persönliche Schicksale, auch in der Wahl der Denkmalgesteine und gewählten Grabmalarchitektur bis in unsere Gegenwart dokumentiert, ermöglicht nicht nur den Geisteswissenschaften, sondern auch den Naturwissenschaften, selbstverständlich unter respektvoller Berücksichtigung und Wahrung der Totenruhe, eine wertvolle wissenschaftlich studierbare Grundlage. Für die Geowissenschaften im Besonderen stellen jüdische Friedhöfe, ohne respektlos erscheinen zu wollen, gut datierte unterschiedlich lang andauernde Freiluftlangzeitversuche an historischen Bau- und Dekorgesteinen dar, die den Verwitterungsfortschritt bzw. die Verwitterungsursachen und -mechanismen verstehbar machen.1 Die Bestattung und vor allem die Beschaffung von Steindenkmalen war schon immer eine sehr kostspielige Angelegenheit, und wer es sich leisten konnte, wer es im Leben zu etwas gebracht hatte, konnte auch im Tode selbstbewusst, teilweise übertrieben prunksüchtig seinen gesellschaftlichen Status mit kostbaren Steindenkmalen repräsentieren. Der lebenslange Wettbewerb/Kampf, immer mehr zu erreichen, immer mehr Besitz und Ansehen zu erwerben, wird also über den Tod hinaus, bis in alle Ewigkeit weitergeführt. Eine Einstellung, die 1

Fitzner/Grimm/Schwarz, Natursteinkartierung. – Grimm, Verwitterung. – Ders. Denkmalgesteine. – Poschlod/Grimm, München.

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uns heute natürlich völlig fremd ist. Ein im 19. Jahrhundert besonders interessanter Zeitabschnitt liegt kurz vor und nach der Fertigstellung der mitteleuropäischen Hauptverkehrsverbindungen, wie z. B. der Südbahn, die die Dekorgesteinslandschaft, welche bis dahin eher durch regional vorkommende Gesteinstypen geprägt war, vollkommen umgestaltete. Zahlreiche bis dato nur in geringsten Mengen nachweisbare Gesteinsarten, wie zum Beispiel jene aus den istrischen Steinbrüchen oder italienische Marmore, wurden nach Fertigstellung der Bahnverbindungen in riesigen Mengen in Wien verfügbar und verdrängten in weiten Bereichen die heimischen Gesteinstypen.

Gesteinskundliche Grundlagen Prinzipiell werden natürliche Gesteine nach ihrer Entstehung einer der drei Hauptgruppen, nämlich den magmatischen Gesteinen, den Sedimentgesteinen oder den metamorphen Gesteinen, zugeteilt.2 Die korrekte Klassifikation von Gesteinen erfordert umfangreiche Kenntnisse über grundlegende geologische Vorgänge und die Art und Weise, wie Gesteine entstehen können. Die im Kreislauf der geologischen Prozesse vereinfacht dargestellten Vorgänge haben naturgemäß Auswirkungen auf die chemischen, physikalischen, texturellen und strukturellen Eigenschaften der gebildeten Gesteine. Qualitative und quantitative makroskopische und mikroskopische naturwissenschaftliche Untersuchungen bilden die Basis für eine korrekte Gesteinsbestimmung. Diese ist sehr wichtig, da hiermit auch grundlegende Aussagen über physikalische und chemische Eigenschaften sowie über die Verwitterungsbeständigkeit der jeweiligen Gesteine getroffen werden können. Im Folgenden werden, wiederum stark vereinfachend, einige dieser wesentlichen Entstehungsbedingungen und Eigenschaften der einzelnen Gesteinsgruppen angeführt und kurz erläutert.

Magmatische Gesteine Diese Gesteinsgruppe wird aus einer Gesteinsschmelze gebildet. Neben den mineralogischen, texturellen und strukturellen Eigenschaften ist die chemische Zusammensetzung der Ausgangsschmelze von entscheidender Bedeutung dafür, welche Gesteine entstehen können. Im Besonderen kommt dem SiO2-Anteil der Schmelze große Bedeutung zu, welche Minerale 2

Für weitere allgemeine Information und Einführungen in die Geologie und ihre Themenbereiche siehe z.B. Press/Siever, Geologie. – Schumann, Mineralienführer.

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gebildet werden können. Nach der Bestimmung der Art und Quantität der gesteinsbildenden Minerale (Modalbestand), z. B. durch die lichtmikroskopischen Analysen von Gesteinsdünnschliffen, erfolgt die Klassifikation mithilfe der sogenannten Streckeisen-Diagramme.

  ./ 0 Aufgrund der über Jahrmillionen andauernden Abkühlung und Erstarrung der Schmelze in mehreren Kilometern unter der Erdoberfläche können nahezu alle chemischen Elemente der Schmelze in die Kristallgitter von Mineralen eingebaut werden – d. h., das fertige Gestein liegt in einem vollständig auskristallisierten Zustand vor. Wegen der allseits umgebenden relativ hohen und im Wesentlichen gleichförmigen Druckbedingungen (mehrere kbar) ist auch keine bevorzugte Richtung bei der Kristallisation von blättrigen oder stengeligen Mineralen festzustellen – das bedeutet: Tiefengesteine besitzen meist eine richtungslose, körnige Struktur. Je länger die Schmelze Zeit für Abkühlung und Kristallisation zur Verfügung hatte, desto größere Einzelminerale weist das fertige Gestein danach auf. Die Porosität von Tiefengesteinen ist gering und beschränkt sich auf die Kontaktzonen zwischen den einzelnen, das jeweilige Gestein aufbauenden Mineralen. Die wissenschaftliche Klassifikation der Tiefengesteine erfolgt nach dem SiO2-Gehalt der Ausgangsschmelze. Als Annäherung in der Praxis ist nach Feststellung der Gefügeeigenschaften, die eine Zuordnung zu den Tiefengesteinen ermöglicht hat, die Bestimmung der Gesteinsfarbe hilfreich, da helle und rötliche Tiefengesteine meist reich an SiO2 sind und der Familie der Granite (Bestimmungsmerkmal: Das Mineral Quarz ist vorhanden.) angehören. Bei Abwesenheit von Quarz und häufig dunkler Farbe (Hinweis auf SiO2-Mangel) ist eine Zuordnung zu den Familien der Diorite, Syenite oder Gabbros naheliegend. Aber Vorsicht − eine klassische naturwissenschaftliche Gesteinsanalyse kann man damit nicht ersetzen, und diese „Schnellbestimmung“ ist auch nur bei Tiefengesteinen durchführbar.

* .  0 Im Gegensatz zu den Plutoniten erstarrt die Schmelze vulkanischer Gesteine an oder nahe der Erdoberfläche extrem rasch, sodass diese Gesteine meist unvollständig auskristallisiert sind und häufig eine sehr feinkörnige, hin und wieder auch glasige Grundmasse besitzen, in der bei manchen Varietäten Einsprenglinge von gut kristallisierten Mineralen (häufig Feldspat, Olivin, Quarz beim Quarzporphyr etc.) eingebettet sind. Außerdem können bei Vulkaniten häufig rundliche Gasporen und nicht selten ein Fließgefüge, das durch das Fließen der Gesteinsschmelze an der Erdoberfläche entstand, festgestellt werden.

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Sedimentgesteine Sedimentite oder Sediment- bzw. Ablagerungsgesteine entstehen durch Verwitterungs-, Erosions- und Transportprozesse an der Erdoberfläche in Bereichen, in denen einerseits günstige Bedingungen für die Deponierung der Gesteinsbruchstücke bestehen, allgemein ausgedrückt in Bereichen, wo die Transportkraft des Transportmediums (Wind, Wasser, Eis) derart abnimmt, dass bestimmte Korngrößen der Bruchstücke nicht mehr weitertransportiert werden können (also z. B. See- und Meeresbecken, Uferrandbereiche von Flüssen, am Fuß von Gebirgshängen, in Höhlen, im Windschatten von Sanddünen, im Randbereich und am Ende eines Gletschers etc.) und andererseits in Bereichen, die günstige Lebensbedingungen für skelettbildende Organismen aufweisen, deren Skelette nach dem Absterben in gesteinsbildender Häufigkeit abgelagert werden (z. B. im Bereich von (sub-)tropischen Riffen und Lagunen). Nach der Ablagerung der Gesteinsbruchstücke, die wir auch als Lockersedimente bezeichnen (z. B. Sand, Kies, Schutt) kann unter bestimmten günstigen Bedingungen eine Zementation zu festen Gesteinen stattfinden, die in der Geologie als Diagenese bezeichnet wird. Die wichtigsten Prozesse dabei sind die Kompaktion und die Zementation. Mit zunehmender Überlagerung durch jüngere Sedimente gelangen ältere Sedimente in größere Tiefen, und damit werden sie höheren Drucken, aber auch erhöhten Temperaturen ausgesetzt. Diese Druckerhöhung führt zu einer dichteren Lagerung der Sedimentkörner zueinander – Kompaktion – und einer damit einhergehenden Abnahme des Porenraumes und Entwässerung der Sedimente. Gleichzeitig findet eine Zementation der ursprünglichen Lockersedimente statt, wobei der verbliebene Porenraum durch Kristallneubildungen (meist Kalzit oder Quarz) aus wässrigen Lösungen aufgefüllt wird. So wird aus lockerem Sand ein mehr oder minder fester Sandstein, aus lockerem Kies wird ein Konglomerat, aus dem Schutt wird eine Brekzie usw. Ein weiterer Bereich, jener, an dem chemische Sedimentgesteine entstehen, zeichnet sich entweder durch eine gravierende Änderung des chemischen Milieus aus oder durch eine massive Verdunstung (Evaporation) des Lösungsmittels (Wasser) in weiten, flachmarinen Lagunen und Sabkhas, wo es in Abhängigkeit zur Löslichkeit zur Ausfällung diverser Salzminerale (Evaporite) in mächtigen Lagen kommt (Steinsalz, Gips, Anhydrit etc.). Da diese Gruppe für unsere Fragestellung keine wesentliche Rolle spielt, wird sie im Weiteren vernachlässigt werden. Zwei Gruppen an Sedimentgesteinen jedoch liefern auch wichtige Dekorgesteine, nämlich die klastischen Sedimentgesteine und die biogenen Sedimentgesteine, daher sei auch ihnen jeweils ein kurzes Kapitel gewidmet.

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Klastische Sedimentgesteine Wie schon mit dem Namen „klastisch“ angedeutet, handelt es sich bei diesen Gesteinen um solche, die aus − durch mechanische Zertrümmerung entstandenen − Gesteinsbruchstücken bestehen. Die nomenklatorische Klassifikation dieser klastischen Sedimentgesteine erfolgt einerseits in Bezug auf ihre Korngröße und andererseits hinsichtlich ihres Anteils an Grundmasse (Matrix = Körner < 30 μm). Weitere wesentliche Parameter, die im Zuge einer wissenschaftlichen Analyse herangezogen werden, sind unter anderem Art der Gesteins- oder Mineralbruchstücke, Fossilien, Kornform, Korngrößenverteilung, Packungsdichte, Porosität und Porenradienverteilung.3 In der Gruppe der klastischen Sedimentgesteine wurden und werden vorwiegend Sandsteine, Konglomerate und Brekzien als Bau- und Dekorgesteine verwendet.

Biogene Sedimentgesteine Bei den biogenen Sedimentgesteinen sind naturgemäß in überwiegendem Ausmaß Organismen und deren Reste an der Entstehung beteiligt. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sind in der Lage, anorganische Skelette zu synthetisieren (Biomineralisation), die nach dem Absterben und dem Verwesen der Weichteile unter günstigen Ablagerungsbedingungen als Fossilien überliefert werden können. Mineralogisch handelt es sich bei diesen Skeletten (Wirbellose und Pflanzen) meist um Kalzit (CaCO3) oder Aragonit (ebenfalls CaCO3, aber andere Kristallstruktur). Die Klassifikation erfolgt nach der sogenannten Mikrofaziesanalyse4 anhand von Dünnschliffen5 und berücksichtigt einerseits die Art und Ausbildung der Matrix (Grundmasse) und andererseits die Quantität und Qualität der im Gestein enthaltenen Fossilien oder anderen Gesteinskomponenten.

Metamorphe Gesteine Als Gesteinsmetamorphose werden die Änderungen der mineralogischen Zusammensetzung eines Gesteins durch geänderte Druck- und Temperaturbedingungen bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen Diagenese und Metamorphose ist willkürlich, da auch die Metamor3 4 5

Siehe z. B. Füchtbauer, Sedimente. – Leeder, Sedimentology. Flügel, Microfacies. z. B. Folk, Limestone. – Dunham, Classification. – Tucker/Wright, Sedimentology.

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phose die Prozesse der Gesteinsumwandlung in Abhängigkeit von Druck und Temperatur beschreibt und die Grenze zwischen den beiden ein gradueller Übergang ist. Jedoch sind die bei der Metamorphose auftretenden Drücke und Temperaturen bei Weitem höher als bei der Diagenese. Die Grenze wird meistens bei rund 200 °C angesetzt. Bei sehr hohen Temperaturen kann es zum Aufschmelzen – Anatexis – der Gesteine kommen. Die Aufschmelzungstemperatur kann je nach der chemischen Zusammensetzung der Gesteine und den Druckbedingungen aber sehr unterschiedlich sein und Werte zwischen etwa 650−1200 °C umfassen. Gesteinsmetamorphose umfasst deshalb Prozesse im Temperaturbereich zwischen rund 200°C und der Schmelztemperatur der jeweiligen Gesteine. Sowohl Sedimentgesteine als auch magmatische oder bereits einmal metamorphe Gesteine können metamorph überprägt werden. Soweit noch erkennbar, unterscheidet man die Herkunft eines metamorphen Gesteins mit Vorsilben: „Ortho-“ kennzeichnet einen magmatischen Ursprung (z. B. Orthogneis); „Para-“ kennzeichnet sedimentäre Ursprungsgesteine (z. B. Paragneis). Das Aussehen eines Gesteins wird durch die Metamorphose stark verändert. Durch Sammelkristallisation kommt es häufig zu einer Vergrößerung der Minerale. Metamorphe Gesteine zeigen fast immer ein mehr oder weniger deutliches Trennflächengefüge (Schieferung), das auf Deformation zurückzuführen ist. Dieses Gefüge entsteht durch Rotation der existierenden plattigen (z. B. Glimmer) und stengeligen Minerale (z. B. Amphibole) und durch bevorzugtes Wachstum der neugebildeten Minerale in Richtung des minimalen Stresses.

Grundlagen der Gesteinsverwitterung Gesteinsverwitterung6 ist ein natürlicher, lebensnotwendiger Prozess, der den Planeten Erde für die Besiedelung mit Lebensformen aufbereitete. Prinzipiell sind chemische − also im weitesten Sinne lösende − und physikalische − also im weitesten Sinne sprengende − Vorgänge für die Gesteinsverwitterung verantwortlich zu machen, wobei die klimatischen Rahmenbedingungen die Verwitterungsbeanspruchung einmal eher in Richtung physikalisch-sprengend und das andere Mal eher in Richtung chemisch-lösend lenken. Österreich ist generell der gemäßigt-feuchten Klimazone zuzuordnen, wobei die Spannweite von subarktischen Elementen im Hochgebirge bis zum warm-trockenen Klima der pannonischen Klimazone reicht. An Bauwerken ist die mikroklimatische Situation, je nach Exposition der Bauteile zu Himmelsrichtung und Insolation, noch viel komplizierter und vielfältiger ausgeprägt. Vom ariden Wüstenklima bis zum tropischen Treibhausklima existieren alle Übergänge im Kleinstbereich und führen so zu komplexen Verwitterungssituationen, deren korrekte Interpretation 6

Für folgende Ausführungen siehe: Rohatsch, Naturstein.

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– und die ist für eine Restaurierung/Konservierung notwendig – häufig recht schwierig ist, umso mehr als chemische und physikalische Prozesse meist in enger Wechselwirkung zueinander, unter wesentlicher Mitwirkung von Wasser auftreten. Wesentlich ist auch die Einsicht, dass Verwitterungsprozesse an Bauwerken und Plastiken, und seien sie noch so wertvoll und erhaltenswert, nicht angehalten, sondern lediglich verzögert werden können. In Abhängigkeit der Gesteinsart sind die Verwitterungsprofile oft beispielhaft entwickelt.

2(   4 6*( Der Begriff der „Mattscheibenwirkung“7 bezeichnet eine zunehmende Rauhigkeit der Gesteinsoberfläche – Politurverlust – durch die lösende Wirkung des säurehaltigen Regens. Betroffen davon sind vor allem dichte Kalksteine, Marmore und Ophikalzite. Dieser initiale Politurverlust, der bei den genannten Gesteinstypen innerhalb weniger Tage bis Monate stattfinden kann, ist als Beginn des Anlösungsprofiles zu interpretieren, das sich im Laufe der Zeit zu karstähnlichen Oberflächen im Kleinbereich (Mikrokarst) entwickelt. Die Besonderheit bei der Kalklösung liegt darin, dass in Wasser stets mehr oder weniger CO2 in Form von Kohlensäure (H2CO3) vorliegt. Die Kalklösungsrate ist also abhängig von der Menge der im Wasser gelösten Kohlensäure (CO2-Partialdruck) und von der Wassertemperatur. Kalkspat ist in kaltem Wasser leichter löslich als in warmem Wasser. Kohlensäure reagiert mit dem an sich schwer löslichen Kalkspat zu dissoziiertem, leicht löslichem Kalziumhydrogenkarbonat nach folgender Reaktionsgleichung: H2O + CO2 np CaCO3 + H2CO3 o Ca2+ + 2 (HCO3) Bei dichten Kalksteinen, wie beispielsweise den Kalksteinen aus Adnet, vom Untersberg in Salzburg oder istrischen Karstkalken (Aurisina granitello, Aurisina fiorito, Marzana etc.) ist erfahrungsgemäß mit einer Rückwitterung der Oberfläche in der Größenordnung von rund einem Millimeter pro Jahrhundert zu rechnen. Eine Studie zur Löslichkeit diverser alpiner Kalksteine ist jüngst publiziert worden.8

7 8

Kieslinger, St. Stephan. Plan, Carbonate.

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6    :  Aufgrund der in den Porenräumen des Gesteins zirkulierenden angesäuerten (z. B. Kohlensäure, Schwefelsäure etc.) Feuchtigkeit kommt es zu Lösungsprozessen, die im Bereich der Verdunstungsoberflächen häufig zu Krustenbildung führen. Im Großstadtbereich mit ehemals, bis in die Mitte der 1980er-Jahre, hoher SO2-Belastung bestehen diese Krusten meist aus Gips (CaSO4 x 2 H2O), der durch Ruß und Staubpartikel schwarz gefärbt ist. Der für die Gipsbildung notwendige Kalk (CaCO3) ist entweder im Gestein selbst enthalten, kann aber auch dem Staub der Luft entstammen, sodass auch an nicht kalkhaltigen Gesteinen, wie zum Beispiel Graniten oder Quarzsandsteinen, ja selbst auf Bronzen eine Gipskruste angelagert werden kann. Bei fehlender SO2-Belastung ist der Niederschlag jedenfalls mit Kohlensäure angereichert. Bei den aus der chemischen Umsetzung resultierenden Krusten handelt es sich dann um Kalkkrusten, wie sie zum Beispiel im Steinbruch von St. Margarethen im Burgenland beobachtet werden können. Charakteristische Krustenprofile mit dem Festigkeitsabfall hinter der Kruste wurden erstmals von Kieslinger9 dargestellt. Das Hauptproblem der Krusten ist ihre abdichtende Wirkung, da der Stein nicht mehr ungehindert austrocknen kann. In der Stauzone direkt hinter der Kruste kommt es zu einer vermehrten Gesteinszersetzung durch chemische Lösungsprozesse, außerdem findet sich in diesem Bereich eine dichte Besiedlung durch Algen, Bakterien und Pilze, die ihrerseits zerstörend auf die Substanz einwirken. Der Bindemittelverlust im Inneren eines aus porösen kalkreichen Sandsteinen bestehenden Steinobjektes führt zu einem deutlichen Festigkeitsverlust, der zu einer statischen Gefährdung des Objektes führen kann. Ein weiterer Aspekt der schwarzen Krusten ist die deutlich stärkere Aufheizung, die mit der damit verbundenen stärkeren Dehnung der Oberfläche zu Scherspannungen und somit zu einer weiteren Gefügeauflockerung unterhalb der Kruste führt.

6  :*  ;