Jüdin und Moderne: Literarisierungen der Lebenswelt deutsch-jüdischer Autorinnen in Berlin (1900¿1918) [Annotated] 3110447479, 9783110447477

Wie verhandeln deutsch-jüdische Schriftstellerinnen Weiblichkeit, Judentum und Großstadterfahrung? Godela Weiss-Sussex z

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Jüdin und Moderne: Literarisierungen der Lebenswelt deutsch-jüdischer Autorinnen in Berlin (1900¿1918) [Annotated]
 3110447479, 9783110447477

Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Diskursachsen: Deutsch-Judentum, Weiblichkeit und großstädtischer Raum
1.2 Verbindung von diskurshistorischer und philologischer Analyse
1.3 Zeitliche und örtliche Eingrenzung
1.4 Auswahl der Autorinnen und Texte
2 Die Jüdin zwischen Trägerin »altjüdischer Kultur« und »Tauentziengirl«: Else Croners völkerpsychologische Studie Die moderne Jüdin (1913)
2.1 Autorin, Werk und geistiges Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹
2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur«
2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang: ›Jüdische Renaissance‹ – Reformjudentum – Völkerpsychologie
2.4 Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«?
2.5 Postskript: Else Croner und der Nationalsozialismus
3 Das »doppelte[] Martyrium des Weibseins und des Judentums«: Auguste Hauschners Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910)
3.1 Auguste Hauschner: Einführung zu Autorin und Werk
3.2 Anlage des Doppelromans
3.3 Weiblichkeit und Überspannung
3.4 Weiblichkeit und Judentum: die Praktik der arrangierten Ehe
3.5 Camillas und Rudolfs Leiden am Judentum: Gemeinsamkeiten und Kontraste
4 Die jüdische Frau als »Wegebahnerin der Kommenden«: Grete Meisel-Hess, Die Intellektuellen (1911)
4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz: Feminismus, Eugenik und monistisches Weltbild
4.2 Die Intellektuellen: Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik
4.3 Weiblichkeit und Judentum
5 Absage an das Projekt der deutsch-jüdischen Symbiose: L. Audnal (= Elisabeth Landau), Der Holzweg (1918)
5.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
5.2 Autorin und inhaltlich-strukturelle Konzeption des Romans
5.3 Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans
5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration?
5.5 Antisemitismus und jüdische Identität
5.6 Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens
5.7 Exkurs: Der zweite und dritte Band der Trilogie Das Recht des Stärkeren
5.8 Aufnahme des Holzwegs in der zeitgenössischen Kritik
6 Schluss
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Godela Weiss-Sussex Jüdin und Moderne

Conditio Judaica

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch In Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Band 90

Godela Weiss-Sussex

Jüdin und Moderne

Literarisierungen der Lebenswelt deutsch-jüdischer Autorinnen in Berlin (1900–1918)

ISBN 978-3-11-044747-7 ISBN (PDF) 978-3-11-044954-9 ISBN (EPUB) 978-3-11-044751-4 ISSN 0941-5866 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Der British Academy danke ich für die großzügige Bereitstellung eines Forschungsstipendiums, und sowohl der School of Advanced Study der Londoner Universität als auch dem King’s College, Cambridge bin ich für die zeitweilige Freistellung zu Forschungszwecken dankbar; ohne diese wären die konzentrierte Arbeit an diesem Buch und die zügige Fertigstellung unmöglich gewesen. Ebenfalls möchte ich den Mitgliedern des IMLR, London sowie des German Department und des King’s College der Universität Cambridge meinen Dank aussprechen, die mir im Laufe verschiedener Diskussionen bei der Klärung und Festigung der Argumentation geholfen haben – und den MitarbeiterInnen des Archivs Bibliographia Judaica der Universität Frankfurt/Main, der Staatsbibliothek Berlin und des Deutschen Literaturarchivs Marbach für ihre praktische Hilfe beim Auffinden und Sichten wichtiger Dokumente. Mein besonderer Dank aber gilt Prof. Elizabeth Boa, Prof. Ritchie Robertson, Prof. David Midgley, Prof. Martin Swales, Prof. Hans Otto Horch, Prof. Barbara Hahn, Prof. Sander Gilman, Jon Sussex, Nicole Schacht und Sonka Hecker, die durch ihre sorgfältige Lektüre einzelner Abschnitte dieser Studie (bzw. des vollständigen Texts) und ihre Kommentare, Hinweise und Fragen, aber vor allem ganz einfach durch ihr Interesse am Thema und ihre persönliche Unterstützung so wesentlich zur Entstehung dieses Buchs beigetragen haben. Doris Vogel und Paul Hoegger, schließlich, haben mit ihrer geduldigen und achtsamen Arbeit die letzten Hürden der Textvorbereitung für den Druck genommen; auch bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. London/Cambridge, März 2016

Godela Weiss-Sussex

Inhalt 1  1.1  1.2  1.3  1.4  2 

2.1  2.2  2.3  2.4  2.5  3 

3.1  3.2  3.3  3.4  3.5 

4  4.1  4.2  4.3 

Einleitung | 1  Diskursachsen: Deutsch-Judentum, Weiblichkeit und großstädtischer Raum | 2  Verbindung von diskurshistorischer und philologischer Analyse | 7  Zeitliche und örtliche Eingrenzung | 11  Auswahl der Autorinnen und Texte | 16  Die Jüdin zwischen Trägerin »altjüdischer Kultur« und »Tauentziengirl«: Else Croners völkerpsychologische Studie Die moderne Jüdin (1913) | 21  Autorin, Werk und geistiges Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹ | 22  Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« | 26  Publikations- und Rezeptionszusammenhang: ›Jüdische Renaissance‹ – Reformjudentum – Völkerpsychologie | 42  Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«? | 55  Postskript: Else Croner und der Nationalsozialismus | 60  Das »doppelte[] Martyrium des Weibseins und des Judentums«: Auguste Hauschners Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910) | 65  Auguste Hauschner: Einführung zu Autorin und Werk | 68  Anlage des Doppelromans | 71  Weiblichkeit und Überspannung | 80  Weiblichkeit und Judentum: die Praktik der arrangierten Ehe | 107  Camillas und Rudolfs Leiden am Judentum: Gemeinsamkeiten und Kontraste | 117  Die jüdische Frau als »Wegebahnerin der Kommenden«: Grete Meisel-Hess, Die Intellektuellen (1911) | 129  Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz: Feminismus, Eugenik und monistisches Weltbild | 133  Die Intellektuellen: Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik | 145  Weiblichkeit und Judentum | 173 

VIII | Inhalt



5.8 

Absage an das Projekt der deutsch-jüdischen Symbiose: L. Audnal (= Elisabeth Landau), Der Holzweg (1918) | 193  Zeitgeschichtlicher Hintergrund | 194  Autorin und inhaltlich-strukturelle Konzeption des Romans | 199  Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans | 203  Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 211  Antisemitismus und jüdische Identität | 222  Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens | 229  Exkurs: Der zweite und dritte Band der Trilogie Das Recht des Stärkeren | 237  Aufnahme des Holzwegs in der zeitgenössischen Kritik | 239 



Schluss | 245 

5.1  5.2  5.3  5.4  5.5  5.6  5.7 

Literaturverzeichnis | 255 Personenregister | 273 

1 Einleitung Über Künstlerinnen der Weimarer Republik, die außerhalb des Kanons der Kunst der Moderne stehen, schreibt die Kunsthistorikerin Marsha Meskimmon: Their work exists and was successful in the period. They […] examined the crucial debates of their time […]. If we cannot ›see‹ this work, this is the fault of our methods, our paradigms and our theoretical predispositions. We must undertake the project of finding the tools to explore it with sensitivity to its framework and not impose our limits from outside; for the work of women artists, this requires a subtle model in which material and discourse interact around female subjectivity and the subject of ›woman‹.1

Diesem Ansatz – auf das Gebiet deutsch-jüdischer Literaturgeschichte übertragen – ist die vorliegende Studie verpflichtet: Sie setzt sich zum Ziel, für die Erweiterung des Blickfelds der Forschung zu sorgen, Texte ›sichtbar‹ zu machen, die bisher nur wenig und lückenhaft beachtet oder gänzlich ignoriert wurden, und mit Hilfe einer sorgfältigen, unverstellten Analyse Darstellungen jüdischer Weiblichkeit in den Texten jüdischer Schriftstellerinnen im frühen zwanzigsten Jahrhundert herauszuarbeiten. Exemplarisch werden Texte von Else Croner, Auguste Hauschner, Grete Meisel-Hess und Elisabeth Landau einer neuen Lektüre unterzogen und ihre Bedeutung als wichtige Dokumente ihrer Zeit freigelegt. Ich folge hiermit einem Aufruf Liliane Weissbergs, deutsch-jüdische Schriften »hinsichtlich […] eines Konzeptes von ›Weiblichkeit‹« zu lesen.2 Weissberg fordert eine solche Orientierung, um die in den letzten Jahren von Sander Gilman, Daniel Boyarin und anderen vorgelegten Forschungsarbeiten zum Konzept der ›Männlichkeit‹ zu ergänzen. Mindestens ebenso wichtig ist es aber, vorliegende Arbeiten zum Fremdbild der deutschen Jüdin durch die Untersuchung ihres Selbstbilds zu ergänzen. Statt einer Konzentration auf Bilder wie das der ›schönen Jüdin‹, die eine »nicht-jüdische, nicht weibliche Außensicht« implizieren »und damit die so Bezeichnete aus der Perspektive des Sprechers als fremd und anders ein[…]stufen«,3 soll hier eine jüdische, weibliche ›Innensicht‹ zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Aus diesem Grund beziehe

|| 1 Marsha Meskimmon: We Weren’t Modern Enough. Women Artists and the Limits of German Modernism. London: I. B. Tauris 1999, S. 6. 2 Liliane Weissberg: Auf der Suche nach der Muttersprache: Hannah Arendts Entwurf einer deutsch-jüdischen Literatur. In: Eva Lezzi und Dorothea M. Salzer (Hg.): Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Berlin: Metropol 2008, S. 187–211, hier S. 193. 3 Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 5.

2 | 1 Einleitung

ich mich hier nicht auf Literatur des »deutsch-jüdischen Kanon[s]«, wie Weissberg es vorschlägt, sondern beschränke mein Untersuchungsmaterial auf Texte deutsch-jüdischer Frauen. Die vier ausgewählten Texte verhandeln Faktoren, die für die gesellschaftliche Position der Autorinnen selbst bestimmend sind: die Konstitution und gesellschaftliche Einbindung deutsch-jüdischer Identität, Konzeptionen von Weiblichkeit und die Erfahrung der großstädtischen Lebensumwelt. Bei ihrer Analyse steht nicht das Interesse an autobiographischen Äußerungen und biographischen Einordnungen im Vordergrund. Vielmehr leistet dieses Buch einen Beitrag zu der von Andreas Kilcher geforderten Historiographie der jüdischen Literatur als der Geschichte und Analyse eines »pluralen, diskursiven Felds«.4 Gemäß dem Verständnis jüdischer Literatur als einer »mit Politik, Religion und kulturellem Wissen aufgeladene[n] Literatur, die Stellung bezieht, sich einmischt«,5 konzentriere ich mich auf die Analyse dieser diskursiven Stellungnahme im Bezug auf drei Kernfragen der Moderne ‒ alle drei Ausdruck des Ringens um neue Formen persönlicher und gesellschaftlicher Positionierung im späten Kaiserreich. Diese werden hier als Diskursachsen begriffen, auf denen Positionsbestimmungen vorgenommen werden können. Es gilt zu untersuchen, welche Verortungen die Autorinnen auf diesen drei Achsen vornehmen und wie sie durch deren Überschneidung diskursive Räume schaffen, die mehrdimensionale Entwürfe persönlicher und gesellschaftlicher Positionierung erlauben.

1.1 Diskursachsen: Deutsch-Judentum, Weiblichkeit und großstädtischer Raum Besonders komplex innerhalb der hier aufgerufenen Diskursachsen ist das relationelle Konzept der deutsch-jüdischen Identität. Dessen eine Komponente, das Deutschtum, war durch und durch kulturell definiert – als eine auf Bildung und ethisch-intellektuellen Werten aufbauende kulturelle Tradition, der man sich zugehörig fühlte und an der man maßgeblich beteiligt war. Georg Hermann hat diese Position im Rückblick auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stellvertretend für viele andere in Worte gefasst: »Ich glaubte, als typischer Westjude mich sehr stark innerlich dem Deutschtum assimiliert zu haben … dem Deutschtum, in || 4 Andreas Kilcher: Einleitung. In: Andreas Kilcher (Hg.): Metzler-Lexikon der deutschjüdischen Literatur. Stuttgart: Metzler 2000, S. V–XX, hier S. V. 5 Andreas Kilcher: Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben? Perspektiven historischer Diskursanalyse. In: Lezzi/Salzer (Hg.), Dialog der Disziplinen (wie Anm. 2), S. 351–379, hier S. 375.

1.1 Diskursachsen: Deutsch-Judentum, Weiblichkeit und großstädtischer Raum | 3

dessen Schoss ich lebte und dem ich das Geschenk seiner Sprache und seiner Kultur dankte.«6 Die jüdische Komponente der deutsch-jüdischen Identität entzieht sich dagegen in weit größerem Maße einer generischen Beschreibung: Die inhaltliche Bestimmung dessen, was als ›jüdisch‹ bezeichnet wurde, war durchaus fließend. Ritchie Robertson hat in einem Überblick über Begriffe des Jüdischen im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts festgestellt, dass Schnitzlers Judentum als eine Art »generalized humanitarianism« zu beschreiben sei, die in enger Verbindung mit liberalen Werten stand;7 dass jüdische Identität bei Stefan Zweig einem »European internationalism« gleichkam und dass Freud den Begriff in die Betonung klassischer Bildung sowie »the universalist, rationalist claims of science« umleitete – und ihn damit abzuwehren suchte.8 Jüdische Identität ist ein Begriff also, der in den meisten Fällen nicht mehr auf religiöse Inhalte oder auf konkrete Traditionen und Gebräuche reflektierte, sondern der sich, wie Freud es formulierte, als ein Zusammenspiel von »Gefühlsmächte[n]« offenbarte, »umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worten erfassen ließen«.9 Auch der Begriff der anteiligen Beziehung zwischen den beiden Komponenten dieser Doppelidentität variierte beträchtlich: Während Conrad Alberti und der junge Walther Rathenau zum Beispiel die Minimierung des jüdischen Anteils durch völlige Assimilation befürworteten,10 sprachen sich andere Stimmen für den Kompromiss der Akkulturation aus und propagierten die Aufrechterhaltung eines positiven Bewusstseins jüdischer Eigenheit bei weitgehender Anpassung an die deutsche Kultur- und Lebensform. Wieder andere, wie Martin Buber oder Max Brod, maßen jüdischer Partikularität eine stärkere Bedeutung bei und verbanden sie mit dem positiven Verweis auf die Authentizität ostjüdischer Kultur.11 || 6 Georg Hermann: Zur Frage der Westjuden. In: Neue jüdische Monatshefte 3 (1919), Nr 19–20, S. 399–405, hier S. 400. 7 Vgl. Ritchie Robertson: The ›Jewish Question‹ in German Literature 1749–1939. Emancipation and its Discontents. Oxford: Oxford University Press 1999, hier S. 95. 8 Ebd., S. 137. 9 Sigmund Freud: Ansprache an die Mitglieder des Vereins B’nai B’rith [1926]. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd 17: Schriften aus dem Nachlass 1892–1938. London: Imago 1941, S. 49–53, hier S. 52. 10 Vgl. Conrad Alberti: Judentum und Antisemitismus. Eine zeitgenössische Studie. In: Die Gesellschaft 5 (1889), S. 1718–1733; Walther Rathenau: Höre Israel! [1897]. In: Walther Rathenau: Schriften. Hg. von Arnold Hartung u. a. Berlin: Berlin Verlag 1965, S. 89–93. 11 Vgl. z. B. Martin Buber: Jüdische Renaissance. In: Ost und West 1 (1901), Sp. 7–10; Max Brod: Der jüdische Dichter deutscher Zunge. In: Verein jüdischer Hochschüler Bar-Kochba (Hg.): Vom Judentum: ein Sammelbuch. Leipzig: Wolff 1914, S. 261–263.

4 | 1 Einleitung

Kurz: die Definition deutsch-jüdischer Identität zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht in generalisierender Form zu leisten, vielmehr handelt es sich hier um ein Spektrum koexistierender Bestimmungen. Im Kontext der auf eindeutige soziale Kategorisierungen und Einordnungen bedachten Moderne ist das Konzept der deutsch-jüdischen Identität in diesem Sinne, wie Zygmunt Bauman dargelegt hat, besonders problematisch, ist ihm doch die Ambivalenz per definitionem eingeschrieben.12 Umso wichtiger ist es, das jeweils im Einzelnen spezifisch konfigurierte und gewichtete Verständnis des Begriffs des ›DeutschJüdischen‹ zu hinterfragen, die ihm inhärenten Ambivalenzen zu verstehen – und die Strukturen zu analysieren, in denen es kommuniziert wird. Wenn es in dieser Studie darum gehen soll, wie deutsch-jüdische Schriftstellerinnen in bestimmende zeitgenössische Diskurse der Zeit eingriffen, ist es notwendig, diese Eingriffe in ihren gesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Unter Historikern weichen die Positionen zur ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ radikal voneinander ab: Hat es einen wirklichen Dialog zwischen den jüdischen und den nicht-jüdischen Deutschen nie gegeben, wie Gershom Scholem postuliert?13 Bildete das deutsch-jüdische Bürgertum eine »Subkultur« (David Sorkin)?14 Leistete es einen »Beitrag« zur gesamtdeutschen Kultur ‒ eine Begrifflichkeit, die, wie Steven M. Lowenstein kritisch anmerkt, auf ein »kollektives Unternehmen der Juden« zu verweisen scheint, mit dem Ziel, die deutsche Mehrheit zu beschenken?15 Oder waren die deutsch-jüdischen Bürger in Verfahren »des Aneignens, Umdeutens und Verhandelns« fest in den »öffentlichen Raum der gemeinsamen Kultur« eingebunden (Till van Rahden)?16 Dies sind übergreifende historische Fragen, die hier nicht gelöst werden können. Aber es ist wichtig, sie im Blick zu behalten, wenn im Folgenden ausgewählte Texte

|| 12 Zygmunt Bauman: Modernity and Ambivalence. Cambridge: Polity Press 1991. 13 Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. An Manfred Schlösser. In: Manfred Schlösser (Hg.): Auf gespaltenem Pfad. Für Margarete Susman. Darmstadt: Erato 1964, S. 229–232. 14 Vgl. David Sorkin: The Transformation of German Jewry 1780–1840. New York: Oxford University Press 1987. 15 Steven M. Lowenstein: Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur. In: Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd 3: Umstrittene Integration: 1871–1918. München: C. H. Beck 1997, S. 302–332, hier S. 303. 16 Till van Rahden: Von der Eintracht zur Vielfalt: Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums. In: Andreas Gotzmann u. a. (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Tübingen: J. C. B. Mohr 2001 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 63), S. 9–32, hier S. 27.

1.1 Diskursachsen: Deutsch-Judentum, Weiblichkeit und großstädtischer Raum | 5

daraufhin befragt werden, in welcher Beziehung die in ihnen entworfenen Modelle deutsch-jüdischen Lebens zu der Gesellschaft stehen, in der und für die sie produziert wurden. In ähnlichem Sinne ging auch Anne Fuchs in ihrer Studie zu Freud, Kafka, Drach, Roth und Hilsenrath über die Frage nach der deutsch-jüdischen Identität hinaus, indem sie Ambivalenz und Andersartigkeit als Grundlage sozialkritischen Schreibens der genannten Autoren untersuchte. Sie weist nach, dass männliche deutsch-jüdische Autoren, die sich nicht mit der ihnen zugewiesenen »difference« identifizieren, »translate the signs of difference attributed to the male Jew into the gender paradigm, thus turning woman into the site of abjection«.17 Die Frage, wie deutsch-jüdische Autorinnen diese Attribuierung von Andersartigkeit verarbeiten, wird dadurch umso dringlicher. Um diese Frage jeweils von Fall zu Fall beantworten zu können, ist es notwendig, die Modelle der Weiblichkeit zu reflektieren, mit denen diese Autorinnen arbeiten. So ist denn die zweite Diskursachse, um die es hier gehen soll, diejenige der Natur der Frau und ihrer gesellschaftliche Rolle. Das frühe zwanzigste Jahrhundert markiert den Höhepunkt der ersten Frauenbewegung in Deutschland, in deren Rahmen verschiedene Programme weiblicher Individuierung entworfen und verfochten wurden. Die gemäßigte Frauenbewegung setzte sich für gesellschaftliche Teilhabe in spezifisch als solche charakterisierten Frauenberufen ein, radikalere Bewegungen fochten für das Stimmrecht für Frauen, und wieder andere, wie die Mitglieder des Bundes für Mutterschutz, kämpften für eine grundsätzliche Reform der wilhelminischen Ehe- und Moralbegriffe. Da jedoch dieser kulturelle Aufbruch vornehmlich bürgerlicher Frauen in einem politischen Klima stattfand, das der Emanzipation der Frau noch skeptisch bis feindlich gegenüberstand, stellten weibliche Aufbruchsbewegungen im späten wilhelminischen Kaiserreich das Thema eines der dominierenden gesellschaftlichen Diskursfelder der Zeit dar.18 Zentral ist in diesen Diskursen das Spannungsverhältnis von (sozialpolitischer) Gleichheit und (biologischer) Differenz, das oft über die Begriffe der Mütterlichkeit und Mutterschaft verhandelt wird.19 Mütterlichkeit – lange als ›natürliche‹ Kernkomponente von Weiblichkeit verstanden und auf den privaten Bereich der Familie festgeschrieben –

|| 17 Anne Fuchs: A Space of Anxiety. Dislocation and Abjection in Modern German-Jewish Literature. Amsterdam: Rodopi 1999, S. 8. 18 Vgl. hierzu Chris Weedon: Gender, Feminism, & Fiction in Germany, 1840–1914. New York: Peter Lang 2006. 19 Vgl. Theresa Wobbe: Gleichheit und Differenz. Politische Strategien der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Campus 1989.

6 | 1 Einleitung

wird nun als Inbegriff des empathischen, altruistischen Wesens von der bürgerlichen Frauenbewegung unter dem Banner der ›erweiterten‹ oder ›geistigen Mütterlichkeit‹ als Kulturauftrag konfiguriert, der nicht nur im Rahmen der Familie zu erfüllen ist, sondern im öffentlichen Bereich, im Rahmen der Nation.20 Ganze Bereiche der Gesellschaft, vornehmlich der Erziehung und Pflege, können so als weiblich reklamiert werden, ohne den Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung zu durchbrechen.21 Mutterschaft dagegen ist eindeutig auf biologische Mutterschaft bezogen ‒ was allerdings nicht bedeutet, dass der Begriff nicht ebenso als Grundlage allgemeinverbindlicher ethischer Standpunkte dienen und für den Anspruch auf soziale Teilhabe funktionalisiert werden kann. Die Texte, die Untersuchungsgegenstand dieses Buchs sind, legen auf verschiedene Weisen davon Zeugnis ab. Wichtig ist es dabei, nicht zu vergessen, dass spezifisch im Umfeld bürgerlicher jüdischer Kultur individualistische Entwürfe weiblicher Emanzipation mit der Betonung der tragenden Rolle der Frau in der Familie kollidierten. Wieder und wieder wurde in jüdischen Schriften des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts die zentrale – und nicht unkomplizierte ‒ Stellung der jüdischen Frau als Erzieherin der Kinder in den ersten Jahren und ihre Brückenfunktion in der Bewahrung religiöser Tradition und der gleichzeitigen Integration in die deutsche Kultur und Gesellschaft betont. So kommen der Mutterschaft und Häuslichkeit der jüdischen Frau eine Bedeutung zu, die die Grundposition der Familie innerhalb des deutschen Judentums markiert.22 Konflikte, sowohl im Spannungsfeld vornehmlich privater religiöser Praktik und öffentlicher Akkulturation als auch zwischen individuellem Streben nach selbstständiger Lebensführung und traditionell patriarchalischer Rollenvorgabe, waren in dieser Konstellation unumgänglich und es wird zu fragen sein, wie sie in der Literatur jüdischer Frauen verarbeitet werden. Der dritte Diskurszusammenhang schließlich, dem ich mich im Folgenden zuwende, zielt auf die Erfahrung und literarische Konzeption des großstädti-

|| 20 Vgl. zum Beispiel Alice Salomon: Die Frau in der sozialen Hilfsthätigkeit. In: Helene Lange und Gertrud Bäumer (Hg.): Handbuch der Frauenbewegung. 2. Teil: Frauenbewegung und soziale Frauenthätigkeit in Deutschland nach Einzelgebieten. Berlin: W. Moeser 1901, S. 1–122. 21 Vgl. zum Beispiel die Pestalozzi-Fröbelʼsche Kindergarten-Bewegung, die unter der Leitung von Henriette Schrader-Breymann und Henriette Goldschmidt seit den 1870er Jahren ganz unter dem Zeichen der ›geistigen Mütterlichkeit‹ stand. Vgl. hierzu sowie auch allgemein zur ›geistigen Mütterlichkeit‹: Ann Taylor Allen: Feminism and Motherhood in Germany, 1800– 1914. New Brunswick/NJ: Rutgers University Press 1991. 22 Vgl. Marion Kaplan: The Making of The Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany. New York: Oxford University Press 1991, besonders Kapitel 1 und 2.

1.2 Verbindung von diskurshistorischer und philologischer Analyse | 7

schen Raums ab. Die Verknüpfung liegt nahe, wo es um Entwürfe identitärer und gesellschaftlicher Strukturen im Kontext der Hochmoderne geht, galt doch Berlin weithin als Symbol eben dieser Hochmoderne. Affinitäten zwischen deutsch-jüdischer Lebensweise und Moderne sind immer wieder festgestellt worden;23 Georg Hermann mag als Beispiel eines deutschen Juden dienen, der die Großstadt Berlin aufgrund der intellektuellen Vielseitigkeit und der Abwesenheit einengender sozialer Bindungen emphatisch als Heimat und als einzige für ihn denkbare Lebensumwelt begriff. Auch die Überschneidung von weiblichen Emanzipationsbestrebungen und großstädtischer Umgebung liegen auf der Hand. Es ließe sich also erwarten, dass die Großstadt von deutsch-jüdischen Autorinnen als befreiende Lebensumwelt konzipiert würde. Einer solchen Darstellungsweise entgegen steht aber der wirkungsmächtige Topos des widernatürlichen, lebensfeindlichen und anonymen Großstadtmolochs ‒ und die von mancher Seite kritisierte Konsumorientierung und Lockerung moralischer Regeln. Tatsächlich offenbart sich hier also zwischen begeisterter Annahme und Ablehnung ein Spektrum von Möglichkeiten der Darstellung, das eng mit den ersteren beiden Achsen identitärer und gesellschaftlicher Einordnung verbunden ist. Es gilt, das Augenmerk auf die strukturellen und metaphorischen Konstruktionen der Darstellung des großstädtischen Raums zu richten, denn, wie Doreen Massey bemerkt: »The identity of place, just as Hall argues in relation to cultural identity, is always and continuously being produced.«24 Die diskurshistorische Untersuchung des Aufbaus und der Verknüpfung der hier kurz skizzierten Felder in den Texten deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen ist der eine Schwerpunkt dieser Studie. Diese Untersuchung, die die Kontextualisierung in zeitgenössische sozialgeschichtliche Realitäten und Debatten erfordert, wird jedoch mit einem philologischen Ansatz kombiniert.

1.2 Verbindung von diskurshistorischer und philologischer Analyse Über die Untersuchung der thematischen Verknüpfung der oben kurz umrissenen Diskursstränge hinaus geht es hier ‒ mit gleicher Gewichtung ‒ darum, die ästhetischen Strukturen und intertextuellen und motivgeschichtlichen Verweise

|| 23 Vgl. exemplarisch Emily Bilskis Sammelband zum Thema, der im Zusammenhang mit einer Ausstellung im Jüdischen Museum in New York entstand: Emily D. Bilsky (Hg.): Berlin Metropolis: Jews and the New Culture, 1890–1918. Berkeley: University of California Press 1999. 24 Doreen Massey: Space, Place and Gender. Cambridge: Polity Press 1994, S. 171.

8 | 1 Einleitung

der ausgewählten Texte philologisch zu analysieren. Produktionsästhetische Fragestellungen nach den Strukturen und Strategien, die den Texten zugrunde liegen, sollen das Verständnis dafür ermöglichen, auf welche Weise die hier behandelten Autorinnen ihre Partizipation im gesamtgesellschaftlichen Diskurs vorantrieben. Ebenso aufschlussreich ist die Frage, in welche literarische Strömungen oder Traditionen sie sich einordnen – und wie sie dies tun –, da das Aufrufen bestimmter Vor- oder Leitbilder sich auf die Rezeption der Texte auswirkt. Gisela Brinker-Gabler hat diese Verknüpfung von diskurs- und sozialgeschichtlicher Arbeit mit philologischer und literaturgeschichtlicher Analyse überzeugend begründet: Auf welche unterschiedliche Weise Frauen in ihren literarischen Werken auf diese Situation [einschneidender gesamtgesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Veränderungen] reagieren, welche Probleme sie thematisieren, welches Selbstverständnis sie artikulieren, ist mitbestimmt durch das Spektrum der ideologischen Positionen um 1900 ebenso wie durch den Variationsspielraum der unterschiedlichen literarischen Strömungen und Stiltendenzen.25

Spezifischer im Bereich der Erforschung des Schreibens deutsch-jüdischer Frauen ist Sigrid Weigels in Zusammenarbeit mit Inge Stephan und Sabine Schilling zusammengestellter Aufsatzband Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne richtungsweisend. Die Herausgeberin hatte sich zum Ziel gesetzt, einer spezifisch weiblich-jüdischen Kultur nachzugehen, deren Spuren sich »nach dem Ende der romantischen Salonkultur […] in den Überlieferungen, die unser Bild von der deutschen Kulturgeschichte prägen«, verlieren.26 Damit begründete sie ein Forschungsfeld, das zwei bisher disparate Untersuchungsgebiete zusammenbringt: Hatte die jüdische Kulturforschung das Studium weiblicher Kulturgeschichte bis dato vernachlässigt, so hatte die Frauenforschung andererseits versäumt, die Erfahrungen und Produktionen von Jüdinnen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen, so dass diese »weitgehend ›vergessen‹« worden waren.27 Der Sammelband reflektiert das Anliegen, die »Dia-

|| 25 Gisela Brinker-Gabler: Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd 2. München: C. H. Beck 1988, S. 169–205, hier S. 169–170. 26 Sigrid Weigel: Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Zur Einführung. In: Inge Stephan, Sabine Schilling und Sigrid Weigel (Hg.): Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Köln: Böhlau 1994, S. 1–8, hier S. 2. 27 Ebd., S. 5. Interessant ist in diesem Kontext auch das nicht realisierte Forschungsprojekt Weigels, literarische Bilder von Frauen und Juden als »Konstruktionen des ›internen Anderen‹« im Sinne Tzvetan Todorovs zu untersuchen, wobei sie sowohl Produktionen nicht-

1.2 Verbindung von diskurshistorischer und philologischer Analyse | 9

lektik von Emanzipationsbegehren und Assimilationszwang«28 unter die Lupe zu nehmen, in einer Reihe von Aufsätzen sehr unterschiedlicher Fragestellungen, die sich Texten und sozialen Themen von der Aufklärung bis zur Gegenwart widmen.29 Ich schließe an Weigels Ansatz an, »Korrespondenzen und Überkreuzungen von Weiblichkeit und jüdischer Kultur in der Moderne« nachzuspüren.30 Dabei wird der Blick nicht nur auf die Spiegelung von Manifestationen zeitgenössischer Kultur zu richten sein, sondern auch auf die Aufnahme von überlieferten literarischen Topoi der Darstellung jüdischer Frauen. Das Bild der jüdischen Mutter als Bewahrerin der Tradition spielt hier ebenso eine Rolle wie die oft mit erotischen Konnotationen aufgeladene Denkfigur der ›schönen Jüdin‹ als Orientalin: Gegensätze, die mit bildlicher Knappheit feste Assoziationen evozieren und auf komplexe gedankliche Hintergründe verweisen können.31 Darüber hinaus ergänze ich aber, wie dargelegt, Weigels Untersuchungsanordnung durch Hinzunahme einer dritten Variablen, nämlich der diskursiven Dimension der Großstadterfahrung. Dies erlaubt es mir, den Fokus auf das vorliegende Material zu schärfen und die Modelle deutsch-jüdischer Weiblichkeit, die hier gezeichnet sind, in ihrer räumlichen Verortung zu analysieren und in ihrer mehrdimensionalen Plastizität zu verstehen. Die philologische Textanalyse verankert diese Studie im Bereich der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung, einem Bereich also, in dem die Lite-

|| jüdischer Autoren auf die Konstruktion des ›Anderen‹ zu befragen ansetzte, als auch Texte jüdischer und weiblicher Autoren, die die Internalisierung dieser Konstruktion verdeutlichten. Vgl. Sigrid Weigel: Frauen und Juden in Konstellationen der Modernisierung ‒ Vorstellungen und Verkörperungen der ›internen Anderen‹. Ein Forschungsprogramm. In: Stephan u. a. (Hg.), Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Anm. 26), S. 333–351, hier S. 333. 28 Weigel, Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Anm. 26), S. 3. Als Zitat verwendet in Cornelia Pechota-Vuilleumier: »O Vater, laß uns ziehn!«. Literarische Vater-Töchter um 1900. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé. Hildesheim: Georg Olms 2005, S. 17. 29 In der Nachfolge Weigels untersuchte Cornelia Pechota-Vuilleumier 2005 die VaterTochter-Problematik in Werken weiblicher Autoren um 1900. Besonders ihre Analyse von Hedwig Dohms Roman »Christa Ruland«, den sie auf Grundlage des ursprünglich geplanten Namens der Protagonistin, Anne Marie Rubens, als Roman mit »deutsch-jüdischem Subtext« interpretiert, ist für die vorliegende Studie interessant. Vgl. Pechota-Vuilleumier, »O Vater, laß uns ziehn!« (wie Anm. 28), S. 174. 30 Weigel, Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Anm. 26), S. 5. 31 Vgl. Krobb, Die schöne Jüdin (wie Anm. 3). Krobb hat nachgezeichnet, wie der Topos, der bereits im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts fest in der deutschen Literatur etabliert war, der Jüdin eine Rolle als Opfer von Gewalt und Verfolgung, oder auch als aktive Verführerin zusprechen konnte, immer jedoch ihre – oft verstörende – Sinnlichkeit betonte.

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ratur deutsch-jüdischer Autorinnen lange vernachlässigt wurde. Auch heute ist das Interesse daran noch sehr begrenzt: Der literarische Kanon ist deutschjüdischen Autorinnen bis auf eine Handvoll herausragender Persönlichkeiten – allen voran Else Lasker-Schüler ‒ verschlossen geblieben. In Bezug auf den hier zu betrachtenden Zeitraum, das späte Kaiserreich, liegt dies sicher in nicht geringem Maße daran, dass der oft sozial engagierte Charakter der Literatur von Frauen in der zeitgenössischen Kritik als Zeichen des Mangels gewertet wurde.32 Auch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein kann die Geringschätzung weiblicher Literatur als ›Tendenzliteratur‹ auf diese Dichotomie von ästhetischem Wert und sozialem Engagement zurückgeführt werden.33 In der Historiographie, die sich spezifisch der deutsch-jüdischen Literatur widmet, ist die Anzahl der behandelten Frauen ebenfalls gering. Im Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996 von 1997 sind nur achtzehn von 118 Einträgen weiblichen Autoren gewidmet, und 2004 ging Willi Jasper in seiner deutsch-jüdischen Literaturgeschichte einzig auf Else Lasker-Schüler mit mehr als nur kursorischen Kommentaren ein.34 In den letzten Jahren sind wichtige Einzelstudien zu jüdischen Schriftstellerinnen des späten Kaiserreichs erschienen: Sigrid Bauschingers Buch über Else LaskerSchüler (2004), Ingrid Spörks und Alexandra Strohmaiers Sammelband und Julian Preeces Monographie zu Veza Canetti (2005 und 2007) und Hella-Sabrina Langes Studie zu Auguste Hauschner (2006) zum Beispiel haben wertvolle Arbeit an der Wiederentdeckung eines heute weitgehend vergessenen literarischen Korpus geleistet. Auch weitergreifende kulturhistorische Studien wie Barbara Hahns Die Jüdin Pallas Athene, ein Buch, das den Weg deutscher Jüdinnen und der Bedeutung des Worts ›Jüdin‹ von der Mitte des achtzehnten Jahr-

|| 32 Vgl. Lou Andreas-Salomes vernichtende Bemerkungen über die Literatur ihrer sozial engagierten Zeitgenössinnen, die zeigen, wie sehr sie die Urteile des literarischen Establishments internalisiert hatte: Lou Andreas-Salome: Ketzereien gegen die moderne Frau. In: Die Zukunft 7 (1898/99), S. 237–240. Wieder abgedruckt in Gabriele Reuter: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. 2 Bde. Hg. von Katja Mellmann. Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2006, Bd 2: Dokumente, S. 436–440. 33 Hierzu vgl. Charlotte Woodford: Women, Emancipation and the German Novel 1871–1910. Oxford: Legenda 2014; Suzanne Clark: Sentimental Modernism. Women Writers and the Revolution of the Word. Bloomington: Indiana University Press 1991. Vgl. auch Chris Weedons Bemerkungen über die heutige Unsichtbarkeit der von Frauen verfassten Texte aus dem Zeitraum 1840–1914: Weedon, Gender, Feminism, & Fiction (wie Anm. 18), S. 18. 34 Vgl. Sander Gilman und Jack Zipes (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. New Haven/CT: Yale University Press 1997; Willi Jasper: Deutschjüdischer Parnass. Literaturgeschichte eines Mythos. Berlin: Propyläen 2004.

1.3 Zeitliche und örtliche Eingrenzung | 11

hunderts bis in die Zeit nach 1945 nachzeichnet, sind maßgeblich am Entstehen einer Geschichtsschreibung weiblicher jüdischer Literatur beteiligt.35 Zu dieser Wiederentdeckung einst viel gelesener Texte möchte die vorliegende Studie beitragen; nicht aber im Sinne eines positivistischen Sammelns und musealen Präsentierens – und, wie bereits gesagt, auch nicht, um die Aufnahme dieser Texte in den literarischen Kanon zu fordern.36 Wenn ich mich hier in erster Linie literarischen Texten widme, die soziales Engagement öffentlich äußern und sich in gesellschaftliche Diskurse einmischen, so geschieht dies vielmehr mit dem Ziel zu untersuchen, auf welche Weise dieses Einmischen vollzogen wird – welche Strukturen verwendet werden, um eine bestimmte Leserschaft anzusprechen und um über deren Bewusstseinsänderung auf die Realität einzuwirken. Die ästhetische Analyse zielt also weniger darauf ab, die Romane als Produkte künstlerischen Ranges per se zu definieren, als darauf zu zeigen, wie Autorinnen über die Verwendung literarischer Mittel ihren Beiträgen zu zeitgenössischen Debatten Gehör verschafften. Es gilt, Narrationsstrukturen darzulegen und über das Aufdecken intertextueller Bezüge Traditionen zu identifizieren, in die die Autorinnen sich einschreiben, um die Rezeption der in ihren Texten transportierten Inhalte zu steuern. In diesem Kontext ist auch ein Blick auf die Publikationsstrategien wichtig: auf die Verlagswahl und die Formulierung von Selbstund Verlagsanzeigen. Anhand von Rezensionen wird schließlich zu überprüfen sein, wie die zeitgenössische Rezeption tatsächlich ausfiel.

1.3 Zeitliche und örtliche Eingrenzung Dieses Buch konzentriert sich auf den Zeitraum vom Jahrhundertbeginn bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Dies ist die Zeit, in der sowohl die Bewegung der jüdischen als auch der weiblichen Emanzipation ‒ obwohl starker Opposition ausgesetzt ‒ Höhepunkte zu verzeichnen hatten, in den Kriegsjahren aber auf verschiedene Weise Frustrationen erlitten. Antisemitische Bewegungen, die schon im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert an Boden gewonnen hatten, waren um 1900 so weit etabliert, dass sich mit Shulamit Volkov von einem »kulturellen Code« sprechen lässt, einem Phänomen, das nicht mehr »mit echtem Haß gepredigt« wurde, sondern »zum Bestandteil einer ganzen Kultur« gewor|| 35 Vgl. Barbara Hahn: Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2005 (Erstausgabe: Berlin Verlag 2002). 36 Vgl. auch Andrea Hammel und Godela Weiss-Sussex: Introduction. In: Andrea Hammel und Godela Weiss-Sussex (Hg.): »Not an Essence but a Positioning«. German-Jewish Women Writers 1900–1938. München: iudicium 2009, S. 7–13.

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den war.37 Gleichzeitig wuchsen aber auch die jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus. Mit Martin Bubers Aufsatz zur ›Jüdischen Renaissance‹, 1901 in der ersten Nummer der Zeitschrift Ost und West veröffentlicht, setzte eine Bewegung ein, die mit dem Aufruf zur aktiven Erneuerung und Erstarkung jüdischer Kultur für ein Anwachsen jüdischen Selbstbewusstseins sorgte. Andere Gruppen betonten dagegen ihre Zugehörigkeit zum deutschen Kulturbereich: Allen voran verteidigte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1893 gegründet, die Position der assimilierten bürgerlichen deutschen Juden. Die verstärkte Zuwanderung der sogenannten ›Ostjuden‹ nach Deutschland, die vor osteuropäischen Pogromen flohen, führte allerdings auch bei vielen eingesessenen Mitgliedern des assimilierten jüdischen Bürgertums zu einer Abwehrhaltung gegenüber den als ungebildet, unkultiviert und provinziell abgestempelten Neuankömmlingen. Diese Haltung lässt sich durchaus als jüdischer Antisemitismus beschreiben, der durch die illusorische Hoffnung genährt wurde, sich durch Selbstdistanzierung von einer als ›fremd‹ gekennzeichneten Gruppe in die deutsche Gesellschaft rückhaltlos einzugliedern. Der Begriff des jüdischen Antisemitismus, in der zeitgenössischen Presse und Literatur weitgehend synonym mit dem des jüdischen Selbsthasses verwendet, verweist jedoch noch auf ein tiefliegenderes Merkmal des »geistig-seelischen Zustand[s]« vieler assimilierter Juden in diesem Zeitraum:38 auf die Ablehnung ihrer eigenen jüdischen Identität. Sander Gilman erläutert den Begriff des jüdischen Selbsthasses wie folgt: »Self-hatred results from outsiders’ acceptance of the mirage of themselves generated by their reference group – that group in society which they see as defining them – as a reality. […] [It is] an identification with the reference group’s mirage of the Other«.39 Konkret handelt es sich also um die Internalisierung rassistischer oder anti-judaistischer Stereotypen, die zu

|| 37 Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code [1978]. In: Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays. München: C. H. Beck 2000, S. 13–36, hier S. 23 und 33. 38 Shulamit Volkov hat den Versuch unternommen, die beiden Begriffe inhaltlich zu trennen, indem sie den nach innen gerichteten Selbsthass von der »öffentliche[n] Haltung« einer Gruppe unterscheidet, die sich entgegen ihres eigenen Selbstverständnisses in eine Außenseiterposition gedrängt sieht, und die oft in einem »Angriff von außen auf eine Gruppe, mit der [man] jede Verbindung gelöst hatte[]«, mündet. Shulamit Volkov: Selbstgefälligkeit und Selbsthaß [1986]. In: Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. 10 Essays. München: C. H. Beck 1990, S. 181–196, hier S. 182 und 191. Eine klare Unterscheidung ist jedoch nicht immer möglich. 39 Sander L. Gilman: Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1986, S. 2.

1.3 Zeitliche und örtliche Eingrenzung | 13

einer Empfindung der eigenen jüdischen Herkunft als Makel führt.40 Volkov bezeichnet diese Haltung, die oft mit der Hoffnung vollständiger Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft einherging, als geradezu »typisch« für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg,41 und tatsächlich spiegeln alle in diesem Band zu untersuchenden Texte – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise ‒ Aspekte dieses problematischen Phänomens. Bemühungen um die Gleichberechtigung und gesellschaftliche Integration deutscher Juden wurden also in diesem Zeitraum energievoll betrieben, und der Wille so vieler deutscher Juden, im Krieg für Deutschland zu kämpfen, ist ohne Zweifel als Zeichen der Hoffnung darauf zu lesen, bei den nicht-jüdischen Mitbürgern als ›Volksgenossen‹ Akzeptanz zu finden. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte jedoch für viele das Ende dieser Hoffnung. Der entscheidende Umbruch ist mit der sogenannten ›Judenzählung‹ im deutschen Militär im Oktober 1916 anzusetzen, die ursprünglich angeordnet wurde, um Vorwürfen zu begegnen, die Juden seien im Kriegseinsatz nicht aktiv genug beteiligt. Als die Erhebung aber ergab, dass jüdische Soldaten im Gegenteil überproportional im Kriegsgeschehen engagiert waren, wurden diese Ergebnisse nicht veröffentlicht. Diese Enttäuschung führte zu einer weitgreifenden Resignation unter den deutschen Juden, mussten sie doch erkennen, dass von Staates Seite kein Wille vorhanden war, Vorurteilen gegen sie entgegenzutreten.42 Zeugnisse dieser Erkenntnis der ›gescheiterten Symbiose‹ sind bei Autoren nachzulesen, die zum Jahrhundertbeginn das wilhelminische Berlin als ihre Heimat ansahen, so zum Beispiel in Jakob Wassermanns Autobiographie Mein Weg als Deutscher und Jude (1921) oder in Georg Hermanns Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus Der doppelte Spiegel (1926).43 || 40 So auch Walter Grab: ›Jüdischer Selbsthaß‹ und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur und Publizistik 1890 bis 1933. In: Horst Denkler und Hans Otto Horch (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 313–336, hier S. 313. 41 Volkov, Selbstgefälligkeit und Selbsthaß (wie Anm. 38), S. 182. 42 Vgl. hierzu: Paul Mendes-Flohr: Neue Richtungen im jüdischen Denken. In: Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd 3: Umstrittene Integration 1871–1918. München: C. H. Beck 1997, S. 333– 355; Paul Mendes-Flohr: Im Schatten des Weltkrieges. In: Avraham Barkai und Paul MendesFlohr: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd 4: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945. München: C. H. Beck 1997, S. 15–36. 43 Zu Hermanns Der doppelte Spiegel vgl. Gert Mattenklott: Der doppelte Spiegel. Georg Hermann über Juden in Deutschland (vor 1933). In: Godela Weiss-Sussex (Hg.): Georg Hermann. Deutsch-jüdischer Schriftsteller und Journalist, 1871–1943. Tübingen: Niemeyer 2004 (Conditio Judaica; 48), S. 103–113. Mattenklott hebt hervor, dass Hermann »aus der Perspektive des

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Auch auf dem Gebiet der Diskussionen um die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft ließen sich in den Jahren von 1900 bis 1918 richtungsweisende Entwicklungen verzeichnen. In ihrer Selbstanzeige für den Roman Christa Ruland bezeichnete Hedwig Dohm die Zeit um 1900 als eine »Weltwende« für Frauen.44 Die Energie und der Optimismus, die aus dieser Einschätzung sprechen, spiegeln sich in Gründungen wichtiger politischer, sozialer und erziehungsorientierter Vereinigungen. Allen voran ist hier der Bund deutscher Frauenvereine zu nennen, der, 1894 gegründet, zwischen 1900 und 1912 seine Mitgliedschaft mehr als vervierfachte.45 Unter tatkräftigen Vorsitzenden wie der Berliner Lehrerin Helene Lange setzte der Bund sich energisch für die höhere Schulbildung für Mädchen ein, und mit dem Deutschen Frauenkongress und der Ausstellung »Die Frau in Haus und Beruf« bestätigte er 1912 Berlins Status als Zentrum emanzipatorischer Bewegungen. Ebenfalls in Berlin wurden 1904 der Weltbund für Frauenstimmrecht und 1905 der Bund für Mutterschutz gegründet, Vereinigungen, die in den Folgejahren beträchtlichen Einfluss auf den sozialen, politischen und kulturellen Wandel ausübten. Ähnlich den deutschen Juden sah auch die Mehrheit der emanzipatorisch engagierten Frauen im Krieg eine Chance, sich zu beweisen und als Staatsbürgerinnen Anerkennung zu finden. Das Gebot des Burgfriedens jedoch, das innenpolitischen Auseinandersetzungen keinen Raum mehr gewährte, hatte zur Folge, dass weitere Emanzipationsbestrebungen auf politischem Gebiet erst nach Kriegsende, im Zuge der Novemberrevolution 1918, verwirklicht werden konnten (so unter anderem das Frauenstimmrecht) oder auf anderen Gebieten, wie dem der freien Selbstbestimmung über reproduktive Vorgänge, bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgesteckt werden mussten.46 || Rückblicks von 1926 […] die Situation der Juden vor dem Ersten Weltkrieg geradezu als Idylle« sieht und stellt fest: »Als dann in der Weltkriegszeit die antisemitische Propaganda losbrach, muß sie den Autor wie mit Keulenschlägen und gänzlich unvorbereitet getroffen haben. Danach ist er ein anderer […].« (S. 112). 44 Hedwig Dohm: [Selbstanzeige von] »Christa Ruland«. In: Die Zukunft 11 (1902/03), S. 207. 45 Hatte der Verein 1900 noch um die 70.000 Mitglieder, so betrug deren Zahl 1912 etwa 328.000. Vgl. Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894– 1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 148. 46 Vgl. Ute Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. München: C. H. Beck 2009. Aufgrund der Verlangsamung emanzipatorischer Erneuerung in den Kriegsjahren beschrieb Margarete Susman die Einwilligung der Sozialdemokraten und der Frauenbewegung in den Burgfrieden als »die Schuld unseres unpolitischen Lebens«. Zitiert nach Ingeborg Nordmann: Wie man sich in der Sprache fremd bewegt. Zu den Essays von Margarete Susman. In: Ingeborg Nordmann (Hg.): Margarete Susman: »Das Nah- und Fernsein des Fremden«. Essays und Briefe. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 227–267, hier S. 252.

1.3 Zeitliche und örtliche Eingrenzung | 15

Schließlich ist der gewählte Zeitraum 1900–1918 auch eine Schlüsselperiode in Bezug auf die rapide Entwicklung der neuen Großstadt Berlin und die Reaktionen und Diskussionen, die diese Entwicklung begleiteten. Schon 1903 verlieh Georg Simmel dem Denken über »Die Großstädte und das Geistesleben« in seinem gleichnamigen Aufsatz eine neue Richtung.47 Fünf Jahre später war er maßgeblich an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie beteiligt, die fortfuhr, der Stadtsoziologie wichtige Impulse zu liefern und heute als Vorläufer der in den 1920er und 30er Jahren höchst einflussreichen Chicago School angesehen wird. Die Diskussion um die neue Lebensumwelt fand jedoch nicht nur in einem kleinen Kreis professionell Interessierter statt: Walther Rathenau, Fritz Lienhard und Karl Scheffler sind nur einige der Beiträger, die sich wirkungsvoll an ein allgemeines Publikum wandten, um den Charakter und den Einfluss der neuen Realität in der Metropole auf die Lebensweise ihrer Bewohner auf den Punkt zu bringen.48 Zwar zogen sich die Debatten um die Großstadt Berlin auch nach dem Weltkrieg weiter fort, sie wurden aber selten wieder so engagiert geführt ‒ auf beiden Seiten, pro und contra ‒ wie zu dieser Zeit des Umbruchs. Die regionale Einengung der ausgewählten Autorinnen und Texte auf Berlin ist insofern sinnvoll, als sie hilft, den Problemaufriss zu fokussieren und so der Komplexität des Themas gerecht zu werden.49 Denn Berlin war nicht nur diskursives Symbol städtischer Modernität, sondern bot auch ein anderes Umfeld für schreibende Frauen als andere deutsche Städte. Als Raum pluralistischer Urbanität war Berlin ein Zentrum sozialer und kultureller Erneuerungsbewegungen; ein Umfeld, dass Frauen – auch jüdischen Frauen ‒ die Beteiligung an zeitgenössischen Debatten in einem Maße gestattete, das andernorts selten anzutreffen war. Die Bedeutung Rahel Levins im zeitgenössischen Diskurs, als Vorbild und Bezugspunkt nicht nur für jüdische Frauen, sondern für die Berlinerin per se, mag hier als Beleg gelten: Im Vorwort zu einem Sammelband mit dem Titel Die Berlinerin, 1897 herausgegeben von Ulla Wolff-Frankfurter, nennt Karl Frenzel neben der »Berliner Schauspielerin« die »Berliner Jüdin« als den »zweite[n] eigentümlich[n] Frauentypus unserer Stadt«. Er lässt eine Beschreibung der || 47 Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben [1903]. In: Georg Simmel: Brücke und Tür. Hg. von Michael Landmann und Margarete Susman. Stuttgart: Koehler 1957, S. 227–242. 48 Walther Rathenau: Die schönste Stadt der Welt. In: Die Zukunft 8 (1899), S. 36–48; Fritz Lienhard: Die Vorherrschaft Berlins. Literarische Anregungen. Berlin: G. H. Heinrich Heimatverlag 1900; Karl Scheffler: Berlin – ein Stadtschicksal [1910]. Hg. von Detlev Bluhm. Berlin: Fannei und Walz 1989 (Berliner Texte; 3). 49 Zur Notwendigkeit regionaler Analysen vgl. Matthew Jefferies: Contesting the German Empire, 1871–1918. Oxford: Blackwell 2007, S. 160.

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»unwägbar[en]« und »unschätzbar[en]« »bildenden und erziehenden Einflüsse, die die Salonnièren Henriette Herz, Rahel Varnhagen und Dorothea Veit »auf die Entwicklung des Berliner Gesellschaftslebens ausgeübt haben«, folgen.50 Wo in Deutschland – außer in Berlin – wäre eine Jüdin als Vorbild regionalen weiblichen Charakters denkbar gewesen?

1.4 Auswahl der Autorinnen und Texte Barbara Hahn hat darauf hingewiesen, dass bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein die Publikation eigener Schriften für nicht-konvertierte Jüdinnen unmöglich war: »Schreiben und Übertritt auf der einen Seite, Jüdin bleiben und keine Stimme in die schriftliche Überlieferung einlassen auf der anderen, gehören zusammen.«51 Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert sind die Stimmen jüdischer Autorinnen, die die spezifische Problematik der modernen Jüdin explizit verhandeln, zwar noch immer recht rar, Hahn kann aber schon auf eine Reihe von Publikationen verweisen, unter anderem von Nahida Ruth Lazarus (1891), Paula Winkler (1901) und Else Croner (1913),52 in denen »die Jüdin« als Kategorie erscheint, die verwendet wird‚ »um einen Ort in der ›deutschen‹ Kultur zu bestimmen«.53 In der Romanliteratur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts nimmt die Diskussion weiblicher deutsch-jüdischer Identität dennoch nicht viel Raum ein. Im Hinblick auf jüdische Familienromane männlicher Autoren beobachtet Sigrid Bauschinger, dass das Jüdische in der Zeichnung von Frauenfiguren, die oft als Träger von Modernisierungsbewegungen erscheinen, ausgeblendet ist.54 Auch in den Romanen von Frauen, die sich der weiblichen Emanzipationsbewegungen annehmen, ist, wie Livia Wittmann – ohne zwischen jüdischen und nichtjüdischen Autorinnen zu unterscheiden – feststellt, »von jüdischen Frauen selten

|| 50 Karl Frenzel: Die Berlinerin (Einleitung). In: Ulrich Frank [Pseudonym Ulla WolffFrankfurters] (Hg.): Die Berlinerin. Berlin: Concordia Deutsche Verlags-Anstalt 1897, S. 1–23, hier S. 14. 51 Hahn, Die Jüdin Pallas Athene (wie Anm. 35), S. 100. 52 Vgl. ebd., S. 104–118. 53 Ebd., S. 99. 54 Vgl. Sigrid Bauschinger: »Die alten Tafeln zertrümmern«? Frauenfiguren im jüdischen Familienroman zwischen 1897 und 1933. In: Christine Kanz und Frank Krause (Hg.): Zwischen Demontage und Sakralisierung. Revisionen des Familienmodells in der europäischen Moderne (1880–1945). Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 121–133.

1.4 Auswahl der Autorinnen und Texte | 17

die Rede«.55 Und mit spezifischem Bezug auf jüdische Schriftstellerinnen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vermerkt Sigrid Weigel, dass diese ihre Stimme »oft um den Preis eines Aufgehens in der hegemonialen christlichen und von männlichen Perspektiven geprägten Kultur« erheben.56 Tatsächlich ist dieser Befund auch in Bezug auf die Literatur, die im spätwilhelminischen Berlin entstand, einem der Heimatorte des bürgerlich-assimilierten Westjudentums also, durchaus zutreffend. Weitgehend wird das Thema ausgespart – und die Fremdheit implizierende jüdische Komponente der deutschjüdischen Identität verdrängt. Umso mehr lohnt es sich, den wenigen Autorinnen Gehör zu schenken, die sich des Themenkomplexes annehmen und ihn mit den Fragen nach der Stellung der Frau und der Beziehung von Individuum und großstädtischer Lebenswelt verknüpfen. Auf diese wenigen konzentriere ich mich, und unter ihnen richte ich das Schlaglicht auf jene, die nicht, wie beispielsweise Else Lasker-Schüler, die Entwicklung eines eigenen originären ästhetischen Programms in den Vordergrund stellen, sondern denen es um das publikumswirksame Kommunizieren von Ideen zu tun ist. Es geht in dieser Studie also darum, innerhalb eines zeitlich, örtlich, thematisch und durch die Publikationsintention klar definierten Feldes das Spektrum von Möglichkeiten schriftstellerischer Darstellung auszuloten. Die Autorinnen im Zentrum meines Interesses bilden keine Gruppe in ideologischer Hinsicht, sie sind auch nicht durch belegten gedanklichen Austausch oder als Mitglieder bestimmter Netzwerke miteinander verbunden. Es ist vielmehr gerade ihre Unterschiedlichkeit, die inhaltliche und strukturelle Vielfalt ihrer Entwürfe, die hier im Vordergrund steht und durch paradigmatische Analysen erfasst werden soll. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus dem Forschungsfeld. Andreas Kilchers Beschreibung der deutsch-jüdischen Literatur als »Konglomerat einer Vielzahl höchst unterschiedlicher, zeitlich und räumlich spezifischer Formationen« entspricht ein Untersuchungsansatz, der die »Vielstimmigkeiten und Brüche« dieser Literatur aufdeckt und nachzeichnet.57 Die Texte, denen ich mich im Folgenden widme ‒ Romane von Auguste Hauschner, Grete Meisel-Hess und Elisabeth Landau, aber auch Else Croners völkerpsychologische Abhandlung zur ›modernen Jüdin‹ ‒ definieren sich durch ihre Auseinandersetzung mit den drei als zentral betrachteten Diskurssträngen; sie bringen die Komplexität zum Ausdruck, die sich in deren Span-

|| 55 Livia Wittmann: Jüdische Aspekte in der Subjektwerdung der ›neuen Frau‹. In: Stephan u. a. (Hg.), Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Anm. 26), S. 143–157, hier S. 143. 56 Weigel, Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Anm. 26), S. 2. 57 Kilcher, Deutsch-jüdische Literaturgeschichte (wie Anm. 5), S. 374.

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nungsfeld offenbart. Sie behandeln die Dialektik der Position deutscher Jüdinnen, die zum einen die Stellung des ›Anderen‹ im Gegensatz zu einer durch Glaubenszugehörigkeit und Ethnizität definierten Gemeinschaft einnehmen, zum anderen aber mit dem Anspruch antreten, in ihrer engen Beziehung zur deutschen literarischen und geistigen Tradition des Idealismus als Vertreterinnen der deutschen Kulturnation zu gelten. Ebenso reflektieren sie die Dialektik des essenzialistisch-biologischen Begriffs der Weiblichkeit und ihrer im Rahmen der patriarchalischen Kultur konstituierten Rolle; und sie beleuchten die dem Konzept der Großstadt Berlin inhärente Spannung von Unnatur und intellektueller Befreiung. Die literarischen Konzeptionen der Romane, die diese dialektischen Energien zum Ausdruck bringen, beruhen auf dem Realismus und dem Mimesisbegriff des neunzehnten Jahrhunderts, verweben diese jedoch mit Elementen programmatischer und reflektiver diskursiver Prosa. Sie verbinden narrative Strukturen populärer Romanliteratur mit unverhohlen ›tendenziösem‹ Engagement; und sie bedienen sich intertextueller Rückgriffe auf literarische Traditionen und nehmen diese in Dienst, um ihre Texte einerseits in bestimmte gedankliche Traditionen einzuschreiben, andererseits aber auch durch ihre Bearbeitung eigene gedankliche Modelle zu kommunizieren. Ausgehend von diesen gemeinsamen Positionen und Strategien des Schreibens werden hier aber sehr verschiedene Entwürfe darzustellen sein. Sie reichen von der Positionierung der deutschen Jüdin als Führerin geistiger und sozialer Erneuerungsbewegungen zu resignierter Aufgabe deutscher Volkszugehörigkeit; von der Propagierung einer Rückkehr zum traditionellen Rollenverständnis der Frau zu radikalem Feminismus; und von der Ablehnung des großstädtischen Lebensentwurfs zu dessen enthusiastischer Bejahung. Die in Kapitel 2 und 3 behandelten Texte, Else Croners Studie Die moderne Jüdin (1913) und Auguste Hauschners Doppelroman Die Familie Lowositz (1908 und 1910), haben in der deutsch-jüdischen Literaturgeschichtsschreibung bereits Beachtung gefunden. In beiden Fällen jedoch führt die Re-Lektüre zu Korrekturen bisheriger Urteile und Einordnungen. Die zum Teil überraschenden neuen Lesarten ergeben sich einerseits aus veränderten Fragestellungen: Die Fokussierung auf den Entwurf deutsch-jüdischer Weiblichkeit in Hauschners Familie Lowositz zum Beispiel führt zu Erkenntnissen über das Romanganze, die verdeckt blieben, so lange das Forschungsinteresse sich in erster Linie auf den männlichen Protagonisten konzentrierte. Darüberhinaus führt auch die Kontextualisierung der Texte im Bezug zu anderen relevanten Schriften der Autorinnen zu einem neuen Verständnis: Betrachtet man beispielsweise Croners Abhandlung über die ›moderne Jüdin‹ im Kontext ihrer Romane und ihrer psychologischen Literatur über junge Mädchen und Frauen, ergibt sich ein sehr anderes

1.4 Auswahl der Autorinnen und Texte | 19

Bild als die Lektüre des Texts im Vergleich zu jüdischer Frauenliteratur allein es bieten kann. Else Croners moderne Jüdin ist der Gegenstand des zweiten Kapitels. Dieser diskursive Text, dem schon Barbara Hahn und Sander Gilman einige Aufmerksamkeit geschenkt haben, bietet in zweierlei Hinsicht eine wertvolle Grundlage für das Folgende. Croner behandelt alle drei zentralen Diskursstränge – die des Deutsch-Judentums, der Weiblichkeit und der Großstadt als Lebensumfeld der deutschen Jüdin ‒ in ausführlicher Weise und führt so auf ideale Weise in die Komplexität und den zeitgenössischen Stand der einzelnen Debatten ein. Doch der Text ist nicht nur hilfreich, um ein solches Exposé zu erstellen und gewissermaßen die Bühne für die literarischen Texte vorzubereiten; seine Analyse gewährt auf eindrucksvolle Art auch Einblick darin, wie die Figur der modernen Jüdin sich ‒ eben wegen ihrer exponierten Stellung im Schnittpunkt heiß debattierter Diskursfelder der Moderne ‒ dazu eignete, strategisch zur Untermauerung bestimmter Positionen und Programme eingesetzt zu werden. Aufgrund einer Untersuchung der Struktur und des Publikationskontexts von Croners Monographie erfolgt hier eine Neuevaluierung. Die Brüche und Ambivalenzen, die das Buch durchziehen, werden herausgearbeitet: Croner stellt Ablehnung und Apotheose der Jüdin nebeneinander; assimilatorische und dissimilatorische Bewegungen treten unaufgelöst im Kontrast auf und verweisen auf die Zerrissenheit der deutschen Jüdin in der Berliner Moderne. Es wird gezeigt, wie die Autorin sich in die Bewegung der ›Jüdischen Renaissance‹ einschreibt, um ihre anti-moderne Position zur Mädchenerziehung zu propagieren. Im dritten Kapitel wende ich mich Auguste Hauschners Romanen Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910) zu, die gemeinsam 1910 als Doppelroman unter dem Titel Die Familie Lowositz veröffentlicht wurden. Im Gegensatz zu der in der Forschungsliteratur oft zu beobachtenden Konzentration auf die Figur Rudolfs zeige ich auf, wie der Roman, der das Leiden der Geschwister Rudolf und Camilla am Judentum schildert, strukturell notwendig auf die beiden einander komplementierenden Erzählstränge angewiesen ist. Die Wichtigkeit des jüdischen Umfelds und die scharfe Kritik der Autorin an patriarchalischen jüdischen Familienstrukturen ist bisher in der Interpretation von Hauschners Roman unterschätzt worden. Hauschner, die in diesem Roman stark auf autobiographische Erfahrungen zurückgreift, verleiht ihrer Camilla eine Stimme, die dem »doppelten Martyrium des Weibseins und des Judentums« Ausdruck verleiht.58 || 58 Auguste Hauschner: Rahel Levins Sendung. In: Das literarische Echo 17 (1914/15), Sp. 267– 270, hier Sp. 268.

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Die in den folgenden zwei Kapiteln behandelten Romane, Grete MeiselHess’ Die Intellektuellen (1911) und Elisabeth Landaus Der Holzweg (1918) sind bis heute in der literaturwissenschaftlichen Forschung noch nicht beachtet worden; hier betritt diese Studie gänzlich Neuland und stellt zwei durchaus bemerkenswerte Funde dar.59 Grete Meisel-Hess, die, wie Hauschner, ihrem Schreiben ebenfalls eigene Erfahrungen unterlegt, entwirft in den Intellektuellen ein optimistisches und selbstbewusstes Bild einer deutschen Jüdin; sie stellt ihre Protagonistin als intellektuelle und soziale Führerin dar: als Modell sozialer Verantwortung, deren Reformwillen Sozialismus, Eugenik, radikalen Feminismus und jüdische Assimilation unter einen Hut bringt und die Berlin als notwendigen Lebensraum für ihr soziales und intellektuelles Engagement begreift. Meisel-Hess präsentiert einen monistischen Weltanschauungsroman, der auf Wissenschaftsdiskurse in der Nachfolge Darwins zurückgreift sowie auf von Goethe und Hedwig Dohm entwickelte Modelle des Bildungsromans. In ihrem Roman Der Holzweg, den sie unter dem Pseudonym L. Audnal veröffentlichte, reflektiert Elisabeth Landau ein ähnlich freidenkerisches geistiges Umfeld wie Meisel-Hess. Sie greift auf etablierte Genres jüdischen Schreibens des Jahrhundertbeginns zurück, namentlich die Traditionen des jüdischen Familien- und Zeitromans, und entwickelt diese auf interessante Weise weiter. Zum einen stellt sie ein spezifisches Interesse an den Erfahrungen jüdischer Mädchen und Frauen in den Vordergrund, zum anderen fügt sie mit diesem Roman der Geschichte literarischer Verarbeitung jüdischen Assimilationsbestrebens vor dem Hintergrund des Kriegserlebnisses ein neues Kapitel hinzu. Denn wenn die Romanhandlung auch um die Jahrhundertwende angesiedelt ist, so spiegelt die Schilderung eines allgegenwärtigen und institutionalisierten Antisemitismus doch die Erfahrung einschneidender Veränderungen in der öffentlichen Haltung gegenüber deutschen Juden, die der Weltkrieg mit sich brachte. Der Roman, der der Emigrantin Elise die leitende Stimme zugesteht, bezeichnet den (zeitweiligen) Abschluss des Projekts der deutsch-jüdischen Symbiose ‒ und des Genres des jüdischen Zeitromans.

|| 59 Kurze Hinweise auf den Roman finden sich aber bei Wittmann, Jüdische Aspekte (wie Anm. 55), S. 144–145 und in R. Hinton Thomas: Nietzsche in German Politics and Society 1890–1918. Manchester: Manchester University Press 1983, S. 86.

2 Die Jüdin zwischen Trägerin »altjüdischer Kultur« und »Tauentziengirl«: Else Croners völkerpsychologische Studie Die moderne Jüdin (1913) In der kulturwissenschaftlichen Forschung hat Croners Studie zur ›modernen Jüdin‹, die 1913 bei Axel Juncker erschien, zweimal an exponierter Stelle Beachtung gefunden: in Sander Gilmans 1993 veröffentlichtem Aufsatz »Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the ›Modern Jewess‹« und in einem Essay Barbara Hahns aus demselben Jahr. Gilman überschreibt seinen Analyseabschnitt zu Croners Text mit dem Titel »The ›Modern Jewess‹ as seen by a ›Modern Jewess‹« und beschreibt das Buch als »attempt on the part of a self-identified Jewish woman to construct and thus rescue the image of the Jewish woman […].«1 Ähnlich stellt Hahn Croners Buch in den Diskurskontext einer Reihe von Publikationen, die zwischen 1890 und 1938 erschienen und die Hahn als Überlegungen zum Identitätsmodell der deutschen Jüdin definiert, »von jüdischen Frauen geschrieben, die sich explizit an ein weibliches jüdisches Publikum wandten«.2 Tatsächlich folgte Die moderne Jüdin auf eine Reihe von Texten, die sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Identitätsbestimmung der deutschen Jüdin angenommen hatten. Croner selbst ordnet ihr Buch in den Kontext der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung ein, die sich, so Croner selbst, für die »Wiederbelebung aller edlen Stammeseigentümlichkeiten« der Juden in Deutschland einsetzte (MJ, 146).3 Doch es ist ein schwieriger, sperriger Text: Selten sind die Verknüpfung, aber auch die Kollisionen unterschiedlicher identitärer Diskurse zum Thema ›Jüdin‹ und Kontexte, in denen sie verhandelt werden, so deutlich hervorgetreten, und selten ist die Stellungnahme zum Thema so brüchig und ambivalent ausgefallen. Gerade deswegen ist Croners Buch, das Sander Gilman

|| 1 Sander L. Gilman: Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the ›Modern Jewess‹. In: The German Quarterly 66.2 (1993), S. 195–211, hier S. 205 und 206. 2 Hahn, Die Jüdin Pallas Athene (wie Einleitung, Anm. 35), S. 104. Hahns Kapitel »Die moderne Jüdin« greift auf den folgenden Aufsatz zurück: Barbara Hahn: Die Jüdin Pallas Athene. Ortsbestimmungen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Jutta Dick und Barbara Hahn (Hg.): Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Wien: Brandstätter 1993. Vgl. auch Barbara Hahn: Croner, Else. Schriftstellerin. In: Jutta Dick und Marina Sassenberg (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 87–88. 3 Else Croner: Die moderne Jüdin. Berlin: Axel Juncker 1913, S. 146. Im Folgenden wird diese Ausgabe im Text unter dem Kürzel MJ mit Angabe der Seitenzahl zitiert.

22 | 2 Die Jüdin zwischen Trägerin »altjüdischer Kultur« und »Tauentziengirl«

als »summary of the discourse about modernity and the Jewish woman« bezeichnet hat,4 für diese Studie so wichtig: Es bietet sich dazu an, auf der Grundlage von Kontextualisierungen und Vergleichen einen Überblick über die zeitgenössischen Diskurse zum Begriff der Jüdin zu schaffen; und es liefert ein Beispiel dafür, wie die Diskussion um die Jüdin sich aufgrund des großen Interesses, das dem Begriff in den Jahren zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg zukam, für andere Ziele einsetzen ließ. Croner greift Argumentationen und Bilder der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung auf, die auf die Jüdin als mythische Idealfigur verweisen, spricht sich andererseits aber auch für die Verschmelzung des Judentums mit der deutschen Kultur aus und verwendet stellenweise Wendungen, die antisemitische Denkstrukturen freilegen. Ihr Text changiert von schwärmerischer Verherrlichung über kritische Beobachtung bis zu rassistischer Diskriminierung, verstrickt sich in Unstimmigkeiten und Paradoxa – und verdeutlicht auf diese Weise, wie vielschichtig und widersprüchlich die zeitgenössischen Diskurse über die Jüdin im Spannungsfeld zwischen Assimilation und dissimilatorischer Betonung jüdischer Besonderheit waren. Im Folgenden wird, nach einführenden Bemerkungen zur Autorin und zum Publikationskontext, in einem ersten Schritt Croners Begriff der Jüdin in all seiner Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit nachzuzeichnen und im Rahmen ihres Gesamtwerks zu positionieren sein. Auf dieser Grundlage wird im Vergleich mit weiteren Texten zum Thema aus den Bereichen der ›Jüdischen Renaissance‹ und des Reformjudentums der Versuch unternommen, die Stellung dieser Abhandlung im Kontext zeitgenössischer deutsch-jüdischer Bewegungen zu interpretieren. Schließlich wird die Frage nach der Textintention ebenso zu stellen sein wie diejenige nach der Haltung der Autorin zu ihrem Beschreibungsobjekt, um auf dieser Grundlage eine Erklärung für die Verwirrung der Diskurse, die wir hier antreffen, anzubieten.

2.1 Autorin, Werk und geistiges Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹ Unser biographisches Wissen über Else Croner ist lückenhaft. Aus den Dokumenten des Archivs Bibliographia Judaica geht hervor, dass sie am 4. Mai 1878 in Beuthen in Oberschlesien, dem heutigen polnischen Bylom, als Tochter des jüdischen Geheimen Justiz- und Landgerichtsrats Jakob Wollstein geboren wurde. Als sie vier Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Breslau, wo Else eine

|| 4 Gilman, Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the ›Modern Jewess‹ (wie Anm. 1), S. 207.

2.1 Autorin, Werk und geistiges Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹ | 23

Höhere Töchterschule und danach das Lehrerinnenseminar absolvierte. Nach Abschluss des Lehrerinnenexamens 1896 studierte sie sechs Semester Literaturgeschichte, Germanistik und Philosophie, unter anderem bei Hermann Ebbinghaus, an der Breslauer Universität. 1901 heiratete sie Johannes Croner, den volkswirtschaftlichen Syndikus der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, und zog mit ihm nach Berlin. Sie veröffentlichte eine Reihe von Romanen, Erzählungen und Märchen sowie eine Studie über Fontanes Frauengestalten und mehrere populärwissenschaftliche Sachtexte zu pädagogischen und psychologischen Themen. Pressestimmen aus den Jahren 1916 bis 1933 zufolge war sie zunächst als Romanschriftstellerin und später vor allem als Pädagogin und Psychologin bekannt: Wird sie 1916 als »renommierte Schriftstellerin […], die zugleich Amateur-Pädagogin edlen Rangs ist« gewürdigt, so heißt es 1928, sie habe einen »Dienst von besonderem Werte« für die Pädagogik geleistet, auch wenn ihr Werk nicht »wissenschaftlich[]« »im strengen Sinne des Wortes« sei. Mit ähnlichem Tenor wird sie 1930 als »die um die psychologische Deutung der Lebenserscheinungen verdiente Verfasserin« tituliert, bevor sie 1932 ohne jegliche Einschränkungen als »große Pädagogin« und 1933 als »representing the intuitivehistorical school of psychology founded by Eduard Spranger« vorgestellt wird.5 Croner wurde als Dozentin an der Berliner Universität geführt6 und aus ihren Schriften geht hervor, dass sie in der Sozialarbeit und Jugendberatung tätig war.7 Im Oktober 1933 verließ Else Croner Berlin und lebte eine Zeit lang in Flammersfeld im Westerwald; im November 1939 war sie jedoch einem Eintrag in der Austrittskartei der Berliner Jüdischen Gemeinde zufolge wieder in Berlin gemeldet. Zu einem nicht dokumentierten Zeitpunkt gab Croner ihre jüdische Religionszugehörigkeit auf und trat zum Christentum über. Nach Angaben des deutschen Bundesarchivs nahm sie sich am 20. Dezember 1942 das Leben.8

|| 5 Vgl. Kurt Walter Goldschmidt: Ein Schulroman [Rezension von Croners Roman »Prinzeß Irmgard«]. In: Der Tag, 19. April 1916; Otto Seeling: Croner, Else: »Die Psyche der weiblichen Jugend«. 1928. 4. Aufl. In: Archiv für die gesamte Psychologie 64 (1928), S. 231–232, hier S. 231; Robert Seibt: Else Croner: »Wege zum Glück«. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, 28. August 1929; Charles M. Diserens: »Die Psyche der weiblichen Jugend«. By Else Croner. In: American Journal of Psychology 45 (1933), S. 551–552, hier S. 551. 6 Diese und die folgenden Angaben zu Croners Lebensweg: nach Recherchen des Archivs Bibliographia Judaica, Universität Frankfurt sowie nach Petra Budke und Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Berlin: Orlanda 1995, S. 86. 7 Vgl. Else Croner: Die Psyche der weiblichen Jugend. 2. Aufl. Langensalza: H. Beyer 1925, S. 17. 8 Vgl. Bundesarchiv und Internationaler Suchdienst Arolsen (Hg.): Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933– 1945. Zugriff unter http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory (04.01.2016).

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Unter Croners literarischen Arbeiten sind vor allem zwei Romane für die vorliegende Untersuchung von Interesse, da sie sich eingehend mit der Entwicklung und Erziehung junger Mädchen und Frauen befassen und so das Weiblichkeitsbild der Autorin zu umreißen helfen. Das fiktive Tagebuch eines Fräulein Doktor (1908), für das Croner als Herausgeberin zeichnete, schildert den Weg einer jungen Akademikerin, die dem Genuss intellektueller und persönlicher Freiheiten entsagt, um in der traditionellen weiblichen Rolle der Ehefrau aufzugehen. Auch in dem zehn Jahre später (1918) erschienenen Roman Erwachen, der in einer Mädchenschule im Berliner Westen spielt, greift Croner das Thema von Bildung und Weiblichkeit wieder auf. In diesem lebendig und einfühlsam geschriebenen Roman tritt sie für eine geschlechtsspezifische Mädchenerziehung ein, die auf dem Verständnis für die Eigenheiten der weiblichen Seele und für die Entwicklung junger Mädchen in der Pubertät aufbaut und sich die Vermittlung von verbindlichen ästhetischen und ethischen Idealen zum Ziel setzt. Deutlich fußt Croners Erziehungsauffassung hier auf der Eduard Sprangers, dem sie 1933 eine eigene Monographie widmete.9 Immer wieder setzte sie sich auch in weiteren Romanen mit dem Spannungsverhältnis zwischen eigenständiger intellektueller oder künstlerischer Tätigkeit von Frauen und ihren Aufgaben als Ehefrau und Mutter auseinander und streicht letztere als ihre eigentliche Bestimmung heraus – so z. B. in Die Büste (1916) und in dem deutlich autobiographischen Roman Der Herr Handelskammer-Syndikus (1926), den sie ihrem Mann kurz nach dessen Tod widmete. Croners bekanntestes Werk war jedoch die Studie Die Psyche der weiblichen Jugend, die 1924 in der Reihe der »Schriften zur Frauenbildung« des Verlags H. Beyer in Langensalza verlegt wurde und weite Verbreitung fand: Bis 1930 erhielt der Band vier weitere Auflagen, bevor er schließlich 1935 noch einmal in einer von nationalsozialistischem Gedankengut gekennzeichneten, von Croner selbst überarbeiteten Fassung veröffentlicht wurde. Die offensichtliche Annäherung an faschistische Denkmodelle – Croner beschließt den Band mit einem Zitat Hitlers ‒ ist für heutige Leser verstörend; am Ende dieses Kapitels wird darauf zurückzukommen sein. Aus diesem Überblick ist ersichtlich, dass Croners Band über die ›moderne Jüdin‹ in ihrem Gesamtwerk eine Ausnahmestellung einnimmt. Nirgends sonst, weder vorher noch nachher, geht sie je auf die Thematik des deutschen Judentums ein, nirgends sonst findet sich in ihren Schriften auch nur der kleinste Hinweis auf eine Diskussion der Fragen um Assimilation und Dissimilation oder

|| 9 Else Croner: Eduard Spranger. Persönlichkeit und Werk. Berlin: Reuther & Reichard 1933.

2.1 Autorin, Werk und geistiges Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹ | 25

auf jedwede Behandlung deutsch-jüdischer Identität. Diesen einen Text jedoch, Die moderne Jüdin, stellt sie nachdrücklich in den Zusammenhang der ›Jüdischen Renaissance‹. Diese kulturelle Bewegung setzte sich seit der Jahrhundertwende für die Stärkung der jüdischen Identität unter den weitgehend säkularisierten und akkulturierten deutschen Juden ein. In weiten Teilen des jüdischen Bürgertums hatten sich allenfalls noch Reste jüdischen Brauchtums oder des Wissens um jüdische Mythen und Literatur erhalten. Im Angesicht des wachsenden Antisemitismus des späten neunzehnten Jahrhunderts traten immer mehr Juden zum Christentum über, ein Großteil aber lehnte jede Religion ab.10 Mit dem Ziel, dieser immer stärker verbreiteten assimilatorischen Einstellung eine neue, kulturell ausgerichtete Definition des Judentums entgegenzustellen, rief Martin Buber 1901 in einem vielzitierten Aufsatz in der neugegründeten Zeitschrift Ost und West die dissimilatorische Bewegung der ›Jüdischen Renaissance‹ aus. Buber lehnt die Rückkehr zu alten, sinnentleerten Traditionen ebenso ab wie die Aufgabe der jüdischen Identität im Deutschtum. »Nicht Rückkehr, sondern Wiedergeburt« fordert er: Traditionen und Mythen des Judentums sollten als Grundlage einer kulturellen Erneuerung fruchtbar gemacht werden, die sich, wie die Kultur des italienischen Quattrocento, über schöpferische Aktivität in Kunst und Literatur entfalten sollte. Die von Buber selbst und seiner Frau Paula Winkler verfassten Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Legenden des Baalschem (1908) bieten Beispiele solchen Kulturschaffens, auch Else LaskerSchülers Hebräische Balladen (1913) stehen in diesem Kontext.11 Als symbolträchtige Idealfigur tritt in der Literatur der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung immer wieder der »hebräische« oder »orientalische« Jude hervor, der im Gegensatz zum europäischen (oder West-) Juden als Träger eines reinen, unverfälschten, »wurzelhafte[n]« Judentums gezeichnet wird.12 Bubers Aufruf rief ein begeistertes Echo in jenen Teilen der deutschjüdischen Bevölkerung hervor, bei denen die weitgehende Assimilation ein spirituelles Vakuum und identitäre Ambivalenz ausgelöst hatte, und im »Über-

|| 10 Weitgehend waren die liberalen Juden, wie Michael A. Meyer formuliert, »liberals far more than they were Jews, and like political and cultural liberals in Germany generally, they treated religion with indifference and disdain«. Michael A. Meyer: Response to Modernity. A History of the Reform Movement in Judaism. Oxford: Oxford University Press 1988, S. 210. 11 Vgl. hierzu auch Martin Buber: Drei Reden über das Judentum [1911]. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1918. 12 Jakob Wassermann: Der Jude als Orientale [1913]. In: Jakob Wassermann: Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933. Hg. von Dierk Rodewald. Heidelberg: Lambert Schneider 1984, S. 29–32, hier S. 30.

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schwang der Jahre um 1900«13 wurde die neu entstandene Bewegung durch eine Flut von theoretischen, rhetorisch-erzieherischen und literarischen Veröffentlichungen genährt. Sie wurde zu einer Sammelbewegung, die ein Spektrum politischer und ideologischer Überzeugungen beinhaltete, das Bubers kulturzionistisches Engagement, das sich weiterhin um die Verortung und Akzeptanz von kultureller und religiöser jüdischer Differenz innerhalb einer deutschen Nationalität bemühte, ebenso einschloss wie die nationalzionistische Bewegung unter Theodor Herzl, die auf die Gründung eines jüdischen Nationalstaats abzielte.14

2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« Else Croner bestätigt 1913 den Erfolg der von Buber ausgerufenen Bewegung. In der »männlichen jüdischen Jugend«, so schreibt sie in der modernen Jüdin, sei »eine Renaissance, eine Wiederbelebung aller edlen Stammeseigentümlichkeiten und zugleich ein Aufstieg, ein Streben nach Tüchtigkeit und Treue unverkennbar«. »[A]uf der breiten Masse der jüdischen Frauen« dagegen laste »noch eine lässige Gleichgültigkeit gegenüber den inneren Werten« (MJ, 146). Eben dieser Gleichgültigkeit will sie mit ihrem Buch begegnen. In ihrem Vorwort erklärt sie, sie habe die moderne Jüdin aus dem Bedürfnis heraus geschrieben, […] einen Typus Frau noch einmal mit ein paar Griffelzügen festzubannen, ehe er von der großen Zeitströmung ›Assimilation‹ rettungslos verschlungen, von dem Sturmwind der Internationalisierung entwurzelt, von dem Feuer des Hasses verzehrt, oder – was das Schlimmste wäre – durch die laue Atmosphäre oder Gleichgültigkeit verblasst und verwischt wird. (MJ, 5)

Dies verspricht die Schilderung eines traditionellen, in seiner jüdischen Besonderheit bewahrenswerten weiblichen ›Typus‹, der von Bewegungen der Moderne bedroht ist.

|| 13 Inka Bertz: Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914. In: Reinhard Rürup (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin. Berlin: Edition Hentrich 1995, Bd 1, S. 149–180, hier S. 156. 14 Max Nordau z. B., der sich 1901, ähnlich wie Buber, für die Erziehung der jüdischen Jugend zum Judentum über Kunst und Literatur aussprach, da diese allein »jüdisches Gefühl zu schaffen« im Stande seien, vertritt die Zielvorstellung einer »öffentlich-rechtlich gesicherten jüdischen Heimstätte«. Max Nordau: Der Zionismus der westlichen Juden. In: Die Welt: Zentralorgan der Zionistischen Bewegung 1901, Nr 35 (30.8.1901), S. 3–5, hier S. 4 und 5.

2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« | 27

In der folgenden Analyse soll gezeigt werden, auf welche Weise die Autorin die Erwartungen, die sie durch diese Einordnung vornimmt, bedient. Ebenso wird aber auch zu zeigen sein, wie das Idealbild der Jüdin als »Kulturträgerin«, das Croner entwirft, durch Brüche und Ambivalenzen gestört wird, die aus der Kollision von dissimilatorischen mit assimilatorischen und zum Teil rassistischen Diskursen entstehen. Scheinbar klare Dichotomien ‒ wie die Gegensatzpaare Westjüdin vs. orientalische Jüdin, moderne Jüdin vs. Trägerin »altjüdischer Kultur«, Intellektualität vs. Häuslichkeit, Materialismus vs. Idealismus, Gefallsucht vs. Mütterlichkeit ‒ werden unterlaufen durch inhaltliche Leerstellen (Konservatismus ohne jüdische Religiosität oder Brauchtum) und durch antisemitischen Stereotypen gefährlich nahestehende Schwerpunktsetzungen, wie z. B. der Betonung der Geschlechtlichkeit der jüdischen Frau. Typisch für die argumentative Konstruktion der modernen Jüdin ist die Aufstellung von Gegensatzpaaren, über die Ideal und Abweichung kontrastiv von einander abgegrenzt werden. Dass das zentrale Anliegen von Croners Text in der kontrastiven Gegenüberstellung von traditionellem und modernem Weiblichkeitsentwurf der Jüdin besteht, ist schon aus den Titeln der ersten beiden Kapitel ersichtlich: Hier folgt »Das Wesen der Jüdin« auf »Die Modernität der Jüdin«. Das positive Bild des »wesentlichen« Kerns der Jüdin stützt sich zunächst auf ihre Stellung als »Kulturträgerin«. Croner schreibt: »Eine ›Jüdin‹ bedeutet […] eine besondere Note im Orchester der Weltschöpfung. […] [Sie] gleicht […] den unvergänglichen leuchtenden Fixsternen, von denen jeder einzelne eine Zentralsonne repräsentiert.« (MJ, 26) Und später, ähnlich hymnisch: »Die Jüdin steht als Kulturträgerin, als Sprosse einer der ältesten Kulturen des Erdballs, ungleich höher als die übrigen Europäerinnen.« (MJ, 147) Zwar deutet dieses Bild auf die Integration von jüdischer und europäischer Kultur hin, doch Croner beschreibt diesen Typus der Jüdin als Trägerin »altjüdischer« Kultur wenig später gerade nicht als Europäerin, sondern als »Vollblutorientalin mit der asiatisch-jüdischen Kulturbasis« (MJ, 148). Hier greift sie auf die Ideal- und Symbolfigur der »echten Jüdin« zurück, die im Rahmen mythisierender Narrative der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung, z. B. bei Jakob Wassermann oder Else LaskerSchüler, als Leitbild der Authentizität konstruiert und als Gegenentwurf zu einer als ›modern‹ apostrophierten und als nivellierend abgelehnten Form der Assimilation entwickelt wurde. Die Nähe von Croners Idealfigur zu Konzepten Wassermanns ist besonders auffallend. In seinem Aufsatz »Der Jude als Orientale«, der im selben Jahr erschien wie Croners Buch, hatte auch dieser die »sogenannten modernen Juden«, die »[i]m Grunde ihres Herzens […] bloß an das Fremde [glauben], das Andere, das Anderssein« kontrastiert mit dem Orientalen:

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Der Jude hingegen, den ich den Orientalen nenne, – es ist natürlich eine symbolische Figur; ich könnte ihn ebensowohl den Erfüllten nennen, oder den legitimen Erben, – ist seiner selbst sicher, ist der Welt und der Menschheit sicher. Er kann sich nicht verlieren, da ihn ein edles Bewußtsein, Blutbewußtsein, an die Vergangenheit knüpft […]. Er ist frei, und jene sind Knechte. Er ist wahr, und jene lügen. Er kennt seine Quellen, er wohnt bei den Müttern […].15

Wassermann verweist explizit darauf, dass sein Begriff des Juden als Orientalen symbolisch, das heißt »nicht im ethnographischen, sondern im mythischen Sinne« zu verstehen ist.16 Croner gibt zwar keinerlei Indiz dafür, dass dieser Typus für sie weniger real ist als derjenige der ethnographisch beobachtbaren ›modernen‹ Jüdin, doch gehört auch ihre orientalische Jüdin dem Bereich des Märchenhaften, Unwirklichen an. Daran besteht kein Zweifel, wenn wir lesen, sie zeichne sich aus durch […] diesen mattgelben, reinen Elfenbeinteint, der an Wüstensand und die gelbe Sonne des Orients erinnert, die langen, dunklen Augenwimpern, die, wenn die Sonne scheint, so eigentümlich das Gesicht beschatten, diese samtweichen, etwas schwermütigen, mandelförmigen Augen, die einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht gleichen (MJ, 46).

Im Anklang an den literarischen Topos der ›schönen Jüdin‹ wird hier orientalisierte Fremdartigkeit in fester Verbindung mit rätselhaft-reizvoller Weiblichkeit beschworen, während das Aufrufen des Märchenhaften zudem die Zeitlosigkeit dieses Idealtypus betont. Über den Großteil des Texts hinweg jedoch lässt Croner das Bild der Jüdin als Orientalin und als Inbegriff einer in ihrer Fremd- oder Andersartigkeit reizvollen, höherstehenden Kultur in den Hintergrund treten. Erst gegen Textende greift sie es wieder auf und stellt nun den Wiedergewinn dieses Idealtypus als Stufe in der Entwicklung zu einer identitären Einheit dar, die assimilatorische und dissimilatorische Bestrebungen vereinbart; es wird darauf zurückzukommen sein. Weitgehend entspricht aber das Idealbild der Jüdin, das Croner entwirft, weniger demjenigen der zeitlos-mythischen orientalischen Jüdin, als vielmehr einem von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit unabhängigen konservativen Begriff der Frau als Schwester, Ehefrau und Mutter. Dies wird in der Umkehrung des in kulturkritischer Wendung als Negativporträt entwickelten Bilds der modernen Jüdin im Laufe des Texts immer offensichtlicher und soll hier an

|| 15 Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 12), S. 31. 16 Jakob Wassermann: Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit. Leipzig: Insel 1910; hier zitiert nach Wassermann, Der Jude als Orientale (wie Anm. 12), S. 29.

2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« | 29

der Darstellung der drei wichtigsten Manifestationen dieses Porträts dargestellt werden: der gehetzten, oberflächlichen Vorreiterin alles Neuen, der Intellektuellen und der materialistischen Einwohnerin des neureichen Berliner Westens. Zunächst präsentiert Croner uns die im »Autotempo« allem Neuen nachjagende und am Trubel des Gesellschaftslebens orientierte moderne Jüdin (MJ, 9). Sie peitscht ihren Text durch Anaphern und rhetorische Fragen in einer Art auf, die die Rastlosigkeit ihres beschriebenen Subjekts eindrucksvoll reflektiert: Wer nahm das Bridgespiel […] hier in Empfang und propagierte es […]? Die Jüdin. Wer konnte sich nicht genug tun, als die Biedermeiermode aufkam […]? Die Jüdin. Wer hat Wagner, zwar nicht entdeckt, aber mit einem beispiellos dastehenden Eifer propagiert? Die Berliner Jüdin. (MJ, 7)

Die Auflistung ist damit noch nicht am Ende, aber das kurze Zitat mag hier genügen. Zunächst erscheint diese Beschreibung durchaus schmeichelhaft, werden doch moderne kulturelle Erscheinungen der wachen Sensibilität der Jüdin für das Kommende zugeschrieben und wird sie aufgrund dieser führenden Position im »Wittern« und »Schaffen« des Zeitgeists doch gar als »schöpferisch« apostrophiert (MJ, 8, Heraushebung im Original). Erst beim genaueren Lesen zeigt sich, wie die extreme Häufung der Vokabel des »Neuen« den Begriff gleichsam entleert (MJ, 8–9), wie die Betonung des Rastlosen und des auf die Massen ausgerichteten Vergnügens positive Konzepte wie die geistige Wachheit und Offenheit der modernen Jüdin geradezu erstickt. Und zwei Seiten nach dem ersten, durch den gesperrten Druck so exponierten Erscheinen des Wortes »schöpferisch« wird auch dieses wieder entwertet: Denn die Jüdin schafft zwar die neuen Moden, den Zeitgeist und sogar »den Begriff der Modernität« an sich (MJ, 10), aber sie tut dies »ohne Schöpferwillen«, lediglich im Zuge eines gesellschaftlichen Wett-Hastens, einer »Massensuggestion« ohne Geist und Kreativität (MJ, 10). Croner vertritt hier eine klassisch kulturkritische Position, doch sie ergänzt sie durch einen spezifisch auf den jüdischen Kontext bezogenen Erklärungsansatz: Wenn sie die moderne Jüdin weiter als von Hast und fiebernder Unruhe getrieben beschreibt, von Genuss- und Gefallsucht, Materialismus und Besserwisserei befallen (vgl. MJ, 17–20), so bedient sie sich hier nicht nur eines Vokabulars der Pathologisierung, sondern geht einen Schritt weiter und diagnostiziert die Ursache der Krankheit. Mit Rückgriff auf den Völkerpsychologen Bogumil Goltz führt sie den ostentativen Charakter und die chronische Unruhe der modernen Jüdin auf kulturhistorische Fakten zurück: Die Jüdin wurde »jahrtausendelang herumgehetzt« und hat damit ihre Ruhe eingebüßt; ihre Maßlosigkeit ist »die notwendige Folge von Elend, Armut und Unterdrückung«;

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ihre übertriebene Gestik entspringt der »Zeit, als die Juden gezwungen waren, sich mit aller Macht und Eindringlichkeit Gehör bei ihren Unterdrückern zu verschaffen« (MJ, 11, 15 und 95).17 Diese kulturhistorische Erklärung weist die geschilderten Erscheinungen der Moderne als Störungen in der Grundbestimmung der Jüdin auf, als Erschütterungen ihrer kulturellen Stellung; denn das idealisierte »Wesen« der Jüdin ist im Kern »konservativ«, wie Croner wiederholt insistiert (u. a. MJ, 10 und 11). Interessant ist nun jedoch, dass die Autorin den Begriff des Konservatismus nicht mit dem Bewahren jüdischer Überlieferung in Verbindung stellt. Ihre Schilderung jüdischer Kultur, wo diese überhaupt angesprochen wird, bleibt auffallend verschwommen. Zwar häuft sie den Begriff der Kultur an entscheidender Stelle in ihrem Abschlusskapitel – über acht Zeilen erscheint er sechsmal – , aber außer der Worthülse der »Traditionspflege« liefert sie für den Begriff altjüdischer Kultur nur die folgende leicht tautologische Definition: »[e]ine Summe von Kultur und Ethik, die ganze Fülle altjüdischer Schönheit« (MJ, 148). Das Prinzip der Gläubigkeit hebt sie als wichtig hervor,18 bezieht es aber nie spezifisch auf den Judaismus. So streicht sie im Kapitel über die Religiosität der Jüdin deren »Andacht« und »Sittlichkeit« heraus und betont »Harmonie« und »Gläubigkeit«, Begriffe also, die dem Christentum ebenso wie dem Judentum eignen (MJ, 102). Talmud oder Torah werden nicht ein einziges Mal zitiert, liturgische oder im Familienrahmen zu bewahrende Gebräuche nirgends geschildert. Das Alte Testament (»die Bibel«) liefert zwar weibliche Vorbildfiguren wie die der Rebekka, Rahel oder Ruth (MJ, 14–15), andererseits wird das Festhalten an Werten und Prinzipien der heiligen Schrift aber auch negativ konnotiert: Dem »ungebildeten Juden« zum Beispiel wird zur Last gelegt, dass er an dem »alttestamentarischen Begriff« der Ehefrau als »Eigentum« festhalte (MJ, 59) – und dem jüdischen Kaufmann, dass er »noch immer, unbewusst, der alttestamentarischen Anschauung [huldige], dass Töchter einzig und allein für die Ehe zu erziehen sind« (MJ, 24). In der Auslassung des Verweises auf spezifisch jüdische Überlieferung und in der widersprüchlichen Haltung zur biblischen Lehre zeigt sich ein bemerkenswerter Abstand zu den Traditionen, auf die sich die Autorin doch immer wieder beruft. Tatsächlich enthüllt der Text allmählich, dass Croner, wenn sie vom Konservatismus der Jüdin als ihrer »Urveranlagung« spricht, nicht auf ihre Rolle in der Bewahrung jüdischer Identität abhebt, sondern vielmehr auf das

|| 17 Selbst das Sprach-»Organ« der Jüdin ist das Resultat langjähriger Anpassung: »denn der Kehlkopf der Juden ist jahrtausendelang in den härtesten Gutturallauten geübt worden« (MJ, 92). 18 Vgl. MJ, 100: »Der Begriff ›atheistische Jüdin‹ ist an und für sich schon widersinnig.«

2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« | 31

allgemeine Prinzip traditioneller Weiblichkeit, das sie im Judentum enthalten sieht. »[A]ltjüdische Kultur« und ein konservativer Weiblichkeitsbegriff werden enggeführt; sie sind für Croner so deckungsgleich, dass sie – stilistisch ungeschickt, aber kategorisch – postuliert: »Frauenemanzipation und Judentum sind zwei diametrale Gegensätze« (MJ, 32). In den anderen beiden Negativbildern moderner ‒ und hier als jüdisch apostrophierter – Weiblichkeit bestätigt sich dieser Befund. In Bezug auf Croners Haltung gegenüber der intellektuellen Frau ist in dieser Hinsicht ein Vergleich mit ihrem Roman Das Tagebuch eines Fräulein Doktor von 1908 aufschlussreich. Die fiktive Tagebuchschreiberin – eine promovierte Germanistin, hinter der unschwer Croner selbst zu erkennen ist – arbeitet als Privatlehrerin und als Mitarbeiterin an einer akademischen Zeitschrift. Schwärmerisch lässt sie uns wissen, dass das »gelehrte Forschen […] wie Sekt oder wie Frühlingsstürme« auf sie wirke: »man empfindet dabei doppelt und verzehnfacht, daß man lebt und etwas Neues schafft«.19 Die Unterstellung, Gelehrsamkeit sei unweiblich, stuft sie als »blöde[s] Unverständnis« ein (T, 144), und insgesamt erscheint die selbstständige und intellektuelle junge Frau als ein durchweg positiv gezeichnetes Beispiel einer auf eigenen Füßen stehenden »neuen Frau« (T, 204). Zu diesem Bild passt auch die Affinität, die die Protagonistin dem Großstadtleben gegenüber empfindet. Die »Doppelstimmung des Berliner Herbstes« (»Hier müdes Absterben allen Lebens, dort […] ein Wiedererwachen mit frischen Kräften, […], überall pulsierendes Leben in schnellstem Tempo«) »übt einen großen Reiz auf mich aus«, schreibt sie. »Ich fühle mich schaffenskräftiger und -fähiger als je« (T, 79). Dieser »Reiz« wird jedoch in der zweiten Hälfte des Romans durch die Empfindung des Preisgegebenseins der unbegleiteten Frau in der großstädtischen Umgebung erstickt, ein Zustand, den Croner als »Verzweiflung«, »Grauen«, »Angst« und »Schrecken« schildert (T, 155–157). Wo am Romananfang noch der Genuss der Freiheit des großstädtischen Lebens anklang, stellt die Protagonistin später fest – und hier erscheint sie fast wie eine Vorläuferin von Irmgard Keuns »kunstseidenem Mädchen« – »man ist vogel frei [sic], sowie man die Straße betritt« (T, 154). Von der Beschreibung dieser Erfahrung ist es nur ein kleiner Schritt zu der verallgemeinerten Feststellung, dass man »immer kämpfen muß als alleinstehende Frau« (T, 159); und so lehnt sie schließlich den Lebensentwurf der unabhängigen Akademikerin ab.

|| 19 Else Croner: Das Tagebuch eines Fräulein Doktor. Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1908, S. 91. Hinweise im Folgenden unter dem Kürzel T mit Seitenangabe im Text.

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Eine modellhaft entwickelte Skizze des »wundervolle[n] Verhältnis[ses]« zwischen zwei jungen Eheleuten löst diesen Umschwung aus (vgl. T, 149–152): Die Frau ist auf intellektuellem Gebiet ihrem Mann unterlegen, wird aber aufgrund ihrer »großen Liebe und ihrer natürlichen Begabung« zur Partnerin erhoben, die »verständig«, »ohne geschulte Vorbildung«, »warm aus dem Herzen«, und »mit rührender Bescheidenheit« ihre Meinungen äußert. Die »leuchtende Wärme«, die von diesem Paar ausgeht, lässt die Tagebuchschreiberin sich des »eisige[n] Kältegefühl[s]« um sie selbst gewahr werden. Neben dem »nagenden Hunger nach häuslichem Glück«, den sie plötzlich empfindet, erscheint ihre Arbeit (»diese langweiligen, öden, geschäftlichen Dinge«) nur noch als Surrogat und sie bezieht entschieden Position für die traditionelle, auf Ehe und Mutterschaft ausgerichtete Rolle der Frau. Diese Einstellung ist im frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht eben ungewöhnlich; im Gegenteil, »Intellektualität und Weiblichkeit schlossen sich nach den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft aus«, wie Claudia Huerkamp konstatiert.20 Frauenrechtlerinnen und Befürworterinnen der Frauengelehrsamkeit aber argumentierten bereits im neunzehnten Jahrhundert, die Weiblichkeit der Frau werde von ihrer Gelehrsamkeit nicht beeinträchtigt.21 Nicht so Else Croner. Nicht einmal das sogar schon im achtzehnten Jahrhundert gebräuchliche – und zur Beschwichtigung um ihren Statusvorteil besorgter Männer vorgebrachte – Argument, gelehrte Frauen seien »verständigere Gesprächspartnerinnen für die Ehemänner, qualifiziertere Erzieherinnen für die Kinder und vernünftigere Hauswirtinnen«,22 wendet sie an. Stattdessen zieht sie sich auf den hergebrachten Weiblichkeitsbegriff zurück, der Gelehrsamkeit – sowie auch Berufstätigkeit – als männliche Vorrechte ausschließt. In ihrer Begründung beruft sie sich auf unveränderbare biologische Vorgaben, auf denen sich eine essenzialistische Argumentation aufbaut:23 Man stelle sich, so schlägt Croner

|| 20 Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen, 1900–1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 68. 21 So unter anderen Hedwig Dohm 1876 in Der Frauen Natur und Recht. Sie forderte, Männern und Frauen keine verschiedenen Wirkungskreise zuzuschreiben und auch Frauen die »Möglichkeit einer schrankenlosen Erweiterung der geistigen Erkenntnis« zu gewähren. 2. Aufl. Berlin: Wedekind & Schwieger 1893, S. 127. 22 Susanne Kord: Die Gelehrte als Zwitterwesen in Schriften von Autorinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Angelika Ebrecht u. a. (Hg.): Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1996. Bd 1: Gelehrsamkeit und kulturelle Emanzipation. Stuttgart: Metzler 1996, S. 158–189, hier S. 182. 23 Vgl. ihre Überzeugung, das Betreten »männlicher Pfade« käme einer »Änderung des Naturgesetzes« gleich, die doch nie wirklich überzeugend gelingen könne, da sie die Natur verleugne (T, 202).

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vor, die männlichen Gedanken als eine Reihe glatter, schwarzer Flächen vor, die weiblichen dagegen als farbige Flächen. Ihnen fehlt das Exakte, Tiefschwarze, aber sie haben etwas Schillerndes, Bewegliches, unendliche Variation. Wolle man nun das Bunt mit Schwarz übertünchen, so könne sich daraus keine haltbare Verbindung ergeben. »Diese Flächen haben das Echte, Ursprüngliche zurückgedrängt, und nur das Angenommene, die Tünche, liegt an der Außenfläche.« (T, 205) Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich bei diesen »übertünchten« Flächen um Frauen, die sich, emanzipatorischem Fortschritt zugewandt, gerade zu Beginn des Jahrhunderts neue Freiräume erkämpften: »moderne[] Zwitterfrauen« nach Croner (T, 205).24 Die Tagebuchschreiberin gibt sich selbst als ein solch übertünchtes »buntes Täfelchen« zu erkennen. Nicht aus freier Wahl jedoch hat sie sich die männliche Denkweise zu eigen gemacht, sondern: »Durch eine Schicksalsfügung sah ich mich veranlaßt, mir auch die schwarze Farbe zu leihen« (T, 206). Nun aber sei sie »ganz zufrieden, wenn mit jedem Tag ein Stückchen Schwarz mehr abbröckelt« (T, 207). Die Ambivalenz des Romananfangs mit seiner erstaunlich fortschrittlichen, aber durchaus überzeugenden positiven Zeichnung des Lebensgefühls der akademisch orientierten Protagonistin wird damit negiert und in einem sehr traditionellen Weiblichkeitsentwurf aufgelöst. Die Befürwortung dieses Entwurfs liegt auch Croners Monographie über die ›moderne Jüdin‹ zugrunde. Ohne Umschweife erklärt sie hier: »Das Studium an und für sich bringt der Jüdin kein Glück, keine Befriedigung« – und gibt direkt im Anschluss daran zu bedenken, zwar sei die erste Frau, die an der Berliner Universität die Doktorwürde erreicht habe, eine Jüdin gewesen, es sei aber »vielleicht mehr als ein blosser Zufall, dass diese selbe Frau wenige Jahre nach ihrer Promotion Selbstmord verübt« habe (MJ, 31). Ersetzt man in dem obigen Zitat das Wort ›Jüdin‹ durch den generischen Begriff ›Frau‹, so könnte dieser Satz in jedem anderen von Croners Werken stehen: sei es z. B. in ihrem Roman Erwachen, in dem sie sich für eine weniger akademische, mädchenspezifische Erziehung einsetzt oder in der psychologisch-pädagogischen Abhandlung Die Psyche der weiblichen Jugend (1924). Mit anderen Worten: Croner propagiert in der modernen Jüdin ein Weiblichkeitsbild, das sie auch anderenorts unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit vertrat, wendet es hier jedoch in spezifischer Übertragung auf die

|| 24 Der Begriff ist in zeitgenössischen Publikationen – auch im Umkreis der bürgerlichen Frauenbewegung – weithin gebräuchlich. Vgl. hierzu Ute Frevert: Women in German History. From Bourgeois Emancipation to Sexual Liberation. Oxford: Berg 1989, S. 77; vgl. auch Kord, Die Gelehrte als Zwitterwesen (wie Anm. 22).

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›Jüdin‹ an. Einen gewissen Bildungsstand konnotiert sie durchaus positiv, er ist jedoch Beiwerk – nicht Grundlage – des Idealtypus, der hier entworfen wird, und er ist im Rahmen der »kultivierten Familie« zu vermitteln, nicht notwendigerweise im »Mädchengymnasium« (MJ, 23). Die kulturschaffendenen Leistungen der Mendelssohn-Töchter und Rahel Levins finden zwar Erwähnung, werden aber nicht auf deren eigene akademische Beschäftigung zurückgeführt, sondern auf die Vererbung eines »kühnen Geist[s]« durch die Väter, deren »jahrhundertlange[s] Talmudstudium [sie] scharf und hellsichtig gemacht hat« (MJ, 19–20). Frauenbildung wird also in den Rahmen der Familie – und letztlich auf männliche Leistung ‒ rückgeführt, und die Verbindung von Tradition und Vererbung betont. Um auch gar keinen Zweifel bestehen zu lassen, erkennt Croner zwar gerade den Frauen aus den »kulturell hochstehenden jüdischen Kreisen« die Rolle der »wahren, warmen jüdischen Mütter« zu, erklärt dies aber in einer unerwarteten Wendung nicht mit deren kulturellem Bildungsstand, sondern aufgrund ihrer Bereitschaft, der intellektuellen Betätigung zu entsagen: im Auslöschen »jedes Ich-Gefühl[s]«, im »selbstlosen Zurücktreten und Sich-bescheiden der jüdischen Mütter« (MJ, 40).25 Das Negativbild der intellektuellen Jüdin verweist, wie jenes der rastlos jeder neuen Mode nachjagenden Jüdin, in der Umkehrung eben nicht nur auf die zeitlos-orientalisierte mythische Frau als Mysterium, sondern auf ein Weiblichkeitsideal, das durchaus konkret auf Ehe, Eltern- und Geschwisterliebe und vor allem auf Mutterschaft ausgerichtet ist, und in dem der Begriff der »Häuslichkeit« (MJ, 54) zum Schlüsselwort wird. Croners dritter Negativtypus der modernen Jüdin mag dies noch stärker zu konturieren helfen: Es ist dies der Typus des koketten »Berlin-W«-Mädchens. Der Berliner Westen (»Berlin-W«) wurde in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zum Inbegriff des Wohnorts der Parvenus, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit. Erschien Berlin in den Augen von Kulturkritikern wie Karl Scheffler per se als Stadt tüchtiger, aber unkultivierter Neureicher,26 so spitzte diese Wahrnehmung sich im allgemeinen Diskurs doch auf die westlichen Bezirke der Stadt zu: auf Wilmersdorf, Schöneberg – und allen voran auf || 25 Diese Opferbereitschaft der jüdischen Frau und Mutter hat bei Croner einen bedeutenden Stellenwert; im Abschnitt der modernen Jüdin über »Jüdische Geschwister« wird sie ebenfalls betont (vgl. MJ, 67-69) – und auch Jahre später finden wir sie als eine der herausragenden Tugenden in der im Dritten Reich erschienenen späten Auflage Croners Psyche der weiblichen Jugend wieder: »Das Leben der Frau ist – wenn es köstlich gewesen – heiliger Opferdienst für Familie und Volk«, heißt es hier (Else Croner: Die Psyche der weiblichen Jugend. 6. umgearbeitete und erweiterte Aufl. Langensalza: H. Beyer 1935, S. 12). 26 Vgl. Scheffler, Berlin – ein Stadtschicksal (wie Einleitung, Anm. 48), u. a. S. 165.

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das Tiergartenviertel. Der Prozentsatz jüdischer Einwohner lag hier höher als in anderen Teilen der Stadt und legte die Verknüpfung mit spezifisch jüdischem Parvenutum nahe. Ein relativ früher Text dieser Diskurstradition mag hier als Beispiel dienen: ein Aufsatz von Karl Emil Franzos mit dem Titel »Am Thiergarten«, der in dem Sammelband Die Berlinerin von 1897 erschien. Die Berliner Jüdin, Frau Kommerzienrat Moritz B., erscheint hier als gänzlich assimilierte, in ihrer Lebensweise von ihrer christlichen Nachbarin Frau Kommerzienrat Christian A. kaum zu unterscheidende Bewohnerin »Berlin-W«s. »Zu betonen wäre höchstens«, schreibt Franzos, »dass Frau Christian A. zuweilen fromm ist oder doch so thut, was man von Frau Moritz B. wahrhaftig nicht behaupten kann«.27 Die »Berlin-W«-Jüdin wird hier also nicht nur als assimiliert und als Mitglied einer an materiellen Werten orientierten Gesellschaftsschicht gekennzeichnet, sondern zudem auch als areligiös.28 Auch Croner greift den religiösen »Indifferentismus« und den Materialismus, den Franzos hier anspricht, auf (MJ, 99), ihr Angriff auf den Typus der im Berliner Westen ansässigen Jüdin ist jedoch vornehmlich auf den Kontext der Mädchenerziehung gerichtet. »Berlin-W-Mädchen«, so lautet die Hauptanklage, werden »oft geradezu dressiert, um zu gefallen«; sie werden zu einem Materialismus erzogen, der dem »Hauch von Poesie«, der die Jüdin früherer Zeiten umschwebte, aufs Deutlichste widerspreche (MJ, 24 und 25). Mit allem Aufwand werde versucht, die Mädchen »möglichst reizvoll und begehrenswert für die Ehe erscheinen zu lassen« (MJ, 24), worüber die Ausbildung der inneren Werte in Vergessenheit gerate. Das Buch zur ›modernen Jüdin‹ ist nicht der einzige Ort, an dem Croner diese Anschuldigungen erhob: Fünf Jahre später, 1918, widmete sie sich dem Thema in ihrem Roman Erwachen ausführlicher. Hier zeichnet sie in dem Porträt Dr. Altens, des Direktors einer Mädchenschule, eine programmatische Figur des idealen Erziehers nach dem Vorbild Eduard Sprangers. Dr. Alten tritt der auf Äußerlichkeiten ausgerichteten Mädchenerziehung entgegen, die Croner als typisch für die »Berlin-W-Gesellschaft« kennzeichnet:29 »Den Berlin-W-Mädchen,

|| 27 Karl Emil Franzos: Am Thiergarten. In: Frank (Hg.), Die Berlinerin (wie Einleitung, Anm. 50), S. 401–423, hier S. 417–418. 28 In den frühen Jahren des neuen Jahrhunderts setzte diese Tradition der von Juden und Nicht-Juden geäußerten Kritik an den Parvenus »Berlin-W«s sich fort. Auf Beispiele aus zionistischen Kreisen verweist David A. Brenner: Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in »Ost und West«. Detroit: Wayne State University Press 1998, S. 92–95. 29 Wie Croner beklagte auch Spranger, der zeitweilig an einer privaten Mädchenschule tätig war, die »Unrast« der Moderne und die »Ziellosigkeit, die das ganze ›moderne‹ Dasein zerfrißt«. Er setzt der »Relativität der Standpunkte […], unter der wir heute leiden« eine klare

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soweit ich sie als ›höhere Töchter‹ kennen zu lernen das zweifelhafte Vergnügen hatte, täte Erziehung zunächst mehr not, als Unterricht« – so urteilt der Direktor kurz nach seinem Amtsantritt.30 Eine als Vertreterin einer freiheitlichen Erziehung und als pragmatisch denkende Außenstehende gezeichnete Romanfigur – eine Amerikanerin – bringt das Problem auf den Punkt: »[Sie] erkannte», so schreibt Croner, »mit seltenem Scharfblick die Gefahr der deutschen Mädchenerziehung: Die Mädchen bis zu ihrem siebzehnten oder achtzehnten Jahr als Schulmädchen zu behandeln, sie erst zu kleinen Weiberchen werden zu lassen, ehe man in ihnen die Dame weckt«.31 Diese Kritik an einem Erziehungsprozess, der »dressiert«, statt das Kind als Persönlichkeit zu begreifen und seine ethische Reife zu fördern, spiegelt nicht nur den Ansatz Sprangers, sondern auch eines der zentralen Argumente in Ellen Keys einflussreichem Buch Das Jahrhundert des Kindes (1902), auf das Croner in der modernen Jüdin explizit verweist (MJ, 40). Wieder finden wir also, dass Croner eine an anderer Stelle in ihren Schriften auf allgemeine deutsche – oder genauer: Berliner – Verhältnisse bezogene Kritik in der modernen Jüdin spezifisch auf den jüdischen Kontext umgemünzt anbringt. Zwar ist der Verweis in beiden Werken auf »Berlin-W«, die Konnotation des Jüdischen wird aber in Erwachen nicht explizit gemacht – im Kommentar der Amerikanerin ist generell von der »deutschen Mädchenerziehung« die Rede. Ein bedeutender Unterschied besteht jedoch zwischen diesen beiden erziehungskritischen Kommentaren: Kritisiert Croner in Erwachen einen Mangel der Betonung von Reife und Selbstverantwortlichkeit in der Mädchenerziehung, so stellt sie in der modernen Jüdin die ungenügende Erziehung zu Mütterlichkeit und Mutterschaft in den Vordergrund. Sie beklagt die »Demi-vierge-Moral« der »Berlin-W«-Mädchen (MJ, 48) und diagnostiziert: »In keiner anderen Epoche ist die Mütterlichkeit so sehr unterdrückt worden wie in den letzten zwanzig Jahren; und darin liegt der Kardinalfehler aller Mädchenerziehung. Sie werden statt zu künftigen Müttern zu künftigen ›Amoureusen‹ erzogen«. (MJ, 27) Mit diesem Insistieren auf Mütterlichkeit und Mutterschaft als weiblicher Bestimmung fügt sie sich in einen der am heftigsten debattierten öffentlichen Diskurse ihrer Zeit

|| Ausrichtung an ästhetischen und ethischen Zielen und an humanistischen Prinzipien entgegen. Eduard Spranger: Die Generationen und die Bedeutung des Klassischen in der Erziehung [1924]. In: Eduard Spranger: Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. Hg. von Birgit Ofenbach. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 82–100, hier S. 82–83 und 87. Vgl. auch Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters. 4. Aufl. Leipzig: Quelle & Meyer 1925, besonders der siebte Abschnitt »Das Hineinwachsen des Jugendlichen in die Gesellschaft« (S. 140–165) ist hier von Interesse. 30 Else Croner: Erwachen. Roman aus Berlin-W. Berlin: Otto Janke 1918, S. 39. 31 Ebd., S. 89.

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ein und verankert ihren Text fest im konservativen Lager.32 Doch sie belässt es nicht dabei, mit ihrem Lob der Mutterschaft das bisher entwickelte Ideal der auf Häuslichkeit ausgerichteten Frau zu ergänzen, sondern stellt in einer überraschenden Wendung die Mutterschaft der Jüdin als notwendige Sublimation ihrer Geschlechtlichkeit dar. Sie betont zwar die wünschenswerte Konzentration der Jüdin auf Familie und Mutterschaft, geht aber über diese Beschreibung der Performanz von Weiblichkeit hinaus33 und beschreibt die Jüdin auch als biologische Kategorie: Sie ist, so schreibt sie, »das ›weiblichste Weib‹«, für das das »Geschlechtsleben nicht nur eine Rolle, sondern die Rolle in ihrem Leben [spielt]«. (MJ, 73) Das Klischeebild der sexuell überdeterminierten Jüdin, das zu Beginn des Jahrhunderts unter anderem auf der Grundlage von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter weite Verbreitung fand, wird hier auf beunruhigende Art bestätigt. Weininger hatte das Wesen des Weibes allgemein als personifizierte »Unsittlichkeit« bezeichnet, und das »Hauptziel« der Frauen in der »Herbeiführung des Koitus« gesehen, »als durch welchen sie erst Existenz gewinnen«.34 Doch Weininger bezieht diese allgemein misogynistische Feststellung besonders auf die jüdische Frau. Schon den jüdischen Mann hatte er als »stets lüsterner, geiler […] als der arische Mann« beschrieben. Wo nun Weiblichkeit und Judentum aufeinandertreffen, in der Jüdin, sieht er – durchaus folgerichtig – die essenziell sexuell ausgerichtete Weiblichkeit »so völlig repräsentiert« wie in keiner anderen »Frau der Welt«.35 Aufgrund der Zentralität der Geschlechtlichkeit der Frau unterscheidet Weininger zwei grundlegende Frauentypen: die Dirne, die den Koitus zum Selbstzweck macht, und die Mutter, die für die »Erhaltung der Gattung« sorgt.36 In ähnlich apodiktischer Ausschließlichkeit schreibt Croner: »Das

|| 32 Für einen gänzlich anderen Ansatz, der die Mutterschaft als Bestandteil eines radikalen Feminismus konstituiert, vgl. die Schriften Grete Meisel-Hess’, die in Kapitel 4 dieser Studie verhandelt werden. 33 Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge 1999, besonders S. 171–190. 34 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. München: Matthes & Seitz 1980, S. 444–445. 35 Weininger, ebd., S. 295, 417, 429; vgl. auch Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus. Wien: Löcker 1985. 36 Weininger war durchaus nicht der Einzige, der diese Denkfigur der Dichotomie der Dirne und Mutter benutzte, sie fand in der Literatur der Jahrhundertwende weite Verbreitung. Vgl. auch Sigmund Freud: Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne [1910] (= erster Teil der »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens«). In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd 8: Werke aus den Jahren 1909–1913. London: Imago 1943, S. 65–77.

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heisse Wallen jüdischen Blutes gibt nur zwei Möglichkeiten der Weibseele: die Entfaltung der Mütterlichkeit oder die Entfaltung der Sinnlichkeit. Ein drittes gibt’s nicht unter Jüdinnen« (MJ, 26–27). Croners Ton ist überzogen – und er überrascht: Hat sie die Beispiele Rahel Levins und der Mendelssohn-Töchter, die sie selbst nur wenige Seiten zuvor angeführt hatte, schon wieder vergessen? Noch mehr befremdet die gefährliche Nähe zu den misogynistischen und antisemitischen Thesen Weiningers. Mit Verweis auf dessen Vorwurf der ungebändigten Sexualität der Jüdin hat Sander Gilman aufgezeigt, wie Croner diese negative Bildlichkeit in Bezug auf die Westjüdin positiv umdeutet, indem sie deren – in Mutterschaft und Ehe – kontrollierte Sexualität mit der destruktiven Geschlechtlichkeit der Ostjüdin kontrastiert. Dies ist richtig, aber Croners Zuschreibung des Geschlechtslebens als bestimmende Kraft im Wesen der Jüdin ist damit ‒ auch für die Westjüdin ‒ nicht aufgehoben: eine Tatsache, die kritische Leserinnen schon zum Zeitpunkt der Erstpublikation der modernen Jüdin zu Recht als befremdlich empfanden.37 Möglich ist die positive Umdeutung der Geschlechtlichkeit im Kontext der weitverbreiteten Sorge um die Gesundheit und Zukunft der Nation, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verschiedene Bewegungen auf den Plan rief, die den Kinderreichtum als nationalen Auftrag definierten.38 In diesem Klima war es opportun, von der »Gloriole der Fertilität« und von den »ursprünglichsten Gattungstrieben« zu sprechen (MJ, 36 und 38) und der Jüdin die Beschäftigung mit der Eugenik ans Herz zu legen (MJ, 36). Tatsache bleibt jedoch, dass die jüdische – und hier ganz spezifisch die jüdische (!) ‒ Ehe weniger als Seelengemeinschaft zweier Menschen als vielmehr als Mittel der Kanalisierung der »heiße[n] […] Sinnlichkeit« der Jüdin beschrieben wird (MJ, 26). Indem Croner die Unterscheidung der jüdischen von der christlichen Ehe auf eben diesem Unterschied aufbaut – die christliche Ehe gründe sich auf das »Ideal der seelischen Liebe«, schreibt sie (MJ, 75), während Jüdinnen oft »ohne metaphysische Bedürfnisse« heiraten, weil die Ehe für sie »unabweisbares Naturerfordernis« ist (MJ, 48) –, verleiht sie ihrer Schilderung einen Unterton, der antisemitischen Klischees Vorschub leistet. Die folgende Beschreibung frühreifer sexueller Interessen jüdischer Mädchen belegt dies zusätzlich: »Könnten noch heute alle jüdischen jungen Mädchen in dem Alter heiraten, in dem ihre Körperreife es verlangt, so gäbe es keine ›Lästerallee‹ des Zoologischen Gartens und keine Demi-vierge-

|| 37 Vgl. z. B. Sidonie Werner: [Rezension von] »Die moderne Jüdin«. In: Im Deutschen Reich (1914), H. 2 (Februar), S. 49–55, hier S. 51. 38 Auch hierzu vgl. Kapitel 4 über Grete Meisel-Hess und den Bund für Mutterschutz.

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Moral«, schreibt Croner – und führt damit gesamt-gesellschaftliche Erscheinungen ›unmoralischen‹ Verhaltens spezifisch auf jüdische Mädchen zurück. So weit gilt es festzuhalten, dass Croner die moderne Jüdin in ihren drei Inkarnationen als hastende Manifestation eines flüchtigen »Zeitgeists«, als Intellektuelle und als »Berlin-W«-Mutter, die ihre Tochter zu oberflächlicher Gefallsucht statt zur Mutterschaft erzieht, dem Idealbild der an traditionellen Werten ausgerichteten jüdischen Frau entgegenstellt. Diese traditionellen Werte werden nicht im Hinblick auf spezifisch jüdische Inhalte definiert, sondern auf Aspekte einer konservativ gefassten Weiblichkeit bezogen, die hier in einer Weise beschrieben werden, die Croners Argumentationen in ihren anderen – nicht auf den jüdischen Kontext ausgerichteten – Publikationen entspricht. Spätestens wenn Croner sich nun mit ihrer Betonung der Geschlechtlichkeit als Mittelpunkt des Lebens der Jüdin in gefährliche Nähe zu antisemitischen Diskursen begibt, wird offensichtlich, dass der von ihr nahegelegte Rezeptionskontext der ›Jüdischen Renaissance‹ durch andere Kontexte und Diskurse über die Jüdin gestört und unterlaufen wird. Über Widersprüche und Brüche in ihren Ausführungen werden Ambivalenzen offenbar, die nie recht aufgelöst werden: so die Beschreibung der idealisierten Jüdin als Europäerin oder als Orientalin, das gleichzeitige Beklagen alttestamentarischer Anschauungen und religiöser Verflachung oder die Kritik an der Praktik, Töchter nur für die Ehe zu erziehen und das gleichzeitige Propagieren der Ehe und Mutterschaft als einzigem Ziel für die Jüdin. Untrennbar mit Croners Ausführungen zu Judentum und Weiblichkeit verknüpft ist ihre Diskussion des Verhältnisses der Berliner Jüdin zu ihrer großstädtischen Umgebung. Da die großstädtische Lebensumwelt und die Verhaltensweisen, die sie hervorbringt, Croners Ideal der Häuslichkeit und der traditionellen Frauenrolle, die sie propagiert, grundsätzlich widersprechen, ließe sich erwarten, dass der Berlin-Diskurs in der modernen Jüdin parallel zu ihrer kulturkritischen binären Darstellung von Tradition und Moderne verliefe und dass das zeitgenössische moderne Berlin negativ konnotiert werde. Tatsächlich ist dies aber nur der Fall, wo es spezifisch um das Viertel der Parvenus geht, um »Berlin-W«, den Hort der als modern apostrophierten »laxen Sitten und frivolen Ansichten« (MJ, 22). Wie im Tagebuch eines Fräulein Doktor, so lassen sich auch im Großstadtbild in der modernen Jüdin interessante Ambivalenzen ausmachen. Im Kontrast zu der anfänglichen Schilderung der rastlosen, unermüdlich dem Neuen nachjagenden gesellschaftlichen Aktivität der modernen Jüdin, bietet das vorletzte Kapitel des Buchs, »Die Jüdin in der Provinz«, eine Überraschung. Hier stimmt die Autorin ein Loblied auf Berlin an und erklärt katego-

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risch: »[D]as jüdische Frauentemperament an und für sich inkliniert für das Leben in der Großstadt.« (MJ, 144) Der Text oszilliert hier zwischen positiv und negativ belegten Aspekten: Unsicherheit wird allein schon durch Croners Terminologie hervorgerufen, denn das Gegensatzpaar »Jüdin« vs. »moderne Jüdin«, sonst im Text mehr oder weniger konsequent kontrastiv gebraucht, ist hier durch den einheitlichen Begriff »Jüdin« ersetzt. Wurde die »Jüdin« zuvor als ein auf Häuslichkeit und Mutterschaft fokussierter Idealtypus beschrieben, so erstaunt es, das Croner nun auf die Vorzüge der Großstadt in Bereichen hinweist, die damit wenig zu tun haben: Die Jüdin bewegt sich nirgends so vollkommen nach ihrem Behagen wie in Berlin. Hier kann sie am ausgiebigsten und billigsten ihren Wissensdurst befriedigen, kann ihre Talente nach Belieben ausbilden lassen und verwerten, sie kann aber auch hier, viel ungenierter als in irgendeiner anderen Stadt, einem kaufmännischen oder sonstigen Erwerbsberuf nachgehen. (MJ, 144–145)

Ähnlich der rhetorischen Bewegung im Anfangskapitel, in dem die moderne Jüdin als Inbegriff des Zeitgeists vorgestellt wurde, schwenkt der Text aus der positiven Schilderung eines weiten geistigen und räumlichen Aktionsradius geradezu unmerklich in ein Negativbild um. Spätestens wenn es um das »ungenierte« Ausüben eines Erwerbsberufs geht, kollidiert diese Beschreibung mit dem Idealbild der »veredelten und kultivierten Orientalin«, die – über den Großteil des Texts vernachlässigt und fast vergessen ‒ hier nun nur zwei Seiten später wieder aufgerufen wird. Die Unsicherheit des Leseprozesses, die hier erzeugt wird, wird nicht weiter kommentiert. Im Folgenden verstärkt sie sich noch, wenn Croner die Affinität der Jüdin zur Großstadt auch psychologisch-biologistisch belegt: »Ihre Nerven vibrieren wie neu belebt auf dem Asphalt der Berliner Strassen.« (MJ, 145) Rhetorisch gekonnt zieht sie ihre Leser in den Strudel der Großstadterfahrung, mischt Positives und Negatives in verwirrendem Durcheinander (»je intensiver die Sensationen, je hastiger das Tempo des Lebens, je schwelgerischer die Genüsse, je wechselvoller die Anregungen«), um schließlich die Schilderung auch hier wieder im negativen Bereich »moderner […] Moden, rastloser […] Menschen und restlosen […] ›Sich-Ausleben[s]‹« münden zu lassen. Erst am Ende der aufpeitschenden Aufzählung, die durch neun mit dem Wörtchen »je« eingeleiteten Halbsätzen besteht, in den letzten Wörtern des Satzes – und des Kapitels – rüttelt Croner ihre Leser gleichsam zur Besinnung und gibt einen Hinweis auf die intendierte Lesart: »[J]e restloser ›das Sich-Ausleben‹ – desto heimischer, aber auch desto widerstandsfähiger fühlt sich die Jüdin,« heißt es hier (MJ, 145; meine Hervorhebung). Widerstandsfähigkeit gegen die Versuchung des Allzu-Modernen

2.2 Die ›moderne Jüdin‹ und die Trägerin »altjüdischer Kultur« | 41

zu entwickeln ist also das Ziel. Die Verunsicherung, die der Text hervorruft, deutet aber weniger auf eine rhetorisch souveräne Leserlenkung hin als auf eine unscharfe Gedankenführung der Autorin und auf tiefer liegende Ambivalenzen in ihrer Einstellung zum Großstadtleben. Auffallend ist, dass Croner nirgends den Rückzug aus Berlin anmahnt. Zum Teil ist dies sicher auf die geistige Vielfalt zurückzuführen, die sie der Großstadt zugesteht; doch sie bezieht sich explizit auch auf den Spielraum, der der Jüdin im nationalen Klima eines wachsenden Antisemitismus in Berlin gewährt wird: Aufgrund der Anonymität der Großstadt verliert nach Croner der Antisemitismus in Berlin »seine Spitze«, und sie fragt: »Wer weiss in einer Millionenstadt, ob eine ihm neu vorgestellte Persönlichkeit Christin oder Jüdin ist, vorausgesetzt, dass Name und Aussehen einigermassen indifferent sind?« (MJ, 141). Liest man dies im Kontext der dissimilatorischen Rhetorik der ›Jüdischen Renaissance‹, so erwartet man nun eine negative Bewertung solcher ›Mimikry‹, diese jedoch bleibt aus. Statt stolz auf ihre Identität als Jüdin hinzuweisen, redet Croner hier einem Verschwinden in der Masse, einer Strategie der Unsichtbarkeit das Wort. Dies überrascht, steht diese Strategie doch der im Vorwort aufgerufenen Intention entgegen, den Typus der noch nicht assimilierten Jüdin zu schildern und stolz ihren Rang als »Kulturträgerin« herauszustellen. Tatsächlich setzt die Autorin sich für einen Prozess der Assimilation ein, den sie als zweistufig angelegte Zukunftsvorstellung dem als mangelhaft beschriebenen Ist-Zustand gegenüber stellt. Zunächst muss »[d]er Typ der veredelten und kultivierten Orientalin […] zurückerrungen werden« (MJ, 146), so schreibt sie, um kurz darauf den Rückerwerb dieses Idealtyps lediglich als Stufe in der Entwicklung zur Assimilation zu beschreiben: Die neue [d. h. die deutsche] Kultur erwerben, in sich aufnehmen und organisch mit ihr verschmelzen – ohne auch nur ein Atom der älteren Kultur aufzugeben – das ist der wahre, segenbringende und fruchtbare Assimilationsprozess, den wir erstreben müssen. (MJ, 148)

Ein solches »Verschmelzen« jedoch – ohne Aufgabe jeglicher Inhalte – ist nur schwer aus dem rein idealistischen Denkbereich zu lösen, und die Autorin scheint dies auch zu ahnen, wenn sie das Ideal als »seltsame Mischung« beschreibt (MJ, 148); jedenfalls gibt sie keinerlei Hinweise darauf, wie ein solcher als »harmonisch« imaginierter zukünftiger Zustand zu erreichen sei. Im Gegenteil: nur zwei Seiten zuvor hatte sie auf die unüberbrückbaren Verschiedenheiten der Kulturen hingewiesen: auf die »grossen Wesensunterschiede, […] die grundlegenden Verschiedenheiten in bezug auf Lebensauffassung, philosophische Weltanschauung und Religion« (MJ, 146). So bleibt die »Doppelkultur«, die

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Croner propagiert, theoretisch; die Gegensätze zwischen Dissimilation und Assimilation bleiben unvereinbar nebeneinander stehen und verweisen auf einen unlösbaren Konflikt. Die hier aufgedeckten Brüche und Kreuzungen assimilatorischer, dissimilatorischer und als antisemitisch interpretierbarer Diskurse zur jüdischen Identität machen die von der Autorin selbst nahegelegte Einordnung des Texts in die Bewegung der ›Jüdischen Renaissance‹ fraglich. Deutlich tritt jedoch die Konvergenz der Konzeptionen einer konservativen Weiblichkeit in der modernen Jüdin und Croners anderen Werken hervor. Aufbauend auf diesen Feststellungen soll im Folgenden nach möglichen Rezeptionskontexten gefragt werden. Auf der Grundlage einer Untersuchung der Haltung der Autorin selbst zu ihrem Beschreibungsobjekt und zu ihrem eigenen Judentum soll zudem ein Versuch unternommen werden, Erklärungsansätze für die Überkreuzung und Kollision von Diskursen zu finden, die diesen Text kennzeichnen.

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang: ›Jüdische Renaissance‹ – Reformjudentum – Völkerpsychologie Wie bereits dargelegt, betont Croner ihr Anliegen, ja ihr »Bedürfnis« (MJ, 5), die Besonderheit der Jüdin hervorzuheben. Sie charakterisiert die ›Jüdische Renaissance‹ als bisher ausschließlich männliche Bewegung und weist ihrem Buch über die ›moderne Jüdin‹ die Aufgabe zu, Impulsgeber für die Neubesinnung jüdischer Frauen zu sein und über die »Wiederbelebung aller edlen Stammeseigentümlichkeiten« hinaus das Bewusstsein für ihre »inneren Werte[]« zu stärken (MJ, 146). Die allgemein ethische Ausrichtung dieses Anliegens ist im Kontext der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung nicht ungewöhnlich. In der Forschung wird immer wieder der heterogene Charakter der Bewegung betont, der von völkisch-national ausgerichtetem politischem Zionismus zu Strömungen reichte, für die »nationale Selbstbesinnung und Akkulturation [sich nicht] widersprachen«.39 Gemeinsam war allen Faktionen die modernekritische Wendung, die den Ruf nach einem ganzheitlich-ethischen Konzept des Judentums nach sich zog.

|| 39 Andreas Herzog: Zur Modernitätskritik und universalistischen Aspekten der ›jüdischen Renaissance‹ in der deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und 1918. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (November 1997): http://www.inst.at/ trans/2Nr/herzog.htm (04.01.2016); vgl. auch Bertz, Politischer Zionismus (wie Anm. 13), S. 156.

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang | 43

Aber wie passt die Betonung traditioneller Weiblichkeit als bestimmendes Element der idealen jüdischen Frau in diesen Kontext? Zum Vergleich mag hier ein Blick auf Schriften anderer Autorinnen hilfreich sein, die ihre Stimme im Namen der ›Jüdischen Renaissance‹ erhoben. Paula Winkler, Martin Bubers spätere Ehefrau, ist hier als erste zu nennen, die sich 1901 in einem Aufsatz über »Die jüdische Frau« für deren aktive Unterstützung jüdischen »Nationalgefühl[s]«, jüdischer Kunst und Literatur aussprach.40 Zwar ist für sie die Erfüllung der Mutterrolle durchaus eine wichtige Aufgabe der jüdischen Frau, doch sie spricht ihr auch über den Rahmen der Familie hinaus einflussreiche Wirkungsmöglichkeiten zu: »Sie könnte Grosses leisten im Dienste der Wieder-Geburtsbewegung«, schreibt Winkler und begründet dies wie folgt: Vor den Frauen ihrer heutigen Umgebung hat sie die weit geringere Scheu vor der Öffentlichkeit voraus, ihr lebhaftes Aeusserungsvermögen und Aeusserungsbedürfnis. Ich habe in Versammlungssälen, bei Vorträgen und Protesten sich jüdische Frauen mit der grössten Unbefangenheit und Freimüthigkeit bewegen sehen. Sie hat das von vorneherein, wozu die Frauenbewegung die deutsche Frau sehr mühsam und noch sehr wenig erzogen hat: den Muth, aus der deckenden Masse hervorzutreten.41

Eine andere namhafte Mitstreiterin Bubers war Bertha Badt, die 1908 als erste Frau an der philosophischen Fakultät der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität Breslau mit einer Arbeit über Annette von Droste-Hülshoff promovierte und in einer Reihe von Vorträgen und Aufsätzen sowie auch im Vorwort zu einem Sammelband von Briefen und Zeugnissen Rahel Levins die kulturellen Errungenschaften jüdischer Frauen und damit ihre Vorbildfunktion propagierte.42 In diesem 1912 geschriebenen Vorwort charakterisiert und feiert sie Rahel als Frau, die sich, als Jüdin und als Liebende gedemütigt, aus erstickenden Konventionen und Denktraditionen befreite und so, aufgrund dieser selbst geschaffenen »Voraussetzungslosigkeit« zur »Selbstdenkerin« wurde.43 Für die

|| 40 Vgl. Paula Winkler: Die jüdische Frau. In: Die Welt. Zentralorgan der zionistischen Bewegung 45 (8. November 1901), S. 2–4 und 46 (15. November 1901), S. 6–7, hier Die Welt 46, S. 6. Winkler konvertierte 1907 zum Judentum. 41 Winkler, Die jüdische Frau (wie Anm. 40), Die Welt 45, S. 3. 42 Bertha Badt: Rahel und ihre Zeit. Briefe und Zeugnisse. München: Eugen Rentsch 1912. Zu Biographie und Werk Bertha Badts vgl. Martina Steer: Bertha Badt-Strauss (1885–1970). Eine jüdische Publizistin. Frankfurt a. M.: Campus 2005 (Campus Judaica; 22). 43 Badt, Rahel und ihre Zeit (wie Anm. 42), S. 13 und 9. In Badts Bild der reformorientierten freien Denkerin Rahel verknüpfen sich die Diskursstränge der jüdischen und der Frauenemanzipation und der geistig belebenden Berliner Lebensumwelt, »die das Durcheinanderfluten

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Philosophin Margarete Susman, die Frau, die das Gedankengut der ›Jüdischen Renaissance‹ vielleicht am nachhaltigsten vertreten hat, ist die Bedeutung jüdischer Weiblichkeit in erster Linie spiritueller Natur.44 »Das Symbol der weiblichen Erlösung«, so schreibt sie in ihrem Essay Vom Sinn der Liebe (1912), »ist das Gebären Gottes. Die Verkündigung lautet nicht: Du sollst den Menschen gebären; sie lautet: Du sollst Gott gebären. Und das ist die Bestimmung der weiblichen Seele.«45 Johanna Simon-Friedberg, die hier als viertes Beispiel angeführt sei, verfolgte einen wieder anderen Weg des Beitrags zur ›Jüdischen Renaissance‹. In einem Vortrag mit dem Titel »Gegenwartsaufgaben der jüdischen Frau« wandte sie sich 1913 an die – durchaus positiv konfigurierte – Berliner »moderne jüdische Frau«, die nicht nur Mutter und Ehefrau sei, sondern auch »Mitkämpferin fürs Recht der Frauen«.46 Dieser modernen Jüdin legt sie nun die Hinwendung zu ihrer spezifisch jüdischen Identität ans Herz: durch den Erwerb »jüdischer Kenntnisse« und die »jüdisch-soziale Arbeit«.47 Letztendlich ist ihre Argumentation darauf ausgerichtet, Frauen, die »sich in das Reich der [überkonfessionellen] Frauenbewegung« geflüchtet hatten, »weil es breitestes Allgemeingut war«, statt dessen für den Verband jüdischer Frauen für Kulturarbeit in Palästina anzuwerben.48 Hinter dieser zionistischen Ausrichtung der Agitation steht nicht nur eine Konkurrenz verschiedener Frauenverbände, sondern eine resignative Haltung bezüglich der Stellung der Juden in Deutschland und des wachsenden Antisemitismus. Dies wird in ihrem abschließenden Aufruf deutlich: »Die jüdische Frau, auch die deutsch-nationale, darf im allgemeinen Menschlichen nicht aufgehen, das so völlig versagt, wenn es sich um Juden handelt, die doch auch mit zur ›allgemeinen Menschheit‹ gehören.«49 Ganz ähnlich argumentiert auch Siddy Wronsky, ebenfalls Zionistin, die darauf verweist, dass die Juden lange genug am »Aufstieg des deutschen Volkes« mitgeholfen hätten, es nun aber an

|| verschiedener Menschen, Elemente und Nationalitäten noch ganz anders mit sich brachte als das kleine Jena«. Ebd., S. 17. 44 Vgl. Nordmann, Wie man sich in der Sprache fremd bewegt (wie Einleitung, Anm. 46), S. 227–267. 45 Margarete Susman: Vom Sinn der Liebe. Jena: Eugen Diederichs 1912, zitiert nach Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin: Hentrich & Hentrich 2014, S. 191. 46 Johanna Simon-Friedberg: Gegenwartsaufgaben der jüdischen Frau. Vortrag gehalten am 25. November 1913 in Berlin. Berlin: Siegfried Scholem 1914, S. 3. 47 Ebd., S. 10 und 11. 48 Ebd., S. 16–17. 49 Ebd., S. 28.

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang | 45

der Zeit sei, im eigenen Rahmen zu wirken. Sie bezieht sich ausdrücklich auf Bubers Aufruf, der »kulturschöpferischen Kraft« des Judentums zum Durchbruch zu verhelfen, und nimmt diesen als Anlass, um für das Engagement von Jüdinnen auf den Gebieten »der Sittlichkeit, der Erziehung und der Wohlfahrtspflege« zu werben.50 Aus all diesen Stellungnahmen lässt sich die Sorge um die »vollständige Auflösung aller ursprünglichen jüdischen Kräfte« herauslesen,51 eine Sorge, der auch Croner in ihrem Vorwort Ausdruck verleiht. Auffallend ist jedoch, dass trotz der unterschiedlichen Ausrichtungen der einzelnen Appelle (ob vornehmlich kulturell oder sozial engagiert), die ›Jüdische Renaissance‹ für alle hier zitierten Frauen mit einer emanzipatorischen Bewegung und mit schöpferischem oder öffentlich wirksamem organisatorischen Engagement einhergeht. Sie betonen kulturelle Leistungen und geistige Selbstständigkeit oder soziales Engagement über die Mutterrolle hinaus oder leisten, wie Susman, einen Beitrag zur Definition einer spirituellen und philosophischen Position weiblicher Differenz. Keine dieser Autorinnen propagiert den Rückzug auf die traditionelle Frauenrolle in der Weise, wie Croner es tut, die noch dazu der Jüdin jegliche schöpferische Kraft geradezu aberkennt – die Malerei bezeichnet sie als eine »direkt […] ›unjüdische‹ Kunst« und auf literarischem Gebiet, so schreibt sie, »versagen [die Jüdinnen] mit seltenen Ausnahmen«, was auf »ihren Mangel an Phantasie zurückzuführen« sei (MJ, 28 und 33). Insofern fällt Croner aus dem Rahmen des gängigen zeitgenössischen Diskurses heraus, wie er spezifisch unter Frauen geführt wurde, die sich in der ›Jüdischen Renaissance‹-Bewegung engagierten. Die Selbstzuordnung der Autorin und der im Vergleich offensichtliche Befund inhaltlicher Divergenz – unterstützt auch durch die zuvor beschriebene ambivalente Haltung Croners zum Judentum – stehen sich hier gegenüber, und es wird nach Gründen für diese Unstimmigkeit zu fragen sein. Zunächst bietet es sich jedoch an, auf der Suche nach einem Diskurskontext, der Croners rückwärtsgewandtes Modellbild der Jüdin spiegelt, etwas weiter zurückzugreifen, nämlich auf Entwürfe, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Kreise des Reformjudentums publiziert wurden und die im Zeichen des Versuchs standen, die jüdische Religion und Liturgie mit der akkulturierten Lebensweise der deutschen Juden in einen sinnvollen Zusammenhang und harmonischen Einklang zu bringen. In Anlehnung an den Protestantismus hatte

|| 50 Siddy Wronsky: Die Aufgaben der jüdischen Frau unter den modernen Zeitverhältnissen. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 79 (1915), S. 8–11 und 21–23, hier S. 9. 51 Ebd.

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die Berliner Reformgemeinde, die 1854 ihren eigenen Tempel in der Johannisstraße erhielt,52 hierarchische Strukturen, Gebote und Regeln jüdischer Orthodoxie gelockert, die deutschsprachige Liturgie eingeführt und die Bedeutung ritueller Handlungen durch eine neue Betonung der Predigt ersetzt.53 Aus Schriften leitender Persönlichkeiten der Bewegung ist ersichtlich, wie ernst den Reformern die Intention war, die deutschen Juden in die nationale Kultur einzugliedern und gleichzeitig ihre Differenz zu bewahren. Moritz Lazarus zum Beispiel, einer der führenden Denker der Gemeinde, hatte schon 1869 in einer Rede auf der Synode in Leipzig auf die Relevanz des Judentums gerade in der modernen vom Materialismus beherrschten Zeit hingewiesen.54 Auch als immer deutlicher wurde, dass den Juden von christlicher Seite diese vermittelnde Rolle zwischen moralischem Idealismus und Moderne nicht zuerkannt werden sollte, fuhr Lazarus fort, die ethische Bedeutung des Judentums für die Gesamtgesellschaft zu betonen, die er im Kontrast zu dem stärker individualistisch ausgerichteten Protestantismus in der Betonung des Gemeinschaftlichen sah.55 Das Reformjudentum hatte wichtige Schritte zur Gleichstellung der Frau im Rahmen der religiösen Praktik unternommen,56 über diese hinausgehend lehnten die Vordenker der Bewegung weibliche Emanzipationsbewegungen jedoch ab. Meyer Kayserlings Buch an die jüdische Frau, 1879 unter dem Titel Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst veröffentlicht, sei hier stellvertretend für viele Stimmen genannt, die die Häuslichkeit der jüdischen Frau über alle anderen Eigenschaften stellten.57 Wie Katharina Gerstenberger gezeigt hat, zielten die meisten der Texte, die sich in dieser gedanklichen Tradition spezifisch mit der Charakterisierung und Aufgabenzuschreibung der Jüdin beschäftigten, einerseits darauf ab, die Funktion der Mutter als Erzieherin – und

|| 52 Für eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Berliner Reformgemeinde vgl. Simone Ladwig-Winters: Freiheit und Bindung. Zur Geschichte der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin von den Anfängen bis zu ihrem Ende 1939. Teetz: Hentrich & Hentrich 2004. 53 Vgl. Meyer, Response to Modernity (wie Anm. 10), S. 143. 54 Vgl. ebd., S. 190. 55 Vgl. Moritz Lazarus: Die Ethik des Judentums. Bd 1. Frankfurt a. M.: Kaufmann 1898; der zweite Band wurde erst 1911 von Jakob Winter und August Wünsche aus Lazarus’ Nachlass herausgegeben (Frankfurt a. M.: Kaufmann 1911). 56 So saßen Frauen und Männer nicht mehr in getrennten Bereichen und ein neuer Trauungsritus wurde eingeführt, der die rein passive Rolle der Frau im orthodoxen Ritus aufhob und vorsah, dass beide Ehepartner sich einander weihten. 57 Vgl. Meyer Kayserling: Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst. Leipzig: Brockhaus 1879, S. 6.

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damit als Garantin der Tradierung jüdischer Religion und Kultur – hervorzuheben, andererseits aber auch darauf, durch Verweis auf ihren hohen Status innerhalb der Familie ihre Modernität in den Augen der christlichen Nachbarn hervorzuheben.58 Gerstenberger zitiert einen Text Raphael Breuers mit dem Titel Aus dem Tagebuch einer jüdischen Studentin (1907), in dem Ehe und Mutterschaft gegenüber dem Intellektualismus des Studiums der Vorzug gegeben wird.59 Sie betont die männliche Autorschaft dieses fiktiven Tagebuchs und kommentiert – sicher zu Recht –, es reflektiere in erster Linie männliche Ängste.60 Es spiegelt jedoch genau die Anlage von Croners 1908 erschienenem Roman Das Tagebuch eines Fräulein Doktor, der ebenfalls als fiktives Tagebuch konfiguriert, aber in einem von Konfession oder Ethnizität nicht näher bestimmten Raum angesiedelt ist. Auf einen anderen Text aus diesem Umfeld hat Barbara Hahn in ihrem Buch Die Jüdin Pallas Athene hingewiesen: auf Nahida Remys Abhandlung über Das jüdische Weib von 1891. Hahn stellt Remys und Croners Texte in denselben Publikationskontext von »Büchern und Artikeln, geschrieben von jüdischen Frauen im kurzen Jahrhundert deutsch-jüdischer Geschichte, [in denen] […] ›die Jüdin‹ als Kategorie[] [erscheint], um einen Ort in der ›deutschen‹ Kultur zu bestimmen«.61 Tatsächlich ist der Vergleich von Remys jüdischem Weib mit Croners moderner Jüdin lohnend, denn er zeigt nicht nur Parallelen auf, sondern auch die Verschiebungen zwischen den beiden Texten, die teils auf persönliche Schwerpunktsetzungen der beiden Autorinnen zurückgehen (oder auch auf aktuelle Diskussionskontexte, die 1913 deutlich anders liegen als 1891), die aber darüber hinaus auch Einsichten in Unterschiede der Textkonstruktion und Autorenhaltung vermitteln, die wesentlich zur Entschlüsselung von Croners Abhandlung in all ihrer Widersprüchlichkeit beitragen. In einigen Bereichen sind die beiden Texte einander so nah, dass davon ausgegangen werden muss, dass Croner Remys Buch nicht nur kannte, sondern stark darauf zurückgriff und teils auch wörtlich daraus zitierte. Die Schreibmo-

|| 58 Vgl. Katharina Gerstenberger: Truth to Tell. German Women’s Autobiographies and Turnof-the-Century Culture. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2000, Kapitel 1: »Becoming An/Other: The Conversions of Nahida Ruth Lazarus«, S. 25–63, hier S. 38. Gerstenberger weist darauf hin, dass innerhalb dieses vornehmlich von männlichen Autoren entwickelten Diskurses Mutterschaft als »the single most important criterion of idealized Jewish female identity« konstruiert wird (S. 41). 59 Raphael Breuer: Aus dem Tagebuch einer jüdischen Studentin. Frankfurt a. M.: Knauer 1907. 60 »This fictional diary, to be sure, says much about male anxieties and very little about the realities of Jewish women students.« Gerstenberger, Truth to Tell (wie Anm. 58), S. 41. 61 Hahn, Die Jüdin Pallas Athene (wie Einleitung, Anm. 35), S. 99.

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tivation, die Croner ihrer modernen Jüdin voranstellt, das »Bedürfnis […], einen Typus Frau noch einmal mit ein paar Griffelzügen festzubannen«, ehe er von Nivellierungen, Hass oder Gleichgültigkeit »verwischt wird« (MJ, 5), ist in dem Vorwort, das Moritz Lazarus Nahida Remys jüdischem Weib voranstellte, bereits vorweggegriffen.62 Schon hier ist die Rede von einem »Bedürfnis«, womit eine gewisse Dringlichkeit und innere Beteiligung apostrophiert wird. Diese Dringlichkeit wird in beiden Publikationen in sehr ähnlichem Duktus erklärt: Der Versuch des Festhaltens der als bedroht empfundenen Eigenheit der Jüdin steht auch bei Remy im Vordergrund, die die Hoffnung ausdrückt, die Jüdin möge »aus dem Sumpf der Oberflächlichkeit und der Dürre des Indifferentismus retten, was noch zu retten ist«.63 Auch Bildlichkeit und Themenstellung sind fast identisch: Sowohl Lazarus (im Vorwort zu Remys Buch) als auch Croner verwenden die Metaphorik des Malens und Zeichnens, beiden geht es darum, ein »Bild« zu entwerfen, einen Gesamteindruck, einen »Typus«. Vor allem aber gleicht das Ideal jüdischer Weiblichkeit, das Croner heraufbeschwört, dem Remys. Für beide Autorinnen sind Häuslichkeit, Ehe und Mutterschaft als Leitbegriffe zentral.64 »Mutter zu werden ist der höchste Ehrgeiz der Jüdin«, formuliert Remy – und bezieht sich dabei sowohl auf die biologische Aufgabe als auch den erzieherischen Auftrag.65 Auffallend ist jedoch, dass Remy die jüdische Mutterschaft nicht mit dem Begriff ausgeprägter Geschlechtlichkeit in Verbindung bringt; sie spricht die Sexualität der Jüdin an keiner Stelle an – im Gegenteil hebt sie wiederholt deren Keuschheit hervor.66 Im Vergleich hierzu sticht Croners Behandlung des Themas umso mehr heraus, was einerseits auf die Anknüpfung an bevölkerungspolitische Ziele verweisen mag, die erst nach der Veröffentlichung von Remys Text virulent wurden, andererseits aber auch auf eine Nähe zum negativ besetzten antisemitischen Klischeebild. Wie Croner stellt auch Remy ihrem Ideal der konservativ orientierten Jüdin das Negativbild der zeitgenössischen Jüdin entgegen: Ihre »Jüdin der Gegenwart« ist weitgehend deckungsgleich mit Croners Entwurf der ›modernen Jü-

|| 62 Moritz Lazarus: Vorwort. In: Nahida Ruth Lazarus (Nahida Remy): Das jüdische Weib. 3. Aufl. Berlin: Siegfried Cronbach 1896, S. III–VI, hier S. III. Lazarus und Nahida Remy heirateten 1895. In der Erstfassung erschien das Buch unter Lazarus’ Mädchennamen Remy, erst die dritte Auflage wurde unter dem Namen Lazarus herausgegeben. Im Folgenden wird auf die Autorin unter dem Namen Remy verwiesen. 63 Remy, Das jüdische Weib (wie Anm. 62), S. 317. Zu diesem Text vgl. auch Hahn, Die Jüdin Pallas Athene (wie Einleitung, Anm. 35), S. 105–110. 64 Vgl. Remy, Das jüdische Weib (wie Anm. 62), S. 306 und 316. 65 Vgl. ebd., S. 187–189. 66 Vgl. z. B. ebd., S. 314.

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang | 49

din‹. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ein ausführliches Zitat aus Bogumil Goltzʼ Der Mensch und die Leute (1858), das Remy ihren eigenen Betrachtungen voranschickt, in eben demselben Ausschnitt Wort für Wort auch in Croners Text wieder erscheint. Hier geht es um den »Aufwand«, den die zeitgenössischen Jüdinnen »mit Geist, Witz, Kleiderstaat, bequemer Einrichtung, mit jeder Art von Lebensgenuss« treiben; und sowohl Remy als auch Croner übernehmen die Erklärung des übertriebenen, rastlosen Lebensgenusses der Jüdin als Resultat ihrer unglücklichen Geschichte der Verfolgung.67 Croner breitet diesen Erklärungsansatz, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, in einigem Detail aus. Remy und Croner greifen hier auf dieselbe Quelle zurück; und die unveränderte Übernahme des Zitats bei Croner legt nahe, dass diese Goltzʼ Text in Remys Übertragung – also aus zweiter Hand – rezipiert hat.68 Tatsächlich verweist sie aber namentlich auf Goltz, während sie Remy, von der sie doch offensichtlich inhaltlich weit mehr übernommen hat, mit keinem Wort erwähnt (MJ, 17). Hierauf wird zurückzukommen sein. Auch wo es um die Haltung der Jüdin zur Assimilation und um die Frage ihrer Zukunft geht, treten bei den beiden Autorinnen ähnliche Zielvorstellungen hervor: Beide sprechen sich grundsätzlich für die Verbindung der jüdischen mit der deutschen Kultur aus; nur wenn es darum geht, die Inhalte der beiden Idealkulturen näher zu beschreiben, die hier verbunden werden sollen, tun sich Unterschiede auf. Remy betont spezifische Inhalte weiblichen Judentums: Das Überwachen der Gebräuche an jüdischen Festtagen, die religiöse Erziehung der Kinder und das Studium der Kulturgeschichte ihres Volkes gehören dazu.69 Aspekte der deutschen Kultur dagegen, die die Jüdin sich aneignen sollte, beziehen sich auf Eigenschaften, die die Sicherheit der deutschen Frau als Trägerin der nationalen Leitkultur spiegeln: »Unbefangenheit, Vornehmheit und Gediegenheit«. Hinter dieser Darstellung deutsch-jüdischer Weiblichkeit steht ein optimistisches Zukunftsbild, das Religion und Nationalität voneinander entkoppelt und die nationale Zugehörigkeit ohne Ansehen der Religion und ihrer Bräuche anerkennt.

|| 67 Vgl. Goltz’ Aperçu, »es ist, als ob sie alle verbotenen und nie gekannten Freuden ihrer Vorgängerinnen nachträglich für sich ausbeuten wollen«. Ebd., S. 311 (ohne Quellenangabe zitiert). Remy verweist auf die psychologische Auswirkung der Geschichte auf das Verhalten der »Jüdin der Gegenwart« mit den Worten: »Das Gespenst des Unerlaubten wirft noch immer seinen Schatten« (ebd., S. 315). 68 Remy zitiert Goltz auch an anderer Stelle, zum Beispiel im Kontext der Selbstaufopferung älterer Jüdinnen (ebd., S. 202–203). 69 Vgl. ebd., S. 317–320.

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Croner dagegen klammert, wie schon gezeigt wurde, Verweise auf Religion und Brauchtum weitgehend aus; in ihrem Kapitel »Ziele und Wege« wischt sie Glaubensfragen gar mit dem lapidaren Halbsatz »[g]leichviel wie man sich zu den religiösen Problemen stellt« vom Tisch (MJ, 147). Eine gewisse (nicht näher bestimmte) Religiosität stellt bei Croner durchaus noch einen Aspekt des Idealbilds der Jüdin dar, sie ist aber über das Prinzip der Weiblichkeit, die den Kern weiblichen Judentums bildet, in das Ideal eingebunden und diesem untergeordnet: Denn, so heißt es an anderer Stelle, die jüdische Frau ist aufgrund ihrer »ausgesprochenste[n] Weiblichkeit prädestiniert zur Gläubigkeit« (MJ, 102). Ist auf diese Weise der Begriff des Judentums in demjenigen der Weiblichkeit mehr oder weniger aufgelöst, so ließe sich überspitzt formulieren, dass in dem Assimilationsprozess, den Croner propagiert, die Verbindung »christlich-deutscher Kultur« mit traditioneller Weiblichkeit das zentrale Element darstellt. Aufgrund dieses befremdlichen Befunds muss nun der Frage nach der Position der Autorin selbst zum Judentum auf den Grund gegangen werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Vergleich mit Remy interessant. Remys Ansatz ist der einer Außenseiterin: Als sie ihre Abhandlung über das jüdische Weib schrieb, war sie dem Judentum noch nicht beigetreten. Sie konvertierte erst 1895, ein Prozess, den sie als Resultat ihrer Recherchen zu ihrem Buch beschrieben hat. Im Vorwort zu dessen dritter Auflage betont sie: »Als ich dieses Buch schrieb, war ich Christin. Heute bin ich Jüdin.«70 Mit Unvoreingenommenheit und »mit redlicher Absicht auf wahre Erkenntnis« schaut sie auf »Menschen anderen Stammes, fremder Religion«;71 ihre Sympathien liegen aber fraglos bei dem Beschreibungsobjekt. Wo sie Kritik (an der »Jüdin der Gegenwart«) übt, ist diese weitgehend an eine andere Instanz abgegeben und als der gut gemeinte »Sporn selbstbewusster Läuterung und Veredlung« erkenntlich, als den Moritz Lazarus sie charakterisiert.72 Im Kontrast zu dieser Nähe zwischen Autorin und Beschreibungsobjekt, die aus Remys Text spricht, vermittelt Croners moderne Jüdin durchgehend den Eindruck der Distanz, nicht nur zu der nach geographischer Herkunft stigmatisierten russischen Jüdin73 oder zu der soziologisch abgegrenzten Gruppe der

|| 70 Lazarus, Vorwort (wie Anm. 62), S. I. 71 Ebd., S. III. 72 Ebd., S. V. 73 Croner bezeichnet die Figur der Hanna Elias in Gerhart Hauptmanns Theaterstück Gabriel Schillings Flucht als »außer Rand und Band geratene Jüdin«. Diese »wildgewordene Intellektuelle« fügt sie erklärend bei, ist »zwar eine Jüdin, aber keine deutsche Jüdin, sondern eine russische«. Das anti-russische Sentiment wird vollends explizit wenn sie hinzufügt: »Russland hatte der Jüdin keine neue Kultur zu schenken, wie Deutschland.« (MJ, 77)

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang | 51

Jüdinnen der »Berlin-W«-Kreise, sondern – und das ist ausschlaggebend hier: Distanz zur Jüdin überhaupt. Sander Gilman hat auf dieses Moment der Selbstdistanzierung in Croners Ausführungen hingewiesen, hat es jedoch auf die Negativzeichnung der Ostjüdin eingeschränkt74 und auf ein spezifisches Charakteristikum der ›modernen Jüdin‹: ihren Sprachgebrauch. Er bemerkt, dass Croner, in dem Moment – aber seiner Meinung nach eben nur in dem Moment –, in dem sie die Sprache der ›modernen Jüdin‹ beschreibt, diese als »object of investigation« beschreibt, als »a category which excludes the author«.75 Bei genauerem Hinsehen jedoch wird ersichtlich, dass diese Haltung sich durchaus konsistent und konstitutiv durch das gesamte Buch zieht. Nur ein einziger Hinweis findet sich auf den insgesamt 148 Seiten, der sich auf die jüdische Herkunft – und auch hier nicht auf die jüdische Identität (!) – der Autorin beziehen lässt: Im Vorwort heißt es, die Farben, in denen das Porträtbild der modernen Jüdin gemalt sei, seien »zwar ›Tempera‹Farben – gemässigte –, aber unter ihnen [liege] als Grundfarbe die Farbe des Blutes« (MJ, 6). Gehen wir davon aus, dass die Farbe hier das Medium der Autorschaft bezeichnet (und nicht den Charakter des Porträts), so mag man hier eine Anspielung auf die über den Rassenbegriff definierte Abstammung Croners sehen. Abgesehen von dieser Bemerkung verortet Croner sich selbst jedoch auschließlich als Mitglied der Gesamtheit der deutschen Gesellschaft. So ist zum Beispiel die Rede vom Einfluss jüdischen Geistes auf »unser gesamtes Geistesleben« oder von einer »Erscheinungsform unseres geselligen Lebens«, das »der deutschen Jüdin von Grund aus [widerstrebt]« (MJ, 107 und 89); an anderer Stelle spricht sie von »unsere[m] preussischen Offiziers- und Beamtenstand« (MJ, 56). Im Abschlusskapitel der modernen Jüdin beschwört sie den »wahre[n][…] Assimilationsprozess, den wir erstreben müssen« (MJ, 148; meine Heraushebung). Der Gebrauch des Pronomens lässt aufhorchen, scheint Croner sich doch hier in die Gruppe derer, die sich zu assimilieren haben, mit einzubeziehen. Doch die Formulierung, die sie – im selben Satz ‒ wählt, um diesen »wahre[n][…] Assimilationsprozess« zu beschreiben, läuft diesem Eindruck wieder entgegen: »Die neue Kultur erwerben, in sich aufnehmen und organisch mit ihr verschmelzen«, heißt es hier (MJ, 148); und das »in sich«, welches das eigentlich zu erwartende »in uns« ersetzt, ist hier bedeutsam. Der Assimilationsprozess ist also als ge-

|| 74 Vgl. Gilman, Salome, Syphilis, Sarah Bernhardt and the ›Modern Jewess‹ (wie Anm. 1), S. 207. 75 Ebd., S. 208.

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samtgesellschaftliche Aufgabe konfiguriert, nicht als Aufgabe einer die Autorin einschließenden jüdischen Minderheit. Tatsächlich ist die Autorin durchgehend bemüht, die Haltung einer objektiven Beobachterin zu projizieren, einer Ethnographin, die den wissenschaftlichen Ansatz ihrer Studie betont. Heißt es zwar im Vorwort, sie wolle eine Impression schildern, so ist das Spontane, Ungefähre, das mit einem solchen VorVorgehen impliziert wird, im Folgenden nicht eingelöst. Es geht ihr darum, so schreibt sie nur sechs Seiten später, den »Begriff der modernen, in Deutschland lebenden Jüdin […] zu präzisieren und ihn vom psychologischen, sozialen und ethischen Standpunkt aus zu betrachten« (MJ, 13). Das Vokabular deutet auf einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit hin, der auch aufscheint, wenn sie etwa ihr Studium der »Quellen« »jüdische[r] Eigenart und jüdische[n] Wesen[s]« hervorhebt (MJ, 140) oder feststellt, »[d]as eifrige Bestreben so vieler moderner Jüdinnen, alle Brücken, die hinter ihnen liegen, schleunigst abzubrechen […] [sei] vom kulturhistorischen Standpunkt bedauerlich« (MJ, 147; meine Hervorhebung). In diesem Kontext wird erklärbar, warum Croner, wie weiter oben erwähnt, den Völkerpsychologen Bogumil Goltz – und nicht Remy ‒ als Quelle erwähnt. Der Verweis erfolgt zweifellos in rezeptionslenkender Absicht, denn er stellt die Abhandlung über die »moderne Jüdin« in eine Tradition der Wissenschaftlichkeit und verleiht ihr so Autorität.76 Die Völkerpsychologie war Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal als Teil eines »dritten Wegs« zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften begründet worden, als Untersuchung des Geistes oder der Mentalitäten von Nationen, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhob und sich bald als einer der frühen Zweige der Sozialwissenschaft etablierte.77 Goltz, der in dieser Tradition stand, hatte sich mit dem im Untertitel als »ethnographische Studie« ausgewiesenen Buch Die Deutschen (von der zweiten Auflage an unter dem Titel Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius vertrieben) einen Namen gemacht.78 Die Verbindung des Anspruchs objektiver Beschreibung mit ethischer

|| 76 Bezeichnenderweise apostrophiert sie Goltz als »Menschenkenner und Völkerpsychologe[n]« (MJ, 17), nicht als »Menschenkenner« und »Humoristen«, wie Remy es tut (Remy, Das jüdische Weib [wie Anm. 62], S. 311 und 202). 77 Vgl. Moritz Lazarus: Über den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie. In: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 1 (1851), S. 112–126. Vgl. auch Egbert Klautke: The Mind of the Nation. Völkerpsychologie in Germany, 1851–1955. Oxford: Berghahn 2013. 78 Bogumil Goltz: Zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Genius. 2. Aufl. Berlin: Otto Janke 1864.

2.3 Publikations- und Rezeptionszusammenhang | 53

Betonung, der wir in Croners moderner Jüdin begegnen, ist auch hier schon zu beobachten. In seiner Charakterisierung des Deutschen als »Charakter-Mensch[en]« zum Beispiel, als »eine Person, ein Genie, ein Original«, greift Goltz auf Ideale der Romantik zurück, die in den Schlüsselwörtern »Natur«, »Seele« und »Persönlichkeit« verkörpert sind79 ‒ Ideale, denen Croners Beharren auf »innere Werte« entspricht. Im Rückgriff auf Goltz und mit der Betonung ihres akademischen Ansatzes positioniert Croner sich also als Kulturhistorikerin, nicht als Jüdin, und die Distanz ihrer Haltung wird – als Objektivität gewendet – auch von zeitgenössischen Rezensenten des Buches wiederholt hervorgehoben. Erich Franz lobt in Die Gegenwart Croners »kritische Sachlichkeit«,80 Arthur Silbergleit ist von der »leidenschaftslose[n], allen Parteistandpunkten entrückte[n] Stellungnahme der Verfasserin zu dem Gegenstande ihrer Betrachtung angenehm überrascht« und lobt die »Beobachtungsschärfe«, und die »bemerkenswerte Einfühlungsmacht der Verfasserin in alle Vergangenheits- und Gegenwartskräfte des Judentums«.81 Im Vergleich zu Remy jedoch, die die Jüdin ebenfalls aus einer Position der Außenstehenden beschrieben hatte, fällt Croners Stellungnahme wesentlich ambivalenter aus. Remy, die sich »in die Culturgeschichte des jüdischen Weibes ein wenig verliebt« hatte,82 stellt ein klares Leitbild der in ihrer religiösen und kulturellen Identität ruhenden Jüdin ins Zentrum ihres chronologischen Abrisses der Geschichte der jüdischen Frau. Croner dagegen nimmt das stark problematisierte Bild der modernen Jüdin als ihren Ausgangspunkt, und auch wenn sie im Folgenden das Ideal der an traditioneller Weiblichkeit orientierten Jüdin schildert, wird dieses doch immer wieder durch Angriffe gegen die negativen Aspekte der modernen Jüdin unterlaufen. Croners Kritik ist beißender als die Remys und ihr Anliegen didaktischer; sie selbst erwähnt im Vorwort ihren »apodiktischen« Ton, verteidigt ihn aber als »unvermeidlich« (MJ, 5). Das Bild, das sie von der modernen Jüdin zeichnet, nähert sich der Karikatur, und sie steigert sich von moralischen Ratschlägen (»Nur das wirklich Bessere sollte sie nachahmen« und sie »soll sich nicht schämen, religiös zu sein«; MJ, 16) über knappe Leit-Sentenzen und Verhaltensregeln (»Irreligiosität nachahmen ist unjüdisch«; MJ, 16) zu als Notwendigkeit postulierten Forderungen wie: »Der Typ der veredelten und kultivierten Orientalin muss zurückerrungen werden.« (MJ, 146) || 79 Ebd., S. 2. 80 Erich Franz: Else Croners »Moderne Jüdin«. In: Die Gegenwart (1913), H. 45, S. 719–720, hier S. 720. 81 Arthur Silbergleit: [Rezension von] »Die moderne Juedin«. In: Ost und West 13 (1913), Sp. 441–446, hier Sp. 446. 82 Vorwort (wie Anm. 62), S. V.

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Remy sieht die Gegenwart zwar mit Besorgnis, formuliert ihren Ausblick in die Zukunft aber in positiver Gewissheit im Futur: »Nach wie vor wird die jüdische Frau zwar das Bessere nachahmen: die Unbefangenheit, Vornehmheit und Gediegenheit der gebildeten Christin, aber das Gute, das ihr als Jüdin eignet, wie einen unveräusserlichen Besitz halten und hegen.«83 Bei Croner dagegen heißt es: »Nur das wirklich Bessere sollte sie nachahmen, aber die guten charakteristischen Eigenschaften, die ihr gerade als Jüdin eigen sind, wie einen unveräusserlichen Besitz hochhalten.« (MJ, 16) Bei aller Ähnlichkeit der beiden Aussagen ist doch die Grundverschiedenheit, die in der Substitution des »wird« durch das »sollte« liegt, bemerkenswert. Tatsächlich zieht die Häufung der Modalverben sich konstitutiv durch Croners Text: Immer wieder heißt es, die Jüdin »muss«, »soll« oder »sollte« bestimmte Verhaltensweisen ablegen oder annehmen (vgl. u. a. MJ, 16). Die positive Gewissheit über die Natur und Zukunft der Jüdin, die aus Remys Text scheint, ist bei Croner ersetzt durch die Rüge, den schulmeisterlichen Ton und das Aufstellen eines Regelkanons. Aufgrund der bisher festgestellten Textcharakteristika muss die Frage gestellt werden, inwieweit das Buch überhaupt in dem Kontext innerjüdischen Diskurses steht. Ist es tatsächlich Glied einer Kette von Texten »von jüdischen Frauen geschrieben, die sich explizit an ein weibliches jüdisches Publikum wandten«, wie Hahn und Gilman postulieren? Die Autorin identifiziert sich selbst vornehmlich als Kulturkritikerin, nicht als Jüdin; und wendet sie sich denn an (andere) Jüdinnen? Im Fall der oben zitierten, an Verhaltensmaßregeln erinnernden Aussagen ist dies sicher der Fall, doch die Identität der intendierten Adressaten variiert. Wenn Croner z. B. im Kapitel »Jüdische Geschwister« ihren Leserinnen rät, die »jüdischen Schwestern« zu befragen, warum sie für ihre Brüder »bis zur Selbstauslöschung« sorgen und ihr eigenes Lebensglück für sie opfern (MJ, 68–69), so scheint hier eine nichtjüdische Leserschaft angesprochen zu werden. Dies ist noch deutlicher der Fall, wenn sie von »den Juden« und »ihrem Dogma« spricht und mit einer Erklärung dieses Dogmas fortfährt (MJ, 10). Croner selbst beschreibt ihre intendierte Leserschaft im Vorwort als die gesamte deutsche Gesellschaft – oder doch zumindest ihren weiblichen Teil: In einer Differenzierung, die nicht näher erläutert wird, aber ein Bewusstsein der verschiedenen Schattierungen deutsch-jüdischer Identitätskonstruktionen spiegelt, appelliert sie an »Deutsche, Jüdinnen, deutsche Jüdinnen und jüdische Deutsche« (MJ, 6). Angesichts dieser Befunde muss der Schluss gezogen werden, dass das Buch über die ›moderne Jüdin‹ und seine Autorin aus dem Interpretationskon-

|| 83 Remy, Das jüdische Weib (wie Anm. 62), S. 317.

2.4 Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«? | 55

text des unter jüdischen Frauen geführten Diskurses über jüdische Identitätsmodelle herausfällt. Die Unterschiede zu Texten von Autorinnen der ›Jüdischen Renaissance‹ sind festgestellt worden; und auch wenn Croner auf Remys im Reformjudentum verankertes Buch inhaltlich stark zurückgreift, so zeigen ihre Vernachlässigung von spezifisch jüdischen Inhalten sowie auch ihre Position dem Beschreibungsobjekt ›Jüdin‹ gegenüber ein im wesentlichen kritischdistanziertes Verhältnis. Die moderne Jüdin ist nicht spezifisch für Jüdinnen geschrieben – und in Anbetracht alles bisher Gesagten ist auch durchaus fraglich, inwieweit die Bezeichnung ›Jüdin‹ auf die Autorin selbst zutrifft. Dass dies zumindest von einzelnen Rezipienten auch zum Zeitpunkt des Erscheinens der modernen Jüdin so empfunden wurde, belegt die Rezension Sidonie Werners, die im Februar 1914 in der Zeitschrift Im Deutschen Reich erschien. In ihrem auf der Titelseite beginnenden und sechs Seiten umfassenden Artikel greift Werner Croners »Zerrbild« der modernen Jüdin aufgrund seiner »ungerechte[n] Herabsetzung der jüdischen Frauen« aufs Schärfste an.84 Croners Distanz zu ihrem Beschreibungsobjekt wird hier geradezu als Gegnerschaft ausgelegt.

2.4 Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«? Werners Position wurde allgemein nicht geteilt, die positive Aufnahme des Buches überwog unter den Zeitgenossen – und sowohl Die Zukunft als auch das Israelitische Familienblatt druckten längere Auszüge daraus ab.85 Doch im Rückblick, aus dem klärenden Abstand eines Jahrhunderts, wird offenbar, wie richtig Werners Einschätzung war. Sie trifft den Kern des Problems, wenn sie Croners Buch als »das Urteil einer verbitterten Jüdin« bezeichnet, als das »Pamphlet« einer »dem Judentum sich Entfremdenden«.86 Croner war, wie eingangs erwähnt, in eine jüdische Familie geboren und im jüdischen Glauben erzogen worden, ist jedoch später, zu einem nicht dokumentierten Zeitpunkt, zum Christentum übergetreten. 1925 – so lässt sich annehmen – war die Konversion vollzogen, denn in ihrem Werk zur Psyche der weiblichen Jugend schneidet sie ihre Ausführungen zur Religiosität explizit auf den christlichen Glauben zu und legt den Konfirmandinnen, »die an der Persönlichkeit Christi entzündet werden«, die »innige Seelengemeinschaft mit dem Heiland«

|| 84 Werner, [Rezension von] »Die moderne Jüdin« (wie Anm. 37), S. 53 und 50. 85 Vgl. unter anderem: Else Croner: Die Jüdin. In: Die Zukunft 22 (1913/14), S. 32–34; Else Croner: Jüdische Geschwister. In: Israelitisches Familienblatt, 1. Oktober 1913. 86 Werner, [Rezension von] »Die moderne Jüdin« (wie Anm. 37), S. 50 und 53.

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ans Herz.87 Die moderne Jüdin markiert, so meine ich, eine Schwellenposition – nicht unähnlich derjenigen Remys, und doch weit von ihr entfernt, denn die Publikationen der beiden Autorinnen deuten auf einander entgegengesetzte Bewegungen hin: Nähert Remy sich dem Judentum an, so wendet Croner sich davon ab. Für beide liegt der wichtigste Bezugspunkt zum Judentum in dessen Betonung traditioneller Weiblichkeit. Katharina Gerstenberger führt Remys Interesse an der jüdischen Kultur darauf zurück, dass diese, besonders die auf die Familie bezogene Stellung der jüdischen Frau, für Remy eine Welt intakter Familienbeziehungen bot.88 Sie führt aus: »In writing the history of the Jewish woman, she assured herself of a world in which women were allowed to be mothers.«89 In ähnlicher Ausrichtung auf das Ganze um eines Teils willen propagiert auch Croner den Idealtypus der »echten« Jüdin in erster Linie um das in ihm verkörperte Prinzip der Weiblichkeit willen. Doch während für Remy der jüdische Weiblichkeitsentwurf das Tor darstellt, durch das sie auch den Raum der jüdischen Religion und deren Bräuche kennenlernt und als ihre geistige Heimat annimmt, lehnt Croner die über das Ideal der traditionell orientierten Weiblichkeit hinausgehenden Aspekte des Judentums weitgehend ab. Statt als Ausdruck jüdischer Selbstvergewisserung ist Croners Schrift vor allem im Kontext einer allgemein ethisch ausgerichteten Kritik an der Moderne zu lesen. Haben wir das Buch auf diese Weise aus dem Kontext eines innerjüdischen Diskurses über die Definition eigener Identität herausgenommen und die Identität der Autorin von ihrem Vorhaben entkoppelt, sehen wir Die moderne Jüdin vielmehr als Beitrag zu Diskursen der Völkerpsychologie und Modernekritik, so tut sich auch ein anderer Zusammenhang auf: der mit dem völkisch-nationalen Gedankengut, wie es in Julius Langbehns überaus erfolgreicher Abhandlung Rembrandt als Erzieher von 1890 vorgestellt worden war. Langbehn definiert als Ziel seiner Studie, die »Volksphysiognomie« zu beschreiben und »historische Ideale [zu] erwählen«, die als »Erzieher ihres Volkes« dienen sollen.90 Er nimmt eben jene Trennung zwischen dem »echten und altgläubigen« und dem »modernen« Juden vor, die wir auch bei Croner finden: »Ein echter und altgläubiger Jude hat unverkennbar etwas Vornehmes an sich; er gehört zu jener uralten sittlichen und geistigen Aristokratie, von der die meisten modernen Juden ab-

|| 87 Croner, Die Psyche der weiblichen Jugend (wie Anm. 7), 2. Aufl., S. 27. 88 Gerstenberger, Truth to Tell (wie Anm. 58), S. 35. 89 Ebd., S. 41. 90 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. 42. Aufl. Leipzig: Hirschfeld 1893, S. 6.

2.4 Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«? | 57

gewichen sind«.91 Dieses Bild, auf das er auch auf den letzten Seiten seines Texts noch einmal zurückgreift – »[d]er moderne Jude gleicht einem Adeligen, der seiner Ehre verlustig ging«, heißt es hier – ,92 steht Croners Formulierungen sehr nahe. Nun sind die Überschneidungen von derlei Formulierungen mit dem dissimilatorischen Diskurs der deutschen Juden offensichtlich. Langbehns Denunziation der Assimilation als »charakterlos«93 und sein Eintreten gegen alle Ambivalenzen (»Rembrandts Juden waren echte Juden; die nichts Anderes sein wollten als Juden«)94 wurden ähnlich auch von Vertretern der ›Jüdischen Renaissance‹ wieder aufgegriffen. Sind sie dort jedoch im Rahmen einer stolzen Definition eigener Identität gebraucht, so führen sie bei Langbehn zu antisemitischen Ausgrenzungen.95 Und dies wirft die Frage nach der Verbindung von Modernekritik und Antisemitismus in Croners moderner Jüdin auf. Das Buch ist tatsächlich im Kontext des Antisemitismus rezipiert worden: In seiner 2005 erschienenen Studie Das Ich der Stadt zitiert Joachim Schlör Passagen der modernen Jüdin als Beispiel für antisemitische Stimmen über die bedrohliche Zuwanderung der Juden nach Berlin (»Die Provinz Posen ist das grosse Reservoir, aus dem sich alljährlich, auch heute noch, ein Strom von Juden nach Berlin ergiesst«; MJ, 140–141).96 Auch verweisen Feststellungen Croners wie »An die Stärkste aller Mächte: ›die Kraft der Persönlichkeit‹, die noch stärker ist als selbst das Geld, glauben die Juden noch nicht so recht überzeugt« (MJ, 31) undistanziert auf antisemitische Klischees;97 und schließlich ist auch das im Vorangegangenen besprochene Insistieren auf die Geschlechtlichkeit der Jüdin in diesem Kontext zu nennen. Sidonie Werner deutet in ihrer Rezension von 1914 auf die antisemitische Komponente dieses Aspekts hin: Sie nimmt Anstoß an Croners Zitat einer angeblich »feststehende[n] Redensart« »unter den Junggesellen jüdischer Rasse«: »Eine Berlinerin heiraten wir nicht, bei keiner Kurfürstendamm-Blüte kann man auf ihre Unschuld schwören«. Croners unkritische Wiedergabe dieser Redewendung bezeichnet sie als »das Empörendste in dem

|| 91 Ebd., S. 43. 92 Ebd., S. 349. 93 Ebd., S. 43. 94 Ebd. 95 Vgl. z. B. ebd., S. 351: »Der moderne Jude […] ist ein Stück Menschheit, das sauer geworden ist; wie die Hölle ein Stück Himmel ist, das sauer geworden ist; und der arische Kindergeist reagirt [sic] gegen beide.« 96 Zitiert in Joachim Schlör: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822– 1938. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 230. 97 Vgl. auch die Erwähnung des »Stolz[es] […] auf den Geldbeutel des Mannes« (MJ, 71).

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Buche« und verurteilt dieses schließlich als ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«.98 Problematisch in dieser Hinsicht sind vor allem Croners Aussagen zur Ostjüdin. Wo Remy den Fleiß der »heutige[n] Jüdin« in Russland, Rumänien, den Niederlanden, in Westpreußen, Polen, Litauen und Galizien lobt und diese hart arbeitenden Frauen als »Heldinnen schlichter Pflichterfüllung« bezeichnet, die man weithin »nicht sieht«, da sie »unbemerkt wie Tropfen im Meer dahinfließen«,99 zeugt Croners Text von der Abwehrhaltung der Westjuden, die sich – besonders seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gegen ostjüdische Einwanderung wandten. So ruft sie z. B. den Begriff des »Judenweib[s]« auf und bedauert zwar die Bezeichnung, an die »man sich […] gewöhnt« habe (!) – wobei die Frage erhoben werden muss, wer denn »man« genau sei – , erklärt sie aber für harmlos, da sie nicht die deutsche Jüdin meint, sondern, wie vollkommen unkritisch angemerkt wird, »den gewöhnlichen, niedrigen polnisch-jüdischen Frauentypus« (MJ, 47). Andererseits aber bezeichnet Croner an anderer Stelle polnische Ostjüdinnen, so lange sie »im Osten Deutschlands – dem früheren Königreich Polen« bleiben, als unverfälschtes Original: Hier habe sich der jüdische Frauentypus »rein« erhalten und bleibe »im Judentum verwurzelt« (MJ, 139). Noch eklatanter wird die Verwirrung, wenn Croner formuliert: »Die ›echtesten‹ Juden kommen aus Posen.« (MJ, 139) Zwei Denkschemata kollidieren hier: die Idealisierung des Ostjudentums als authentisches Judentum ‒ ganz im Sinne dissimilatorischer Strömungen wie der ›Jüdischen Renaissance‹ ‒ und die Ablehnung der aus östlichen Gebieten nach Berlin eingewanderten Juden – eine typische Haltung assimilierter Westjuden, die sich hier bis zum unhinterfragt verwendeten antisemitischen Klischee steigert. Die Feststellung der Distanz der Autorin zu ihrem Beschreibungsobjekt ›Jüdin‹ liefert den Erklärungsansatz für die Widersprüchlichkeit des Texts. Croner, die ihre eigene Identität nicht im Rahmen jüdischer Kultur definiert, bedient sich des Kontexts der ›Jüdischen Renaissance‹, um etwas anderes zu transportieren: Die derzeitige Welle von Publikationen, die die Rück-Besinnung auf das traditionelle Judentum forderten, das Umfeld der ›Jüdischen Renaissance‹, bot sich für sie als Vehikel an, einem an sich nicht an jüdische, deutsche oder deutsch-jüdische Identitäten gebundenen Anliegen Ausdruck zu verleihen, nämlich dem, dem »Kardinalfehler aller Mädchenerziehung«, der Unterdrückung der Mütterlichkeit, entgegenzuwirken (MJ, 27). Die Verlagswahl entspricht dieser Positionierung: Croner arbeitete langjährig als gelegentliche Beiträgerin für die || 98 Werner, [Rezension von] »Die moderne Jüdin« (wie Anm. 37), S. 51 und 53. 99 Remy, Das jüdische Weib (wie Anm. 62), S. 307 und 311.

2.4 Ein »mit den Antisemiten liebäugelndes […] ›Pamphlet‹«? | 59

Deutsche Romanzeitung, ein Blatt, das laut Verlagsannonce »in jeder Weise danach [strebt], die Ideale deutschen Wesens zu nähren«;100 Die moderne Jüdin jedoch brachte sie bei Axel Juncker heraus, einem Verlag, der der Literatur der ›Jüdischen Renaissance‹ eine prominente Plattform bot. Else Lasker-Schülers erster Gedichtband Styx (1902), Kurt Münzers Weg nach Zion (1907), Max Brods Jüdinnen (1911) sowie auch Arnold Beers Das Schicksal eines Juden und Meyer Aaron Goldschmidts Ein Jude (beide 1912) sind hier unter anderem verlegt worden. Medienpolitisch ist diese Einbettung geschickt und publikumswirksam; doch inhaltlich ist die Affinität zwischen der ›Jüdischen Renaissance‹ und Croners Ideal konservativer Weiblichkeit nicht eben groß. Weder das mythische Traumbild der Jüdin als Orientalin noch die emanzipatorische Ausrichtung der in der ›Jüdischen Renaissance‹ engagierten Frauen entsprechen ihrem Ideal der Frau als Mutter. So zieht sie Remys Text über das »jüdische Weib« heran, um ihr programmatisches Bild traditioneller Weiblichkeit zu entwickeln; doch nun kollidieren einerseits die aus den beiden jüdischen Diskurstraditionen übernommenen Bilder und Textpassagen, während sich andererseits der Graben zwischen Remys philosemitischer Einstellung und dem antisemitischen Affekt der hochassimilierten Croner auftut. Die moderne Jüdin spiegelt die Entfernung der Autorin zu ihrer jüdischen Herkunft, aber auch die Unfähigkeit, einander widersprechende Diskurse zu überprüfen und miteinander in Einklang zu bringen. Auf diese Weise entstehen Widersprüche wie z. B. das Lob Rahel Levins und die gleichzeitige Reduktion der Jüdin auf das Geschlechtliche oder das Lob der polnischen Jüdin als »echtester« Jüdin und ihre diskriminierende Bezeichnung als »Judenweib«. Croners Text bietet gedankliche Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Reihe verschiedener Rezipientenkreise, gerade auch wegen des »Reichtum[s] seiner Zwischenstufigkeiten«, die Artur Silbergleit in seiner Rezension positiv hervorhebt.101 Es ist aber auch ein beunruhigender Text, der aufgrund seiner inneren Unstimmigkeiten Befremden auslöst. Als Grundlage für ein einleitendes Kapitel zu einer Studie über Konzeptionen von Weiblichkeit und Judentum in Berlin ist dieses Buch aber geeignet wie kein zweites, denn Croner breitet das Thema nicht nur in seiner Spannweite und Vielschichtigkeit aus, sondern zeigt auch die möglichen Positionsbeziehungen zur identitären Beschreibung der Jüdin auf. Die diskursive Verwirrung, die dabei entsteht, verweist auf die Komplexität

|| 100 Die hier zitierte Verlagsannonce findet sich am Ende von Croners Roman Erwachen (1918). Die Autorin wird hier als Beiträgerin zu dieser »äußerst vornehm gehaltene[n] Familien Wochenschrift« aufgeführt. 101 Silbergleit, Die moderne Juedin (wie Anm. 81), Sp. 446.

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des Themas selbst und der Kontexte, in denen es diskutiert wurde, aber auch auf das Spannungsverhältnis zwischen Croners Selbstpositionierung und der Verortung ihres Beschreibungsobjekts. Es ist deutlich geworden, wie viel Vorsicht bei der Lektüre derartiger Positionierungen geboten ist und wie wichtig das Lesen im Kontext ist ‒ schon in Bezug auf einen diskursiven Text. Insofern mag man in diesem Kapitel eine gute Vorbereitung für das Folgende sehen: für die Analyse literarischer Texte, denen per definitionem diese Vielschichtigkeit und multiple Lesbarkeit eingeschrieben sind.

2.5 Postskript: Else Croner und der Nationalsozialismus In der Analyse von Croners moderner Jüdin ist deutlich geworden, dass der Band sich in den lebenslangen Einsatz der Autorin für die Rückkehr zu einem traditionellen Weiblichkeitsbild einfügt. Im Rahmen dieses erzieherischen Programms erschien Die moderne Jüdin 1913 als Verortung von Croners Weiblichkeitsideals in der Gestalt der Jüdin und im Publikationskontext der ›Jüdischen Renaissance‹. Einen ganz anderen Zusammenhang sollte Croner, die sich inzwischen ganz von ihren jüdischen Wurzeln losgesagt hatte, zwanzig Jahre später suchen: den des Nationalsozialismus. Ein vergleichender Blick auf die Ausgaben von 1924 und 1935 ihrer psychologisch-pädagogischen Studie Die Psyche der weiblichen Jugend soll diese Entwicklung ihres Schreibens veranschaulichen.102 In dieser sehr erfolgreichen Abhandlung unterscheidet Croner verschiedene Mädchen-Typen und erörtert ihnen gemäße Erziehungsansätze. Die Übereinstimmung der hier geäußerten Ansichten mit denen ihrer vorangegangenen Veröffentlichungen ist offensichtlich. Die Feststellung zum Beispiel – getroffen im Abschnitt über den intellektuellen Mädchentyp –‚ eine »frühreife Intellektualität [könne] leicht auf Kosten des Charakters gehen« (Psy 24, 24), spiegelt deutlich die Haltung des Tagebuch-schreibenden »Fräulein Doktor« von 1908 sowie auch die in Erwachen angemahnten Erziehungsratschläge. Aber nun wird auch erkennbar, wie es möglich ist, aus diesem Material ein nationalsozialistisches Traktat zu machen, wie es uns 1935 in der sechsten, umgearbeiteten und erweiterten Auflage der Psyche der weiblichen Jugend begegnet. Die im Nationalsozialismus negativ belegte Vokabel vermeidend, wird in der späteren Auflage nicht mehr der »intellektuelle«, sondern der »geistig betonte Typ« verhan-

|| 102 Im Folgenden wird auf die erste Auflage von 1924 durch das Kürzel Psy 24 und auf die 6., umgearbeitete und erweiterte Auflage von 1935 durch Psy 35 verwiesen.

2.5 Postskript: Else Croner und der Nationalsozialismus | 61

delt. In ideologischer Verhärtung heißt es nun hier, »eine frühreife Intellektualität geh[e] fast immer auf Kosten des Charakters« (Psy 35, 26). In anderen Abschnitten ist die ideologische Veränderung zwischen den beiden Auflagen noch deutlicher. Hatte Croner 1924 noch die ausgeprägte Sensibilität und »Einfühlungsfähigkeit« als hervorragende Mädchen-Eigenschaften herausgestrichen (Psy 24, 45 und 44), so ist diese Schwerpunktsetzung 1935 dem allgemein im Nationalsozialismus propagierten Ideal des »körperlich und geistig gesunde[n], abgehärtete[n], in sich gefestigte[n], opferfähige[n] und verantwortungsbewußte[n] junge[n] Mädchen[s]« gewichen (Psy 35, 52). Andererseits sind Verweise auf jegliche öffentliche Aktivität, sei diese politisch oder beruflich, deutlich zurückgenommen. Eine Passage der Fassung von 1924, in der der Wunsch der weiblichen Jugend ausgedrückt wird, »durch die tausend Kanäle des Staatslebens einen Einfluss auf das Königreich der Seelen auszuüben« (Psy 24, 55), wird 1935 ersatzlos gestrichen. Sind laut Croner die jungen Mädchen 1924 noch bereit, »ein neues Deutschland […] aufzubauen« (ebd.), so beschränken sie sich 1935 auf den Wunsch, dabei »mitzuhelfen« (Psy 35, 82). Die Sprache der 1935er Ausgabe ist von faschistischem Vokabular durchzogen: Croner bezeichnet früh zur Erotik neigende Mädchen als »Schädlinge« und empfiehlt »im Interesse des Volksganzen« ihre Sterilisation (Psy 35, 20). Nun mag man einwenden, eugenisches Gedankengut sei in den zwanziger und dreißiger Jahren auch von anderen Ideologien als der nationalsozialistischen vertreten worden.103 Doch Croners Positionierung ist eindeutig: Hatte sie in früheren Ausgaben unter anderem auf Freud verwiesen,104 so zitiert sie nun Baldur von Schirach und Hitler.105 Zu weiten Teilen jedoch decken sich Croners Standpunkte mit Beobachtungen in ihren früheren Veröffentlichungen. Feststellungen wie »Die eigentliche Geistigkeit der Frau wurzelt in der Intuition« (Psy 35, 25) und »Ein inneres Berufsbedürfnis hat nur ein kleiner Teil der Frauen« (Psy 35, 56)

|| 103 Für einen Überblick über dieses Thema vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Vgl. auch Kapitel 4 der vorliegenden Studie. 104 Vgl. Psy 25, 18: Verweis auf das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von Hermine von Hug-Hellmuth, dessen Vorwort einen Auszug aus einem Brief Freuds enthält; hier fälschlich als Freuds Werk und unter dem Titel Tagebuch eines jungen Mädchens erwähnt. 105 Psy 35, 82 und 105. Nationalsozialistischer Ideologie folgend lobt Croner auch die staatlich verordnete Eheberatung, schützt sie doch vor »wertlosem Nachwuchs« (S. 29). Als »Hochziele« der Mädchenerziehung werden »Volk und Staat« genannt (S. 25), oder auch, in rhetorischer Wendung, »ein Ziel, ein Volk, ein einheitliches Reich« (S. 81). Vorbilder werden nun beinahe ausschließlich in der germanischen Kulturtradition gefunden, z. B. in der isländischen »Lachswassertal-Saga« (S. 88).

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ließen sich – zumindest sinngemäß – auch in anderen ihrer Bücher finden. Und ihre schon im Tagebuch eines Fräulein Doktor geäußerte Überzeugung, das Studium solle nicht als allgemeines Frauenrecht durchgesetzt werden, hat nun im nationalsozialistischen Staat seine Verwirklichung gefunden. Wir lesen: Was damals [in der Kriegs- und Nachkriegszeit] intuitiv von einigen richtig gefühlt wurde, nämlich, daß die Tore der Hochschulen nur wenigen auserwählten Frauen geöffnet sein sollten, ist heute klare Erkenntnis geworden und hat ihren Niederschlag in den staatlichen Zulassungsbestimmungen gefunden. (Psy 35, 58)106

Die Autorin selbst betont die Kontinuität ihres Denkens über Weiblichkeit im Vorwort zu dieser sechsten Auflage der Psyche der weiblichen Jugend. Dort schreibt sie: »Auch die früheren Auflagen vertraten die Forderung einer deutschen, nationalen und religiösen, verantwortungsbewußten Mädchenerziehung, die die weibliche Eigenart und ihren Wert betonte« (Psy 35, 7). Tatsächlich lässt sich an ihrem Gesamtwerk – also weit über die Psyche hinaus ‒ ablesen, dass sie mehr und mehr Abstand von ihren humanistisch-liberalen Erziehungsidealen nahm. Im Laufe der Jahre lässt sich ein Prozess der zunehmenden Verfestigung ihrer Position zur Mädchenerziehung ausmachen, der als Verengung und Rückzug zu beschreiben ist, aber auch als Suche nach einer Verortung ihrer Ideale in den kulturellen Strömungen der Zeit. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Tendenzen zunehmen, die Croner als »modern« verurteilt – allen voran das Ideal der »neuen Frau«, das sie als »egozentrischen, unfruchtbaren Ich-Kultus« verwirft (Psy 35, 104) und die Betonung der Sexualität ohne den für sie zentralen »Wille[n] zur Mutterschaft« (Psy 35, 96) –, rechnet sie 1935 scharf mit dem »liberale[n] Mädchenerziehungsstil« ab, der die »Ehrfurchtslosigkeit« gefördert, die Sexualität betont und den Gedanken »des selbstlosen Dienens« in Vergessenheit habe geraten lassen (Psy 35, 96 und 97). Der Anschluss an die nationalsozialistische Ideologie mit ihren Angeboten für die »geistige Gesundung« der Frau mag in den dreißiger Jahren eine verführerische Zuflucht für Croner bedeutet haben, versprach er doch die Aussicht auf eine Realisierung ihrer Wünsche für die Mädchenerziehung.

 

|| 106 Hier bezieht sich Croner auf das im April 1933 erlassene »Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen«, das am 9. Februar 1935 schon wieder aufgehoben wurde und sich also nur auf den Abiturjahrgang 1934 bezog. Vgl. Eva Matthes: Es fehlten die Vorbilder. Der steinige Weg der Frauen zur universitären Gleichberechtigung. www.presse.uniaugsburg.de/unipress/up20041/artikel_04.shtml (12.04.2007).

2.5 Postskript: Else Croner und der Nationalsozialismus | 63

Dass es aber für sie möglich war, sich ganz auf ihre Ziele in diesem Bereich zu konzentrieren und sich von ihrer jüdischen Herkunft so weit zu distanzieren, dass sie sich in den Dienst eines Regimes stellen konnte, welches sich unter anderem durch seinen offenen Antisemitismus definierte, ist heute schwer verständlich. Doch auch die bekannte Nesthäkchen-Autorin Else Ury hat, in ähnlicher Weise die Wirklichkeit verkennend, in Hitlers Regime ein Erstarken des deutschen Nationalismus begrüsst,107 und diese beiden sind keine Einzelfälle: Die historische Forschung betont immer wieder die Distanz der konvertierten jüdischen Bevölkerung zu ihrer Herkunft.108 Ökonomischer Druck mag für die inzwischen verwitwete Croner auch eine Rolle gespielt haben, der veränderten 1935er Auflage der Psyche der weiblichen Jugend zuzustimmen. Das Angebot des Verlags H. Beyer, der auch die vorangegangenen Auflagen ihres Buches herausgebracht hatte, 1933 unter anderem aber auch den Band Bevölkerungs- und Rassenpolitik von Hitlers Innenminister Wilhelm Frick verlegt und sich damit politisch sehr eindeutig positioniert hatte, wird nur schwer abzulehnen gewesen sein. Aus welchen Gründen auch immer: Croner, die sonst fast nie als Autorin zu ihren Werken Stellung bezieht, sondern darauf bedacht ist, Distanz zu wahren, bekennt sich im Vorwort zur sechsten Auflage der Psyche der weiblichen Jugend dazu, die Veränderungen für diese Auflage »im Einklang mit dem tiefen Erleben der großen Zeit« vorgenommen zu haben (Psy 35, 99). Die Haltung, die aus dieser Publikation von 1935 spricht, ließe sich als die illusorische Hoffnung beschreiben, mit der Konversion zum Christentum die Verbindung mit der jüdischen Identität nicht nur in ihrem eigenen Bewusstsein, sondern auch in den Augen der nicht-jüdischen deutschen Bevölkerung abgebrochen zu haben. Diese Haltung wurde 1930 von Theodor Lessing mit einigem Zynismus als einer der drei sogenannten »Auswege« aus dem Dilemma des »jüdischen Selbsthasses« skizziert – und im Rückblick, bezogen auf das Schicksal der Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft, erschüttert uns Lessings Analyse:

|| 107 Vgl. Guy Stern: Leben, Werk und Ermordung der Else Ury. Ein Essay über die Nesthäkchen-Autorin. In: Renate Heuer und Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.): Gegenbilder und Vorurteile. Aspekte des Judentums im Werk deutschsprachiger Schriftstellerinnen. Frankfurt a. M.: Campus 1995, S. 217–228. 108 Vgl. hierzu Avraham Barkai: Jüdisches Leben unter der Verfolgung. In: Avraham Barkai und Paul Mendes-Flohr: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd 4: Aufbruch und Zerstörung 1918–1945. München: C. H. Beck 1997, S. 225–248, hier S. 246–247; ebenso Saul Friedländer: Nazi Germany and the Jews. The Years of Persecution, 1933–1939. New York: HarperCollins 1997, besonders S. 15–16.

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Die große Wandlung gelingt, jede ›Mimikry‹ gelingt. Du wirst ›einer von den anderen‹ und wirkst fabelhaft echt. Vielleicht ein wenig zu deutsch, um völlig deutsch zu sein. […] [U]nd gerade weil dir das Christliche noch so neu ist, stellst du es etwas zu geflissentlich heraus. Aber immerhin: Nun bist du geborgen. Wirklich? Dein Leichnam ist geborgen. Du bist tot. Mit deinem Zwiespalt bist du gestorben.109

|| 109 Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass [1930]. München: Matthes & Seitz 2004, S. 50.

3 Das »doppelte[] Martyrium des Weibseins und des Judentums«: Auguste Hauschners Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla (1910) Dieses Kapitel wendet sich Hauschners Doppelroman Die Familie Lowositz mit dem Versuch zu, eine neue Interpretation und Re-Evaluierung dieses Texts zu leisten, der eine erstaunliche psychologische Einfühlungskraft und kluge Einsicht in die soziokulturelle Situation des gehobenen assimilierten deutschjüdischen Bürgertums in Prag und Berlin aufweist. Die Handlung des Doppelromans ist in den 1870er und -80er Jahren im deutsch-jüdischen Milieu Prags und in Berlin angesiedelt. Dies ist ein Zeitraum bewegter Auseinandersetzungen und Spannungen zwischen der tschechischen, deutschen und deutsch-jüdischen Bevölkerung in Prag und vielfältiger oppositioneller politischer Aktivität in Berlin, und Hauschner räumt diesen Bewegungen erheblichen Raum ein: Im ersten Band beschreibt sie unter anderem die Eröffnung des tschechischen Nationaltheaters in Prag sowie auch die Auseinandersetzungen zwischen deutschen Studenten und Tschechen in Kuchelbad (beide 1881), während der zweite Teil, Rudolf und Camilla, in Schilderungen geheimer Treffen von freigeistigen Denkern und revolutionären Aktivisten das politisch-geistige Milieu Berlins zur Zeit des Sozialistengesetzes einfängt. Die Familie Lowositz ist zweisträngig angelegt: Zwei alternierende Erzählstränge begleiten die Lebenswege des jüdischen Prager Geschwisterpaars Rudolf und Camilla und reflektieren ihre Perspektiven. Vor allem der erste Teil ist episodisch strukturiert; einzelne repräsentative Szenen aus dem Leben der Protagonisten werden herausgegriffen und exemplarisch geschildert.1 Während Rudolf sich als Gymnasiast und Student mit seiner Stellung zwischen Deutschen, Tschechen und der deutsch-jüdischen Tradition, mit schulischen Aufgaben, erster Liebe und philosophischer Lektüre auseinandersetzt, lebt Camilla ein eintöniges und einsames Leben in enger häuslicher Begrenzung. Der erste Band schildert ihre Kindheit und Jugend, in der ihr Leiden an der gestörten Beziehung zur Mutter eine große Rolle spielt, und endet mit ihrer Verheiratung

|| 1 Ritchie Robertson weist zu Recht darauf hin, dass der Mangel an strukturierender Handlung die Ziellosigkeit und Passivität der Protagonisten in idealer Weise reflektiert. Vgl. Ritchie Robertson: National Stereotypes in Prague German Fiction. In: Colloquia Germanica 22 (1989), S. 116–136, hier S. 125.

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an Felix Katzler, einen Stoffhändler aus dem jüdischen Prager Kleinbürgertum. Der zweite Teil des Doppelromans nimmt die Geschichte der Geschwister zwei Jahre später in Berlin wieder auf. Rudolf ist als Journalist bei einem Theaterblatt tätig, und Camilla, die nach der Geburt ihrer Tochter eine schwere nervliche Krise durchlebt, wird ein Erholungsurlaub in Berlin ermöglicht. Parallel zu Rudolfs beruflichem und politischem Entwicklungsweg schildert Hauschner nun Camillas Musikstudium und ihre Liebesbeziehung zu dem Komponisten Nils Johanson. Als diese Liebe scheitert, folgt ein zweiter Zusammenbruch Camillas. Am Schluss des Romans verlassen beide Geschwister Berlin: Rudolf, der sein Ideal, als freier Schriftsteller zu arbeiten, hier nicht hat realisieren können, wandert aus, um an einem ungenannten Zielort ein Leben körperlicher Arbeit in der Natur aufzunehmen, und Camilla kehrt nach Prag zurück, um ihre Tochter allein – außerhalb des ehelichen Rahmens – aufzuziehen. Entgegen Interpretationen des Romans, die sich schwerpunktmäßig – oder gar ausschließlich – mit dem männlichen Protagonisten Rudolf beschäftigen, wird hier zu zeigen sein, wie Hauschner in der Figur der Camilla das Thema jüdischer Weiblichkeit zwischen Tradition und Moderne ‒ genauer: zwischen patriarchalischen jüdischen Familienstrukturen und dem Versuch des Ausbruchs in eine freiere Lebensgestaltung – facettenreich und gleichgewichtig mit der Entwicklung Rudolfs verhandelt. Im Gegensatz zu anderen Positionen in der Forschungsliteratur, die dem jüdischen soziokulturellen Umfeld der Protagonisten keine oder nur sehr geringe Bedeutung beimessen, geht es mir darüber hinaus darum darzulegen, dass in der Charakterisierung sowohl Rudolfs als auch Camillas das jüdische Milieu, in dem sie sich bewegen, und eine als spezifisch jüdische Mentalität beschriebene psychische Veranlagung zentral sind und dass im Leiden der Geschwister am Judentum selbst der thematische Kern des Romans liegt. Nach einer kurzen Einführung zur Autorin und zur Anlage der Familie Lowositz konzentriere ich mich der Ausrichtung dieser Studie gemäß im Folgenden vornehmlich auf Hauschners Darstellung des Charakters und Lebensbereichs der Camilla Lowositz. Im Vergleich zu Hauschners Gesamtwerk ist deutlich, dass Camilla sich in eine Kette von – autobiographisch begründeten ‒ weiblichen Protagonistinnen einordnet, die an nervlicher Überspannung und übersteigerten Erwartungen an die Liebe leiden. In anderen Romanen nimmt die Autorin eine kritische Haltung diesen Leiden gegenüber ein und propagiert die Auflösung der Problematik in konventionellen Lebensentwürfen. Wenn Hauschner nun jedoch die Familie Lowositz mit dem Ausbruch Camillas aus der Ehe enden lässt, ist danach zu fragen, welche Haltung sie zu Camillas Leiden und zu ihrer Absage an die Konvention einnimmt. Über die komplexe und

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hochdifferenzierte Verarbeitung zeitgenössischer Diskurse zur Überspanntheit und deren Zusammenhang mit soziokulturell bestimmten identitären Konstrukten von Weiblichkeit, Mutterschaft und Judentum zeichnet Hauschner ein Bild, in dem der jüdische Brauch der arrangierten Ehe zentrale Bedeutung einnimmt. Nimmt sich ihre Erzählhaltung gegenüber den nervlichen Krisen Camillas sowie auch ihrer Mutter Jettkas weitgehend kritisch-distanziert aus, so wendet sie ihnen jedoch dort uneingeschränktes Mitgefühl zu, wo sie auf die über den Kopf der Frau hinweg arrangierte Eheschließung zurückzuführen sind. Über die Heirat Camillas mit Katzler wirft Hauschner Fragen über die Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern und nach der Zugehörigkeit von ethnisch und ökonomisch bestimmten sozialen Schichten auf, denn die arrangierte Ehe veranschaulicht die patriarchalische Gewalt, der Camilla ausgesetzt ist, und fesselt die kultivierte und an deutschen Bildungswerten orientierte Bürgerstochter an eine Lebenswelt, von der sie sich zu lösen sucht. Begreifen wir die arrangierte Ehe und die damit verbundene Festschreibung auf ein betont als jüdisch markiertes Milieu als den Knotenpunkt von Hauschners Darstellung jüdischer Weiblichkeit, so ist die psychische Folge, das Gefühl der Beengung und Bedrückung, als Grunddisposition auch Rudolfs – und damit als allgemein jüdische Gemütsveranlagung gezeichnet. Die Zweisträngigkeit des Romans veranschaulicht, dass trotz des unterschiedlichen Radius männlicher und weiblicher Aktivität beide Geschwister nicht nur unter ihrer sozialen Position als deutsche Juden leiden, sondern am – auch als psychische Anlage, als Mentalität definierten – Judentum selbst. Ihr Ausbruchsversuch aus den Fesseln deutsch-jüdischer Beengung durch den Ortswechsel nach Berlin ist zum Scheitern verurteilt, denn in einer nicht unproblematischen Wendung verbindet Hauschner den Diskurs jüdischer Identität mit dem der Dekadenz und verortet diese, im Einklang mit vielen zeitgenössischen kulturkritischen Stellungnahmen, in der großstädtischen Moderne. Ob der von der Autorin angedeutete Ausweg ›natürlichen‹ Lebens tatsächlich eine Lösung bietet, muss dahingestellt bleiben. Mit der Geschichte Camillas schreibt Hauschner weibliche Erfahrung und eine weibliche Perspektive fest in das Genre des jüdischen Familienromans ein. Sie greift mit der Problematik der jüdischen Frau in patriarchalischen Familienstrukturen ein Thema auf, das auch in Croners Abhandlung zur ›modernen Jüdin‹ an zentraler Stelle steht. Wo Croner jedoch ihr Idealbild der Jüdin auf deren Stellung innerhalb der Familie festlegt und ihre Akzeptanz dieser traditionellen Rollenzuschreibung betont, stellt Hauschner die psychologischen Kosten weiblichen Gehorsams in den Mittelpunkt der Charakterisierung ihrer Camilla.

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Um die hier skizzierte Argumentation im Detail entwickeln zu können, werden das genaue, kritische Lesen des Texts durch die Einbettung von Hauschners Doppelroman in ihr Gesamtwerk und in die sozialgeschichtliche Situation des deutsch-jüdischen Bürgertums in Prag zu ergänzen und Verbindungen zu psychologischen Diskursen der Überspannung in zeitgenössischen psychologischen und literarischen Texten aufzuzeigen sein.

3.1 Auguste Hauschner: Einführung zu Autorin und Werk Wenn Auguste Hauschner, die 1850 in Prag geboren wurde und von ihrer Eheschließung 1871 bis zu ihrem Tod 1924 in Berlin lebte, auch heute eine mehr der fast gänzlich vergessenen Schriftstellerinnen der deutschen Literaturgeschichte ist, so war sie ihren Zeitgenossen doch als Kritikerin, Romanautorin und vor allem als Salonnière und großzügige Mäzenin bekannt. Sie schrieb in bedeutenden Zeitschriften des Kaiserreichs, unter anderem in der Literaturzeitschrift Das Literarische Echo, im damals führenden Satireblatt Simplicissimus und in der von Maximilian Harden herausgegebenen Zukunft; sie verfasste mehrere Theaterstücke, die am Neuen Deutschen Theater in Prag und am Wiener Theater in der Josefstadt aufgeführt wurden, und publizierte eine Anzahl weithin beachteter Romane und Novellen in Verlagen wie Albert Langen, Egon Fleischel, Hermann Hillger und der Deutschen Verlags-Anstalt.2 Doch wie schon Alfred Kantorowicz in einem Nachruf wenige Jahre nach ihrem Tod andeutete, verschwand das Werk der Schriftstellerin hinter dem der Salonnière: »Denn die Produktivität Auguste Hauschners«, so Kantorowicz, »lag nicht darin, daß sie Bücher schrieb; sie lag in der seltenen Fähigkeit, kreisbildend zu sein, eines der kulturellen Zentren einer Epoche in Deutschland zu werden.«3 Tatsächlich gibt der von Martin Beradt und Lotte Bloch-Zavřel 1929 herausgegebene Band von Briefen an Hauschner, der Schreiben von Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Max Brod, Clara Viebig, Gabriele Reuter, Hedwig Dohm und vielen mehr enthält, Einblick in einen lebendigen geistigen Austausch, der sich im Unterschied zu

|| 2 Vgl. Archiv Bibliographia Judaica (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Redaktionelle Leitung Renate Heuer. Bd 10. Eintrag ›Hauschner, Auguste‹. München: Saur 2002, S. 248–262. 3 Alfred Kantorowicz: Aufsatz in Neue Badische Landeszeitung, 17. Juli 1929; hier zitiert nach Archiv Bibliographia Judaica (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, ebd., S. 261. Zu Hauschners Salon und ihrer Tätigkeit als Mäzenin vgl. Max Brod: Der Prager Kreis. Stuttgart: W. Kohlhammer 1966, S. 42–45; Hella-Sabrina Lange: »Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten«. Zum Werk der Schriftstellerin Auguste Hauschner (1850–1924). Essen: Klartext 2006, S. 53–58 und Hahn, Die Jüdin Pallas Athene (wie Einleitung, Anm. 35), S. 138–140.

3.1 Auguste Hauschner: Einführung zu Autorin und Werk | 69

programmatischen Bewegungen wie z. B. dem Friedrichshagener Kreis durch seine Offenheit auszeichnete.4 Diese Briefe – und andere, die nicht in jenen Band aufgenommen wurden, aber in Hauschners Nachlass einzusehen sind ‒ vermitteln darüber hinaus auch ein Charakterbild der Autorin als persönlich und politisch engagierte, oft überraschend offene, warmherzige und vielseitig interessierte Korrespondentin.5 Über der »Empfängerin der Briefe prominenter Zeitgenossen«, als die Hauschner »in der Nachwelt ›überlebt‹«, wie Birgit Seemann kritisch vermerkt,6 sollte jedoch die Schriftstellerin Hauschner nicht vergessen werden. Sie hat sich in ihren Werken unter anderem mit der Spannung zwischen künstlerischer Tätigkeit von Frauen und der weiblichen Rollenzuschreibung der Liebenden, Ehefrau und Mutter beschäftigt (so in Kunst, 1904 und Die große Pantomime, 1913), hat ihre naturalistische Darstellungskunst unter Beweis gestellt (Daatjes Hochzeit, 1902) und sich mit utopischen Siedlungsprojekten auseinandergesetzt (Die Siedelung, 1918). Ihre differenzierte Beobachtung gesellschaftlicher Milieus und Konflikte (vor allem auch in Zwischen den Zeiten, 1906), ihr Humor, vor allem jedoch ihr psychologisches Einfühlungsvermögen machen ihre Romane auch heute noch zu unbedingt lesenswerten Werken, die sowohl in thematischer Hinsicht als auch in ihren komplexen Strukturen perspektivischer Mehrdimensionalität und sprachlich-syntaktischer Experimentierfreude auf ihre Schwellenstellung zur literarischen Moderne verweisen.

|| 4 Vgl. Martin Beradt und Lotte Bloch-Zavřel (Hg.): Briefe an Auguste Hauschner. Berlin: Ernst Rowohlt 1929. Zum Friedrichshagener Kreis und dessen Programm der Lebensreform und des literarischen Naturalismus vgl. Valentina Di Rosa: Der Friedrichshagener Kreis und die Neue Gemeinschaft: Experiment und Krise zweier Künstlerkolonien der frühen Moderne. In: Godela Weiss-Sussex und Charlotte Woodford (Hg.): Protest and Reform in German Literature and Visual Culture, 1871–1918. München: iudicium 2015, S. 70–93. 5 Vgl. Nachlass Auguste Hauschner, Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Der Nachlass enthält unter anderem auch ein Konvolut von Briefen der Autorin selbst an Gustav Landauer, in denen die Rede nicht nur von einer Vortragsreihe ist, die sie für ihn organisiert, sondern auch von finanzieller Unterstützung, von politischen und sozialen Interessen (sie abonnierte Landauers 1909 zum dritten Mal neu gegründete Zeitschrift Sozialist), von ihrem literarischen Schaffen und – sehr persönlich – von dem, »was sie wirklich bewegt« und was sie nicht bereit ist, »in sich hinein[zu]schweigen« (Brief vom 8. Dezember 1907). 6 Birgit Seemann: »Eine Menschheit über allen Völkern« ‒ Auguste Hauschner, Schriftstellerin zwischen Prag und Berlin. In: Renate Heuer (Hg.): Verborgene Lesarten. Neue Interpretationen jüdisch-deutscher Texte von Heine bis Rosenzweig: in memoriam Norbert Altenhofer. Frankfurt a. M.: Campus 2003 (Campus Judaica; 20), S. 187–203, hier S. 203.

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Die Familie Lowositz ist ohne Zweifel Hauschners erfolgreichstes Werk – und auf dieses konzentriert sich der Großteil der kritischen Aufmerksamkeit, die der Autorin bisher gewidmet wurde. Auffallend ist dabei, dass die Forschungsliteratur sich beinahe ausschließlich mit Hauschners Schilderungen der ethnisch-kulturellen Konflikte in Prag befasst: Andreas Herzog zum Beispiel liest Die Familie Lowositz als »Dokument von nationalen und interkulturellen Konflikten«, wobei er hervorhebt, dass Konflikte »nicht nur zwischen, sondern innerhalb der ethnisch oder religiös bestimmten Kulturen« verlaufen;7 Susanne Fritz ordnet den Doppelroman vornehmlich als Auseinandersetzung mit der »Stellung der deutschsprachigen Juden zwischen Deutschen und Tschechen im Prag des späten 19. Jahrhunderts« ein.8 Mit diesem Blickwinkel der Forschung geht die Konzentration auf Rudolf Lowositz einher, auf die Romanfigur nämlich, die den Erzählstrang trägt, der sich mit der Thematik des interkulturellen Konflikts beschäftigt. Die duale Anlage des Romans und der auf Camillas Erfahrungswelt aufbauende Erzählstrang werden nur wenig beachtet. Herzog zum Beispiel geht so weit, den Text ganz einfach als »die Geschichte eines jüdischen Kaufmannssohnes« zu beschreiben.9 Diese enge Fokussierung des Blicks ist nicht nur eine Erscheinung der neueren Literaturhistoriographie: Schon unter den Erstrezensenten gab es Stimmen, die – besonders mit Bezugnahme auf den ersten Teil der Familie Lowositz ‒ diese implizite Gewichtung vornahmen. 1909 schreibt Gertrud Bäumer im literarischen Echo: »Wie ein weicher, erregbarer Knabe seinen Weg durch die Klippen der neuen Zeit sucht, wird gezeigt« ‒ und erwähnt Camilla mit keinem Wort.10 Auch der Rezensent in Ost und West erklärt, es gehe um das »Irren und Streben des jugendlichen Rudolf Lowositz«11 und enthüllt die Einseitigkeit seiner Lektüre in einem geradezu absurd anmutenden Gedankensprung, der einen Absatz über die »jungen Mädchen« in dem Buch abschließt: »Aber die Mädchen verzichten gern auf ihre Träume, – sie werden verheiratet«, schreibt er und

|| 7 Andreas Herzog: Auguste Hauschners »Die Familie Lowositz« (1908/1910). Ein jüdischer Roman als Dokument von nationalen und interkulturellen Konflikten. In: Tanja Lange, Jörg Schönert und Péter Varga (Hg.): Literatur und Kultur in Grenzräumen. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2002, S. 73–81, hier S. 80. 8 Susanne Fritz: Die Entstehung des »Prager Textes«. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934. Dresden: Thelem 2005, S. 169. 9 Herzog, Auguste Hauschners »Die Familie Lowositz« (wie Anm. 7), S. 74. 10 Gertrud Bäumer: Auguste Hauschner. In: Das literarische Echo 12 (1909/10), Sp. 89–95, hier Sp. 94. 11 M. Sch.: [Rezension von] »Die Familie Lowositz«. In: Ost und West 9 (1909), Sp. 251–252, hier Sp. 251.

3.2 Anlage des Doppelromans | 71

schließt dann scheinbar bruchlos an: »Diesem Leben mit seinen festgelegten Begriffen will Rudolf Lowositz entfliehen.«12 Von Camillas Wünschen, diesem Leben zu entfliehen, ist keine Rede – geschweige denn davon, dass sie am Verzicht auf ihre Träume beinahe zugrunde geht, anstatt ihn »gern« zu leisten. Die verzerrte Wahrnehmung, die diesen Darstellungen zugrunde liegt, ist erstaunlich; sie verweist auf einen Lesevorgang, der von bestimmten Erwartungshaltungen gesteuert ist, die in Sozialisierungs- und Bildungsprozessen als grundlegend verankert und verfestigt sind und die den männlichen Erfahrungsbereich über den weiblichen erheben.13 Darauf, dass auch eine weniger auf den männlichen Protagonisten fixierte Blickweise durchaus möglich und berechtigt sein mag, weisen allerdings schon 1908 nach dem Erscheinen des ersten Teils andere Stimmen hin. Dem Rezensenten der Frankfurter Zeitung erscheinen »die Frauengestalten, namentlich die heranwachsenden Mädchen« besonders gelungen, während ihm der »jugendliche Held des Buches, Rudolf Lowositz, nicht recht lebendig werden« will.14 Zwei Jahre später bestätigt Jakob Elias Poritzky in seiner Besprechung von Rudolf und Camilla diesen Eindruck: »Camilla allein ist ein lebendiger Mensch, dessen Schicksal mich innig ergriffen hat; die übrigen Gestalten huschten wesenlos an mir vorbei, wenngleich sie sich oft stark in den Vordergrund drängten.«15 Aufbauend auf diesen Beobachtungen soll hier gezeigt werden, dass der Darstellung der weiblichen Protagonistin eine zentrale Stellung in Hauschners Familie Lowositz zukommt. Zunächst ist dabei auf den autobiographischen Ansatz des Doppelromans und auf seine zweisträngige Erzählstruktur, die männliche und weibliche Erfahrung in Vergleich und Kontrast einander gegenüberstellt, einzugehen.

3.2 Anlage des Doppelromans Die Ähnlichkeit der Anlage von Hauschners zentralen Frauengestalten, deren bemerkenswerte psychologische Komplexität und die Wiederaufnahme von

|| 12 Ebd., Sp. 252. 13 Vgl. hierzu Pierre Bourdieus Begriff der Doxa als Summe der sozialen Annahmen und Praktiken, die als selbstverständich akzeptiert und als normativ verstanden werden. Pierre Bourdieu: Outline of a Theory of Practice. Cambridge: Cambridge University Press 1977, S. 164. 14 Rezension in der »Frankfurter Zeitung«, 9. September 1908; hier zitiert nach Archiv Bibliographia Judaica (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (wie Anm. 2), Bd 10, S. 256. 15 Jakob E. Poritzky: [Rezension von] »Rudolf und Camilla«. In: Das literarische Echo 12 (1909/10), Sp. 1407–1408, hier Sp. 1407.

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Details in ihren Charakterisierungen16 weisen auf die Bedeutung autobiographischer Elemente in Hauschners Romanen hin. Vor allem einem Thema wendet die Autorin sich immer wieder zu: dem der weiblichen Überspannung. Viele ihrer Protagonistinnen flüchten sich in schwärmerische Phantasien und übersteigerte Erwartungen an die romantische Liebe; nervenschwach und überreizt, sind sie der Realität oft nicht gewachsen, und statt selbstbewusst ihr Leben in die Hand zu nehmen, leiden sie an ihrem Schicksal ‒ bis hin zu nervlichen Zusammenbrüchen. Schon in ihrem frühen Roman Lehrgeld (1899) stellt Hauschner mit der an ihrer Ehe leidenden Toni eine solche überspannte Figur in den Mittelpunkt des Geschehens. Sie schildert Tonis Charakter nuancenreich und mit tiefem Verständnis, lässt die Erzählerhaltung aber zwischen Empathie und Verurteilung der Unreife ihrer Figur schwanken und führt die Handlung schließlich einer konventionellen Auflösung zu, indem sie sich Toni in die Rolle der Ehefrau einfinden lässt. Eine ähnlich komplexe Darstellung des Leidens einer jungen Frau begegnet uns in Kunst (1904), einem Roman, der die Konflikte der angehenden Malerin Marianne zwischen schöpferischer Arbeit und Liebessehnsucht zum Thema hat und mit deren entmutigtem Rückzug sowohl von ihren künstlerischen Ambitionen als auch von der Liebe zu einem verheirateten Mann endet. Die Figuren der Toni und Marianne weisen auf die Charakterisierung der Camilla Lowositz voraus, sind aber noch nicht mit dem Thema deutsch-jüdischer Identität verbunden. Diese Verknüpfung, die in der Familie Lowositz eine wichtige Rolle spielt, scheint später noch einmal in einer Novelle auf, die Hauschner 1911 unter dem Titel Versöhnungstag im Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur veröffentlichte und in der sie der überspannten Frau eine aktivere Rolle zugesteht, ihre Auflehnung gegen den Ehemann jedoch auch hier in die schließliche Fügung in den Rahmen der Ehe zurückführt.

|| 16 Ein Beispiel ist in dem kindlichen Aberglauben Camillas zu finden, dass jeder Tag sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes bringen müsse, vgl. Auguste Hauschner: Die Familie Lowositz. Berlin: Egon Fleischel & Co 1908, S. 17. Im Folgenden werden Verweise auf diesen Roman mit dem Kürzel FL gekennzeichnet und erscheinen mit Seitenangaben im Text. Dasselbe Motiv findet sich in der frühen Skizze »Die Reise nach Prag«, in der die Ich-Erzählerin sich erinnert: »Und da ich außerdem der festen Überzeugung lebte, jedes Böse, das mir zu irgendeiner Tageszeit geschah, verkehre sich nach einer Anzahl Stunden in sein Gegenteil, hatte ich gestern abend absichtlich einen großen Fettfleck auf das saubere Tafeltuch gemacht und mich von Tante Frieda furchtbar schelten lassen.« Auguste Hauschner: Die Reise nach Prag. In: Auguste Hauschner: Erste Liebe [1921]. Berlin: Hermann Hillger 1931, S. 57–62, hier S. 57–58. Die Erzählung spielt in der Mädchenpension Jesenius, in der die junge Prager Protagonistin ‒ ganz wie Hauschner selbst es tat ‒ ihre Schulzeit verbringt.

3.2 Anlage des Doppelromans | 73

Auf diese ›Schwestern‹ Camillas wird in der Interpretation der Familie Lowositz zurückzukommen sein; hier sei nur vermerkt, dass die topische Wiederholung des Überspannungsthemas auf einen autobiographischen Hintergrund verweist, auf den in zeitgenössischen Rezensionen auch wiederholt angespielt wird. Jakob Poritzky zum Beispiel führt die einfühlsame Gestaltung der Figur auf die Nähe der Figur zur Autorin zurück: Diese Camilla so lebensvoll aus dem Innersten heraus zu gestalten, dazu gehört viel Kunst. Diese tausend Disharmonien in eine Harmonie zu bringen, dieses chaotische Gewirr von Einzelzügen durch eine geschickte Synthesis in eine überzeugend wahre Charakteristik zu bringen, dazu gehört […] viel Selbstbeobachtung, viel Wahrheitsliebe und viel Intuition. Aber Kunst ist hier ein schlecht angewendetes Wort, denn ich bin überzeugt, daß die Zeichnung Camillas der Dichterin weit weniger schriftstellerische Mühe gemacht hat, als die der anderen Personen.17

Der mit Hauschner befreundete Max Brod bestätigt diesen Eindruck in seinem Buch über den ›Prager Kreis‹ (1966). Hier erwähnt er die »eindeutig autobiographische[n] Züge« der Familie Lowositz,18 ja, er identifiziert Camilla geradezu mit der Autorin, wenn er die Handlungszeit des Doppelromans als die Zeit beschreibt, »in der das junge Fräulein Sobotka (Camilla) geheiratet hat und Frau Hauschner wurde«.19 Hauschner selbst sprach – allgemeiner gewendet – von den autobiographischen Quellen ihrer Bücher und von der Bewältigung ihres Erlebens im Schreiben: »meine[] Skizzen, Novellen und Romane[]«, so formuliert sie, »[sind] das Echo meines Schicksals […], die Beichte meines Wesens«.20 So liegt in der Nähe des Stoffs zum Selbst-Erlebten und in der Erinnerung als Inspiration sicher ein wichtiger Aspekt von Hauschners Schreiben: ein Aspekt, der die Zentralität des auf Camilla ausgerichteten Erzählstrangs in der Konzeption der Familie Lowositz betont. Camilla, wie zuvor auch Marianne in Kunst oder Toni in Lehrgeld, ist eine Gestalt, die das innerste Anliegen der Autorin transportiert.

|| 17 Poritzky, [Rezension von] Rudolf und Camilla (wie Anm. 15), Sp. 1407. 18 Brod, Der Prager Kreis (wie Anm. 3), S. 45. 19 Ebd., S. 51. 20 Auguste Hauschner: Autobiographische Notiz. In: Auguste Hauschner: Doktor Ferenczy. Berlin: Hermann Hillger 1913, o. S., hier zitiert nach Helena Teufel: Auguste Hauschner ‒ eine Pragerin in Berlin. In: Margarita Pazi und Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Berlin und der Prager Kreis. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 57–80, hier S. 62. An anderer Stelle erklärt sie, ihre Protagonisten verrieten »die Seele de[r] Verfasser[in]«. Auguste Hauschner: Das erste und das zweite Buch. In: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1429–1433, hier Sp. 1432.

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Andererseits aber war es Hauschner daran gelegen, ihr Werk über das persönliche Bekenntnis zu erheben. Sie hat zwar keine literaturtheoretischen Schriften veröffentlicht, aus ihren Rezensionen ist ihr Literaturbegriff jedoch recht gut ablesbar. Zwei dieser Rezensionen aus dem Jahr 1911 seien hier zitiert. In einer Besprechung von Ella von Bonins Leben der Renée von Catte schreibt Hauschner: »Auch ist wie immer, wenn ein übervolles Frauenherz sich erstmalig ergießt, in die Konfession Renées ein wenig Sentimentalität hineingeflossen«;21 und ganz ähnlich beschreibt sie in ihrer Kritik von Karin Michaelis’ Roman Das gefährliche Alter nicht das »nackte[]« Bekennen, sondern die Erhöhung »ein[es] Einzelschicksal[s] zum Typischen« als den Weg erfolgreicher literarischer Verarbeitung persönlichen Erfahrens.22 Dieses Bekenntnis zum Realismus liegt Hauschners Darstellung der Camilla als Mädchen ›aus guter Familie‹ – und spezifischer als Tochter des jüdischen Bürgertums ‒ zugrunde. Doch Hauschner geht es ja nicht nur um Camilla – ebensowenig wie Rudolf den alleinigen Mittelpunkt ihres Romans darstellt. Die Anlage der Familie Lowositz ist eben nicht die des Frauenromans; Hauschner nimmt die autobiographisch verankerte Frauenthematik als Ausgangspunkt, geht jedoch über diese hinaus und bettet sie in ein breit angelegtes Gesellschaftsbild ein. Schon in ihrem 1906 veröffentlichten Roman Zwischen den Zeiten hatte sie sich dieses Vorgehens erfolgreich bedient. Gertrud Bäumer hebt in ihrer Besprechung dieses Romans vor allem als gelungen hervor, »daß hier ein Frauenschicksal in den unmittelbaren Kontakt mit den historisch-gesellschaftlichen Problemen tritt, der bisher nur in der männlichen Lebenssphäre vorhanden war«.23 In Zwischen den Zeiten ist jedoch das Gesellschaftsbild, das sich auf eine kleine böhmische Industriestadt konzentriert, weitgehend noch an den Erfahrungsbereich der weiblichen Protagonistin gebunden. Demgegenüber erweitert Hauschner in der Familie Lowositz durch die Anlage als doppelt fokussierter Roman den Spielraum ihrer Darstellungsmöglichkeiten sowohl in thematischer als auch in stilistischer Hinsicht erheblich. Indem sie die Handlung alternierend auf je eines der beiden Geschwister konzentriert, kann sie Unterschiede im sozialen Radius und im geistigen Horizont von Bruder und Schwester realistisch und präzise aufzeigen und diese Unterschiede bis hin zur Gestaltung des

|| 21 Auguste Hauschner: [Rezension von] »Das Leben der Renée von Catte«. In: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1264. 22 Auguste Hauschner: [Rezension von] »Das gefährliche Alter«. In: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 604–605, hier Sp. 604. 23 Bäumer, Auguste Hauschner (wie Anm. 10), Sp. 92–93.

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Sprachduktus ihrer Protagonisten für die differenzierte Charakterisierung und Zeichnung des soziokulturellen Umfelds nutzen.24 Immer im Rahmen des realistischen, typisierenden Literaturbegriffs erlaubt die Zweisträngigkeit – aufgrund des weit offeneren Erfahrungsraums Rudolfs – die Darstellung des »Ringens mit großen Fragen« auch über den weiblichen Lebensbereich hinaus. Die Formulierung stammt von Gertrud Bäumer und bezieht sich in erster Linie auf das »Rassen- und Nationalitätenproblem, wie es sich in der böhmischen Hauptstadt in immer hoffnungsloserer Verworrenheit zeigt«.25 Bäumer spielt hier darauf an, dass die spezifische Problemlage Prags im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert sich nicht nur auf den Konflikt zwischen Tschechen, Deutschen und deutschsprachigen Juden bezieht, sondern auch auf Spannungen innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung, die in Verbindung mit der Selbstverortung im Spektrum der Möglichkeiten und Gradierungen jüdischer Assimilation auftreten. Claudio Magris hat dies auf den Punkt gebracht: Prag ist […] nicht nur eine tschechisch-deutsche Grenze. Die wahre Grenze ist eine andere. Prag ist einer der räumlichen und geistigen Orte, wo die jüdische Assimilation erfolgt, jener Prozeß, der den Ostjuden von der Totalität des Gesetzes löst, ihn dadurch seine Identität verlieren läßt und ihn in eine Gesellschaft eingliedert, die ihn in Kürze mit antisemitischer Wucht zurückweisen wird […].26

Mit der literarischen Behandlung dieser Problematik fügt Hauschners Familie Lowositz sich in einen Textkorpus ein, den Gilles Deleuze und Félix Guattari als »kleine Literatur« bezeichnen, eine Literatur nämlich, die eine Minderheit innerhalb einer Mehrheitssprache konfiguiert.27 Zwei Charakteristika dieser »kleinen Literatur« heben Deleuze und Guattari als bestimmend hervor: erstens die Spiegelung der »Deterritorialisierung« der Prager deutschen Juden, die sich in einer prekären Grenzposition zwischen Zugehörigkeit zur deutschen Minorität und Ausschluss selbst aus dieser befinden,28 und zweitens die Tatsache, dass

|| 24 Camilla spricht ein deutlich stärker dialektalisch gefärbtes Deutsch als der an Gymnasium und Hochschule erzogene Rudolf. 25 Bäumer, Auguste Hauschner (wie Anm. 10), Sp. 94. 26 Claudio Magris: Prag als Oxymoron. In: Neohelicon 7.2 (1979), S. 11–65, hier S. 50. 27 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 24. 28 Auch Claudio Magris betont diesen Aspekt der Deterritorialisierung in seiner Beschreibung der Situation der Prager Juden als ein »Schweben im Niemandsland«. Magris, Prag als Oxymoron (wie Anm. 26), S. 50. Gaëlle Vassogne erläutert, dass die deutschsprachigen Juden 60 % der Minorität der Prager Deutschen ausmachten und dass aufgrund dieses zahlenmäßigen

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eine solche Literatur der Minorität in der Minorität notwendigerweise als kollektive Äußerung verstanden wird ‒ und damit politischen Charakter annimmt: »Das Dreieck der Familie« wird, so formulieren sie, mit »anderen […] Dreiecken, die seine Werte bestimmen«, verbunden: im geschäftlichen, ökonomischen, bürokratischen und justiziären Bereich.29 Der Rezensent in Ost und West bestätigt diese Bedeutung auch für Hauschners Roman: »[D]ie Eigenheiten des Milieus sind hier zu einem Roman gestaltet«, schreibt er. »Die Familie Lowositz ist der Typus der Prager Judenfamilie.«30 Und tatsächlich: so individuell einzelne Aspekte der Familie und der Charakterzeichnungen ihrer Mitglieder auch sein mögen, so typisch ist doch die Schilderung ihrer Einbettung in das soziale Gefüge.31 Das Bewusstsein der Überlegenheit der gutsituierten Familie Lowositz gegenüber dem jüdischen Kleinbürgertum oder die über die Generationen fortschreitende Abwendung von den Bräuchen und Riten des Judentums sind hier als Beispiele anzuführen. Der Titel des Doppelromans (und seines ersten Teils) ist in dieser Hinsicht bedeutsam, denn er ordnet das Werk in den Kontext des Familienromans ein, der in exemplarischer Weise das Individualporträt mit dem Gesellschaftsbild verbindet.32 Wie in Manns Buddenbrooks (1901) wird auch hier die patriarchalische Familienordnung unter die Lupe genommen; und ebenso wie in Buddenbrooks das Ende der Familie als das Ende der Patriarchie zu lesen ist, wird auch hier im Ausbruch beider Geschwister aus dieser Ordnung ihr Ende signalisiert.33

|| Übergewichts die Unterstützung der Juden für das »Überleben der deutschen Bevölkerung in Prag« notwendig war. So fanden die Juden sich einerseits als Verbündete gegen die tschechische Majorität wilkommen, andererseits aber aufgrund von antisemitischen Einstellungen gesellschaftlich ausgeschlossen. Gaëlle Vassogne: Max Brod in Prag: Identität und Vermittlung. Tübingen: Niemeyer 2009 (Conditio Judaica; 75), S. 4. 29 Deleuze/Guattari, Kafka (wie Anm. 27), S. 25. 30 Sch., [Rezension von] »Die Familie Lowositz« (wie Anm. 11), Sp. 251. 31 Entgegen der von Deleuze und Guattari postulierten Definition ist Hauschners Schreiben jedoch nicht positiv identitätskonstituierend; sie trägt nicht dazu bei, jüdische Identität im Widerstand und in der Differenz zur Mehrheitsgesellschaft zu umreißen. 32 Zum jüdischen Familien- und Zeitroman vgl. Florian Krobb: »Der Weg ins Freie« im Kontext des deutsch-jüdischen Zeitromans. In: Ian Foster und Florian Krobb (Hg.): Arthur Schnitzler: Zeitgenossenschaften/Contemporaneities. Bern: Peter Lang 2002, S. 199–216; und Robertson, The ›Jewish Question‹ (wie Einleitung, Anm. 7), S. 273–285. Vgl. auch Kapitel 5 zu Elisabeth Landaus Roman Der Holzweg, in dem näher auf genrespezifische Merkmale eingegangen wird. 33 Zu Manns Buddenbrooks vgl. Elizabeth Boa: »Buddenbrooks«: Bourgeois Patriarchy and ›fin-de siècle‹ Eros. In: Michael Minden (Hg.): Thomas Mann. London: Longman 1995, S. 125– 142. Boa liest den Roman im Hinblick auf seine Darstellung der patriarchalischen Familie und

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Dieser Bezug ist wichtig, aber die Zeichnung der Generationenfolge und der Veränderungen, die sie mit sich bringen – konstitutives Element des Familienromans – nimmt bei Hauschner eine untergeordnete Bedeutung ein. Mit ihrer Konzentration auf das Geschwisterpaar Rudolf und Camilla stellt sie stattdessen die sozialpolitisch und seelisch konstituierte Grundsituation deutsch-jüdischer Jugend in den späten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in den Mittelpunkt ihres Texts. Sie schildert, wie der Journalist Ludwig Steiner es 1908 in einem Brief an Hauschner formulierte, »nicht nur das ›Milieu‹, das uns alle umgibt, sondern sozusagen die dadurch bedingte psychische Verfassung des jungen deutschen Pragers«.34 Hauschner bestätigt diese Sichtweise insofern, als sie den Brief 1910 dem zweiten Teil des Doppelromans, Rudolf und Camilla, voranstellt und ihn als Beleg gegen die Abstempelung ihres Texts als Schlüsselroman anführt. Während aber Steiner nur den männlichen »jungen deutschen Prager« im Blick hat, geht es hier darum zu zeigen, dass sowohl Rudolf als auch Camilla als exemplarisch aufzufassen sind – der Roman beruht strukturell auf eben dieser dualen Anlage, die den weiblichen und den männlichen Lebensbereich in ihrer Komplementarität schildert. Die Kontrastierung ihrer Protagonisten erlaubt es Hauschner, deren verschiedene geschlechtsbedingte Spiel- und Erfahrungsräume darzustellen. Anhand der unterschiedlichen Erfahrungen der Geschwister in ihrer Heimatstadt Prag wird dies besonders deutlich. Camilla lebt als jüngstes Kind einer gutbürgerlichen, weitgehend assimilierten jüdischen Familie ein zwar gesichertes, aber einsames Leben, dem die elterliche Zuwendung und geistige Förderung fehlen. Ihr räumlicher und sozialer Bewegungsradius als Tochter aus deutsch-jüdischem »gutem Hause« in Prag ist außerordentlich begrenzt: Abgesehen von Spaziergängen mit der Gouvernante, vom Bruder begleiteten Besuchen bei Verwandten und von vereinzelten von der älteren Schwester überwachten Ballbesuchen verlässt sie nur selten das Haus. Dementsprechend erwirbt sie keinerlei Kenntnis über die Lebensbedingungen ihrer Mitmenschen und entwickelt auch kein Bewusstsein eigener Handlungsfähigkeit. Konfrontiert mit bitterer Armut zum Beispiel, zeigt sie weder Interesse noch Mitgefühl, sondern bleibt ganz in ihrer mädchenhaften Selbstbezogenheit gefangen (vgl. FL, 111). Weitgehend fügt sie sich passiv in das Schicksal, das ihr vom patriarchalisch strukturierten Familienverbund bestimmt wird.

|| der psychosomatischen Reaktionen der Protagonisten auf deren instabile Strukturen – ein Interpretationsansatz, der die Nähe von Hauschners zu Manns Werk verdeutlicht. 34 Ludwig Steiner: Brief an Auguste Hauschner, 27. Juni 1908. In: Beradt/Bloch-Zavřel (Hg.), Briefe an Auguste Hauschner (wie Anm. 4), S. 100–101, hier S. 101.

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Rudolf dagegen genießt weitgehendste Bewegungsfreiheit – nicht nur in deutsch-jüdischen Kreisen – , und doch trifft er auf Schritt und Tritt auf unsichtbare Grenzen, die ihm Zugehörigkeit verwehren. Zwar ist er bei seinen christlichen deutschen Mitschülern als Helfer bei Hausaufgaben gern gesehen, der weitere gesellschaftliche Umgang mit deren Familien ist ihm jedoch verwehrt. Als die Eltern seines Freunds Kurt von Leschner Gäste erwarten, wird Rudolf »weggeschickt wie ein Lakai« (FL, 84). Er nimmt Kontakt zu Tschechen auf, mit denen er sich als Vertreter einer anderen – zwar nicht zahlenmäßigen, aber sozialen – »Minderheit« verbunden fühlt (FL, 84), doch weiß er sich von ihrem stolzen Nationalgefühl ausgeschlossen, und der Kontakt entfremdet ihn zunehmend von seinen (auch jüdischen) deutsch-national gesinnten Kameraden. Anhand der aus Rudolfs Perspektive gezeichneten Schilderungen Prager Stadträume verdeutlicht Hauschner effektiv die Entwurzelung ihres männlichen Protagonisten. Die Bedrückung, die er in der »Kerkerstimmung« der »Judenstadt« empfindet, wird durch die Beschreibung »enge[r], luftberaubte[r] Gäßchen«, häßlicher schmaler Häuser, in deren Erdgeschossen sich Prostituierte räkeln und dem »schmutzige[n] und geschwärzte[n] Bethaus« unterstützt. Die abstoßende Schilderung der Häuserreihen, die wie »lockere Zähne in einem welken Kiefer« stehen, verdeutlicht, wie weit der assimilierte Bürgerssohn Rudolf sich von der Lebensweise seiner Vorfahren distanziert hat (FL, 112–113). In scharfem Kontrast hierzu steht die christliche mittelalterliche Prager Altstadt, die auf »Glanz und Blüte der tschechischen Geschlechter« verweist (FL, 101 und 100). Rudolf ist für die Schönheit und Geschichtsträchtigkeit dieser Seite Prags zwar empfänglich, sie führt ihm jedoch seine eigene Heimatlosigkeit umso stärker vor Augen: »Und eine Ahnung regte sich in ihm, was die Heimat und ihre von historischer Erinnerung verklärte Schönheit einem Volk bedeuten müsse, das, von seiner Sprache wie von einer Mauer eingeschlossen, in der Hauptstadt seines Landes den Mittelpunkt der Welt sieht.« (FL, 102) Rudolfs Sehnsucht danach, ethnische und soziale Grenzen zu überschreiten, fügen sich seine Bemühungen hinzu, eine geistig-spirituelle sowie auch eine politische Heimat zu finden. Er bewegt sich unter deutsch-nationalen Gruppierungen, Sozialisten und Darwinisten, schwankt zwischen Schopenhauerlektüre und Urchristentum und fühlt sich immer wieder auf den Idealismus Schillers zurückgeworfen. Doch auch in der Liebe zu »deutschem Sinn und Wesen« (FL, 309) fühlt er sich nicht heimisch: Auf einer Wahlveranstaltung der deutschen Handelskammer, die ihm Anlass gibt, die eigene Position zu überdenken, erkennt er: »Wir Juden […] haben gar kein Vaterland.« (FL, 337) Der Eindruck, den Hauschner hier sehr geschickt vermittelt, ist, dass Rudolf trotz all seiner Bewegungsfreiheit letztlich als deutscher Jude in Prag ebenso

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wenig Spielraum hat, einen selbstbestimmten Lebensweg einzuschlagen wie seine in so viel offensichtlicherer Begrenzung aufwachsende Schwester Camilla. Zwar verkehrt er in unterschiedlichen Kreisen der Prager Gesellschaft, während sie an Haus und Familie gefesselt bleibt, zwar ist er in Literatur und Philosophie bewandert, während sie nur leichte Unterhaltungslektüre liest, aber doch leiden beide gleichermaßen in »dieser Seelenstickluft« (FL, 316) der deutsch-jüdischen doppelten Minorität. Die Schilderung der Erfahrungsbereiche von Bruder und Schwester ist nicht nur kontrastiv angelegt, sondern ermöglicht im Vergleich auch die Fokussierung der ihnen gemeinsamen Empfindung der Beengung bei gleichzeitiger Heimatlosigkeit. Hauschner entwickelt jedoch die schon bei Steiner erwähnte »psychische Verfassung« ihrer Protagonisten weit über diese Grundproblematik hinaus. In den Charakterisierungen Camillas und ihrer Mutter Jettka greift sie dabei auf das Thema weiblicher Überspannung zurück, das sich durch ihr Gesamtwerk zieht, und so empfiehlt es sich, in der Analyse jüdischer Weiblichkeit in der Familie Lowositz dreischrittig vorzugehen: Zuerst gilt es, vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse zum Thema und im Vergleich zu Hauschners früheren Entwürfen die psychologisch komplexen Weiblichkeitsentwürfe des Doppelromans zu analysieren. Es wird zu untersuchen sein, auf welche Weise Hauschner das Verhalten ihrer Figuren perspektiviert – und vor allem, welche Haltung sie zu Camillas Ausbruch aus der Ehe einnimmt ‒, um dann die Frage anzuschließen, inwiefern dieses Verhalten mit dem spezifischen Milieu des deutschen Judentums in Prag verknüpft ist. Im Vergleich mit der psychischen Konstitution Rudolfs kann dann abschließend Hauschners Bild jüdischer Weiblichkeit und jüdischer Jugend schlechthin abgerundet werden. Geht es darum, die Position der Autorin auszumachen, so ist es wichtig, die Verlässlichkeit der Erzählerstimme immer wieder zu überprüfen und der Kontextualisierung und Perspektivierung der nervlichen Krisen Camillas und Jettkas Aufmerksamkeit zu widmen. Denn Hauschner rundet ihre Charakterisierungen durch vielschichtige Gestaltungsstrategien ab: Zuweilen lässt sie verschiedene Figurenperspektiven aufeinanderprallen oder widerspricht perspektivischer Darstellung durch direkt eingreifende Erzählerkommentare. Auf diese Weise schafft sie einen ständigen Wechsel von großer Nähe und überraschender Distanz zu ihren Figuren, der sowohl Mitgefühl als auch Kritik hervorruft und den Leseprozess kompliziert.

 

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3.3 Weiblichkeit und Überspannung 3.3.1 Diskurshistorisches Umfeld: Überspannung, Nervenschwäche, Hysterie Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert entspann sich in psychologischer, soziologischer und auch medizinischer Fachliteratur eine lebendige Diskussion um die Überspanntheit als Krankheitssymptom vor allem weiblicher Patienten. Während einerseits, in der männlich dominierten medizinischen Diagnostik, weibliche Schwäche als Ursache dieser oft als spezifisch weibliches Leiden konfigurierten Krankheit betont wird, ist an anderer Stelle der kritische Hinweis auf die Begrenzung weiblicher Aktivität als Auslöser zu finden. Auf diese Weise gerät die Beschreibung der Überspannung ins Spannungsfeld zwischen Pathologisierung und Anklage sozialer Bedingungen in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung und wird so zum Prüfstein der Darstellung von Weiblichkeit im öffentlichen Diskurs. In den literarischen wie auch den medizinisch-psychologischen Texten der Jahrhundertwende ist die Grenzziehung zwischen den Bezeichnungen »Nervosität, Neurasthenie und Hysterie« fließend35 – und die Begriffe der Überspanntheit und der nervlichen Überreiztheit (beide von Hauschner benutzt) lassen sich zu dieser Liste hinzufügen. Wichtig ist es jedoch im Blick zu behalten, dass nicht nur verschiedene Nomenklaturen benutzt werden, sondern dass das verhandelte Phänomen eigentlich eine Reihe verschiedener Verhaltensweisen zusammenfasst. Zum einen wird immer wieder die Flucht junger Mädchen in Phantasterei und Schwärmerei als Manifestation überreizter Nerven angeführt; ein Phänomen, das oft mit der Begrenztheit der Mädchenerziehung erklärt wird. Hedwig Dohm z. B. erklärte schon 1874 in ihrem Essay Die wissenschaftliche Emancipation der Frau die »Nervenzerrüttung so vieler bürgerlicher Frauen« damit, dass dem »erwachende[n] Geist« der jungen Mädchen die »positive Nahrung« vorenthalten werde. So schössen, fährt sie fort,

|| 35 Lilo Weber: »Fliegen und Zittern«. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld: Aisthesis 1996, S. 19. Dementsprechend werden im Folgenden diese Begriffe weitgehend synonym verwendet. Dem Hysteriebegriff allerdings kommt insofern eine etwas andere Bedeutungsnuance zu, als er stärker an die Definitionen Freuds und Breuers anbindet und meist im männlich-dominanten Diskurs über Frauen als das andere Geschlecht verwendet wird. Vgl. Sigmund Freud und Josef Breuer: Studien über Hysterie [1895]. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch 1970. Vgl. auch Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, hier besonders S. 126.

3.3 Weiblichkeit und Überspannung | 81

[a]lle überschüssigen Geisteskräfte des begabten Mädchens […] in die Phantasie, und je nach ihrem Temperament wird sie sich in phantastische Träumereien, in sinnliche Vorstellungen oder religiöse Schwärmereien vertiefen und verlieren. Das massenhafte Lesen von Büchern, die nur das Gefühlsleben anregen, überfluten ihre unentwickelte Intelligenz mit vagen Ideen und führen sie in ein Land der Illusionen, das im herben Contrast zur Wirklichkeit steht. Eine krankhafte Unruhe zehrt an dem jungen Leben und zerrüttet den Körper.36

Diese Diagnose nimmt spätere Stellungnahmen zum Thema vorweg. Josef Breuer und Sigmund Freud z. B. bezeichnen 1895 »den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Überschuß von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet« als »disponierend zur hysterischen Erkrankung«.37 Der sozialkritische Aspekt dieser Bemerkung ist unübersehbar, zumal Breuer und Freud diesen Typus der Hysterikerin als »lebhaft[es], begabt[es]« Mädchen »voll geistiger Interessen« und »Willensenergie« beschreiben.38 Infolge dieser und ähnlicher Beschreibungen lässt sich die Nervenkrankheit in feministischer Interpretation als kulturell konfigurierte Erkrankung der entmündigten Frau an der Gesellschaft und deren weiblicher Rollenzuschreibung lesen. Elaine Showalter und Christina von Braun z. B. betonen die Bedeutung der Krankheit als Reaktion auf den mangelnden Handlungsspielraum der Frau in der patriarchalischen Gesellschaftsordnung39 – als Auflehnung und »Sprache der Verstummten«.40 Stellenweise wird in der feministischen Forschung auch das »umstürzlerische Potential« dieser Rollenverweigerung angesprochen,41

|| 36 Hedwig Dohm: Emanzipation (Wiederabdruck von »Die wissenschaftliche Emancipation der Frau« [1874]). Hg. von Berta Rahm. Zürich: Ala 1982, S. 146–147. 37 Freud/Breuer, Studien über Hysterie (wie Anm. 35), S. 36. 38 »Wir glauben«, fährt Breuer fort, »dass man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen finden kann! […] Zu ihnen gehören jene Mädchen, die nachts aufstehen, um heimlich irgend ein Studium zu betreiben, das ihnen die Eltern aus Furcht vor Überanstrengung versagten.« Freud/Breuer, Studien über Hysterie (wie Anm. 35), S. 78. Vgl. auch Leopold Löwenfeld: Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie. Wiesbaden: Bergmann 1894, S. 49. 39 Vgl. Elaine Showalter: The Female Malady. Women, Madness and English Culture, 1830– 1980. London: Virago 1987, S. 161. 40 Christina von Braun: Nicht ich: Logik, Lüge, Libido. Frankfurt a. M.: Neue Kritik 1988, S. 29. 41 Zur Hysterikerin als Umstürzlerin vgl. Dorion Weickmann: Rebellion der Sinne. Hysterie – ein Krankheitsbild als Spiegel der Geschlechterordnung. Frankfurt a. M.: Campus 1997, S. 81; vgl. auch Carroll Smith-Rosenberg: The Hysterical Woman: Sex Roles and Role Conflict in Nineteenth-Century America. In: Carroll Smith-Rosenberg: Disorderly Conduct. Visions of Gender in Victorian America. New York: Oxford University Press 1986, S. 197–216.

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doch weitgehend besteht ein Konsensus darüber, dass die Wirksamkeit überspannter Verhaltensweisen im Hinblick auf ein Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse nur sehr eingeschränkt ist. Showalter räumt der mit der Krankheit erwirkten Zuwendung der Familie gegenüber der allgemein-gesellschaftlichen Machtlosigkeit, deren Ausdruck sie ist, nur sehr geringen Wert ein. Ebenso weist auch Catherine Clement darauf hin, dass der Protest der Hysterikerin individuell und begrenzt bleibe und die gesellschaftlichen Strukturen nicht verändern könne.42 Häufig wird im Diskurs über weibliche Überspannung um 1900 die Verbindung mit einem verdrängten Sexualtrieb hergestellt, der sich in »hysterischen Delirien« entlade.43 Während neuere feministische Interpretationen wie jene von Hélène Cixous oder Christina von Braun jedoch durchaus im positiven Sinn die Hysterie als eine Form der Behauptung der Frau als Sexualwesen begreifen,44 wurde die Sinnlichkeit von Mädchen und Frauen um die Jahrhundertwende weitgehend problematisiert oder sogar pathologisiert. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem die Ausführungen Richard von Krafft-Ebings, dessen Hauptwerk, Psychopathia Sexualis, eine »Klinisch-Forensische Studie« zur Sexualität und ihren ›pathologischen‹ Formen, 1886 erstmals veröffentlicht wurde und in elf weiteren (und jeweils ergänzten) Auflagen weite Verbreitung erfuhr. Krafft-Ebing geht nicht nur davon aus, dass der Sexualtrieb bei Frauen wenig ausgeprägt ist (»Ist [das Weib] geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein Geringes«), sondern pathologisiert über den Gebrauch des Vokabulars der ›Normalität‹ die weibliche Sinnlichkeit schlechthin, wenn er »das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht« als »abnorme Erscheinung[]« bezeichnet.45 Scharf kritisiert er die Triebhaftigkeit sowohl bei Männern als auch bei Frauen, da sie die Menschen zu »willenlosen

|| 42 Vgl. Hélène Cixous und Catherine Clement: L’Intenable. In: Hélène Cixous und Catherine Clement: La jeune née. Paris: Inédit 1975, S. 268–296, hier S. 289 und 286. 43 Freud/Breuer, Studien über Hysterie (wie Anm. 35), S. 13. Vgl. auch Sigmund Freuds Verständnis des hysterischen Anfalls als Ausdruck einer verdrängten »Sexualbetätigung« und als »Koitusäquivalent«. Sigmund Freud: Allgemeines über den hysterischen Anfall [1909]. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd 7: Werke aus den Jahren 1906–1909. London: Imago 1941, S. 233–240, hier S. 240 und 239. 44 Vgl. Braun, Nicht ich (wie Anm. 40), S. 63 und 130. Vgl. auch Cixous/Clement, L’Intenable (wie Anm. 42), S. 284. 45 Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine klinisch-forensische Studie. 9. Aufl. Stuttgart: Ferdinand Enke 1894, S. 14.

3.3 Weiblichkeit und Überspannung | 83

Sklaven« mache, und betont, sie müsse »versittlicht« werden, um Quelle höherer Empfindungen und Ideale zu werden.46 Dass aber auch die romantische, den Partner idealisierende Liebe nicht unbedingt einer solchen »Versittlichung« entspricht, wird offenbar, wenn wir lesen, dass diese Liebe gerade bei Frauen »leicht in vage Schwärmerei übergehe[]« und ein »Bedürfnis schrankenloser Unterwerfung« hervorrufe.47 Krafft-Ebings Verständnis der Sexualität geht auf post-darwinistische Denkmodelle zurück, nach denen der rauschhafte Trieb durch den als ›gesund‹ und ›natürlich‹ apostrophierten arterhaltenden Instinkt zu ersetzen ist. Bei der Frau ist dies vor allem der mütterliche Instinkt: »Vor der Mutterliebe schwindet die Sinnlichkeit«, stellt er fest.48 Sinnlichkeit und Nervenschwäche stehen also der ›gesunden‹ Mutterliebe entgegen – und werden in den Gesellschafts-destabilisierenden Bewegungen der Moderne und ihren Manifestationen, den Großstädten, verortet: »Dass die Großstädte Brutstätten der Nervosität und entarteten Sinnlichkeit sind, ergibt sich aus der Geschichte von Babylon, Ninive, Rom, gleichwie aus den Mysterien des modernen großstädtischen Lebens.«49 Hauschner mischt, wie wir im Folgenden sehen werden, feministisch-kritische Ansätze mit konservativ-normativen Perspektiven, wie sie uns hier begegnen. Umso wichtiger ist die differenzierte Betrachtung ihrer Frauenbilder, die sie mithilfe von ständig wechselnden Erzählperspektiven entstehen lässt.

3.3.2 Überspannungsdiskurs und Mutterschaft: Camilla und Jettka Lowositz Im Folgenden werden Hauschners Charakterisierungen Camillas und ihrer Mutter Jettka Lowositz anhand der Analyse dreier Schwerpunkte zu untersuchen sein: erstens der Kindheit Camillas und der Thematik der Tochter ›aus gutem Hause‹, zweitens der Verbindung von nervlicher Überreiztheit mit weiblicher Auflehnung und Schwäche und schließlich der Heilung der Überspanntheit durch das in der Form eines Rahmennarrativs propagierte Prinzip der Mutterliebe. Hauschner beginnt ihren Roman mit einer Momentaufnahme der heimlich lesenden zwölfjährigen Camilla, die in all ihrer Knappheit doch so voller Empathie geschrieben ist, dass hier nicht nur ein erster Einblick in die Lebensum-

|| 46 Ebd., S. 1 und 4. 47 Ebd., S. 1. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 7.

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stände der Protagonistin vermittelt wird, sondern darüber hinaus schon ein bleibender Eindruck ihres Charakters entsteht. Camilla ist lesehungrig, nicht aus Interesse an der Realität außerhalb ihres Lebensrahmens, sondern aus Sehnsucht nach der Flucht aus dem »Einerlei ihrer Lebensweise« (FL, 17). Naiv und unwissend, aber mit pubertärer Neugier, versucht sie, in der unerlaubten, unbeaufsichtigten Lektüre eines Unterhaltungsromans Antworten auf ihre Fragen nach den Geheimnissen der Liebe zu finden.50 Bald wird deutlich, dass sie im Lesen von Liebesgeschichten auch die Enge und Lieblosigkeit ihres familiären Umfelds zu vergessen sucht. Camillas Mutter, die ihrer Umgebung fremd gegenüber steht und ihrer verlorenen Jugend und deren Träumen nachhängt, kann den praktischen Ansprüchen des Haushalts und der Kinder nicht nachkommen und vernachlässigt die Tochter; der Vater »hält das Schweigen im Familienkreise für eine Erfordernis der Vaterwürde« (FL, 17), und auch Camillas verbitterte Gouvernante bringt weder Interesse noch Verständnis für sie auf. Ihre Erziehung ist durch Gleichförmigkeit, Enge und Drill charakterisiert und entbehrt jeder wirklichen geistigen Anregung. In dieser Anlage spiegelt sich die um die Jahrhundertwende in der Literatur weiblicher Autorinnen immer wieder exponierte »Tragik« der »bürgerlichen deutschen Mädchen«, wie sie Gabriele Reuter 1896 wegweisend in ihrem Porträt der Agathe Heidling in Aus guter Familie gezeichnet hatte: das »äußerlich wie innerlich stumm[e]« Leiden der Mädchen, die »rein für die Ehe und den Mann erzogen wurden«.51 Ungeschult ‒ sieht man einmal vom Unterricht in Französisch und dem Klavierspiel ab, von Fertigkeiten also, die ihre Attraktivität als zukünftige Ehefrau erhöhen sollen ‒ ist Camilla, ebenso wie Reuters Agathe eine jener Heldinnen, deren Leben eine Mischung aus »unerfüllbare[m] Lebensanspruch, Überschwang an Gefühl und passive[m] Erdulden« kennzeichnet.52

|| 50 Wie aus einem Zitat zu entnehmen ist, handelt es sich um den Roman Der alte Fritz und die neue Zeit (1867) der im späten neunzehnten Jahrhundert vielgelesenen Clara Mundt, die unter dem Pseudonym Luise Mühlbach zahlreiche historische, mit erotisch angehauchten und sentimentalen Liebesszenen gespickte Romane verfasste. Zu Mundt vgl. Friedrich Foltin: Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans. In: Heinz Otto Burger (Hg.): Studien zur Trivialliteratur. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1968, S. 242–270, hier S. 249. 51 Gabriele Reuter: Über die Entstehung meines Romans »Aus guter Familie«. In: Neue Freie Presse, 28. Oktober 1928, hier zitiert nach Reuter, Aus guter Familie (wie Einleitung, Anm. 32), Bd 2: Dokumente, S. 598–602, hier S. 599. 52 Gabriele Wagner-Zereini: Schreiben als Alternative. Ida Boy-Ed (1852–1982). In: Hans Wißkirchen (Hg.): »Luftschifferinnen, die man nicht landen läßt«. Frauen im Umfeld der Familie Mann. Lübeck: Dräger 1996, S. 113–135, hier S. 122.

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Doch der Vergleich mit Reuters Aus guter Familie legt auch für das Verständnis von Hauschners Roman wichtige Unterschiede zutage. Die Protagonistinnen beider Romane zeigen schon als Heranwachsende Symptome seelischen Leidens; diese sind jedoch verschieden angelegt und verweisen auf unterschiedliche Schwerpunktsetzungen der Autorinnen. Auch Reuters Protagonistin denkt gleich in der ersten Szene des Romans – in der sie als Konfirmandin vor dem Altar steht – an eine »anstößige Stelle« eines Buches, »die sie verfolgte«.53 Die unbedingte Forderung nach Unschuld und Unwissenheit junger Mädchen und die Tabuisierung weiblicher Sexualität sind von Camilla wie auch von Agathe so verinnerlicht, dass ihre erwachende Neugier mit Scham besetzt ist und nicht zur Sprache gebracht werden kann. Den Andeutungen ihrer Lektüre und den getuschelten Unterhaltungen mit Freundinnen überlassen, wird das Geheimnis des Sexuellen in religiösem Schmachten (Agathe) oder in »schwärmerischen Träume[n]« sublimiert (Camilla; FL, 292). Reuter hebt nun die unterdrückte Sinnlichkeit ihrer Protagonistin hervor, die auf jeglichen Hinweis auf geschlechtliche Vorgänge mit hysterischen Anfällen reagiert; schon die Aufklärung über die »ganz abscheulich[e], […] ganz greulich[e]« Wahrheit über die Herkunft der »kleinen Babies« ruft körperliche und seelische Störungen und eine länger andauernde Krise hervor.54 Weiter betont Reuter die Intelligenz und Wissbegier Agathes: Diese hegt ein »brennendes Interesse für alles und jedes in der Welt«,55 das jedoch durch Lektüreverbote des Vaters, Ermahnungen der Mutter sich der Pflege ihres Äußeren zu widmen und durch »die heftigsten Scenen« mit ihrer Gouvernante allmählich abgetötet wird.56 Damit entspricht sie in auffallender Deckungsgleichheit dem von Breuer und Freud beschriebenen Typus der geistig überwachen Hysterikerin: Ihre Anfälle lassen sich als krankhafte Folgen der geistigen Unterbeschäftigung, des internalisierten Unschuldsdiktats und als Reaktion des Körpers auf das gesellschaftlich auferlegte Sprechverbot lesen.57

|| 53 Reuter, Aus guter Familie (wie Einleitung, Anm. 32), Bd 1: Text, S. 12. 54 Vgl. ebd., S. 31–36, Zitat S. 31. Weitere Anfälle werden durch die Konfrontation mit der Geliebten und dem Kind des von Agathe angeschwärmten Malers Lutz und schließlich durch das Flirten ihres Cousins Martin mit einer Kellnerin ausgelöst. Vgl. ebd., S. 143 und 265. 55 Ebd., S. 36. 56 Ebd., S. 37. 57 Vgl. Alyth F. Grant: Innocence and the Language of the Body in Discourses of the ›Jahrhundertwende‹. In: German Life and Letters 52 (1999), S. 341–364, hier S. 347; vgl. auch Lilo Webers Interpretation von Agathes Anfällen als Reaktionen auf die »Hypokrisie der Sexualmoral im ausgehenden 19. Jahrhundert« in Weber, »Fliegen und Zittern« (wie Anm. 35), S. 209.

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Hauschner dagegen betont den Aspekt der verdrängten Sexualität in ihrer Schilderung der jungen Camilla weit weniger. Ihr Anliegen ist es nicht, sich wie Reuter – oder etwas später Grete Meisel-Hess – für einen offenen Umgang mit der Sexualität einzusetzen;58 statt eines kämpferischen Engagements auf diesem Gebiet stellt sie hier die Charakterzeichnung ihrer Heldin in den Vordergrund. Sie betont deren Realitätsflucht, die in romantisch exaltierten Begriffen der Unbedingtheit und Unendlichkeit wahrer Liebe, in unklaren Vorstellungen von Leidenschaft als einer »nie endenden Zärtlichkeit« (FL, 110) und in Phantasien von sehnsüchtigen Liebhabern und hoheitsvoll-keuschen Frauen, die diesen ihre Gunst gewähren, schwelgt. Aufgrund der geistigen und emotionalen Unreife des Mädchens führen diese eskapistischen Vorstellungen zu einer Sehnsucht, die von »so konkreten Dingen wie Ehe und Mutterschaft«, wie Hauschners auktoriale Erzählerin anmerkt, »ganz getrennt« waren (FL, 110). Dieser Schilderung liegt eine Kritik an der mangelnden geistigen Förderung in der Mädchenerziehung zugrunde, wie Hedwig Dohm sie bereits 1874 formuliert hatte; ungleich Reuters Agathe ‒ oder auch Hedwig Dohms Sibilla Dalmar ‒ zeigt Camilla jedoch kein Interesse an der Außenwelt. Ihre Erziehung ist insofern nicht als »Verbildung« im Sinne einer Reduktion von Persönlichkeit zu beschreiben, eine Begrifflichkeit, die Lilo Weber im Hinblick auf Reuters Agathe verwendet.59 Anstelle der aktiven Begrenzung vorhandener geistiger Interessen, der Unterdrückung von vorhandenen Anlagen, natürlichen Trieben und Wissbegierde, betont Hauschner die Vernachlässigung Camillas im dysfunktionalen Familienverband und ihre schwermütige Veranlagung, die ein passiveres und stärker gegen sich selbst gerichtetes Leiden hervorbringen.

|| 58 Vgl. hierzu Godela Weiss-Sussex: Reformprogrammatik und Romanästhetik: Ruth Bré, Gabriele Reuter und Grete Meisel-Hess. In: Godela Weiss-Sussex und Charlotte Woodford (Hg.): Protest and Reform in Wilhelmine Germany. München: iudicium 2015, S. 168–188. Unter den Autorinnen, die sich für die sexuelle Aufklärung von Mädchen einsetzten, war auch Else Croner, die in ihrem Roman Erwachen (1918) für eine moderne Erziehung plädierte, nach der Mädchen zu verantwortungsvollen Persönlichkeiten auch auf sexuellem Gebiet heranzuziehen seien. Croner hebt das Beharren auf der Unschuld der jungen Mädchen und das daraus folgende Schweigen über sexuelle Fragen als ein Hauptproblem der derzeitigen Erziehung hervor. Eine Romanfigur, die schwangere Lucie, erklärt ihrer Mutter: »Ich war so furchtbar neugierig; bis zur Heirat hätt’ ich’s nicht ausgehalten. Wenn ich einen einzigen Menschen gehabt hätte, den ich hätte fragen können, der mir haarklein und gewissenhaft alles erzählte. Aber so blieb mir ja bloß die eigene Praxis übrig. Denkst du denn, man kann drei oder vier Jahre oder noch länger warten, wenn man so brennend gern etwas sofort wissen möchte, wenn man es wissen muß, oder Tag und Nacht daran grübelt?«. Croner, Erwachen (wie Kap. 2, Anm. 30), S. 99–100. 59 Weber, »Fliegen und Zittern« (wie Anm. 35), S. 200.

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Camilla erscheint als in ihre Phantasien versponnenes Mädchen, deren »Geschmack ganz ungeläutert« ist und die alles »berauscht[]«, »was gefühlsüberschwenglich [sic] und leidenschaftlich war« (FL, 289). Sie leidet aber auch an den Schuldgefühlen und Ängsten ihres »selbstquälerische[n] Ich[s]« (FL, 296). Vor allem ihre Furcht, ihre (männlichen) Gesprächspartner zu langweilen und damit ihre Zuneigung zu verlieren, durchzieht den Doppelroman. Wird dies in ihrer im ersten Band geschilderten Jugendzeit vor allem auf ihren Bruder Rudolf bezogen, so taucht das Motiv im zweiten Teil verstärkt im Zusammenhang mit dem Geliebten Nils Johanson auf. Das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit wird durch eine von ihr selbst schmerzlich empfundene Unfähigkeit verstärkt, Emotionen zu spüren, die den sozialen Erwartungen entsprächen: zunächst die Unfähigkeit, nach dem Tod der Mutter Trauer zu empfinden, und später die Abwehr ihrer Pflichten als Ehefrau und Mutter. Die Überforderung des jungen, noch unreifen Mädchens durch gesellschaftliche Konvention wird hier angesprochen; im Vordergrund steht aber gleichzeitig auch ihre mangelnde Ich-Konstitution, die hier auf geistiger, emotionaler und sozialer Ebene beschrieben und sowohl auf Veranlagung als auch auf die gestörte Mutter-Tochter-Beziehung zurückgeführt wird. Die Vernachlässigung Camillas durch die Mutter wird wiederholt an zentralen Stellen des Romans aufgerufen und so als Rahmennarrativ etabliert: Schon als Kind erlebt Camilla, wie ihr verzweifelter Versuch, sich die Liebe der Mutter zu erkämpfen, abgewehrt wird (vgl. FL, 108–109); die Schilderung ihrer Hochzeit, die am Ende des ersten Bands, also in der Mitte des Doppelromans steht, ist von Verweisen auf das Schicksal der Mutter durchzogen (vgl. FL, 377), und das Romanende greift, wie später ausführlicher zu zeigen sein wird, nachdrücklich auf dieses Narrativ zurück. Die gestörte Beziehung gründet in der Nervenkrankheit Jettkas, einer »geborene[n] von Henigswald«, »Nichte des millionenreichen Finanzmanns Baron von Henigswald. Eine arme Nichte selbstverständlich« (FL, 7), die sich mit der Heirat in niedrigere soziale Kreise nie hat abfinden können und seit dem Tod ihres ersten Kindes »schwermütig« ist (FL, 6). Die Krankheit bedingt, dass sie sich dem Umgang mit ihrer Familie so gut wie ganz entzieht; nur mit Rudolf verbindet sie eine – allerdings weitgehend durch Illusionen gespeiste ‒ tiefere Verbindung.60 Ihre Anfälle nervlicher Überreizung, die von Schuldgefühlen durchzogen sind, steigern sich zu schweren Depressionen, und Jettka wird

|| 60 Vgl. Hauschners Erzählerkommentar: »Sie liebten es, sich geistig von den andern fern zu halten und sich heimlich zuzulächeln. Zwar wußte einer nicht, was sich der andere dabei dachte. Aber sie glaubten sicher einander zu verstehen.« (FL, 19–20).

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schließlich in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, wo sie sich bald darauf das Leben nimmt. Zum einen lässt sich Hauschners Schilderung von Jettkas Leiden ganz im Zeichen des in der zeitgenössischen Literatur von Frauen verbreiteten Topos der Nervenkrankheit als kulturell konfigurierte Erkrankung der entmündigten Frau lesen. Durch den Rückzug in die Krankheit entzieht sie sich dem ihr zugeteilten Schicksal als Ehefrau und Mutter. Hauschner geht es hier nicht darum, das »umstürzlerische Potential« dieser Rollenverweigerung hervorzuheben, vielmehr liegt die Betonung auf Jettkas Mangel an Handlungsspielraum, der durch die Nervenschwäche betont wird. Diese Begrenztheit der Handlungsmöglichkeit wird in einem Gespräch mit ihrem Sohn Rudolf zur Sprache gebracht: »Aufgewühlt«, »in Verwirrung« und »Unruhe« sorgt Jettka sich um die Zukunft des Sohns und klagt: »Ich kann doch leider gar nichts für dich tun. Ich kann kein Geld verdienen, und ich hab keine Konnexionen. Ich bin zu gar nichts nütz in der Welt, nur eine Last bin ich für die Familie.« (FL, 138) Andererseits hebt Hauschner aber auch Jettkas mangelnden Realitätsbezug hervor und entlarvt ihre vermeintlich sozial hochstehende Herkunft als weitgehend substanzlosen Selbstbetrug: Ihr Adelstitel geht auf die Ehrung ihres Großvaters zurück, der für seine Verdienste um den Staat geadelt worden war – daß diese Verdienste in Militärlieferungen bestanden hatten, aus denen er sich verdächtig schnell bereichert haben mußte, war ihr selbst wohl unbekannt geblieben, ‒ und der die Marotte gehabt hatte, seinen Sohn, Frau Jettkas Vater, als Kavalier erziehn zu lassen (FL, 134).

Diesem Erzählerkommentar zufolge beruhen Jettkas Selbstbild und ihr Hochmut – und damit auch der falsche Erwartungshorizont, der zu ihrer Enttäuschung über den sozialen Abstieg geführt hat, als den sie ihre Heirat begreift ‒ also auf einer wenig stabilen Basis in der Realität. Hier lässt sich deutlich die Verbindung von Phantasie und Nervenzerrüttung sehen, die schon Hedwig Dohm beschrieb; die sarkastische Formulierung des Erzählereinschubs lenkt jedoch den Leserblick mindestens ebensosehr auf den selbstbetrügerischen Aspekt von Jettkas phantasiegeleitetem Selbst- und Weltbild wie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dieses hervorgebracht haben. Die Negativperspektivierung der Nervenkranken wird zudem in einer Passage betont, die die Ankunft eines ihrer Briefe aus der Heilanstalt behandelt. Hauschner leitet die Wiedergabe des Briefinhalts mit den abwertenden Worten ein, es sei »[e]in Brief, in dem sie jammerte und klagte« (FL, 200). Sie gesteht der Schreibenden nicht ihre eigene Stimme zu, sondern resümiert den Briefinhalt in kurzen, im Konjunktiv gehaltenen, bewusst distanzierenden Sätzen, die

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in ihrer Mischung von Selbstbezogenheit, Arroganz und geistiger Verwirrung befremdend wirken, und endet die Schilderung mit der Reaktion des »erschütterte[n]« Rudolf, der »sich dem Eindruck des Krankhaften, das darin hervortrat, nicht verschließen« konnte. Nun ist Rudolf durchaus nicht immer eine verlässliche Erzählerinstanz, doch Hauschner bestätigt die hier vorgenommene Perspektivierung auch durch Hinweise auf Jettkas Todessehnsucht (vgl. FL, 181), die einem gesunden, naturhaften Verhalten gegenübergestellt wird. Die kritische Erzählhaltung verweist auf das Gegensatzpaar von (krankhafter) Überspannung und (gesunder) Mutterliebe, das im weiteren Textverlauf noch expliziter aufscheint. Hauschner betont wiederholt, dass Jettkas Verhalten, so verständlich es auch sein mag, zur Vernachlässigung ihrer Kinder – und vor allem ihrer Tochter ‒ führt.61 Auch anderenorts beeinflusst Hauschner die Leserreaktion auf Jettkas Verhalten mithilfe der Schilderung von Rudolfs Emotionen, die zwischen Mitleid mit der entmündigten Frau und Befremden über ihre von Verfolgungswahn durchsetzten Phantasiegebilde oszillieren (vgl. u. a. FL, 182–186). Die Ambiguität, die auf diese Weise dem Leiden gegenüber geschaffen wird, wird nicht aufgehoben; sie scheint im weiteren Verlauf des Romans auch in den Schilderungen der Anfälle Camillas auf, die ihren Aufenthalt in Berlin punktuieren. Zunächst scheint es allerdings, als könne durch Camillas Heirat mit dem Seidenhändler Felix Katzler ein zufriedenstellender Ausgleich zwischen ihrer Liebessehnsucht und den gesellschaftlichen Erwartungen, die an sie gerichtet werden, erreicht werden. Wird ihr Einspruch gegen die allzu schnelle und ohne ihr Zutun beschlossene Eheschließung auch ignoriert, so arrangiert sie sich doch schnell mit den Verhältnissen, zumal ihr von Felix erstmalig in ihrem Leben Achtung, Zärtlichkeit und Güte entgegengebracht werden (vgl. FL, 348– 350). Camilla ist keine natürliche Rebellin – ihre ernsthaften Versuche, sich in ihre Rolle als Ehefrau zu fügen, reflektieren ihren Wunsch, den sozialen Konventionen entsprechend zu handeln. Die Anpassung an die Rollenerwartung gelingt ihr jedoch nur auf der Grundlage neuer Phantasien: »Aus sehr viel Dichtung und ein wenig Wahrheit schuf sie […] eine Legende, deren Wurzel Felix Katzlers lange heimliche Verehrung war«, schreibt Hauschner (FL, 347) – und spickt die Schilderung der Hochzeitsfeier mit Verweisen auf kommendes Unglück. In der leeren Konventionalität der Trinksprüche wird der trügerisch-überzogene romantische Liebesdiskurs aufgerufen, und nun, da er nicht mehr nur in heimlich angeeigneter Romanliteratur, sondern im repräsentativen Ritual der

|| 61 Der autobiographische Hintergrund des Texts mag hier durchaus eine Rolle spielen.

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gesellschaftlichen Ordnung bestätigt wird, in der Gegenüberstellung von Camillas Träumen und der harten ökonomischen Realität ihrer Verheiratung als systemerhaltende Lüge entlarvt.62 Diese Trinksprüche, vor allem auch Rudolfs allgemein als unpassend empfundene Rede über die Mutter, die Camilla mit Schrecken erkennen lässt »So unglücklich kann man in der Ehe werden?« (FL, 379), weisen auf die Parallelität der Schicksale von Mutter und Tochter voraus.63 Das Rahmennarrativ der mangelnden Mutter-Tochter-Beziehung wird an dieser Stelle wieder aufgegriffen: Rudolfs wiederholte Mitleidsbekundung mit dem »arme[n], mutterlose[n] Mädchen« (FL, 377) überschattet das Fest ‒ und ist nicht nur als Verweis darauf zu lesen, dass Camilla an entscheidender Stelle der mütterliche Rat und Beistand fehlt, sondern auch darauf, dass Camilla sich in die Heirat nicht so willig und »anspruchslos« (FL, 351) gefügt hätte, wenn ihr natürliches Bedürfnis nach Liebe und Wärme, das von der Mutter nie gestillt wurde, nicht so groß wäre. Darüber hinaus – und vielleicht ist dies am bedeutendsten – erinnern die Worte an andere, bekanntere literarische Frauengestalten und ihr Schicksal als passive Opfer arrangierter Ehen: Fontane hatte in Effi Briest mit den Worten »arme Effi« um Verständnis für seine Protagonistin geworben und Mann hatte den Ausruf für seinen Roman Buddenbrooks adaptiert (»arme Tony!«).64 In Rudolf und Camilla nimmt Hauschner Camillas Geschichte zwei Jahre später wieder auf. Rudolf, der inzwischen als Journalist in Berlin arbeitet, erfährt von der nach Berlin verheirateten Cousine Ottilie Samuel von Camillas nervlichem Zusammenbruch nach der Geburt ihrer Tochter. Allein der Wille zur

|| 62 Karin Tebben spricht in diesem Zusammenhang vom desillusionierenden Topos der romantischen Liebe als »Mogeltüte« und verweist auf dessen Gebrauch bei Gabriele Reuter, Maria Janitschek, Hedwig Dohm, Margarete Böhme, Else Jerusalem, Helene Böhlau, Minna Kautsky, Ida Boy-Ed und Franziska zu Reventlow. Karin Tebben: Der weibliche Blick auf das Fin de siècle. Schriftstellerinnen zwischen Naturalismus und Expressionismus: Zur Einleitung. In: Karin Tebben (Hg.): Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 1–47, hier S. 32. 63 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Vorausweisung auf Camillas kommendes Unglück in der Synopsis der von Rudolf verfassten Märchenoper: »In ihrem Mittelpunkt sollte ein Märchenwesen stehen, […] [d]ie einen Musiker betört, durch den Zauber der Musik beseelt wird, und an ihrer Liebe stirbt.« (FL, 385). 64 Vgl. Theodor Fontane: Effi Briest. In: Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd VII. München: Nymphenburger 1959, S. 169–427, hier Kapitel 36, S. 424; und Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie [1901]. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1989, hier Kapitel 12, S. 154. Hierzu: Judith Ryan: »Buddenbrooks«: Between Realism and Aestheticism. In: Ritchie Robertson (Hg.): The Cambridge Companion to Thomas Mann. Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 119–136, hier S. 133.

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Konformität hat nicht genügt; Camillas Versuch, sich den gesellschaftlichen Anforderungen zu stellen, ist gescheitert. Die Tragödie der Tochter ›aus gutem Hause‹ geht über in die Tragödie der unglücklich verheirateten Ehefrau; und Camillas Berlin-Aufenthalt erhält die Bedeutung eines Fluchtversuchs aus der verordneten Lebensbahn. Bezeichnenderweise beginnt Ottilie ihren Bericht mit den Worten »Sie erinnert so an ihre Mutter«.65 Doch der Bericht über Camillas Zusammenbruch hat nichts von der Negativperspektivierung durch den Verweis auf eskapistische Phantasien, die die Darstellungen von Jettkas Krankheitszuständen kennzeichnen. Im Gegenteil: Camillas Verhalten ist in eindeutiger Stellungnahme als Ausbruch der Verzweiflung über den »Zwang« ihrer Ehe geschildert (RuC, 77) und durch die Erzählinstanz der Cousine als unbeteiligte Außenstehende gewissermaßen als objektiv legitimiert. Camillas Rückgriff auf die Phantasiewelt, hier nicht als Flucht vor der Realität, sondern im positiven Versuch der Realitätsbewältigung, nämlich im Dienst, ihre Ehe lebbar zu machen eingesetzt, ist gescheitert; nicht das Verhalten der Protagonistin, sondern die Situation, in der sie sich befindet, ist hier als kritikwürdig gezeichnet. Hauschner unterstreicht Camillas Opferstatus, indem sie Ottilie während ihres Berichts mit einem »zerbrochene[n] Püppchen« hantieren lässt (RuC, 19). Erstmalig geht die Familie nach diesem Zusammenbruch ernsthaft auf Camillas Bedürfnisse ein: Sie wird nach Berlin geschickt, wo die Nähe des Bruders und Ottilies sowie die Möglichkeit, für »eine Weile« ein Musikstudium aufzunehmen, für ihre gesundheitliche Besserung sorgen sollen (RuC, 21). Ausbrüche ihrer »überreizten Sinne« (RuC, 75) markieren jedoch noch zweimal ihre weitere Entwicklung. Als sie ihr Bleiben in Berlin gefährdet sieht, stürzt sie »von ihrer leidenschaftlichen inneren Bewegung wie vom Sturm getrieben«, weinend und unter Selbstgesprächen aus dem Haus und irrt durch die »tote Landschaft« und düstere »Einöde« des Grunewalds (RuC, 75 und 77). Ihre hysterisch überzogene Handlungsweise ist in der Verknüpfung von innerer Rede und Erzählerkommentar in einer psychologischen Komplexität geschildert, die das Moment des Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Einengung mit Aspekten des Exaltierten und Morbiden in einer Weise mischt, die an Jettkas krankhaftes Verhalten erinnert. Wenn Camilla sich – wie vor ihr ihre Mutter – in eine Sehnsucht nach dem Tod hineinsteigert, so geschieht dies nicht in nackter Verzweiflung, sondern in der recht genüsslichen Vorstellung künftiger Trauer um sie und unter ästhetisierendem Bezug auf das Ophelia-Motiv der tragisch Liebenden, die sich || 65 Auguste Hauschner: Rudolf und Camilla (= Die Familie Lowositz. Roman in zwei Bänden. Zweiter Band). Berlin: Egon Fleischel & Co 1910, S. 20. Im Folgenden: RuC.

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im freiwilligen Wassertod mit der Natur vereint (RuC, 79).66 Echtes Leiden ist hier durchwirkt von »Selbstmitleid« und Selbst-Inszenierung (RuC, 74). Mit dieser Szene setzt Hauschner ein Signal, das auf Camillas weiteren Weg verweist: Phantastische Selbstinszenierungen überlagern einen durchaus genuin empfundenen, aber nicht aktiv und selbstbewusst realisierten Ausbruchswillen. Hauschner gibt ihrer Protagonistin nun zum zweiten Mal eine Chance zur Gestaltung eines erfüllteren Lebens: Camillas Ehemann Felix finanziert ihr den verlängerten Aufenthalt in Berlin und legt den Zeitpunkt ihrer Rückkehr ganz in ihre Hände. Ihre Bewegungsfreiheit wird sogar erweitert: Sie verlässt die beengten Verhältnisse des Samuelʼschen Haushalts und quartiert sich unter angehenden Malerinnen und Schauspielerinnen in einer Pension ein. Und doch scheitert der Versuch, ihren eigenen Weg zu finden und ihrem Leben geistige oder künstlerische Gestalt neben der vorgegebenen Rolle als Ehefrau und Mutter zu geben. Der Berlinaufenthalt endet in einem endgültigen nervlichen Zusammenbruch und in Morphiumabhängigkeit. Interessant ist, wie dieses Scheitern im Text begründet wird. In der durch die strukturelle Verdoppelung betonten Chance der Befreiung, die dennoch im Versagen der Protagonistin endet, wird deutlich, dass Hauschners Text sich hier nicht gegen ein patriarchalisch-restriktives Verhalten des Ehemanns richtet: Camilla ist Handlungsspielraum gegeben, sie weiß ihn nur nicht zu nutzen. Vielmehr macht Hauschner das Scheitern ihrer Protagonistin an deren Gebundenheit an Konventionen trotz des äußerlich gewährten Freiraums – und an ihrem als Schwäche beschriebenen sinnlichen Verlangen fest. Denn Camillas vermeintliche Freiheit ist zum einen durch ihre Gebundenheit an die vollständig internalisierten bürgerlichen Verhaltensregeln der »anständigen Frau« begrenzt (RuC, 190) ‒ und zum anderen durch ihre Flucht in eine Liebessehnsucht, die mit einer Unterordnung eigener Wünsche unter die des Mannes einhergeht: zwei diskursive Traditionen also, die weibliche Schwäche und Unselbstständigkeit perpetuieren. Camillas Erziehung verbietet ihr fast jegliche eigenständige Unternehmung, weitgehend bleibt ihr sozialer Verkehr von der Erlaubnis des Bruders abhängig. Hinzu kommt die Eingrenzung und Hemmung ihrer Entfaltung durch die Bindung an den Ehemann und die Tochter, und so lasten das Bewusstsein nichterfüllter Pflicht und ihre Unfreiheit schwer auf ihr (vgl. RuC, 249) und verhindern jede wirkliche Entwicklung oder Selbstbefreiung. Sie bleibt unbeheimatet im Niemandsland zwischen der Spießbürgerlichkeit der Samuels und dem Bohèmeleben ihrer Pensionsnachbarinnen. Die ersteren schelten sie || 66 Zum Ophelia-Motiv in Kunst und Literatur vgl. Simone Kindler: Ophelia – Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv. Berlin: Reimer 2004.

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als »vergnügungssüchtig« und »herzlos«, die letzteren belachen ihre Kleinmütigkeit und Zimperlichkeit (vgl. RuC, 201 und 267). Ist diese Art der Gebundenheit sozial verursacht und überwacht und in der Enge ihrer Prager Erziehung verwurzelt, so besteht das zweite Hemmnis für Camilla in ihrer Unfähigkeit, sich von der Verortung weiblicher Bestimmung in der Liebe zu lösen, eine Schwäche, die zwar in gesellschaftlichen Diskursen und ihrer Tradierung gründet, die aber ‒ in Verbindung mit einer den Verstand überwältigenden Sexualität geschildert ‒ auch an einem Mangel an charakterlicher Festigkeit der Protagonistin festgemacht wird. Camillas Beziehung zu Nils Johanson, der als Personifizierung geradliniger, ungebundener Freiheit und Natur als komplementäre Figur zu Camilla angelegt ist, wird zunächst – aus der Sicht der Protagonistin ‒ positiv konnotiert. In seiner Gegenwart und in ihrer Liebe zu ihm lernt Camilla, die »sieben Siegel ihrer Gebundenheit« zeitweise zu vergessen (RuC, 268) und ein Gefühl des »sich Zuhausefühlen[s]« (RuC, 245) zu entwickeln. Man ist zunächst versucht, diese Entwicklung als Geschichte der Befreiung zu lesen. Doch Hauschner ist eben keine Adele Gerhard oder Franziska zu Reventlow, die ihre Frauenfiguren in Liebesbeziehungen abseits gesellschaftlicher Normen ihr Glück finden lassen;67 und sie ist auch keine Hedwig Dohm, die es ihrer Christa Ruland erlaubt, an Beziehungen zu verschiedenen Männern intellektuell zu wachsen ohne dabei einen tieferen seelischen Schaden davonzutragen. Ihr Entwurf ist dunkler, pessimistischer und ihre Camilla widersprüchlicher, gebundener und fragiler als die Ich-starken Protagonistinnen jener Autorinnen. Mit Verweisen auf Camillas »[M]ädchenhaft[igkeit]« und ihr »hilflos kinderhaft[es]« Verhalten (RuC, 209 und 251) unterläuft die Autorin im Erzählerkommentar die Schilderung der Beziehung, die sonst weitgehend aus Camillas Perspektive erfolgt. Camillas passives Verhalten Nils gegenüber sowie immer deutlichere Hinweise auf das Wieder-Aufflackern ihrer »Mädchentorheit« (RuC, 265) und auf ihre illusionäre Idealisierung Nils’ (»der Johanson aus ihrem Märchenland«; RuC, 263) verdeutlichen, dass diese Beziehung eine Realitätsflucht bedeutet. Über die Beziehung zu Nils vernachlässigt Camilla ihr Musikstudium ‒ und damit ihre Entwicklung als selbstständige Persönlichkeit ‒, und ihr Talent erweist sich nun, ohne die Unterstützung ernsthafter Arbeit und disziplierten Lernens, als begrenzt: das »Leidenschaftliche und Schwüle« ihrer Träumerei und Sehnsucht beherrscht auch ihre Musik, sie gibt sich einem »Rausch« aus

|| 67 Vgl. Adele Gerhard: Pilgerfahrt. Berlin: Gebr. Paetel 1902; Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne [1903]. In: Franziska zu Reventlow: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hg. von Michael Schardt. Oldenburg: Igel 2004, Bd 1, S. 11–184.

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Ton und Gefühl hin (RuC, 246) und begegnet der Musik rein als »Klang« ohne tiefer in ihre Bedeutung eindringen zu können (RuC, 245). Die immer stärkere Betonung von Camillas rein sinnlicher Hingabe an das Klavierspiel, die an Manns Darstellung sublimierter Sexualität im Klavierspiel Gerda Buddenbrooks erinnert, ist als Verweis darauf zu lesen, dass Camilla auch in Berlin nicht die Kraft findet, ihren alten Verhaltensmustern und dem neu erwachten »unaufhaltsam[en] Sehnen« nach sexueller Erfüllung zu entkommen. Statt in der Musik eine Aufgabe und in dem naturhaft-freien Nils ein Vorbild zu finden, begibt sie sich in eine neue Abhängigkeit, die ihr den für eine erfolgreiche Realitätsbewältigung notwendigen Reifungsprozess verstellt. Das Bild, das Hauschner hier entwirft, spiegelt Denkstrukturen, die weitgehend den Konzepten Krafft-Ebings über weibliche Sexualität und über schwärmerisch überzogene Liebe, die nach »schrankenloser Unterwerfung« verlange, entsprechen. Wie weit hier ein Bild weiblicher Schwäche gezeichnet wird, wird offensichtlich, wenn wir im kontrastiven Vergleich einen Blick auf einen Roman Ida Boy-Eds werfen: Bettina, die Protagonistin von Fast ein Adler (1907), steht vor einem ähnlichen Dilemma; sie jedoch entscheidet sich für ihre Kunst und Freiheit – und gegen die Liebe. Im Selbstgespräch räsonniert sie: »›Was hast du denn verloren? Was? Einen Wahn. Nicht dich selbst!‹ […] Sie war nicht dem kleinen Weiberlos und der kleinen Weiberschwachheit verfallen. Frei war sie […]. Frei von der Leidenschaft, die knechtet – frei – um dem Leben zu begegnen«.68 Sehr ähnlich dieser Anklage der »Weiberschwachheit« schreibt Hauschners Erzählerstimme Camillas Scheitern der »jahrtausend schweren Last der zu demütigen Weibesliebe« zu (RuC, 342). Diese leicht sentenziöse und über das Einzelschicksal der Protagonistin hinausweisende Stellungnahme, die nicht nur an der weiblichen Hingabe an die Liebe selbst, sondern auch an der erdrückenden diskursiven Tradition dieses Konzepts Kritik übt, wirkt hier wie ein Fremdkörper. Die recht unsubtil wirkende Technik des direkt eingreifenden auktorialen Kommentars erinnert an ein ähnliches Vorgehen Hauschners in ihrem Roman Kunst, den sie 1904, also sechs Jahre vor Rudolf und Camilla, publiziert hatte. Auch hier schildert sie das Scheitern eines Versuchs selbstbestimmten Lebens an der Schwäche und Liebessehnsucht einer Ich-schwachen Frau; ein kurzer vergleichender Blick mag deshalb hier für die Interpretation hilfreich sein. Marianne, die Protagonistin von Kunst, ist, wie Camilla, ein weltfremdes Mädchen, das in ihrer ästhetischen Schwärmerei weit heimischer ist als in der

|| 68 Ida Boy-Ed: Fast ein Adler. Dresden: Carl Reissner 1907, S. 307.

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praktischen Bewältigung der Realität. Ebenso wie Camilla zieht sie in die Freiheit versprechende Großstadt (hier Paris), um ihr künstlerisches Talent (hier die Malerei) auszubilden. Nach siebenjährigem Studium an der Kunstschule gelingen ihr jedoch noch immer keine selbstständigen Arbeiten, sie ist an die Grenzen ihres Talents gestoßen und fühlt sich »verloren und verlassen«, »entwurzelt, verweht« in der nun für sie entzauberten Stadt.69 In einer Liebesbeziehung zu dem verheirateten Maler Hans Staiger findet sie kurz wieder ihre Schaffenskraft zurück. Als dieser jedoch zu seiner Frau zurückkehrt, erkennt sie, dass nur der Rausch der Liebe ihr das Malen ermöglicht hatte und sie selbst sich in ihrer Liebe zu Staiger aufgegeben hat: Die Liebe hat, so formuliert Marianne, ihr »Ich getrunken«.70 Im Erzählerkommentar führt Hauschner ‒ den Fluss des Texts mit ihrem allgemein-deklamatorisch gehaltenen Einschub stilistisch unterbrechend ‒ aus: Die Sklavenketten des Geschlechts muß das Weib zerbrechen, das schaffen und erreichen will, dem Mann gleich. Sie war zu weich und zu empfindsam. Zu schwer belastet von dem Erbe tausendjähriger Knechtschaft. Nicht Künstlerin, nur eine liebesstarke Magd. – – Und so begrub sie Kunst und Liebe in derselben Stunde.71

Die emanzipatorische Lesart dieser Passage und der Geschichte Mariannes liegt nahe: Wäre die Frau selbstständiger und weniger auf ihre ›Liebesstärke‹ orientiert, so könnte sie sich aus den Fesseln eines tradierten Diskurses weiblicher Sinnlichkeit und Unterwerfung in der Liebe lösen und die Welt stünde ihr offen. Dieser Auslegung steht jedoch entgegen, dass der Begriff der Sinnlichkeit hier nicht nur mit dem Liebesverhältnis, sondern auch mit Mariannes Malerei verknüpft wird. Ein Zwiespalt wird konstruiert, aus dem es keinen Ausweg für die Künstlerin gibt; einerseits beflügelt die sinnliche Liebe ihre Kunst,72 andererseits aber verleitet die Hingabe an die Liebe die Frau zur Selbstaufgabe. Marianne ist zu schwach, den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen – und mehr noch: Was sie als ihr Talent und ihren Prozess der Individuierung begriffen

|| 69 Auguste Hauschner: Kunst. München: Albert Langen 1904, S. 56. 70 Ebd., S. 415. 71 Ebd., S. 416. 72 Vgl. hierzu auch Hauschners bereits zitierte Rezension zu Karin Michaelis’ Roman »Das gefährliche Alter« (wie Anm. 22). Hier weist sie darauf hin, dass Sinnlichkeit, als »Bereicherung der Sinne« der »Zündstoff« sei für den »Gottesfunken Kunst« (Sp. 605). Diese Auffassung entspricht wieder stark dem Denken Krafft-Ebings, der in seiner Psychopathia Sexualis postuliert, »[w]ahre Kunstschöpfung« sei ohne »(sinnliche[]) Liebe« nicht denkbar (S. 11).

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hatte, wird als Missverständnis entlarvt, als »Trunkenheit«, als »Illusion«.73 Im Rückblick wird ihre Ankunft in Paris als die Zeit beschrieben, in der sie im Schönheitstaumel wandelte und den Rausch für ein Erwachen hielt. Für das Erwachen ihrer Künstlerseele. Das wußte sie längst besser. Was in Paris in ihr erwacht war, ungestüm nach langem Schlaf, […] war ihre Sinnlichkeit gewesen.74

Mariannes Geschichte mündet in ihrer sehr resignativ anmutenden Entscheidung, ihr Leben als Lehrerin an »dem bescheidenen Platz« an der Seite ihrer Freundin Lilian in Amerika fortzusetzen: »Dann hat sie doch nicht ganz umsonst gelitten und gestrebt«, heißt es am Ende.75 Hauschner stellt also die Versöhnung mit der Realität an das Ende dieses Romans; die Frau nimmt einen Platz ein, an dem sie in altruistischer Arbeit die Versöhnung von Ich und Umwelt vollzieht. Die affirmative Rhetorik fällt hier allerdings auffallend lau aus. Es ist, als ob die Autorin selbst keinen wirklich befriedigenden Ausweg für Mariannes Dilemma anzudeuten weiß. Und zieht man in Betracht, dass dieses glanzlose Ende auf der effektiven psychischen Zerstörung der Protagonistin aufbaut, fordert das Romanende auch eine alternative Lesart heraus: eine, die von der emanzipatorischen Sentenz über das Zerbrechen der »Sklavenketten des Geschlechts« ihren Ausgang nimmt, und – in dialektischem Prozess – die Geschichte der Marianne als Negativmodell liest. Diese Lesart diskreditiert Mariannes anfängliche, überaus überzeugend geschilderte Faszination an der Lebendigkeit und dem ästhetischen Reichtum Paris’ nicht, sondern zieht darauf aufbauend den Schluss, dass es Zeit ist, sich der Kunst und Sinnlichkeit, die diese Stadt verspricht, zu öffnen und sich aus den Fesseln der »tausendjährigen Knechtschaft« der Frau im Dienste des Mannes ‒ und aus den Fesseln des Liebesdiskurses ‒ zu lösen. Diese Lesart wird jedoch nicht von der Autorin unterstützt. Hauschner ist nicht optimistisch – oder vielleicht auch nicht überzeugt oder konsequent – genug, um einen solchen Weg positiv modellhaft darzustellen.76 Die emanzipatorische Anspielung darauf, die »Sklavenketten des Geschlechts […] [zu] zerbrechen«, erscheint unorganisch mit dem Text verbunden, entweder weil sie als

|| 73 Hauschner, Kunst (wie Anm. 69), S. 415 und 420. 74 Ebd., S. 415. 75 Ebd., S. 424. 76 Vgl. hierzu Brods Beschreibung von Hauschners »skeptische[r]« Grundhaltung. Brod, Der Prager Kreis (wie Anm. 3), S. 42.

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Mahnung oder gedankliche Leitvorstellung in den Raum gestellt wird, der Autorin aber im zeitgenössischen Kontext noch nicht realisierbar und mit der Geschichte ihrer Protagonistin nicht vereinbar scheint – oder weil sie auf einen Bruch im Denken Hauschners verweist und damit als eines jener widersprüchlichen Signale zu lesen ist, die Ruth-Ellen Boetcher Joeres als typisch für die Texte deutscher Autorinnen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts beschreibt: »they stepped out of line, but they also toed the line, they asserted their gender, but they also acceded to gender ideologies, they took unpopular positions, but they also seemed aware of the limitations of their spheres of activity«.77 Die Situation liegt ähnlich in Hauschners Aufrufen der »zu demütigen Weibesliebe« in Rudolf und Camilla. Die Anlage von Camillas Scheitern ist derjenigen von Mariannes Zerbrechen an der Liebe ähnlich. Die Wiederaufnahme der Thematik des früheren Romans ‒ der Kollision von Selbstwerdung und Liebe (wo diese als Aufgabe des Ichs definiert ist) ‒ zeigt, dass hier ein Schwerpunkt von Hauschners Denken über Weiblichkeit liegt; und der Rückblick auf das wenig zufriedenstellende Ende von Kunst legt nahe, dass in dem späteren Roman ein Versuch vorliegt, einen befriedigenderen Lösungsversuch anzudeuten. Der Text stellt Camillas nervlichen Zusammenbruch dar, der erfolgt, als Nils sie verlässt und ihre Traumwelt zusammenbricht, und schildert den darauf folgenden Heilungsprozess als Läuterung, die Camillas als natürlich apostrophierten mütterlichen Instinkt erweckt und sie nach Prag zu ihrer kleinen Tochter zurückkehren lässt. Zunächst versinkt sie allerdings in Verzweiflung und Halluzinationen und wird zur Morphinistin: Sie »wimmerte« und »winselte klagend vor sich hin«, schreibt Hauschner, »… Stunden lang … .« (RuC, 344–345). Der Krankheitszustand wird hier als Teilung des Ich, als Persönlichkeitsspaltung beschrieben: Während das mechanisch funktionierende Ich in praktisch und gesellschaftlich vorgeschriebenen Bahnen operiert – Camilla plant die Heimkehr zu ihrer Familie und bedient sich konformistischer Floskeln der angepassten Ehefrau, Toch-

|| 77 Ruth-Ellen Boetcher Joeres: Respectability and Deviance: Nineteenth-Century German Women Writers and the Ambiguity of Representation. Chicago/Ill.: University of Chicago Press 1998, S. 137. Zu der Ambivalenz zeitgenössischer Autorinnen gegenüber weiblicher Befreiung und der Gefahr, ihre Texte zu eindeutig feministischen Interpretationen zu unterziehen, vgl. auch Marianne Dekoven: Modernism and Gender. In: Michael Harry Levenson (Hg.): The Cambridge Companion to Modernism. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 174–193, hier S. 183; ebenfalls hierzu: Theresa Klugsberger und Sigrid Schmid-Bortenschlager: Wider die Eindeutigkeit: Maria Janitschek. In: Tebben (Hg.), Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle (wie Anm. 62), S. 181–196.

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ter und Schwester78 –, steht diesem das vollkommen immobilisierte Ich der an der Liebe »gestrandet[en]« Camilla gegenüber (RuC, 349), die in sich hinein »starrt[]« und mit Selbstmordgedanken aus ihrem Fenster in die Tiefe »stiert[]« (RuC, 345 und 346). Wieder gibt der Hinweis auf das »schwül[e] und berauschend[e]« Klavierspiel der Schilderung eine kritische Färbung (RuC, 346). Der Morphiumgebrauch führt schließlich Phantasien und Halluzinationen herbei, die zum Zusammenbruch beider Bestandteile des Ich führen; elliptische Satzund Gedankenfetzen spiegeln diesen Zusammenbruch auf syntaktischer Ebene. Der nervliche Zusammenbruch ist hier eindeutig als Ausdruck der Schwäche gefasst, als Folge der Unfähigkeit, zwischen schwärmerischer Liebesrhetorik und dem Sexualtrieb einerseits und den Anforderungen der Realität andererseits zu vermitteln. In der Verbindung mit der Morphiumabhängigkeit wird hier der Aspekt der Nervenschwäche als Dekadenzerscheinung wieder aufgegriffen, der sich schon in der Morbidität von Camillas Irren durch den Grunewald andeutete und nun ‒ in naher Verwandtschaft zu Krafft-Ebing ‒ mit der großstädtischen Lebenswelt in Verbindung gestellt wird. Nicht von ungefähr wird Camilla zum Morphiumkonsum von der Pensionsinhaberin verleitet, einer Figur, in der sich Immoralität, Labilität und hysterisch-übersteigertes Selbstmitleid vereinen. In einer solchen Umgebung, so legt Hauschner nahe, ist Camillas Ausbruchsversuch in ein freieres Leben zum Scheitern verurteilt. Und auf eben diese Engführung von Großstadt und Dekadenz baut Hauschner die Gestaltung ihres Romanendes auf, wenn sie kontrastiv hierzu die Gesundung ihrer Protagonistin durch ihre Zuwendung zu ›natürlichem‹, instinktgeleitetem Leben und Mutterschaft in einem zweistufigen Prozess herausstellt. Der Zeitsprung, der ohne Überleitung vom fiebernden Halluzinieren der Morphinistin ‒ und der gehetzten, zerrissenen Syntax der Beschreibung ‒ in die ruhig fließende Schilderung des Gartens der Heilanstalt übergeht, in der Camilla genesen soll, ist betont abrupt gehandhabt. Die Bildlichkeit fruchtbarer, lebensspendender Natur hebt sich von der städtisch dekadenten Umgebung ab, die Camillas Morphiumkonsum ermöglichte, in die Beschreibung der süß duftenden Frühlingsnacht im Anstaltsgarten mischen sich jedoch noch negative Konnotationen: Ein »Faulbaum« verströmt seinen Duft neben dem der Heckenrosen und löst eine »verhaltene[] Erregtheit« unter den Patienten aus (RuC, 351 und 352). Die bittere Reaktion Camillas auf diese Atmosphäre bezeichnet das Ende des narrativen Bogens ihrer Geschichte, die von der Verführung durch

|| 78 Von der Erholungsbedürftigkeit des Ehemannes ist hier die Rede, der Camilla zu einer Reise abholen werde, von ihrem Mitgefühl mit dem alternden Vater und von ihrem Vertrauen in den Bruder (vgl. RuC, 345).

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Liebesdiskurse und Sinnlichkeit ins andere Extrem führt: »Sie haßte und verachtete die Freuden, die sie heuchlerisch verheißen; sie haßte und verachtete den Trieb, der die Geschlechter zueinander drängt, der sich Liebe nennt und Ewigkeit verspricht, und nichts ist als eine Unersättlichkeit der Sinne.« (RuC, 353) Die übertriebene Heftigkeit des Ausdrucks zeigt jedoch ihren noch immer nicht stabilisierten nervlichen Zustand an. Die Absage an die Sinnlichkeit hat zu einer emotionalen Abtötung geführt, die keinen Weg in die Zukunft weisen kann.79 Dies ist das hoffnungslose Stadium, aus dem es für Reuters Agathe Heidling keinen Ausweg mehr gibt.80 Hauschner dagegen entwickelt ein positives Lösungsangebot für ihre Protagonistin. In einer zweiten Heilungsstufe – in einem abgelegen Haus in den Bergen, also räumlich in polarem Gegensatz zu dem großstädtischen Schauplatz ihrer »Verirrung« – erlebt Camilla die »Wohlthat der Natur«; und diese führt nicht nur zur physischen Gesundung, sondern dient auch als Modell positiver Lebensführung. Angesichts einer kinderreichen Bauernfamilie versteht Camilla das Wesen der Natur in dieser Fruchtbarkeit, den Zusammenklang mit dem Zeugen und Gebären der Tiere und Pflanzen um sie her, und sie beneidete die Menschen, die so bedenkungslos ein Naturgesetz erfüllten, ohne eine Ahnung von den kranken Schmerzlichkeiten, die den Trieb zum Feind und zum Zerstörer machen. (RuC, 361)

Die Vorstellung der instinktiven (und deshalb gesunden) Erfüllung eines Naturgesetzes spiegelt zeitgenössische Diskurse in der Folge Nietzsches und Darwins, die menschliche Lebens- und Fortpflanzungssitten an deren Übereinstimmung mit Lebenszyklen der Natur maßen. Das Lob der Fruchtbarkeit, das mit einer Schilderung der Gesundheit und körperlichen Schönheit des »schlichten starken Mann[s]«, des »gesunden blonden Weib[s]« und der »vielen rotbackigen Kinder« (RuC, 361) einhergeht, löst im Rückblick aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert aufgrund der potenziell rassistischen Implikation Unbehagen aus, doch derartige Ideale werden in der zeitgenössischen Literatur von Autoren verschiedenster politischer Überzeugungen vetreten und gehen sowohl auf Ideale kultureller Erneuerung in der Nachfolge Nietzsches zurück als auch auf

|| 79 Die einzigen zukunftsbezogenen Vorstellungsbilder, die Camilla entwickelt, sind der Wunsch nach »Abrechnung«, die Tätigkeit als »Gesellschaftsdame für die Anstalt« (die sie in dem durch die Anstalt räumlich bezeichneten Stadium der Noch-nicht-ganz-Geheilten stagnieren ließe) oder der Tod (RuC, 354 und 355). 80 Vgl. Reuter, Aus guter Familie (wie Einleitung, Anm. 32), Bd 1: Text, S. 267–268.

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bevölkerungspolitische Bemühungen um die Gesundheit der Nation.81 Interessant ist jedoch, dass die deutsch-jüdische Autorin Hauschner die Idealisierung ›nordischer‹ Rassestereotypen fraglos übernimmt, und es wird darauf zurückzukommen sein. Die Beschreibung dieser mit der Natur im Einklang lebenden Menschen ist stark klischeebesetzt und die flachen, griffigen Formeln betonen den Kontrast zu der komplizierten Psyche der Protagonistin; das Romanende fällt jedoch interessanter aus, als es diese trivialen Wendungen erwarten lassen. Camillas Mutterliebe, hier als natürlicher und bisher in der bedrückenden Atmosphäre ihrer Ehe und in der Berliner Bohèmewelt unterdrückter Instinkt dargestellt, erwacht – bzw. überwindet den Sexualtrieb – und veranlasst sie, zu ihrer Tochter nach Prag zurückzukehren. Dieser Entschluss ist nicht als Resignation misszuverstehen, er ist vielmehr als Zeichen für Camillas neu entwickelte Fähigkeit zu selbstgesteuertem Handeln angelegt ‒ als ein Erwachen aus dem Zustand selbstmitleidiger Schwäche, auf dessen Höhepunkt sie geklagt hatte, dass »man ihr selbst ihr Kind verleidet habe« (RuC, 342). Die Anerkennung des Instinkts bedeutet – in deutlichem Anklang an Nietzsches Denken – die Überwindung der Dekadenz.82 Hiermit schließt nun das Ende des Doppelromans wieder an die Rahmenthematik der Mutter-Kind-Beziehung an, die im ersten Band eine so große Rolle spielt. Mit der letzten Zeile ihres Texts, dem Versprechen Camillas an ihre Tochter »Du aber, mein geliebtes Kind, du sollst glücklich werden!« (RuC, 473), lässt Hauschner ihre Protagonistin die zuvor als »Fluch« bezeichnete Kette des Versagens an der Mutterschaft zerreißen (RuC, 77). Ganz im Sinne Krafft-Ebings heilt die ›natürliche‹ Mutterliebe das als krankhafter Zustand passiver Selbstbezogenheit und gesteigerter Sinnlichkeit begriffene Nervenleiden und mit dem Ausblick auf eine Zukunft im Zeichen dieser »unermeßlich reiche[n]« Liebe Camillas zu ihrem Kind liefert Hauschner hier das Modell positiver weiblicher Lebensgestaltung, das sie in Kunst schuldig blieb. Die Rückkehr zur Tochter ist dabei nicht als Anpassung an die gesellschaftlichen Rollenerwartungen gestaltet sondern als Gesundung und Befreiung in || 81 In Kapitel 4 dieser Studie, das Grete Meisel-Hess’ Roman Die Intellektuellen und den eugenischen Ideen des Bundes für Mutterschutz gewidmet ist, wird das gedankliche Umfeld der bevölkerungspolitischen Bewegungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts eingehend behandelt. 82 Vgl. dessen Formulierung: »Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence«. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe [KSA]. 15 Bände. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd 6, S. 49–155, hier S. 67.

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der Mutterschaft, denn Camilla kehrt eben nicht in die »Bürgerlichkeit« und an die Seite ihres »gutmütigen Gatten« zurück, wie Hella-Sabrina Lange und Ludwig Geiger fälschlich angeben.83 Vielmehr weicht sie ihrem Mann aus, bleibt ungesehen, und die Vereinigung von Mutter und Kind schließt den Vater aus: »Ihr [Kind] war es … ihr … Niemals wieder jemand zwischen ihnen« (RuC, 372). Das Glücksversprechen Camillas an die Tochter, mit dem das Buch endet, ist auch ein Versprechen, sie vor den »Schatten« und der Enge zu retten, die Camilla mit dem kleinbürgerlich-jüdischen Milieu der Familie ihres Mannes verbindet: »Hier darf mein Kind nicht länger wohnen bleiben«, entscheidet sie (RuC, 370). Mit diesem Ende wiederholt und bekräftigt Hauschner Camillas schon zuvor geäußerte Absage an ihre »laue Ehe« und deren endlose gleichförmige »stumpfe[] Tag[e]« (RuC, 78–79) – diesmal nicht nur in passiver Klage, sondern aktiv handelnd. Doch ob diese Wendung tatsächlich einen begehbaren Ausweg für die Protagonistin bietet, bleibt offen. Einerseits lässt sie sich als erneuter phantastischer Ausbruchsversuch Camillas lesen, der sich in der Realität als undurchführbar erweisen muss: Wie soll Camilla die Scheidung gegen den Willen ihres Mannes durchsetzen? Wie soll sie, die gänzlich Unpraktische und Unausgebildete, den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind verdienen? Ein Gleichnis für Camillas Leben, das der gütige und hellsichtige Leiter der Heilanstalt ihr in didaktischer Absicht vor Augen stellt, unterstützt diese Rezeption des Romanschlusses als erneuten Irrweg: Da ist zum Beispiel eine liebe, kleine Frau, die braucht Wärme so nötig, wie ein neugeborenes Kücken. Und sie hat zu Hause einen Ofen, so einen rechten altmodischen Kachelofen, äußerlich unscheinbar und so schwerfällig gebaut, daß man die Flamme weder sieht noch hört. Und der genügt ihr nicht, und sie rennt davon und stürzt sich in einen Krater. Und man zieht sie halbverbrannt heraus, und sie sagt eigensinnig: Jetzt will ich aber ganz erfrieren. Und der Krater flammt weiter, ohne seines Opfers zu gedenken. Der arme Kachelofen aber zerfällt zu Hause, da er die Heizung für sein Hühnchen nicht mehr braucht; und dann läuft noch ein zweites kleines Tierchen zitternd herum …. (RuC, 357–358)

Einfach und anrührend geschrieben, legt dieses Gleichnis den ›richtigen Weg‹ in der Rückkehr Camillas zu ihrem Mann fest. Wenn sie diesen Weg am Ende nicht befolgt, ist darin entweder eine implizite Kritik der Autorin an ihrer Protagonistin zu sehen, oder – und dies ist die interessantere Lesart ‒ ein Zugeständnis, dass der moralisch und gesellschaftlich sanktionierte Weg für Camilla nicht begehbar ist. || 83 Lange, »Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten« (wie Anm. 3), S. 173; Ludwig Geiger: Auguste Hauschners Neuer Roman. In: Allgemeine Zeitung des Judentums 74 (1910), S. 184– 185, hier S. 184.

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Es spricht einiges dafür, dass dies die intendierte Lesart ist. Zum einen ist die Schilderung der Wiederbegegnungsszene zwischen Mutter und Tochter am Romanende auf zwar sentimentale aber doch eindeutig mit der Protagonistin sympathisierende Art gestaltet und bildet den positiven Abschluss der MutterTochter-Thematik, die den Roman umspannt. Zum anderen wird diese Interpretation bestätigt, wenn man noch einmal Hauschners Schilderungen nervlicher Überspanntheit und Krisen Revue passieren lässt. Wie im Vorangegangenen deutlich wurde, sind Hauschners Darstellungen nervlicher Krisen in der Familie Lowositz fraglos Gestaltungen weiblichen Leidens, sie sind jedoch in einer Mischung von Empathie und Kritik an exaltiertem Verhalten weitgehend ambivalent gehalten: Wo die nervliche Überspanntheit durch realitätsfremdes Phantasieren ausgelöst wird, wo sie mit einem SichHineinsteigern in einen sinnlich-romantischen Liebesdiskurs und mit der IchAuslöschung der Liebenden einhergeht, zeichnet die Autorin sie als Erscheinung der Dekadenz. Andererseits weist Hauschner jedoch auch auf nervliche Zusammenbrüche als Auflehnung gegen Zwang hin, spezifisch im Kontext der Rolle als Ehefrau und Mutter, die die junge Camilla (noch) nicht auszufüllen bereit ist. Der erste Ausbruch der Krankheit bei Camilla nimmt in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung im Roman ein. Dieser deutet nämlich auf den Zusammenbruch einer Phantasie, die Camilla gesponnen hatte, um sich eben gerade den Umgang mit der Realität zu ermöglichen und ihr gesellschaftskonformes Verhalten als Ehefrau Felix Katzlers erträglich zu machen. Die Episode ist ohne die Verweise auf Elemente der Selbstdramatisierung oder Verblendung und ohne das negativ konnotierte Vokabular geschildert, das den beiden späteren Ausbrüchen anhaftet. Hier – und nur hier ‒ richtet sich die implizite Kritik der Autorin nicht gegen die Protagonistin, sondern gänzlich gegen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihr Zwang antun; mit anderen Worten: gegen ihre Verheiratung. Die Verheiratung erscheint, um mit Christina von Braun zu sprechen, als »kollektive Gewaltanwendung«, gegen die die Nervenleidende eine individuelle Abwehr praktiziert.84 In dieser Perspektivierung der Eheschließung als unrechtmäßiger Gewaltakt liegt der Grund, weshalb Camillas Weigerung, in die Ehe zurückzukehren und ihre ausschließliche Konzentration auf die Beziehung zu ihrer Tochter von der sonst durchaus nicht anti-bürgerlichen Hauschner mit deutlicher Sympathie vorgestellt werden kann. Und hier findet sich, wie ich meine, der Ansatz zum Verständnis der Geschichte Camillas als sehr spezifisch auf die sozio-kulturelle Situation deutsch-jüdischer Mädchen

|| 84 Braun, Nicht ich (wie Anm. 40), S. 106.

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zugeschnittenes Narrativ, in dem die arrangierte Heirat als kulturelle Praktik eine überragende Rolle spielt. Bevor hier jedoch auf die spezifisch jüdischen Aspekte von Hauschners Weiblichkeitsbild eingegangen wird, soll zunächst die Behandlung der Überspanntheit und ihrer Überwindung in zwei weiteren Erzähltexten Hauschners herangezogen werden, um die Entwicklung dieses Aspekts im Denken und Werk der Autorin aufzuzeigen und die Stoßrichtung ihrer Kritik in der Familie Lowositz klarer zu definieren.

3.3.3 Die Familie Lowositz zwischen Lehrgeld (1899) und Versöhnungstag (1911) Der vergleichende Blick auf Hauschners 1899 verfassten Roman Lehrgeld und auf die Novelle Versöhnungstag, die sie 1911 veröffentlichte, zeigt eine Entwicklung in der Behandlung des Themas weiblicher Überspanntheit, in der die Darstellung in der Familie Lowositz eine Zwischenstellung einnimmt. In Lehrgeld stellt Hauschner die Liebesheirat der Protagonistin Toni an den Anfang des Texts. Bald nach der Hochzeit erlahmt jedoch das Interesse des frischgebackenen Ehemanns an seiner jungen Frau, und er lässt sich auf neue Abenteuer ein. Hauschner stellt den Schmerz der vom gesellschaftlichen Diskurs über die Unendlichkeit der Liebe Betrogenen ausführlich und psychologisch differenziert dar. In der ärztlichen Diagnose wird hier der Begriff »hysterisch« verwendet, später ist auch die Rede von einem »Choc fürs Nervensystem«; Tonis Mann Hubert spricht von ihrer »Überspanntheit«, und die Erzählerstimme stellt »Überreiztheit« fest.85 Es ist klar, dass diese Begriffe mehr oder weniger synonym gebraucht werden, wenn mit dem Gebrauch der Fremdworte den Ärzten auch ein professionellerer Sprachgebrauch eingeräumt wird. Statt Hubert verbal herauszufordern, reagiert Toni auf sein Verhalten mit Weinkrämpfen und, wie später auch Camilla, mit verzweifelt ziellosem Irren durch raue, lebensfeindliche Landschaften ‒ hier eine Landstraße im Hinterland eines Seebads während eines Sturms ‒, und als sie den Beweis seiner Untreue erhält, verlässt sie ihn. Die Grundlage ihrer Verzweiflung aber, der romantische Liebesdiskurs, wird von dem brutal-unverblümten Realisten Ernst Mertens – der im Roman eine ähnliche Funktion einnimmt wie Nils Johanson in Rudolf und Camilla – als »Lüge« bezeichnet: als Lüge jedoch, die »die Natur so

|| 85 Auguste Hauschner: Lehrgeld. Geschichte einer Ehe. Berlin: Vita. Deutsches Verlagshaus 1899, S. 131, 211, 113 und 112.

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haben« wolle und mit der »sie die ganze Welt zusammen« halte.86 Wie Camilla erscheint auch Toni als Opfer falscher Erwartungen; gepaart mit einem gewissen Dünkel der »anständige[n]«, »ehrbare[n]« Frau ist Überspanntheit hier als ein Leiden gezeichnet, das aus kindischen Illusionen entsteht und das es zu überwinden gilt.87 Hauschner nimmt dabei zunächst die Perspektive der Leidenden ein, der sie berechtigte Ansprüche an zukünftiges Lebens- und Liebesglück und an die Treue ihres Mannes zuspricht, kennzeichnet diese Perspektive aber letztlich als naiv und überführt sie in die korrigierte, gereifte Absage an unrealistische und »thöricht[e]« »Illusionen«.88 Hat Toni sich einmal von diesen verabschiedet, erkennt sie den »Frieden des eigenen Hauses« »als einzige Zuflucht«.89 Dabei stellt Hauschner Tonis Rückkehr ins eheliche Heim als das Resultat eines nach tiefem Leiden und langem Reifungsprozess endlich möglich gewordenen selbstbestimmten, verantwortungsvollen Handelns dar. Allerdings gründet der Neuanfang des Ehepaars auf Tonis Bitte um Vergebung für ein ‒ nur gedanklich eingegangenes ‒ außereheliches Verhältnis. Der tatsächliche Ehebruch Huberts wird durch die fraglos anerkannten stärkeren sexuellen Bedürfnisse des Mannes entschuldigt. Insgesamt entwirft Hauschner in diesem Roman, den Gertrud Bäumer als »trivial[…]«, »unbedeutend« und »unecht« verurteilte,90 ein noch sehr konventionelles und oft klischeebesetztes Bild der Frau, in der das Verhalten der Protagonistin letztlich als unreif und »furchtbar dumm« verurteilt wird.91 Die Darstellung der Überspannung ist weit weniger ambivalent angelegt als in der Familie Lowositz, das kritische Potenzial wird hier noch stark zurückgenommen. Zwölf Jahre später legte Hauschner in der Novelle Versöhnungstag eine nuanciertere Darstellung der Überspanntheit und ihrer ›Heilung‹ vor. Die Handlung ist im Milieu deutscher Juden angesiedelt, die fest in Religion und Brauchtum verwurzelt sind. Berta und Alexander Rosenberg haben sich von ihrem Sohn Felix losgesagt, nachdem dieser sich der für ihn vorgesehenen Kanzleistelle und der arrangierten Ehe verweigert und eine Schauspielerkarriere aufgenommen hat und eine Liebesbeziehung zu einer Christin eingegangen ist. Eine lebensbedrohende Krankheit Felix’ dient nun als Anlass dafür, die Haltungen der Eltern zum Sohn ‒ und darüberhinaus zueinander und zu ihrer Religion –

|| 86 Ebd., S. 223. 87 Ebd., S. 85 und 224. 88 Ebd., S. 254. 89 Ebd., S. 260. 90 Bäumer, Auguste Hauschner (wie Anm. 10), Sp. 90. 91 Hauschner, Lehrgeld (wie Anm. 85), S. 234.

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auf den Prüfstein zu stellen. Bertas Position ist durch ihre Mutterliebe bestimmt, sie lehnt sich gegen den Mann und gegen die gesellschaftlichen Erwartungen auf, um ‒ zunächst heimlich – Felix’ Pflege aufzunehmen. Alexander dagegen beharrt auf dem fortgesetzten Ausschluss des Sohnes aus der Familie und beruft sich dabei auf gesellschaftlichen Status, patriarchalische Ordnung und Sitte. Hauschner wechselt im Laufe des Narrativs den Erzählerstandpunkt und gibt so Einblick in die Emotionen und Motivationen beider Protagonisten; vor allem erlaubt ihr dieses Vorgehen aber auch eine differenzierte Darstellung Bertas als »überspannte« Frau.92 Überspannung ist hier als Vokabel gekennzeichnet, die Alexander als Vertreter einer rigiden patriarchalischen Ordnung verwendet, um das gefühlsgesteuerte Verhalten seiner Frau zu beschreiben. In diesem Gebrauch ist nicht nur die Abwertung des emotionalen (weiblichen) gegenüber dem rationalen (männlichen) Denken, sondern auch die männliche Abwehr der weiblichen Auflehnung impliziert. Dieser abwertenden Haltung entgegen verweist Hauschner auf die Wurzel für Bertas Handeln in der in ihrer Naturgebundenheit jedem Gesetz und jeder Ordnung überlegenen Mutterliebe. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie Bertas Verhalten unkritisch positiv zeichnet: Wie die Struktur der Erzählung verdeutlicht, unterstützt sie die Radikalität von Bertas Auflehnung nicht. Anfangs werden die Positionen der Ehepartner in polarer Gegensätzlichkeit dargestellt, die Situation wird in ihrer Unversöhnlichkeit als Geschlechterkampf gezeichnet. Wenn Berta sich zum Beispiel in einem inneren Monolog fragt: »War sie eine Sklavin? War sie ein Ding, das man nach Belieben einschließt, das gefühllos, stumm und ohne Rechte ist?«,93 so hat diese Äußerung sicher kritisch-emanzipatorisches Potenzial, sie muss aber im Kontext anderer Passagen gelesen werden, die die frauenrechtlerische Position relativieren. Bezeichnet Berta ihren Mann z. B. als »Nebensache« und lässt sie sich sogar dazu hinreißen, Hassgefühle ihm gegenüber zum Ausdruck zu bringen, so wird hier die Intention Hauschners, die Gefühle ihrer Protagonistin als überzogen darzustellen, offensichtlich.94 Alexander, auf der anderen Seite, versteift sich im Beharren auf die Rechtmäßigkeit seiner Position, weniger aus Überzeugung als vielmehr aus einem Bedürfnis, sich gegen die Versuche Bertas, am Machtgefüge der Familie zu rütteln, abzuschotten. Bitter wehrt er sich gegen Bertas Haltung ihm gegenüber, die er als Gegnerschaft empfindet, und die, ähnlich wie in der Konstellation der Fami-

|| 92 Auguste Hauschner: Versöhnungstag. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 14 (1911), S. 209–259, hier S. 221. 93 Ebd., S. 223. 94 Ebd., S. 223 und 222–223.

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lie Lowositz, ein exklusives Bündnis von Mutter und Sohn einschließt; in spöttischem inneren Monolog heißt es: »Er war nüchtern, er war ungebildet – sie waren die Hochgemuten, die Poetischen! Die Narren!«95 Wenn am Schluss der Novelle der familiäre Konflikt im Sinne der Botschaft des Versöhnungstages gelöst wird, wird dies durch beiderseitiges Einlenken und den Kompromiss zwischen den radikalen Positionen von Auflehnung/Überspannung einerseits und starrem Traditionalismus andererseits erreicht. Für Berta kennzeichnet Hauschner die Verbindung von Mutterliebe und Anerkennung der Pflicht als Ehefrau als den ›richtigen‹ Weg. Solange Berta Alexander als Familienoberhaupt anerkennt und ihm öffentlich zur Seite steht, solange ihr Verhältnis zum Sohn nicht als Auflehnung gegen den Ehemann konfiguriert ist, kann Felix – sowie auch dessen Geliebte, die sich bereit erklärt, ihm zuliebe die jüdische Religion anzunehmen – wieder in den Schoß der Familie aufgenommen werden. Alexander kann seine starr-defensive Haltung aufgeben und sich für Bertas Plädoyer für Liebe, Fürsorge und Vergebung öffnen – zumal diese durch die Predigten, die am Versöhnungstag in der Synagoge gehalten werden, unterstützt werden. Mit der öffentlichen Unterstützung ihres Mannes leitet Berta einen Kompromiss ein, der als Basis nicht nur für die familiäre Versöhnung sondern auch für einen harmonischeren Lebensweg zwischen Gesetz und Gefühl gelten kann. Florian Krobb hat darauf hingewiesen, dass es Hauschners Berta gelingt, mit ihrem eigenmächtigen Handeln die Ketten des Hysterie-Diskurses abzuwerfen,96 und tatsächlich verweist Hauschner über Bertas ‒ wenn auch in seiner ursprünglichen Radikalität schädlichen ‒ Vertreten der Prinzipien der Menschlichkeit und Mutterliebe auf Möglichkeiten der Reform eines starren und versteinerten Regelapparats und der Lockerung von Praktiken, die auf patriarchalische Traditionen zurückgehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Alexanders Abweichen von seiner anfänglich so rigiden traditionalistischen Position im Rückgriff auf den Diskurs der Überspannung geschildert wird: Sein Ringen um eine Entscheidung ist als Kampf »seine[r] überreizten Nerven« beschrieben, der in einer Ohnmacht kulminiert und von einer »alles beherrschende[n] Müdigkeit« und schließlich sogar von Halluzinationen gefolgt wird.97 Indem Hauschner die nervliche Krise dem Mann zuschreibt und sie als

|| 95 Ebd., S. 256. 96 Vgl. Florian Krobb: Female Writers’ Narratives in the »Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur«: Ulla Wolff-Frank, Auguste Hauschner, Anna Goldschmidt. In: Hammel/WeissSussex (Hg.), »Not an Essence but a Positioning« (wie Einleitung, Anm. 36), S. 15–31, hier S. 25. 97 Hauschner, Versöhnungstag (wie Anm. 92), S. 249 und 247.

3.4 Weiblichkeit und Judentum: die Praktik der arrangierten Ehe | 107

Voraussetzung der Kompromissfindung einsetzt, hebt sie sie aus der stereotyp negativen Verknüpfung mit weiblichem Verhalten heraus und betont ihre Funktion als Stadium, in dem gesellschaftliche Regeln hinterfragt und der Weg zu einem im eigenen Empfinden ruhenden, ›natürlicheren‹ Handeln gefunden werden können. Letztlich aber drängt Hauschner auf vernünftige Mäßigung als Ausweg, hier personifiziert durch die vermittelnde Figur der Tochter, die mit Berta wegen derer »unvernünftigen Romantik« ins Gericht geht, ihre Pflege des Sohnes jedoch unterstützt und ihr durch ihre »Festigkeit« Halt gibt.98 Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung in den beiden Texten ist aufschlussreich. Der negative Überspannungsdiskurs in Lehrgeld bezieht sich vornehmlich auf illusionäres, unrealistisches Verhalten und verordnet die Rückkehr der Frau in den ursprünglich aus Liebe geschlossenen Eheverbund. Die positivere Rede über die Überspanntheit in Versöhnungstag bringt den Aspekt der berechtigten, natürlichen Auflehnung gegen rigide patriarchalische Vorschriften ins Spiel; an den Fundamenten der Ehe wird aber auch hier nicht gerüttelt, im Gegenteil: Das Einhalten des Ehekontrakts bietet die Grundlage für die Annäherung der Positionen der Ehepartner. In der Familie Lowositz verbindet Hauschner beide Aspekte des Diskurses: den der eskapistischen Romantik und den des Leidens an gesellschaftlichen Zwängen. Hier jedoch bricht sie ihre sonst so kompromisswillige und konformistische Haltung der Ehe gegenüber auf; und dies hängt, wie ich meine, entscheidend damit zusammen, dass die Geschichte der Camilla in ihrem Kern die Geschichte eines deutsch-jüdischen Mädchens ist, deren Ehe als Handel begriffen und ohne ihr Zutun beschlossen wird. Es geht Hauschner nicht um eine allgemeine Auflehnung gegen Ehe oder Bürgerlichkeit, sondern um die Kritik an spezifischen oppressiven deutsch-jüdischen Traditionen.

3.4 Weiblichkeit und Judentum: die Praktik der arrangierten Ehe Wie eingangs dargestellt, ist die Figur der Camilla in der Forschungsliteratur weitgehend ignoriert worden. Wo sie Beachtung gefunden hat, ist ihre Reise nach Berlin wiederholt als durch ihr Streben nach einer Künstlerkarriere motiviert gelesen worden, ihr Leben in der Großstadt als Leben einer Bohémienne und die Rückkehr nach Prag als Rückkehr in die Bürgerlichkeit. Hella-Sabrina Lange beispielsweise schreibt das Zerbrechen von Camillas »Familienidylle« ihren »Selbstverwirklichungsplänen« zu und berichtet, dass sie am Romanende

|| 98 Ebd., S. 222 und 225.

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»nach Prag zu ihrer Familie zurück[kehrt]«.99 Ähnlich äußert sich Ludwig Geiger, der angibt, dass Camilla von ihrem »gutmütigen Gatten« »wieder zu Gnaden aufgenommen wird«.100 Der einseitig gewichtete Leseprozess, der sich auf den männlichen Protagonisten konzentriert, wird hier ergänzt durch einen Blick auf die weibliche Hauptfigur, der von der Erwartung der Beschreibung eines feministischen Aufbruchsversuchs geleitet zu sein scheint. Wieder führt die implizite Erwartungshaltung zu ungenauem und missverstehendem Lesen. Interessanterweise geht diese verfälschende Lesart mit einer geringen Beachtung der spezifisch jüdischen Aspekte der Schilderung Camillas und ihrer Lebensumstände einher. Lange geht auf die jüdische Herkunft und Umgebung Camillas gar nicht ein, Geiger bemängelt in seiner Rezension der Familie Lowositz, Rudolf und Camilla seien doch nur »zufällig Juden« und es sei an ihnen »nichts Jüdisches als ihre Abstammung; von ihrem jüdischen Bekenntnis, von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft ist überaus selten die Rede«.101 Diese Aussparung der Betrachtung des jüdischen Kontexts führt aber, so meine ich, zu einer Verkennung eines der Hauptanliegen von Hauschners Text. Hier soll im Gegensatz zu diesen Positionen argumentiert werden, dass Camillas Zugehörigkeit wenn nicht zur jüdischen »Gemeinschaft«, so zum soziokulturellen jüdischen Erfahrungsraum grundlegend für das Verständnis des Doppelromans ist. Die Geschichte Camillas ist in ihrer Essenz die Geschichte ihrer Verheiratung und ihres darauf folgenden Ausbruchs aus der arrangierten Ehe. Mit diesem Narrativ greift Hauschner eine Praktik an, die unter deutschjüdischen Familien im späten neunzehnten und auch im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch Gang und Gäbe war. Selbstverständlich war in einer Gesellschaft, in der es aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten zur Berufsausübung für Frauen nur wenige Alternativen zur Ehe gab, auch in nicht-jüdischen bürgerlichen Familien die Sicherstellung der Versorgung von Töchtern durch ihre Verheiratung ein zentrales Anliegen. Die literarische Verarbeitung des Themas bei Gabriele Reuter z. B. legt lebhaft Zeugnis davon ab, wie dieses Anliegen sich auf die Erziehung bürgerlicher Mädchen zu Heiratsobjekten auswirkte. Geringe Mitgiftsummen, die potenzielle Freier verprellen, spielten für die Heiratschancen nicht selten eine Rolle: Wie Reuter, so schildert unter anderen auch Hedwig Dohm diese Problematik in ihrem Roman Sibilla Dalmar (1896). Andere literarische Darstellungen,

|| 99 Lange, »Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten« (wie Anm. 3), S. 171. 100 Geiger, Auguste Hauschners neuer Roman (wie Anm. 83), S. 184. 101 Ebd.

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wie Manns Buddenbrooks, stellen die Verheiratung von Mädchen als strategisches Mittel dar, das eingesetzt wird, um geschäftliche oder finanzielle Vorteile für die Familie zu erwirken. Nirgends aber wurde der ökonomische Aspekt der Eheschließung so betont – und nirgends so offen gehandhabt – wie in den deutsch-jüdischen Familien des Kaiserreichs, die sich noch immer der Praktik der arrangierten Ehen bedienten. Marion Kaplan, die sich diesem Thema in The Making of the Jewish Middle Class (1991) ausführlich gewidmet hat, erklärt diese Betonung der monetären Transaktion, die die Heirat begleitete und die sowohl innerhalb als auch außerhalb der jüdischen Bevölkerungsgruppen stark kritisiert wurde, mit der prekären Situation einer Minorität, die sich über finanziellen Gewinn Status und Sicherheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu verschaffen und gleichzeitig den Bestand der eigenen religiös und ethnisch definierten Gemeinschaft zu zementieren suchte.102 Hinzu kommt, dass die Vorbehalte gegen die Berufsausübung von Frauen in bürgerlichen jüdischen Familien stärker verbreitet waren als in nichtjüdischen Familien vergleichbarer Schichten, und dass deshalb die Notwendigkeit der Verheiratung stärker betont wurde. Umso wichtiger war in diesem sozialen Umfeld der realistische Umgang junger Mädchen mit den Versprechungen des romantischen Liebesideals. Denn nirgends stieß der idealistische romantische Diskurs der seelischen Verschmelzung zweier Individuen so abrupt und unversöhnlich auf die Realität des Heiratsmarkts wie hier. Oft wurde nicht einmal die nähere Bekanntschaft der beiden Ehepartner vorausgesetzt. Marion Kaplan erklärt: »A complicated interaction between what was supposed to happen (›love‹) and what was actually happening (anticipation of marriage, common curiosity, and an attempt to be cooperative and pleasing) took place.«103 Camillas Geschichte lässt sich als die Geschichte eines Scheiterns dieser komplizierten Interaktion lesen. Das Thema der arrangierten Heirat ist in deutsch-jüdischen Kreisen um die Jahrhundertwende oft diskutiert und kritisiert worden; unter anderen erhob Sidonie Werner 1914 in ihrem Aufsatz über Else Croners moderne Jüdin, der schon im vorangegangenen Kapitel Erwähnung fand, ihre Stimme gegen die »Mitgiftjägerei«.104 Und auch Croner selbst betrachtet »die Ehefrage« als »eine[n] der wundesten Punkte des modernen Judentums« und spricht sich dafür

|| 102 Auch für die folgenden Darlegungen ist Kaplans Studie grundlegend; vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class (wie Einleitung, Anm. 22), besonders Kapitel 3: »For Love or Money: Jewish Marriage Strategies«, S. 85–116. 103 Ebd., S. 109. 104 Werner, [Rezension von] »Die moderne Jüdin« (wie Kap. 2, Anm. 37), S. 53–54.

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aus, »mit durchgreifender Konsequenz bei der Heiratsfrage die ökonomischen Bedürfnisse von den metaphysischen« zu lösen, denn »wahre Ehe [sei] ohne Liebe, Liebe ohne Metaphysik nicht denkbar«.105 In typisch widersprüchlicher Manier begründet sie anderenorts jedoch ihre Beobachtung, dass jüdische Ehen auch ohne »ein seelisch-vertieftes Verhältnis zwischen den Gatten« »im allgemeinen gut« seien, mit der Behauptung, »die meisten Juden [liebten] ihre Frauen nicht als Individualitäten sondern eben aus Tradition, als gute Juden« – und mit der Familienorientierung und der Anpassungsfähigkeit der jüdischen Frau: »Ist die Ehe einmal vollzogen, so findet sich die Jüdin meist mit der ihr eigenen Elastizität in die Wesensart des Mannes. Die engere und weitere Familie, eigene Kinder und Verkehr helfen ihr über vieles hinweg.«106 Nach den seelischen Kosten dieser »Elastizität« der Anpassung an den Mann fragt Croner nicht, und sie zeigt auch keinerlei Interesse an dem »vielen«, über das der Familienkreis hinweghelfen soll. Auf eben diese Aspekte konzentriert sich nun Hauschners literarische Darstellung. Die Autorin hatte das Thema schon anderenorts, nämlich in ihrem Roman Abschied von 1897, bearbeitet.107 Hier beschreibt sie die Vorbereitungen zu einer Geldheirat zwischen dem Offizierssohn Kurt von Brencken und einer jüdischen Bankierstochter. Kurt lernt seine wohlhabende Braut achten und lehnt sich gegen den Handel auf, als dessen Opfer er sie beide sieht. Dieser frühe Text konzentriert sich auf die Perspektive des Mannes, der sich der unwürdigen und unehrenhaften Situation schließlich durch den Tod in einem Duell entzieht. Auch in der Familie Lowositz, einem Text, der der Perspektive der Romanfiguren viel Raum gibt, fällt auf, dass in den Schilderungen der Anbahnung und Vorbereitungen zu Camillas Verheiratung deren Perspektive ganz ausgespart wird. Sie hat ganz einfach keinen Anteil an den Verhandlungen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Thema in elliptischen Andeutungen oder in diskreter Technik der Aussparung behandelt würde. Im Gegenteil: Hauschner schildert die grausame Behandlung des Mädchens in aller Deutlichkeit. Zunächst erfolgt die Darstellung im komischen Aufeinanderprallen von Rhetorik und Realität: Der Brief der frisch verlobten Ottilie, die »selig« in ihrem »unerhörte[n] Glück« mit ihrem »so fürchterlich verliebt[en]« Bräutigam schwelgt, enthüllt die Absurdität dieses Liebesdiskurses in den Hinweisen darauf, dass das Paar sich bisher nur ein einziges Mal getroffen hat (FL, 189 und 190). Doch

|| 105 Croner, Die moderne Jüdin (wie Kap. 2, Anm. 3), S. 61. 106 Ebd., S. 59 und 52. 107 Vgl. Auguste Hauschner: Abschied. Berlin: August Deubner 1897.

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als Camilla den Gepriesenen kennenlernt, mischt die kontrastive Komik sich mit tiefem Ernst: »Also so sah die Zukunft eines Mädchens aus. So kahlköpfig mit so rot umsäumten Augen.« (FL, 192) Kurz darauf nimmt Rudolf dem Geschehen jeglichen verklärenden Schleier, wenn er feststellt: »Es interessiert mich gar nicht, dabei zu sein, wenn der Pfaff die Ottilie dafür segnet, dass sie sich einen Wäschefabrikanten kauft!« (FL, 198). Die Grobheit der Aussage verweist nicht nur auf Rudolfs »abfällige[] Kritik« (FL, 197), sondern auch auf die Haltung der Autorin, die durch diesen Sprachgebrauch auf die Brutalität der Praktik aufmerksam macht. In diesem Fall ist es der Mann, der als Objekt des Handels bezeichnet wird, denn Ottilie hat eine ansehnliche Mitgift zu bieten. Doch die Beschreibung des Vorgangs als Aktivität der Käuferin (Ottilie) verhüllt hier die Realität, die im Objektstatus vor allem der zu verheiratenden Frau liegt. Zwar bestimmt die Höhe ihrer Mitgift den Wahrscheinlichkeitsgrad der Verheiratung und die finanzielle und soziale Stellung des Bräutigams,108 doch auf die Wahl desselben hat sie nur wenig – oder keinen ‒ Einfluss. In der Begegnung Camillas mit dem potenziellen Freier Ehrenthal, der sich allerdings schon durch seinen Beruf als Theateragent von vorn herein als Blender disqualifiziert und von Hauschner wiederholt nur als »der Agent« oder »der Berliner« apostrophiert wird, legt Hauschner offen, wie die Machtverhältnisse liegen, wenn es sich um Mädchen mit geringerer Mitgift handelt. Ehrenthals Verhalten auf Ottilies Hochzeitsfeier ist ganz das eines Käufers, der sich die anwesenden Mädchen »prüfend« besieht (FL, 201). In mehrerer Hinsicht nimmt er ihnen ihre Individualität: Die Einordnung in Typen (»die Molligen«), die Verwendung misogynistischer Diminutive (»der nette Käfer«) und die Betrachtung der potenziellen Ehepartnerin und ihres gesellschaftlichen Umfelds in expliziter Verdinglichung (»die ganze Chose«) tragen zu einer Charakterisierung nicht nur seiner Person, sondern der ganzen Situation bei. Hauschner gelingt es, im arrogant-jovialen Sprachgebrauch Ehrenthals mehr über dessen Charakter – und den der Transaktion – auszudrücken als es in umständlichen Beschreibungen möglich wäre (FL, 201–202). Ehrenthals Auswahlkriterien werden klar benannt: || 108 Aufgrund von Anzeigen in jüdischen Zeitungen, unter anderen dem Berliner General Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums aus dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts gibt Kaplan genaue Angaben hierüber. Diesen zufolge war eine Aussteuer von 20.000 Gulden, wie sie Camilla zugestanden wird, für einen Bräutigam attraktiv, der über ein Jahreseinkommen von etwa 6.000 Gulden verfügte – ein mittleres Beamtengehalt (vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class [wie Einleitung, Anm. 22], S. 94). Dies gilt für die Verhältnisse in Berlin im Jahr 1912; die Relation zwischen Mitgifthöhe und Finanzkraft des Freiers ist an die Prager Verhältnisse anzupassen.

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Aussehen und »Unberührtheit« (gemeint ist sowohl geistige als auch körperliche Unberührtheit)109 sind attraktiv, doch den Ausschlag gibt der Preis: »und weil ihm der Klauber mehr geboten hat, nimmt er die Hermine«, kommentiert Camillas ältere Halbschwester Mathilde abschließend (FL, 211). Hier, wie auch später in der Verhandlung über Camillas Verheiratung mit Felix Katzler, wird die Braut selbst völlig im Dunkeln gehalten; ihr Zutun wird nicht benötigt, denn die Gespräche zwischen Vater und Freier drehen sich nicht um ihre Zukunft oder ihr Glück, sondern sind reine Verkaufsgespräche. Die Häufung geschäftlicher Termini verdeutlicht dies: Im Gespräch mit Ehrenthal ist die Rede von »Zahlen«, »Abschlüsse[n]« und »Bücher[n]«, von »Aussteuer« und »zehntausend Gulden Mitgift« und schließlich wird noch der berechen- und beleihbare Tod der Großmutter in die Gleichung mitaufgenommen, wegen der »gleichen Summe«, die durch deren »Erbteil« entstehe (FL, 209). Der endgültige ›Verkaufsabschluss‹, Camillas Verheiratung an Katzler, wird kurz und bündig erledigt: Katzler handelt die Summe der Mitgift von den ursprünglich angesetzten 20.000 Gulden auf 25.000 Gulden hoch. Wieder enthüllen Rudolfs polemische Kommentare die Gewalt, die der Schwester angetan wird. Doch weder seine Vorwürfe noch sein Versprechen, sich für sie zu verwenden – und schon gar nicht Camillas eigene Bitte um »Zeit […] zum Überlegen« ‒ haben irgendeinen Einfluss auf die Handlung (FL, 344). Hauschner betont die vollständige Stimmlosigkeit beider Geschwister im Angesicht der Unbarmherzigkeit dieses gesellschaftlichen Prozesses dadurch, dass sie in direktem Anschluss an die Proteste Rudolfs und Camillas – als hätten diese nicht gesprochen ‒ die Verlobung als Tatbestand bestätigt: »›Maseltow (Gratuliere),‹ rief [Mathilde] ihm entgegen, ›die Camilla ist verlobt.‹« (FL, 345). Die Verheiratung als kommerzielle Handlung wird von Hauschner explizit – und in antisemitischer Wendung – als jüdische Praktik gekennzeichnet: So steckt z. B. in Rudolfs Vorwurf an den Vater, die Schwester »zu verschachern« (FL, 342), die Anspielung auf das Klischee des schachernden Juden. Doch die Kritik geht hier in sehr spezifischem Sinne über die generelle Anklage hinaus: Es ist die Verheiratung Camillas als weitestgehend assimilierter Jüdin aus gutbürgerlichem Hause mit einem ihr sozial und nach seinem Bildungsstand unterlegenen Juden aus dem Kleinbürgertum, die hier als besonderes Unrecht hervor-

|| 109 Die betreffende Passage verweist auf die doppelte Bedeutung: »Sie kannte auch die Bücher und Theaterstücke nicht, die in Berlin den Tag beherrschten. Als er erwähnte: in den Logen des Residenztheaters säßen hauptsächlich Kokotten, sah sie ihn so unbefangen an, daß er merkte, wie dieses Wort ihr gar nichts sage. Diese Unberührtheit gab ihr einen Reiz in seinen Augen.« (FL, 202)

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gehoben wird. Der nüchterne Ehemann, Sohn einer »selbstzufriedenen« Kleinbürgerin, »die mit der deutschen Sprache auf dem Kriegsfuß stand« (FL, 345), erkauft sich durch die Verbindung die Steigerung seines kulturellen Kapitals im Bourdieuschen Sinne und die Hebung seines sozialen Status. Für die Braut dagegen bedeutet die Verbindung nicht nur die Reduktion zum Tauschobjekt, nicht nur die persönliche Einengung in der Unterbindung eines eigenen Lebensentwurfs, sondern auch einen Rückschritt auf dem heiß erkämpften Weg zur Assimilierung und gesellschaftlichen Anerkennung in der klar stratifizierten Prager Gesellschaft: »Du bist dir doch darüber klar, daß so eine Heirat sie wieder einen Schritt zurück ins Ghetto führt,« hält Rudolf dem Vater vor (FL, 342). Die Sicht von Camillas Verheiratung als doppelte Kränkung – als Bindung an eine sozioökonomisch und ethnisch-kulturell weniger prestigeträchtige soziale Gruppe – wird von der Erzählerstimme nie in Frage gestellt, eindeutig teilt die Autorin diese Perspektive. Mag Felix Katzler selbst auch alle Vorzüge eines liebenden und gütigen Ehemannes besitzen, so wird die Bindung Camillas an das Milieu, das er repräsentiert, für Hauschner als Vertreterin des assimilierten gehobenen Bürgertums doch als Unrecht begriffen. In der Behandlung dieser Thematik weist Die Familie Lowositz eine enge Verwandtschaft zu Georg Hermanns Doppelroman Jettchen Geberts Geschichte (1906 und 1908) auf – einem Erfolgsroman, der die Geschichte einer assimilierten Bürgerstochter im Berlin des Biedermeier erzählt.110 Diese wird gegen ihren Willen an einen Posener Cousin verheiratet, fügt sich zunächst auch passiv in ihr Schicksal, entflieht der Ehe jedoch noch am Abend ihrer Hochzeit. Interessanterweise interpretiert Kaplan, die auch auf die Verwandtschaft der beiden Texte verweist, Hermanns Roman als ambivalente Darstellung der arrangierten Ehe. Ihre Begründung lautet: »Jettchen’s romantic feelings were shown to be fleeting and had disastrous consequences.«111 Dies ist zwar der Fall, aber Hermann geht es in diesem Roman darum, die Tragik seiner Protagonistin aufzuzeigen, die aufgrund ihrer Sonderstellung als assimilierte Deutsch-Jüdin weder eine lebensfähige Liebesverbindung zu ihrem nicht-jüdischen Geliebten Kößling noch eine erträgliche Ehe mit dem hier als Negativ-Stereotyp gezeichneten provinziellen Ostjuden eingehen kann. Nirgends lässt er den geringsten Zweifel an seiner Sympathie mit der unglücklichen Heldin, die sich aus Pflichtgefühl in die Heirat fügt, ein Leben an der Seite des ihr kulturell und sozial weit unterle-

|| 110 Georg Hermann: Jettchen Gebert. Berlin: Fleischel 1906 und Georg Hermann: Henriette Jacoby. Berlin: Fleischel 1908, publiziert als zweiter Teil des Doppelromans Jettchen Geberts Geschichte. 111 Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class (wie Einleitung, Anm. 22), S. 102.

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genen Mannes jedoch nicht ertragen kann.112 Hier, wie auch in der Familie Lowositz, steht die Verurteilung der Protagonistin zur Passivität im Vordergrund, und in beiden Fällen wird deren ehrlicher Versuch, gesellschaftskonform zu handeln, herausgestellt. Das Scheitern dieser Versuche verweist nachdrücklich auf die Unmenschlichkeit der Verheiratung: Jettchen flüchtet zurück in die Arme der Familie; Camilla, der diese Möglichkeit nicht offensteht, erleidet einen nervlichen Zusammenbruch. Sowohl Jettchen Geberts Geschichte als auch Die Familie Lowositz sind in der Vergangenheit angesiedelt, doch die Thematik ist auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch aktuell. Dies belegt eine andere literarische Verwandtschaft von Hauschners Text – diejenige nämlich zu Max Brods Roman Jüdinnen, der ein Jahr nach Rudolf und Camilla erschien. In einem Brief an Hauschner aus dem April 1918 schreibt Brod: »Wir haben einander schon einmal im Stoffkreise getroffen, ‒ als Sie die Familie Lowositz schrieben und ich die Jüdinnen.« Und er betont, dass dies »kein Zufall ist, sondern Wirkung des gemeinsamen Milieus«.113 Brod weist hiermit auf die Ansiedlung beider Romane im Kulturraum des Prager deutsch-jüdischen Bürgertums hin; und mit spezifischem Bezug auf diesen sozial genau umrissenen Raum greift er anhand der Darstellung seiner exaltierten Protagonistin Irene die Problematik des »Mädchen[s] aus guter Familie« auf, die auch bei Hauschner eine so große Rolle spielt.114 Brods Irene ist auf gesellschaftlichen Erfolg abgerichtet und fixiert. Sie illustriert »das allgemeine traurige Schicksal der Mädchen, der jüdischen namentlich, die für keinen anderen Zweck als die Ehe erzogen werden und die haltlos, wenn dieses Spiel nicht gelingt, mit ihrer unreifen Bildung durchs Leben taumeln«.115 || 112 Vgl. hierzu Godela Weiss-Sussex: Metropolitan Chronicles. Georg Hermann’s Berlin Novels, 1897–1912. Stuttgart: Heinz 2001, S. 105–169. 113 Max Brod: Brief an Auguste Hauschner, 30. April 1918. In: Beradt/Bloch-Zavřel (Hg.), Briefe an Auguste Hauschner (wie Anm. 4), S. 160. Viele Jahre später wiederholt er in sehr ähnlicher Formulierung: »Familie Lowositz […] hat im Milieu manches mit meinem Buch Jüdinnen gemein […] Familie Lowositz spielt allerdings etwa vierzig Jahre vor meiner Erzählung.« Brod, Der Prager Kreis (wie Anm. 3), S. 46. Die Bemerkung ist in Arbeiten zu Hauschner wiederholt aufgegriffen worden, die Frage nach den konkreten Gemeinsamkeiten, auf die hier angespielt wird, wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Lange z. B. erwähnt Jüdinnen eingangs in ihrer Studie (Lange, »Wir stehen alle wie zwischen zwei Zeiten« [wie Anm. 3], S. 77), greift aber in ihrer knappen Behandlung der Camilla Lowositz nicht auf Brods Roman zurück. Auch Helena Teufel belässt es bei einem kurzen Verweis auf die »gesellschaftliche Enge, in dem sich das Leben der jüdischen Weiblichkeit abspielt« (Teufel, Auguste Hauschner [wie Anm. 20], S. 74). 114 Max Brod: Jüdinnen [1911]. Göttingen: Wallstein 2013, S. 51. 115 Ebd., S. 133.

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Der Grund dafür, dass Brod diese Problematik als in jüdischen Kreisen besonders virulent auffasst, ist derselbe, der die Praktik der arrangierten Geldheirat unter deutschen Juden so lange hat überleben lassen: nämlich deren prekäre gesellschaftliche Stellung, die sich im multikulturellen Prag in besonders deutlicher sozialer Stratifizierung manifestierte. Brods Irene hat die Einteilung der »deutschen Gesellschaft Prags in Klassen« mit geradezu »wissenschaft[lichem]« ‒ weil für sie lebenswichtigem ‒ Interesse untersucht und beschreibt sie in feiner Unterteilung nach christlicher oder jüdischer Herkunft, nach Stammbaum und nach Einkommen. Unterhalb der Klasse der »reichsten Juden« und »dem guten christlichen Mittelstand« rechnet sie aus, »daß von da ab die Kategorien etwa nach der Mitgift der Töchter sich abstuften« und dass es dabei »Grenzen [gab], auf deren Einhaltung von den Beteiligten streng gesehen wurde«.116 In diesem Klima, in dem die gesellschaftliche Stellung der Familie in einem solchen Grad von der Verheiratung der Mädchen abhängig war, ist ihr Warencharakter und der Druck, sich ›an den Mann zu bringen‹, stärker als in einer weniger rigide stratifizierten Gesellschaft wie sie sich beispielsweise in Berlin entwickelte.117 Brod beschreibt das berechnende, »gesucht[e]« und »überspannte« Verhalten Irenes und ihre »nervöse Zerrüttung« als Reaktion auf diesen Druck.118 Die Mittzwanzigerin kämpft in der verzweifelten Suche nach einem Ehemann einen harten »Daseinskampf« und ist dabei doch zur Passivität verdammt.119 Hauschner widmet sich zwar in erster Linie dem Leiden der jüdischen Frau nach der Verheiratung, sie geht jedoch am Rande auch auf diese Thematik ein. Zum einen zeigt sie anhand von Nebenfiguren zwei Möglichkeiten auf, mit dem Druck, sich als Heiratsobjekt zu identifizieren, umzugehen: In Camillas Cousine Ottilie zeichnet sie den Typus, der sich frag- und kritiklos in die vorgesehene Rolle fügt, es unterlässt, den Bruch zwischen Liebeserwartung und nüchterner Realität zu hinterfragen und alle von außen herangetragenen Erwartungen internalisiert. Die kokette Hermine dagegen, die sich mit ihrer hübschen Gestalt und ihrem kapriziösen Wesen bewusst manipulierend in Szene zu setzen weiß ‒

|| 116 Ebd., S. 46–47. 117 Auch der Verweis auf den »grundlosen Dünkel« der jüdischen Mütter, den Brod in seinem Roman anprangert (ebd., S. 100), lädt zum Vergleich mit Hauschners Roman ein und rückt Jettkas Verhalten in ein anderes Licht: Weit mehr als ein individuelles Phänomen, ist ihre Arroganz in einer Gesellschaft, in der gesellschaftliche Stellung allbedeutend ist, auch ein wichtiges Signal für die Außenwelt. 118 Ebd., S. 139, 14 und 51. 119 Ebd., S. 134.

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und damit Rudolf auch gänzlich in ihren Bann zieht –, lebt in heimlichen Affären ihre Sinnlichkeit aus. Camilla ist jedoch zu einem solchen robusten Umgang mit den an sie gestellten Rollenerwartungen nicht fähig: Sie ist zu verletzlich, zu unsicher und zu ungeschickt. Dass der Erwartungsdruck ihrer Umgebung jedoch auch ihr Verhalten beeinflusst, stellt Hauschner anhand einer Szene aus Camillas Mädchenzeit dar: Auf einer Ruderpartie, die die Geschwister mit Rudolfs Freund Kurt von Leschner unternehmen, macht dieser Camilla den Hof (»er kannte jungen Mädchen gegenüber keinen anderen Ton, als den einer gewissen Frechheit mit einer Unterströmung von Verliebtheit«). Camilla reagiert mit »verlegene[m] Getue« und »Aufkreischen« bei jeder Schwankung des Bootes – Übertreibungen weiblichen Verhaltens also, die darauf angelegt sind, die Ritterlichkeit des Jungen herauszufordern (FL, 147). Wie bei Brod, so steht auch hier das Unechte, Unnatürliche dieses Verhaltens im Vordergrund;120 und beide Autoren stellen diesem durch soziale Repression deformierten Mädchentyp das Ideal gesunder, natürlicher Weiblichkeit entgegen. Bei Brod ist »das liebenswürdige, frische Mädchen« Olga als Kontrastfigur zu Irene angelegt – sie ist warmherzig, »geschickt und natürlich« – und grämt sich darüber, für »kokett« gehalten zu werden.121 Die kontrastive Anlage ist mit der Stadt-Land-Thematik verbunden – oder doch zumindest mit dem Gegensatz von Groß- und Kleinstadt: Während Irene als Intellektuelle und Städterin charakterisiert ist, stammt Olga aus der Kleinstadt Kolin. Brods positive, im Zionismus mündende Einstellung zum Judentum erlaubt eine solche Ansiedlung des positiven und hoffnungstragenden Gegenbilds innerhalb des deutsch-jüdischen Kulturkreises; Hauschners Entwurf dagegen zeugt von desillusionierter Bitterkeit. Eine positive Gegenfigur zu ihrer gedrückten Camilla ist für sie nur außerhalb der beengten jüdischen Lebenswelt denkbar. Die Schwedin Ebba Sjöborg ist es, Cousine Nils Johansons und wie dieser geradlinig und selbstbewusst, die eben jene weibliche Freiheit verkörpert, an der es Camilla so mangelt: Sie lebt ihr Leben »niemandem zu Gefallen und niemandem zu Dank« (RuC, 155). Diese Kontrastfigur schärft den Blick auf Camilla: Hauschners Protagonistin verkörpert einen Begriff deutsch-jüdischer Weiblichkeit, den die Autorin 1914 in einem Aufsatz über Rahel Levin auf den Punkt brachte: Die Geschichte der Camilla enthüllt sich als Geschichte des »doppelten Martyrium[s] des Weibseins

|| 120 Franz Servaes beschreibt Irene als »Typus«, der sich durch das »Unfaßbare, Unechte, Zwitterhafte« charakterisiert. Franz Servaes: [Rezension von] »Jüdinnen«. In: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1631–1633, hier Sp. 1632. 121 Brod, Jüdinnen (wie Anm. 114), S. 33, 235, 234.

3.5 Camillas und Rudolfs Leiden am Judentum: Gemeinsamkeiten und Kontraste | 117

und des Judentums«.122 Insofern ist Camilla – über ihre Individualität hinaus ‒ als Typus konfiguriert, dessen Essenz in der Gebundenheit der deutsch-jüdischen Frau und in der Unnatürlichkeit der ihr auferlegten Lebensbedingungen liegt: Nicht von ungefähr bezeichnet Nils Johanson sie als »geknechtetes Geschöpf« (RuC, 263). Gedrückt durch schwermütige Veranlagung und durch eine Erziehung, die keine Alternativen zu sinnlich-phantastischer Träumerei bietet, ist Camilla, selbst wenn äußere Grenzen gelockert und Entwicklungsmöglichkeiten angeboten werden, unfähig, die Möglichkeiten zur Individuierung zu ergreifen, die ihr offenstehen. Hauschner verbindet die Darstellung dieser komplexen Problemlage aus charakterlicher, privat-familiärer und gesellschaftlich bedingter Gebundenheit mit einer sehr viel eindeutiger gesellschaftskritisch gewendeten Kritik an der Praktik der arrangierten Ehe unter deutsch-jüdischen Familien, die der Protagonistin keinen Spielraum lässt ‒ außer dem des Ausbruchs aus eben jener jüdischen Bürgerlichkeit, die ihr Schicksal bestimmt hat. In diesem Sinne ist das Romanende als für die Protagonistin psychologisch notwendiger Versuch zu lesen, dem »Martyrium« jüdischer Weiblichkeit zu entkommen: in ein freieres, natürlicheres Leben.

3.5 Camillas und Rudolfs Leiden am Judentum: Gemeinsamkeiten und Kontraste 3.5.1 Die Verankerung seelischen Leidens im Judentum Ist bisher ein Bild davon entstanden, wie Hauschner in ihrer Figur der Camilla Lowositz die problematische Psyche der deutsch-jüdischen Tochter und jungen Frau im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen konstituiert, die spezifisch den Bereich jüdischer Weiblichkeit betreffen, so soll nun die Frage nach der Integration dieses Bildes mit der Darstellung des männlichen Protagonisten Rudolf gestellt werden. Die parallele Anlage des Romans, die es der Autorin erlaubt, gleiche oder ähnliche Anlagen, Ausgangspositionen und Lebensträume der Geschwister aufzuzeigen, aber auch die verschiedenen Wege, die sie gehen, zu verfolgen, führt zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erbe der assimilierten Juden, mit ihrer sozialen Stellung im ethnischen und politischen Spannungsfeld und mit genderspezifischen Fragestellungen. In der Perspektive des Vergleichs kann über die Gemeinsamkeit bestimmter Anlagen der Geschwister das spezifisch jüdische Element beider Charakterbilder || 122 Hauschner, Rahel Levins Sendung (wie Einleitung, Anm. 58), Sp. 268.

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offengelegt werden – so wie gleichzeitig im Kontrast Camillas geschlechtsspezifische Situation offensichtlich wird. Camillas Schwermut zum Beispiel, die »trübsinnige Empfindlichkeit«, die Nils Johanson an ihr kritisiert (RuC, 290), ist auch in Rudolfs Charakter angelegt und von Hauschner explizit als jüdische Veranlagung gekennzeichnet. Rudolfs grüblerisches Wesen steht im Gegensatz zu der Unbeschwertheit seines Mitschülers Kurt von Leschner: »Wie brachte mans nur fertig so harmlos lustig in die Welt hineinzuschauen […]«, fragt Rudolf sich (FL, 150); und die Autorin gibt klare Auskunft. Gewissermaßen über den Kopf ihres Protagonisten hinweg erklärt sie, dass Rudolf, »ohne sich Rechenschaft darüber zu geben«, den »leichten Sinn« der »Gojim« auf »die Wohltat einer vielhundertjährigen Kultur« zurückführt, in der »es keine dunklen Anfänge [gab], die man zu verschweigen suchte« (FL, 80).123 An anderer Stelle versucht Rudolf sich an einer Definition der »Eigenart der Judenrasse«. In einer rhetorischen Bewegung, die unter anderem auch bei Croner –und in deren Quelle, der völkerpsychologischen Studie Der Mensch und die Leute von Bogumil Goltz – zu finden ist,124 zerlegt er diese »Eigenart« in ihre Komponenten und führt sie auf sozialhistorische Fakten zurück. Der »sehnsüchtige Sinn« der Juden ist eine der hier identifizierten jüdischen Eigenschaften, und interessanterweise wird er nicht auf Jahrhunderte der Verfolgung und Ausgrenzung zurückgeführt, wie dies bei Croner der Fall ist, sondern auf die Praktik der Verheiratung jüdischer Töchter. »Wer weiß«, grübelt Rudolf, »ob er seinen sehnsüchtigen Sinn nicht irgend einer Frau verdankte, deren Sehnsucht, an einen ungeliebten Mann verhandelt, hatte ungestillt verbrennen müssen.« (RuC, 316) Hauschner stellt hier nicht nur eine direkte Verbindung zu Camillas Lebenswelt und zu dem auf sie fokussierten Strang des Romans her, sondern sie geht weiter: Sie betont die Bedeutung weiblicher Erfahrung als Quelle allgemein jüdischer psychischer Anlage. In Verbindung mit der hier postulierten schwermütigen, sehnsüchtigen jüdischen Grundstimmung steht auch die Flucht in die Phantasie. Über Rudolf schreibt Hauschner: »[S]eine Seele war immer auf der Flucht vor dem übermächtigen Verstand, der ihr den Glauben an das Wunder nehmen wollte.« (RuC, 316) Wieder ist hier die historische Begründung interessant: Sie liegt in der »Bedrückung« der jüdischen Rasse; diese ist jedoch nicht als ethnische

|| 123 Ähnlich spricht Hauschner in ihrem Aufsatz über Rahel Levin über deren »Schwermut, die sich oft mit Bleigewichten an ihre Sonnenseele hing« und schreibt diese als einen »wie in einer vorgeburtlichen Erinnerung erlittener Leiden entstammten Erbteil ihrer Rasse« fest. Ebd. 124 Vgl. Kapitel 2, S. 49.

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Unterdrückung gefasst, sondern als Merkmal der »Knechtschaft«, die als Resultat von »Jehovas rachsüchtige[r] Ethik« beschrieben wird (RuC, 316). Die Ursache des Übels liegt also nach Hauschner nicht in der Diskriminierung und Verfolgung der Juden von außen, sondern wird im Judentum selbst verortet. Diese eigenwillige Interpretation jüdischer Veranlagung bedeutet eine klare Positionierung aufseiten der assimilierten Autorin: Statt über das Aufrufen historischer Gegebenheiten um Verständnis für als spezifisch jüdisch gekennzeichnete Eigenschaften zu werben, wendet sie sich gegen den ethisch-religiösen Kern des Judentums selbst. Bedrückung, Schwermut und das Flüchten in Phantasien sind nicht nur individuelle Anlagen bzw. Schwächen Camillas, sie sind vielmehr – wie die Parallele zu ihrem Bruder impliziert – als allgemein jüdisches Merkmal gekennzeichnet. Insofern – so die Implikation – ist auch Camillas jüdische Abstammung als eine der Komponenten zu begreifen, die sie vom Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben als Frau abhalten: Neben den »Sklavenketten des Geschlechts« sind es auch die Fesseln des Judentums, die sie binden. In diesem Kontext der Verbindung von den Leiden an der Weiblichkeit und am Judentum ist auch Camillas Überspanntheit noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Ist diese bei Hauschner nicht nur eine weibliche Malaise, sondern auch als jüdische Anlage gekennzeichnet? Teilt Rudolf den Hang zur nervlichen Überreizung? Tatsächlich ist dies weitgehend der Fall. Rudolf hat, wie sein Mentor Doktor Markus treffend bemerkt, »aus Schopenhauer, Heine und dem Sturm und Drang der Romantiker zu viel herausgelesen« (FL, 219) und meint in überzogener Unbedingtheit, an der »geheimnisvollen Zaubermacht, die man Willen nennt«, dem Geschlechtstrieb nämlich, aber auch an seiner Liebe zu Hermine und dem verzweifelten Drang nach Unabhängigkeit »zugrunde gehen« zu müssen (FL, 215 und 220). Hauschner beschreibt Rudolfs Grunddisposition als einen Zwiespalt zwischen dem Streben nach Genuss und weltlichem Erfolg einerseits und weltverachtender Esoterik andererseits, zwischen »Wünschen und Versagen« (RuC, 335). Beide Wege sind ihm jedoch durch seinen zersetzenden Zynismus und seine – wie so oft im zeitgenössischen Denken mit dem jüdischen Charakter verknüpfte – Intellektualität blockiert.125 Die Spannung dieser drei auseinanderstrebenden seelisch-geistigen Bewegungen, die ihn bis hin zu Anfällen der Todessehnsucht quält, ist hier auf das Judentum zurückgeführt – »[e]r sprach es aus, daß er sich zu diesem Zwiespalt durch Rasse, Abkunft und Erziehung ver|| 125 Zur Verbindung von Intellektualität und Judentum vgl. Sander Gilman: The Smart Jew. The Construction of Jewish Superior Intelligence. Lincoln: University of Nebraska Press 1996.

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urteilt glaube« (RuC, 328) – und der Zwiespalt führt zur »Spannung seiner Nerven […] bis zur Unerträglichkeit« (RuC, 335). Rudolfs nervliche Überreizung äußert sich in verschiedenen Krankheitsbildern. Nach dem Tod der Mutter erspart ein »Erkältungsfieber« ihm, »sich der Teilnahme an orthodoxen Riten zu widersetzen«, auf denen der Vater besteht (FL, 225), und eine ernste Lungenentzündung ist als Folge der seelischen Erschütterung durch Hermines plötzliche Verheiratung an Ehrenthal geschildert. Seinen psychischen und physischen Schmerz sucht er nicht mit Morphium, wie später Camilla es tun wird, aber mit Alkohol und mit übermäßigem Genuss »von des Doktors Pulvern« zu betäuben (FL, 247). Die Lungenentzündung ist jedoch nicht die einzige Folge auf die Nachricht von Hermines bevorstehender Heirat; Rudolfs verzweifelter Versuch, dem Vater in letzter Minute die Erlaubnis abzuringen, die Geliebte selbst zu heiraten, trifft bei diesem auf tiefste Entrüstung über seine Auflehnung und führt zum endgültigen Bruch zwischen Vater und Sohn. Wieder wird hier also die Praktik der Verheiratung als Geschäft zwischen den Vätern der Brautleute fokussiert und die Bedeutung dieses Motivs für Hauschner bestätigt: Wie in Camillas, so stellt sich auch in Rudolfs Lebensweg die arrangierte Ehe als einer der wichtigsten Faktoren dar, die ihm seine »Bedrückung« und Unfreiheit vor Augen führen. In der ähnlichen Anlage der Charaktere und Lebenswege der Geschwister und in der Rückführung auf dieselbe Grundlage zeigt sich deutlich die Verdichtung und Bedeutung der deutsch-jüdischen Thematik in Hauschners Roman. Camillas Überspanntheit muss also – neben der Kontextualisierung als spezifisch weibliches Symptom – auch als Ausdruck ihrer jüdischen seelischen Grundveranlagung gelesen werden. Tatsächlich war um die Jahrhundertwende diese doppelte Zuschreibung der »reizbaren Schwäche«, Nervosität oder Neurasthenie als weibliches und als jüdisches Leiden weit verbreitet: Nicht nur im antisemitischen Diskurs jüdischer Rastlosigkeit (oder »jüdischer Hast«), die z. B. bei Heinrich von Treitschke im Gegensatz zur deutschen Gemütlichkeit erscheint,126 sondern auch in zahllosen Selbstdarstellungen jüdischer Autoren, ob Max Nordau, Theodor Lessing, Leopold Löwenfeld oder August Cramer, findet sie sich.127 Die Begründungen variieren: Diskriminierungserfahrungen

|| 126 Verweis nach Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München: Hanser 1998, S. 330. 127 Vgl. ebd., S. 332. Oft erscheint die Nervosität als Krankheit der männlichen Elite – so z. B. auch bei George M. Beard, einem der Begründer des Diskurses über die Neurasthenie als Krankheitsbild. Vgl. Elaine Showalter: Hysteria, Feminism, and Gender. In: Sander Gilman

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spielen eine Rolle sowie auch die intellektuelle Tätigkeit der Westjuden; immer wieder werden aber auch sexuelle und berufliche Frustrationen und unerfüllter Idealismus angeführt. All diese Faktoren spielen in Hauschners Darstellung von Rudolfs Nervosität eine Rolle – allgemeiner aber, und damit auch Camillas Erfahrung mit einbeziehend, kann die Nervenschwäche beider Geschwister als Reaktion auf eine Situation der Machtlosigkeit und eingeschränkten individuellen Spielraums verstanden werden.128 Um dieser als seelischer Druck erfahrenen Machtlosigkeit und Einschränkung zu entfliehen, ziehen beide Geschwister nach Berlin. So ist im strukturellen Gesamtkontext des Romans der Berlinaufenthalt als Erkundung der Frage zu verstehen, inwieweit der Ausbruch aus den »Hemmungen und Lasten«, die die deutsch-jüdische Herkunft für Rudolf und Camilla bedeutet (FL, 422), möglich ist.

3.5.2 Versuche des Ausbruchs im großstädtischen Berlin und im Leben nach dem »Beispiel der Natur« Zunächst fällt auf, dass Berlin durchaus – wie so oft im deutsch-jüdischen Prager Roman – als »lockende Alternative« erscheint,129 der positive Reiz der Stadt aber auffallend verhalten dargestellt bleibt. Rudolfs Umzug ist mit dem Versuch begründet, seinem »Fremdgefühl« als jüdischer Student unter nicht-jüdischen Kommilitonen und Professoren in Prag zu entkommen und in der Großstadt Berlin »die Hemmungen und Lasten, die ihn beengten und zu Boden drückten und ihn verhinderten sich zu entfalten« zu überwinden. In der letzten Auseinandersetzung mit dem Vater beschreibt er den Berlin-Aufenthalt explizit als notwendig für seine »seelische[] Gesundheit« (FL, 422); sein Beweggrund für die Reise ist damit derselbe, aus dem auch Camilla ihm zwei Jahre später folgt.

|| u. a.: Hysteria beyond Freud. Berkeley: University of California Press 1993, S. 286–344, hier S. 294. 128 Vgl. Elaine Showalters Definition des Phänomens als »response to powerlessness«. Ebd., S. 304. Erfahrungen der Technisierung, Beschleunigung, der Individualisierung und der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft – typische Erfahrungen der Moderne also – nehmen demgegenüber in Hauschners Roman einen weit geringeren Stellenwert ein. Zu diesen Begründungen der Nervenschwäche vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität (wie Anm. 126), S. 173–259. 129 Vgl. Peter Demetz im Nachwort zu Max Brods Erinnerungsbuch Der Prager Kreis, hier zitiert nach Margarita Pazi und Hans Dieter Zimmermann: Vorwort. In: Pazi/Zimmermann (Hg.), Berlin und der Prager Kreis (wie Anm. 20), S. 7–8, hier S. 7.

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Berlin ist nicht das Ziel der Träume dieser Protagonisten, ja nicht einmal der Ort, an dem spezifische Pläne zu verwirklichen wären. Rudolf plant nur vage, dort zwei Semester zu studieren (die journalistische Tätigkeit soll ihn dabei nur finanziell über Wasser halten), und Camilla verbindet mit Berlin zunächst nicht mehr als die Nähe zu der geliebten Cousine Ottilie – erst Rudolf legt ihr die Möglichkeit des Musikstudiums nahe. Für beide ist Berlin ex negativo als Ort der Zuflucht konfiguriert. Ist diese Grundanlage dieselbe für Bruder und Schwester, so gestaltet die Autorin den Erfahrungsraum Berlin für ihre Protagonisten jedoch in sehr unterschiedlicher Weise. Camillas Bewegungsfreiheit bleibt auch in Berlin, wie bereits beschrieben, stark eingeschränkt. Sie bleibt gehemmt und eingeschlossen – sowohl auf emotionaler als auch auf räumlicher Ebene; selbstständige Unternehmungen verbieten sich ihrem passiv-konventionellen Wesen, und so ist ihr geographischer und sozialer Radius ganz auf das Wohlwollen anderer angewiesen.130 Statt sie zu unterstützen, setzt Rudolf in Berlin das Verhalten der Eltern gegenüber der Schwester fort: Weitgehend ignoriert und vernachlässigt er sie, doch er behält sich das Recht vor, Erlaubnis und Verbot für ihre Unternehmungen zu erteilen (vgl. z. B. RuC, 158 und 271). Die Kontrolle, die er über den – auch wörtlich zu verstehenden – »Umgang« der Schwester ausübt, entspricht jedoch auch den zeitgenössischen Gepflogenheiten insbesondere jüdischer Familien, die die Anständigkeit und Wohlerzogenheit ihrer Töchter angesichts antisemitischer Vorurteile besonders betonen mussten.131 Hauschner benutzt die Darstellung der jungen Bohémiennen, unter denen Camilla in der Berliner Pension lebt, um im Kontrast Camillas Unfreiheit umso deutlicher hervorzuheben. Andererseits aber deckt die Autorin gleich bei zwei dieser scheinbar so emanzipierten jungen Frauen den unter der Rhetorik weiblicher Unabhängigkeit verborgenen Wunsch nach Bürgerlichkeit und Ehe auf

|| 130 Die Familie Samuel nimmt sie in den zoologischen Garten mit (vgl. RuC, 75); ein Ausflug in den Grunewald, den sie sich wünscht, bleibt ihr aber versagt, da Rudolf sie nicht auffordert, ihn zu begleiten (vgl. RuC, 74). 131 Vgl. Kaplan, The Making of the Jewish Middle Class (wie Einleitung, Anm. 22), S. 54–56. Wo Camillas Begegnungen mit der Berliner Stadtlandschaft und Lebenswelt geschildert werden, dienen diese weitgehend als räumlich-atmosphärischer Hintergrund für ihre Ausbrüche nervlicher Überspannung. Außer der bereits beschriebenen Schilderung des Grunewalds als bedrohliche, mit Aspekten der Todessymbolik verbundene Einöde ist hier auch ein verzweifelter Irrgang durch den dichten Stadtverkehr zu nennen, in dem Camilla die letzte Verbindung zu dem geliebten Nils verliert – Hauschners Wendung des um 1910 weit verbreiteten Topos des Irrens durch fremde Stadtlandschaften und des Einzelnen in der Menge als Spiegelung innerer Konflikte, Verzweiflung und Vereinzelung (vgl. RuC, 347).

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und stellt hierdurch auch deren Freiheit infrage. Insgesamt nimmt die Schilderung des Pensionslebens aufgrund von Intrigen und gegenseitigem Verrat eine immer negativere Färbung an und wird schließlich in der Darstellung des Morphium-Missbrauchs der Pensionsinhaberin eng mit dem Begriff großstädtischer Dekadenz verbunden. Ein positiver Schritt ›ins Freie‹ ist in dieser Umgebung für Camilla undenkbar. In mancher Hinsicht knüpft Hauschner mit dieser Perspektivierung Berlins an die Schilderungen der Großstadt in ihren anderen Werken an. Schon in ihren frühen Novellen war Berlin als die Stadt des Naturentfremdeten, Unechten erschienen: Die geschminkte, dressierte Amina, von der die Novelle Erste Liebe handelt, ist Berlinerin;132 und Peppik Kralik, Protagonist von Der Virtuose, lässt das gekünstelte großstädtische Virtuosentum hinter sich, um in seine böhmische Heimat zurückzukehren und dort zum »echten Künstler« zu werden.133 Im Roman Lehrgeld erscheint das Motiv der Naturentfremdung wieder, unter anderem in der Schilderung frivoler Gesellschaftlichkeit und parfümierter, gepuderter Mädchen mit »kecke[n] Blicke[n]« auf der Friedrichstraße,134 und in Kunst, dem Roman, in dem Hauschner der Stadtdarstellung – diesmal an Paris festgemacht – die ernsthafteste Aufmerksamkeit widmet, zeichnet sie zunächst ein faszinierendes, alle Sinne ansprechendes Bild, nimmt dieses jedoch letztlich zurück, um die Stadt als Fassade zu entlarven, die von der desillusionierten Protagonistin Marianne als verführerisch erkannt und abgelehnt wird. Wo Hauschner sich dagegen der Gestaltung der großstädtischen Lebensumwelt aus der Perspektive ihres männlichen Protagonisten Rudolf annimmt, geht sie weit über diese oft etwas schematischen Darstellungen hinaus: Wiederholt und zu Recht wird dieser Aspekt der Familie Lowositz in zeitgenössischen Rezensionen lobend hervorgehoben.135 Vor allem die Schilderungen der Treffen

|| 132 Vgl. Auguste Hauschner: Erste Liebe. In: Hauschner, Erste Liebe (wie Anm. 16), S. 5–21. 133 Auguste Hauschner: Der Virtuose. In: Hauschner, Erste Liebe (wie Anm. 16), S. 22–43, hier S. 43. 134 Hauschner, Lehrgeld (wie Anm. 85), S. 91. 135 Ludwig Geiger betont die »außerordentliche Virtuosität« der Schilderung vor allem »derjenigen Schichten, die sich anschickten, die preußische Hauptstadt zu einem Klein-Paris zu gestalten« (Geiger, Auguste Hauschners neuer Roman [wie Anm. 84], S. 184). Das Berliner Tageblatt lobt das »starke Zeit- und Ortsempfinden« der Autorin und bescheinigt ihr, in das Wesen der Hauptstadt« zur Zeit Bismarcks »tief hineingegangen« zu sein (Auszug aus der Rezension, abgedruckt auf den letzten zwei Seiten von Auguste Hauschner: Die große Pantomime. Berlin: Egon Fleischel & Co 1913). Auch Gustav Landauer lobt in einem – sonst durchaus nicht unkritischen – Brief besonders Hauschners »Gestalten, […] Milieuschilderungen und […]

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einer Gruppe von Freidenkern (»die Freien«) und der Arbeitswelt in der Redaktion des Theaterblatts, an dem Rudolf als Journalist tätig ist, betten das Romangeschehen auf detaillierte, informierte Weise in die politisch-sozialen Realitäten Berlins in den 1880er Jahren ein. Über die Diskussionen der »Freien« werden, wie zuvor in Prag in den Debatten unter Gymnasiasten und Studenten, Möglichkeiten der Positionierung im – hier vornehmlich oppositionellen und reformorientierten – politischen Spektrum ausgebreitet: Anarchisten, russische Anti-Zaristen, Sozialisten, aus der Kirche ausgetretene Theologen und PostDarwinisten kommen zu Wort. Doch auch unter ihnen findet Rudolf keine geistige Heimat, weil er als Idealist vollkommene Unabhängigkeit erstrebt und weil sein Misstrauen ihn als Anhänger jeglicher Ideologie untauglich macht. Beide Charakterzüge – sowohl der Idealismus, der »Hang, nach dem Unmöglichen zu streben« (RuC, 235), als auch die diesem entgegenstehende Neigung, »an dem Schleier der Erscheinung« zu »zerren«, »anstatt sich kinderhaft an ihr zu freuen« (RuC, 248) – werden im Roman als typisch jüdisch gekennzeichnet, und so wird auch Rudolfs geistige Heimatlosigkeit in letzter Instanz auf seine jüdische Identität zurückgeführt. Keines der politischen oder philosophischen Modelle, die hier vorgestellt werden, sind dazu angetan, sein Problem zu lösen, denn dieses lautet, auf den Punkt gebracht: »wenn ich ein Mittel wüßte mich vom Judentum zu lösen …« (RuC, 234). Judentum, so wird hier wieder deutlich, ist für Rudolf – und für Hauschner – kein Bekenntnis, das man gegen ein anderes eintauschen könnte, sondern eine rassisch bedingte Ansammlung von Anlagen, eine Grundstimmung und ein Leiden. Rudolfs Arbeit an einer Theaterzeitschrift gibt Hauschner die Möglichkeit, innerethnische Konflikte unter den weitgehend deutsch-jüdischen Mitarbeitern zu diskutieren.136 Darüber hinaus ist dieses Milieu in seiner Bedeutung als potenzieller Entfaltungsrahmen für Rudolf parallel zu der Bohèmegemeinschaft in Camillas Pension angelegt. Rudolf erfährt schon bald, dass die journalistische Arbeit sich den Marktgesetzen zu beugen hat und für seinen Idealismus nicht den richtigen Rahmen bietet. Insofern ist seine Suche nach einem begehbaren Weg sicher als Problem der Adaption an die »moderne Kultur überhaupt« zu interpretieren, wie schon Gertrud Bäumer vorschlägt.137 Dieses Adaptionsproblem wird jedoch von Rudolf als einem Juden, der seinen Platz in der nichtjüdischen Mehrheit zu behaupten sucht, vertieft erfahren. Hans Otto Horch hat

|| Weltgefühl« (Gustav Landauer: Brief an Auguste Hauschner, 25. August 1911. In: Beradt/BlochZavřel [Hg.], Briefe an Auguste Hauschner [wie Anm. 4], S. 112–114, hier S. 113). 136 Vgl. hierzu Herzog, Auguste Hauschners »Die Familie Lowositz« (wie Anm. 7), S. 77. 137 Bäumer, Auguste Hauschner (wie Anm. 10), Sp. 94.

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dies mit Verweis auf Ludwig Jacobowskis Roman Werther der Jude ausgeführt: »Die prekäre Situation des Judeseins verschärft diese allgemeine Problematik, sie stört den Adaptionsprozeß entscheidend durch das immer neue, absichtlich oder unabsichtlich provozierte Verwiesensein auf ein kollektives Außenseitertum.«138 Und mehr: das Judentum ist in Hauschners Roman nicht nur der verschärfende Faktor einer allgemeinen Problematik; es stellt vielmehr das zentrale Anliegen der Autorin dar. In dieser Hinsicht ist Herzog zu widersprechen, der die Familie Lowositz als Versuch liest, »die jüdische Problematik in einen übergreifenden Sinn- und Deutungszusammenhang zu stellen«, denjenigen nämlich der Kritik an der Moderne.139 Er geht davon aus, dass der Begriff der ›Juden‹ ein Konstrukt ist, da diese keine abgrenzbare Homogenität bilden. Dies entspricht aber, wie ich im Vorangegangen gezeigt habe, nicht Hauschners Auffassung, die eine – wenn auch diffuse – jüdische Mentalität durchaus voraussetzt. Betrachtet man den Lebensweg Rudolfs allein, mag Herzogs Interpretation tatsächlich naheliegend scheinen; bezieht man jedoch Camillas Leiden gerade an den traditionellen patriarchalischen Strukturen des Judentums mit ein, wird deutlich, dass Hauschner durch die komplementäre Darstellung der Erlebniswelten der Geschwister den gemeinsamen Faktor des bedrückenden Judentums als ihr eigentliches Anliegen behandelt. Die Moderne, so legt der Roman dar, bietet keinen Ausweg, aber sie ist nicht die Wurzel des Übels.140 Weder Bruder noch Schwester erreichen durch den Ortswechsel nach Berlin die »seelische Gesundung«, die sie suchen. Denn nicht nur Camilla ist unfähig, den Weg in die Befreiung zu gehen: Rudolf hat die Bedrückung der Prager Situation gegen diejenige einer kapitalistisch orientierten Moderne und eines oppressiven Staats in Berlin eingetauscht (seine Wohnung wird wegen seiner Verbindung zu antizaristischen Revolutionären polizeilich durchsucht). Für beide entpuppt die Reise nach Berlin sich als Befreiungsversuch in die falsche Richtung, nämlich in einen Raum, der nicht durch ein lebbares Zukunftsangebot, sondern durch negative Auswirkungen der Moderne charakterisiert ist.

|| 138 Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der »Allgemeinen Zeitung des Judentums« (1837–1922). Frankfurt a. M.: Peter Lang 1985 (Literarhistorische Untersuchungen; 1), S. 212. 139 Herzog, Auguste Hauschners »Die Familie Lowositz« (wie Anm. 7), S. 74. 140 Auch ohne Camillas Geschichte in seine Interpretation miteinzubeziehen, kommt Florian Krobb zu einem ähnlichen Schluss. Vgl. Florian Krobb: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 135.

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In dieser kulturkritischen Perspektive ist angelegt, dass der entgegengesetzte Weg – derjenige nämlich der Abwendung von Großstadt, Moderne und jeglichen gesellschaftlichen Fesseln und der Hinwendung zum ›natürlichen‹ Leben – der einzige Weg ist, der den Geschwistern am Romanende offensteht. Beim Wandern in der Natur, zum ersten Mal voll Lebenslust, »berauscht von Licht und Luft und gestärkt durch die Bewegung« (RuC, 323), fasst Rudolf den Entschluss, Berlin zu verlassen und sich »in Einsamkeit, durch körperliche Arbeit von der Krankheit der Vergangenheit zu heilen« (RuC, 328). Zum einen bietet dieser Entschluss den Ausbruch aus der »Gebrochenheit und Unentschiedenheit der Gefühle« in die wohltuende Eindeutigkeit »einer starken Leidenschaft, die alle Energien in eine Richtung bündelt«, eine Sehnsucht, die Joachim Radkau als Grunderfahrung im »nervösen Zeitalter« beschreibt.141 Die Entscheidung für das ›natürliche‹ Leben bedeutet auch eine Überwindung der quälenden Selbstbezogenheit, die Rudolf charakterisiert; sie verspricht instinktive Verhaltenssicherheit, die dem »orientierungslosen Nachdenken« ein Ende macht.142 Hauschner stellt Rudolfs Entschluss, auf den Instinkt zu vertrauen, als »Eingebung«, ja als Offenbarung dar – »Blitzschnell kam ihm diese Eingebung, und mit der Gewalt eines aufgerüttelten Instinkts trieb es ihn, dem Beispiel der Natur zu folgen […] ohne ein anderes Ziel, als den Geboten seines Daseins nachzufolgen« (RuC, 323–324) – und gibt ihm die Bedeutung der Wendung gegen das Judentum bei. Instinktiv-natürliches Leben verspricht »Unabhängigkeit« und Lösung von allen Fesseln außer der »innere[n] Notwendigkeit« (RuC, 324) und damit vor allem die Lösung vom jüdischen Erbe, das als Wurzel für Rudolfs seelische »Krankheit« verantwortlich gemacht wird. Camillas Entscheidung, die Gebundenheit der kleinbürgerlich-jüdischen Familie ihres Mannes hinter sich zu lassen, um in der naturgegebenen Aufgabe der Mutterschaft ihre Befreiung zu suchen, ist als weibliche Parallele zu diesem Aufbruch in die persönliche Freiheit und in ein gesundes, instinktgeleitetes Leben zu lesen. Die Rückkehr in das bedrückende, als widernatürlich abgestempelte und geradezu pathologisierte deutsch-jüdische Milieu, dem sie entflohen sind, ist weder für Rudolf noch für Camilla eine Option. Die Frage jedoch, wieviel Hoffnung dieser Ausbruch am Ende für den weiteren Lebensweg der Geschwister trägt, muss weiterhin unbeantwortet bleiben. Jakob Poritzky urteilt hellsichtig: »Rudolf flieht […] – gleichgültig wohin, denn er flieht nicht vor der

|| 141 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität (wie Anm. 126), S. 19. 142 Ebd., S. 23.

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Stadt, sondern vor sich selbst.«143 Wie realistisch aber dieser Versuch der Flucht vor sich selbst ist, das ist die Frage, die Hauschner mit ihrem Romanende stellt. Eine Rezension, die sie 1909 zu Schnitzlers Weg ins Freie verfasste, zu einem Zeitpunkt also, als sie am zweiten Teil ihrer Familie Lowositz arbeitete, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Auch hier treffen wir auf die Verknüpfung der weiblichen mit der jüdischen Problematik, die Hauschner in der Parallelität von Camillas Gebundenheit im privaten und Rudolfs Bedrückung im politisch-identitären Bereich verhandelt. Hauschner schreibt: Es wird Schnitzler vorgeworfen, sein Roman sei ohne Einheit, zwei Probleme liefen darin unverwandt parallel. Mir erscheinen sie miteinander eng verflochten. Die Juden und die Frauen, seit Jahrtausenden die Unterdrückten und auf Schleichwegen die Sieger, abgelehnt, betrogen, heimlich aufgesucht und mächtig, beide streben sie […] aus ihrer Enge.144

Und sie beendet ihren kritischen Text mit Verweis auf Schnitzlers Georg von Wergenthin, dessen Weg am Ende an den Rudolfs erinnert: Jeder Verantwortung und jeder Last entbürdet, steigt er […] in das Gletschereis der Vereinsamung und der Entfremdung. Oben angelangt wird er von den andern befreit sein. Auch von sich selbst? Gibt es einen Weg zur Selbstbefreiung? Und ist nicht das die Frage, die der Dichter stellen wollte?145

In ihren eigenen Schriften – und spezifisch in der Familie Lowositz – scheint die Autorin die Frage mit größter Skepsis zu betrachten, denn die einzigen wirklich freien – und deutlich in spiegelbildlicher Zuordnung der Geschlechter als Gegenbilder zu Rudolf und Camilla gezeichneten – Romanfiguren sind der Komponist Nils Johanson und seine Cousine Ebba. Diese »[l]eichtbeschwingten«, »schöne[n] Menschen« sind als Personifizierungen eines heidnischen Vitalismus gestaltet (RuC, 59 und 57), als frei von den »kranken Schmerzlichkeiten« unter denen Rudolf und Camilla leiden (RuC, 361). Die selbstbewusste Freiheit und Unbeschwertheit der beiden Schweden liegt aber in deren nicht-jüdischer, aristokratischer Herkunft begründet und bleibt so für das deutsch-jüdische Geschwisterpaar unerreichbar. Die auf rassische Unterschiede abhebende Beschreibung der »helle[n]« Wirkung Nils’ und Ebbas, neben denen Rudolf sich – seiner eigenen Wahrnehmung nach ‒ nicht nur »plump und ungeschickt«,

|| 143 Poritzky, [Rezension von] »Rudolf und Camilla« (wie Anm. 15), Sp. 1408. 144 Auguste Hauschner: [Rezension von] »Der Weg ins Freie«. In: Die Hilfe 15 (1909), S. 39– 40, hier S. 39. 145 Ebd., S. 39–40.

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sondern geradezu »wie ein schwarzer Fleck« ausnimmt (RuC, 59), macht dies nur allzu klar. In der Ablehnung des jüdischen Körpers, die sich in diesen Worten zeigt, ist eine Form des »jüdischen Selbsthasses« angelegt, wie Sander Gilman und Walter Grab ihn beschrieben haben: eine Internalisierung rassistischer Stereotypen, die zu einer Empfindung der eigenen jüdischen Herkunft als Makel führt. Dieses Leiden ihres männlichen Protagonisten an der eigenen Körperlichkeit rundet Hauschners Bild des Leidens am Judentum als beengender, stimmund heimatloser sozialer Schicht, als bedrückend patriarchalischem System und als psychischer Anlage ab.

4 Die jüdische Frau als »Wegebahnerin der Kommenden«: Grete Meisel-Hess, Die Intellektuellen (1911) Und als sie sich dann mit ihrer eigenwilligen Studie Die sexuelle Krise und dem Zeitroman Die Intellektuellen in die damalige Berliner Literatur- und Wissenschaftsszene einmischte, stand sie endgültig im Rampenlicht als Verfechterin weiblichen Aufbegehrens.1

Mit diesen Worten beschreibt Horst Groschopp in seinem Buch über Freidenker in Deutschland die Wirkung der Erstveröffentlichung von Meisel-Hess’ Roman Die Intellektuellen 1911. Der Roman mag tatsächlich dazu beigetragen haben, die Position Meisel-Hess’ in den intellektuellen Kreisen Berlins zu zementieren, doch sie hatte sich schon vorher – zuerst in Wien, dann in Berlin – einen Namen als Schriftstellerin, Journalistin und Aktivistin im Dienst der Frauenbewegung gemacht. Die Zeitschrift Wiener Bilder beschrieb schon 1901 die gerade Zweiundzwanzigjährige als eine der »trefflichsten geistigen Vorkämpferinnen der modernen Frauenbewegung«.2 In Wien trat sie auch mit Streitschriften wie dem gegen Otto Weininger gerichteten Traktat Weiberhaß und Weiberverachtung (1904) hervor, nach Agatha Schwartz der effektivsten Widerlegung von Weiningers misogynistischen Schriften,3 und löste 1902 mit ihrem Roman Fanny Roth aufgrund der offenen Darstellung weiblicher Sexualität und des Eintretens für weibliche Selbstbestimmung einen Skandal aus. Nach ihrer Übersiedlung nach Berlin 1908 schloss Meisel-Hess sich dem Bund für Mutterschutz an, der eine radikale Reform der herrschenden Sexualmoral propagierte, und wurde bald zu einer seiner profiliertesten Publizistinnen. Ihrem 1909 vorgelegten ersten Band einer dreiteiligen Studie zur Sexualmoral, Die sexuelle Krise,4 ließ sie etliche Vorträge und Zeitschriftenartikel nicht nur in den Publikationsorganen des Bundes (Mutterschutz und später Die Neue Generation), sondern auch in Blät-

|| 1 Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Berlin: Dietz 1997, S. 239. 2 Die Zeitschrift berichtet, dass die Zuhörerschaft bei Meisel-Hess’ Vortrag über »Die moderne Weltanschauung« »fast doppelt so groß war, als der Fassungsraum des Vortragssaales [des Wissenschaftlichen Clubs] zulassen sollte«. Anon.: [Rezension von Meisel-Hess’ Vortrag] »Die moderne Weltanschauung«. In: Wiener Bilder, 22. Mai 1901. 3 Vgl. Agatha Schwartz: Austrian Fin-de-Siècle Gender Heteroglossia: The Dialogism of Misogyny, Feminism, and Viriphobia. In: German Studies Review 28 (2005), S. 347–366. 4 Der zweite Band, Das Wesen der Geschlechtlichkeit, erschien 1916; der dritte Band, Die Bedeutung der Monogamie, 1917.

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tern wie Die Frauenbewegung, Frauen-Zukunft, Der Demokrat, Der Weg und Die Aktion folgen.5 So ist es nicht überraschend, dass der 1911 im Verlag Oesterheld & Co veröffentlichte Roman Die Intellektuellen in der zeitgenössischen Literaturund Kulturkritik einige Wellen schlug. Er wurde als programmatischer »Tendenzroman« eingeordnet,6 als »etwas redselige Gegenwarts- und Zukunftsapotheose«,7 aber auch als »Kulturdokument unserer Zeit«8 mit einem »unerschöpflichen Reichtum der Themen und Variationen« und als »ein kluges Buch«,9 das »zu den tiefsten Gründen unserer Zeit« dringe.10 Meisel-Hess’ Roman konfiguriert in großem Wurf die Moderne als Übergangszeit. Die Intellektuellen sind ihre Vertreter: eine generationelle Gruppe reformorientierter Denker, die sich gesellschaftlicher Konventionen und traditioneller Denkmuster enthoben haben und daran arbeiten eine Lebensform zu gestalten, die über den Ausgleich von Geist und Körper zur Vervollkommnung führt. Der Roman präsentiert verschiedene Lebensmodelle, von George-Kreisähnlichen Zirkeln bis hin zum asketischen Neu-Buddhismus; er diskutiert die Aufgabe und Zukunft der Frau und die Stellung des Judentums. Durch dieses Panorama der Moderne führt der Lebensweg des jüdischen Geschwisterpaars Stanislaus und Olga Diamant als paradigmatischer Entwicklungsweg. Vor allem die persönliche und geistige Entwicklung der Protagonistin Olga, ein alter ego der Autorin, steht im Vordergrund: Im Eingangskapitel begegnen wir ihr im Kontext der Wiener Gesellschaft, als Gast ihres Cousins, des Medizinprofessors Gustav Diamant, der im Gespräch die gedanklichen Wegweiser für den Fortgang des Romans errichtet. Von hier an erfolgt das Narrativ immer durchgängiger aus Olgas Perspektive und schildert – nach einem kurzen Rückblick auf ihre Jugend in einer Provinzstadt an der österreichisch-schlesischen Grenze – im Hauptteil

|| 5 Für einen Überblick über Meisel-Hess’ publizistisches Werk vgl. Godela Weiss-Sussex: Radical Feminist and Belligerent Journalist: Grete Meisel-Hess. In: Christa Spreizer (Hg.): Discovering Women’s History: German-speaking Journalists 1900–1950. Oxford: Peter Lang 2014, S. 16–39. 6 Fritz With: [Rezension von] »Die Intellektuellen«. In: Der Weg 4 (1912), Sp. 138–139, hier Sp. 138. 7 Mathias Acher: Literarische Rundschau. In: Ost und West 12 (1912), Sp. 149–154, hier Sp. 152. 8 Alfred Bauer-Imhof: Grete Meisel-Hess, »Die Intellektuellen«. In: Zentralblatt für Psychoanalyse 2 (1912), S. 288. 9 Marie Holzer: [Rezension von] »Die Intellektuellen«. In: Die Aktion 3 (1912), Sp. 171–173, hier Sp. 172. 10 Friedrich Alafberg: [Rezension von] »Die Intellektuellen«. In: Das literarische Echo 14 (1911/12), Sp. 427–428, hier Sp. 427.

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des Romans ihre Reifung in der »Weltstadt« Berlin.11 Hier geht sie eine kurze und unglückliche Beziehung mit dem »zerrissenen« Intellektuellen Werner Hoffmann ein (I, 149), tut sich in avantgardistischen Zirkeln von Neuromantikern und Symbolisten um und findet Erfüllung in der Arbeit für einen »Bund«, »der auf eine Veränderung der moralischen Wertungen des Sexuallebens hinarbeitet[]« (I, 164), ‒ die Namensnennung des Bundes erübrigt sich. Aufgrund ihrer Begegnung mit dem Gründer eines Vereins zur Internationalisierung dieser reformorientierten Arbeit, dem geradezu religiös überhöhten Manfred Wallentin, stellt sie sich schließlich in den Dienst seiner Ideen und führt sein Werk auch nach seinem Tod weiter. Im Hinblick auf diesen Roman – ebenso wie auf Croners moderne Jüdin und Hauschners Familie Lowositz ‒ bedeutet die Untersuchung des Zusammenspiels der Diskurse von Weiblichkeit, Judentum und dem räumlich-geistigen Umfeld Berlins weit mehr als die Betrachtung einer beliebigen Auswahl aus der Menge anderer wichtiger Themen, denn auf dem Fundament eben dieser drei Diskursstränge errichtet Meisel-Hess ein zusammenhängendes, tragfähiges Gedankengebäude. Die Textanalyse fördert überraschende Wendungen der diskursiven Verknüpfung und der argumentativen Logik zutage, die dazu beitragen, die jüdische Frau zentral in die zeitgenössische Gesellschaft einzuschreiben. Wieder ist hier – wie bei Croner und Hauschner – der Aspekt der Mutterschaft von zentraler Bedeutung für einen positiven, zukunftsorientierten Entwurf von Weiblichkeit. Im Gegensatz zu Croners konservativem Modell der Bindung der Frau an Heim und Familie – und weit über Hauschners Schilderung der persönlichen Befreiung und Gesundung in der Liebe zum Kind hinaus – erscheint Mutterschaft hier als Möglichkeit selbstbestimmten Eingreifens in gesellschaftliche Prozesse. Die Mutterschaft der jüdischen Frau wird in diesem radikal feministischen Entwurf jedoch problematisiert, und es wird zu fragen sein, inwiefern sich hier progressives Denken mit antisemitischem Diskurs vermengt. Wie Hauschner, so stellt auch Meisel-Hess ein Geschwisterpaar in den Mittelpunkt ihre Romans; und noch eindeutiger ist hier das Interesse auf die weitgehend autobiographisch angelegte weibliche Protagonistin konzentriert. Im scharfen Kontrast zu Hauschners Camilla ist Meisel-Hess’ Olga jedoch nicht als leidende Figur, sondern als positives Modell sowohl weiblicher als auch jüdi-

|| 11 Grete Meisel-Hess: Die Intellektuellen. Berlin: Oesterheld & Co 1911, S. 241. Im Folgenden sind Verweise auf diesen Roman mit dem Kürzel I gekennzeichnet und erscheinen mit der Seitenangabe im Text.

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scher Emanzipation konfiguriert, als selbstbewusste Rednerin und politische Aktivistin, die in der geistig bewegten Großstadt Berlin ihre adäquate Umgebung gefunden hat. Jüdische Intellektualität ist hier uneingeschränkt als positiver Beitrag zur nationalen Arbeit an der Zukunft dargestellt, im Hinblick auf jüdische Körperlichkeit wirft der Text jedoch Fragen auf, die auf eine Haltung verinnerlichter antisemitischer Stereotypen hindeuten, wie sie ähnlich auch bei Croner und Hauschner anzutreffen sind. Im Folgenden sind in einem ersten Schritt die ethischen und sozialpolitischen Prinzipien darzulegen, die Meisel-Hess als Mitglied des Bundes für Mutterschutz vertrat, denn die Verknüpfung von radikal-feministischem und eugenischem Gedankengut, für die der Bund sich einsetzte, verlangt – gerade im Rückblick ‒ nach einer etwas ausführlicheren Darstellung. Darauf aufbauend soll die Anlage der Intellektuellen als Weltanschauungsroman näher betrachtet werden, der unter Rückgriff auf Wilhelm Bölsches post-darwinistisches literarisches Programm sowie auf Goethes und Hedwig Dohms Modelle des Bildungsromans eine monistische Weltsicht und ein gesellschaftliches Engagement für die Ziele des Bunds für Mutterschutz propagiert. Auch hier ist eine etwas eingehendere Darstellung nötig, um Meisel-Hess’ Einbettung ihres Porträts der jüdischen Intellektuellen in ein komplexes ideologisches Programm verständlich zu machen. Im Hinblick auf die poetologische Anlage des Romans wird zum einen die didaktische Tendenz zu modellhafter Typisierung hervorzuheben sein sowie Meisel-Hess’ Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, zum anderen werden die unterschiedlichen inhaltlichen Komponenten des Entwicklungs- und Selbstwerdungsprozesses der Protagonistin Olga untersucht. Es wird zu zeigen sein, dass Meisel-Hess sich in enger Anlehnung an Dohms Roman Christa Ruland (1902) einer Form des strukturellen Plagiats bedient, die es ihr erlaubt, an Dohm anzuschließen und gleichzeitig eigene, andere Inhalte zu transportieren. Im Vordergrund stehen dabei erstens Olgas Persönlichkeitsentwicklung auf der Grundlage der Triebüberwindung und der Ausrichtung am Prinzip des Instinkts und zweitens die an den verschiedenen örtlichen Stationen ihres Lebenswegs festgemachte Assimilations- und Emanzipationsbewegung der jüdischen Frau als Intellektuelle und Sozialreformerin. Abschließend muss die Frage erhoben werden, warum in diesem Roman, der eine Ideologie transportiert, in dem die Mutterschaft eine zentrale Stellung einnimmt, ausgerechnet die Hauptprotagonistin kinderlos bleibt. Es gilt, die ambivalente Haltung der Autorin zum Judentum herauszuarbeiten, um damit die Frage nach der Darstellung jüdischer Weiblichkeit in den Intellektuellen abzurunden.

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 133

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz: Feminismus, Eugenik und monistisches Weltbild Der 1905 gegründete Bund für Mutterschutz galt in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als »radikalste[r] Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung«12 und größte und aktivste Organisation für Sexualreform.13 Unter der Leitung Helene Stöckers brachte er Sexualwissenschaftler, Sozialisten und radikale Feministinnen unter einen Hut und setzte sich nicht nur für die Fürsorge unehelicher Kinder und ihrer Mütter ein, sondern verstand sich weitergreifend als gesellschaftliche Reformbewegung.14 Er verband soziale und politische Arbeit mit der Forderung nach einer ›neuen Ethik‹, deren wesentlicher Inhalt darauf abzielte, die Sexualmoral aus christlichen Anschauungen zu befreien und sittliche Fragen stattdessen im Kontext der Darwinschen Entwicklungslehre zu betrachten. Aufbauend auf naturrechtlichem und monistischem Denken erklärten seine Mitglieder Mutterschaft und geistige, sexuelle und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau zu untrennbar verknüpften Anliegen und banden diese in die zeitgenössische Diskussion um die Gesundheit der Nation ein. Meisel-Hess führt diese Gedanken in zahlreichen ihrer Publikationen aus. In ihrer sozialpsychologischen Studie Die sexuelle Krise zum Beispiel, die 1909 im namhaften Eugen Diederichs Verlag in Jena erschien, greift sie die rückständige zeitgenössische Sexualmoral auf psychologischer und biologischer Grundlage an und erklärt, »warum all jene Vorgänge, die ihrer Natur nach lebenserhaltend, lebenfördernd und hinaufzüchtend sind, heute nicht selten zu Mächten der Vernichtung, der Hemmung und der Rückbildung werden«.15 Um diesen Missstand zu beseitigen, fordert sie, die Fortpflanzung im Rahmen biologischer Erkenntnisse statt restriktiver moralischer Überlegungen zu betrachten. In einem 1911 in der reformorientierten Zeitschrift Der Weg veröffentlichten

|| 12 Groschopp, Dissidenten (wie Anm. 1), S. 229. Zur »weltanschaulichen Varianz« der Mitglieder des Bunds für Mutterschutz vgl. Nicol Matzner-Vogel: Zwischen Produktion und Reproduktion: Die Diskussion über Mutterschaft und Mutterschutz im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik (1905–1929). Frankfurt a. M.: Peter Lang 2006, S. 251–252. 13 Vgl. Edward Ross Dickinson: Reflections on Feminism and Monism in the Kaiserreich, 1900–1913. In: Central European History 34.2 (2001), S. 191–230, hier S. 191. 14 Zur Mitgliederstruktur des Bunds vgl. Richard Evans: The Feminist Movement in Germany 1894–1933. London: Sage 1976, S. 121–122. Evans hebt hervor, dass etwa ein Drittel der Mitglieder Männer waren ‒ ein Indikator für den Charakter des Bunds als gesamtgesellschaftlich orientierte Reformbewegung. 15 Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Jena: Eugen Diederichs 1909, S. viii.

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Aufsatz formuliert sie klar und knapp: »Die Fortpflanzung muss frei werden von der Ummauerung durch die Ehe.«16 Sie führt aus: […] zur Mutterschaft könnte in einem gesunden Sexualsystem jede gesunde, begehrte Frau Gelegenheit haben. […] Daß diese Möglichkeit frei werde, frei vor allem durch ökonomische Sicherung der durch die Mutterschaft am Erwerb verhinderten oder darin unterbrochenen Frau, frei durch die gesellschaftliche Rehabilitierung auch der unehelichen Mutterschaft […], ist notwendig.17

Allen gesunden Frauen die Möglichkeit der Mutterschaft zu bieten ist »notwendig«, und zwar – wie Meisel-Hess sowie auch die anderen maßgebenden Vertreter des Bundes immer wieder betonen – nicht nur, um die persönliche Erfüllung und Selbstwerdung der Frau zu gewährleisten, sondern auch im Hinblick auf die Verbesserung der genetischen Anlagen der kommenden Generation. Im Kontext ihrer Arbeit für den Bund verbindet Meisel-Hess, die sich schon in ihrer Wiener Zeit intensiv mit der Lektüre Nietzsches und Freuds befasst hatte, nun deren Ideen mit post-darwinistischen eugenischen Zielvorstellungen. So verweist sie darauf, dass die »Rehabilitierung des außerehelichen erotischen Verkehrs« die »Lebensfreude« steigern und die »Umgangsformen« verbessern würde – schwärmerisch gibt sie zu denken: »[…] wie würde man da auch für sein soziales Schaffen elastisch und beflügelt«18 – doch sie bettet diese Idee sexueller Freiheit in ein Thema ein, das in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in weiten Teilen der Öffentlichkeit – nicht nur in Deutschland19 ‒ ernsthaft debattiert wurde: das Streben nach der biologischen Verbesserung der Menschheit.

|| 16 Grete Meisel-Hess: Das sexuelle Elend. In: Der Weg 3 (1911), Sp. 740–743, hier Sp. 741. Die Zeitschrift war im selben Jahr von Georg Zepler gegründet worden und schloss an das zuvor unter Zeplers und Franz Pfemferts Leitung herausgegebene links-liberale Blatt Der Demokrat an. Es schrieb sich auf die Fahnen, das »große Bürgertum […] aus dieser seiner Indifferenz und Lethargie auf[zu]rüttel[n]«. Fr. Krumbholz: Ein Erziehungsbund zur Freiheit. In: Der Weg 1 (1911), Sp. 537–540. 17 Meisel-Hess, Das sexuelle Elend (wie Anm. 16), Sp. 743. 18 Ebd. Vgl. hierzu die »Richtlinien« des Bundes für Mutterschutz von 1922, in denen es heißt: »Die Geschlechtlichkeit des Menschen zum machtvollen Instrument nicht nur der Fortpflanzung, sondern der Aufwärtsentwicklung, zugleich aber der erhöhten und kultivierten Daseinsfreude zu machen: Sexualreform – dies ist Inhalt und letztes Ziel unserer Bestrebungen.« ›Richtlinien‹ des Deutschen Bundes für Mutterschutz. In: Die Neue Generation 18 (1922), S. 383–388; hier zitiert nach Wiederabdruck in Gudrun Hamelmann: Helene Stöcker, der »Bund für Mutterschutz« und »Die Neue Generation«. Frankfurt a. M.: Haag 1998, S. 217–222, hier S. 217. 19 Für den britischen Kontext vgl. Dan Stone: Breeding Superman: Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain. Liverpool: Liverpool University Press 2002; Ange-

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 135

Aus heutiger Sicht, vor dem Hintergrund unfassbarer inhumaner Instrumentalisierungen eugenischen Denkens, betrachten wir derartige Bestrebungen mit äußerster Zurückhaltung und Ablehnung. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die Eugenik um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert nicht nur das zweifelhafte Bestreben einer Gruppierung der radikalen Rechten war, sondern vielmehr das Anliegen breiter geistiger und politischer Bewegungen. Aufgrund eines Rückgangs der Geburtenzahlen um 1900 und der Sorge um die Verbreitung vermeintlicher Erbkrankheiten wie Syphilis, Tuberkulose und Alkoholismus war das Interesse an der Verbesserung der genetischen Anlagen der Gesamtbevölkerung ein Anliegen von Sozialisten wie Konservativen, von völkisch-nationalen Gruppierungen wie fest im Judentum verwurzelten Bewegungen.20 (Unter den jüdischen Verfechtern der Idee war Felix Theilhaber richtungsweisend, der dem Bund für Mutterschutz nahestand und ähnlich wie dessen Vertreter 1911 – im Erscheinungsjahr der Intellektuellen – in seinem Buch Der Untergang der deutschen Juden für die soziale Unterstützung und ökonomische Vergütung der Mutterschaft plädierte.21) Ein Anstoß für diese Bestrebungen liegt in der Philosophie Nietzsches, der die Möglichkeit des »bewusste[n] Eingriff[s] in die Natur, über die von selbst wirkende Naturgesetzlichkeit hinaus« vorgedacht hatte und für eine Auswahl derjenigen Individuen, die zur Fortpflanzung zugelassen werden sollten, einge-

|| lique Richardson: Love and Eugenics in the Late Nineteenth Century: Rational Reproduction and the New Woman. Oxford: Oxford University Press 2003. 20 Vgl. Stefan Kühl: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Campus 1997, S. 28. Kühl weist auf die Behandlung des Themas in der Literatur des Naturalismus (Hauptmann, Ibsen, Zola) hin. Ähnlich auch Malcolm Humble: Monism and Literature in the Later Years of the ›Kaiserreich‹. In: Christian Emden und David Midgley (Hg.): Science, Technology and the German Cultural Imagination. Oxford: Peter Lang 2005, besonders S. 57–79. Vgl. auch Groschopp, der mit Verweis unter anderem auf die Fabian Society und die britische Labour Party erklärt, dass eugenische Denkmuster im späten neunzehnten [und frühen zwanzigsten] Jahrhundert – auch im internationalen Rahmen – zu den »kulturellen Grundannahmen« gehörten (Groschopp, Dissidenten [wie Anm. 1], S. 232). Wenn im Folgenden eugenische Ideen meist kommentarlos wiedergegeben werden, um das zeitgenössische Denken zu illustrieren, so schließt dies eine im Rückblick aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert notwendig kritische Haltung keineswegs aus. 21 John M. Efron weist in seiner Darstellung der Ideen Theilhabers nach, dass dieser zwar das Vokabular der Rassentheoretiker benutzte, aber – wie die Mehrzahl der Befürworter der Eugenik um diese Zeit – Rasse nicht als biologisches Konstrukt verstand, sondern vielmehr als »religious-national community«. Vgl. John M. Efron: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siecle Europe. New Haven/CT: Yale University Press 1994, S. 153.

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treten war.22 Für die Entwicklung der eugenischen Bewegung ist allerdings der Bezug auf die Evolutionstheorie Darwins, die dem Anspruch an Wissenschaftlichkeit Genüge tat, noch weit bedeutender. Dabei wurde die menschliche Entwicklung weniger unter dem Gesichtspunkt eines Prozesses der besten Anpassung an die Umwelt als vielmehr als »Vervollkommnungsprozess« und damit als »gleichbedeutend mit Fortschritt« begriffen.23 Die Eugenik ist jedoch nie eine einheitliche Bewegung gewesen. Ein Hauptdifferenzierungsgrund bestand von Anfang an in den verschiedenen Auslegungen von Darwins Theorien und in den gesellschaftspolitischen Schlüssen, die daraus gezogen wurden.24 Etwas vereinfachend unterscheiden Daniel Kevles und, auf ihn aufbauend, Ann Taylor Allen zwei Flügel der Eugenikbewegung:25 Die durch den Begründer der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, Alfred Ploetz, und den radikalen Sozialdarwinisten Alexander Tille vertretene Richtung befürwortete eine strikte Politik der Auslese auf der Grundlage des best-

|| 22 Gunter Mann: Biologie und der ›Neue Mensch‹. Denkstufen und Pläne zur Menschenzucht im Zweiten Kaiserreich. In: Gunter Mann und Rolf Winau (Hg.): Medizin, Naturwissenschaften, Technik und das zweite Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 172–188, hier S. 174. In Nietzsches nachgelassenen Fragmenten findet sich die Notiz: »[…] nur heirathen 1) zum Zwecke höherer Entwicklung 2) um Früchte eines solchen Menschenthums zu hinterlassen. – Für alle Übrigen genügt Concubinat, mit Verhinderung der Empfängniß.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Sommer 1882. In: Nietzsche, KSA 5.1, S. 520. 23 In der Forschung ist allerdings (zu Recht) wiederholt darauf hingewiesen worden, dass das Prinzip eugenischer Auswahl wegen des dabei implizierten Eingriffs eigentlich anti-darwinistisch ist. Vgl. u. a. Anette Herlitzius: Frauenbefreiung und Rassenideologie. Rassenhygiene und Eugenik im politischen Programm der ›Radikalen Frauenbewegung‹ (1900–1933). Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1995, S. 47. 24 Die pauschalisierende Verwendung des Begriffes ›Sozialdarwinismus‹ hat in der Forschung zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen der vom Bund für Mutterschutz vertretenen Ideen geführt. Wo Dickinson z. B. auf die Bedeutung des Sozialdarwinismus für die Bewegung hinweist (vgl. Dickinson, Reflections on Feminism and Monism [wie Anm. 13], S. 200), betont Heide Schlüpmann, die sozialdarwinistische Auslegung Nietzsche’scher Ideen sei derjenigen Stöckers »diametral entgegengesetzt« (Heide Schlüpmann: Nietzsche-Rezeption in der alten Frauenbewegung: Die sexualpolitische Konzeption Helene Stöckers. In: Walter Gebhard (Hg.): Friedrich Nietzsche. Strukturen der Negativität. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1982, S. 129–156, hier S. 136). Diese und ähnliche Unvereinbarkeiten verweisen auf die Wichtigkeit der Differenzierung des Begriffes ›Sozialdarwinismus‹ und der unterschiedlichen Interpretationen und Bezugnahmen auf Darwins Lehre. 25 Vgl. Ann Taylor Allen: German Radical Feminism and Eugenics, 1900–1908. In: German Studies Review 11.1 (1988), S. 31–56, hier S. 33. Vgl. auch Daniel Kevles: In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human Heredity. Cambridge/MA: Harvard University Press 1989.

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 137

möglichen »genetischen Materials« und lehnte den »Schutz der Schwachen« als Hemmschuh der Weiterentwicklung explizit ab.26 Anhänger dieser Richtung vertraten die Ansicht, Fortschritt resultiere aus dem ungehemmten Konkurrenzkampf (›Kampf ums Dasein‹), der eine naturgesetzliche soziale Ordnung herstelle und die Weiterentwicklung auf höhere Kulturniveaus garantiere. Nach ihrem Verständnis bedeutete eugenisches Handeln die interventive Unterstützung dieses natürlichen Prozesses und das Eingreifen mit dem Ziel der Förderung bester genetischer Anlagen. Da es ihnen auch darum ging, den sinkenden Geburtenzahlen entgegenzuwirken, stellten sie sich den Bestrebungen der Frauenbewegung nach Individuierung und Selbstbestimmung entgegen. Der Frau wurde vielmehr lediglich die Funktion eines »Instruments« ihrer Bestrebungen zuerkannt.27 Dem gegenüber stand ein aufklärerisch-reformistischer Flügel der eugenischen Bewegung, der nicht nur mit sozialistischen Bestrebungen, sondern auch mit radikal feministischen Forderungen kompatibel war. Die Vertreter dieses Flügels, die sich unter anderem auf die Schriften des englischen Sexualforschers Havelock Ellis beriefen, interpretierten Darwins Evolutionstheorie nicht in exklusiver Berufung auf die Veredelung genetischen Materials und als humanistischen Prinzipien zuwiderlaufendes Programm des »survival of the fittest«, sondern ergänzten biologische, selektionstheoretische Argumentationen durch sozial- und individualpolitische Forderungen. Sie stellten neben einer durch Rationalität gekennzeichneten Sexualpolitik die Kooperation und »Gleichstellung beider Geschlechter«28 und der sozialen Klassen sowie die wirtschaftliche und erotische Freiheit von Mann und Frau ins Zentrum ihrer Bemühungen.29 Dies ist die Richtung, die der Bund für Mutterschutz vertrat.

|| 26 Vgl. Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Berlin: S. Fischer 1895. 27 So Alexander Tille: Von Darwin bis Nietzsche. Leipzig: C. H. Naumann 1895, S. 231. Zur Kontroverse zwischen Stöcker und Tille zu diesem Thema vgl. Schlüpmann, NietzscheRezeption in der alten Frauenbewegung (wie Anm. 24), S. 136. 28 Meisel-Hess, Die sexuelle Krise (wie Anm. 15), S. 14. Meisel-Hess betonte u. a. auch die »unersetzliche unentbehrliche Funktion der gegenseitigen Ergänzung« der Geschlechter auf dem gemeinsamen Weg, »durch natürliche Züchtung eines immer vollendeteren Typus die Gesamtheit [zu] heben und der Vervollkommnung näher [zu] bringen«. Grete Meisel-Hess: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien: Die Wage 1904, http://www.literature.at/viewer.alo?objid=1044&page=1&viewmode=fullscreen (04.01.2016), S. 69–70. 29 Vgl. Meisel-Hess, Die sexuelle Krise (wie Anm. 15), S. 15–17.

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Zwar bewegte auch dieser reformdarwinistische Flügel sich noch in sozialaristokratischen Denkmustern: Auch sie verfolgten die sogenannte ›Degenerationsthese‹, die die Folgen sozialer Probleme als Krankheitsbilder beschrieb, die als vererbbar angesehen wurden.30 Die Folgerung, die aus derartigen Befürchtungen gezogen wurde, war aber nicht ein Ruf nach direkter staatlicher Intervention, sondern das Agitieren für sozialpolitische Präventivmaßnahmen, die vor allem dem Proletariat (und speziell den Müttern) bessere Lebensverhältnisse schaffen sollten, sowie für reproduktive Selbstverantwortung. Explizit erklärt Meisel-Hess in einem Aufsatz in der Zeitschrift Die Aktion, sie unterstütze weder die Idee des »Kampf[s] ums Dasein«, noch diejenige der »Auslese«, die sich »meist aus den Ellbogen-›Tüchtigsten‹« rekrutiere. Stattdessen fordert sie die planmäßige Unterstützung der »Kultur der Natur […] und die bewusste Pflege der Persönlichkeit«.31 Es ist wichtig hervorzuheben, dass die eugenischen Bestrebungen des Bundes für Mutterschutz prinzipiell nicht mit antisemitischem Gedankengut verbunden waren.32 Der Begriff der ›Rasse‹, so wie er bei den Vertretern des Bundes erscheint und allgemein in sozialistischen Kreisen gängig war, deckt sich im Großen und Ganzen nicht mit dem heutigen Rassenbegriff. Anstatt eine biologisch oder anthropologisch definierte Menschengruppe zu bezeichnen, wurde er weitgehend synonym mit dem Begriff der ›Vitalrasse‹, also der menschlichen Rasse schlechthin, gebraucht und bezog sich auf die Ganzheit der Erbeigenschaften einer gegebenen Gesellschaft oder auf die Kulturmenschheit schlechthin; Rasse wurde in diesem Sinne explizit als hybride Gemeinschaft verstanden.33 Magnus Hirschfeld, Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin und Mitglied des Bunds für Mutterschutz, erklärte noch in den frühen 1930er Jahren die Eugenik zum »Kernstück der ganzen Sexualwissenschaft«34

|| 30 Vgl. hierzu Herlitzius, Frauenbefreiung und Rassenideologie (wie Anm. 23), S. 53. 31 Grete Meisel-Hess: Die Persönlichkeit. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 295–298, hier Sp. 296. 32 Die Notwendigkeit der gedanklichen Trennung von rassistischer Ideologie und Eugenik ist in der jüngeren Forschung stark betont worden, um dem Kurzschluss eines Lesens der Geschichte aus dem Rückblick, die die eugenische Bewegung von vornherein mit der Vorbereitung totalitären nationalistischen Denkens in Verbindung setzt, entgegenzuwirken. Vgl. u. a. Dickinson, Reflections on Feminism and Monism (wie Anm. 13), S. 200. 33 Vgl. Reinhard Mocek: Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der ›Rassenhygiene‹ in der Arbeiterbewegung. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2002, S. 15 und 71. 34 Magnus Hirschfeld: Einführung in die Sexualwissenschaft. In: Medizinische Monatsschrift (Tung-Chi Universität, Shanghai) 7 (1931/32), S. 171; hier zitiert nach Christina von Braun: Ist die Sexualwissenschaft eine ›jüdische‹ Wissenschaft? In: Elke-Vera Korowski und Julius H.

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 139

und denunzierte – mit Benno Laquer – die völkisch-nationale Anwendung dieser Wissenschaft als »Degenerierung«.35 Und doch lässt sich ein rassistischer Unterton in dem häufig gebrauchten Begriff der »weißen Rasse« hören, der allgemein in Abgrenzung zu »den Wilden«, »Barbaren« oder den »farbigen Völkern« benutzt wurde. Reinhard Mocek verweist zwar darauf, wie »selbstverständlich diese Zweiteilung in der damaligen ethnischen und sozialtheoretischen Literatur verankert war« und betont, der Begriff der »weißen Rasse« sei weniger nach ethnischen Maßstäben als nach kulturellem Entwicklungsstand definiert und gleichbedeutend mit dem Begriff der »Kulturmenschheit« gebraucht worden.36 In eben diesem Sinn verwendet Meisel-Hess den Begriff in ihrem programmatischen Aufsatz »Mutterschutz als soziale Weltanschauung« (1911), in dem sie mit größter Selbstverständlichkeit die »weiße Rasse« von den »farbigen Völker[n]« unterscheidet und die Verbreitung der »weißen Rasse« als Träger der höchsten Kultur propagiert.37 Trotz aller Versicherungen der »Normalität« dieses Diskurses im zeitgenössischen Kontext ist hier kritisch auf die ethnische Hierarchisierung zu verweisen, die ihm innewohnt.38 Bei der Analyse des Rassendiskurses in Meisel-Hess’ Intellektuellen wird hierauf zurückzukommen sein. Über die Beziehung von Eugenik und Feminismus hat Ann Taylor Allen richtungsweisend gearbeitet; und sie hat gezeigt, wie sich beide Bestrebungen im Denken der Mitglieder des Bunds für Mutterschutz verbanden. Der Bund verfocht ein Programm, in dem eugenische Zielsetzungen die Individuierung der Frau nicht einschränkten, sondern im Gegenteil dazu benutzt wurden zu argumentieren, dass die Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung der Frau und die »Aufartung« der Bevölkerung eng zusammengehören. So wird die berufliche Tätigkeit der Frau unterstützt, weil sie zur individuellen geistigen

|| Schoeps (Hg.): Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld. Berlin: be.bra wissenschaft 2004, S. 255–269, hier S. 258. 35 Vgl. Magnus Hirschfeld: Racism. Übers. und posthum hg. von Eden und Cedar Paul. London: Victor Gollancz 1938, S. 71. Hier zitiert Hirschfeld Laquer, den Verfasser von Eugenik und Dysgenik: Ein Versuch (Wiesbaden: J. F. Bergmann 1914), wie folgt: »When eugenics becomes ›national‹ […] a science has degenerated into a passion.« 36 Mocek, Biologie und soziale Befreiung (wie Anm. 33), S. 72. 37 Grete Meisel-Hess: Mutterschutz als soziale Weltanschauung. In: Die Neue Generation 7 (1911), S. 150–159, hier S. 157. 38 Vor allem vor dem Hintergrund der brutalen Niederschlagung der Herero in Namibia (dem damaligen Deutsch-Südwestafrika), die nur wenige Jahre zuvor (1904–1905) Zehntausende von Menschenleben gekostet hatte, schockieren uns derartige Formulierungen heute.

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Bereicherung der Frau beiträgt, aber auch, weil sie ihre ökonomische Unabhängigkeit ermöglicht: Diese gewährt ihr die freie Partnerwahl und schafft damit die besten Voraussetzungen für genetisch ›hochwertigen‹ Nachwuchs. Hier wird also der Frau – nicht entgegen, sondern aufgrund eugenischer Denkmodelle – eine Schlüsselposition im gesellschaftlichen Ganzen zuerkannt: »Die selbsttätige Frau, die frei im Leben, auch im Berufsleben steht«, so formuliert MeiselHess 1911, »die hat auch wieder die sexuelle Auslese in der Hand«.39 Die Verbindung zwischen der sozialpolitischen, feministischen Forderung und dem eugenischen Ziel ist deutlich an einer Kontroverse abzulesen, die Meisel-Hess 1911 mit Hedwig Dohm in der Zeitschrift Der Demokrat austrug. Dohm hatte in einem Artikel in den Sozialistischen Monatsheften zu Meisel-Hess’ Studie Die sexuelle Krise Stellung genommen. Dort schreibt sie, Meisel-Hess erwarte, so wie auch andere »Liebesgläubige«, »von der unverfälschten Wahlfreiheit der Geschlechter die große Weltveredlung« – und kritisiert diesen Standpunkt mit den Worten »Eine Liebeszuchtwahl gibt es nicht.«40 Meisel-Hess stellt klar, dass auch sie nicht davon ausgehe, »daß sich die Menschen jemals zu aktiven Zweckmaschinen der Gattung machen werden«.41 Die freie Partnerwahl und die Befreiung der Reproduktion von moralischen und ökonomischen Zwängen werde jedoch eine »heilsame Influenz auf die Qualität des Nachwuchses«42 ausüben. Eine solche Befreiung würde, so argumentiert sie, gewährleisten, daß die Menschen, insbesondere die Männer, überhaupt zur Zeugung gelangen, bevor sie verbraucht sind, bevor sie ihre besten Kräfte in der Debauche verausgabt haben, bevor sie am Seuchenherd der Prostitution die köstlichsten Fortsetzungsstoffe des Lebens vergiftet, dezimiert, für immer verdorben haben, bevor sie in übermäßig gespanntem Kampf um ei-

|| 39 Meisel-Hess, Mutterschutz als soziale Weltanschauung (wie Anm. 37), S. 154. Zur Attraktivität eugenischen Denkens für Feministinnen vgl. auch Kevin Repp: »Sexualkrise und Rasse«. Feminist Eugenics at the Fin de Siècle. In: Suzanne Marchand und David Lindenfeld (Hg.): Germany at the Fin de Siècle: Culture, Politics and Ideas. Baton Rouge: Louisiana State University Press 2004, S. 102–126. 40 Hedwig Dohm: Von der biologischen Liebe, zitiert in Grete Meisel-Hess: Die Liebe ist blind. In: Der Demokrat 3 (1911), Sp. 43–46, hier Sp. 43. Im Hinblick auf die Eugenik ist hier festzuhalten, dass Dohm diese nicht ablehnt, weil sie das Prinzip der Zuchtwahl zweifelhaft oder anstößig findet, sondern weil sie es – als rein biologistisch-rationales Prinzip der Fortpflanzung missverstanden – für unrealistisch hält und es ihrer individualistischen Auffassung der Liebe widerspricht. 41 Ebd., Sp. 44. 42 Ebd., Sp. 43.

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 141

ne ökonomische Position, auf der man den komplizierten Erhaltungsapparat einer Familie aufbauen kann, alt und grau und matt geworden sind.43

Meisel-Hess wendet sich von der romantischen Konzeption der Liebe ab, »jene[r] psychisch-organische[n] Emotion, die zum Geschlechtsakt drängt [und] die Vermischung in rauschartigen Genuß auflöst«,44 und betont stattdessen die ökonomischen und moralischen Grundlagen der Reproduktion. Damit stellt sie sich weniger als »Liebesgläubige« als vielmehr als staats-, sozial- und moralkritische Analytikerin dar.45 Anderenorts stellt sie glasklar fest: »Ohne wirtschaftliche Befreiung gibt es eben auch keine Befreiung anderer Art«46 – eine Feststellung, die in den Manifesten der Frauenbewegung der 1970er Jahre an zentraler Stelle immer wieder betont werden sollte.47 Es versteht sich von selbst, dass Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz außerhalb der gemäßigten, »organisierten« Frauenbewegung zu verorten waren; sie blieben aus deren Dachverband, dem Bund deutscher Frauenvereine (BdF), ausgeschlossen. Nicht, so soll hier noch einmal betont werden, wegen der eugenischen Interessen des Bundes für Mutterschutz, sondern aufgrund von dessen Forderungen, die Sittlichkeit einer Beziehung nicht an ihren »äußeren Merkmalen«, dem institutionalisierten Status der Ehe, festzumachen sondern am »seelischen Gehalt« der Beziehung und der dauerhaften Zuneigung der Partner,48 und »die Geburt [auch unehelicher!] gesunder Kinder zu begüns-

|| 43 Ebd., Sp. 44. 44 Ebd., Sp. 43. 45 Ähnlich auch Anita Augspurg: Reformgedanken zur sexuellen Moral. In: Anita Augspurg, Hedwig Dohm und Helene Stöcker: Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral. Berlin: Internationale Verlagsgesellschaft 1911, S. 19–35. 46 Grete Meisel-Hess: Der Aesthet und die Frauenfrage. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 779–781, hier Sp. 780. 47 Ute Gerhard zum Beispiel hebt die Bedeutung der Gedanken und Forderungen des Bunds für Mutterschutz für die weitere Entwicklung der Frauenbewegung hervor: »Aus heutiger Sicht verblüfft die Erkenntnis, dass im Grunde in den von den Radikalen thematisierten Streitfragen bereits alle gegenwärtigen, noch immer nicht gelösten Probleme der Frauenbefreiung angesprochen und öffentlich diskutiert wurden.« Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung. Unter Mitarbeit von Ulla Wischermann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 276. Vgl. auch Matzner-Vogel, Zwischen Produktion und Reproduktion (wie Anm. 12), S. 267. 48 Helene Stöcker: Zehn Jahre Mutterschutz. Berlin: Oesterheld & Co 1915 (Kriegshefte des Bundes für Mutterschutz; 4), S. 2. Vgl. hierzu auch Heinrich Meyer-Benfey: Die sittlichen Grundlagen der Ehe. Ein Beitrag zur Begründung einer Sexualethik. Jena: Eugen Diederichs 1909.

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tigen«.49 Helene Lange, Vorstandsmitglied des Bunds deutscher Frauenvereine, bezeichnete die Ideen des Bunds für Mutterschutz als »feministische Gedankenanarchie«50 und schloss Meisel-Hess’ Werke von der Ausstellung »Die Frau in Haus und Beruf« aus, die im Februar/März 1912 im Anschluss an den ersten Deutschen Frauenkongress im Reichstag stattfand. Meisel-Hess legte empört – aber letztlich erfolglos – Beschwerde dagegen ein. In einem offenen Brief in der Zeitschrift Die Aktion wandte sie sich gegen den Ausschluss ihres Buches Die sexuelle Krise im Besonderen und »einer bestimmten ›Richtung‹ der Frauenliteratur« im Allgemeinen: eine Tatsache, die sie als Akt der »Willkür« beschreibt, der ihrer Ansicht nach die Frauenbewegung als ganze in Diskredit brachte.51 Tatsächlich offenbart der Vorfall den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der gemäßigten und der radikalen Frauenbewegung, deren Ansichten im Bund für Mutterschutz vertreten wurden. In einem Privatbrief an Lulu von Strauss und Torney, in dem Meisel-Hess ihrem Ärger über den Vorfall freien Lauf lässt, formuliert sie diesen Gegensatz in typisch kraftvoller Rhetorik als Kontrast zwischen dem »offizielle[n] und verschrumpfte[n] Gehaben der ›Organisierten‹ (die Engländer nennen es zutreffend Spinstertum)« und »der wahren, von weiblichsten Motiven durchdrungenen Bewegung der Frauen«.52 Die Ideen des Bunds für Mutterschutz hatten ihren Ursprung, so viel ist deutlich, eben nicht in »Gedankenanarchie« oder moralischer Zügellosigkeit. Vielmehr vertraten sie einen neuen, auf Eigenverantwortlichkeit aufbauenden Sittlichkeitsbegriff. Adele Schreiber definierte in einem Essay von 1904: »In der Übernahme der Verantwortung für das Eingehen von Beziehungen und darin allein liegt die Grundlage wahrer Sittlichkeit.«53 Und in einem von ihr herausgegebenen Sammelband zum Thema Mutterschaft formuliert sie eine funktionale || 49 Meisel-Hess, Mutterschutz als soziale Weltanschauung (wie Anm. 37), S. 158. 50 Helene Lange: Feministische Gedankenanarchie. In: Gertrud Bäumer u. a.: Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik. Heilbronn: Eugen Salzer 1909, S. 45–53. 51 Grete Meisel-Hess: Offener Brief an Helene Lange. In: Die Aktion 2 (1912), Sp. 232–233, hier Sp. 233. 52 Grete Meisel-Hess: Brief an Lulu von Strauss und Torney, 11. September 1912. Deutsches Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung, A: Diederichs, HS.1995.0002. Aus diesem Brief geht auch hervor, dass ihr Protest zumindest eine abwiegelnde Stellungnahme des Bunds deutscher Frauenvereine hervorrief: »[…] erst als die Zeitung Welt am Montag diesen Skandal brandmarkte, haben sie unter Ausreden versichert, eine solche Absicht sei ihnen fern gelegen.« 53 Adele Schreiber: Moderne Sittlichkeitsprobleme. In: Berliner Zeitung, 5. Februar 1904; hier zitiert nach Adele Schreiber: Die Ansätze neuer Sittlichkeitsbegriffe im Hinblick auf die Mutterschaft. In: Adele Schreiber (Hg.): Mutterschaft. Ein Sammelwerk für die Probleme des Weibes als Mutter. München: Albert Langen 1912, S. 163–185, hier S. 173; Hervorhebungen im Original.

4.1 Grete Meisel-Hess und der Bund für Mutterschutz | 143

Theorie der Sittlichkeit, die auf gesellschaftlicher Evolution gründet und mit ihr Hand in Hand geht: Für eine bestimmte Zeit und auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ist jeweils diejenige Moral die richtige, die am besten dem Wohl der Gesamtheit und dem Aufbau der Zukunft dient […]. So hinkt denn die offizielle Sittlichkeitsanschauung stets den ihr vorangegangenen wirtschaftlichen Veränderungen nach, passt sich ihnen allmählich an, ist während eines längeren oder kürzeren Zeitraums wirklich der Ausdruck der herrschenden Zustände und des Mehrheitsfühlens, um früher oder später wieder in Zwiespalt mit ihnen zu geraten […].54

Gesellschaftlicher Fortschritt, um es knapp zu formulieren, misst sich an dem Grad der Anerkennung von Naturgesetzmäßigkeiten und deren Anwendung auf das menschliche Gemeinwohl. Diese Position stützte sich in philosophischer Hinsicht weitgehend auf die von Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche, Auguste Forel und anderen post-darwinistischen Freidenkern propagierte monistische Weltanschauung, nach der die Trennung von Körper und Geist zu bekämpfen ist. Vertreter dieses zivilisationskritischen Ansatzes, der vielen Reformbewegungen der Zeit zugrunde lag, wandten sich gegen die Überbewertung und einseitige Förderung der Intellektualität und erhoben die Forderung nach einem Ausgleich von Körper (oder Instinkt) und Geist. Immer wieder wird sich dabei auf Nietzsche bezogen, der die einseitige Betonung des Geistigen, Intellektuellen, als dekadent verurteilt, ja geradezu pathologisiert hatte. »[…] die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit«, so formuliert er in der Götzen-Dämmerung.55 Ein anderer Vorläufer, der wesentlich seltener genannt wird, obwohl auch er richtungsweisend über den Zusammenhang und den harmonischen Ausgleich zwischen Geist und Körper nachgedacht hatte, war Ernst Freiherr von Feuchtersleben. Sein Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde von 1845 beschreibt, auf welche Weise »Seele und Leib […] sich aufs innigste in allen Gebilden des lebendigen Individuums [durchdringen]«.56 Meisel-Hess entlehnt diesem Band das Motto, das sie ihren Intellektuellen voranstellt: »Die Intelligenz steht höher

|| 54 Schreiber, Die Ansätze neuer Sittlichkeitsbegriffe (wie Anm. 53), S. 165; Hervorhebung im Original. 55 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (wie Kap. 3, Anm. 82), S. 67. 56 Ernst Freiherr von Feuchtersleben: Einleitung. In: Ernst Freiherr von Feuchtersleben: Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Wien: Carl Gerold 1845, S. 1–6, hier S. 4.

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als der Wille; aber dieser muß zuerst gebildet werden, damit er ihren Auftrag zu erfüllen vermöge.« (I, Vorsatzblatt) Ist nach monistischer Philosophie die Trennung zwischen psychischer und physischer Konstitution des Menschen hinfällig, dann wird auch selbstverständlich, dass Vorschriften, die das Gemeinschaftsleben und die Sexualmoral bestimmen, mit in der Natur vorgegebenen Regeln übereinstimmen müssen. Der Deutsche Monistenbund, der 1906 nach mehrjähriger Vorbereitung von Ernst Haeckel in Berlin gegründet wurde, setzte sich dementsprechend vornehmlich dafür ein, »eine in sich einheitliche, auf Naturerkenntnis gegründete Welt- und Lebensanschauung« zu fördern.57 Als freidenkerische Reformorganisationen standen der Monistenbund und der Bund für Mutterschutz sich nahe: Beide Vereinigungen gehörten zu dem 1909 gegründeten Weimarer Kartell.58 Monistisches Denken spiegelt sich in vielen von Meisel-Hess’ Schriften; Die sexuelle Krise zum Beispiel steht in engem gedanklichen Zusammenhang mit Auguste Forels einflussreicher Studie Die sexuelle Frage von 1905, und rückhaltlos teilte MeiselHess Forels Ziel, »eine Ethik auf Grundlage des erblichen ethischen Gefühls oder Instinktes aufzubauen«.59 Als Meisel-Hess 1912 dem Monistenbund beitrat,60 wurde aus Anlass des Magdeburger Monistentags eine Postkarte gedruckt, die sie als eine von fünf Prominenten des damals immerhin um die 7000 Mitglieder zählenden61 Bunds abbildete62 – ein sicheres Zeichen für das Ansehen, das Meisel-Hess zu diesem Zeitpunkt in reformorientierten Kreisen genoss.

|| 57 Aus Paragraph 1 des Gründungsdokuments des deutschen Monistenbunds, zitiert nach Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert: bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914. München: Oldenbourg 1998, S. 217. 58 Vgl. Rosemarie Nöthlich, Heiko Weber u. a.: Weltbild oder Weltanschauung? Die Gründung und Entwicklung des Deutschen Monistenbundes. http://www.uni-jena.de/ unijenamedia/Downloads/faculties/bio_pharm/ag_didaktik/Noethlich_Weltbild_oder_ Weltanschauung.pdf (28.12.2015), S. 42. 59 Auguste Forel: Kulturbestrebungen der Gegenwart (1910), zitiert nach Heiko Weber: Der Monismus als Theorie einer einheitlichen Weltanschauung am Beispiel der Positionen von Ernst Haeckel und August Forel. In: Paul Ziche (Hg.): Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung. Berlin: VWB 2000, S. 81–127, hier S. 95. 60 Vgl. Notiz in: Das monistische Jahrhundert. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung 1 (1912/13), S. 112. 61 Nöthlich u. a., Weltbild oder Weltanschauung? (wie Anm. 58), S. 57. 62 Vgl. Postkarte im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Handschriftenabteilung; A: Diederichs, HS.1995.0002. Unter den anderen auf der Karte abgebildeten Prominenten sind Rudolf Goldscheid, der Vorsitzende des Österreichischen Monistenbunds, und der Philosoph Otto Gramzow.

4.2 Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik | 145

4.2 Die Intellektuellen: Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik 4.2.1 Meisel-Hess’ literarische Entwicklung vor 1911 Die Anzeige, mit der der Verlag Oesterheld & Co 1911 auf Meisel-Hess’ Intellektuelle aufmerksam machte, zeugt von Vertrauen in dessen Bedeutung: Als »das bisher noch ungeschriebene Epos der Moderne« erscheint der Roman hier, ja als »[d]er Roman der Moderne« schlechthin.63 Dieser Begrifflichkeit haftet zwar die Übertreibung des Anbieters an, doch sie weist auch auf die Bedeutung der monistischen Weltsicht um die Jahrhundertwende und in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hin.64 Dem ehrgeizigen Anspruch entspricht die »epische Weite« des Romans: Der Verlag stellt die Analogie zu einem »Kolossalgemälde« auf, das ein »Abbild der großen Bewegungen, die durch unsere Zeit gehen« präsentiere ‒ und betont gleichzeitig die »Kraft der Handlungsführung« und den »steile[n] Bau« der Komposition. Deutlich hebt sich die breite Anlage der Intellektuellen von den Konzeptionen der beiden Romane ab, die Meisel-Hess zuvor publiziert hatte: Fanny Roth (1902) und Die Stimme (1907). Alle drei Romane bauen auf autobiographischem Material auf, doch die sehr unterschiedliche Ästhetik, die ihnen zugrundeliegt, zeigt einen Entwicklungsweg der Autorin auf. Ein Blick auf diese Entwicklung mag helfen, die Analyse der Intellektuellen als literarisches Produkt vorzubereiten. Fanny Roth, Meisel-Hess’ erster Roman, den sie 1902 im Verlag Hermann Seemann Nachfolger veröffentlichte, zeichnet die persönliche Entwicklung einer jungen Violinistin nach. Der Untertitel, eine »Jung-Frauengeschichte«, unterstreicht die Schwerpunktsetzung des Werks, die auf dem Reifungsprozess der Protagonistin liegt. Diese sieht, in Nietzsche’schen Kadenzen, ihre »Bestimmung als Künstlermensch [darin], Kulturen weiterzubauen und appollinische Erkenntnisse weiterzugeben«,65 muss sich jedoch mit ihrer eigenen Sexua-

|| 63 Diese und die folgenden Zitate: Verlagsanzeige 1911, Archiv Bibliographia Judaica, Universität Frankfurt; Herkunft unbekannt. 64 Monika Fick beschreibt die literaturhistorische »Zeit der Moderne« als »monistische Bewegung«; und sicher ist vor allem in der Literatur von bahnbrechenden Reformbewegungen, wie sie z. B. der Friedrichshagener Dichterkreis darstellte, der »monistische[] Denkansatz […] Voraussetzung«. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 354 und 365. 65 Grete Meisel-Hess: Fanny Roth [1902]. Berlin: Hermann Seemann Nachfolger 1910 (21.– 25. Aufl.), S. 6–7.

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lität und mit den Forderungen der Ehe auseinandersetzen, um zur Reife als Frau und als Musikerin zu gelangen. Der Roman, der sowohl Nietzsches Philosophie persönlicher Selbstentfaltung als auch Meisel-Hess’ Freud-Lektüre spiegelt, löste in den etablierten literarischen Zirkeln vehemente Kritik aus. Richard Wengraf zog im literarischen Echo die Nietzsche-Nachfolgerschaft der Autorin ins Lächerliche: »So wandeln sich […] in den wirren Köpfen junger Litteraturdamen die erhabensten Gedanken des Meisters in die schauderhaftesten Plattheiten«.66 Richard Schaukal dagegen, der den Roman in der Gesellschaft rezensierte, erklärt sich abgestoßen von dem »welke[n], nervöse[n] Leben« »unangenehm belesene[r] […] Mädchen« sowie auch von den »Indiskretionen« des Romans, dessen unbestrittenen Erfolg er dem »Vergnügen am parfümierten Negligé« eines »hastende[n] Publikum[s], dem Gottfried Keller beschwerlich ist«, zuschreibt.67 Antisemitisches Ressentiment verbindet sich hier mit der Ablehnung gebildeter Frauen, denn Schaukal identifiziert den Roman spitz als »eine aus intimem Erleben geschöpfte Darstellung der Wiener jüdischen Gesellschaft«. Inhaltlich wurde der Roman jedoch durchaus ernst genommen. Georg Brandes äußerte sich positiv über die Schilderung der »Tragödie der intellektuellen genialen Frau in der modernen bürgerlichen Gesellschaft«;68 und Irmgard Roebling schreibt im Rückblick, Fanny Roth habe in der ersten Frauenbewegung etwa den Stellenwert, den in der modernen Frauenbewegung Verena Stefans Häutungen und Anja Meulenbelts Die Scham ist vorbei hatten: In allen drei Romanen wurden – entgegen der jeweiligen historischen Sexualmoral – speziell weibliche Bedürfnisse nach Sexualität und Lebensgestaltung formuliert und eingefordert.69

Selbst Schaukal bezeichnete Fanny Roth als »wurzelechtes Dokument zur ZeitPhysiognomie«. In literarischer Hinsicht formuliert er jedoch durchaus berechtigte Kritik, wenn er dem Roman mangelnde Originalität und künstlerische Gestaltung zur Last legt. Sein Vorwurf lautet: »Routine ohne Eigenart, Deutlichkeit ohne Kunst, Geist ohne besonderen Geschmack« ‒ und er vermutet mit einiger

|| 66 Richard Wengraf: Frauenbücher. In: Das literarische Echo 5 (1902/03), Sp. 97–102, hier Sp. 100. 67 Richard Schaukal: Grete Meisel-Heß, »Fanny Roth«. In: Die Gesellschaft 18 (1902), S. 397. 68 Georg Brandes: [Rezension von] »Fanny Roth«. In: Neue Freie Presse, 12. Juli 1902. 69 Irmgard Roebling: Grete Meisel-Hess: Sexualreform zwischen Nietzschekult, Freudrezeption und Rassenhygiene. In: Johannes Cremerius (Hg.): Literarische Entwürfe weiblicher Sexualität. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 205–230, hier S. 206.

4.2 Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik | 147

Herablassung: »Ich glaube, alle diese jungen Mädchen haben ihre Fanny Roth in der Schreibtischlade«. Schaukal war einflussreich in den Wiener literarischen Zirkeln jener Jahre, sein Urteil hatte Gewicht. Und so ist es nicht überraschend, dass Meisel-Hess’ nächster Roman, Die Stimme, ein von einer fiktiven Herausgeberin vorgelegter »Roman in Blättern«, als stilistisches Experiment konzipiert ist, das sich demonstrativ in Opposition zu den von Schaukal kritisierten zeitgenössischen »Frauenbüchern« stellt. Meisel-Hess lehnt eben diese »Frauenbücher« nun aufgrund deren »ehrfurchtslos[en]« Umgangs mit der Sprache und der häufig unbeholfenen Schilderungen explodierender Gefühle ab.70 In einem etwas ungelenken Selbstverweis distanziert sie sich hier auch von ihrem eigenen Erstlingsroman: »Ich las einmal ein Buch: ›Fanny Roth.‹ Eine ›Jung-Frauengeschichte‹ nannte es sich. Es war von einer talentierten jungen Person geschrieben, niederträchtig schlecht geschrieben […].«71 Die Stimme ist ein experimenteller, an die Form des Tagebuchs angelehnter Text. Meisel-Hess verweist auf Flauberts Idee eines »Buch[s] über nichts« und zielt darauf ab, im Sinne einer solchen »ätherisch[en] Kunst«72 einen Text »ohne jeden äußeren Rückhalt« zu schaffen, in dem »der Stoff sich […] auflöst[] in lauter – Stimme, […] Seele, Hauch ‒ anima«. Ein solches Buch muss sich über jedes strukturierende Prinzip hinwegsetzen (»Vorsatzlos will ich bleiben«), es kann nicht bewusst geschaffen werden, sondern wird in einem »ekstatische[n] Zustand« »diktiert«.73 Der Text, hier immer nur »diese Blätter« genannt ‒ der traditionelle Romanbegriff wird bewusst abgelehnt ‒, soll in dieser Vorstellung »Lied« und »Stimme« zugleich darstellen. Das dichterische Produkt und der direkte Ausdruck der Seele der Schreiberin und des Schaffensprozesses selbst sollen zu einer einzigen naturhaft-ungekünstelten Manifestation verschmelzen: »Stimme und Stoff ‒ Eins«.74 Wie die Rezensionen der Stimme recht einstimmig belegen, war diesem Experiment jedoch kein großer Erfolg beschieden. Felix Poppenberg bemerkt in seiner ausführlichen Besprechung in der neuen Rundschau, der Romanaufbau gehe nicht über eine »zerflatterte und verstrudelte Zetteltechnik« hinaus, und

|| 70 Vgl. Grete Meisel-Hess: Die Stimme: Roman in Blättern. Berlin: Wedekind 1907, S. 136. 71 Ebd., S. 254. 72 Gustave Flaubert: Brief an Louise Colet, 16. Januar 1852. In: Gustave Flaubert: Die Briefe an Louise Colet. Übers. und hg. von Cornelia Hasting. Zürich: Haffmanns 1995, S. 355–360, hier S. 357. 73 Meisel-Hess, Die Stimme (wie Anm. 70), S. 5–6. 74 Ebd., S. 245.

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verurteilt das »gaukelnde[] spektakelnde[] Pathos verdünnter krampfhaft geschüttelter Nietzschescher Kreszenz«.75 Auch Ilse Frapan-Akunian befindet im literarischen Echo, dass dieses Buch, in dem »tief, gefühlt, ernst philosophiert, dithyrambisch geschwärmt wird« trotz allen »Vibrieren[s]« der Seele letztlich »zu laut, zu gefallsüchtig, zu undelikat« sei.76 Nach diesem eher missglückten Versuch wandte Meisel-Hess sich verstärkt dem Verfassen von Sach- und Streitschriften zu. Sie feilte an ihrer Sprache und formalen Gestaltung und begann, den stellenweise ins Triviale abgleitenden Stil Fanny Roths und den hymnischen Duktus der Stimme durch eine Sprache zu ersetzen, die gedankliche Vertiefung und Rationalität betont. Die allmähliche Lösung von dem Vorbild Nietzsches tat ihr Übriges; und als sie 1912 die Novellensammlung Geister veröffentlichte, in deren Texten vermeintlich übersinnliches Geschehen aufgrund von psychologischen Deutungen Erklärung findet, hob ein Rezensent die »Kühle und Bedächtigkeit des wissenschaftlich geschulten Verstandes« der Autorin hervor und lobt sie »[u]m dieser ihrer unromantischen Gesinnung willen«.77 Sprache und Konzept der Intellektuellen sind insofern zu einem gewissen Teil aus den frühen literarischen Versuchen heraus zu verstehen. Der Mut zum ›großen Wurf‹ ist jedoch auf Meisel-Hess’ neue weltanschauliche Orientierung zurückzuführen, die sie mit ihrem Umzug nach Berlin und der Einbindung in die Aktivitäten des Bunds für Mutterschutz verfestigte.

4.2.2 Die Intellektuellen als Weltanschauungsroman in der Folge Wilhelm Bölsches Meisel-Hess’ männlicher Protagonist Stanislaus Diamant, der, wie seine Schwester Olga, als Träger der Haltungen der Autorin anzusehen ist, teilt Schriftsteller (und ihre Werke) in drei Kategorien ein: […] solche, die etwas zu sagen haben, was die anderen angeht, was vielleicht die Zukunft angeht, andere, die nur dem Tag geben, was des Tages ist, und wieder andere, die sich überhaupt nicht mitteilen, die nur ›für sich‹ schreiben, unbekümmert um alles, was in der

|| 75 Felix Poppenberg: Lebensläufe. In: Die neue Rundschau 18 (1907), S. 1138–1141, hier S. 1139. 76 Ilse Frapan-Akunian: [Rezension von] »Die Stimme«. In: Das literarische Echo 10 (1907–08), Sp. 59–60. 77 Hans Harbeck: [Rezension von] »Geister«. In: Das literarische Echo 15 (1912–13), Sp. 569.

4.2 Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik | 149

Zeit kämpfend aneinander klirrt, die nichts ›brauchen‹ von dieser Zeit, von ihr nicht belehrt werden, ihr nichts zu geben haben […]. (I, 145)

Wo Meisel-Hess’ Sympathien liegen, ist klar: Sie positioniert hier ihr eigenes Schreiben als engagierte Literatur und kontrastiert dieses Konzept mit der Ästhetik des autonomen Kunstwerks, die die zeitgenössische Literaturauffassung dominierte. Dabei misst sie den Intellektuellen gegenüber ihren früheren fiktionalen Arbeiten eine gehobene Bedeutung bei, denn der Inhalt, der »die anderen« und »die Zukunft« angeht, ist nicht mehr eng auf die Frage der Selbstwerdung eines weiblichen Individuums bezogen (auch wenn diese Thematik noch zentral bleibt). Ähnlich wie Hauschner in Die Familie Lowositz geht Meisel-Hess mit den Intellektuellen über die auf den weiblichen Lebensbereich konzentrierte »Frauen-Wiederholung[…]« hinaus, wie Lou Andreas-Salome 1898 die zeitgenössische Literatur von Frauen so schneidend-verallgemeinernd abgeurteilt hatte. Der Roman nimmt für sich in Anspruch, eben im Sinne Andreas-Salomes »über den Menschen in dessen Beziehung […] zu den tiefsten Problemen und Lebensfragen« Stellung zu beziehen.78 Tatsächlich wird ihm dies in den Rezensionen aus dem Erscheinungsjahr wiederholt bescheinigt. In der Teplitzer Zeitung heißt es: »Es gibt kaum ein bedeutenderes Gegenwartsproblem, dem [dieses Buch] nicht scharf und unnachgiebig nachgrübeln würde«.79 Auch Friedrich Alafberg bestätigt im literarischen Echo, die Autorin habe sich erfolgreich des »letzte[n], schwerste[n] Problem[s] der Gegenwart« angenommen. Die Frage, welches denn dieses Problem sei, die sich notwendig an eine solche Aussage anschließen muss, wird allerdings von Alafberg nur recht vage beantwortet. Er umschreibt den Buchinhalt als Analyse der »Wirrnisse und Fährlichkeiten der heutigen Kultur«, und der Andeutung derer Lösung.80 Präziser äußert sich Meisel-Hess selbst in einem Artikel im ersten Jahrgang von Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion: Hier beschreibt sie die Aufgabe des Künstlers damit, dem Verständnis einer wissenschaftlich begründeten neuen Ethik Ausdruck zu verleihen: Der Künstler muss, so schreibt sie, »[d]ie aus [dem] Trieb zur Arterhaltung kommenden, altruistischen Gebote und sittlichen Richtungslinien« darstellen.81

|| 78 Andreas-Salome, Ketzereien gegen die moderne Frau (wie Einleitung, Anm. 32), S. 439 und 437. 79 Ein Abschnitt aus dieser Rezension wurde gemeinsam mit drei anderen Auszügen als Teil eines Bestellzettels des Verlags veröffentlicht. Archiv Bibliographia Judaica (ohne Herkunft u. Jahr). 80 Alafberg, [Rezension von] »Die Intellektuellen« (wie Anm. 10), Sp. 427. 81 Grete Meisel-Hess: Reisesplitter. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 874–878, hier Sp. 876.

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Damit stellt sie ihren Roman in den Kontext der von den Monisten propagierten Weltanschauungsliteratur. Der Wiener Philosoph Friedrich Jodl zum Beispiel, Vertreter einer monistisch-naturalistischen Ethik, schrieb 1892: »Was uns fehlt und unsere möglichen Erfolge hemmt, ist, wie mir oft scheint, eine freidenkerische Literatur in Deutschland, welche Kühnheit und Klarheit des Gedankens mit Schwung und Idealität der Gesinnung verbindet.«82 Und Auguste Forel definierte Kunst und Literatur als »Produkt des Gehirns im evolutionären Prozeß«, dessen Aufgabe darin bestehe, »das menschliche Gemüt zu erschüttern und in einen emotionalen Zustand zu versetzen, um den Menschen zu ethischen Werten zu erziehen«.83 Ein ähnlicher Rückbezug auf Prinzipien aristotelischer Poetik scheint auch in Meisel-Hess’ Literaturverständnis auf. In einer interessanten Wendung bestimmt sie den weltanschaulichen Inhalt der Literatur gleichzeitig zur Grundlage für ihr ästhetisches Programm. Vom aristotelischen Mimesisbegriff ausgehend ‒ und der Prämisse, »echte Kunst« nähere sich der Natur ‒ setzt MeiselHess die Begriffe »natürlich« und »künstlerisch« gleich und argumentiert: »Die Natur hat keinerlei moralische Absichten […], [d]arum muß alle echte Kunst […] in diesem Sinne unmoralisch sein.« Die Pflicht der Kunst sei es, so fährt sie fort, die Kausalgesetze der Natur als Grundlagen für die einzig verbindlichen sittlichen Richtlinien zu schildern: »Hier haben wir die einzige, gleichzeitig natürliche und künstlerische und dabei moralische ›Tendenz‹ in Kunst und Natur.«84 In den Intellektuellen ist diese Programmatik in erster Linie im Bereich der geschlechtlichen Beziehungen und der Reproduktion im Dienst einer Höherentwicklung der Menschheit entwickelt. Dem biologistischen Anliegen gemäß befreit Meisel-Hess die Darstellung der Liebe aus romantisch-idealistischen Konventionen und betont stattdessen ihre Verankerung im – von metaphysisch begründeten Moralvorstellungen befreiten ‒ Instinkt.85 Gerade im Hinblick auf diese Liebesdarstellung drängt sich der Vergleich mit Wilhelm Bölsches »Prolegomena einer realistischen Ästhetik« auf, die die-

|| 82 Friedrich Jodl: Brief an Bartholomäus von Carneri, 29. März 1892, hier zitiert nach Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich, 1859–1914. Wien: Böhlau 1999, S. 401. 83 Auguste Forel: Kulturbestrebungen der Gegenwart (1910), hier zitiert nach Weber, Der Monismus als Theorie einer einheitlichen Weltanschauung (wie Anm. 59), S. 96. Vgl. auch Auguste Forel: Zum Begriff des Monismus. In: Der Monismus 3 (1908), S. 10–14. 84 Meisel-Hess, Reisesplitter (wie Anm. 81), Sp. 876. 85 Stanislaus erkennt: »Man kann sich die Liebe von niemandem erobern oder verscherzen. Denn die Zellen lieben sich und nicht die Willen, die Zellen ziehen sich an oder stossen sich ab!« (I, 334)

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ser 1887 in Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie vorgelegt hatte. Bölsches Forderung an den modernen »realistischen Dichter« ist, dass er die Naturwissenschaften als »Basis unseres gesammten modernen Denkens« anerkenne und dass er die Kenntnis physiologischer Fakten auch gegen »die landläufige Moral« vertrete und verbreite.86 Anstatt die »widerwärtige Sentimentalität« der tradierten Liebesdarstellung weiter zu perpetuieren, solle er aufzeigen, »dass die Liebe auf natürlichen Gesetzen und Functionen basirt, die ihre feste und geordnete Stellung im Zellenstaate des menschlichen Organismus einnehmen«.87 Wie aber ist dieses Programm des deutlich didaktisch angelegten Weltanschauungsromans in struktureller Hinsicht zu realisieren? Bölsche weist auf ein wichtiges Element hin, das sich in Meisel-Hess’ Konzeption der Intellektuellen niedergeschlagen hat: das Verfahren positiver Modellhaftigkeit.

4.2.2.1 Modellhaftigkeit »Ich fordere neben vollkommen scharfer Beobachtung eine bestimmte Tendenz«, schreibt Bölsche in den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, und er definiert diese Tendenz als »die Richtung auf das Normale, das Natürliche, das bewusst Gesetzmässige«.88 Auf diese Weise grenzt er seinen Literaturbegriff entschieden gegen Zolas »Neigung für das Pathologische« ab und befürwortet stattdessen die positive Darstellung eines optimistischen Fortschrittsgedankens. In diesem Sinne proklamiert er: »Realismus ist in Wahrheit der höchste, der vollkommene Idealismus«.89 In eben diesem Sinn gestaltet Meisel-Hess Die Intellektuellen als »optimistischen« Roman – wie die zeitgenössische Presse ihr wiederholt bescheinigte. Victor Noack beispielsweise, der in der Neuen Generation schreibt, hebt diesen Optimismus des Buchs hervor und bezeichnet es als Ausdruck »der wirklich bewussten Weltanschauung«;90 und der Rezensent in der Teplitzer Zeitung

|| 86 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Hg. von Johannes Braakenburg. Tübingen: Niemeyer 1976 [Nachdruck der Erstausgabe von 1887; die hier und im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Erstausgabe], S. 3 und 65. 87 Ebd., S. 59. 88 Ebd., S. 66. 89 Ebd., S. 66 und 92. 90 Victor Noack: Grete Meisel Hess, »Die Intellektuellen«. In: Die Neue Generation 7 (1911), 487–488, hier S. 487. Ähnlich äußert sich auch der Rezensent in Die Wage (Wien), der auf den

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nennt das Buch einen »Wegweiser für die Tastenden und Suchenden, eine Rückschau für die Gewordenen und Gefestigten« und betont damit seinen Modellcharakter.91 Der Blick auf drei der weiblichen Romanfiguren soll zeigen, wie Meisel-Hess – gewissermaßen in mehrdimensionaler Kontrastierung ‒ ihr Modell positiver, zukunftsweisender Weiblichkeit konstruiert. Im Vordergrund stehen dabei zum einen ein Persönlichkeitskonzept der ›Ganzheit‹, hier begriffen als Ausgleich von Körper und Geist, Intellektualität und Instinkt, und zum anderen modellhafte Lebensentwürfe, die eine auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse aufbauende Sittlichkeit reflektieren. Ganz im Sinne des von Nietzsche kritisierten Typs der einseitig-geistig entwickelten, dekadenten Intellektuellen ist die Figur der Lucinda gezeichnet, der geschiedenen Frau des charismatischen Erneuerers Manfred Wallentin. Lucindas »Unvermögen zur Produktion der stärksten weiblichen Gefühle« (I, 435) und ihr zweckgerichtetes Weltbild, ihr Glauben an »Determinationen […], die apriorisch die Erscheinungen schoben«, sind dabei aussschlaggebend für die nachteilige Charakterisierung. Letzterer Gedanke steht Meisel-Hess’ grundlegendem Vertrauen in ein absichtsloses, jedoch in »eherne[r] Folgerichtigkeit« (I, 435) ruhendes Naturgesetz entgegen und ihrer auf den Gesetzen evolutionärer Entwicklung im Darwinschen Sinne beruhenden Weltsicht. Das Unvermögen, Intellekt und weibliches Gefühl zu verbinden, kennzeichnet Lucinda als Verkörperung der Intellektuellen als »Übergangsgeschöpfe« auf dem Weg zu »einer höheren Lebensform« (I, 196). Die Begrifflichkeit weist auf den Prozess der Evolution hin, wie Haeckel ihn in der Nachfolge Darwins beschrieb.92 In Meisel-Hess’ Definition der Übergangsgeschöpfe als Menschen, deren »Intellektskultur […] noch nicht leiblich genug geworden« ist, noch nicht mit »de[m] gesunde[n] Instinkt« zu einem »Ganze[n]« entwickelt ist (I, 31) scheint zudem das Ideal der Verbindung von Ratio und Instinkt, von Vernunft und Gefühl auf, das sich auf die Philosophie Nietzsches stützt und über diesen hinaus auch auf Goethe verweist. In seiner Götzen-Dämmerung stellt Nietzsche den Bezug zu Goethe explizit her und führt aus: »Was er wollte, das

|| »fruchtbaren Optimismus« des Buchs hinweist (Auszug auf Bestellzettel des Verlags Oesterheld & Co, Archiv Bibliographia Judaica, ohne Herkunft u. Jahr). 91 Bestellzettels des Verlags Oesterheld & Co. 92 Vgl. Ernst Haeckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen [1868]. Berlin: Georg Reimer 1873, S. 243.

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war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille […]; er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich«.93 Dieser Rückbezug auf die Gedankentradition Goethes und seine Vorreiterstellung für die monistische Philosophie wird in den Intellektuellen immer und immer wieder betont: Schon im Eingangskapitel bezeichnet Professor Diamant die »Zwischenstufe« der Intellektuellen als »schlotternde Lemuren«, als »aus Bändern, Sehnen und Gebein geflickte Halbnaturen« (I, 32). Das Zitat, das auf die in Faust II von Mephistopheles zur Grabaushebung herbeigerufenen gespenstischen lebenden Toten verweist, unterstreicht die unverständige, weil unvollständige Natur Intellektueller, die sich nicht auf ihr instinktives und körperbezogenes Menschsein besinnen. Ebenso schattenhaft, lebens- und blutarm wie die Intellektuelle Lucinda stellt Meisel-Hess die Frauentypen der Bohème dar, Mitglieder der Cafégesellschaft »Berlin-W«s (I, 263): Ob »ätherische Gestalten […] mit tiefen, tiefen Blicken zwischen zwei Zopfschnecken«, »weiß geschminkte« Dämoninnen oder »kurz geschorene […] Schwedenmädchen« (I, 264) – sie sind für Olga nicht mehr als »skizzierte und nicht ausgezeichnete ›interessante‹ Schattenrisse«: »aber nirgends, nirgends – ein wirkliches Porträt, nirgends ein durcharbeiteter Kopf, mit großen, deutlichen Linien, ein echtes Antlitz … « (I, 266). Diesem Negativbild jeglicher vitaler Kraft enthobener Dekadenz, diesen »wesenlosen Geister[n]« (I, 449), steht die positive Modellfigur Geneviève entgegen, eine zum Ideal überhöhte Frau ohne »Riß« und »Bruch« (I, 30), »eine Ganze unter Zerrissenen, […] eine naturhaft Starke unter Verbogenen und Beschädigten« (I, 108). Nicht von ungefähr wird ihr Name im Roman weitgehend in der Kurzform »Eva« verwendet; und den hierdurch angedeuteten Gedanken des Urweiblichen, Urnatürlichen noch deutlicher unterstreichend, fügt MeiselHess hinzu: »Wenn Mutter Natur sprechen könnte, so würde sie so [wie Geneviève] sprechen« (I, 114). Wie bei Hauschner, so zeichnet sich auch hier als Grundmuster die Gegenüberstellung von Dekadenz und Instinkt ab, und in ihrer Konzeption der »naturhaften« Frau macht Meisel-Hess darüberhinaus die Verbindung von »heile[n] Instinkte[n]« und »Vernunft« anschaulich (I, 127). Geneviève lässt sich als Sprachlehrerin ausbilden, um sich aus einer lieblosen Ehe lösen zu können – und schließlich am Romanende dem Reformer Manfred Wallentin einen Sohn zu schenken. Die nüchterne, vernunftbetonte Vorbereitung ihrer Selbstständigkeit paart sich mit einem »instinktstarken Vertrauen« in »den logischen Sinn

|| 93 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (wie Kap. 3, Anm. 82), S. 145.

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des eigenen Seins« (I, 128) und bietet die Garantie dafür, dass sie den richtigen Moment der Trennung zu erkennen weiß. Ihre Vernunft hat nichts mit Intellektualismus gemein, sie ist »tiefste Vernunft der Natur, die, ohne zweckhaft zu sein, mit unberechenbarem Drang den Weg der Erhaltung der tauglichen Arten sucht« (I, 128–129) – und nähert sich damit geradezu synonymisch dem Begriff des Instinkts, wie Darwin ihn in The Origin of Species (1859) beschreibt: als Verhalten, das – ohne zuvor angeeignetes Wissen oder vorherige Erfahrung – der Arterhaltung und Artverbesserung dient.94 Ein anderer Modellcharakter, der auf denselben weltanschaulichen Grundlagen aufbaut und auf die Verbindung mit dem Programm des Bunds für Mutterschutz verweist, ist die unverheiratete Mutter Lore Wigolski. Lore lehnt sich gegen die fremdbestimmte Regelung des »Geschlechtsschicksals eines Menschen« auf (I, 245) und verbindet ökonomische, geistige und emotionale Unabhängigkeit mit reproduktiver Selbstbestimmung. Im zeitgenössischen Kontext betrachtet, ist Lore Teil einer ganzen Kette lediger Mütter in der Romanliteratur vor allem weiblicher Autoren. 1912 stellte Adele Schreiber fest: »In der schönen Literatur spielt gegenwärtig die Gestalt der unehelichen Mutter, die sich ›allen Gewalten zum Trotz‹ durchbringt, sich und ihrem Kinde einen Platz an der Sonne erkämpft, eine grosse Rolle.«95 Tatsächlich wurde die Figur in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum Katalysator, über den ein erstaunliches Maß an Kritik an der Institution der Ehe und an der Doppelmoral der Gesellschaft erhoben wurde.96 Zumeist aber wird das Thema entweder als gesellschaftskritisches Anliegen behandelt und mit Kritik an der Ausgrenzung dieser Mütter durch eine heuchlerische Gesellschaft verbunden – oder der Kinderwunsch wird, wie beispielsweise in Adele Gerhards Pilgerfahrt (1902) oder Franziska zu Reventlows Ellen Olestjerne (1903), als notwendiger Teil weiblicher Individuierung präsentiert.97 Meisel-Hess’ Darstellung weicht

|| 94 Vgl. Charles Darwin: The Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London: John Murray 1859, S. 207 und 244. 95 Schreiber, Die Ansätze neuer Sittlichkeitsbegriffe (wie Anm. 53), S. 185. 96 Vgl. Annette Kliewer: Geistesfrucht und Leibesfrucht. Mütterlichkeit und ›weibliches Schreiben‹ im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler: Centaurus 1993, S. 222. 97 Vgl. u. a. auch Helene Böhlau: Das Recht der Mutter. Berlin: F. Fontane & Co 1896; Clara Viebig: Die Schuldige. In: Clara Viebig: Kinder der Eifel. Berlin: F. Fontane & Co 1897, S. 155– 241; Clara Viebig: Es lebe die Kunst! Berlin: F. Fontane & Co 1898; Ruth Bré: Ecce Mater! Leipzig: Felix Dietrich 1905 und Gabriele Reuter: Das Tränenhaus. Berlin: S. Fischer 1908. Zu einem Überblick über die Entwicklung der literarischen Figur der ›unehelichen Mutter‹ in Romanen des späten neunzehnten Jahrhunderts bis zu den hier behandelten Autorinnen vgl.

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entschieden von dieser Tradition ab. In den Intellektuellen nimmt die unverheiratete Mutter nicht mehr die Stellung einer Außenseiterin ein, vielmehr ist sie als Vorbild gezeichnet, als Frau nämlich, der die nach monistischer Überzeugung ideale Verbindung von geistiger Individuierung und selbstbestimmter, instinktgeleiteter Mutterschaft gelingt. Lore verurteilt die überlieferte Mädchenerziehung zum passiven Warten auf den Richtigen als »Torheit, überlieferte Lüge, verhängnisvolle[n] Betrug!« (I, 251). Sie hat sich aus den Zwängen von Sitte und Gesetz gelöst und ist der »auffordernden Mahnung der Natur« (zur zeitigen Reproduktion) gefolgt. Indem sie nicht auf die Ehe gewartet hat, die, wie Meisel-Hess andernorts ausführt, meist erst geschlossen wird, wenn die Väter »im scharfen Lebenskampf ihre besten Energien bereits verbraucht haben«,98 hat sie mit der Entscheidung für ihr uneheliches Kind im Dienst der Gesellschaft ‒ wenn auch nicht im Sinne ihrer Moral ‒ gehandelt. »Die Unehelichen sind oft biologisch das wertvollste Material«, erklärt Meisel-Hess (I, 392), und mit dieser Formulierung greift sie den derzeit weit verbreiteten Diskurs von der unehelichen Fortpflanzung als Degeneration auf – und stellt ihn auf den Kopf. Othmar Spann z. B. hatte die »uneheliche Fortpflanzung« in seiner 1904 publizierten Arbeit Die Stiefvaterfamilie unehelichen Ursprungs als »eine Erscheinungsform der Bevölkerungs-Erneuerung« definiert, »welche außerhalb des normalen Organs hierfür, der Familie, sich vollzieht und gemäß den abnormalen Bedingungen, unter denen sie steht, in vieler Hinsicht als soziale Degenerations-Erscheinung sich darstellt«.99 Degeneration wird hier als moralische Devianz verstanden.100 Begreift man den Begriff jedoch im Kontext der Vererbungslehre – wie Meisel-Hess es tut – können gerade die unehelichen Kinder als diejenigen definiert werden, die versprechen, der Degeneration der Nation ein Ende zu bereiten. Mithilfe eines Moralbegriffs, der sich gemäß Adele Schreibers Definition danach ausrichtet, »am besten dem Wohl der Gesamtheit und dem Aufbau der Zukunft

|| Godela Weiss-Sussex: Von der ›Gefallenen‹ zur ›Hüterin der Zukunft‹. Außereheliche Mutterschaft in literarischen Texten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. In: Kanz/Krause (Hg.), Zwischen Demontage und Sakralisierung (wie Einleitung, Anm. 54), S. 151–168. 98 Meisel-Hess, Die sexuelle Krise (wie Anm. 15), S. 11. 99 Othmar Spann: Die Stiefvaterfamilie unehelichen Ursprungs [Sonderdruck aus der »Zeitschrift für Socialwissenschaft«]. Berlin: Georg Reimer 1904, S. 3. 100 In diesem Sinne steht der Begriff oft in Kollokation mit Schlüsselwörtern wie Entwurzelung, Entfremdung und Erschütterung der Normen. Hierzu vgl. Sybille Buske: Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900–1970. Göttingen: Wallstein 2004, S. 83.

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[zu] dien[en]«,101 kann Meisel-Hess so den Konsens des wilhelminischen Sittlichkeitsbegriffs wirkungsvoll angreifen. Am Beispiel Lores wird Meisel-Hess’ Strategie weltanschaulicher Modellhaftigkeit besonders deutlich. Im Gegensatz zur topischen Darstellung der ledigen Mutter als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse benutzt Meisel-Hess die positive Vorbildfigur, um ihre gesellschaftspolitischen Forderungen nach Sexual- und Ehereform zu veranschaulichen. Der Rückgriff auf die ›Wissenschaftlichkeit‹ eugenischer Diskurse und auf die von breiten Schichten sozialer Reformer getragenen Bemühungen um die Zukunft der deutschen Bevölkerung verleihen ihrer Lore eine Energie, die das utopische Projekt weiblicher Selbstbestimmung von Sexualität und Reproduktion realisierbar erscheinen lassen: »Und wenn die Dichter wirklich ›die Spiegel sind, die uns die Strahlen kommender Zeiten zuwerfen‹«, kommentiert Adele Schreiber, »so sind die Tage der erstrebten Gerechtigkeit nicht mehr fern.«102 Optimismus und Modellhaftigkeit, kurz: das ›Tendenzhafte‹ des Romans, sind jedoch nicht mit flacher und auf das breite Publikum ausgerichteter Propaganda zu verwechseln. Meisel-Hess bringt dieses Thema in den Intellektuellen selbst zur Sprache: Als Journalistin und Rednerin entscheidet sich ihre Hauptprotagonistin Olga gegen den direkten Weg der »Tatsachenpropaganda« für die »Masse« (I, 229). Stattdessen wählt sie den Weg, in der Sprache der »Informierten« zu schreiben, auch wenn dadurch nur die »nächste Schicht« erreicht werden könne. Auf der Grundlage dieses Beitrags zur »Destillation« des Denkens durch die Intellektuellen, so legt Olga weiter dar, könne dann das weitere Durchsickern der Argumente und Überzeugungen zu den »tiefsten und breitesten Schichten des Volksbewußtseins« erhofft werden (I, 153–154).103 Mit dieser Eingrenzung des intendierten Lesepublikums befand sie sich ganz im Einklang mit anderen Reformern; ähnlich macht auch Auguste Forel im Untertitel seiner Studie Die sexuelle Frage deutlich, dass er das allgemeine Publikum noch nicht für reif erachtet, die von ihm dargestellten Ideen einer neuen Sittlichkeit zu rezipieren: Mit der Formu-

|| 101 Schreiber, Die Ansätze neuer Sittlichkeitsbegriffe (wie Anm. 53), S. 165. 102 Ebd., S. 185. 103 Vgl. auch Meisel-Hess’ Äußerung hierzu in einem 1912 verfassten Aufsatz: »Es scheint mir ein Fehler, daß man jede Reformbewegung immer gleich mit einer Agitation für die breiten Massen identifizieren will. Ist denn jemals ein neues Weltbild in wenigen produktiven Köpfen entstanden, das sich zu seiner Belebung sofort und ohne Übergang, ohne von Etappe zu Etappe von einer langsam wachsenden Zahl der Wenigen ausgebaut zu werden, gleich auf die breiten Massen hätte übertragen lassen?« Grete Meisel-Hess: Sexuelle Rechte. In: Die Neue Generation 8 (1912), S. 181–191, hier S. 181–182.

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lierung Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygienische und soziologische Studie für Gebildete betont er den intellektuellen Anspruch seiner Schrift.104 Meisel-Hess erhofft sich durchaus eine weitere Verbreitung – der Begriff des »Durchsickerns« von einer Gesellschaftsschicht in die jeweils nächst-untere verdeutlicht dies. Aber die Aufgabe, die sie für sich selbst reklamiert, ist die, ohne Rücksicht auf die Massen für die gebildeten Schichten zu schreiben. Der elitäre Anspruch ihres Schreibens äußert sich in erster Linie in der Aufnahme naturwissenschaftlicher und sozialpolitischer Begriffe und Diskurse und durch die in schier überwältigender Häufigkeit und Breite vorgenommene Berufung auf den Kanon humanistischer Bildung, Kontexte also, die auf die Tradition der Aufklärung verweisen.

4.2.2.2 Wissenschaftlichkeit und humanistische Tradition Nicht von ungefähr nennt Victor Noack in seiner Rezension die Intellektuellen einen »wissenschaftliche[n] Roman«: Meisel-Hess stellt das politische Programm des Bunds für Mutterschutz und dessen naturwissenschaftliche Grundlagen in ungewöhnlicher Komplexität dar; sie gibt statistische Erwägungen zur ledigen Mutterschaft ebenso Raum wie Erörterungen psychologischer und philosophischer Fragen. Wiederholt bezieht sie sich auf die Schriften Freuds, und in der Figur der apathischen Edda Diamant liefert sie geradezu eine fiktionale Fallstudie des unbefriedigten Sexualtriebs.105 Die Diagnose von Eddas Zustands wird in Freudscher Begrifflichkeit (»frigid«; I, 52), aber auch in medizinischen Termini gestellt: Eddas Ehemann, Professor Diamant, pathologisiert ihre »Müdigkeit«, indem er sie auf einen »Mangel an Hämoglobin und eine Gebärmuttersenkung« zurückführt (I, 39); und in der für Meisel-Hess typischen Verwebung wissenschaftlicher und philosophischer Ansätze kommt schließlich zur psychoanalytischen und medizinischen auch die moralphilosophische Diagnose hinzu,

|| 104 Vgl. Auguste Forel: Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische, hygienische und soziologische Studie für Gebildete. München: E. Reinhardt 1907. 105 Auch in ihrem nichtfiktionalen Werk erörtert sie Freuds Theorien wiederholt und ausführlich. In einem Rückblick auf ihre Studie Das Wesen der Geschlechtlichkeit (1916) z. B. beruft sie sich explizit auf »die moderne Psychiatrie, besonders die Untersuchungen von Professsor Freud« und führt aus, sie habe »versucht, darzulegen, was sich aus beständigen Verdrängungen und Verbergungen in intimer Geschlechtsgemeinschaft ergeben muss, wie das Wesen eines Menschen dadurch vollständig aus seinen eigentlichen Bahnen gedrängt wird, wenn er fortdauernd ein schweres Geheimnis zu verbergen hat«. Grete Meisel-Hess: Vorwort. In: Grete Meisel-Hess: Die Bedeutung der Monogamie. Jena: Eugen Diederichs 1917, S. VI–XXII, hier S. XV.

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die – gestellt von Stanislaus – mit Aristoteles die Trägheit als »das Böse im Menschen« bezeichnet und der vom Göttlichen zeugenden »tätigen Vernunft« entgegenstellt (I, 39). Und Meisel-Hess geht noch einen Schritt weiter. Sie bedient sich nicht nur Freudscher Terminologie,106 sondern schreibt auch Geschichte in der literarischen Darstellung der Psychoanalyse: Der Rezensent des Zentralblatts für Psychoanalyse, Alfred Bauer-Imhof, bescheinigt ihr: »Zum ersten Mal wird hier in der nicht-wissenschaftlichen Literatur der Psychoanalyse eingehende Erwähnung getan. Das betreffende Kapitel«, so fährt er fort, verrate zwar »eine Unkenntnis des praktischen psychoanalytischen Verfahrens«, es zeige aber auch »ein gründliches theoretisches Studium der psychoanalytischen Methoden«.107 Diese und ähnliche Verweise auf wissenschaftliche Hintergründe werden im Roman durch Zitate einer außerordentlichen Fülle von Vertretern humanistischer Gedankentradition und des klassischen europäischen Bildungsguts ergänzt. Von Vergil und Aristoteles über Ibsen, Walt Whitman, Hegel und Heinse bis hin zu den »Gipfel[n] westlicher Kultur, bis zu Darwin, Nietzsche und Kant« reicht die Bandbreite der Verweise (I, 501). Mehr als das Werk jeden anderen Autors ruft Meisel-Hess jedoch dasjenige Goethes auf. Über dessen Bild der »schlotternden Lemuren« als Intellekt-lastige Halbwesen und weitere Verweise auf monistische Denkstrukturen hinaus108 zeichnet Meisel-Hess Manfred Wallentin als promethischen Charakter, »der die Menschheit in [der Götter] Nähe zu rücken sich vermaß«, wie ein Dichter – gänzlich ohne Ironie – bei seiner Grabrede formuliert (I, 480). Und wenn Stanislaus als »verkehrter Mephisto« apostrophiert wird, der die Moderne zwar kritisiert, ihr Gelingen aber letztlich wünscht (I, 28); oder wenn Olgas Sehnsucht nach einem neuen Anfang am Romanende in Worte aus den Römischen Elegien gefasst sind,109 unterstützen diese Zitate den aufklärerischen Gestus des Buchs. Doch noch in einer weiteren Hinsicht ist der wiederholte Bezug auf Goethe in den Intellektuellen funktionell wichtig, weil rezeptionslenkend: Er suggeriert

|| 106 Vgl. auch die Diskussion über »die Phänomene geschwächter Willenskraft«, »die dazu angetan wären, Libido zu steigern« (I, 207). 107 Bauer-Imhof, Grete Meisel-Hess, »Die Intellektuellen« (wie Anm. 8), S. 288. Zu MeiselHess’ Freud-Rezeption vgl. auch Helga Thorson: Confronting Anti-Semitism and Antifeminism in Turn of the Century Vienna: Grete Meisel-Hess and the Modernist Discourse on Hysteria. In: Klaus Hödl (Hg.): Jüdische Identitäten. Innsbruck: StudienVerlag 2000, S. 71–94. Ich verdanke diesem Aufsatz den Hinweis auf Bauer-Imhofs Rezension. 108 Auch das Faust-Zitat »Es irrt der Mensch, solang er strebt« (I, 33) gehört in diesen Kontext. 109 »Und eine unüberwindliche Sehnsucht nach dem ›Glanz des helleren Äthers‹ wurde immer stärker in ihr.« (I, 489)

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eine literaturästhetische Verwandtschaft, die vor allem im Verständnis künstlerischen Schaffens als Realisierung des aufklärerischen Auftrags durch einen genialischen Akt besteht. In ihrem 1911 veröffentlichten Aufsatz »Reisesplitter« erklärt Meisel-Hess: Der geborene Schriftsteller muß schreiben, muß notieren zu allen Zeiten. […] Fast möchte man sagen, daß nur das, was unter dem Druck eines anonymen Zwangsbefehls geschrieben wird, wert ist, überhaupt geschrieben zu werden. Denn die Offenbarung überstürmt ihre Geschöpfe, sie schlägt in sie ein, wie der Blitz, auf einmal flammt es taghell auf, wo schwere und gleichgültige Nacht lag […].110

Die neuromantische Begrifflichkeit, die hier aufscheint, überrascht zunächst, klingt sie doch wie ein Rückfall in das literarische Credo, das Meisel-Hess’ frühem Roman Die Stimme zugrunde gelegen hatte. Doch dafür, dass die Überzeugungen von einer »geniale[n] Anlage« des wahren Dichters durchaus mit einer auf den Naturwissenschaften gründenden Poetik übereinstimmen kann, liefert schon Bölsche den Beweis, der die Dichter der Zukunft ermahnt: »vergesst nicht, dass […] hinter euch Göthe und Schiller stehen«.111 Die »prophetische Offenbarung« des Stoffs allein genügt nicht, wie MeiselHess in ihrem »Reisesplitter«-Essay weiter ausführt; diese muss vielmehr »mit kühlem Blute ins Objektive transponiert« werden.112 Und für dieses kühle Transponieren »ins Objektive«, steht in Meisel-Hess’ Romanästhetik ein Leitprinzip an oberster Stelle: die Verbindung des Epischen mit dem Psychologischen. 1912 fordert sie in einem Aufsatz mit dem Titel »Vom Psychologischen«, die moderne Literatur dürfe nicht den Weg der Antike gehen, Seelenzustände in Handlungen aufzulösen. Vielmehr fordert sie: »Das Epos unserer Zeit, der moderne Gesellschaftsroman, kann seinem innersten Wesen nach die Begründung der Geschehnisse durch seelische Notwendigkeiten nicht entbehren.«113 Statt »wirre Tatsachenhäufung« zu praktizieren, »wie sie etwa der Familienblattroman geringerer Sorte kultiviert«, muss die Handlungsführung sich demnach an »inneren Nötigungen« ausrichten, die sich dann »folgerichtig in äußeren Schicksalen

|| 110 Meisel-Hess, Reisesplitter (wie Anm. 81), Sp. 875. 111 Bölsche, Die naturwissenschaftlichen Grundlagen (wie Anm. 86), S. 9 und 91. Vgl. hierzu Nicholas Saul: »Once in Human Nature, a Thing Cannot be Driven Out«: Evolutionary Aesthetics in Wilhelm Jensen’s »The Legacy of Blood« (1869). An Early Response to Darwin. In: Nicholas Saul (Hg.): The Evolution of Literature. Legacies of Darwin in European Cultures. Amsterdam: Rodopi 2011, S. 239–253. 112 Meisel-Hess, Reisesplitter (wie Anm. 81), Sp. 875. 113 Grete Meisel-Hess: Vom Psychologischen. In: Der Weg 4 (1912), Sp. 132–134, hier Sp. 132.

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emanieren«.114 Dieses Primat des Psychologischen erklärt die Kernstruktur der Intellektuellen, die auf das Modell des Entwicklungsromans zurückgreift.

4.2.3 Poetologisches Kernkonzept des weiblichen Entwicklungsromans: Rückgriff auf Hedwig Dohms Christa Ruland (1902) Die in der bereits zitierten Verlagsanzeige für die Intellektuellen angekündigte »epische Weite« des Romans und die Metapher des »Kolossalgemäldes« scheint auf die strukturelle Anlage des Gesellschaftsromans nach dem Vorbild z. B. William M. Thackerays hinzuweisen. Meisel-Hess liefert jedoch nicht die für diese Gattung typische Verfolgung multipler Handlungsstränge durch verschiedene gesellschaftliche Schichten. Die »Weite« ihres Romans wird vielmehr über die Kontrastierung der Protagonistin und ihres Weltbilds mit anderen ideologischen und gesellschaftlichen Erneuerungsbewegungen erreicht, die jeweils von einzelnen Charakteren getragen werden. Friedrich Alafberg, der Rezensent des literarischen Echos, vergleicht die »künstlerische Anlage des Werkes« mit Goethes Prosaepen, spezifisch mit Wilhelm Meisters Lehrjahren (1796). Die parallele Anlage der Protagonisten Wilhelm (Goethe) und Olga (Meisel-Hess) beschreibt er wie folgt: An einem besonderen Menschen erfüllt sich in hervorragendem Maße das Schicksal seiner Zeit. Aber er wächst darüber hinaus, kraft seines stärkeren Menschentums, weist dem Leben der Zukunft die Wege und greift so bedeutsam und führend in das Werden seiner Epoche ein.115

Meisel-Hess’ zahlreiche Verweise auf Goethe mögen den Vergleich nahegelegt haben;116 Ihre Anlehnung an ein anderes Modell ist jedoch noch weit enger und insofern auch aufschlussreicher für das Verständnis ihrer Intellektuellen: Auf auffallend minutiöse Weise folgt die Autorin dem Aufbau des weiblichen Entwicklungsromans, wie ihn Hedwig Dohm 1902 in Christa Ruland vorgelegt hatte. Sie bedient sich hier eines Verfahrens, das Dohm selbst in ihren fiktionalen Werken anwandte und das Gaby Pailer als »poetisches Prinzip des Plagiats«

|| 114 Ebd., Sp. 134. 115 Alafberg‚ [Rezension von] »Die Intellektuellen« (wie Anm. 10), Sp. 428. 116 Alafberg sieht auch im Ende des Buchs einen »sonnige[n] Strahl goethischer Weisheit«. Ebd.

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beschrieben hat.117 Mithilfe der – nicht wörtlichen, aber strukturellen – Entlehnung positioniert Meisel-Hess sich als Nachfolgerin Dohms und transportiert auf diese Weise Inhalte, die Dohms Projekt abzuschließen scheinen, tatsächlich jedoch sehr eigene Ausrichtungen annehmen. Es lohnt sich, den Bezug auf Christa Ruland etwas genauer zu untersuchen, um auf diesem Weg nicht nur Meisel-Hess’ Romanstruktur, sondern auch die Charakterisierung ihrer Protagonistin klar zu erfassen. Hedwig Dohm, eine der führenden Persönlichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, hatte sich ihr Leben lang für die »geistige[] und wirtschaftliche« Unabhängigkeit der Frau eingesetzt – und für ihr Recht, »danach streben [zu] dürfen, das herauszufinden, was die Natur gerade mit ihr beabsichtigt hat«.118 Noch 1914 berichtete Adele Schreiber über die damals dreiundachtzigjährige Dohm, sie stehe »an der Seite der Jüngsten, Radikalsten«.119 Wiederholt hat die fast ein halbes Jahrhundert jüngere Meisel-Hess ihrer Achtung für Dohm Ausdruck verliehen. In einem Aufsatz zum Beispiel, den sie zu deren fünfundsiebzigstem Geburtstag verfasste, feiert sie sie als Vorkämpferin für die emanzipierte Frauengeneration. Sie schließt mit den Worten: »Nun sind sie da, für die du gekämpft. Und grüßen dich, Hedwig Dohm!«120 Damit stellt sich Meisel-Hess selbst als Vertreterin der emanzipierten Frauengeneration im Sinne Dohms dar: als Vertreterin einer Generation, die die Einlösung von Dohms Forderungen verkörpert. In der Gestaltung ihrer Protagonistin Olga, die den noch unsicheren Lebensentwurf der Christa Ruland selbstbewusst

|| 117 Gaby Pailer: Schreibe, die du bist. Die Gestaltung weiblicher ›Autorschaft‹ im erzählerischen Werk Hedwig Dohms. Pfaffenweiler: Centaurus 1994, S. 55. Der Begriff des Plagiats ist hier, im Sinn Gérard Genettes, wertfrei als »nicht deklarierte […] Entlehnung« zu verstehen und als Grundlage eines poetologischen Prinzips des Anschlusses unter gleichzeitiger Neukonstituierung. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 1993, S. 10. Vgl. hierzu Pailers Ausführungen (Pailer, Schreibe, die du bist, S. 55–59) sowie auch Birte Giesler: »… wir Menschen alle sind Palimpseste …«. Intertextualität in Hedwig Dohms »Schicksale einer Seele« am Beispiel der Verarbeitung von Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Herbolzheim: Centaurus 2000. 118 Hedwig Dohm: Weib contra Weib. In: Hedwig Dohm: Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung. Berlin: F. Dümmler 1902, S. 80–137, hier S. 133. 119 Adele Schreiber: Hedwig Dohm als Vorkämpferin und Vordenkerin neuer Frauenideale. Berlin: Märkische Verlagsanstalt 1914 (Unsere Dichterinnen und die neuen Frauenideale; 1), S. 85. Ähnlich hatte ein Jahr zuvor Wally Zepler Dohm als »unter all den kämpfenden und schaffenden Frauen die freieste und weiteste im Geist« gefeiert. Wally Zepler: Hedwig Dohm. In: Sozialistische Monatshefte, 16. Oktober 1913, S. 1292–1301, hier S. 1293. 120 Grete Meisel-Hess: Hedwig Dohm. Zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag 1908. In: Grete Meisel-Hess: Betrachtungen zur Frauenfrage. Berlin: Prometheus 1914, S. 212–222, hier S. 222.

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einzulösen scheint, sehen wir diese Positionierung konkret und detailliert ausgeführt. Christa Ruland, der dritte Band in Dohms Trilogie über drei Frauengenerationen, ist, wie Dohm selbst formuliert, als die Geschichte einer Frau angelegt, »die inmitten einer Zeit steht, die für die Frau eine Weltenwende bedeutet, weil sie ein Übergangsgeschöpf ist«.121 Die strukturellen Implikationen dieser Anlage erläutert Gisela Brinker-Gabler wie folgt: Die Thematisierung des Übergangs verlangt eine doppelte Blickrichtung: eine Reflexion auf Tradition und Erworbenes […]; zugleich bedarf es einer Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Modellen, die zur Gestaltung einer anderen Gegenwart und Zukunft führen können, die aber auch ›verfremdet‹ werden müssen, indem ›Fremdes‹ aufgedeckt bzw. Gültiges für die eigene Situation und Bedürfnisposition erkannt werden kann. Damit stellt sich die Aufgabe eines doppelten Bezugs und doppelter kritischer Überprüfung […].122

Ganz im Sinne dieses »doppelten Bezugs« stellt Dohm auf den ersten Seiten des Romans die zu überwindende Position der »Tradition« oder des »Erworbene[n]« – hier spezifisch in der Form eines überkommenen Weiblichkeitsentwurfs – in den Raum: Christas Mutter erscheint hier als »Weltdame par excellence«, der es wichtig ist, »zu den oberen Zehntausend zu gehören«. Im Gegensatz zu ihr zeichnet sich die junge Christa durch »grüblerische[n] Erkenntnisdrang« aus,123 und Dohm deutet in der Lektüre des jungen Mädchens – Nietzsche und Tolstoi ‒ die beiden Leitgedanken an, die ihre weitere Entwicklung beherrschen werden: Individuierung und Altruismus. Die nach Brinker-Gablers Modell notwendige kritische Überprüfung neuer Modelle der Gegenwarts- und Zukunftgestaltung wird in der Folge bei Dohm mithilfe der Zeichnung von Nebenfiguren – hier in erster Linie Christas Freundinnen – als Träger alternativer, aber letztlich scheiternder Formen des Aufbruchs geleistet und anhand des als beispielhaft gezeichneten Lebenswegs ihrer Protagonistin. Leitendes Strukturprinzip dieses Lebenswegs ist die stationenhafte Darstellung von Christas Beziehungen zu zwei Männern124 – dem Typus des »Zerstörers«, dessen Ideen die Philosophien Nietzsches und Max Stirners reflektieren, und des Propheten oder »Schöpfers«, der, »[h]alb Priester, halb || 121 Dohm, [Selbstanzeige von] »Christa Ruland« (wie Einleitung, Anm. 44). Wieder geht der Begriff des Übergangsgeschöpfs auf Haeckel zurück. Zu Dohms Haeckel-Rezeption vgl. Susanne Balmer: Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter. Köln: Böhlau 2011‚ bes. S. 332–336. 122 Brinker-Gabler, Perspektiven des Übergangs (wie Einleitung, Anm. 25), S. 170. 123 Hedwig Dohm: Christa Ruland. Berlin: S. Fischer 1902, S. 2, 10 und 17. 124 Vgl. hierzu Pailer, Schreibe, die du bist (wie Anm. 117), S. 135.

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Erzengel, in jedem Fall Übermensch«, als positive Leitfigur gezeichnet ist, von dessen »fromme[r] Gier« und »phantastische[m] Denke[n]« die Protagonistin sich aber letztlich auch distanziert.125 Ist die Lösung von dieser »Schöpfer«figur gelungen und sind damit von Männern formulierte zeitgenössische philosophische Leitideen aus Frauensicht »kritisch überprüft« und als nur begrenzt befolgbar befunden worden,126 steht die Protagonistin, nun auf sich selbst gestellt, vor der Entscheidung über ihren weiteren Lebensweg. Hier dient die Begegnung mit einer Kindergruppe als Katalysator für den Aufbruch in eine neue, unabhängige, der Gesellschaft zugewandte Lebensstufe: Christa beschließt nach einer Begegnung mit Kindern aus einem Erholungsheim, sich der sozialen Arbeit zu widmen. Dieses Ende kann durchaus als »Versöhnung zwischen Individualismus und Altruismus« gelesen werden, wie ein Einblick in Christas Gedanken dem Leser nahelegt.127 Allerdings hat Christa sich den ganzen Roman hindurch als unzuverlässige Erzählerin erwiesen, die ihre theoretischen Erkenntnisse gegenüber – tatsächlich nie vollzogenen – Handlungen überbewertet. Eine Freundin z. B. kritisiert Christas optimistische Selbsteinschätzung als »Kommende«, wenn sie ihr zu verstehen gibt, sie sei doch wohl weniger »Kommende« als allenfalls nur »Hinkende«.128 Insofern lässt Dohm offen, inwieweit dieser neue Versuch der Lebensgestaltung erfolgreich sein wird. Keine solche Unsicherheit findet sich bei Meisel-Hess. Olga ist schon zu Beginn des Romans als engagierte Frauenrechtlerin charakterisiert, sie lebt also die von Christa noch gesuchte Verbindung von Selbstwerdung und Altruismus; ihre Entwicklung ist ein Prozess des Überwindens von Schwäche und der Bewusstwerdung und Stärkung ihrer Persönlichkeit, die zur Weiterführung ihres gesellschaftlichen Einsatzes führt. Doch um diesen Prozess der inneren Festigung zu schildern und Olgas Stellung nicht als Suchende oder »Hinkende«, ja nicht einmal nur als »Kommende« zu schildern, sondern als Vorreiterin, die »dem Leben der Zukunft die Wege« weist, bedient sich Meisel-Hess bis ins Detail eben der Strukturen, die Dohm neun Jahre zuvor vorgezeichnet hatte.

|| 125 Dohm, Christa Ruland (wie Anm. 123), S. 293, 265 und 308. 126 Vgl. Pailers Beobachtung, dass Dohm im verfremdeten Zitat Nietzsches ‒ sowie auch Goethes ‒ »das Menschenbild, das die beiden Autoren vertreten, aus Frauensicht kritisch überprüft«. Pailer, Schreibe, die du bist (wie Anm. 117), S. 15. Vgl. hierzu auch Hedwig Dohms Aufsatz »Nietzsche und die Frauen«, in dem sie ihn als »geniale[n], erschütternde[n] Dichter« und »glühende[n] Denker« beschreibt, dessen Aussagen über Frauen sie jedoch mit »Bestürzung, Schmerz, tiefe[m] Erstaunen« gelesen habe. Hedwig Dohm: Nietzsche und die Frauen. In: Dohm, Die Antifeministen (wie Anm. 118), S. 20–33‚ hier S. 24. 127 Dohm, Christa Ruland (wie Anm. 123), S. 310. 128 Ebd., S. 87.

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Analog zu Dohms Kontrastierung Christas mit ihrer Mutter skizziert MeiselHess im Anfangskapitel der Intellektuellen den Charakter von Olgas Tante Edda Diamant als Wiener »Dame« und »höchste[s] Zuchtprodukt europäischer Höflichkeit« (I, 374). Edda leidet unter Müdigkeit, Trägheit und Apathie; sie kann sich ihrer Unfreiheit und »der Gefangenschaft ihrer Zimmer« nicht entziehen (I, 10). Diese geradezu als Typus weiblicher Dekadenz geschilderte Figur dient nicht nur dazu, kontrastiv die intellektuelle Aktivität und Energie Olgas zum Leuchten zu bringen, sondern sie belegt auch die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Menschen auf eine neue Evolutionsstufe – das Hauptanliegen des Buchs. So wie Dohm an Christas Freundinnen Möglichkeiten von Lebensformen durchspielt, die sich zwar gegen Tradition und wilhelminische Konvention wenden, sich aber letztlich entweder aufgrund einer zu »radikale[n] Negation der männlichen Kultur«129 oder einer zu unkritischen Idealisierung männlicher Vordenker als unergiebig oder fehlgeleitet herausstellen,130 weist Meisel-Hess scheiternden Nebenfiguren eine ähnliche Rolle zu: die kalt-intellektuelle, jedem »weiblichen Gefühl« entfremdete Lucinda (vgl. I, 435) ist hier vor allem wichtig, da sie mit ihrer Überbetonung des Intellekts Meisel-Hess’ Ideal der Ganzheit als Balance von Vernunft mit einer »neue[n], in sich selbst wurzelnde[n] Weiblichkeit« (I, 106–107) entgegensteht. Wie Dohms Christa, so durchläuft auch Olga einen Entwicklungsprozess über die stationenhaften Beziehungen zu zwei Männern gegensätzlichen Typus. Ähnlich Dohms Frank Richter, der als »Prototyp der Zerfahrenheit unserer Zeit« erscheint und Christa mit den Philosophien Nietzsches und Stirners bekanntmacht,131 ist Meisel-Hess’ Werner ein Individualist, der jegliche Einbindung in die Gesellschaft ablehnt (I, 147); ein Zerrissener, ein zwischen Trieb und Askese Schwankender. Wo Christa aber Schülerin bleibt, die die männliche Belehrung aufnimmt, hat Olga sich aus der hierarchisierenden Struktur traditioneller Geschlechterbeziehungen gelöst. Olga muss nicht erst auf Lektüre hingewiesen werden, neue Denkweisen müssen ihr nicht erschlossen werden. Sie ist intellektuell selbstständig, Journalistin und Rednerin im Frauenbund, wo sie als klare, »phrasenfrei[e]« und beeindruckende Sprecherin glänzt (I, 173). In Diskussio-

|| 129 Pailer, Schreibe, die du bist (wie Anm. 117), S. 117. 130 Das sexuell freizügige Leben der Künstlerin Anselma beispielsweise endet in Wahnsinn und Selbstmord, und die Nietzsche-Jüngerin Julia gerät, »vernachlässigt« und »verwildert«, »auf abschüssige Bahn«. Dohm, Christa Ruland (wie Anm. 123), S. 250. 131 Ebd., S. 155.

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nen bringt sie ihre eigene – spezifisch weibliche ‒ Perspektive ein.132 Der Bezug auf den monistischen Begriff der Ganzheit ist hier wieder zentral, denn er erlaubt es Meisel-Hess, ihre Olga in der Beziehung zu Werner sogar als die Überlegene darzustellen: Als »Ganze« verbindet sie Intellekt mit weiblicher Ruhe und Sicherheit‚ während der einseitig intellektuelle Werner an seinem »überhetzte[n] Gehirn« leidet (I, 149). Auf diese Weise dreht Meisel-Hess hier das traditionelle hierarchische Gefälle auf effektive Weise um. Olgas Trennung von Werner ist als Schlüsselszene des Romans zu begreifen. Zum einen bedeutet sie, wie das Modell Dohms es vorgibt, die Lösung von einem Partner, der trotz aller Fortschrittlichkeit seines philosophischen Denkens letztlich doch noch den überkommenen Ansichten über die untergeordnete Rolle der Frau verhaftet ist: Wenn Werner – mit Nietzsche – Frauen die Fähigkeit moralische Probleme zu erörtern abspricht (vgl. I, 292), wird die Beziehung für Olga unhaltbar.133 Die implizierte Kritik an Nietzsches Denken ist hier – wie auch bei Dohm – offensichtlich, und sie ist im Umfeld der Frauenbewegung eher ungewöhnlich. Denn viele Autorinnen gerade des radikaleren Flügels der Bewegung feierten Nietzsche als Befreier von Konventionen und überlebten Moralvorstellungen134 und spickten ihre Texte mit Zitaten und Anspielungen auf sein Werk – Meisel-Hess’ eigener früher Roman Die Stimme ist ein gutes Beispiel hierfür. In den Intellektuellen jedoch lässt sie deutlich erkennen, dass ‒ trotz der wegweisenden Bedeutung Nietzsches ‒ ein Gedankengebäude, das Frauen die intellektuelle und ethische Urteilskraft abspricht, für

|| 132 In einem Gespräch über die Fähigkeit zur Liebe zum Beispiel hebt sie im Gegensatz zu ihrem Bruder Stanislaus und zu Werner, die die Selbstliebe und die Liebe zur Gattung betonen, die Notwendigkeit »für die Frau« hervor, ihren »weiblichen Dienst[…]« zu erfüllen, »denn dieser Dienst«, so fährt sie in Anspielung auf die Mutterschaft fort, »ist Notwendigkeit, ‒ und nicht nur für die Gattung, ‒ auch für sie selbst« (I, 157). 133 Vgl. hierzu die rasante Talfahrt klischeegetragener Diskursfetzen, die den Bruch zwischen Dohms Christa und Frank Richter herbeiführt: »Und er murmelte, immer lächelnd, noch etwas von Amazonenschlachten, von Brunhildens Ringen mit Siegfried, vom Charme des Doktorhuts, von der Entweiblichung durch die Emanzipation, bis er schließlich glücklich bei der unveräußerlichen Natur des Weibes als Gebärerin anlangte.« Dohm, Christa Ruland (wie Anm. 123), S. 270. 134 Vgl. Barbara Helm: Combating Misogyny? Responses to Nietzsche by Turn-of-the-Century German Feminists. In: The Journal of Nietzsche Studies 27, Spring 2004, S. 64–84 (http://muse. jhu.edu/journals/journal_of_nietzsche_studies/v027/27.1helm.html [28.12.2015]). Für die besondere Beachtung der Aufnahme Nietzsches durch die Vorsitzende des Bunds für Mutterschutz, Helene Stöcker, vgl. Thomas, Nietzsche in German Politics and Society (wie Einleitung, Anm. 59); Schlüpmann, Nietzsche-Rezeption in der alten Frauenbewegung (wie Anm. 24).

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diese nur bis zu einem gewissen Grad als Richtlinie des Denkens und der Entwicklung maßgeblich sein kann.135 Noch ein anderer Grund steht hier jedoch für die Abwendung von der Philosophie Nietzsches und von Werner, deren Vertreter im Romangebäude, im Vordergrund: In Übereinstimmung mit ihrer post-darwinistischen Weltanschauung stellt Meisel-Hess die Beziehung Olgas zu Werner als Schwäche und Fehltritt dar, als Rausch der Sinne, der Vernunft und Instinkt ausschaltet. Ausschlaggebend für die Verbindung sind zunächst die »begierlichen Wünsche« des Mannes – sowie auch Olgas eigenes Verlangen: […] auch sie hatte Wünsche: ‒ einschläfern, was immer wach lag, sich durchdringen lassen mit jenem köstlichen Frieden der halben Betäubungen, den ihr einmal, als sie schwer krank gelegen, das Morphium gebracht, ‒ zum Schweigen bringen, alles – was nicht lügen konnte, ‒ alle diese gesprächigen Zellen ihres so wahrhaftigen Leibes […]! (I, 219)

Der Geschlechtstrieb, an anderer Stelle als »Zaubergeranke« apostrophiert (I, 332), stellt sich hier als »elementarische[…], dämonische[…] Naturmacht« dar, »die, wie Meisel-Hess 1917 in Die Bedeutung der Monogamie formuliert, »mehr wie jede andere, der bewussten Fesselung und Lenkung bedarf«.136 Diese negative Einschätzung freier Sexualität hat nichts mit dem dominanten moralisierenden wilhelminischen Diskurs zu tun, der das destabilisierende Potenzial der Sexualität im Rahmen fest umschriebener Sittlichkeitsnormen einzudämmen sucht. Denn nicht gesellschaftlich etablierte Moralvorstellungen werden hier im Rausch körperlicher Anziehung »zum Schweigen gebracht«, sondern die »gesprächigen Zellen ihres so wahrhaftigen Leibes«. Das biologistische Vokabular verweist auf den im Körper wurzelnden Instinkt. Und Instinkt ist, wie die Figuren der Geneviève und Lore zeigen, für Meisel-Hess unauflöslich mit dem »Drang« nach der »Erhaltung der tauglichen Arten« verknüpft. Besonders deutlich wird diese Verknüpfung in der Gegenüberstellung von Olgas Erlebnis und Lores sexuellem Verhalten: Lores Hingabe ist als Erfüllung »der Bestimmung

|| 135 Ganz ähnlich wendet sich auch Meisel-Hess in der »Berichtigung« eines Artikels in der Zeitschrift Der Weg über ihren Vortrag »Für und Wider die Ehe« dagegen, Nietzsches Schriften als Fundament für theoretische Auseinandersetzungen zu benutzen. Als Grund führt sie die »Widersprüche« in seinen Aussagen über »das Weib« an. Grete Meisel-Hess: Berichtigung. In: Der Weg 3 (1911), Sp. 772–773, hier Sp. 773. Vgl. auch Grete Meisel-Hess: Generationen und ihre Bildner. Berlin: Dr. John Edelheim 1901, S. 14–16. 136 Meisel-Hess, Vorwort (wie Anm. 105), S. VII.

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[ihres] fruchtbaren Leibes« gezeichnet, und damit eben gerade als Verhalten, dem »nichts ferner [lag], als sich in einem ›Rausch‹ zu ›vergessen‹« (I, 242).137 Olga gibt sich der rauschhaften Liebesbegegnung zwar hin, erkennt sie aber sogleich als Fehltritt und bricht die Beziehung zu Werner ab. Statt der »Vergessenheit« und »Verwirrung«, die diese ihr bedeutet (I, 191), will sie auf den »einzigen Genossen« warten, auf den »›Zugedachten‹« (I, 189). Diese Formulierung steht zwar in verwirrender Nähe zum romantischen Liebesdiskurs und zum deterministischen Denken der Negativfigur Lucinda – gemeint ist jedoch Olgas Vertrauen auf die instinktive ‒ und im eugenischen Sinne als gesund zu bezeichnende – Sehnsucht nach Vereinigung mit »[e]inem Heilen, einem Ganzen, einem glücklichen Starken« (I, 191). »[D]as war die Sehnsucht«, so schreibt Meisel-Hess, »von der ihre stillste Stimme sprach. Und dieser Stimme galt ihr bewußter Verzicht« (I, 191). Insofern ist R. Hinton Thomas’ Interpretation Olgas als Personifizierung des nach Nietzsche definierten dionysischen Elements der Persönlichkeit zu widersprechen.138 Für Meisel-Hess ist, wie z. B. ihre Darstellung der Edda Diamant zeigt, ein gesundes Sexualleben durchaus wichtig,139 im Zentrum ihres Denkens steht aber nicht eine Ideologie persönlicher Befreiung und der Erhöhung der Lebensfreude in der Nachfolge Nietzsches, sondern die im eugenischen Sinne verantwortliche Triebregulierung und das Vertrauen auf die darwinistische Logik der evolutionären Natur.140

|| 137 Vgl. hierzu Susanne Omran: Weib und Geist um 1900. Intellekt, Rasse und Instinkt in den Schriften von Grete Meisel-Hess. In: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie 10.19 (1999), S. 11–35. 138 Thomas, Nietzsche in German Politics and Society (wie Einleitung, Anm. 59), S. 86. 139 Edda leidet unter eben jenem »Energieentzug«, über den Meisel-Hess unter Verweis auf Freud schon 1909 in Die sexuelle Krise schrieb, er sei ein »Manko an der notwendigen Elektrizität, die der Körper braucht, um seine Tatkraft zu behalten.« Dass diese Elektrizität sexuellen Ursprungs ist, erläutert sie wenige Seiten später: »Prof. Freud führt aus, daß Neurosen und Psychosen sich notwendig einstellen müssen bei mangelnder sexueller Befriedigung […].« Meisel-Hess, Die sexuelle Krise (wie Anm. 15), S. 396 und 400. 140 Hier deutet sich ein Unterschied zwischen den von Meisel-Hess und von Helene Stöcker vertretenen Einstellungen zur weiblichen Sexualität an. Stöcker blieb der Philosophie Nietzsches stärker verhaftet, und die von ihr formulierten Richtlinien des Bunds für Mutterschutz postulierten noch 1922 an zentraler Stelle: »für den Menschen [ist] ein seinem Wesen und seinen Bedürfnissen entsprechendes Sexualleben Vorbedingung innerer und äußerer Lebensharmonie«. ›Richtlinien‹ in: Hamelmann, Helene Stöcker (wie Anm. 18), S. 218. Diese Distanz sollte in den Folgejahren immer spürbarer werden: 1916 vertritt Meisel-Hess in Das Wesen der Geschlechtlichkeit die Ansicht, »daß erotisches Glück ohne Ausschließlichkeit, ohne daß das Verhältnis ein durch und durch monogames ist und bleibt – nicht zu denken ist« (Meisel-Hess,

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In Manfred Wallentin findet Olga, gewissermaßen im nächsten Entwicklungsschritt, die Dohm’sche »Schöpfer«figur. Unter Rückgriff auf dieselbe Metaphorik des Lichtes, der Helligkeit und des Glanzes, die Dohm verwendet,141 zeichnet Meisel-Hess Manfred als Propheten, dessen Einfluss auf Olga inspirierend und wegweisend bleibt – auch nachdem er statt ihrer die weibliche Idealfigur Geneviève zur Partnerin erwählt. In Bezug auf die Romanstruktur stellt diese Apotheose Manfreds allerdings ein Problem für die Autorin dar, denn will sie ihre Protagonistin die letzte Stufe der Selbstfindung und Unabhängigkeit erreichen lassen, muss dies eine Lösung von Manfred voraussetzen. Um diese zur Darstellung zu bringen ohne sich von der Idealfigur zu distanzieren, bleibt der Autorin nur der sehr ungeschickte Kunstgriff eines plötzlichen Unfalltods Manfreds. Der Rezensent des Deutschen Literaturblatts, Eduard von Mayer, hofft, in dieser erzählerischen Wendung möge eine Prise »Selbstironie« der Autorin zu sehen sein,142 diese liegt ihr jedoch fern. Meisel-Hess zieht die didaktische Eindeutigkeit dem dialektischeren Verfahren Dohms vor – auf Kosten der literarischen Qualität. Wie bei Dohm, so kündigt auch in den Intellektuellen die Begegnung der Protagonistin mit einer Kindergruppe den Abschluss ihrer Entwicklung an. Inspiriert von Kindern, die ein Frühlingslied singen (»das Lied der Jugend, ‒ der wachsenden Zukunft«; I, 509), spricht Olga ihren Verzicht auf persönliches Glück aus und bekräftigt ihre Rolle als Rednerin im Dienst gesellschaftlicher Reform – und der Zukunft der Nation. Die strukturellen Parallelen der Entwicklungswege von Dohms und MeiselHess’ Protagonistinnen sind offensichtlich. Ebenso offensichtlich sind aber auch die veränderten Inhalte, die diese Strukturen transportieren. 1913 bemän-

|| Vorwort [wie Anm. 105], S. IX). Karl Jentsch kommentiert in seiner Rezension des Buchs in Die Zeit: »Der Ausleberummel der Pseudo-Nietzscheaner ist, wie das im Wechsel der Zeiten zu gehen pflegt, vom Rigorismus abgelöst worden. Die Strengste der Strengen ist Grete Meisel-Heß […].« Karl Jentsch: Vom höllischen Eros. In: Die Zeit, 25. November 1916. 141 Vgl. die folgenden Verweise auf Daniel Rainer in Dohms Christa Ruland: »Ein Lichtstrahl traf ihre gesenkten Augen. Sie blickte auf. Die Sonne! […] Weißer Glanz. […] Und es war eine Gedankenverbindung, die aus diesem weißen Glanz ein anderes Bild von weißem Glanz in ihre Seele rief […]: sie dachte an Daniel Rainer.« (S. 287) Siehe auch: »In seinen Zügen war priesterlicher Glanz« (S. 288); »Er sah sie hell an« (S. 289); und: »ein Typus reiner Menschenschönheit« (S. 289). Im Vergleich dazu hebt Meisel-Hess in den Intellektuellen die folgenden Merkmale Manfreds hervor: »das blond-silberne Haar, – dieses Leuchten um den Mund« (I, 413) und »die blauen, tiefen Lichtaugen« (I, 411). 142 Eduard von Mayer: [Rezension von] »Die Intellektuellen«. In: Deutsches Literaturblatt 2 (1912), 1. Oktober 1912, S. 11–12, hier S. 12.

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gelte Wally Zepler in den Sozialistischen Monatsheften, Hedwig Dohm sei ihren Leserinnen die »neue Frau der jungen Generation, die [sie] uns geben wollte, […] schuldig geblieben«.143 Das ist sicher richtig: Dohm schildert die geistige Entwicklung der Protagonistin als ein Vorantasten, immer begleitet von Unentschlossenheit und Schwäche.144 Der Gestus des Suchens bleibt in der Gestaltung ihrer Christa vorrangig. Bei Meisel-Hess steht neun Jahre später die Suche nach der richtigen Lebensphilosophie nicht mehr im Vordergrund. Ihre Protagonistin ist sich ihrer Aufgabe von Anfang an bewusst. Dohms Christa »will[] […] Volksrednerin werden«,145 Meisel-Hess’ Olga ist Rednerin im Dienst der Frauenbewegung. Insofern lässt Olgas Weg sich als Fortführung der Entwicklung Christas lesen, in gewisser Weise sogar als Abschluss ‒ als fiktionale Einlösung des zitierten Geburtstagsgrußes: »Nun sind sie da, für die du gekämpft«. Doch macht Meisel-Hess von Dohms struktureller Vorlage auch Gebrauch, um deren Gedankenführung auf subtile aber entscheidende Art auf andere Gleise bringen. Diese Richtungsänderung wird unter anderem an den Diskursen der Zerrissenheit – oder Zersplitterung ‒ und der Ganzheit deutlich: Christa fühlt – in Anlehnung an Goethe – »mindestens ein dutzend Seelen in [der] Brust«. »Es ist nicht leicht«, sagt sie, »zu wissen, wohin man laufen möchte!«146 Und in der Zeitschrift Die Zukunft beschreibt Dohm ihre Protagonistin als »Frau, die sich auseinanderlebt, statt sich auszuleben, die sich kometenhaft zersplittert«.147 Die Überführung der Zersplitterung in die Ganzheit führte also, folgt man Dohms Darstellung, zum Abschluss der Suche, zur Entscheidung für einen Weg und sein selbstbewusstes Beschreiten. Dieser Begriff der Ganzheit ist aber mit jenem, den Meisel-Hess als Schlüsselbegriff verwendet, nicht identisch. MeiselHess interpretiert Ganzheit, wie gezeigt wurde, in spezifischer Ausrichtung als Verbindung von Intellekt und Instinkt, bzw. Intellekt und Weiblichkeit ‒ eine

|| 143 Zepler, Hedwig Dohm (wie Anm. 119), S. 1298. 144 Dohm selbst beschreibt Christa in der Verlagsanzeige zur Erstpublikation als »Vertreterin einer Generation von Leidende[n], an sich Vergehende[n], die sich von Gott und Religion losgesagt haben und mit frommer Gier in sich ein neues Wesen suchen«. Dohm, [Selbstanzeige von] »Christa Ruland« (wie Einleitung, Anm. 44). 145 Ebd., S. 40. 146 Ebd., S. 143. Christas Freundin Julia beschreibt sie mit den Worten: »Etwas blaublumige Romantik, etwas Iphigenie mit dem dazugehörigen Tempelhallen. […] Und für Mystik bist du, und Häckels Welträtsel gefallen dir auch, und an die Abstammung des Menschen vom Affen glaubst du.« (S. 38) 147 Ebd.

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Interpretation, die so nicht bei Dohm angelegt ist. Das Konzept der Ganzheit bietet also gewissermaßen eine Pfropfstelle, an der Meisel-Hess ihr eigenes Denken (fast) nahtlos an dasjenige Dohms anbinden kann. Teil dieser als Ideal figurierten Ganzheit ist in Meisel-Hess’ Gedankengebäude eine wiederzuerlangende Weiblichkeit – und eine Aufwertung der Mutterschaft. Wo Dohms Christa den Gedanken, »dass in der Mutterschaft des Weibes Dasein wurzle«, als »fixe Idee« einer vergangenen Zeit abtut148 und wo Dohm auch anderenorts aus Sorge davor, die Frau auf ihre biologische Funktion reduziert zu sehen, die Existenz des »Muttertriebs« rundweg ablehnt,149 ist Mutterschaft – in Verbindung mit Individuierung (!) – bei Meisel-Hess zentral, nicht nur für die individuelle Entwicklung der Frau, sondern als sozialpolitisches Programm für die Gesellschaft als Ganze: »Es schien [Olga]«, so schreibt sie, als bedürfte es einer sozialen Gestaltung, die vor allem mit dem Muttertum rechnete. […] Der Kern der ganzen Frage lag für sie in dem noch ungelösten Problem einer Vereinigung des der Frau, insbesondere der Mutter, notwendigen Schutzes mit der ihr ebenso notwendigen Freiheit der Selbstbestimmung. (I, 134–135)

Die individuelle Suche nach weiblicher Selbstbestimmung, das Hauptanliegen Dohms und Inhalt der Bestrebungen des »Übergangsgeschöpfs« Christa, ist in Meisel-Hess’ Intellektuellen in einen anderen, erweiterten Übergangsbegriff verlagert: nämlich einen, der die geistige Emanzipation der Frau schon für gegeben ansieht und auf sie aufbaut. In Meisel-Hess’ Text geht es, mit anderen Worten, um die nächste Phase gesellschaftlicher Erneuerung, um die gesamtgesellschaftliche Bemühung, auf der Grundlage einer naturwissenschaftlich begründeten Ethik einen weiteren Schritt in der »Aufwärtsentwicklung« des Menschen zu gehen. Um die Ausrichtung von Meisel-Hess’ Modell des Entwicklungsromans genauer zu fassen, ist es hilfreich, noch einmal auf Friedrich Alafbergs Vergleich zwischen der Protagonistin Olga und dem Goetheʼschen Wilhelm Meister zurückzukommen. Zweifellos lassen sich wichtige Parallelen in der Konstruktion der beiden Figuren sehen – der »exemplarische Charakter« und der Lern- und Reifungsprozess über »Irrtümer« und Fehler hin zur Selbstfindung ist grundlegend für beide. Goethe stellt jedoch Wilhelms Wandlung als Prozess der Eingliederung in die Gesellschaft dar, als Überwindung des »Bruch[s] zwischen idealer-

|| 148 Ebd., S. 312. 149 Vgl. Hedwig Dohm: Der Muttertrieb. In: Hedwig Dohm: Die Mütter. Beitrag zur Erziehungsfrage. Berlin: S. Fischer 1903, S. 4–24.

4.2 Literatur im Dienst einer naturwissenschaftlichen Ethik | 171

füllter Seele und widerständiger Realität«, wie Jürgen Jacobs formuliert.150 Olga dagegen ist sich ihrer Bestimmung, aktiv zur gesellschaftlichen Erneuerung beizutragen, von Anfang an sicher. Ihr »Irrtum« liegt nicht in einer »hochfliegende[n] Überforderung der Realität« begründet,151 sondern betrifft vielmehr ihre mangelnde Beachtung des Instinkts; und der Abschluss ihrer Entwicklung liegt nicht in der Annahme einer »pflichtmäßigen Tätigkeit«,152 sondern in der Akzeptanz des persönlichen Verzichts; ihr gesellschaftliches Engagement hat nie in Frage gestanden. Dementsprechend spielt auch ihr »Kampf« »mit den harten Realitäten der Welt«, den Wilhelm Dilthey 1906 als eine Kernkomponente des Bildungsromans identifizierte, hier nur eine sehr untergeordnete Rolle.153 Ein »Spannungsverhältnis[] zwischen Ich und Anforderung der Umwelt«154 wird in den Intellektuellen zwar geschildert: Olga erfährt die Enge des provinziellen Heimatorts und die erdrückende Bürgerlichkeit Wiens als Begrenzung und Hindernis – und hierauf wird im Folgenden näher einzugehen sein ‒, vom Kampf der Protagonistin um die Befreiung aus diesen Widrigkeiten der Umwelt ist jedoch nur wenig die Rede. Der Vater ermöglicht ihr den Aufenthalt in Wien, unterstützt sie auch weiterhin nach ihrem Umzug nach Berlin und ermöglicht ihr regelmäßige Besuche in der Geburtsstadt. Der Umzug nach Berlin wird außerdem von Olgas Bruder Stanislaus sorgend vorbereitet, und Aufträge publizistischer Arbeit und Engagements als Rednerin fallen ihr geradezu in den Schoß. Die Kämpfe, die Olga auszutragen hat, sind vielmehr Kämpfe der Erkenntnis über das Verhältnis von Persönlichkeit und Sexualität. Ihr erstes Liebesverhältnis mit einem polnischen Offizier (über das nur knapp im Rückblick berichtet wird) beendet sie nach schwerem inneren Ringen durch Einsatz ihrer Vernunft, als sie den Geliebten als unbeherrschten Spieler erkennt; das zweite

|| 150 Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München: W. Fink 1972, S. 272 und 271. 151 Ebd., S. 272. 152 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hg. von Erich Trunz. Hamburg: Christian Wegner 1962, S. 493: »Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen; denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern.« 153 Wilhelm Dilthey: Friedrich Hölderlin. In: Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 330–440, hier S. 374. 154 Vgl. Giesler, »… wir Menschen alle sind Palimpseste …« (wie Anm. 117), S. 91.

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Liebeserlebnis ‒ mit dem »[u]mhergetriebenen« Intellektuellen Werner Hoffmann (I, 191) ‒ lehrt sie, die rauschhafte Gefahr des Sexualtriebs zu erkennen, und schließlich muss sie der wahren, instinktgeleiteten Liebe zu Manfred Wallentin entsagen, als dieser sich Geneviève zuwendet. Dies ist Olgas letzte »Prüfung« (I, 470), und sie führt sie zum Endzustand eines Ausgleichs, der nicht als Ausgleich von Selbst und Gesellschaft konfiguriert ist sondern vielmehr als innerer Ausgleich der in sich gefestigten Persönlichkeit. Vernunft – Triebregulierung und Vertrauen auf Instinkt – das Überwinden des selbstbezogenen Liebesleids und die Bereitschaft zur Selbstständigkeit: dies sind die Leitprinzipien, die in den entscheidenden Kämpfen der Entwicklung Olgas den Sieg davontragen. Diese Entwicklungslinie spiegelt weniger den Lebens- und Bildungsweg Wilhelm Meisters als eine monistisch definierte Persönlichkeitsentfaltung, wie Meisel-Hess sie im Jahr der Veröffentlichung der Intellektuellen in einem Aufsatz in der Aktion beschreibt: eine Entfaltung, die über die »Synthese der seelischen Kräfte« aus der »Keimzelle« der Individualität, deren Kräfte sich »durchkreuzen und zersplittern«, »eine einzige harmonisch ineinandergreifende organische Einheit macht«.155 Der entscheidende Punkt, so führt sie hier aus, an dem aus der Individualität eine »Persönlichkeit« wird, ist »jene[r] Schnittpunkt, an dem der betreffende Mensch sich über sein Triebleben klar wird«. Deutlich scheint der Einfluss dieses monistischen Rahmens in der Schilderung des auf Erfahrung baufbauenden Lernprozesses auf, den Olga nach ihrer Begegnung mit Werner Hoffmann durchläuft – also dem »Schnittpunkt«, an dem [sie] sich über [ihr] Triebleben klar wird«. Versucht sie zunächst, das Erlebte auf rein vernunftorientierter Basis zu verarbeiten und zu überwinden, so treibt das einseitig rationale Vorgehen sie jedoch immer tiefer in die Verzweiflung (vgl. I, 303). Erst Stanislaus’ Aufrufen des post-darwinistischen Vertrauens in die »logische Notwendigkeit unseres Erlebens« (I, 330), die jegliche Erfahrung als notwendige Grundlage für Weiterentwicklung versteht, hilft ihr, sich mit dem Erlebten zu versöhnen. Auf diese Weise verknüpft Meisel-Hess ihr weltanschauliches didaktisches Projekt mit der strukturellen Grundlage ihres Romans – und gibt ihm eine Form, die sich am zutreffendsten als die eines monistischen Entwicklungsromans beschreiben lässt.

|| 155 Meisel-Hess, Die Persönlichkeit (wie Anm. 31), diese und die folgenden Zitate: Sp. 296 und 297.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 173

4.3 Weiblichkeit und Judentum 4.3.1 Der Weg aus provinzieller ostjüdischer Enge in die Freiheit der Großstadt Meisel-Hess unterstützt den Entwicklungsweg ihrer Protagonistin durch deren räumliche Bewegung aus der (namenlosen) schlesischen Provinzstadt ihrer Kindheit heraus über Wien in das großstädtische Berlin. Sie beschreibt diese Ortsveränderung als Bewegung des Ausbruchs und der Befreiung aus der Enge des kleinbürgerlich-jüdischen Milieus, eine Anlage, die an Hauschners Familie Lowositz erinnert. Wo Camilla Lowositz aber an dem Versuch sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen scheitert, schildert Meisel-Hess Olgas Entfaltung in dem Freiraum, den das Leben in Berlin ihr gewährt, auf geradezu enthusiastische Weise. Das Bild Berlins entsteht dabei in doppelt kontrastiver Gegenüberstellung erstens zum Schauplatz von Olgas unglücklicher Jugend und zweitens zu Wien, der ersten Station ihres Ausbruchs. In der durchweg negativ angelegten Schilderung von Olgas Geburtsort, die uns nur in der rückblickenden Erzählung aus der Figurenperspektive präsentiert wird, verknüpft Meisel-Hess das kleinbürgerliche ostjüdische Milieu mit der bedrückenden Enge und Rückständigkeit der Provinzstadt. Sie beschreibt ungepflasterte Straßen, »wo der Fuß im nassen Kot einsank« (I, 84), und häuft in der Schilderung sowohl des Elternhauses als auch der Stadt Adjektive wie »dumpf«, »trüb«, »dunkel«, »düster«, »schwarz«, (I, 84–85). Es ist Olga, so lesen wir, »als hätte sie ihre ganze, junge Kraft gegen den Druck eines dunklen Schicksals stemmen müssen« (I, 84). Diese Schilderungen erinnern an diejenigen des jüdischen Viertels Prags in Hauschners Roman, und auch der Druck – die psychische Auswirkung dieser Umgebung – scheint das bei Hauschner geschilderte Gefühl der Gebundenheit ihrer jungen Protagonisten zu reflektieren. Meisel-Hess wendet jedoch ihre Kritik weniger gegen die patriarchalische Familienstruktur und die Tradition des Judentums als Hauschner. Der Vater, so heißt es, »lebte zwar ›rituell‹«, er hält aber die »›Bräuche[]‹, die noch seine Eltern mit eiserner Strenge befolgt hatten«, nicht mehr strikt ein (I, 86) ‒ die Anführungszeichen im Text verraten, wie weit die erwachsene Olga sich von der traditionellen jüdischen Lebensweise distanziert hat. Obwohl er der Bildung seiner Tochter wenig aufgeschlossen gegenübersteht, ermöglicht der Vater es ihr, dem scheinbar unausweichlichen Schicksalsdruck zu entkommen, wenn er ihr die Reise nach Wien finanziert, um die Auflösung ihrer unglücklichen Liebesbeziehung mit dem polnischen Offizier zu unterstützen.

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Meisel-Hess’ Protagonistin leidet vor allem an der geistigen Enge und dem zivilisatorischen Rückstand ihrer Geburtsstadt. Dementsprechend wird der Kontrast zwischen Klein- und Großstadt zunächst auf rein materieller Ebene geschildert: Berlin erscheint als Ort zivilisatorischen Fortschritts. Olga genießt die »breite[n] Trottoire«, »die Hoch- und Untergrundbahn«, die Ziergitter und »hängenden Riesenbuketts« am Tauentzien, der »eleganten Korsostraße des Westens« (I, 141), ebenso wie das heiße Wasser in der »blanke[n] Emaillewanne« ihrer Wohnung, die »elektrischen Flämmchen« der Heizung und das Telefon, »an dessen unsichtbaren Enden die Welt hing« (I, 241). Noch wichtiger aber ist die Betonung der geistigen Freiheit und der Möglichkeiten persönlicher Entwicklung und politischer Arbeit, für die Berlin in diesem fortschrittsorientierten Roman steht. Diese Aspekte stehen nicht nur in – selbstverständlichem – Gegensatz zu der schlesischen Kleinstadt, sondern werden vor allem im Kontrast zu der als Durchgangsstadium auf Olgas Weg fungierenden Stadt Wien entwickelt. Schon im ersten Kapitel des Romans klingt dieser Kontrast an, wenn Professor Diamant von der erweiterten »Aktionsfläche«, »Resonanz« und »Perspektive« spricht, die die »Weltstadt« dem »deutschschreibenden Schriftsteller« ermöglicht, der sich in Wien in die Bourgeoisie »eingekeilt« sieht (I, 43–44); und schon hier wird dieser erweiterte Spielraum auch als Verheißung für Olga als weibliche Intellektuelle formuliert: Auf ihre »mit gedrückter Stimme« vorgebrachte Klage, nirgends fühle sie sich »gepreßter« als in Wien, tröstet Stanislaus sie mit den Worten: »In Berlin ist das besser, […] das wirst du bald merken.« (I, 43) Olgas Ankunft in Berlin und ihre ersten Eindrücke der Stadt, deren Schilderung die ersten zehn Seiten des dritten Kapitels einnimmt, sind dementsprechend emphatisch als Vorgang der Befreiung geschildert. Der alliterativ evozierten gesellschaftlichen Enge, die Olga in Wien »bedrückt« hatte, der Empfindung, »beengt«, begrenzt«, »beobachtet«, »belächelt«, »belästigt[…]« und »begafft« zu sein (I, 133), steht ein mit der neuen Lebensstation Berlin assoziiertes Gefühl entgegen, das in der Häufung der Vokabel »frei« ihren Ausdruck findet. Dem Kapitel ist ein Schopenhauer-Zitat vorangestellt, das dieses Thema vorbereitet (»Freiheit ist eine kräftigere Herzstärkung als Tokayer«; I, 131) und das die Autorin auf geradezu explosive Weise vertieft: Olga ist bei der Bahneinfahrt nach Berlin »freier zumute«, sie erwartet, sich in Berlin »frei den Dingen zuzuwenden« und ihre »Willensgeister […] sich freier tummeln« lassen zu können – ja, sogar die Felder des Vorortes, durch den der Zug einfährt, werden als »frei« apo-

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 175

strophiert (I, 132).156 Die Ankunft in Berlin gleicht geradezu der Entladung eines Triebstaus: War Olga in Wien »[g]espannt, gequält, oft voll mühsam unterdrückter Ungeduld«, so ist diese Spannung nun gelockert, die Beengung »zerschlagen« (I, 132), und macht Bildern der Bewegung Platz, aufgerufen in den Verben »sich tummeln«, »regen« und »sich rühren« (I, 133). Das Gefühl der Befreiung ist inhaltlich als Kontrast zu Bindungen an schichtenspezifische Konventionen und an Normen weiblicher Lebensführung konzipiert, es ist aber auch mit der jüdischen Herkunft von Meisel-Hess’ Geschwisterpaar verknüpft. Denn was Kulturkritiker wie Karl Scheffler als Mangel an der gesellschaftlichen Kultur Berlins beklagen, ihr »Kolonialstadt«-Charakter, ist in den Augen der anderenorts aus der Gesellschaft ausgeschlossenen jüdischen Einwanderer gerade ihr Vorteil. Berlin sei noch immer, wie schon bei der Stadtgründung, ein Magnet für »energische, willensstarke, beutehungrige und freiheitsdurstige Menschen, erblose Söhne, Unterdrückte, Besitzlose und Solche, die zu Hause nicht im besten Ruf standen«, schreibt Scheffler.157 Eben diese Offenheit Berlins, die in den Intellektuellen mit den allzu festgefügten Strukturen Wiens kontrastiert wird, erlaubt es den Neuankömmlingen Stanislaus und Olga, mit Willenskraft und Energie ihren Weg zu gehen. Dieselbe Einschätzung finden wir wenig später auch bei Franz Kafka, der die »stärkende Wirkung von Berlin« lobt und diese »soviel bessere Stadt« dem »absterbende[n] Riesendorf« Wien entgegenstellt.158 Wiederholt ruft Meisel-Hess in der Schilderung Wiens und der Wiener antisemitische Einstellungen auf, so zum Beispiel wenn sie beschreibt, wie der Mediziner Diamant sich gegen die »Strömung« des Antisemitismus behaupten muss, um seine Professur zu erlangen (I, 53). Diese Darstellung wird sicher den Zuständen in Wien unter Bürgermeister Karl Lueger gerecht, der die Stadt von 1897 bis 1910 regierte. Im Gegensatz hierzu suggeriert Meisel-Hess mit vielfachem Verweis auf die kosmopolitische, weltstädtische Atmosphäre Berlins, dass die egalitär und liberal ausgerichtete Grundstimmung von Olgas neuer Wahl-

|| 156 Die kontrastiven Konnotationen von Gebundenheit und Freiheit werden im weiteren Romanverlauf auch auf die Wien und Berlin umgebenden Landschaften übertragen. In einem Traumbild stellt sich Olga die Schwüle und das Gestrüpp des Wiener Waldes im Gegensatz zur Klarheit, Weite und Erquickung der märkischen Landschaft entgegen (vgl. I, 305). In diese Bildlichkeit wird auch der Gegensatz von verstrickender Sexualität und klarem Instinkt verwoben. 157 Scheffler, Berlin – ein Stadtschicksal (wie Einleitung, Anm. 48), S. 20 und 21. 158 Franz Kafka: Brief an Grete Bloch, 8. April 1914. In: Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1964, S. 544–545, hier S. 545.

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heimat zumindest im Milieu der Intellektuellen – und in diesem bewegen ihre Protagonisten sich fast ausschließlich – von Antisemitismus frei ist. Dies mag man der Autorin als bewusste Blindheit oder mangelnde Sensibilität gegenüber sozialen Realitäten auslegen, Meisel-Hess steht jedoch in dieser Darstellung Berlins vor dem Ersten Weltkrieg als Heimat assimilierter und kosmopolitisch orientierter »wurzellose[r] intellektuelle[r] Großtstadtjuden« keineswegs allein: Auch Georg Hermann zum Beispiel, von dem diese Formulierung stammt,159 ein deutsch-jüdischer Autor, dessen Verbindung mit Berlin so eng war wie die kaum eines anderen, hat in seinem Roman Die Nacht des Doktor Herzfeld von 1912 eben diese Beheimatung geschildert. Der Vergleich mit Hermanns Nacht des Doktor Herzfeld eignet sich, um auf einen subtilen, aber dennoch wichtigen Unterschied hinzuweisen: Berlin wird hier als Heimat des Protagonisten beschrieben, Doktor Herzfelds persönliche Geschichte ist mit derjenigen Berlins fest verbunden;160 und diese Konstellation spiegelt die Beziehung des Autors Hermann zu Berlin, der sein Judentum explizit als ein »berlinisches liberales Weltjudentum« bezeichnet hat, »in der Denkund Redeweise stark verpreußt, ja verberlinert«.161 Meisel-Hess dagegen bezeichnet die Stadt als Olgas »Zuhause« (I, 510): nicht als »Heimat« im Sinne eines Umfeldes früher Sozialisation, Verwurzelung oder Grundlage ihrer Identität also,162 sondern als Ort der Ankunft und der Befreiung, der gewählten Behausung.163 Beide Autoren berufen sich jedoch auf die Idee einer Affinität von jüdischer Mentalität und Großstadt, wie sie – mit Einschränkung – auch in Croners Text über die ›moderne Jüdin‹ vertreten wird. Hermann führt diese Wesensverwandtschaft darauf zurück, dass die großstädtische Umwelt Gelegenheit

|| 159 Georg Hermann: Der deutsche Jude und das Großstadtproblem. Maschinenschriftliches Manuskript, o. J., Georg Hermann Collection, Leo Baeck Institute New York, Abteilung V, 9 Seiten, hier S. 4. 160 Vgl. Doktor Herzfelds Erklärung: »Am liebsten aber, alter Freund, gehe ich diese Straße deshalb entlang, weil ich die Bäume hier noch kannte, als sie nicht stärker als mein Arm waren […]. Und jetzt, wenn ich hier entlang gehe, dann habe ich das Gefühl, als hätte ich das alles mitgeschaffen.« Georg Hermann: Die Nacht [1912]. In: Georg Hermann: Doktor Herzfeld: Die Nacht / Schnee. Berlin: Das Neue Berlin 1997, S. 7–265, hier S. 28. 161 Georg Hermann: Antwort auf eine Umfrage zu der Bedeutung des Judentums für Charakter und Werk jüdischer Künstler. Zeitungsausschnitt, Georg Hermann Collection, Leo Baeck Institute New York, Abteilung V; ohne Herkunftsangabe. 162 Vgl. die Diskussion des Heimatbegriffs in Peter Blickle: Heimat. A Critical Theory of the German Homeland. Rochester/NY: Camden House 2002, S. 3–6. 163 Zum Begriff der Beheimatung als bewegliches und geographisch übertragbares Konzept gerade im Kontext weiblicher Narrative der Befreiung vgl. die Interpretation von Elisabeth Landaus Roman Der Holzweg in Kapitel 5 dieser Studie.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 177

biete, »sich nicht an den seienden Dingen begnügen zu lassen [sic], sondern über die seienden Dinge hinaus zu-schaffende-Möglichkeiten zu sehen«.164 Jüdische Herkunft oder Identität wird hier also mit intellektueller bzw. kreativer Energie und mit Reformwillen verknüpft, die in Berlin als »Hochburg geistigen Ringens« (I, 497) den ihr entsprechenden Raum finden.165 Doch geht der Begriff des »Zuhauses« in den Intellektuellen über diese mentale Affinität hinaus. In dieser Hinsicht weicht Meisel-Hess’ Schilderung der weiblichen Großstadterfahrung von derjenigen ab, die sie Stanislaus zuschreibt: Die Autorin gibt uns wenig Einblick in dessen persönliche Erfahrung der großstädtischen Umgebung, das Bild beschränkt sich auf die Möglichkeiten, die ihm die Stadt, die ihn zunächst »hart angefaßt« hatte (I, 25), als Denker, Forscher und Schriftsteller eröffnet. Olga jedoch entwickelt in der fördernden Umgebung Berlins ein Gefühl der »Geborgenheit in der Fremde der Großstadt« (I, 140). Die gedanklichen Bewegungen der Entfaltung und Aktivierung, die mit Berlin verbunden sind, werden so ergänzt durch das komplementäre Gedankenbild eines behüteten Umschlossenseins. Beide Aspekte laufen zusammen in der Darstellung des Kreises Gleichgesinnter, die auf das gemeinsame Ziel gesellschaftlicher Reform hinarbeiten. Dieser Kreis, in dem Olga einen »stark fließende[n] Strom verwandter Willenskräfte« spürt (I, 82), gibt ihr die »Zugehörigkeit« (I, 44), nach der sie verlangt. Diese Zugehörigkeit, nicht zu dem naturgegebenen Umfeld der Familie, sondern zu der frei gewählten und aktiv zu gestaltenden Verbindung »von Menschen, die nach ähnlichen Zielen ringen« (I, 44), ist ein Phänomen, das auch in zeitgenössischen soziologischen Studien als spezifische Ausbildung des ZuhauseSeins in der Großstadt beschrieben wird und das nicht in der Kohäsion, sondern eben in der Fragmentierung der Großstadt gründet. Robert E. Park, einer der Gründer der Chicago School of Sociology, erklärt 1915: The attraction of the metropolis is due in part […] to the fact that in the long run every individual finds somewhere among the varied manifestations of city life the sort of environment in which he expands and feels at ease; finds, in short, the moral climate in which his peculiar nature obtains the stimulations that bring his innate qualities to full and free expression.166

|| 164 Hermann, Der deutsche Jude (wie Anm. 159), S. 9. 165 Vgl. hierzu auch Marshall Berman: All That Is Solid Melts into Air. The Experience of Modernity. New York: Verso 1982, S. 146; und ausführlicher Bilski (Hg.), Berlin Metropolis (wie Einleitung, Anm. 23). 166 Robert E. Park: The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the City Environment. In: The American Journal of Sociology 20 (1915), S. 577–612, hier S. 608.

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Ganz in diesem Sinne kommt das »moralische Klima« des »Bunds« der Neuund Wahlberlinerin Olga entgegen. Ihre Zugehörigkeit definiert sich im Spannungsfeld von Fremdheit und Vertrautheit, und sie lässt eine Isolierung zu, die im Roman als Grundlage der Selbstwerdung begriffen wird. Stanislaus erklärt: »Berlin gibt unsereinem Zugehörigkeit – und doch auch wieder Isolierung, die frei aufatmen läßt, ‒ und darum, mit der Zeit, ‒ Gestalt.« (I, 43) Dabei wird dieses »freie Aufatmen« jedoch nicht oberflächlich-trivialisierend als stets und unumstritten wohltuend geschildert. Meisel-Hess schildert psychologisch einfühlsam, wie das Alleinsein sowohl als Freiheit als auch als Einsamkeit erfahren werden kann. Als selbstgenügsame Aktivität bewusst herbeigeführt, wird es als »fröhliches Gefühl« beschrieben, als Genuss (I, 139). Selbst der grundsätzlich negativ konnotierte Begriff der »Gleichgültigkeit« wird in diesem Kontext wertfrei verwendet, lediglich den Freiraum bezeichnend, der dem Einzelnen in der Großstadt gewährt wird (I, 133). Eine gewisse Härte wohnt dieser Begrifflichkeit selbstverständlich bei: »Rühre dich, werde oder vergehe, so spricht diese Stadt«, denkt Olga. Dem eingrenzenden Wiener Gebot des »friste dich« (I, 133) steht diese Mahnung jedoch grundsätzlich positiv gegenüber. Und doch leidet Olga in anderen Stimmungen unter der Einsamkeit der großen Stadt. Meisel-Hess bedient sich hier des Topos’ der Stadtbeschreibung als Spiegel der Emotionen ihrer Protagonistin. In gedrücktem Seelenzustand nach dem unbefriedigenden Liebeserlebnis mit Werner Hoffmann empfindet Olga »das große Berlin, dessen Gleichgültigkeit sie zuerst so deckend und schirmend empfunden hatte«, als »eine Wüste an Verlassenheit« und beklagt, was sie zuvor als »beruhigende Sachlichkeit« empfunden hatte, als »Mangel an Wärme« (I, 307). Damit greift Meisel-Hess sensibel eine der Grunddichotomien des großstädtischen Lebens auf, die Georg Simmel in den folgenden Worten so knapp und so treffend zusammengefasst hat: Es ist offenbar nur der Revers [der] Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, daß die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele.167

Bei Meisel-Hess ist das Gefühl der »Verlassenheit« in der großen Stadt jedoch weniger als existenzieller Zwiespalt des Großstädters geschildert ‒ wie dies bei Simmel der Fall ist ‒, als als Ausnahme, die die seelische Krise der Protagonistin spiegelt.

|| 167 Simmel, Die Großstädte (wie Einleitung, Anm. 47), S. 237.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 179

Insgesamt steht die positive Berlindarstellung in den Intellektuellen in auffallender Weise dem sonst in der zeitgenössischen Literatur dominierenden Bild der Großstadt als Inbild der Entwurzelung ihrer Bewohner, als Ort der Dekadenz oder oberflächlicher Gesellschaftlichkeit entgegen. Dies ist in erster Linie auf die Anlage der Protagonistin als jüdische Intellektuelle und Aktivistin in der sozialen Reformbewegung zurückzuführen, es ist jedoch auch im Kontext des weltanschaulichen und literarischen Programms der Autorin zu lesen. Im Gegensatz zu Else Croner zum Beispiel nimmt Meisel-Hess eine uneingeschränkt positive Haltung gegenüber der Moderne als Ausbruchsbewegung aus überkommenen Mustern ein, und anders als Hauschner geht sie nicht den Weg der Anklage bestehender Missstände, sondern der modellhaften Darstellung zukunftsweisender Lebensentwürfe. Neuromantische Vorstellungen der Selbstfindung im Einklang mit der Natur lehnt Meisel-Hess als »romantische Selbstbenebelung der Menschheit« ab, die »das Haupthindernis« für den Fortschritt darstelle (I, 418). Dies sind die Worte Manfred Wallentins, doch sie reflektieren in verknappter Form das fortschrittsorientierte, biologistisch ausgerichtete Denkmuster, das diesen Roman durchzieht. Lakonisch kontrastiert Olga Stanislaus’ unermüdlichen Einsatz als Redakteur einer Zeitschrift für sozialpolitische Reformen mit Werner Hoffmanns Rückzug in eine neu-buddhistische Gemeinschaft: »[…] der saß nun im gelben Kleid und grübelte über den Rätseln des Daseins«. (I, 461) Die Rede ist von der 1902 von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann gegründeten Cooperative Monte Verità bei Ascona, hier abschätzig als »Kolonie der Weltflüchtigen« beschrieben (I, 275).168 Dieser Rückzug ist für Meisel-Hess und ihre Protagonisten, die dafür kämpfen, »die Welt [zu] politisieren« (I, 416), undiskutabel: Werner, so wird unmissverständlich formuliert, habe sich vom »Kampfplatz« geschlichen (I, 276). Ganz wie Wilhelm Bölsche, der sich in einem Aufsatz zur »Poesie der Großstadt« schon 1890 gegen die verbreitete zeitgenössische Darstellung Berlins »halb als Hölle, halb als Ort der grauen Langeweile« gewandt hatte, beweist diese Moderne-freundliche Autorin einen Blick für die »Größe und Herrlichkeit« der Bauten,169 wenn sie etwa die »kolossalen« Pfeilerfassaden des 1906 von Alfred Messel erbauten Wertheim-Gebäudes am Leipziger Platz beschreibt oder das »massige Gebäude des Potsdamer Bahnhofs« (I, 377). Ebenso wie er zeigt sie

|| 168 Hierzu vgl. Robert Landmann: Ascona – Monte Verità [1930]. Frauenfeld: Huber 2000. 169 Vgl. Wilhelm Bölsche: Die Poesie der Großstadt. In: Das Magazin für Litteratur 59 (1890), S. 622–625, hier S. 624.

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sich auch den Reizen »melancholischer Stimmungselemente«170 der modernen Großstadt gegenüber durchaus aufgeschlossen: Ihre Olga genießt den »Stimmungszauber« am Potsdamer Platz und lauscht dem »Atem der nächtlichen Stadt« (I, 377 und 220). »Hast« und »Getöse« des Straßenverkehrs werden dabei nicht verschwiegen (I, 141 und 377), doch sie erscheinen nie bedrohlich, laufen nie Gefahr, die Protagonistin zu überwältigen, die ganz selbstverständlich und unbeschwert allein die Straßen »durchstreift[]« und sich im Lesezimmer eines Warenhauses vom »[B]ummeln« erholt, (I, 139 und 140). Vielmehr erscheint das Auseinanderfließen und Sich-Wieder-Verknüpfen des Verkehrs in seiner geordneten Betriebsamkeit als Sinnbild naturhaft geordneten Lebens (vgl. I, 141). Wo die in Konventionen erstickende österreichische »Dame« Edda das Bekannte, Behagliche und Bequeme Wiens braucht und Berlin »beängstigend« findet (I, 373), vermittelt Berlin als Zentrum der Moderne der energievollen Jüdin Olga das Gefühl von Weltbürgertum und »Perspektive« (I, 133 und 44). Wie tief die Affinität von Stadt und Protagonistin geht, zeigt sich in Olgas kurzem, aber innigem Dankgedicht an Berlin: Weltstadt, du Strenge, du Inspiratorische, du dem Suchenden Gnädige; ich glaube, ich verstehe dich, – Berlin. (I, 241–242)

4.3.2 Jüdische Assimilation als kulturkosmopolitische Bewegung Die Berlindarstellung und ihre Verknüpfung mit den Begriffen der Befreiung und der geistigen Aktivität unterstützt Meisel-Hess’ Bild der jüdischen intellektuellen Frau als energische, zukunftsorientierte Trägerin gesamtgesellschaftlicher Fortschrittsbewegungen. Olga hat sich zur emanzipierten Frau entwickelt, wie Meisel-Hess sie 1914 als Ideal in ihren Betrachtungen zur Frauenfrage beschrieb: zum »Vollmensch[en], der sich von seiner Geschlechtsnatur nicht mehr bedingungslos treiben läßt« und der durch »intellektuelle[s] und berufliche[s] Streben« eine »wirksame[] Festigung der Persönlichkeit« erlangt hat.171 Dabei ist Olgas Weg in die Unabhängigkeit und berufliche sowie auch persönliche Erfüllung gleichzeitig auch die Geschichte eines erfolgreichen Assimilationsprozesses. Am Ende ihres Romans schildert Meisel-Hess Olga sowie auch Stanislaus als fest in Berliner reformorientierte Kreise integrierte Intellektuelle, die sich von ihrer provinziellen östlichen Herkunft und von den Traditionen des Judentums gänzlich befreit haben. Dem Vater, der noch jüdischen »Jargon« || 170 Ebd. 171 Meisel-Hess, Betrachtungen zur Frauenfrage (wie Anm. 120), S. 4 und 208–209.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 181

spricht (I, 86), stehen die als Rednerin herausragende Tochter und der Sohn gegenüber, der sich als Journalist und Schriftsteller einen Namen macht und, wie sein alter ego, der Held seines geplanten Buchs, als »hochassimilierter, weltbürgerlich freier« Jude charakterisiert wird (I, 501). Der Grad seiner Assimilation ist unter anderem daran erkennbar, dass er, wie die Autorin betont, »ein reines, scharf vokalisiertes Deutsch« spricht (I, 23) – ein wichtiger Hinweis in einem Kontext, in dem antisemitische Stimmen immer wieder gerade die Sprache als Beleg der Andersartigkeit der Juden heranzogen.172 Doch ist die Assimilation der Geschwister nicht ein Prozess des Verwerfens allen jüdischen Erbes. Im Gegenteil: Meisel-Hess weist dem Judentum eine besondere, geistig definierte Wertigkeit zu, die sie in ihrer Charakterisierung des Geschwisterpaars mit dem Begriff der »voraussetzungslose[n] Intellektualität« belegt (I, 52). Damit schreibt sie sich in einen zeitgenössischen Diskurs ein, der die Betonung der ausgeprägten Intelligenz und Intellektualität der Juden als kulturelle Grundannahme etabliert hatte,173 ergänzt dieses stereotypische Bild des jüdischen Intellektuellen jedoch durch den Verweis auf die Verbindung von jüdisch-orientalischer (emotionaler) und westlicher (vernunftbetonter) Kultur. Über den Helden aus Stanislaus’ Buch, einen idealtypischen assimilierten Juden, heißt es: »Sein Herz birgt noch die alte Inbrunst vom Sinai – seine Seele liebt vielleicht die Gesänge, zu denen an den Wassern des Euphrat die Harfen tönten, – von Tränen betaut, – aber seine Vernunft klettert kühn auf die Gipfel westlicher Kultur, bis zu Darwin, Nietzsche und Kant.« (I, 501) Auch in Else Croners Buch über die ›moderne Jüdin‹ ist der gewünschte Assimilationsprozess als gleichwertiges »organisch[es] […] [V]erschmelzen« der jüdischen und der deutschen Kultur gedacht; das Ergebnis eines solchen Prozesses stellt sich bei ihr aufgrund der »grundlegenden Verschiedenheiten«, die sie in den beiden Kulturen sieht, jedoch im besten Fall als »seltsame Mischung« und eigentlich als undurchführbar heraus.174 Meisel-Hess dagegen konstruiert ihre Beschreibung der Assimilation in Analogie zum Leitprinzip der Ganzheit: als monistische Verbindung von Seele und Geist, von Gefühl und Vernunft; und sie bindet mit diesem Verständnis der Kulturen als komplementäre Elemente,

|| 172 Vgl. Gilman, Jewish Self-Hatred (wie Einleitung, Anm. 39), S. 209: »In the shift in the rhetoric applied to the Jews from religious to ›scientific,‹ the idea of the special language of the Jews became one of the salient markers of the new ›science‹ of race.« 173 Vgl. Gilman, The Smart Jew (wie Kap. 3, Anm. 125). Gilman legt nicht nur dar, wie das Stereotyp des intellektuellen Juden auf der Grundlage genetischer bzw. kulturgeschichtlicher Einflüsse konstruiert wurde, sondern auch, wie ein ursprünglich positives Urteil im antisemitischen Diskurs zum Hassbild verzerrt werden konnte. 174 Croner, Die moderne Jüdin (wie Kap. 2, Anm. 3), S. 146 und 148. Vgl. Kapitel 2.

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die über die Zusammenführung – und nur über diese – zum Idealzustand führen, das Projekt der Assimilation in ihr Gedankengebäude darwinistisch-evolutionären Fortschritts ein. Genauer beschreibt Meisel-Hess ihr Verständnis jüdischer Assimilation in zwei Aufsätzen, die sie 1911, im selben Jahr also, in dem auch ihr Roman erschien, in der Zeitschrift Der Weg veröffentlichte.175 In dieser zweiteiligen scharfsinnig-sachlichen Diskussion eines Doppelvortrags Werner Sombarts über die »Zukunft der Juden« kritisiert sie die unterschwellige Tendenz in Sombarts Vortrag und exponiert den antisemitischen Grundton seiner Argumente. Sie steht hier zwar für eine – kulturell definierte – spezifisch jüdische Identität ein, verweist aber auf die Gefahr der Ghettoisierung in jeglicher Sonderbehandlung der Juden,176 sei es im negativen oder auch im positiven Sinne einer ›Jüdischen Renaissance‹. Vielmehr befürwortet sie die Integration der Juden als vollwertige Mitglieder im Strom »kosmopolitischer Kultur«.177 Diese kann, so betont sie, nicht durch das Festhalten an »zahllose[n] völkische[n] Sonderarten« erreicht werden;178 nur Variation, Anpassung, Verbesserung der Art im Sinne der Evolution kann zum Ziel führen: Assimilation also im darwinistischen Sinn. Denn »im Lebenskampf behauptet haben sich immer nur solche Geschöpfe, die imstande waren, ihre Art zu variieren«, so argumentiert sie.179 Assimilation ist hier also nicht im Sinne der »bewusste[n] Selbsterziehung […] zur Anpassung an fremde Anforderungen« definiert, wie Walter Rathenau in seinem Aufsatz »Höre Israel!« so unglücklich formuliert hatte,180 nicht als »Anartung« der Juden an die »Germanen«, sondern als Entwicklungsprozess der Gesamtbevölkerung durch eine weitgreifende Hebung des Kulturniveaus über ethnische und nationale Grenzen hinweg: »Es ist hohe Zeit«, so schreibt MeiselHess in Die sexuelle Krise, »daß ein allgemeines Europäertum, oder besser gesagt, Weltbürgertum wieder einen gemeinsamen Boden schafft, auf dem die Geschlechter einander begegnen können.«181

|| 175 Grete Meisel-Hess: Die Zukunft der Juden. In: Der Weg 3 (1911), Sp. 768–771; Grete MeiselHess: Die Judenfrage in romantischer Behandlung. In: Der Weg 3 (1911), Sp. 801–805. 176 Hellsichtig – und doch noch zu wenig hellsichtig – prophezeit sie: »In fünfzig Jahren, nach Sombartscher These gelebt, hätten wir das Pogrom auch im Westen.« Meisel-Hess, Die Judenfrage (wie Anm. 175), Sp. 803. 177 Ebd., Sp. 805. 178 Ebd., Sp. 801. 179 Ebd., Sp. 802 (Hervorhebung im Original). 180 Rathenau, Höre Israel! (wie Einleitung, Anm. 10), S. 92. 181 Meisel-Hess, Die sexuelle Krise (wie Anm. 15), S. 372. Vgl. eine ähnliche Argumentation in Meisel-Hess, Generationen und ihre Bildner (wie Anm. 135), S. 30–31.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 183

Damit ist ein transnationaler Prozess kultureller Annäherung mit kulturkosmopolitischem Ziel skizziert; und spezifisch zur jüdischen Assimilation führt Meisel-Hess in ihrem Doppelaufsatz weiter aus: »Die wahre Assimilation, die waschechte Kultur [!] wird aber erst dann beginnen, wenn dieser hochassimilierte jüdische Weltbürger es nicht mehr nötig hat, sich taufen zu lassen« und wenn er »ebensowenig die Tatsache verbergen muß, daß er Jude ist oder von Juden stammt, wie heute irgendein Deutscher, desen Mutter eine Italienerin war«.182 Im kulturkosmopolitischen Sinne wird hier die jüdische Herkunft also positiv als geistiger Einfluss begriffen, als Geisteshaltung. Die aktive Verflechtung dieser Mentalität mit anderen kulturellen Strömungen wird befürwortet, da sie dem übergreifenden Ziel der »Vervollkommnung« der Welt183 zuträglich ist. Dem Prinzip unterschiedlicher »Rassen« ‒ Meisel-Hess setzt den Begriff in Anführungsstriche und markiert ihn damit als Konzept, dem sie in deutlicher Abgrenzung von Alfred Ploetz und dessen rassehygienischer Bewegung keine Gültigkeit zugesteht ‒ stellt die Autorin den inklusiven Begriff der »westlichen Zivilisation« entgegen.184 Mit ihrem Begriff der kosmopolitischen westlichen Zivilisation befindet Meisel-Hess sich im Einklang mit einem Großteil der für die Assimilation bzw. Akkulturation eintretenden jüdischen Deutschen – auch mit Rathenau, der sich in den 1910er Jahren gegen den in seinem frühen Aufsatz vertretenen Rassebegriff wandte. Wie Meisel-Hess stellt er diesen 1913 in seinem Aufsatz »Kritik der Rasse« aufgrund der darwinistischen Lehre als in ständiger Evolution befindlich, also temporär dar: als »Durchgangskonstellation im Zeitpunkt T«,185 als Übergangsphase in der Entwicklung der Menschheit. Rathenau zieht daraus die Folgerung, »daß das Blut nichts bedeutet, und daß aller menschlicher Geist in seinen Höhen der gleiche ist«,186 und setzt sich demzufolge dafür ein, sich in Fragen der Kulturzugehörigkeit ausschließlich auf die geistige Entwicklung des Menschen zu beziehen. Meisel-Hess geht von derselben Ausgangsbasis aus; auch sie sieht den gegenwärtigen Zustand als Übergangssituation im Flux der Evolution. Doch im Gegensatz zu Rathenau verbindet sie den Einsatz für eine (geistige) kosmopoli-

|| 182 Meisel-Hess, Die Zukunft der Juden (wie Anm. 175), Sp. 771 (Hervorhebung im Original). 183 Meisel-Hess, Weiberhaß und Weiberverachtung (wie Anm. 28). 184 Meisel-Hess, Die Judenfrage (wie Anm. 175), Sp. 802. 185 Walther Rathenau: Kritik der Rasse [Exzerpt aus »Zur Mechanik des Geistes«, 1913]. In: Rathenau, Schriften (wie Einleitung, Anm. 10), S. 97–98, hier S. 98. 186 Walther Rathenau: Brief an Wilhelm Schwaner, 16. März 1919. In: Rathenau, Schriften (wie Einleitung, Anm. 10), S. 101–102, hier S. 102.

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tische Kultur mit dem (biologischen) Anliegen, den Menschen auf den Weg zur »Höhe der Art« zu geleiten (I, 410). Dabei legt sie, wie sie in der Anlage Manfred Wallentins explizit »globische[r]« »Zentralstelle zur Durchforschung der Probleme der Entwickelung [sic]« deutlich macht (I, 409), dieses Ziel nicht im eng nationalen oder gar nationalistischen Rahmen an. Es geht ihr darum, eine »internationale Intellektspolitik« mit einer Reproduktionspolitik zu verbinden, die »eine verbindende Brücke über die[…] verschiedenen Völker« schlägt (I, 475).187 Dieser Zielsetzung fügt sie allerdings einschränkend hinzu: »ohne die überragende biologische Position der weißen Rasse durch Mischung zu gefährden« – und nimmt damit eine problematische Abgrenzung vor. Hier zeigt sich die Grenze ihrer Offenheit gegenüber der Integration und Vermischung der Ethnien: Diese kann nur so lange befürwortet werden, wie sie dem Ziel zuträglich ist, den »schönen Menschen« hervorzubringen.188 Und Meisel-Hess’ Vorstellung des körperlichen Ideals entspricht – ähnlich wie wir es auch bei Hauschner gesehen haben – den zeitgenössischen Beschreibungen der ›nordischen Rasse‹. Manfred Wallentin, jener »glücklich[] [s]tarke[]« Mann, der eine so starke Anziehungskraft auf Olga ausübt, ist als Vertreter eben dieses »lichten Rasseideals« (I, 455) beschrieben. »[M]it blond-silberne[m] Haar« und mit »blauen, tiefen Lichtaugen« (I, 411) ist Manfred die Verkörperung der für die Zukunft der gesamten Menschheit angestrebten Vervollkommnung: »Hier also war«, so heißt es im Roman, »die Grenze des Zwischenreichs – nach oben – überschritten« (I, 420).

4.3.3 Gesellschaftspolitische Führungsposition und Kinderlosigkeit Es bleibt die Frage zu stellen, wie Meisel-Hess ihre jüdischen Protagonisten in das auf diese Weise kulturell und biologisch definierte Projekt der »Aufwärtsentwicklung« des Menschen einbindet. Verknüpft damit ist die Frage, warum die Hauptprotagonistin eines Romanprojekts, das ein gesellschaftspolitisches

|| 187 Kevin Repp sieht hier einen Bezug auf die 1911 von Pfemferts Aktion progagierte internationale »Organisation der Intelligenz« (vgl. Repp, ›Sexualkrise und Rasse‹ [wie Anm. 39], S. 110). Ebenso wichtig scheint mir hier der Verweis auf die Internationalisierung der Aktivitäten des Bunds für Mutterschutz. 1911 wurde die Internationale Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform gegründet; der Erste Internationale Kongress der Vereinigung fand vom 28. bis 30. September 1911 in Dresden statt. 188 Vgl. Grete Meisel-Hess: Typus und Original. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 395–396, hier Sp. 396. Hier wird das Ziel der eugenischen Bewegung als das »planmäßige Hervorbringen des schönen Menschen […] durch Begünstigung aller jener Momente, von denen sein Erscheinen und Bestehen abhängt« definiert.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 185

Programm transportiert, in dem der Mutterschaft eine zentrale Position zugedacht wird, kinderlos bleibt. Werner Hoffmann beschreibt Olga als Frau, die hart an der Grenze der zeitlichen Gegenwart, wach und zielsicher in die Zukunft schritt, ‒ eine Wegebahnerin der Kommenden, jener Frauen, die mit instinktstarkem Willen ein ganzes Menschtum forderten, die nicht mehr satt wurden in generativer Beschränkung, die es aber auch nicht ertragen mochten, aus dem Zauberkreis der Gattung ausgeschlossen zu bleiben. (I, 225)

Diese Formulierung betont die im Denken des Bunds für Mutterschutz verankerte doppelte Forderung im Hinblick auf den Tätigkeits- und Einflussbereich der Frau. Zum einen ist dies der Ruf nach Möglichkeiten der Individuierung und gesellschaftlicher Teilhabe außerhalb des in der wilhelminischen Gesellschaft als ›weiblich‹ anerkannten Wirkungsbereichs.189 Andererseits wird hier aber gleichzeitig mit dem Wort des »Zauberkreis[es] der Gattung« die Forderung nach einer Verbindung dieses erweiterten Tätigkeitsbereichs mit dem Recht auf Mutterschaft betont.190 Olga selbst jedoch ist die Rolle der »Wegebahnerin« zugeschrieben, der Kämpferin für gesellschaftliche Reform, nicht die derer Nutznießerin. Sie bleibt partner- und kinderlos, wirkt also nicht praktisch an der »›Hinaufpflanzung‹ der Menschheit« mit, wie Max Rosenthal, der Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sozialreform, im Publikationsjahr der Intellektuellen formulierte.191 Meisel-Hess verlagert die modellhafte Darstellung der Verbindung von Beruf und Mutterschaft auf die zwei Nebenfiguren Geneviève und Lore. Die Frage erhebt sich, ob die Erklärung hierfür in der jüdischen Abstammung ihrer Protagonistin zu suchen ist. Wenden wir den Blick zunächst auf Olgas Bruder Stanislaus: Auch er bleibt kinderlos und lebt in bewusster Enthaltsamkeit. Über den Grund hierfür belässt die Autorin keinen Zweifel: Die Erkenntnis, die ihm Vernunft und Gewissen mit unbarmherziger Nüchternheit diktierten, sprach zu ihm, – daß er selbst verzichten müßte, die ewige Substanz des Lebens wei-

|| 189 Der Verweis auf generative Beschränkung lässt sich dabei auch als Stellungnahme zu der Selbsteinschränkung der gemäßigten Frauenbewegung lesen, die den weiblichen Tätigkeitsbereich nur auf erziehende und als ›weiblich‹ konnotierte Berufe ausdehnte. 190 Vgl. hierzu Ruth Brés Roman Ecce Mater! (1905), in der die Autorin, die maßgeblich an der Gründung des Bunds für Mutterschutz beteiligt war, eben dieser Forderung Ausdruck verleiht. 191 Max Rosenthal (Hg.): Mutterschutz und Sexualreform. Referate und Leitsätze des I. Internationalen Kongresses für Mutterschutz und Sexualreform in Dresden 28./30. September 1911. Breslau 1912, S. 24; zitiert nach Groschopp, Dissidenten (wie Anm. 1), S. 241.

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ter zu bauen. Er durfte nicht […] einen Menschen erwachsen lassen, der die Lasten seiner eigenen, beladenen Körperlichkeit mitbekam; er war streng und unerbittlich in diesem Punkt. (I, 126–127)

Stanislaus’ Verzicht auf Nachkommenschaft ist von Vernunft und Gewissen gefordert, er geht auf das vom Bund für Mutterschutz propagierte Verständnis von Sittlichkeit und dessen Zentralbegriff der »Verantwortung für das Eingehen von Beziehungen« – so Adele Schreibers Formulierung192 – zurück. Dass dies auch das Eingehen von geschlechtlichen Beziehungen beinhaltet, im Sinne der evolutionären Verantwortung gegen die Gemeinschaft, liegt in der Logik des biologistischen Denkens des Bunds. In ihrem Aufsatz »Mutterschutz als soziale Weltanschauung« spricht Meisel-Hess sich nicht nur dafür aus, die »Geburt gesunder Kinder zu begünstigen«, sondern auch dafür, »[d]ie Kinder Siecher und schwer Belasteter überhaupt nicht erst entstehen zu lassen«.193 Demselben Gedanken verleiht sie auch in den Intellektuellen Ausdruck: Manfred Wallentins Projekt der »Durchforschung der Probleme der Entwickelung« setzt sich zum Ziel, »die Zeugung des Menschen« aus dem »Bereiche des Zufälligen, des oftmals Schädlichen und die Entwickelung der Art Hemmenden« zu befreien und stattdessen »zu einer Tat werden [zu lassen], aus der immer wieder nur höheres Leben entstehen konnte« (I, 410). Diesen Zielen entsprechend gründet Stanislaus’ Verzicht in seiner Verantwortung gegenüber der eugenischen Gesundheit der nächsten Generation, der er »die Lasten seiner eigenen, beladenen Körperlichkeit« nicht aufbürden will. Was aber genau sind diese »Lasten«? Meisel-Hess schildert sie in einiger Ausführlichkeit: [M]it mit schlechter, vorgebeugter Haltung, breitem, gewölbten Rücken, wirkte [Stanislaus] engbrüstig. Die Beine schienen zu schwach für den massigen Rumpf. Der große Kopf hing der Brust zu, die kurzsichtigen Augen, von unausgesprochener Farbe, blickten manchmal, besonders, wenn er den Kopf neigte, über den schwarzgeränderten Zwicker weg, was ihm den Ausdruck einer interessiert aufhorchenden Eule verlieh. In mächtiger Biegung beherrschte die Stirn das Gesicht. Sehr dichtes, blauschwarzes, an den Spitzen geringeltes Haar bedeckte den Schädel, fiel in einzelnen, gebogenen Büscheln über die Schläfen und ziemlich lang hinter den Ohren herab, die es zum Teil wohltätig verdeckte. Wandte er den Kopf, so kamen sie, in ihrer fledermausartigen Zackung, zum Vorschein. Gestreckt und schmal dehnte sich die Nase zum Mund nieder, der, zusammengepreßt, eine dünne, gerade Linie zog. […] Dieser Kopf saß auf einem zu kurzen Hals […]. (I, 20)

|| 192 Vgl. Schreiber, Die Ansätze neuer Sittlichkeitsbegriffe (wie Anm. 53), S. 173. 193 Meisel-Hess, Mutterschutz als soziale Weltanschauung (wie Anm. 37), S. 158. Vgl. auch Ellen Key: Über Liebe und Ehe. Berlin: S. Fischer 1905, z. B. S. 162.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 187

Diese Beschreibung von Stanislaus’ »beladene[r] Körperlichkeit« trägt stereotypisch als jüdisch markierte Merkmale. Zum Vergleich mag man Edouard Drumonts Beschreibung des typischen Juden in La France juive von 1887 heranziehen, von Ritchie Robertson als die beste Zusammenstellung der Kern-Stereotype bezeichnet. In Robertsons Übersetzung des französischen Originals heißt es: »The principal signs by which one can recognize the Jew are the notorious hooked nose, […] protruding ears, […], an excessively long torso, flat feet, bow legs, and the soft, greasy hand of the hypocrite and the traitor.«194 Das Aufscheinen des antisemitischen Denkmusters in Meisel-Hess’ Beschreibung ihres Stanislaus ist umso überraschender, als – im Gegensatz zu unserem heutigen Verständnis der eugenischen Ideologie – die Verbindung zwischen eugenischem Denken und Antisemitismus zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eben nicht selbstverständlich war. In seiner Untersuchung der Eugenik im Kontext sozialistischer und sozialdemokratischer Bewegungen fasst Michael Schwartz zusammen: »Gegenüber dem Rassismus war die […] Eugenik in weiten Teilen vor 1933 sogar klar ablehnend eingestellt. Darum war es nicht zuletzt den Sozialisten jüdischer Herkunft möglich, einerseits Rassismus und Antisemitismus entschieden abzulehnen, andererseits eugenikpolitische Initiativen engagiert zu befürworten.«195 Tatsächlich lehnt auch Meisel-Hess, wie wir in ihren Artikeln zu Sombarts Vortrag über die »Zukunft der Juden« gesehen haben, den Rassebegriff ab. Wenn sie Stanislaus’ negativ konnotierte physische Attribute als »hässlich« oder »beladen« bezeichnet und eben nicht als »jüdisch«, so beruft sie sich auf das ›wissenschaftliche‹ eugenische Konzept des Strebens nach dem gesunden, »schönen Menschen«. Objektive, d. h. universell gültige Schönheitskriterien aber gibt es nicht; mit anderen Worten: Meisel-Hess’ Beschreibung zeigt eine Verinnerlichung zeitgenössischer Diskurse der Schönheit des ›nordischen‹ oder ›arischen‹ Körpers, wie sie von Arthur de Gobineau, Stuart Houston Chamberlain und anderen im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts verbreitet wurden. Diese gingen mit der Ablehnung ›semitischer‹ Rassemerkmale einher. Anders als bei Hauschner jedoch korreliert in Meisel-Hess’ Entwurf die körperliche »Belastung« nicht unausweichlich mit dem Judentum; sie ist nicht rassisch festgeschrieben, sondern im Evolutionsprozess als überwindbar begrif-

|| 194 Robertson, The ›Jewish Question‹ (wie Einleitung, Anm. 7), S. 187. Robertsons Übersetzung geht auf ein Zitat aus Edouard Drumont: La France juive. 2 Bände (1887), Bd 1, S. 35 zurück. 195 Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie. Bonn: Dietz 1995, S. 16.

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fen, und sie steht einer grundsätzlich positiven Haltung zur jüdischen Identität nicht entgegen.196 Stanislaus ist als Beispiel geistiger und ethischer Emanzipation geschildert, und sogar seine physische Hässlichkeit kann in eine positive Vorbildkonstruktion eingebunden werden. Denn enthält Stanislaus sich der Reproduktion, kann Meisel-Hess ihn in doppelter Hinsicht als Vorbild bezüglich der Arbeit an der Verbesserung der Menschheit zeichnen: als sozial engagierten Intellektuellen und als Modell reproduktiver Selbstverantwortung. Der Kinderlosigkeit Olgas widmet Meisel-Hess keine analoge Erklärung. Die Entscheidung ihres Wunschpartners Manfred Wallentin für Geneviève wird in biologistischer Wendung auf seine »Instinkte[] höchsten Lebenstriebes« zurückgeführt (I, 468), mit der Erläuterung, dass Geneviève ihm aus ihrem inneren Gleichgewicht heraus Ergänzung verspricht: »heitere Vollendung des harmonisch Geborenen« (I, 459). Olga dagegen, die ihm vielleicht »Größeres« hätte bieten können, ist, so legt Meisel-Hess nahe, für mehr als das private Glück gerüstet: Aufgrund ihres Talents zu »feurige[r] Lehre« (I, 459) liegt ihre Bestimmung im Einsatz für gesellschaftliche Reform. Auf der Ebene der Textlogik ersetzt also dieser öffentliche Auftrag die Mutterschaft. Und doch ruft die Lektüre Zweifel an der Haltung der Autorin gegenüber der genetischen ›Tauglichkeit‹ ihrer jüdischen Protagonistin hervor. Denn mit ihren »herben, fast eckigen Zügen« und ihrem »rostrote[n] Haarbusch«, mit ihrer Blutarmut und unreinem Teint hat Olga besonders als junges Mädchen unter ihrer »besonderen Häßlichkeit« gelitten (I, 22 und 88). Und dass diese »Häßlichkeit« auch Elemente stereotypisch ›jüdischer‹ Konnotierung zeigt, lässt sich an ihrer Ähnlichkeit zu Stanislaus ablesen: Auch sie hat den »gedrungenen […] Körper« ihres Bruders, die »stark gebogene[], vorspringende[] Nase« und »dieselbe dünne, gerade Linie« des Mundes (I, 22). In der reifen Frau erscheinen diese Merkmale zwar abgeschwächt ‒ Olgas glänzende Augen und ihre »frauenhafte[] Blüte« spiegeln ihre neu erworbene innere Sicherheit (I, S. 453–454)197 –, doch die Erbanlage einer als »belastet« begriffenen Körperlichkeit ist fraglos vorhanden. Es liegt insofern

|| 196 Interessant ist in diesem Kontext auch eine Passage aus dem schon zuvor zitierten »Reisesplitter«-Artikel, den die Autorin im selben Jahr wie die Intellektuellen in der Aktion veröffentlichte. Hier ist die Rede von einem »reizenden jungen Mädchen aus Moskau«, einem »schöne[n] Geschöpf, mit einem süßen, veritablen Engelsköpfchen« (später ist die Rede von dem »blonden Engelskopf«), das schon beim ersten Gespräch erklärt: »›Ich bin nicht Russin, verstehen Sie – ich bin Hebräerin.‹« Wo die äußeren Merkmale des Judentums nicht prononciert hervortreten, haftet für Meisel-Hess dem Judentum – auch dem Ostjudentum – kein Makel an; hier sieht sie »Stolz«, »Mut« und »Selbstbewusstsein«. Meisel-Hess, Reisesplitter (wie Anm. 81), Sp. 878. 197 Vgl. hierzu Meisel-Hess’ Beschreibung der Freiheit als »wirksamste[s] ›Schönheitsmittel‹« in ihren »Betrachtungen zur Frauenfrage« (wie Anm. 120), S. 226.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 189

nahe, diese als einen Faktor für Meisel-Hess’ Ausschluss ihrer Protagonistin aus dem »Zauberkreis der Gattung« anzusehen. Halten beide Geschwister sich also von der biologischen Reproduktion fern, so nehmen sie trotzdem führende Rollen im gesellschaftlichen Evolutionsprozess ein. Olga ist als »Rednerin der jungen Zeit« tragend an der Arbeit im Dienst der kulturkosmopolitischen Entwicklung der Gesellschaft beteiligt (I, 499); Stanislaus ist über seine Forschung und publizistische Arbeit hinaus auch auf privater Ebene an der Arbeit für die kommende Generation beteiligt. Wenn er am Romanende die ledige Mutter Lore heiratet, so gewährleistet er damit mehr als die Stabilität einer ›vollständigen‹ Kleinfamilie für die Erziehung des Kindes. Vielmehr gestaltet Meisel-Hess hier modellhaft das Eingehen einer Verbindung zwischen Stanislaus’ »jüdischer« Intelligenz und der Instinktkraft, die in Lores biologisch vernünftiger Entscheidung für ihr uneheliches Kind exemplifiziert ist. Über das Konzept der Stiefvaterfamilie, das die Autorin auch an anderer Stelle wiederholt propagierte198 und das sich hier als Mittel der Verknüpfung zentraler Gedankenstränge zeigt, schließt sie also einerseits »die beladene Körperlichkeit« des jüdischen Intellektuellen aus dem Evolutionsprozess aus, bindet aber die jüdische Intellektualität in erzieherischer Funktion in ihn ein.199 Stanislaus geht – wie der zuvor erwähnte konservative Statistiker Othmar Spann – einer Forschungsarbeit über uneheliche Kinder und deren Entwicklung nach. Und wo Spann der »Gruppe der in einer Stiefvaterfamilie Aufgewachsenen« nur eben zugesteht, sie entferne sich »qualitativ am meisten von der funktionellen Unehelichkeit«,200 kommt Stanislaus zu einem weit positiveren Schluss: Diese Gruppe stellt ihm zufolge »die wirkliche Elite unter den Unehelichen und unter den Geborenen überhaupt« dar; ja, sie ist sogar »eine Art Ausle-

|| 198 Wie ernst es Meisel-Hess mit dem Ideal der Stiefvaterfamilie war, lässt sich daran ablesen, dass das Motiv auch in mehreren ihrer Sachtexte und Kurzgeschichten auftaucht. Vgl. u. a. ihren Artikel »Mutterschutz als soziale Weltanschauung«; und ihre Skizze »Vater eins und Vater zwei« in: Grete Meisel-Hess: Geister. Novellen. Leipzig: Dr. Sally Rabinowitz 1912, S. 137– 148. 199 Mathias Acher, der Rezensent des Romans in der Zeitschrift Ost und West, der unter Betonung des Konzepts jüdischer Intellektualität in diesem Roman zu bedenken gibt, »daß es besseres zu tun gibt, als ein jüdisches Ameisenghetto zu schaffen«, schießt meiner Ansicht nach völlig am Ziel vorbei, denn ihr Ideal ist ja gerade nicht die Absonderung jüdischer Intellektueller in einem wie auch immer gearteten »Ghetto«, sondern die Mitwirkung der Juden an der Verbesserung der hybrid gedachten Vitalrasse. (Der Begriff des »Ameisenghettos« ist sicherlich als Anspielung auf Auguste Forel zu verstehen, der sich als Ameisenforscher einen Namen gemacht hatte). Vgl. Acher, Literarische Rundschau (wie Anm. 7), Sp. 152. 200 Spann, Stiefvaterfamilie (wie Anm. 99), S. 37.

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se« (I, 392 und 394). Und er liefert die Begründung gleich mit: »›Liebe Frau Lore, – denken Sie doch mal, – was für ein Prachtweib muß so eine Frau sein, die – […] trotzdem sie nach unseren heutigen verschrobenen Moralbegriffen eine […] Gefallene ist, […] doch noch geliebt und geheiratet wird.‹« (I, 393) Die Mutter also, die ihrem Nachwuchs die besten genetischen Grundlagen sichert, um ihm dann eine fortschrittliche Erziehung durch ein Elternpaar zu bieten, das sich über veraltete bürgerliche Moralvorstellungen hinwegsetzt, schafft die besten Voraussetzungen für die nächste Generation ‒ in biologischer und ethischgeistiger Hinsicht. Die Stiefvaterfamilie, die aus der Ehe der instinktstarken Lore und dem jüdischen Intellektuellen Stanislaus entsteht, steht nicht nur für das monistische Prinzip geistiger und körperlicher Perfektion, sondern darüberhinaus auch für den Weg der jüdischen Assimilation im Dienst einer »höheren Lebensform« (I, 196). Auf diese Weise schreibt Meisel-Hess ihre vorbildhaft gezeichneten assimilierten, intellektuellen Juden ins Herz ihres optimistischen Weltbilds und die zukunftsorientierten Bewegungen für gesellschaftliche Reform ein. Und sie tut, was sie kann, um ihrem Roman die weitestmögliche Rezeption zu sichern. Sowohl auf diskursiver als auch auf struktureller Ebene bettet sie ihn in prestigeträchtige Traditionen der Wissenschaftlichkeit und des humanistischen Bildungskanons ein; und zielsicher verbindet sie das Konzept des monistischen Weltanschauungsromans – eines Spezialfalls engagierter Literatur – mit den Traditionen des Bildungs- bzw. Entwicklungsromans. Dieses Vorgehen mag einerseits als Versuch gelesen werden, sich selbst als jüdische Autorin in den Mainstream deutscher Kultur einzuschreiben. Es sei hier an David Biales Bemerkung erinnert: »To be a scientist at the turn of the century meant that one at least theoretically belonged to a fraternity in which identity played no role.«201 Ebenso mag man in Bezug auf Meisel-Hess sagen: Geschlecht und Rasse der Autorin spielen keine Rolle, wenn es um die Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte zur Verbesserung der nächsten Generation geht.202 Eine ähnliche Bedeutung ist dem Aufrufen der humanistischen Tradition zuzuschreiben: Das auf Toleranz statt ethnische Trennung angelegte humanistische Bildungsprojekt ist,

|| 201 David Biale: 1906. In: Gilman/Zipes (Hg.), Yale Companion to Jewish Writing (wie Einleitung, Anm. 34), S. 273–279, hier S. 274. 202 Die Attraktivität der Wissenschaftlichkeit als Kraft, die sich über die Stigmatisierung des Juden erhebt, ist ein Faktor, der auch in der Freud-Forschung immer wieder hervorgehoben wird. Vgl. Sander Gilman: Freud, Race and Gender. Princeton/NJ: Princeton University Press 1995.

4.3 Weiblichkeit und Judentum | 191

wie Zygmunt Bauman dargelegt hat, für jüdische Autoren oft Grundlage ihrer Selbstverortung gewesen.203 Abgesehen von der Selbstpositionierung der Autorin ist an ihrem Roman aber auch das Bestreben abzulesen, ihre gesellschaftlich-ethischen Forderungen einer breiten bürgerlichen Leserschaft zuzuführen. So unterlegt sie ihr biologistisch-monistisches Romanprojekt nicht mit Verweisen auf Vordenker der ›neuen Ethik‹ wie Havelock Ellis, Ernst Haeckel oder Auguste Forel und erwähnt weder Wilhelm Bölsche noch Helene Stöcker, sondern bezieht sich auf Goethe als Bürgen. In literarischer Hinsicht erwähnt sie die kämpferisch-radikale Hedwig Dohm an keiner Stelle; stattdessen lenkt sie durch Goethe-Zitate die Rezeption des Romans in den Kontext des Wilhelm Meister. Während sie einerseits also ihren Text aus der Rezeption als bloßes »Frauenbuch« heraussteuert, wie sie ihrem Frühwerk Fanny Roth beschieden war, schreibt sie ihn andererseits jedoch – durch den strukturellen Anschluss, der für KennerInnen von Dohms Werk geradezu unübersehbar ist – auch in die Tradition der Frauenliteratur ein und beansprucht auch dieser Tradition gegenüber Legitimierung für das hier präsentierte Programm. Die Intellektuellen sind deutlich in der Hoffnung geschrieben, als »guter Roman« ein »beliebter[er] Verlagsartikel« zu werden als ein »polemisch-essayistisches Buch«, wie es in Bezug auf Stanislaus’ schriftstellerische Projekte heißt (I, 144). Die Ideen und Inhalte, die Meisel-Hess hier verhandelt, sind weitgehend mit denen identisch, die wir in ihrem nicht-literarischen Werk vorfinden. Die Fiktionalisierung ihres Anliegens jedoch gibt ihr die Möglichkeit, über allgemein gesellschaftliche Forderungen hinauszugehen und mithilfe der Diskurse der Wissenschaftlichkeit und der humanistischen Tradition eine jüdische Intellektuelle als ethische und geistige Vorreiterin in der deutschen Gesellschaft zu positionieren. In einer Zeit und in einem literarischen Umfeld, in dem die Jüdin in der Erzählliteratur assimilierter jüdischer Schriftstellerinnen nur selten behandelt wird, ist diese selbstbewusste Anlage der Figur der Olga – auch wenn der gänzlich positiven Darstellung verinnerlichte Begriffe der Hässlichkeit des jüdischen Körpers im Weg stehen – bemerkenswert, wenn nicht geradezu außerordentlich.

|| 203 Vgl. Bauman, Modernity and Ambivalence (wie Einleitung, Anm. 12).

5 Absage an das Projekt der deutsch-jüdischen Symbiose: L. Audnal (= Elisabeth Landau), Der Holzweg (1918) Elisabeth Landaus Roman Der Holzweg stellt ein neues Kapitel dar in der Geschichte der literarischen Verarbeitung jüdischen Assimilationsbestrebens in Deutschland. Landau greift verschiedene thematische Schwerpunkte, strukturelle Konstellationen und Perspektiven auf, die auch für die Texte Croners, Meisel-Hessʼ und Hauschners kennzeichnend waren, gibt ihnen aber interessante neue Akzente und Verschiebungen. Die prekäre Situation zwischen Assimilationsbestreben und dem Bewahren jüdischer Andersartigkeit im Angesicht wachsender antisemitischer Bedrohung (Croner), die einfühlsame Darstellung des Leidens jüdischer Mädchen unter ihrer unwürdigen Position als Handelsgut auf dem Heiratsmarkt (Hauschner) und die Zeichnung einer jüdischen Frau als emanzipierte und klarsichtige Persönlichkeit, die den Weg in die Zukunft weist (Meisel-Hess) spielen alle eine wichtige Rolle in Landaus Roman. Die Entstehungszeit ‒ und die trotz eines Abstands von nur wenigen Jahren grundlegend veränderte Situation der Juden in Deutschland ‒ bedingt jedoch ein im Wesentlichen anderes Anliegen. Der Holzweg ist in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs entstanden: Die Romanhandlung ist zwar um die Jahrhundertwende angesiedelt, die Schilderung eines offen-aggressiv formulierten und gesellschaftsdurchdringenden Antisemitismus spiegelt aber die Entstehungszeit des Texts und die Erfahrung der gravierenden Änderungen in der öffentlichen Haltung gegenüber den deutschen Juden, die der Weltkrieg mit sich brachte. Zwar leuchtet in Landaus Text ein ähnlich reformorientiertes Gedankengut auf wie in Meisel-Hess’ Intellektuellen, aber im Hinblick auf die Position des Judentums in Deutschland stellt Landau dem Optimismus der Vorkriegsjahre nun Bitterkeit und Resignation entgegen. Sie vertieft die schon in Hauschners Familie Lowositz aufscheinende Erfahrung antisemitischer Ausgrenzung ihrer Figuren und stellt diese nun als Ausgangspunkt ihrer Darstellung und ihrer im Text skizzierten Handlungsentwürfe dar. Liest man den Roman im Genrekontext des jüdischen Familien- und Zeitromans des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts und spezifisch auch im Vergleich mit Fritz Mauthners Der neue Ahasver (1881), so zeigen sich Veränderungen in der literarischen Darstellung der jüdischen Lebenswelt und des Antisemitismus, die auf die gründliche Revision der Position deutscher

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Juden um 1918 verweisen. Der faszinierendste Aspekt an Landaus Roman ist jedoch die Konzeption ihrer Protagonistin Elise, deren diskursive Auseinandersetzung mit ihrem Gegenspieler Karl Hinrichsen um das Verständnis und die Verbindlichkeit des Begriffs der Heimat und um die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Juden den Kern des Romans ausmacht. Im Folgenden soll zunächst der zum Verständnis des Romans unerlässliche geschichtliche Hintergrund skizziert werden, bevor eine Analyse vorgenommen wird, die auf die strukturelle Anlage des Texts und deren Verbindung mit Landaus inhaltlichen Schwerpunktsetzungen eingeht und ihre Darstellungen jüdischer Weiblichkeit näher beleuchtet. Vor allem wird hier zu zeigen sein, wie Landau Elises Weg in die Emigration im Kontrast zu der in apokalyptischen Bildern entworfenen Großstadt Berlin als Ausdruck einer Zuwendung zu den Prinzipien des Lebens und der Zukunft konfiguriert, die in jüdischem Selbstbewusstsein ruht.

5.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund In deutsch-jüdischen Selbstzeugnissen, die die Anfangsjahre des zwanzigsten Jahrhunderts beschreiben, findet sich immer wieder die Aussage, man sei in der deutschen Kultur verwurzelt aufgewachsen und habe von der Religion und Tradition des Judentums nichts oder nur kaum etwas gewusst. In manchen Familien hatten Überbleibsel jüdischen Brauchs sich erhalten (so beschreibt Georg Hermann zum Beispiel eine Kindheitserinnerung an einen Besuch im jüdischen Betraum, der »Schule«1); in anderen Fällen wurde das Bewusstsein der eigenen jüdischen »Andersartigkeit« von außen herangetragen, ein Ereignis, das manchmal als »unvergeßliches[s] Erlebnis[]« erfahren,2 bisweilen jedoch lediglich mit Unverständnis zur Kenntnis genommen wurde.3

|| 1 Georg Hermann: Also ‒ ein Jubiläum. In: Georg Hermann: Zeitlupe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1928, S. 176–186. 2 So z. B. Kurt Blumenfelds Beschreibung der wenigen Vorkommnisse, die ihm in seiner Jugend sein »Judentum zum Bewußtsein« brachten. Kurt Blumenfeld: Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1962, S. 27. 3 Vgl. u. a. Ernst Tollers Kindheitserinnerung an das Verbot eines fremden Kindermädchens an ihren Schützling: »Bleib da nicht stehen, das ist ein Jude«, und Tollers Reaktion: »Ich begreife den Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos.« Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland [1933] (= E. Toller: Gesammelte Werke. Hg. von John M. Spalek und Wolfgang Frühwald. München: Hanser 1978, Bd 4), S. 13–14.

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Zwar war die Existenz antisemitischer Haltungen allen bewusst, aber seit zu Beginn der 1880er Jahre der von Heinrich von Treitschke ausgelöste Berliner Antisemitismus-Streit durch entschiedenes Eintreten Theodor Mommsens und anderer Mitglieder der liberalen akademischen Elite beendet worden war, machte die öffentliche Bewegung antisemitischer Agitation einem schleichenden Prozess gesellschaftlicher Legitimierung Platz und der Antisemitismus etablierte sich in den 1890er Jahren, wie Shulamit Volkov beschreibt, als »kultureller Code« in weiten Kreisen der Gesellschaft.4 Aufgrund dieser weitgehend unausgesprochenen Ausbreitung antijüdischen Ressentiments war die Ausgrenzung, die sich damit verband, für die Mehrheit der deutschen Juden leichter zu ignorieren und zu verdrängen. Gerade in liberal gesinnten Familien des assimilierten Bildungsbürgertums hielt sich trotz des Wissens um antisemitische Einstellungen und deren Verbreitung der Glaube an humanistische Ideale der Gleichberechtigung und Toleranz sowie die Überzeugung, dass ein Festhalten am Assimilationsprozess letztendlich zur Akzeptanz durch die nichtjüdischen Mitbürger führen werde. In einer Umgebung, in der Bildung die entscheidende Rolle der jüdischen Selbstdefinition als Deutsche spielte, konnte der Antisemitismus noch als »unzivilisiertes« Verhalten einer ungebildeten und »nicht ernstzunehmenden« Minderheit gelten.5 Wie zentral die Rolle der Bildung in diesem Zusammenhang war, lässt sich tatsächlich kaum überschätzen; George L. Mosse hat dies in German Jews beyond Judaism ausführlich und überzeugend ausgeführt. Das von Christen und Juden in gleichem Maß geschätzte Ideal der Bildung hatte seit der Aufklärung zum Zusammenschluss von jüdischem und deutschem Bürgertum geführt. Im Zuge der Säkularisierung tauschten viele Juden ihren religiösen Glauben gegen das Bildungsideal als »neuen Glauben« ein.6 Dem deutschen Bürgertum war diese Unterstützung durch ihre jüdischen Standesgenossen zunächst durchaus willkommen; deren Leistungen halfen ihnen im Prozess der bürgerlichen Selbstdefinierung und Elitebildung. Sobald diese Bildungspriorität aber mit nationalistischen Tendenzen verbunden wurde, begannen sich Bewegungen der Abgrenzung gegen die Juden auch in den Reihen der deutschen Bildungs-

|| 4 Volkov, Antisemitismus als kultureller Code (wie Einleitung, Anm. 37), S. 35. 5 Norbert Elias: Biographisches Interview. In: Norbert Elias: Über sich selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 18; zitiert nach Cornelia Hecht: Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik. Bonn: Dietz 2003, S. 44–45. 6 George L. Mosse: German Jews beyond Judaism. Bloomington/IN: Hebrew Union College Press 1985, S. 4.

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bürger breit zu machen. Dieser Prozess wurde, wie Mosse erläutert, im und in der Folge auf den Ersten Weltkrieg abgeschlossen, doch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war es – gerade in kosmopolitischen Zentren der Kultur und Intelligenz wie Berlin – noch möglich, die Bedeutung des Nationalismus herunterzuspielen oder den Begriff der Nation als inklusive Kategorie zu interpretieren. Diejenigen antisemitischen Angriffe, die sich nicht ignorieren ließen, bezog man weitgehend nicht auf sich selbst, sondern transferierte das Bild auf Negativstereotypen wie wir es bei Else Croner gesehen haben: auf die hyperaktiven, oberflächlichen »Berlin-W«-Juden oder – häufiger – auf Ostjuden, die aus der polnischen Provinz hinzugezogen waren. Nur wenige deutsche Juden boten der antisemitischen Provokation die Stirn; stattdessen schwieg man und hoffte auf individuelle Lösungen des Problems. Den Weg des Zusammenschlusses mit anderen Juden wollte man im Allgemeinen umgehen, aus Angst, Unterschiede, die von den Gegnern postuliert wurden, zu bestätigen und damit der eigenen Integration zu schaden. Großenteils sah man den Antisemitismus als Reaktion auf eine »noch ungenügende[] Assimilation« an,7 und auch die weitgehende juristische und wirtschaftliche Gleichstellung bestärkte viele in dem Glauben, die angestrebte Synthese von Deutsch- und Judentum zu leben – oder doch auf dem Weg dorthin zu sein. Im Rückblick ist diese Haltung wiederholt als Vorgang der Verdrängung oder des »Selbstbetrug[s]« beschrieben worden,8 doch es ist wichtig festzuhalten, dass die wilhelminische Vorkriegsgesellschaft »eine gewisse Hoffnung auf einen Kompromiß« bewahrte, deren Brüchigkeit sich erst während des Ersten Weltkriegs deutlicher erwies.9 In den ersten Kriegsjahren bekannten sich viele liberale, orthodoxe und sogar zionistische Juden »als Deutsche […] zu Deutschland«.10 Dieser Ausdruck nationaler Zugehörigkeit erfolgte teils aus echter Überzeugung und Loyalität, teils mit dem Ziel, den Antisemiten den Wind aus den Segeln zu nehmen, nicht zuletzt aber auch aus der Hoffnung, »daß nun endlich der lang ersehnte Augenblick gekommen sei, wo deutsche Juden voll und ganz als Mitbürger akzep-

|| 7 Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus (wie Anm. 5), S. 50. 8 Gershom Scholem z. B. bezeichnet diesen »Selbstbetrug«, dieses »imaginäre Wunschdenken« als eines der »entscheidenden Erlebnisse« seiner Jugend. Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 1997, S. 30. 9 Volkov, Antisemitismus als kultureller Code (wie Einleitung, Anm. 37), S. 35. 10 Vgl. Hans G. Adler: Die Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus. München: Kösel 1961, S. 133.

5.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund | 197

tiert würden«.11 Dementsprechend bezeichnete der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) in einem Aufruf »[a]n die deutschen Juden« den Kriegsdienst nicht nur als »selbstverständliche« Pflichterfüllung, sondern rief darüber hinaus die Glaubensgenossen dazu auf, »über das Maß der Pflicht hinaus [ihre] Kräfte dem Vaterlande zu widmen«. 12 Doch ihr Engagement wurde ihnen nicht gelohnt: Die Kriegsniederlage, gefolgt von einem weithin als Demütigung empfundenen Friedensvertrag, schürte irrationale antisemitische Schuldzuweisungen in voher nicht gesehenem Ausmaß. »If there was a golden age for the Jews of modern Germany, it came to an end in 1914«, so fasst Peter Pulzer die Lage zusammen.13 Schon während der letzten Kriegsjahre machte sich der wachsende Antisemitismus immer stärker bemerkbar; Vorwürfe des Wuchers und Spekulantentums wurden lauter, begleitet von Bezichtigungen der Feigheit jüdischer Soldaten an der Front. Die »Judenzählung« – oder Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden, so der offizielle Titel ‒, die im Oktober 1916 von der Regierung in Auftrag gegeben wurde, wird von Historikern heute als der entscheidende Wendepunkt in den Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen angesehen. Die deutschen Juden begriffen die Ausgrenzung, die in der Anlage der Befragung selbst impliziert war, als Diskriminierung ohne Beispiel.14 Das Ergebnis zeigte zwar, dass die Anzahl jüdischer Soldaten an der Front höher war als angenommen, doch als die Regierung unter Bethmann-Hollweg sich gegen die Publikation in den Kriegsjahren entschied, setzte sie damit ein deutliches Signal, dass ihre jüdischen Bürger keinen Schutz gegen den Antisemitismus zu erwarten hatten. Als die Erhebung schließlich 1922 in zwei Studien von Franz Oppenheimer und Jakob Segall veröffentlicht wurde, waren antisemitische Schuldzuweisungen und Diskriminierungen schon weithin etabliert.15

|| 11 Mendes-Flohr, Im Schatten des Weltkrieges (wie Einleitung, Anm. 42), S. 17. Hierzu vgl. auch Peter G. J. Pulzer: Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848– 1933. Oxford: Blackwell 1992, S. 194–195. 12 An die deutschen Juden. Aufruf, unterzeichnet vom Verband der deutschen Juden und dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. In: Im Deutschen Reich (1914), H. 9 (September), S. 339. Hervorhebungen im Original. 13 Pulzer, Jews and the German State (wie Anm. 11), S. 207. 14 Vgl. ebd., S. 206: »The Judenzählung was the most spectacular, though not the only, symptom of growing anti-Semitism and discrimination in the final years of the war.« 15 Vgl. Franz Oppenheimer: Die Judenstatistik des Preußischen Kriegsministeriums. München: Verlag für Kulturpolitik 1922; Jakob Segall: Die deutschen Juden als Soldaten 1914–1918. Eine statistische Studie. Berlin: Philo-Verlag 1922.

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Oppenheimer beschrieb schon im Dezember 1916 eine »neue Hochflut des Antisemitismus«, die den deutschen Juden als »Blitzableiter« konstruiere,16 und in den Folgejahren nahmen die Schuldzuweisungen für den verlorenen Krieg bedrohlich weiter zu und wurden durch Vorwürfe des Lebensmittelwuchers, der Schwächung der politischen und moralischen Widerstandskraft des deutschen Volks und andere stereotypische Anschuldigungen unterstützt. Diese Welle des Antisemitismus konnte nun nicht mehr länger ignoriert werden. Die Zeitschrift des CV, Im Deutschen Reich, die sich zu Beginn des Krieges verpflichtet hatte, den Burgfrieden zu halten, blieb noch immer recht verhalten und setzte auf positive Richtigstellungen antisemitischer Verleumdungen. Der Autor eines Artikels der Dezemberausgabe 1918 z. B. kritisiert die antisemitische Hetze gegen Ministerpräsident Eisner, verbindet seine Kritik jedoch mit dem Rat an die deutschen Juden, sich von leitenden Staatsstellen fernzuhalten; die Begründung lautet, dies sei ein »Gebot des Taktes«.17 Doch auch forderndere Stimmen wurden nun laut. Franz Oppenheimers Leitartikel etwa in den Neuen jüdischen Monatsheften vom 10. September 1918 prangert nicht nur die »Tatsache des neuen Antisemitismus« an, sondern auch deren staatliche Unterstützung durch »Gesetze und Verordnungen der leitenden Stellen«, und stellt klar, dass er in dieser Bewegung die »Vorbereitung eines Sündenbocks« sieht.18 Die nächste Ausgabe der Zeitschrift setzte dem mit einem »Brief eines deutschen Juden im Auslande« nach, der das Fehlen einer klaren Stellungnahme der Regierung zur »Judenfrage« beklagt und sie vor unwiedergutzumachendem Gesichtsverlust vor dem Ausland warnt.19 Das Eingeständnis, dass die jahrzehntelange Propaganda dazu geführt hatte, dass der Antisemitismus nun auch in breiten sozialen und akademischen Kreisen akzeptabel war und dass es sich diesmal nicht nur um das Wiederaufflackern eines Strohfeuers handelte, sondern um eine Mentalitätswende, setzte sich nun bei vielen deutschen Juden durch.20

|| 16 Franz Oppenheimer: Soziologische Tagebuchblätter. In: Neue jüdische Monatshefte, 25. Dezember 1916, S. 170–172, hier S. 172. 17 Anon.: Der Jude als Ministerpräsident. In: Im Deutschen Reich (1918), H. 12 (Dezember), S. 459–460, hier S. 460. 18 Franz Oppenheimer: Der Antisemitismus. In: Neue jüdische Monatshefte, 10. September 1918, S. 527–531, hier S. 529 und 528. 19 Anon.: Brief eines deutschen Juden im Auslande. In: Neue jüdische Monatshefte, 25. September 1918, S. 551–556, hier S. 551. 20 Vgl. Peter G. J. Pulzer: The Rise of Political Anti-Semitism in Germany & Austria. Cambridge/MA: Harvard University Press 1988, S. 291–292: »[…] anti-Semitism was no longer dis-

5.2 Autorin und inhaltlich-strukturelle Konzeption des Romans | 199

Die Hoffnung auf Anerkennung als gleichwertige Mitbürger schwand damit auf ein Minimum. Während einige ihre Anstrengungen der Eingliederung verzweifelt weiter erhöhten, zog die Erkenntnis des Scheiterns ihrer Bemühungen für andere eine grundsätzliche Standortbestimmung mit sich. Manche setzten sich nun erstmalig ernsthaft mit der ihnen zugewiesenen Identität auseinander, ohne diese jedoch je voll und ganz zu akzeptieren. Für andere war »die Judenzählung der kritische Augenblick, in dem eine Umorientierung ihrer Identität entstand«, schreibt Mendes-Flohr. »Von ihrem geliebten Deutschland verschmäht, pochten manche Juden […] nunmehr auf ihre jüdische Identität und brachten damit einen negativ geprägten Stolz zum Ausdruck.«21 Waren die deutschen Juden vor dem Krieg in einem Zustand ambivalenter Selbstidentifizierung gefangen, so erforderten die Verhältnisse nun dringlicher als je eine Klärung. In diesem Kontext ist Landaus Holzweg zu lesen: als Beitrag zu einer Literatur, die sich zum Ziel setzt, am Bewusstwerdungsprozess einer Generation mitzuwirken.

5.2 Autorin und inhaltlich-strukturelle Konzeption des Romans Über Elisabeth Landau ist wenig bekannt, sie erscheint in keinen einschlägigen deutsch-jüdischen Literaturgeschichten. Aus einem Brief, den sie 1922 an den Lexikographen Franz Brümmer richtete, geht hervor, dass sie am 26. August 1884 in Berlin geboren wurde und sich nach ihrem Schulabschluss zunächst der Musik zuwandte und das Konservatorium besuchte.22 Über Landaus weiteren Lebensweg ist nur bekannt, dass sie sich in den zwanziger Jahren eine Zeit lang in Belgien niederließ,23 1933 jedoch wieder in Berlin gemeldet war.24 Danach verliert sich ihre Spur.

|| graceful in wide social and academic circles […]. […] The main difference between the political anti-Semitism of the post- and pre-war periods lies not in its content, but in its success.« 21 Mendes-Flohr, Im Schatten des Weltkrieges (wie Einleitung, Anm. 42), S. 21. 22 Elisabeth Landau: Brief an Karl Brümmer, 1. Juni 1922. Nachlass Franz Brümmer, Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur E. Landau Brü NL. 23 Ihr Name (Lizzie Landau) erscheint in den »Restitution Claims Records« nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Rubrik »Belgium claims«. Vgl. Records Concerning the Central Collecting Points (›Ardelia Hall Collection‹): Munich Central Collecting Point, 1945–1951, »Restitution Claim Records«, Belgium Claims, Book Lists: Errera (Jacques), S. 88; Zugriff unter http://www.fold3.com/document/269996485/ (04.01.2016).

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Unter dem Namen Lizzie Landau veröffentlichte sie 1912 einen lyrisch-elegischen Gedichtband, Aus allen Tonarten25, in dem sich noch keinerlei Anzeichen eines Interesses an Fragen deutsch-jüdischer Identität finden. Erst das Erlebnis des Ersten Weltkriegs und die mit ihm einhergehenden Welle des Antisemitismus führten dazu, dass Landau diese thematische Richtung einschlug: 1918 publizierte sie den Holzweg als ersten Band einer Romantrilogie, die sie Das Recht des Stärkeren betitelte. Die Veröffentlichung erfolgte unter dem Pseudonym L. Audnal, und der Wechsel des Autorennnamens trägt Bedeutung: Wenn aus der lyrisch-musikalischen Lizzie Landau nun ‒ geschlechtsneutral – L. Audnal wird, so lässt sich diese Verkehrung des Geburtsnamens als Verweis auf die Erschütterung der Identität Landaus und als Neukonstituierung der Autorenpersönlichkeit lesen.26 Der Holzweg erschien mit dem Untertitel Ein Berliner Roman im renommierten Erich Reiss Verlag, der seit seiner Gründung im Jahr 1908 einige der wichtigsten Autoren der Moderne unter Vertrag genommen hatte: Hugo von Hofmannsthal, D’Annunzio, Toller, André Gide, Julius Bab und Maximilian Harden. Das Vertrauen des Verlags – nach Paul Mendes-Flohr immerhin »einer der führenden Literaturverlage Deutschlands«27 – in die Autorin muss groß gewesen sein: Auf dem Vorsatzblatt des Holzwegs wird bereits darauf hingewiesen, dass es sich um den ersten Teil einer Trilogie handelt. Die drei Bände des Rechts des Stärkeren werfen anhand einer panoramisch angelegten Schilderung dreier Zeitpunkte den Blick zurück auf die Situation der Juden in Deutschland seit der Jahrhundertwende. Wie aus Anspielungen auf vieldiskutierte zeitgenössische Veröffentlichungen (u. a. Houston Stuart Chamberlains Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 1899) und modische Erscheinungen in Musik (Sidney Jones’ Operette Die Geisha; Erstaufführung in Berlin: 1897), Kunst und Innenarchitektur (die Van de Velde-Mode) leicht zu entnehmen ist, ist die Handlung des Holzwegs um 1900 angesiedelt. Der zweite Band, Ahasver (1920; ebenfalls Erich Reiss), konzentriert sich auf das Jahr 1914 und

|| 24 Angabe des Archivs Bibliographia Judaica, Universität Frankfurt. 25 Lizzie Landau: Aus allen Tonarten. Berlin: Curtius 1912. In ihrem Brief an Brümmer gibt sie weiter an, sie habe 1914 einen Roman mit dem Titel Schicksal an die Neue Musikzeitung verkauft. Dieser ist jedoch, soweit festgestellt werden konnte, nicht veröffentlicht worden. 26 Vgl. Landaus Bemerkung zu Brümmer: »Durch den Krieg erfuhr ich eine große Wandlung.« Landau, Brief an Brümmer (wie Anm. 22). 27 Mendes-Flohr, Im Schatten des Weltkrieges (wie Einleitung, Anm. 42), S. 295.

5.2 Autorin und inhaltlich-strukturelle Konzeption des Romans | 201

den Kriegsausbruch, und Die Brandfackel, 1929 bei E. Pierson in Dresden erschienen, schließt die Trilogie mit einem Blick auf das Kriegsende ab.28 Die folgende Analyse konzentriert sich auf den Holzweg, einen Roman, der verschiedene Lebensentwürfe deutscher Jüdinnen in breiter Schilderung darstellt und der Protagonistin Elise Frank eine tragende Stimme in der Formulierung deutsch-jüdischer Positionierung verleiht. Die Struktur des Romans lässt sich am treffendsten mit musikalischer Begrifflichkeit beschreiben, denn der Text baut auf der Form eines Liedes auf, das eine Reihe von Strophen durch einen jeweils leicht veränderten und weiterentwickelten Refrain von einander absetzt. Breite, auf szenischer Darstellung aufbauende Passagen, die die gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse des deutsch-jüdischen Bürgertums in Berlin lebendig schildern, wechseln ab mit richtungsweisenden Streitgesprächen. Diese refrainartig eingesetzten Streitgespräche strukturieren und fokussieren den Text, denn sie kreisen immer wieder um die eine Frage und skizzieren und festigen Positionen zu ihr: die Frage nämlich nach der Zukunft des Judentums in einem vom Antisemitismus beherrschten Deutschland. Da der Text nicht weithin zugänglich ist, sei hier eine etwas ausführlichere Darstellung von Inhalt und Struktur des Holzwegs gegeben: Landau führt ihre Leser gleich zu Anfang mitten in das thematische Herz des Romans: Sie beginnt in medias res mit einem Streitgespräch über den »Judenhaß«, der als »schwarzer Schatten« über Deutschland – und dem Roman – liegt.29 Die Situation der deutschen Juden grob umreißend, kontrastiert sie zwei Möglichkeiten der Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus. Erwin Frank, durch die Erfahrung der Ausgrenzung gedrückt und verbittert, sieht die Taufe als einzigen Weg, sein verzweifelt verfolgtes Ziel der Eingliederung in die christliche Gesellschaft zu erreichen; dieser Weg ist für den geradlinigen und aufrechten Karl Hinrichsen dagegen undenkbar. Hinrichsen vertritt die Position des Idealisten, der auf den Wert persönlicher Leistung vertraut und sich hoffnungsvoll für eine von den Werten der Aufklärung bestimmte deutsche Zukunft einsetzt.

|| 28 Die lange Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung des zweiten und dritten Bands sowie der Wechsel des Verlags mögen auf einen deutlichen Qualitätsverlust im letzten Band zurückzuführen sein, in dem die scharfsichtige gesellschaftliche Analyse des Holzwegs einem schwülvisionären Stil weicht. 29 L. Audnal: Der Holzweg. Berlin: Erich Reiss 1918, S. 43. Im Folgenden erscheinen Verweise auf diesen Roman unter dem Kürzel H.

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Über dieses Gespräch ergibt sich eine Exposition der beiden Kontrahenten und ihrer familiären Hintergründe; und während von dem norddeutschen weltoffenen Arzthaushalt, dem Hinrichsen entstammt, im Weiteren nicht mehr die Rede sein wird, entwickelt der Roman die kleinbürgerliche Welt der Berliner Franks mit detailgetreuer Ausführlichkeit. Generationenübergreifende Konflikte um die Haltung zum Judentum bestimmen die Konstellation der Figuren: Das ihrer jüdischen Herkunft treue alte Elternpaar steht der sehr kritisch gezeichneten überassimilierten jüngeren Generation gegenüber. Ist damit Erwins Einstellung synchronisch (gegen Hinrichsen) und diachronisch (gegen die Eltern) in Position gesetzt und diskreditiert, so bringt Landau nun einen dritten Standpunkt ins Spiel: denjenigen von Erwins verwitweter Schwägerin Elise, die die Freiheit, sich zu ihrer jüdischen Identität zu bekennen, als Lebensgrundlage für sich und ihren elfjährigen Sohn Konrad begreift und die Möglichkeit der Emigration ins europäische Ausland erwägt. Auf diese breite Exposition folgt ein zweiter Teil, der Hinrichsen, Erwin und Elise begleitet und in einer Reihe von Szenen verschiedener Breite und Komplexität die soziale Umwelt des Berliner jüdischen Bürgertums – und vor allem der jüdischen Frauen – darstellt. Besonders dem vielstimmig angelegten Panoramabild eines Empfangs bei der jüdischen Familie Wollmann, das die »Streberei und Eitelkeit« Berlins (H, 60), Antisemitismus und Profitgier der nicht-jüdischen Gäste und die organisierte Geselligkeit als einen nur wenig verschleierten Heiratsmarkt enthüllt, widmet Landau sich mit einiger Ausführlichkeit. Nach diesen szenischen Schilderungen führt sie ihre Leser wieder klar auf die Leitlinie des Romans zurück: Die breite Darstellung wird durch ein Streitgespräch zwischen Hinrichsen und Elise abgelöst. Anhand der existenziellen Auseinandersetzung dieser beiden positiven Leitfiguren, die sich persönlich immer näher kommen, verschärft Landau noch einmal den Blick auf die zwei Positionen, die den deutschen Juden bleiben, die sich zu ihrer jüdischen Identität bekennen: Während Hinrichsen den idealistischen Kampf für die Gleichstellung und Anerkennung der Juden auch im Angesicht des allgegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht aufzugeben bereit ist, entschließt Elise sich für die Emigration als Weg in die Zukunft. Landau wiederholt dasselbe strukturelle Schema der Abfolge von strophischer Schilderung und refrainartiger diskursiver Konzentration im Folgenden noch zweimal: Handlungsstränge weiterführend, die durch Begegnungen auf dem Wollmannschen Empfang initiiert wurden, konzentriert eine weitere Szenenfolge sich auf den kommerziellen Charakter von Werbung und Eheschließung im jüdischen Berliner Bürgertum. Zentral werden hier das Leiden einer Freundin Elises, der jungen Asta Behrens, unter dem elterlichen Drängen auf

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eine Verlobung und Erwins offen als Geschäft formulierte Werbung um die verarmte Aristokratentochter Margot von Rhaden verhandelt. Die plot-Entwicklung wird nun noch ein weiteres Mal durch eine Auseinandersetzung zwischen Hinrichsen und Elise unterbrochen. In diesem Streitgespräch, der Schlüsselszene des Romans, kontrastiert Landau Hinrichsens Heimattreue und Patriotismus – samt seiner Überzeugung, für die deutschen Juden, seien sie auch noch so »schwächliche Glaubensgenossen«, kämpfen zu müssen (H, 191) – mit Elises Auffassung, dass das zeitgenössische Deutschland sich das Recht auf den Patriotismus seiner jüdischen Bürger verwirkt habe (»Sie haßte Deutschland«; H, 194). Der unüberbrückbare Meinungsunterschied führt zur Lösung der Verbindung zwischen den beiden Hauptprotagonisten. Nach diesem Höhepunkt bleibt es Landau nur noch, die einzelnen Erzählstränge zu Ende zu führen: Asta wird an einen jungen jüdischen Rechtsanwalt verheiratet, Erwin konvertiert und heiratet seine adlige Braut, die keinen Hehl aus ihrem rein finanziellen Interesse an dieser Verbindung macht. Erwins Übertritt und Heirat werden als gleichbedeutend mit dem Ende der Familie Frank konfiguriert: Der Kummer der Eltern führt zu beider Krankheit und Tod. In einem abschließenden Gespräch zwischen Hinrichsen und Elise, die sich aufgrund der Krankheit des kleinen Konrad wieder nähergekommen sind, werden ihre Positionen noch einmal bestätigt. Hinrichsen bleibt in Deutschland, obwohl das Lehrstuhlangebot einer süddeutschen Universität zurückgezogen wird, als er sich weigert zu konvertieren; Elise verlässt mit Konrad das Land. Der Wunsch, dass das »wirkliche Deutschland«, das den humanistischen Werten Goethes verpflichtet ist, nur »im Schoß der Erde« schlummere und eines Tages wieder zu erwecken sei, sowie die Hoffnung auf ein »fernes Reifen« Deutschlands werden abschließend geäußert, beide wirken aber angesichts des umfassenden Bilds einer am Antisemitismus und ihren Folgen erkrankten Gesellschaft wenig überzeugend (H, 274, 276).

5.3 Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans Wie dieser Überblick über Struktur und Handlung des Romans schon nahelegt, greift Landau in ihrem Holzweg im Hinblick auf die Auswahl des abgebildeten Milieus, die Figurenkonstellationen und die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen auf etablierte Konventionen des jüdischen Zeit- und Familienromans zurück. Milieuschilderung und Reflexion der Situation der Juden in Deutschland sind ausschlaggebend für diese Romangattung, die dem weitgehend assimilier-

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ten jüdischen Bürgertum Raum für Orientierung der eigenen Identität zwischen jüdischer Eigenheit und Eingliederung in die christliche Gesellschaft, aber auch für die Auseinandersetzung mit der großstädtischen Gesellschaft gab, die ihren Lebensbereich umgab und definierte. Der jüdische Zeitroman hatte sich um die Jahrhundertwende zum »bedeutendste[n] Medi[um] des literarischen Diskurses im deutsch-jüdischen kulturellen System« entwickelt30 und ist fest in der Zeit vor 1914 verankert – einer Zeit, in der die deutsch-jüdische Selbstdefinition innerhalb der deutschen Gesellschaft noch Spielraum hatte.31 Wenn Landau nun 1918, zu einem Zeitpunkt, wo die antisemitische Propaganda auf den Ausschluss der deutschen Juden hinarbeitete, auf die etablierten Genrekonventionen zurückgreift, so ist nach den strukturellen Anlehnungen, vor allem aber auch nach den zeitbedingten Abweichungen ihres Romans von diesen Konventionen zu fragen, und danach, welchen Aufschluss sie über den Zusammenhang von gesellschaftlicher Entwicklung und den Veränderungen literarischer Strukturen geben. Für diese Fragestellung ist es hilfreich, den sehr weit gefassten Begriff des ›Zeitromans‹ in zwei Dimensionen zu zerlegen und die Analyse darauf zu konzentrieren, wie Landau die diachronische Struktur des Familienromans und die synchronische Ausbreitung verschiedener jüdischer Positionen einer generationellen Schicht entwickelt. Es wird zu zeigen sein, wie sie beide Dimensionen der Darstellung nutzt, um verschiedenen Lebensentwürfen und Haltungen Raum zu gewähren und um die Poblematik des Judentums nach dem Ersten Weltkrieg auf die Handlungsebene des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu projizieren. Folgen wir der Definition Ritchie Robertsons, so konzentriert sich der Familienroman auf ein relativ abgeschlossenes deutsch-jüdisches Milieu und zielt darauf ab, die jüdische Subkultur mit Hilfe der Darstellung von innerfamiliären Span-

|| 30 Krobb, »Der Weg ins Freie« im Kontext des deutsch-jüdischen Zeitromans (wie Kap. 3, Anm. 32), S. 201. 31 Robertson beschränkt seinen Überblick über jüdische Familienromane (bis auf einen kurzen Verweis auf Schnitzlers Fräulein Else) auf die Jahre vor 1914 (vgl. Robertson, The ›Jewish Question‹ [wie Einleitung, Anm. 7], S. 273–285), und auch Sigrid Bauschinger konstatiert: »Nach dem Ersten Weltkrieg entstehen auch keine traditionellen jüdischen Familienromane mehr.« Sie identifiziert jedoch Karl Jakob Hirschs Kaiserwetter (Berlin: S. Fischer 1933) und Lion Feuchtwangers Geschwister Oppermann (Amsterdam: Querido 1934) als späte Beispiele von Romanen, die die Familie »wiederentdeckten«. Bauschinger, »Die alten Tafeln zertrümmern«? (wie Einleitung, Anm. 54), S. 131.

5.3 Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans | 205

nungen kritisch zu beleuchten.32 Die Figurenkonstellation beruht auf der Gegenüberstellung der Generationen: Während die ältere Generation den jüdischen Gebräuchen weitgehend treu bleibt, scheren deren Kinder oft aus den tradierten Lebensweisen aus. Landaus Darstellung der Familie Frank entspricht weitgehend den Konventionen dieses Genres. Sie gibt diesem Strang ihres Romans ausführlich Raum und baut die Konstellation ihrer Figuren symmetrisch auf: Sowohl männliche als auch weibliche Perspektiven und Erfahrungsbereiche kommen zur Sprache, wenn sie den Großeltern Julius und Amalie Frank deren Kinder Erwin und Gertrud und, in der dritten Generation, Gertruds »dralle[n] Nachwuchs« (H, 24) – Lotte, Käthe und einen namenlos bleibenden Jungen – gegenüberstellt. Ähnlich wie in Hauschners Darstellung der Familie Lowositz ist der Gedanken- und Handlungsspielraum der Figuren in geschlechterspezifische Bereiche getrennt: Julius wird von seinen beruflichen Sorgen als Apotheker geplagt, vor allem von dem Druck, mit jüngeren Konkurrenten und deren marktorientierten Gepflogenheiten Schritt zu halten; Erwin, der kein Interesse am väterlichen Geschäft zeigt, gibt sich pseudo-philosophischer Schriftstellerei hin. Der Aktionsradius der Frauen bleibt dagegen eng auf die Familie bezogen, und die Gestaltung dieses weiblichen Lebensbereichs ist es, mit der Landau sich schwerpunktmäßig befasst. Die Enkelinnen bleiben zwar sehr blass gezeichnet, der generationelle Längsschnitt wird aber durch die Einbeziehung der Gestalt der Asta Behrens erweitert, die Landau die Zeichnung jüdischer Weiblichkeit in den zu Typen kondensierten Gestalten der jüdischen Großmutter (Amalie), Mutter (Gertrud) und des jungen Mädchens (Asta) ermöglicht. Amalie (Malchen) Frank verkörpert die ältere Generation, die noch an einigen wenigen jüdischen Gebräuchen wie dem Einhalten der Fastentage festhält. Dieses Festhalten an jüdischer Tradition und Religion wird durchaus nicht ungebrochen positiv geschildert; immer wieder lässt die Autorin durch leise Ironie hervorscheinen, wie fremd ihr diese Mentalität ist. Wiederholt vermischt sie z. B. die Begriffe der Religion und des Aberglaubens, so wie in der folgenden Beschreibung: »Frau Amalie Frank, geb. Veilchenfeld war fromm, fromm aus

|| 32 Vgl. Ritchie Robertson: Cultural Stereotypes and Social Anxiety in Georg Hermann’s »Jettchen Gebert«. In: Weiss-Sussex (Hg.), Georg Hermann (wie Einleitung, Anm. 43), S. 5–21, hier S. 10. Robertson steht der Begrifflichkeit des ›Zeitromans‹ skeptisch gegenüber, denn er verweist darauf, dass die meisten Buchpublikationen, die unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, nicht die gesellschaftliche Breite umfassen, die einen genuinen Zeitroman auszeichnet. Für die Mehrzahl der in den frühen Jahrhundertjahren entstandenen jüdischen Romane, die die Enge des beschriebenen Milieus hervorheben statt einen panoramischen Blick auf die Gesamtgesellschaft zu bieten, ist, wie er betont, die Bezeichnung ›Familienroman‹ angemessener.

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Überzeugung und fromm aus Aberglauben! – Sie prophezeite denjenigen Unglück, die von den heiligen Sitten und Gebräuchen abließen, ihr ständiger Kummer war die Gottlosigkeit ihrer Nachkommen.« (H, 82) Doch trotz ihrer Einfachheit und dem abergläubischen Beharren auf vormodernen Glauben trägt Amalie aufgrund ihrer Güte und ihrer stillen, feinfühligen Sorge um die Familie die Sympathien der Leser. Stimmt Landau auch mit der Überzeugung ihrer Figur nicht überein, so zeigt sie doch auf, dass eben diese Überzeugung Amalie eine innere Stärke verleiht, die ihrer Tochter abgeht. »Ich glaube, daß […] ihr euch mehr einreden laßt, als unsereins dazumal, trotzdem ihr so viel gelernt habt«, ermahnt sie Gertrud und erinnert sie: »Du bist ebensoviel wert wie deine christlichen Mitmenschen […]!« (H, 84–85) Amalies schwere Krankheit, eine körperliche – und insofern ›natürliche‹ – Reaktion auf den Konfessionsübertritt ihres Sohnes, unterstreicht im Kontrast die ›Unnatur‹ dessen Handelns. In der Darstellung dieser Krankheit, die als Prozess des Niedergangs der Franks als jüdischer Familie zu lesen ist, verbindet sich die realistische Beschreibung mit der bildlichen Bedeutungsebene nach dem Vorbild von Thomas Manns Buddenbrooks. Erfolgreich bedient Landau sich literarischer Mittel der Moderne, um die Auflösung der Familie als physischen Vorgang darzustellen. Amalie wird zunächst immer stiller und schwächer: »[…] seit Erwins Taufe lebte sie in einer ständigen Angst …. Nichts konnte mehr gelingen […]! Darum sprach sie fast gar nichts mehr, sie fand nichts zu erzählen […].« (H, 206) Hier ist mehr als die abergläubische Angst Amalies um ihre Kinder im Spiel: Durch das Ausscheren Erwins aus dem Familienverband, so macht Landau deutlich, hat die Mutter ihre Bedeutung als Instanz verloren, die identitätsbestimmende und -bestätigende Erfahrung durch Sprache und Erzählung weiterreichen kann. Auf Erwins Nachricht seiner Verlobung mit Margot von Rhaden reagiert sie dementsprechend auch nur noch mit Schweigen und versinkt in einer tiefen Depression. In einer Szene, die den inneren Monolog Amalies und Julius’ ineinander verschränkt, stellt Landau die Auflösung beider Sprachfähigkeit dar, die nichts weniger ist als die Auflösung der Ausdrucks- und Handlungsfähigkeit ihrer selbst als Subjekte. Julius’ Wut über Margot, die Erwin den Kauf einer Villa in Westend abverlangt (H, 256), mündet in einen Schlaganfall. Satzfetzen, die seine Bedrängnis zum Ausdruck bringen, machen schließlich Hassausbrüchen gegen die Christen und Bildern der Lebensbedrohung Platz: […] er mußte den Häuserkauf rückgängig machen … er mußte … da schlägt er mit der Hand durch die Luft, weil er fühlt, daß sie ihn fassen …. Verzweifelt wehrt er sich … sie sind seiner habhaft geworden … trotz aller Kraft ist er ja nur ein alter Mann … nun fassen sie ihn, nun beginnen sie ihn auszupressen, er will ihnen sagen, daß er seine Einwilligung

5.3 Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans | 207

zum Häuserkauf gegeben …. Doch vergebens … er kann die Lippen nicht auseinanderbringen … die Schmarotzer halten ihn in eisernen Klammern […]. (H, 256–257)

Gleichzeitig schildert Landau die Steigerung von Amalies Depression zu einer geistigen Verwirrung, die sie der Denk- und Sprechkraft beraubt und sie dazu zwingt, immer wieder die gleichen Worte zu wiederholen (»ob sie will oder nicht, dringen sie ihr über die Lippen«; H, 257): »Wir müssen die Türen geschlossen halten, sonst tritt das Unglück ein, das dahinter kauert.« (H, 258) Der Tod der beiden Alten tritt kurz darauf ein. Landaus Sprache passt sich der Zeichnung des »Verfalls einer Familie« durch den Übergang von erzählerischer Kontrolle und leicht ironischer Allwissenheit zu inkohärenter Sprachzersetzung überzeugend an. Amalies und Julius’ Tochter Gertrud, das weibliche Pendant zu ihrem Bruder Erwin, ist ebenso wie dieser als unselbstständige und von der zwanghaften Suche nach Integration in die nicht-jüdische Gesellschaft getriebene Figur gezeichnet. Ihre angestregten Bemühungen um Akzeptanz und Eingliederung wirken, auch wenn sie einer gewissen Tragik nicht entbehren, in ihrem erschreckenden Mangel an Stolz und Geradlinigkeit in erster Linie abstoßend. Für den jüdischen Familienroman der frühen Jahrhundertjahre hebt Sigrid Bauschinger als typisch hervor, dass das Ausscheren der jüngeren Generation aus den jüdischen Gebräuchen oft mit einer Suche nach Orientierung in einer Welt zusammenfällt, die durch den Einbruch der Moderne gekennzeichnet ist.33 Else Croners ewig im Trubel großstädtischer neuer Moden und Massenkultur gehetzte ›moderne Jüdin‹ gäbe in diesem Sinn eine typische Vertreterin dieser Generation ab, doch wie Bauschinger betont, befreien gerade die Frauen sich auch im positiven Sinn aus der Enge ihrer Herkunft durch kreatives und zukunftsweisendes Engagement in den Bereichen der Kunst oder der Politik.34 Wenn Landau das Genre des Familienromans jedoch nun, 1918, wieder aufgreift, steht die Auseinandersetzung mit kulturellen Bewegungen der Moderne

|| 33 Bauschinger, »Die alten Tafeln zertrümmern«? (wie Einleitung, Anm. 54), S. 129. 34 Bauschinger verweist beispielsweise auf die Figuren der Jeanette in Jakob Wassermanns Die Juden von Zirndorf (1897) und der Konstanze in Adolf Dessauers Großstadtjuden (1910). Vgl. ebd., S. 126–130. Bauschingers positiver Einschätzung Jeanettes als »befreite Frau« steht allerdings Fritz Martinis Feststellung gegenüber, »[i]hre Emanzipation bleib[e] im rauschhaftsexuellen Lebensdrang stecken« und sie bliebe eine »in sich Gefangene«. Fritz Martini: Jakob Wassermann: Die Utopie eines Messias in der Moderne. Zu dem Roman »Die Juden von Zirndorf«. In: Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter Müller-Seidel (Hg.): Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1984, S. 461–484, hier S. 477–478.

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nicht mehr im Brennpunkt des Interesses. Hier hat das überzogen assimilatorische Verhalten der jungen Generation eine neue Dringlichkeit entwickelt und lässt kein anderes Engagement mehr zu. Gertrud ist – ebenso wie Erwin – vom Antisemitismus ihrer christlichen Umgebung »gebogen« und »krumm« gemacht, »verkümmert« (H, 88 und 37). In dieser Beschreibung verbindet sich eine moralisch begründete Kritik an mangelnder Aufrechtigkeit mit einer aus der Biologie entlehnten Metaphorik des fehlgeleiteten, durch ständigen Druck aus der natürlichen Form gepressten körperlichen Wachstums. Kontrastiv sind die außerhalb der engen Familienbande stehenden Figuren Hinrichsen und Elise, die die Loyalität zur jüdischen Identität verkörpern, mit Kraft und Lebenstüchtigkeit, Feinheit und Geradlinigkeit ausgestattet, Eigenschaften, die sich auch in ihrem körperlichen Wuchs zeigen: Elises Gestalt, so formuliert Landau, schien »schlank und fein wie eine lichte Blume […] aus der schwarzen Witwentracht herauszuwachsen« (H, 25) und Hinrichsen wird als »junger Hüne« beschrieben, in dessen »breite[m], kraftvolle[m] Gesicht […] blaue, freundliche Augen [leuchteten]« (H, 30).35 Zwar ist, wie Krobb allgemein für den Typus des deutsch-jüdischen Zeitromans auch vor 1918 feststellt, »Konversion […] für keinen der Texte eine irgend gangbare Option«, doch die Gattung war in den Vorkriegsjahren fest in der Zielsetzung jüdischer Assimilation verwurzelt: »[D]as Selbstbild dieser jüdischen Bürger- und Bildungsschicht fand in dem Grundvertrauen in die Gestaltbarkeit und die Sinnerfülltheit der gesellschaftlichen Zustände und der gesellschaftlichen Entwicklungen in einer egalitären […] Richtung ihre politische und geistige Heimat« und »blieb das Anliegen aller Anstrengungen der deutsch-jüdischen Literatur«, erklärt Krobb.36 1918 ist jedoch der Erfolg dieses Ansinnens auf egalitäre Eingliederung grundlegend in Frage gestellt, und so erscheinen die opportunistische Anbiederung an die christliche Mehrheitsgesellschaft und die Konversionsbereitschaft der Juden umso kritikwürdiger. Im selben Maße wie der Zielhorizont der gelungenen Assimilation geschwunden ist, hat das aktive Einstehen für das Judentum – obwohl schon immer Bestandteil des erstrebten Idealzustands – in Landaus Roman an Gewicht gewonnen. || 35 Auch hier scheint wieder das vor dem Hintergrund zeitgenössischer Idealtypik entworfene Schönheitsideal des ›nordischen‹ Menschen auf, das uns schon bei Hauschner und Meisel-Hess begegnete. Auf den Kontext des biologistischen Denkens bei Landau wird zurückzukommen sein. 36 Krobb, »Der Weg ins Freie« im Kontext des deutsch-jüdischen Zeitromans (wie Kap. 3, Anm. 32), S. 215. Tatsächlich blieb sogar in Dessauers beißend-satirischer Darstellung jüdischer Kreise, die opportunistisch ihre Herkunft verleugneten, die christlich-jüdische Mischehe als Zielvorstellung intakt.

5.3 Dia- und synchronische Strukturen des jüdischen Familien- und Zeitromans | 209

Die Veränderung der Ausrichtung spiegelt sich in Verschiebungen gattungstypischer Konventionen. Zwei Konstituenten beispielsweise, die Robertson als bezeichnend für den jüdischen Familienroman hervorhebt, sind die Figuren des idealisierten nicht-jüdischen Freundes und des als peinlich empfundenen Verwandten aus der östlichen Provinz.37 Beide Figuren spiegeln die feste Verwurzelung des Romangenres im Streben nach jüdischer Eingliederung in die christliche Mehrheitsgesellschaft. In Landaus Holzweg wird keine Kritik an den Ostjuden mehr laut; die Abgrenzung der Familienmitglieder zu diesem leicht als ›fremd‹ abzulehnenden Typus ist nun durch ihre Ablehnung des eigenen Judentums ersetzt. Landau schildert in Gertrud und Erwin Frank den Typus des Juden, der den gesellschaftlichen Antisemitismus mit all seiner zersetzenden Kraft internalisiert hat – Erwin, so heißt es, »war von der Minderwertigkeit seiner Rasse überzeugt; der ständige Druck hatte die Empfindung geweckt und großgezogen« (H, 8) –, und sie perspektiviert diese Haltung dadurch, dass sie sie von der kritischen Warte Karl Hinrichsens aus schildert.38 Hinrichsen nimmt in dieser Hinsicht eine Position ein, die der des Artur Gschmeidler in Adolf Dessauers Großstadtjuden (1910) entspricht. Aber mehr noch: Er ersetzt in Landaus Entwurf den gattungstypischen idealisierten nicht-jüdischen Freund. Im Holzweg ist kein Raum mehr für die positive Darstellung eines Christen – Landau zeichnet in verbitterter Pauschalisierung alle Christen als Antisemiten –, doch sie gibt die gattungstypische Figur auch nicht auf, sondern verlagert sie in den innerjüdischen Bereich: Hinrichsen wird bei seiner ersten Einführung in die Familienrunde der Franks aufgrund seiner Erscheinung für einen Christen gehalten, doch seine durchgängig betonte idealisierte Andersartigkeit besteht in der Treue zu seiner jüdischen Abstammung. Landau beschränkt ihren kritischen Blick nicht nur auf die jüngeren Franks, sondern weitet ihn auf die Familie als Ganze aus und wendet sich scharf gegen die kleinbürgerliche Enge, für die diese steht. Wenn in der Beschreibung der Frankschen Wohnung, mit ihren »dumpfigen« Durchgängen, »Plüschmöbel[n]« und dem »aufdringliche[n] Küchengeruch« die Atmosphäre des Stagnierenden, Licht-und Luftlosen hervorgehoben wird, ist dies ohne Frage auch als Reflexion über die geistige Beschaffenheit ihrer Bewohner gemeint (H, 19–20). Die Distanz der bürgerlichen Autorin zu der kleinbürgerlichen Welt ihres Romanpersonals

|| 37 Vgl. Robertson, The ›Jewish Question‹ (wie Einleitung, Anm. 7), S. 280. 38 Schon auf der zweiten Seite des Romans heißt es beispielsweise: »Auch stieß es Karl ab, daß [Erwin] mit solcher Geringschätzigkeit von seinem Glauben sprach. Erwin Frank verwand es nicht, als Jude geboren zu sein; niemals konnte er sich genug darüber beklagen!« (H, 8)

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erinnert an Hauschners Zeichnung der Familie Katzler. Bei Hauschner jedoch steht die kleinbürgerliche Enge synonym für den Schritt zurück ins Ghetto und wird als Legitimation für Camillas schließlichen Ausbruch aus ihrer Ehe instrumentalisiert. Demgegenüber stellt Landau nicht den spezifisch jüdischen Aspekt der Frankschen Lebenswelt in den Vordergrund, sondern betont den Mangel an geistiger Frische und an Weltläufigkeit; vielleicht mag man in der behäbigen Muffigkeit dieses Umfelds samt des »süßliche[n] Sonnenuntergang[s] von Müller-Kurzwelly« sogar eine spezifisch deutsche Biederkeit erkennen. Eins jedenfalls ist deutlich: Aus diesem Milieu heraus kann das Problem der Existenz der Juden in Deutschland nicht gelöst werden. Die Familie ist zum Inbegriff einer Lebensweise geworden, der sich als »Holzweg« entpuppt hat. Die diachronische Dimension des Familienromans verknüpft sich im Holzweg mit einer breiten, synchronischen Gesellschaftsschilderung, die sich in erster Linie auf die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen konzentriert. Die ausladenden und oft in geschickter dialogischer Struktur und deskriptiver Eindringlichkeit gestalteten Gesellschaftsbilder dienen weitgehend dazu, die Verbreitung des Antisemitismus in bürgerlichen und adligen christlichen Kreisen zu veranschaulichen sowie das selbsterniedrigende Verhalten der deutschen Juden vor Augen zu führen. Auch hier gesteht Landau der Schilderung der weiblichen Lebenswelt ein besonderes Interesse zu. Die Rezension des Romans, die im Dezember 1918 in der Zeitschrift Im Deutschen Reich erschien, hebt durchaus angemessen »die Mädchenwelt mit ihren Eifersüchteleien, die Vorbereitungen für eine Polterabend-Aufführung, Balltrubel und Tafelrunde« als Schwerpunkte der Zeichnung »gesellschaftliche[n] Leben[s]« im Holzweg hervor.39 Weiter sehen wir christliche Mitgiftjäger auf einem Ball, die aus ihrer Verachtung für die jüdischen Gastgeber keinen Hehl machen – und jüdische Eltern, die ihre Tochter stolz an einen unangenehmen, aber reichen Fabrikanten verheiraten; die Direktorin einer exklusiven Privatschule, die der Kundschaft ihres Etablissements keine jüdischen Mitschülerinnen zumuten will – und die jüdische Mutter, die in der Bitte um die Aufnahme ihrer Töchter in diese Schule jeglichen Stolz verliert. Auch Mitglieder des verarmten Adels und der Offiziersschicht treten hier auf, die ihre Abscheu gegen die Juden nur mühsam überwinden, um aus deren verzweifeltem Integrationswillen finanziellen Profit zu ziehen – und deutsche Juden, die mit ihrem Geld sozialen Status zu kaufen trachten.

|| 39 J. L.: Ein Berliner jüdischer Roman. In: Im Deutschen Reich (1918), H. 12 (Dezember), S. 467–468, hier S. 468.

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 211

Breiten Raum nimmt in diesem Gesellschaftsbild der Handlungsstrang um das schüchterne junge Mädchen Asta Behrens ein. In der Darstellung dieser Figur knüpft Landau an Bilder an, die wir aus der Frauenliteratur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gut kennen, die sich der Kritik an der – nicht nur jüdischen – Mädchenerziehung widmete. Wie zum Beispiel Auguste Hauschner zeigt auch Landau die Leiden des jüdischen Mädchens unter dem Druck der Familie auf, ›eine gute Partie‹ zu machen; und wenn hier statt der verordneten Passivität der vom Vater ausgeübte Zwang des Sich-Anbietens im Vordergrund steht, so ist auch die Situation der Irene aus Brods Jüdinnen hier wieder als Echo zu vernehmen.40 Die Figur der Asta lag der Autorin offensichtlich am Herzen, doch es ist nicht von ungefähr, dass sie nur Nebenfigur bleibt. Denn Landaus Anliegen geht weit über die psychologische Darstellung des Leidens jüdischer Mädchen hinaus, ihr Anliegen ist ein Politischeres: Es geht um nicht weniger als die Richtungsbestimmung des Handelns und um die Zukunft der Juden in Deutschland. Die Familien- und Gesellschaftschilderungen des Romans bieten den notwendigen Hintergrund für diesen eigentlichen Kern des Romans, der in der diskursiven Auseinandersetzung der beiden Hauptprotagonisten Hinrichsen und Elise verhandelt wird.

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? Landau gestaltet die Beziehung zwischen Hinrichsen und Elise, die die Hauptproblematik des Texts trägt, als Paarbeziehung. Diese strukturelle Anlage, zentrale Probleme über eine Liebesgeschichte der Protagonisten zu entwickeln, ist nicht gerade neu; aber interessant ist die inhaltliche Verlagerung dieser Konstellation. Traditionell ist im deutsch-jüdischen Roman weit häufiger die Konfession der trennende Faktor zwischen Liebenden, und die Hürde, die es zu nehmen gilt, ist die der jüdisch-christlichen Eheschließung. Im Holzweg dagegen stehen die unterschiedlichen Haltungen zweier deutscher Juden zu ihrem deutschen Heimatland im Mittelpunkt des Interesses: Es geht um die Entscheidung zu bleiben und für Gleichstellung zu kämpfen oder ein neues Leben im Ausland zu beginnen. Beide Positionen werden von der Autorin als Verhaltensmöglichkeiten positiv belegt, denn beide gründen in den wiederholt aufgerufenen Prinzipien der Bewahrung der Würde, des mutigen Einsatzes der aufrechten Persönlichkeit und der Verantwortung. || 40 Zu Brods Jüdinnen vgl. Kapitel 3.

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Die Tatsache, dass die Verhandlung von Heimat im Textmittelpunkt steht, spiegelt die Wichtigkeit des Diskurses zur Entstehungszeit des Romans. Zwar hat der Heimatbegriff eine lange Geschichte und ist vor allem immer wieder mit der Arbeit an der Bildung der Nation verknüpft worden,41 aber Paul Krische, der sich 1918 in einer kritisch-analytischen und für die Entstehungszeit ungewöhnlich weltoffenen Monographie mit dem »Problem« der Heimat auseinandersetzte, konstatiert während des Weltkriegs und in dessen unmittelbarer Folge eine nie zuvor gesehene Intensität des Heimatgefühls. Er stellt fest: »[S]o hat der Weltkrieg Millionen Menschen erst ein altes, vergessenes Problem wieder zugeführt und lebendig gemacht, mit dem sie sich beschäftigen werden und […] an dem sie einfach nicht mehr so gleichgültig, wie früher, vorübergehen können.«42 Diese neue Intensität des Heimatbewusstseins führt er zum einen auf das aus dem Kriegserleben genuin erwachsene Heimatgefühl der Kämpfenden zurück, zum anderen aber auch auf staatliche Propaganda und die Instrumentalisierung dieses Gefühls.43 Wichtig ist es, nicht zu vergessen, dass diese Diskussion vor dem Hintergrund des erstarkten Antisemitismus stattfindet, denn Heimatrhetorik und Antisemitismus gehen oft Hand in Hand. Der in reformorientierten Kreisen aktive Krische vertritt eine Ausnahmestellung unter den zeitgenössischen Stimmen zum Thema Heimat, denn er bezieht diese auf »jede[n], der auf deutscher Scholle lebt«;44 in der Mehrheit der propagandistisch angewandten Rhetorik jedoch

|| 41 Zur Geschichte des Heimatbegriffs in der deutschen Kultur vgl. Blickle, Heimat (wie Kap. 4, Anm. 162); und Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman: Heimat: A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture 1890–1990. Oxford: Oxford University Press 2000. 42 Paul Krische: Heimat! Grundsätzliches zur Gemeinschaft von Scholle und Mensch. Berlin: Gebrüder Paetel 1918, S. 41. Wie klarsichtig diese zeitgenössische Einschätzung war, wird bestätigt, liest man eine fast identische Beurteilung der Situation in Celia Applegates gründlich recherchierter Studie zum deutschen Heimatbegriff aus dem Jahr 1990. Sie schreibt: »The circumstances of the war transformed a general and passive Heimat feeling into an explicit Heimat ideology.« Celia Applegate: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat. Berkeley: University of California Press 1990, S. 109. 43 Vgl. Krisches Einsicht, »dass heute der Heimatbegriff aus kurzsichtigen, politischen und staatswirtschaftlichen Gründen oft verwischt und in pharisäerhafte Gesinnungsprahlerei verkehrt wird«. Krische, Heimat! (wie Anm. 42), S. 73. 44 Ebd., S. 88. Gerade der Begriff der »deutschen Scholle« wurde auch in antisemitischen Diskursen immer wieder instrumentalisiert, vor allem in der Gegenüberstellung deutscher in der Landwirtschaft gründender Arbeit und jüdischem Erwerb in Bereichen, die einer kapitalistisch orientierten Moderne und abstrakter Geldwirtschaft zugeordnet wurden (vgl. u. a. Gustav

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 213

ist Heimat ein Begriff, der sich in Abgrenzung zum Fremden versteht und sich so von nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen leicht dazu verwenden lässt, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Krisches Darlegungen über den zeitgenössischen Heimatbegriff sind als Rahmen für die Betrachtung von Landaus Stellungnahme zum Thema hilfreich, denn sie ermöglichen es, einzelne Diskurskomponenten zu identifizieren und gesondert der Analyse zu unterziehen. Sowohl Krische als auch Landau stellen dem konventionellen Konzept von Heimat, das den Begriff der Zugehörigkeit zu einem sozialen Raum mit einer spezifisch geographischen Bindung verknüpft, einen flexibleren Begriff entgegen, der den sozialen Raum als aktiv konstruiert begreift und auf diese Weise die identitäre Zugehörigkeit von der geographischen Fixierung löst.45 Der Rückgriff auf Krisches strukturelles Modell erlaubt es, verschiedene kontrastive Aspekte, die jeweils Hinrichsen und Elise zugeordnet werden können, auszumachen und gesondert zu betrachten: Emotion (Irrationalismus) versus Rationalität; Gemeinschaftsorientierung versus Individualität; Festhalten an Bestehendem versus Mut zum Neuanfang; Gründung in diffuser romantischer Verklärung versus Verankerung im Konkreten; Beziehung zur Heimat als statischem Konzept versus Orientierung an transponierbaren Werten; und einseitiges Gefühl der Zugehörigkeit versus dialogische Konstitution der Beziehung zwischen Heimat und Individuum. Landaus Karl Hinrichsen fühlt sich der Heimat unlösbar verbunden. Der Heimatbegriff ist für ihn im engeren Sinn auf Schleswig-Holstein bezogen, das Land seiner Herkunft und Kindheit, darüber hinaus aber auch auf den nationalen Rahmen – Deutschland und den deutschen ›Geist‹ – ausgeweitet. Die kleinstädtische Gemeinschaft seines Herkunftsorts, die ihre jüdischen Mitbewohner selbstverständlich mit einbezog, und die Naturnähe der dortigen Lebensweise erlauben ihm eine Bindung an diese Heimat, die durch Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und durch die enge Beziehung zur Landschaft selbst gekennzeichnet ist.46 Landaus Betonung von Hinrichsens »Bodenständigkeit« (H, 16)

|| Freytag, Soll und Haben [1855]). Krisches Verwendung des Begriffs in der Absicht, eben solchen Diskursen entgegenzuwirken, ist bemerkenswert. 45 Friederike Eigler beschreibt diese beiden Diskurse als grundlegend für die Verhandlung von Heimat im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Sie weist auf die Bedeutung von Friedrich Ratzels 1897 veröffentlichter Studie Politische Geographie für die traditionelle Richtung und von Georg Simmels Soziologie (1908) für die Entlokalisierung des Heimatbegriffs hin. Vgl. Friederike Eigler: Heimat, Space, Narrative. Rochester/NY: Camden House 2014, S. 13. 46 Vor allem als Grenzland, aber auch als landwirtschaftliche Region und Herkunftsort des ›nordischen‹ Menschentyps war Schleswig-Holstein seit dem späten neunzehnten Jahrhundert eins der Zentren des Heimatdiskurses. Vgl. Boa/Palfreyman, Heimat (wie Anm. 41), S. 150–151;

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bedient sich einer Metaphorik der intensiven Beziehung zwischen Mensch und Land, die Hinrichsens Verwurzelung in der Heimat seines Geburtsorts zu einem der tragenden Elemente seiner Identität macht; er ist mit dieser so verwachsen, mit anderen Worten: so weit assimiliert, dass nicht nur sein Handeln und seine Werte, sondern auch sein Aussehen von dem anderer Norddeutscher nicht zu unterscheiden ist. »Kein Mensch will mir […] [die jüdische Herkunft] jemals glauben – wir sehen alle germanisch aus in meiner Familie: Das ist vermutlich die Mimicry!«, kommentiert er (H, 31), und hierin lässt sich zum einen der Bezugshorizont des Naturwissenschaftlers auf Darwins Lehre der Anpassung sehen – Hinrichsen ist Biologe an der Berliner Universität –, zum anderen aber auch ein ironischer Hinweis auf die topische Verwendung des Mimicry-Begriffs im antisemitischen Diskurs.47 In Holstein hat Landau zufolge der Antisemitismus keinen Halt gefunden, was sie auf die geringe »Zahl der semitischen Anwohner« zurückführt (H, 11), und so zieht Hinrichsen die Verbindung zu dieser regionalen Heimat auch nie in Zweifel; sie bleibt imaginärer Zufluchtsort, selbst wenn seine Beziehung zu Deutschland im Allgemeinen äußersten Spannungen unterworfen ist. Denn dass Deutschland, seine erweiterte Heimat, sich im antisemitischen Affekt gegen ihn wendet (»daß meine Heimat also handelt«; H, 102), erfährt er als »Entwürdigung«. Sein Leiden unter diesem Unrecht wird als Glaubenskrise formuliert: »Ich glaubte an Deutschland, und es gibt nichts Schmerzlicheres als seinen Glauben zu verlieren!« (H, 99) Dieser Wortgebrauch gibt zu denken, denn Hinrichsen charakterisiert sich anderenorts selbst als »Freidenker«, der »auf keinerlei Glauben schwören« kann (H, 11). Der Text legt hier nahe, dass die Verbundenheit mit der Heimat tiefer, grundlegender ist als die religiöse Konfession. Tatsächlich stellt Landau den traditionellen Heimatbegriff kritisch als regressiv-triebhaftes Bedürfnis dar. Diese Auffassung entspricht weitgehend derjenigen Krisches, und dieser erklärt unter explizitem Verweis auf Freud die »Verbindung und Gemeinschaft von Scholle und Mensch« als bedingt durch

|| vgl. auch Malte Klein: Das Kunstgewerbemuseum Flensburg. Konzeption und Funktion eines Museums im Kaiserreich. Kiel: Ludwig 2014. 47 Vgl. u. a. Hans Blüher: Secessio Judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Situation des Judentums und der antisemitischen Bewegung. Berlin: Der weisse Ritter 1922, S. 19: »Die Juden sind das einzige Volk, das Mimikry treibt. Mimikry des Blutes, des Namens und der Gestalt. […] Wenn aber der Jude Mimikry treibt, so verbirgt er seine ganze Substanz. […] Die jüdische Mimikry ist im Schicksal der Rasse verankert, das heisst in der Idee Juda.« Zum Mimicry-Begriff in antisemitischer Wendung vgl. auch Arndt Kremer: Deutsche Juden, deutsche Sprache: jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte, 1893–1933. Berlin: De Gruyter 2007 (Studia linguistica Germanica; 87), S. 120–126.

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»einen stark instinktmäßigen Drang, den wir […] Trieb nennen«. »Die Erfüllung eines solchen Triebes«, so fährt Krische fort, »erfolgt ohne Besinnen und Nachdenken, […] lediglich, um ein Bedürfnis des rein Persönlichen, des Triebmenschen zu befriedigen«.48 Auch neuere Studien zum Heimatbegriff gehen auf die regressive Tendenz des Heimatgefühls ein und definieren es als mentale Flucht in einen mit der Kindheit verbundenen imaginären Schutzraum.49 Tatsächlich ist Hinrichsens Charakter auch in anderer Hinsicht als stark emotional und triebhaft gesteuert geschildert. Er weiß sich auf einer Ballgesellschaft nur schwer der physischen Anziehungskraft eines parfümierten, koketten Mädchens zu entziehen, und nur mühsam gelingt es ihm, sein Verlangen nach Elise im Zaum zu halten; mehrmals übertritt er die von ihr gesetzten Schranken und versucht sie gewaltsam seinen Zärtlichkeiten zu unterwerfen (vgl. H, 108 und 271). Hinrichsen befindet sich geradezu im Bann seines Heimatgefühls; um mit Krische – und Freud – zu sprechen: es gelingt ihm nicht, den Trieb durch Vernunft zu regulieren. Wiederholt unterstreicht Landau sein Unvermögen, sich der Heimatbindung zu entziehen (»ich könnte mich nimmermehr dazu verstehen, im Ausland zu leben«; H, 107) und die damit verbundene identitäre Veränderung vorzunehmen (»… ich vermag nicht anders zu werden …«; H, 193). Diese Schwäche wiegt schließlich sogar schwerer als seine Liebe zu Elise und verstellt seinen Weg zu persönlichem Glück. Wenn Elise ihn, seinem langen Werben endlich nachgebend, schließlich kurz vor der Abreise nach England auffordert, mit ihr zu gehen, ist er dazu nicht in der Lage: »Ich kann die Heimat nicht verlassen!«, bekennt er; und Elise bringt die Situation auf den Punkt, wenn sie hierauf mit dem bitter-ironischen Ausruf »Und doch liebst du mich!« reagiert (H, 271). Trotz Hinrichsens machtvoller Bindung an die deutsche Heimat bleibt diese jedoch begrifflich recht diffus und geht über allgemeine diskursive Versatzstücke wie »ich liebe die Heimat, mein Geist ist deutsch« (H, 192) nicht hinaus. Foucaults Definition des Diskurses als Transport von Grundannahmen in be-

|| 48 Krische, Heimat! (wie Anm. 42), S. 50. 49 Vgl. z. B. Blickle, Heimat (wie Kap. 4, Anm. 162), S. 72. Auch ohne auf Freud zurückzugreifen, steht diese Auffassung in einer langen gedanklichen Tradition, die sich unter anderem schon in Kants Denken über den Nationalstolz manifestiert. In seinen »Reflexionen zur Anthropologie« bezeichnet Kant diesen als »Wahn« und als »instinctmäßig[en] Mechanismus«. Instinkte aber sind »blind« und gründen in der »Thierheit an uns«; sie müssen, so Kant weiter, »durch Maximen der Vernunft […] ersetzt werden«. Immanuel Kant: Reflexionen zur Anthropologie. In: Kants Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd XV. Berlin: Georg Reimer 1913, S. 55–980, hier S. 590–591.

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stimmten Rede- und Denkkonfigurationen, die erlauben, dass »so wenig Raum wie nur möglich zwischen dem Denken und der Sprache eingenommen wird«, bestätigt sich hier.50 Folgen wir Krisches begrifflicher Trennung von romantischer (oder Feiertags-) Heimat und Alltagsheimat, so hängt Hinrichsen dem durch dichterische Überhöhung rhetorisch konstituierten romantischen Heimatbegriff an, in dem sich »verklärte erlebte Dinge mit verschönten Erinnerungen und erträumten Sehnsuchtsgebilden zu einem unbestimmten Gefühl [vereinigen], in dem trotz der Vielseitigkeit der bestimmenden Formen das Bewußtsein von etwas Zugehörigem lebt«.51 In der Situation der deutschen Juden 1918 ist dieser Versuch des Festhaltens an einem idealisierten Bild von Gemeinschaft durchaus verständlich. Gisela Ecker hat – in Umkehrung der positiven Definitionselemente des Heimatbegriffs – auf die Verunsicherung verwiesen, die ihm zugrundeliegt: ›Heimat‹ bietet eine Reduktion von Komplexität (unter dem Stichwort ›Vertrautheit‹), begegnet der Angst vor Instabilität (unter dem Stichwort ›Beständigkeit‹), der Angst vor Auflösung von Identität (unter dem Stichwort eines starken ›Wir‹ und der Grenzziehungen zwischen Innen und Außen).52

Diese Ängste mögen durchaus die Ursachen für Hinrichsens Festhalten an der Heimat sein, und doch ist es Landau möglich, seine Position als eine der beiden positiv konnotierten Möglichkeiten jüdischen Handelns im Angesicht der antisemitischen Bedrohung zu zeichnen. Dies liegt daran, dass sie nicht als bloß passiv-resignative und rückwärtsgewandte Haltung gezeichnet wird, wie sie oft im konservativen Kleinbürgertum Halt fand,53 sondern mit einem aktiven, altruistischen und wiederholt als »mutig« beschriebenen Engagement für die Anerkennung der jüdischen Deutschen als Mitglieder der Volksgemeinschaft ver-

|| 50 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer 1979, S. 32. 51 Krische, Heimat! (wie Anm. 42), S. 30. 52 Gisela Ecker: ›Heimat‹: Das Elend der unterschlagenen Differenz (Einleitung). In: Gisela Ecker (Hg.): Kein Land in Sicht: Heimat – weiblich? München: Fink 1997, S. 7–31, hier S. 30. Ähnlich definieren auch Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter Heimat als »Krisen- und Verlustbegriff«, denn sie gehen davon aus, dass »[e]rst der geglaubte Verlust […] das entscheidende Moment der Distanz [ermöglicht] in dem Sinne, das hier das unhinterfragte Nahverhältnis aufgelöst wird und damit überhaupt erst zum Thema werden und Reflexion evozieren kann.« Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung. In: Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter (Hg.): Heimat: Konjunkturen und Konturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld: transcript 2007, S. 9–55, hier S. 11. 53 Vgl. hierzu Blickle, Heimat (wie Kap. 4, Anm. 162), S. 72.

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 217

bunden ist. Wenn Hinrichsen jedoch immer wieder von Zweifeln am Wert dieses Engagements befallen wird, wenn die Formulierung »ich will die Heimat durch meine Liebe gewinnen« durch den Gebrauch des Modalverbs darauf verweist, dass er eben nicht in ihrem Besitz ist (H, 108), so legt der Text nahe, wie groß die Hürden sind, die er zu überwinden hat. Es bedarf nicht erst Elises Beschreibung seines Idealismus als »Kampf mit Windmühlen« (H, 106), um sich der Einschätzung der Autorin gewahr zu werden, dass diesem Kampf, wie auch Hinrichsens Heimatbegriff, der Gegenwartsbezug fehlt. Die breite Schilderung des gesellschaftsdurchdringenden Antisemitismus, die aus jeder Seite dieses Romans spricht, lässt keinen Zweifel daran. Mit Elise stellt Landau Hinrichsen eine Figur entgegen, die dessen romantisierendem Heimatverständnis mit einer rationalen, auf kritischer Abwägung der gegenwärtigen Situation beruhenden Haltung und mit der Befürwortung eines unabhängig von örtlicher Gebundenheit ständig neu zu konstituierenden Begriffs sozialer Zugehörigkeit begegnet. Elise vertritt eine scharfsichtige Außenseiterperspektive, wie Simmel sie als typisch für den »Fremden« betrachtet, der, aus Traditionen und gemeinschaftlichen Zwängen gelöst, einen unverstellten Blick auf die Gemeinschaft wirft.54 Kühl und vernunftgesteuert, begegnet Elise Hinrichsens idealistischem Wunschdenken mit einer in der »Wirklichkeit« (H, 192) wurzelnden Feststellung der Tatsachen: »Sie glauben dem deutschen Judenleid Abhilfe schaffen zu konnen«, sagt sie zu Hinrichsen, »– ich gebe diese Sache verloren, wir vermögen sie nicht zu bessern – das Elend setzt seinen unseligen Kreislauf fort, hält nur ein, wenn der letzte Jude der Verfolgung zum Opfer fällt« (H, 105). Dieser Pessimismus mag zeitgenössischen Lesern als Defätismus erschienen sein; aus heutiger Sicht jedoch ist Elises Haltung, hinter der wir auch die Meinung der Autorin sehen, erstaunlich weitsichtig. Das Wort »Heimat« gebraucht Elise nicht; weder in Bezug auf Deutschland ‒ sie hat die innerliche Abwendung von einem Land, »dessen Trachten danach geht, Scharen seiner Bürger ihrer persönlichen Würde zu berauben« (H, 192) bereits vollzogen und bereitet die äußerliche Abkehr (den Gang in die Emigration) vor ‒ noch auf einen anderen wie auch immer gearteten regionalen oder geistigen ›Boden‹. In einer polemischen Gleichsetzung des Heimatbegriffs mit dem des Patriotismus verweist sie auf die Rhetorikanfälligkeit des Konzepts: »[…] wenn ich […] höre, daß es Deutsche gibt, die kaltblütig den Wunsch aussprechen, das Pogromverfahren auch in ihrem Lande angewendet zu sehen, dann werden

|| 54 Vgl. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 764–771.

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Sie wohl meinen Mangel an Patriotismus begreiflich finden!« (H, 192) In dieser bitter-sarkastischen Formulierung ist die Wortwahl sicher kein Zufall; Elise benutzt den während des Kriegs propagandistisch aufgeblähten Begriff des Patriotismus, der in den Folgejahren immer weiter gestärkt und von der extremen Rechten instrumentalisiert wurde,55 ebenso bewusst, wie sie in expliziten argumentativen Exkursen die Ausgrenzung und Entwürdigung der deutschen Juden, den willkürlich instrumentalisierten »Überschwang germanischen Rassestolzes« und die Zuweisung der »Prügelknaben«-Rolle an die Juden anprangert (H, 192 und 100). Im Gegensatz zu Hinrichsens Heimatkonzept als einer einseitigen Beziehung des Subjekts zu Land und Gemeinschaft begreift sie die Beziehung als eine dialogisch strukturierte, gegenseitige, und eröffnet damit dem Individuum eine weit größere Autonomie. »Du bist frei, deine Heimat hat dich freigegeben!« (H, 271), erklärt sie Hinrichsen; und wenn er diesen Schritt in die Freiheit auch nicht gehen kann, betrachtet Elise doch für sich selbst die radikale Lösung aus einer Bindung, die ihr die Würde zu nehmen trachtet, als lebensnotwendige Grundlage: »Du meinst mich zu lieben … dennoch willst Du mir Leid zufügen, Du willst mich an dieses Land ketten, an dieses Land, das ich […] hasse […]«. (H, 271–272) Die Zurückweisung des konventionellen Heimatbegriffs bedeutet jedoch nicht, dass Elise die Idee der geistigen und emotionalen Zugehörigkeit, die ihm zugrundeliegt, ablehnt. Zugehörigkeit ist für sie jedoch auf ein lebendiges Geben und Nehmen gegründet: auf eine aktiv zu konstituierende Beziehung. Dies entspricht dem fortschrittlichen Heimatbegriff, den auch Paul Krische vertritt. »Es ist ein mittelalterlicher Irrwahn, für starre Dinge zu kämpfen und eine Fruchtlosigkeit«, stellt er fest und räumt folgerichtig die Möglichkeit ein, dass eine Heimatbeziehung, die nicht mehr auf ständiger Erneuerung beruht, beendet und eine neue Heimat aufgebaut werden kann.56 Heimat erscheint damit als nicht statischer, sondern dynamischer und geographisch übertragbarer Begriff, dem nicht der Bezug auf Gemeinschaft, sondern die Selbstdefinition des Einzel-

|| 55 Kurt Tucholskys Protest gegen die Vereinnahmung des Heimatbegriffs durch die nationalistische Propaganda ist interessant in diesem Kontext: »[I]m Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand«, schrieb er 1929. Kurt Tucholsky: Heimat [1929]. In: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. Hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1976, Bd 7, S. 312–314, hier S. 313. 56 Krische, Heimat! (wie Anm. 42), S. 63.

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 219

nen und die immer wieder neue Möglichkeit individueller Positionierung zugrundeliegt.57 Diese Konzentration nicht auf das Kollektiv, sondern auf die Persönlichkeit des Einzelnen ist grundlegend in Elises Denken. Sie definiert ihre Zugehörigkeit über kulturelle Grundwerte, die nicht durch den Ort der Geburt festgelegt sind: ihren Glauben und das Prinzip religiöser Toleranz. Der Gedanke, »frei und gleichberechtigt unter den anderen zu stehen« (H, 106) ist ein Wert der Aufklärung, durchaus auch der Aufklärung deutscher Prägung; aber Elise erkennt, dass das zeitgenössische Deutschland eben nicht mehr »das Deutschland Goethes« ist (H, 272), und so ist für sie die Beziehung zu ihrem deutschen Herkunftsland aufkündbar. Indem Elise dem Einzelnen eine Freiheit zugesteht, die Hinrichsen nicht denken kann und weil ihre rationale und humanistisch begründete Denkweise den Neuanfang in einer anderen westlichen Kulturnation nicht ausschließt, kann sie das binär konstruierte Gegensatzpaar von Heimat und Fremde aufbrechen. Über ihre Elise stellt Landau so eine dritte Möglichkeit neben die des Deutsch-Seins und der Heimatlosigkeit:58 die Besinnung auf die jüdische Identität und das Weltbürgertum. Am Ende des Romans verlässt Elise Deutschland, um sich mit ihrem Sohn Konrad in England niederzulassen und blickt mit optimistischer Festigkeit in dessen Zukunft: »Er wird sich später da ansiedeln, wo es ihm gefällt und wo er einen befriedigenden Wirkungskreis finden kann, ohne durch seinen Glauben behindert oder verbittert zu werden.« (H, 107) Diese Einstellung hat nichts mit der negativ konnotierten Heimatlosigkeit des Ahasver gemein. Die Emigration ins westeuropäische Ausland ist zwar durch eine Ausgrenzung veranlasst, die als bittere Entwürdigung erfahren wird, sie wird aber gleichzeitig auch als Möglichkeit von Neuorientierung und persönlicher Entfaltung formuliert: »in jenem berüchtigten Nomadentum der Kinder Israels liegt der Segen ihres Fluches, ein großer Schwung geht durch den Wanderer, der ihm Sinn und Augen öffnet« (H, 106). Landau stellt Elises rationale Haltung der gefühlsbetonten und idealistischen Handlungsweise Hinrichsens nicht nur kontrastiv entgegen, sondern || 57 Auch neuere Ansätze soziologischer Forschung verfolgen diesen flexiblen und persönlichkeitsbezogenen Ansatz. Vgl. Ina-Maria Greverus: The ›Heimat‹ Problem. In: Helfried Seliger (Hg.): Der Begriff ›Heimat‹ in der deutschen Gegenwartsliteratur. München: iudicium 1987, S. 9–28. 58 Vgl. die Positionsbestimmung der assimilierten deutschen Juden bei Gabriel Rießer, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts: »wenn […] der Deutsche uns Deutsche fremd nennen dürfte, so wären wir ohne Heimat und Vaterland«. Gabriel Rießer: Gesammelte Schriften. 4 Bde, 1867– 1868, Bd 4, S. 303ff., zitiert nach Adler, Die Juden in Deutschland (wie Anm. 10), S. 71.

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charakterisiert sie als Position der Reife und der Überlegenheit. Wenn Elise Hinrichsen wiederholt als »mein armer Junge« addressiert (H, 192 und 193) und ihm in geradezu mütterlicher Fürsorge Mut zuspricht, ist deutlich, dass Landau ihr die tragende Stimme in der Auseinandersetzung über die Position der deutschen Juden zuerkennt. In diesem Kontext ist die Namensgebung der Protagonistin interessant: Der Name Elise mag zufällig gewählt sein – er mag auch auf eine Wesensverwandtschaft der Figur mit der Autorin (Elisabeth) verweisen – aber es ist vielleicht auch nicht von ungefähr, dass »Elissa« der im Gründungsmythos Karthagos überlieferte Name für die phönizische Prinzessin Dido ist, die vor ihrem Bruder Pygmalion flüchtete und fern der Heimat an der nordafrikanischen Küste ein neues Weltreich gründete.59 Die Gründung der blühenden »Neustadt« (Karthada/Karthago) durch eine Phönizierin, eine Semitin also, die vor der Gewalt und Verfolgung in ihrem Herkunftsland fliehen musste, mag durchaus als Leitidee hinter Landaus Namenswahl für ihre Protagonistin gestanden haben. Diese Interpretation unterstützt die narrative Kraft der Konzeption Elises als Trägerin einer Geschichte von Emigration, Neuanfang und weiblicher Stärke.60 Es ist sicher auch kein Zufall, dass diese modellhaft gezeichnete Entscheidung für die Auswanderung im Holzweg der weiblichen Protagonistin zugeordnet ist. Landaus Elise steht dem von Rosi Braidotti beschriebenen Konzept des »nomadischen Subjekts« nahe, einem identitären Modell, dem die Bereitschaft zur Befreiung aus beengenden Normen, zu Mobilität und wiederholter Neukonstituierung von Zugehörigkeit eingeschrieben ist. Braidotti verbindet diese kritisch bewusste und zukunftsorientierte Haltung spezifisch mit Bewegungen weiblicher Befreiung: »The nomad is my own figuration of a situated, postmodern, culturally differentiated understanding of the subject in general and of the feminist subject in particular. […] the nomadism in question here refers to the kind of critical consciousness that resists settling into socially coded models of thought and behaviour.«61 Und auch wenn Braidotti ihr nomadisches Subjekt mit der Globalisierung der Postmoderne verbindet, so lässt sich doch in den sozialen Bewegungen der Moderne ebenfalls ein Rahmen sehen, der die befreien-

|| 59 Zur Gründungslegende Karthagos vgl. Werner Huß: Geschichte der Karthager. München: C. H. Beck 1985, S. 41–42. 60 Eine ähnliche Lesart des Mythos bietet Carol Gilligan in ihrem Roman Kyra (2008) an, in dem die Protagonistin, eine amerikanische Architektin, auf einer Insel vor der Küste Massachussetts eine neue Stadt gründet, um hier unter dem bezeichnenden Titel »The Carthage Project« die Idee einer gewaltlosen und gemeinschaftsorientierten Lebensweise zu verwirklichen. 61 Rosi Braidotti: Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York: Columbia University Press 1994, S. 4–5.

5.4 Die Zukunft der deutschen Juden: Kampf um die Heimat oder Emigration? | 221

de »Nomadisierung« des weiblichen Subjekts fördert. Schon in der Diskussion von Meisel-Hess’ Protagonistin Olga ist darauf hingewiesen worden, dass der Ausbruch aus einer oft auf patriarchalischer Ordnung beruhenden Heimat und die Schaffung eines neuen, eigenen Lebensraums schon im frühen zwanzigsten Jahrhundert für Frauen als positiv oder sogar notwendig für die persönliche Befreiung dargestellt werden konnte.62 Die spezifisch weibliche Zurückweisung der Bindung an Heimat oder Nation zeigt sich auf noch deutlichere Weise in einem anderen Text des späten Wilhelminismus: Ilse Frapans Erzählung Wir Frauen haben kein Vaterland aus dem Jahr 1899 formuliert die geschlechtsspezifische Desillusion gegenüber der Bindung an die Nation in proklamatorischer Direktheit. In einem in die Erzählung eingebetteten Traktat wirft Frapan dem Staat vor, den Aktionsradius von Frauen in bestimmte, sehr enge Tätigkeitsbereiche einzugrenzen, ihnen die ihnen zustehenden Bürgerrechte nicht zu gewähren und sie aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen. Ihre Vorwürfe gipfeln in der Lossagung der fiktiven TraktatAutorin von ihrem Vaterland, das ihr keine Unterstützung für ein Studium bietet, denn, so lautet der Bescheid: »F ü r s t u d i e r e n d e F r a u e n g i e b t e s w e d e r p r i v a t e n o c h s t a a t l i c h e S t i p e n d i e n i n H a m b u r g –.«63 Frapans Schlussfolgerung lautet: »Nationale Arbeit hat man uns verwehrt; – leisten wir denn, was höher ist, als sie, leisten wir Menschheitsarbeit!«64 Landau ist von Frapans Forderung nach der Gleichstellung der Geschlechter weit entfernt;65 ersetzt man Frapans Bezugnahme auf Frauen jedoch durch diejenige auf die deutsche jüdische Bevölkerung, so zeigt sich hier eine Vorgängerschaft der Verbindung von Entrechtung, Weiblichkeit und der Aufkündigung nationaler Zugehörigkeit: Die Protagonistinnen beider Autorinnen sagen sich aufgrund der Missachtung ihrer Menschenwürde von Deutschland los. Nach dem Ersten Weltkrieg, der in vielerlei Hinsicht dazu beitrug, bürgerliche Werte zu erodieren,66 ist für die jüdische Frau, die Ausgrenzungen sowohl aufgrund

|| 62 Vgl. Kapitel 2; hierzu auch Elisabeth Bütfering: Frauenheimat Männerwelt: Die Heimatlosigkeit ist weiblich. In: Will Cremer und Ansgar Klein (Hg.): Heimat. Bd 1. Bielefeld: Westfalen 1990, S. 416–436. 63 Ilse Frapan: Wir Frauen haben kein Vaterland. Berlin: F. Fontane 1899, S. 152. 64 Ebd., S. 155. 65 Vgl. Landaus Ironisierung der laut »die Pflichten gegen sich selbst« einfordernden Studentinnen und die Gegenüberstellung der Auflehnung dieser jungen Frauen gegen »törichte Bevormundung« und die »unverantwortliche[n]« häuslichen Anforderungen mit Asta Behrensʼ »gesunden, natürlichen Ansichten« über die »natürlichen Pflichten« der Frau (H, 239–240). 66 Ein weiterer Text soll hier erwähnt werden, der etwas später (1929), jedoch auch im Rückblick auf die sozialen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs, das Thema auf interessante Weise

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ihres Geschlechts als auch ihrer Glaubenszugehörigkeit ausgesetzt ist, die Abkehr umso naheliegender.

5.5 Antisemitismus und jüdische Identität Landau entwickelt also zwei Möglichkeiten des Handelns für die deutschen Juden: den verstärkten Einsatz im Kampf für ihre Rechte und die Emigration ins westeuropäische Ausland (den Zionismus verwirft sie aufgrund der festen Verwurzelung der europäischen Juden in der abendländischen Kultur; vgl. H, 106). Beide Möglichkeiten weisen auf die Bestätigung und Bekräftigung jüdischer Identität vor dem Hintergrund des Antisemitismus hin. Im Folgenden soll nun anhand des Vergleichs mit Modellen, die die deutsch-jüdische Literaturgeschichte anbietet, untersucht werden, wie diese Verbindung von Antisemitismus und als Antwort darauf konstituierter jüdischer Identität in ihrem Roman beschaffen ist.

5.5.1 Karl Hinrichsen: Sohn der Heinriche Nicht nur im Namen Elises lässt sich der Verweis auf eine modellhafte Leitfigur sehen (Elissa, bzw. Dido), sondern auch der Name Karl Hinrichsen lässt sich als programmatisch interpretieren: Er verweist nicht nur auf die norddeutsche Herkunft und heimatliche Verwurzelung von Landaus männlichem Protagonisten; er charakterisiert ihn darüberhinaus – als Sohn der Heinriche – als Nachfolger zweier berühmter Figuren der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte: Fritz Mauthners Heinrich Wolff (Der neue Ahasver, 1881) und Arthur Schnitzlers Heinrich Bermann (Der Weg ins Freie, 1908).67

|| wieder aufnahm: Friederike Emonds hat überzeugend herausgearbeitet, wie in Ilse Langners Schauspiel Frau Emma kämpft im Hinterland ›Heimat‹ emerges as a space where pre-war morality, bourgeois values and standards of behaviour become invalidated«. Friederike Emonds: Contested Memories: ›Heimat‹ and ›Vaterland‹ in Ilse Langner’s »Frau Emma kämpft im Hinterland«. In: Women in German Yearbook: Feminist Studies in German Literature & Culture 14 (1999), S. 163–182, hier S. 172. 67 Weiter lässt sich hinter der Namensgebung sicher auch eine Anspielung auf Goethes Faust sehen, der für Mauthners Heinrich Pate stand und auf den gedanklichen Hintergrund der Aufklärung verweist. Hinrichsens Skeptizismus gegenüber religiösem Glauben und seine Suche nach der Erkenntnis des Ursprungs und der Beschaffenheit des Lebens deuten ebenfalls auf diese Vorgängerschaft hin.

5.5 Antisemitismus und jüdische Identität | 223

Fritz Mauthners Der neue Ahasver steht paradigmatisch für das Genre des »anti-antisemitischen Romans«. So wurde der Roman in einer zeitgenössischen Rezension tituliert,68 und trotz ihrer Umständlichkeit mag diese konzeptuell gut greifende Bezeichnung für einen Zeitroman beibehalten werden, der auf dieses Thema zugeschnitten ist. Zwar nehmen fast alle Autoren des jüdischen Zeitromans die antisemitische Haltung der Umwelt in ihre Gesellschaftsschilderungen auf, doch weitgehend ist diese nur unterschwellig als Auslöser des Zwangs zur Selbstdefinition auszumachen.69 Der anti-antisemitische Roman sei hier hingegen als Roman definiert, der als Reaktion auf eine Welle des Antisemitismus geschrieben ist und dieser zu begegnen sucht: ein Text, der nicht nur die »Brüchigkeit des bisherigen liberal-assimilatorischen Konsenses« kritisch beleuchtet,70 sondern zu einer Situation Stellung nimmt, in der dieser Konsens aktiv und potenziell dauerhaft in Frage gestellt wird. Mauthners und Landaus Romane entstanden beide als Antworten auf derlei Wellen des Antisemitismus, die aus Krisenzeiten und der ihnen folgenden Phase der Entliberalisierung hervorgingen: Erschien Der neue Ahasver in der Folge des Berliner AntisemitismusStreits 1879–1881,71 so folgte Landaus Roman den Wirren und der Niederlage des Ersten Weltkriegs. In Landaus rückblickender Darstellung der Zeit um die Jahrhundertwende lässt sich das nachträgliche Aufdecken einer latenten Gefahr sehen, die sich erst in den letzten Kriegsjahren offen zuspitzte. Die Parallelen zwischen Mauthners Heinrich Wolff und Landaus Hinrichsen liegen auf der Hand: Beide sind Naturwissenschaftler (Heinrich Wolff praktiziert als Arzt), beide ziehen frisch promoviert aus der Provinz nach Berlin. Beide sehen aus wie »Norddeutsche«,72 und dieser äußeren Assimilation entspricht

|| 68 Ein anti-antisemitischer Roman. In: Bohemia, 7. April 1882. Die Angabe stammt aus Almut Vierhufe: Politische Satire? Fritz Mauthners Roman »Der neue Ahasver« und der Berliner Antisemitismusstreit. In: Helmut Henne und Christine Kaiser (Hg.): Fritz Mauthner ‒ Sprache, Literatur, Kritik. Festakt und Symposion zu seinem 150. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 145–161, hier S. 160. 69 Bauschinger vertritt die Meinung, der »Antisemitismus komm[e] erst bei Feuchtwanger in all seiner Brutalität zur Sprache«, die Beispiele Mauthners und Landaus widerlegen jedoch diese Ansicht. Bauschinger, »Die alten Tafeln zertrümmern«? (wie Einleitung, Anm. 54), S. 133. 70 Krobb, Selbstdarstellungen (wie Kap. 3, Anm. 140), S. 136. 71 Eine kommentierte Quellenedition der Dokumente dieser Kontroverse findet sich in: Karsten Krieger (Hg.): Der ›Berliner Antisemitismusstreit‹ 1879–1881. München: K. G. Saur 2003. 72 Vgl. Fritz Mauthner: Der neue Ahasver. Roman aus Jung-Berlin [1881]. Hg. und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Berlin: Philo 2001, S. 15–16: »Es lag etwas in seinen offenen Zügen, seiner männlichen Haltung, seinen klugen und träumerischen Augen, was seine Reisegenossen wohl veranlassen mußte, ihn für einen Norddeutschen zu halten.«

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auch das Verständnis ihrer »deutsche[n] Identität [als] d[er] ›ursprüngliche[n]‹, während die jüdische als […] später von Antisemiten aufoktroyiert erscheint«.73 Selbstverständlich zeigen sich in den Darstellungen des Antisemitismus wichtige Unterschiede, die unter anderem durch die zeitlichen Gegebenheiten begründet sind. Bei Mauthner erscheint der Antisemitismus als künstlich entfachte, tödliche, aber vorübergehende, weil allen Gesetzen der Humanität und Rationalität widersprechende Gefahr. Zu Beginn des Romans wird er lediglich als Erinnerung an eine in der Vergangenheit verortete »unheilvolle Zeit« aufgerufen.74 Die Bezeichnung »Jude« ist nicht negativ im allgemeinen Volksbewusstsein verankert: Heinrichs christliche Geliebte Clemence weiß mit dem Begriff nichts anzufangen und erinnert sich lediglich an die Erklärung ihrer Mutter, die Juden seien »ein Volk aus dem Altertume«.75 Während einer einjährigen Abwesenheit Heinrichs aus Berlin wird von skrupellosen Journalisten eine neue »Antisemitenbewegung« erdacht und geschürt.76 Sie findet schnellste Verbreitung und ist zum Zeitpunkt von Heinrichs Rückkehr als rassisch verankerter allgemeiner Diskurs etabliert. Er tut dies zunächst als lächerlich ab und ordnet dann die Welle der Feindseligkeit »mit steigendem Entsetzen« als »böse[n] Traum« und »Narrenwelt« ein.77 Selbst als er sich der Realität der neuen Erscheinung vergewissert hat, kann sie noch als Phänomen beschrieben werden, das zu vertreiben oder zu besiegen ist: als vielarmiges Monster oder »entsetzliche[s] Fieber«.78 Diese Darstellung steht in aufschlussreichem Kontrast zu der Schilderung des alle gesellschaftlichen Bereiche durchsetzenden Antisemitismus, die uns in Landaus Buch begegnet – und die unterschiedlichen Wertungen der Emigration als Reaktion auf die Anfeindung unterstreichen den Kontrast. Bei Mauthner ist der Gedanke, sich im Ausland niederzulassen noch eine nicht allzu ernst zu nehmende Idee des verbitterten Heinrich. Er schlägt Clemence zwar vor, mit

|| 73 So Eva Lezzi über Mauthners Heinrich Wolff. Eva Lezzi: Kolonialfantasien in der deutschjüdischen Literatur um 1900. In: Lezzi/Salzer (Hg.), Dialog der Disziplinen (wie Einleitung, Anm. 2), S. 437–479, hier S. 467. 74 Mauthner, Der neue Ahasver (wie Anm. 72), S. 203. 75 Ebd., S. 206. 76 »Seit den letzten Kriegen herrscht in ganz Deutschland eine ungeheure Aufregung. […] Pöbel muß »immer jemanden haben, auf den er öffentlich schimpfen durfte«. Ebd., S. 237. 77 Ebd., S. 266 und 267. 78 Ebd., S. 279 und 303. Zum Vergleich weist Vierhufe auf Theodor Mommsens Bild des Antisemitismus als »schauerliche Epidemie, wie die Cholera« hin. Brief Theodor Mommsens an Hermann Bahr [1893], zitiert nach Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd 3. München: C. H. Beck 1995, S. 932.

5.5 Antisemitismus und jüdische Identität | 225

ihm Deutschland zu verlassen, die Zukunft des privaten Glücks in der Schweiz wird aber in so sentimentalen, klischeehaften Bildern aufgerufen, dass das Irreale dieser Idee deutlich hervorscheint und von der Geliebten auch in keiner Weise aufgegriffen wird.79 Siebenunddreißig Jahre später, bei Landau, ist die Entscheidung für die Auswanderung als Position kühlen, rationalen Denkens gekennzeichnet und als vernünftiges Handeln angesichts einer ausweglosen Situation. Die jüdische Identität der beiden Helden jedoch ist in beiden Romanen auf sehr ähnliche Weise bestimmt: Sie ist nicht positive religiöse oder ethnische Selbstdefinition, sondern entsteht aufgrund der Fremdbezeichnung und als Reaktion auf antisemitische Anfeindung: in stolzem Trotz gegen deren diffamierende Intention. Mauthner bringt dies auf den Punkt, wenn er in seinem an Theodor Mommsen gerichteten Vorwort die Romanhandlung des neuen Ahasver als den Bericht über »einen Fall« beschreibt, »in welchem der Übertritt an der Wut der Judenhetzer scheitert«.80 So definiert sich jüdische Identität letztlich als ethische Position des Beistands einer angegriffenen Gruppe, nicht als intrinsisch verankertes »Wissen«. »Er wußte es nicht anders als daß er ein Deutscher war«, schreibt Mauthner über Heinrich Wolff, doch Heinrich entscheidet sich, »während des Kampfes zu seinen Stammesgenossen [zu] treten und in ihren Reihen [zu] leiden, um nach dem endlichen Frieden, vielleicht mit gebrochener Kraft zurückzutreten und zu sprechen: ›Lebt wohl! In der Not hatten wir etwas Gemeinsames. Im Glücke habe ich nichts mit Euch zu schaffen!‹«81 Den festen Glauben an einen »endlichen Frieden« teilt Landaus Hinrichsen nicht mehr; doch seine Motivation zum Kampf ist dieselbe wie Heinrich Wolffs: »Nicht etwa aus religiösen Gründen, denn ein Naturforscher kann keinem Glauben anhängen, aber ich bin keine Ratte, die das Schiff verläßt, ich kämpfe bis zum letzten Atemzug!« (H, 37) Diese Haltung war unter den deutschen Juden durchaus nicht ungewöhnlich, Philipp Löwenfeld und Gershom Scholem z. B. beschreiben ihr Judentum in ähnlicher gedanklicher Ausrichtung als »Sache des Charakters«.82 Aus dem nicht selbst empfundenen, sondern von außen auferlegten und als Pflicht empfundenen Gemeinschaftsgefühl erklärt sich vielleicht die Brüchigkeit von Hinrichsens Position und seine Anfälligkeit für Zweifel. || 79 Clemence reagiert nur negativ auf den Vorschlag, ihm ohne kirchliche Trauung zu folgen. Vgl. Mauthner, Der neue Ahasver (wie Anm. 72), S. 330. 80 Ebd., S. 8. 81 Ebd., S. 299. Vgl. Vivian Liskas Ausführungen zum Konzept der Gemeinschaft wider Willen: Vivian Liska: When Kafka Says We: Uncommon Communities in German-Jewish Literature. Bloomington: Indiana University Press 2009, S. 89–137. 82 Vgl. Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus (wie Anm. 5), S. 48.

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Der Vergleich von Landaus Hinrichsen mit Schnitzlers Heinrich Berman, auf den hier ein Seitenblick genügen mag, unterstreicht ebenso die Traditionsline, in die Landau ihren archetypischen assimilierten deutschen Juden stellt. Auch Schnitzler deutet auf das Prekäre in der Position seines jüdischen Protagonisten hin, Berman ist sich der antisemitischen Ausgrenzung durchaus bewusst, er arrangiert sich aber mit seiner Situation. Wie Hinrichsen hängt auch er an der »Heimat« – wiederholt verwendet er den Begriff83 –, trotz des Bewusstseins, dass dieses Gefühl des »Daheim«seins die Gefahr der Sentimentalität und der Unterschätzung des Antisemitismus in sich birgt. Zwar ist seine Haltung eher resignativ als kämpferisch, doch Landaus Aufrufen auch seiner Vorgängerschaft verweist auf den jüdischen Typus, der sich in erster Linie als Sohn seines Geburtslands (Deutschland bzw. Österreich) begreift und erst danach als Jude – und für den trotz antisemitischer Anfeindungen der Weg in die Emigration nicht gangbar ist. Landaus Elise dagegen schert aus dieser Tradition aus, ihre Figur ist stärker individualisiert. Doch auch sie weist auf eine richtunggebende Vorgängerschaft in der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte hin: auf Fanny Lewalds Jenny.

5.5.2 Elise Frank: eine Nachfolgerin von Fanny Lewalds Jenny Wie Landaus Holzweg, so ist schon Fanny Lewalds Roman Jenny, der 1843 erstmalig erschien, in erster Linie als Auseinandersetzung einer jüdischen Autorin mit antisemitischen Vorurteilen und mit der sozialen Stellung der Juden in Deutschland konzipiert.84 Veranschaulicht wird die Thematik antisemitischer Ausgrenzung in erster Linie über die problematische Liebesbeziehung zwischen der Jüdin Jenny und dem Christen Reinhard, doch die zentralen Werte, die hier

|| 83 Vgl. Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie [1908]. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2007, S. 105, 106 und 149. 84 In ihrer Autobiographie lässt Lewald hieran keinen Zweifel; hier beschreibt sie es als ihre Aufgabe, »unter der Schutzwehr der Dichtung […] den Zwecken und Tendenzen zu dienen, welche mir Ideal und Religion sind, seit ich zu denken gelernt habe«. Und im Bezug auf Jenny heißt es spezifischer: »Der Stoff, den ich mir für die ›Jenny‹ […] gewählt hatte, war damas ein viel besprochener, denn es war unverkennbar, daß die Regierung, unter dem Vorgeben, die Verhältnisse der Juden selbständig festzustellen, nur eine schärfere Absonderung derselben von den Christen beabsichtigte. Die Juden sahen das mit Besorgnis. Sie traten allerorten mit Wort und Schrift für ihre Sache auf […].« Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte [1861]. Hg. von Ulrike Helmer. Bd 3: Befreiung und Wanderleben. Frankfurt a. M.: U. Helmer 1998, S. 27 und 36.

5.5 Antisemitismus und jüdische Identität | 227

vertreten werden, sind dieselben wie bei Landau: Sowohl Jenny als auch Elise stehen für die Bewahrung der Selbstachtung gegenüber antisemitischem Vorurteil ein und für die Verteidigung ihrer Religion gegenüber dem Druck zu konvertieren. In beiden Romanen fügt sich der anti-antisemitischen Stellungnahme das Interesse an der weiblichen Lebenswelt hinzu und das Anliegen, einer jüdischen Frau eine zukunftsweisende Stimme zu verleihen:85 Jenny und Elise sind emanzipatorische Gestalten im doppelten Sinn: sowohl als Frauen als auch als Jüdinnen. Insofern ist in der Charakterisierung beider Frauen ihre Bildung und finanzielle Unabhängigkeit tragend, denn sie sind Vorbedingungen für ihre Sprach- und Handlungsfreiheit. Beide bekennen sich zu einer Lebensart, die von ihren Kritikern als »Luxus« oder Frivolität beargwöhnt und kritisiert wird, die in der Darstellung der Autorinnen aber als geistige Weite und Affinität zum Ideal des Schönen – und damit als Grundkomponente einer kosmopolitischen bürgerlichen Kultur ‒ gefasst wird.86 Im Gegensatz zu den vielen passiven Opfern in der Galerie weiblicher Romanfiguren tragen beide mit einer bemerkenswerten inneren Sicherheit zu einer sonst weitgehend von Männern geführten Diskussion zur Lage und Zukunft der Juden bei. Sie stellen die eigene Überzeugung und Geradlinigkeit über Liebe und Impuls, ziehen Konsequenzen und handeln selbstständig: Kann Jenny die Trennung von ihrem christlichen Verlob-

|| 85 So treffen die Worte H. Marggrafs, in seiner Rezension zu Lewalds Romanen Jenny und Clementine geäußert, in gleicher Weise auf Landaus Holzweg zu: »Diese Romane haben […] eine geschlechtliche Bedeutung, indem sich in ihnen kundgibt, wie ein gebildetes, aber zugleich unverbildetes, im Ganzen modern, aber doch natürlich fühlendes Weib, das nicht zu den Ausnahmewesen ihres Geschlechts gehört, das Verhältnis des Staates zu den Religionen und der menschlichen Gesellschaft und dieser zu jenen, die Beziehungen zwischen Mann und Weib, Familienleben, Ehe, Liebe, Sittlichkeit auffaßt, und dieser Auffassung Worte zu leihen weiß […].« H. Marggraf: Rezension zu »Jenny« und »Clementine«. In: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr 290, 17. Oktober 1847, zitiert nach Gudrun Marci-Boehnke: Fanny Lewald: Jüdin, Preußin, Schriftstellerin. Studien zu autobiographischem Werk und Kontext. Stuttgart: Heinz 1998, S. 207, Fußnote 55. 86 Vgl. z. B. die Kritik des in kleinstädtischer Abgeschiedenheit erzogenen Reinhard an Jennys Besuch der Mozartschen Hochzeit des Figaro: »Soviel Glück ihm der heutige Abend im Theater gewährt, so weh tat es ihm doch, daß ein so schlüpfriges, sittenloses Stück, so leichtfertige Gesänge zum Boten seiner Liebe bei Jenny geworden waren. Das war der Unterschied zwischen ihm und ihr, daß sie, aufgezogen in den Begriffen der sogenannten großen Welt, trotz ihrer sittlichen Seele das Gefühl für die Sittenlosigkeit mancher Verhältnisse verloren hatte oder daß es nicht zum Bewußtsein in ihr gekommen war.« Fanny Lewald: Jenny [1843]. Frankfurt a. M.: U. Helmer 1993, S. 40–41. Dieser Passage entspricht in Landaus Holzweg z. B. Amalie Franks Missbilligung von Elises geschmackvoller Kleidung und Lebensart: »[…] es ging ein Hauch der Verfeinerung von ihr aus, der nicht recht zu Franks paßte […] Luxus verdarb die Menschen!« (H, 25)

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ten nicht verhindern, weil sie ihr Judentum nicht verleugnen will, so geht auch Elises Entscheidung für die stolze, ungehinderte Ausübung der jüdischen Religion mit dem Verzicht auf ihre Verbindung mit Hinrichsen einher. Landaus Bewusstsein der Verschärfung der historischen Situation drückt sich in Elises Überzeugung aus, dass ihre Würde als Andersgläubige nur noch in der Emigration zu bewahren ist. Ihren assimilierten Haltungen entsprechend gehen beide Autorinnen kaum auf die Inhalte der jüdischen Religion ein; im Vordergrund ihres Interesses steht die Einforderung der Toleranz ihrer Mitmenschen; nicht die Beschreibung oder gar Rechtfertigung ihrer Konfession. Der entscheidende Aspekt der Verwandtschaft der beiden Figuren liegt in der Tatsache, dass sie eine politisch aktive Position einnehmen. Über die Schilderung und dialektische Erörterung des Problems hinaus zielen sowohl Lewald als auch Landau darauf ab, über die modellhafte Darstellung ihrer weiblichen Protagonistinnen Handlungsbereitschaft zu initiieren.87 Diese starken weiblichen Figuren entsprechen insofern beide einem Modell deutsch-jüdischen weiblichen Schreibens, das aus der Passivität herkömmlicher Weiblichkeitsbegriffe und des jüdischen Opferstatus ausschert und das Liliane Weissberg in der Mutter Hannah Arendts exemplifiziert sieht. Weissberg bezieht sich auf ein Gespräch Arendts mit Günter Gaus, das 1964 für das Fernsehen aufgezeichnet wurde. Arendt ruft hier Kindheitserinnerungen an ihre Mutter auf, die die Tochter dazu anhielt, ihr antisemitische Bemerkungen ihrer Lehrer zu hinterbringen, um daraufhin »in vielen eingeschriebenen Briefe[n]« wieder und wieder Protest gegen diesen Machtmissbrauch der Erziehenden einzulegen.88 Dieses politische Handeln von Arendts Mutter, ihr Eintreten für die Würde des Individuums im humanistischen Sinne, versteht Weissberg als »ein Sich-Wehren, das ein Gegenmodell bietet zu dem der jüdischen – und man könnte hinzufügen: herkömmlichen weiblichen – Passivität, welche das Bild eines unschuldigen Opfers […] zeichnet«.89 »[N]icht-passive Weiblichkeit«, »aktives Judentum« und der »öffentliche[] Akt der Selbstdefinition« durch das Schreiben sind die Grundpfeiler dieses Modells.90 Richtungsweisend ist schließlich auch Weissbergs Nachsatz, in dem sie betont, dass es nicht um die Definition des Judentums geht, in dessen Namen hier gehandelt wird, sondern dass die Bedeutung dieser politi-

|| 87 Vgl. Marci-Boehnke, Fanny Lewald (wie Anm. 85), S. 213. 88 Hannah Arendt: Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache. Ein Gespräch mit Günter Gaus [1964]. In: Hannah Arendt: Gespräche mit Hannah Arendt. Hg. von Adelbert Reif. München: Piper 1976, S. 9–34, hier S. 17. 89 Weissberg, Auf der Suche nach der Muttersprache (wie Einleitung, Anm. 2), S. 199. 90 Ebd., S. 200.

5.6 Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens | 229

schen Haltung darin liegt, »dass Arendts Mutter handelt […], indem sie antisemitische Bemerkungen zurückweist, um die Würde des Individuums zu schützen. Als Jüdin respektiert zu sein, heißt hier als Mensch anerkannt zu werden.«91 Eben dieses Einfordern der Anerkennung menschlicher Würde ist die Grundlage für Elises Handeln und für ihren Entschluss, Deutschland zu verlassen: Sie verfolgt das Ziel, sich selbst und ihrem Sohn zu ermöglichen, »frei und gleichberechtigt unter den anderen zu stehen« (H, 106). Und in dieser Verbindung des selbstbewussten Ausdrucks einer deutsch-jüdischen Identität mit dem Selbstverständnis als Mutter und der Verantwortung, die aus diesem erwächst, besteht der Kern von Elises Persönlichkeit. Landau zeichnet hier das Bild einer deutschen Jüdin, die ihren Anspruch, die Stimme zu erheben, nicht aus der Gleichheit mit den Männern, sondern aus der Differenz heraus begründet. Insofern weicht sie vom Vorbild Lewalds ab, die die weiblichen Charakterzüge ihrer Jenny eher in den Hintergrund stellte:92 Elises Weiblichkeit und Mütterlichkeit werden im Holzweg zu tragenden Werten entwickelt, die über die ihnen inhärenten Prinzipien der Fruchtbarkeit und des Lebens auf den Ausweg aus der lebensbedrohenden Atmosphäre der antisemitischen Umgebung verweisen. Im Kontrast zu der Todessymbolik und -metaphorik, mit der Landau ihre Darstellung der Großstadt Berlin durchdringt, wird augenfällig, wie sie den ›weiblichen‹ Weg der Frau und Mutter in die Emigration als Entscheidung für Leben und Zukunft figuriert.

5.6 Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens Landau greift in ihrer Schilderung Berlins auf den bewährten Topos der märkischen Sandwüste zurück. Schon Stendhal berichtete im frühen neunzehnten Jahrhundert, Berlin liege »an einer Sandwüste, die ein wenig nordöstlich von Leipzig beginnt«. Und er setzte hinzu: »Ich begreife nicht, wie jemand auf den Gedanken geraten ist, mitten in diesen Sand eine Stadt zu gründen.«93 Hier

|| 91 Ebd. 92 Vgl. hierzu Marci-Boehnkes Vergleich der ursprünglichen mit der überarbeiteten Fassung von Lewalds Jenny, der verdeutlicht, dass Lewald die typisch weiblichen Aspekte der Figur reduziert und ihren intellektuellen Charakter stärker betont hat. Vgl. Marci-Boehnke, Fanny Lewald (wie Anm. 85), S. 233. 93 Stendhal, Brief an Pauline Beyle, 3. November 1806; zitiert nach Exzerpt in: Detlef Bluhm und Rainer Nitsche (Hg.): Berlin ist das Allerletzte. Absagen in höchsten Tönen. Berlin: Transit 1993, S. 16.

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deutet sich das Motiv an, das später topisch weiterentwickelt wurde: die metaphorische Wendung der Sandwüste als Ort der Ungeistigkeit und Kulturlosigkeit. Ernst Dronke beispielsweise, der in seinem Berlin-Buch von 1846 das Bild eines »großen, traurigen Sandmeers« aufruft, das die Stadt umschließt, fährt fort: »Diese flache, unfruchtbare Ebene mit dem ätzenden Staub […] mag den Fremden beim ersten Anblick an das Berliner geistige Element erinnern.«94 Karl Scheffler entwickelte das Motiv richtungsweisend weiter, als er in Berlin. Ein Stadtschicksal (1910) das Charakterbild Berlins als Parvenu unter europäischen Städten verfestigte, als Ort, in dem die Kräfte der kapitalistischen Moderne sich entfalteten ohne durch eine etablierte geistige Kultur in Schranken gehalten zu werden. In eben diese gedankliche Tradition stellt Landau ihre Berlinkritik: »Wer sich hier zu vertiefen suchte, verflachte! – Berlins Geistigkeit glich dem Sandboden seiner Umgegend«, bemerkt Hinrichsen (H, 185), und der Vergleich wird anhand verschiedener Bereiche illustriert: Der gesellschaftliche Verkehr in Landaus Berlin erlaubt keine wahre Begegnung und keinen Gedankenaustausch, sondern erschöpft sich in der »Warenhausgeselligkeit« von Massengesellschaften und Bällen (H, 46) – die Bezeichnung hebt anschaulich die Orientierung am kapitalistischen Prinzip der Präsentation rein äußerlich wirkungsvoller Effekte hervor; von Ehrgeiz und Ruhmsucht getriebene Hobbyphilosophen wie Erwin Frank hüllen ihre »Belanglosigkeiten und Allerweltslehren in eine manirierte Sprache« und »berausch[en]« sich selbst an ihren »feingezimmerten Sätze[n]« (H, 24). Die dilettantische Beschäftigung junger Mädchen mit modischer, geschmackloser Populärkultur und das Durchhecheln kultureller und sportlicher Erlebnisse, »wie in einem abgenutzten Kaleidoskop« (H, 236), das eine wahre Gesprächskultur ersetzt, vervollständigen das Bild des »lärmende[n], unsatte[n] Leben[s]« der Großstadt Berlin (H, 195), in der »Phrasen« und »Schlagwörter« »eigne Gedanken« verdrängen (H, 189). Diese Stadtdarstellung, in der sich Kritik an der Moderne mit der Metaphorik der geistigen Unfruchtbarkeit verbindet, ist Gang und Gäbe in der Berlinliteratur, und vor allem auch im Genre des Berliner Romans, dem Landau ihren Text durch den Verweis im Untertitel zuordnet.95 Im Vergleich zu genretypi|| 94 Ernst Dronke: Berlin [1846]. Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 9. 95 Neben humoristischen populären Werken wie Julius Stindes Romanreihe um die Berliner Familie Buchholz (ab 1883) zieht sich schon seit den 1880er Jahren, als die Genrebezeichnung gebräuchlich wurde, ein kritischer Strang durch die Berliner Romane. Vgl. u. a. die unter dem Titel Berlin zusammengefassten Werke Paul Lindaus (z. B. Der Zug nach Westen, 1886) oder auch Fontanes humoristisch-satirisch gewandten Roman Frau Jenny Treibel (1892), die das Berlin der Gründerzeit kritisieren, sowie auch die Texte Max Kretzers und Clara Viebigs, deren Moral- und Sozialkritik an der Stadt um die Jahrhundertwende im Naturalismus wurzelt.

5.6 Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens | 231

schen Darstellungen vertieft Landau aber die Metaphorik des Sandes über die der geistigen Dürre hinaus in eine umfassendere Bildlichkeit der Unfruchtbarkeit und des Todes. Wieder scheint hier das Interesse an der Metaphorik organischen Wachstums auf, das uns schon bei der Charakterisierung ihrer Figuren begegnete, wenn sie etwa den Sand als »stumme[n] Eigner ewiger Fruchtlosigkeit« beschreibt (H, 196). Und sie weitet die biologische Metaphorik über Berlin hinaus auf das zeitgenössische Deutschland aus, das als abgestorbener Organismus erscheint, als Land des Todes und der Toten: »Deutschlands Leben ist wie eingemauert, sein Blutlauf gehemmt, abgeschnürt …. Und über der Erde auf unserem kümmerlichen Brachfeld treiben sich irre Schatten herum, die ihr Unkraut ernten, anstatt es zu jäten!« (H, 272) Auch in Wendungen, die an Landaus Ausbildung als Musikerin erinnern, klingt die Klage über die Sterilität Berlins an, so etwa in der Feststellung: »[…] hier gebiert der Rhythmus nur die Form, die Wellen des Klangs versiegen angesichts stummer Vernichtung!« (H, 196). Und an das Lament der Unfruchtbarkeit schließt sich die beängstigende Bildlichkeit der Stadt als existenzbedrohende Instanz an: Berlin ist die »Wüste, die alles Gute, Fruchtbringende unbarmherzig verschlang und aufsog« (H, 186); und wieder: »die Wüste, die uns alle verschlingt, alle vernichtet – wir verflachen, wir versanden in ihrer Unfruchtbarkeit!« (H, 188). Der Vergleich zu literarischen Texten des Expressionismus wie Georg Heyms Stadtgedichten liegt nahe. Hier wie dort werden apokalyptische Visionen großstädtischer Vernichtung durch übernatürliche und übermächtige Kräfte eindringlich aufgerufen. In einer längeren Passage beispielsweise schildert Landau Berlin von der subjektiven Warte Hinrichsens als existenzielle Bedrohung. Die Stadt wendet sich – in ihren lebensfeindlichen, anorganischen Konstituenten Schatten, Sand und brennender Asphalt – aktiv gegen ihn: »da gleitet immerwährend ein Schatten, da rinnt der Sand … da brennt der Asphalt … da trennt ihn der Schatten von Elise ….« (H, 196). Geordnete Syntax löst sich auf und sprachliche Bruchstücke, die den Versuch veranschaulichen, das Furchtbare zu erfassen, vermitteln nur noch einzelne isolierte bildliche Eindrücke, die sich ins Apokalyptische steigern. Die Mark Brandenburg erscheint als todbringende Figur: »Sengender Hauch fegt Karl ins Antlitz, toter, vernichtender Sand […]. Und die Mark erschien ihm, es knistert in ihren kümmerlichen Gewändern, aus ihren dürren Fingern läßt sie Sand rinnen ….« (H, 196). Diese Bildlichkeit erinnert an das Feuer einer dämonischen Macht, wie es etwa in Heyms Gedichten Der Gott der Stadt und Die Dämonen der Städte als Ursache der Vernichtung erscheint: »[…] Ein Meer von Feuer jagt / Durch die Straße. Und der Glutqualm braust / Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt«, heißt es in Der Gott der

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Stadt, während die Dämonen der Städte im gleichnamigen Text mit ihrem »Schläfenhorn« und »ihre[m] Huf« Himmel und Erde zerstören und die allvernichtende Feuersbrunst auslösen.96 Sind diese Gedichte auch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden, so belegt doch die Tatsache, dass Kurt Pinthus sie in die Sammlung Menschheitsdämmerung aufnahm, die erstmalig 1919 publiziert wurde, wie aktuell diese Bildlichkeit gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren noch war. Im Vorwort der Menschheitsdämmerung schreibt Pinthus, er betrachte die Gedichte des Bands als Dokumente einer »Generation des letzten Jahrzehnts«, »die am schmerzlichsten unter dieser Zeit litt«.97 Dieses Leiden unter der Zeit findet auch in Landaus Darstellung der Großstadt Berlin Ausdruck, und die spezifisch jüdische Perspektive dieser Darstellung zeigt sich in der Verbindung der apokalyptischen Bildlichkeit mit dem Thema des Antisemitismus. Pointiert stellt Landau den Antisemitismus als ein ortsspezifisch auf Berlin bezogenes Problem dar: Hinrichsen wird erstmalig hier seiner quälenden Macht gewahr. Diese Perspektive ist interessant im Vergleich zu den Berlinschilderungen der anderen in diesem Buch behandelten Autorinnen: 1911 hatte Meisel-Hess in auffallender Gegensätzlichkeit zu Landau Berlin als Ort der geistigen Freiheit gerade auch für Juden gefeiert und diese Freiheit explizit gegen den Antisemitismus Wiens abgehoben. Auch Croner hatte 1913 noch die großstädtische Anonymität als Möglichkeit gesehen, antisemitischen Anfeindungen zu entgehen. Lediglich in dem Berlinbild, das Hauschner 1910 in Rudolf und Camilla gezeichnet hatte, spielt das antisemitische Element eine Rolle: Ihr Protagonist Rudolf ist sich der Anfeindungen gegen die Juden nur allzu bewusst. Allerdings ist es in Hauschners Darstellung noch möglich, dies zumindest zu einem gewissen Anteil auf die Hypersensibilität des jüdischen Protagonisten zurückzuführen. Bei Landau dagegen ist die offensive Aggressivität des Antisemitismus – hier von der aktuellen Situation auf die Jahrhundertwende zurückprojiziert – schon im Klima der Stadt verbildlicht. Der »Judenhaß« weht Hinrichsen schon kurz nach seiner Ankunft in Berlin mit »toten Blätter[n]« und einer »modrige[n] Feuchtigkeit« im harten, feindseligen Wind Berlins entgegen. Er hat sich, als

|| 96 Georg Heym: Der Gott der Stadt [1910]. In: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Berlin: Rowohlt 2001, S. 42–43 und Georg Heym: Die Dämonen der Städte [1911]. In: ebd., S. 51–52. In Die Dämonen der Städte findet sich im Bild der monströsen, kopflosen Totgeburt auch die Verbindung zur Unfruchtbarkeit, die bei Landau eine so große Rolle spielt. 97 Kurt Pinthus: Zuvor [1919]. In: Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung (wie Anm. 96), S. 22– 23, hier S. 23.

5.6 Todbringende Großstadt und weibliches Prinzip des Lebens | 233

monströse Figur personifiziert, der Stadt bemächtigt: »Judenhaß […], der da in Berlin mit flackernden Augen, mit zischelnder Zunge, auf knarrenden Sohlen unter der christlichen Menge einherschritt«. (H, 18–19) Pinthus betont in seinem Vorwort zur Menschheitsdämmerung die Verbindung zwischen apokalyptischer Bildlichkeit und dringlichem Suchen nach einem Weg in die Zukunft, wenn er »die Intensität und de[n] Radikalismus des Gefühls« anspricht, welche die Dichter zum »Kampf gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuerer, besserer Menschheit« zwingen.98 In eben diesem Sinn stellt Landau der todesbringenden Großstadt das Prinzip des Lebens entgegen. Sie tut dies nicht wie etwa Hauschner, die die Dekadenz der Stadt mit einer ›natürlichen‹ ländlichen Umgebung kontrastiert, sondern legt vielmehr den Weg zu »neuerer, besserer Menschheit« in ihren Protagonisten selbst an und gestaltet diese damit als von ihrer Umgebung emanzipierte, aktive Hoffnungsträger im Nietzscheʼschen Sinn: Sowohl Hinrichsen als auch Elise sind als Garanten für die Erneuerung der Kultur gezeichnet; beide verkörpern – in unterschiedlicher Ausrichtung – die Ideen des Lebens und der Fruchtbarkeit. Hinrichsen steht als Wissenschaftler für männliche intellektuelle Produktivität, während Elises Weiblichkeit und Mütterlichkeit per se auf das Prinzip der Fürsorge für die nächste Generation verweisen.99 Wiederholt lässt Landau uns wissen, dass Hinrichsen seine Arbeit liebt und in ihr aufgeht (vgl. H, 18 und 146); im Gegensatz zu Erwin arbeitet er nicht aus Ehrgeiz oder Eitelkeit, sondern aus dem »Sehnen nach der Erkenntnis« (H, 15) heraus. Ganz im Sinne von Nietzsches Begriff der kulturellen Erneuerung vereinbart er Wissenschaftlichkeit und Kreativität, denn seine Arbeit ist eben nicht »eine gleichgültige Convention, eine klägliche Nachahmung oder selbst eine rohe Fratze« – so Nietzsches Beschreibung der fehlgeleiteten modernen Bildung, für die in Landaus Romanentwurf der eitle Dilettantismus Erwins einsteht – , sondern »innere[r] Prozeß«, etwas »Lebendiges«.100 Verstärkt wird diese Verknüpfung von Hinrichsens Forschungstätigkeit mit dem Lebensprinzip sowohl durch den Inhalt seiner Forschung, der sich darauf richtet, »[d]es Lebens || 98 Ebd. 99 Zur Parallele zwischen männlicher intellektueller Produktivität und weiblicher biologischer Fruchtbarkeit vgl. Urte Heldusers Interpretation von Ibsens Hedda Gabler: Urte Helduser: ›Unfruchtbarkeit‹ als Pathologie der Moderne um 1900. In: Stephen Dawson, Mistry Jyoti und Thomas Schramme (Hg.): Extraordinary Times. CD-Rom; Wien 2001 (IWM Junior Visiting Fellows Conferences; 11). 100 Friedrich Nietzsche: Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Nietzsche, KSA 3.1, S. 239–330, hier S. 269.

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Keime, den Ursprung des Lebens [zu] verfolgen« (H, 12), als auch durch den Wunsch, seine Erkenntnisse kreativ-wirkungsvoll zu formulieren und sie zu verbreiten, trockene Wissenschaft also in fruchtbare Tat umzusetzen: ein Buch zu schreiben, »aus welchem jeglicher Mensch jeglichen Glaubens Kraft und Hoffnung schöpfen konnte!« (H, 14). Inspiriert ist Hinrichsens Idee, ein solches »Buch des Lebens« zu schreiben, durch den kraftvollen Anfangssatz des Johannes-Evangeliums: »Im Anfang war das Wort!«. Das Ziel, ein »in dieser Tonart« geschriebenes Buch zu schaffen, das über den Religionen steht und auf der Darwinschen Evolutionslehre aufbauend »die rätselhafte Kraft« des Lebens zu ergründen versucht, ist nichts Geringeres als das Vorhaben einer Art säkularer Bibel, eines Buchs der Erkenntnis auf wissenschaftlicher Basis; kurz, es ist ein Werk, das »Forschen und Dichten«, Wissenschaft und Kreativität, zusammenfließen lässt (H, 14–15). Neben der Anspielung auf Goethes Faust, der ebenfalls antrat, das Johannes-Wort umzuschreiben, lässt sich hier auch ein Hinweis auf Ernst Haeckels einflussreiches Buch Die Welträthsel von 1899 über die naturwissenschaftlich begründete Philosophie des Monismus sehen.101 Deutlich ist, dass Landau, wie auch Meisel-Hess, im biologistischen Denken eine emanzipatorische Komponente sah: die Grundlage einer Lebensphilosophie, die sich nicht auf eine Religion stützte, die Nichtgläubige ausschließt, sondern auf das Prinzip des Lebens selbst. Über die geistig-kreative Arbeit hinaus sehnt sich Hinrichsen auch nach der »fruchtbaren Liebe, welche Leben gebiert«. Nicht die erotische Begegnung ist es, nach der er verlangt, sondern der schöpferische Akt: »Leben zu säen! […] um die Sterblichkeit […] zu bekämpfen« (H, 18). Ist diese Zielsetzung zunächst auch noch sehr allgemein als Wille gefasst, der »Welkheit und dem »Sterben« der herbstlichen Jahreszeit neues Leben entgegenzusetzen, so mündet dieser Wille im weiteren Verlauf des Romans in seiner Liebe zu Elise und in dem Verlangen, mit ihr ein »neues, besseres Geschlecht [zu] gründen« (H, 102). Die Formulierung deutet auf einen über das persönliche Liebesverlangen hinausgehenden Wunsch nach Erneuerung der Menschheit hin, und wenn im selben Satz die Notwendigkeit aufgerufen wird, »jeglichen Angriffen stand zu halten«, ist die gedankliche Gegenüberstellung von Leben und Fruchtbarkeit zu Antisemitismus und Tod offensichtlich. Elise jedoch kommt Hinrichsens Verlangen nicht nach, und mit dieser Verweigerung unterstreicht Landau ihre Parteinahme für die Position ihrer Protagonistin: Allem guten Willen zum Trotz ist das lebensfeindliche Berlin kein Ort || 101 Vgl. Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bonn: Strauß 1899.

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für Neuanfänge. Die männliche, idealistische Position erweist sich als die schwächere, denn Hinrichsens lebensschöpfende Kraft bleibt abhängig von anderen Faktoren: Ohne Elises Einwilligung lässt sich kein neues Geschlecht gründen, ohne die staatliche Akzeptanz seiner Arbeit ist auch diese gefährdet – als das Angebot der Professur an Hinrichsen zurückgezogen wird, kommentiert Elise: »Wiederum wird uns zu Bewußtsein geführt, daß nicht einmal die Wissenschaft in Deutschland frei ist, die Wissenschaft, die sich über alle Vorurteile erheben sollte!« (H, 273) Dieselbe Abhängigkeit gilt auch für Hinrichsens Entscheidung für den fortgesetzen Kampf gegen den Antisemitismus: Ohne Mitstreiter ist auch dieser hoffnungslos. Und wenn Landau ihm auf der letzten Seite des Buches auch eine Handvoll junger Anhänger zur Seite stellt ‒ eine Gruppe von Studenten, die ihm mit den Worten »Deutschland kann solche Männer brauchen!« ihre Verehrung und Unterstützung zusagen (H, 276) ‒, so drängt sich doch die Erkenntnis auf, dass sein idealistisches Handeln die Situation in ihren Wurzeln nicht zu verändern vermag. Der Eindruck seiner Schwäche angesichts der feindlichen Umwelt, von ihm selbst schon früh diagnostiziert (»wenige Monate genügten um mir zu beweisen, daß ich in Berlin und an Berlin zu Grunde gehe! Jetzt erst habe ich erkennen gelernt, wie schwach, wie erbärmlich schwach ich bin!«; H, 97), gewinnt die Oberhand. Elise dagegen weist eben die Unabhängigkeit und Stärke auf, die Hinrichsen fehlt. Ihr fällt die Aufgabe zu, ihn an seine »Überzeugung« und den Wert seines Kampfes zu erinnern (H, 191) und ihm in Zeiten der Mutlosigkeit und Verzweiflung zu helfen, seine »frühere Sicherheit zurückzugewinnen« (H, 102). Ihre Stärke liegt in ihrer Reife und Vernunft, ihrer »Ruhe und Ausgeglichenheit« (H, 41), vor allem aber in der Anlage der Figur als Verkörperung des weiblichen Prinzips lebenserhaltender Mütterlichkeit, die spezifisch im Kontrast zur todbringenden Großstadt entwickelt wird. Durchgängig betont Landau Elises Weiblichkeit: Ihr Haus ist im Gegensatz zu der »dumpfigen« (H, 19), dunklen und bedrückenden Wohnung der Franks von den lebensspendenden Elementen des Lichts und der Wärme durchströmt, »blühende[] Gewächse[]« und »harmonisch verteilt[e]« Kunstwerke deuten an, dass durch ihre Hand organisches und geistiges Leben gleichermaßen gedeiht (H, 40). Bilder wie dieses verbinden sich mit dem als Leitmotiv aufgerufenen »mütterlichen Instinkt« (H, 27) als Elises Kerneigenschaft. Diese Darstellung erinnert an das Ideal der Ganzheit, das Meisel-Hess in der Schilderung ihrer modellhaft konstruierten Frauenfiguren propagiert: Wieder wird hier, wie auch dort, die Schlüsselstellung der Frau nicht in der Betonung der Gleichheit mit dem Mann, sondern über ihre Differenz definiert. Aufgrund der Zuschreibung von spezifisch weiblich konnotierten Eigenschaften kann die

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Frau im Namen des Prinzips der ›erweiterten Mütterlichkeit‹ über den Familienrahmen hinaus auf das Wohl einer an der Moderne leidenden Gesellschaft Einfluss nehmen. Was wie eine rückständige Festschreibung von Geschlechtsmerkmalen klingt, wird auf diese Weise zur emanzipatorischen Kraft, die oft, wie auch hier, mit Ideen kultureller Erneuerung Nietzscheʼschen Ursprungs verbunden werden und so weitere moralische Legitimation erhalten.102 Elises Verantwortung als Mutter ist es, die zu ihrer Entscheidung führt, Berlin den Rücken zu kehren. Im Vergleich zu Hinrichsens idealistischer Verpflichtung gegenüber den »unzähligen Bedrängten, die mutig für ihren Glauben einstehen, die schweigend leiden« (H, 191) definiert Elises Verantwortung sich in konkreterem und pragmatischerem Sinn über ihre Mutterschaft. Für den Kampf »für die jüdische Menschheit« erklärt sie sich selbst zu »egozentrisch« (H, 106); statt dessen handelt sie mit dem Ziel, ihrem Sohn »jene Sicherheit und Selbstverständlichkeit [zu] geben, die den meisten unserer Rasse fehlt« (H, 107): »[…] mehr als je«, so erklärt sie, »fühle ich mich heute gezwungen, meinem Sohn alle Nöte zu ersparen, die ihm aus jenem mittelalterlichen Judenhaß erwachsen werden!« (H, 273)103 Die Verantwortung der Mutter ist in Landaus Entwurf der abstrakten Solidarität mit der Gruppe der Mitverfolgten übergeordnet, zumal sie den Weg in die Zukunft weist: »Ihre Sorge gilt der Gegenwart«, erklärt Elise Hinrichsen, »die meine der Zukunft« (H, 104; meine Hervorhebung). Landau schildert hier weit mehr als eine persönliche Entscheidung, die Auswanderung ins westeuropäische Ausland steht modellhaft als Schritt ins Leben, als »richtig[e]« Lösung für alle deutsche Juden: »Und so wie ich meinen Konrad gestalten helfe, so wünsche ich mir die Juden!« schließt Elise (H, 106 und 107). Wichtig ist hier, dass sie ihren Weg mit positivem Selbstbewusstsein wählt. Ihre Haltung entspricht der des Paria aus Kafkas Novelle Beschreibung eines Kampfes, wie Hannah Arendt sie in ihrem Aufsatz »Die verborgene Tradition«

|| 102 Vgl. hierzu Allen, Feminism and Motherhood (wie Einleitung, Anm. 21), besonders S. 149– 172; vgl. auch Irene Stoehr: ›Organisierte Mütterlichkeit‹: Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900. In: Karin Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte: Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 1983, S. 221–249. 103 Elises »Mutterpflichten« (H, 273) siegen über ihre Gefühle für Hinrichsen – ebenso wie seine Entscheidung, für die Glaubensbrüder zu kämpfen, seine Liebe zu ihr besiegt. Die strukturelle Spiegelung ist deutlich, auch wenn Landau ihren Roman geschickt vor einer zu klischeehaften, plakativen Darstellung bewahrt, indem sie beiden Protagonisten persönliche Gründe für ihre Entscheidungen beigibt, die ein Gegengewicht zu ihrer altruistischen Motivation bilden: Hinrichsens irrationaler Heimatliebe entspricht in diesem Sinn Elises tief emotional empfundene Kränkung, die sie in der Zurücksetzung der Juden sieht und die ihr das Verbleiben in Deutschland als »Leid« erscheinen lässt (H, 271).

5.7 Exkurs: Der zweite und dritte Band der Trilogie Das Recht des Stärkeren | 237

beschrieben hat: Arendt weist darauf hin, dass Kafka den Konflikt zwischen Gesellschaft und Paria nicht als Frage des gerechten oder ungerechten Ausschlusses behandelt, sondern ihn auf die Frage der Zuerkennung von »Wirklich«-Sein, von Existenz, an den Ausgeschlossenen zuspitzt. »Denn dies«, so Arendt, »ist die größte Wunde, welche die Gesellschaft von eh und je dem Paria, welcher der Jude in ihr war, schlagen konnte, ihn nämlich zweifeln und verzweifeln zu lassen an seiner eigenen Wirklichkeit, ihn auch in seinen eigenen Augen zu dem ›Niemand‹ zu stempeln, der er für die gute Gesellschaft war.« Kafkas Paria jedoch, so fährt Arendt fort, dreht »die ganze Sache um[…]«, indem er nicht sich selbst, sondern den anderen den Anspruch auf Realität abspricht und »feststellt, daß die Gesellschaft aus ›lauter Niemand […] im Frack‹ besteht«.104 In eben dieser Weise spricht Elise der Gesellschaft, die sie ausschließt, die Macht über sie ab. Sie beruft sich auf ihre Würde und innere Unabhängigkeit und wählt – zwar mit einer gewissen Bitterkeit, doch ohne Zwang – die Emigration. So ist Elises Abwendung von Deutschland als Position weiblicher, dem Leben zugewandter Stärke konfiguriert und Ausdruck ihrer Überlegenheit. Landau markiert mit dem Handeln ihrer Protagonistin einen Schlusspunkt der Verbundenheit deutscher Juden mit Deutschland. Ihre Elise zieht die Konsequenzen aus der Überzeugung, dass unter den gegebenen Bedingungen die deutsch-jüdische Symbiose nicht zu realisieren ist – und ruft zu einem selbstbewussten Neuanfang in einer toleranteren, weltoffeneren Umgebung auf.

5.7 Exkurs: Der zweite und dritte Band der Trilogie Das Recht des Stärkeren Wie sehr Landau selbst sich mit der Position ihrer Protagonistin identifizierte, zeigt sich in den Fortsetzungsbänden der Trilogie, die durch den Holzweg eingeleitet wird. Im Mittelpunkt des zweiten Bands, Ahasver, der 1920 erschien, steht der nun etwa zwanzigjährige Sohn Elises, Konrad. Er hat in Genf und Cambridge studiert und ist glücklich, nicht in nationaler Enge, sondern in der westeuropäischen Kultur verwurzelt zu sein: »Alles Gute, alles Schöne, verdanke ich dem Ausland: meine Braut, meine Freunde, die alte westeuropäische Kultur!«105 Konrad ist zu einem lebenslustigen, kosmopolitischen Intellektuellen

|| 104 Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. In: Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag 2000, S. 50–79, hier S. 69. 105 L. Audnal (= Elisabeth Landau): Ahasver. Berlin: Erich Reiss 1920, S. 8.

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herangewachsen, doch Landau deutet auch eine unterschwellige Brüchigkeit seiner Identität an: So sehr er das gegenwärtige deutsche Klima »dumpfige[r] Beamtenluft«, »unfreie[r] Lebensauffassung« und antisemitischen Affekts auch ablehnt,106 so empfindet er doch das Bewusstsein, dass sein Geburtsland Deutschland ihm als Juden die vollwertige Zugehörigkeit verwehrt, als schmerzlich. Mit dem Ausbruch des Krieges bricht das im Weltbürgertum enthaltene Konfliktpotenzial auf und Konrads Welt kosmopolitischer Kultur zerbricht an den real nicht zu überwindenden nationalen Abgrenzungen. Hatte er zunächst bei seiner Verlobten in Belgien eine neue Heimat gefunden, so wird er nun von den Belgiern als Deutscher und damit als Kriegsgegner und Feind betrachtet. Gleichzeitig von den Deutschen als Jude verschmäht, findet Konrad sich zwischen allen Fronten und Möglichkeiten identitärer Zugehörigkeit.107 Erst nun, da ihm durch den Weltkrieg die Wahlheimat Westeuropa entzogen ist, empfindet er sich erstmalig als ewig unbehauster Ahasver. Im Lauf des Romans entwickelt Landau diese Konfliktsituation weiter und beendet diesen zweiten Teil ihrer Trilogie mit Konrads freiwilligem Einzug in den Krieg. Der Traum des Internationalismus scheint ausgeträumt; Konrad sieht seine Pflicht nun an der Seite der deutschen Patrioten, die für sein von Neidern umgebenes Geburtsland kämpfen. Landau verweist hier auf eine im Kriegsverlauf wiederholt von jüdischer Seite geäußerte gedankliche Parallele zwischen jüdischem und deutschem Schicksal, die den Deutschenhass der Kriegsgegner mit dem ungerechtfertigten Hass der Deutschen gegen die Juden in Verbindung stellte.108 Die Handlung der Brandfackel schließlich, des dritten Bands der Romanfolge, setzt im Frühjahr 1917 ein. Konrad dient als Soldat an der Ostfront und ist auch dort antisemitischen Angriffen von Seiten seiner Vorgesetzten ausgesetzt. Angesichts dieser Erfahrung sieht Elise im Nachhinein die Erziehung ihres Sohns zum Internationalismus gerechtfertigt. Dem Kriegskameraden Konrads, der ihr von dessen Verwundung an der Front berichtet, erklärt sie: Die Vaterlandsliebe, die ich erst durch den Krieg erwarb, versagt nach Ihrer Erzählung vollständig! Zweiundeinhalb Jahre machte ich mir die heftigsten Vorwürfe, meinen Sohn

|| 106 Ebd., S. 32. 107 Vgl. ebd., S. 83: »[…] wir werden erfahren, daß wir nirgends mehr hingehören!« 108 Vgl. Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus (wie Anm. 5), S. 69. Vgl. auch Joseph Wohlgemuth: Der Weltkrieg im Lichte des Judentums. Berlin: Jeschurun 1915, darin das Kapitel »Warum hassen uns die Völker?« (S. 89–112).

5.8 Aufnahme des Holzwegs in der zeitgenössischen Kritik | 239

international erzogen zu haben. […] Heute bedaure ich, daß es ihm nicht rechtzeitig gelang, die deutsche Staatsbürgerschaft abzustreifen wie ein schlechtes Kleid!109

Auch Konrad selbst erkennt seinen ungelohnten Einsatz für Deutschland als Fehler und bekennt sich mit glühendem Eifer zur Idee der »Vereinigten Staaten Europas«.110 Hier findet das Konzept der Heimatliebe, die Hinrichsen im ersten Band vertreten hatte, wieder Erwähnung – und wird verworfen; statt dessen greift Landau auf die biologistische Metapher des organischen Strebens nach einer fruchtbareren Zukunft wieder auf – und erweitert sie kosmisch in schwülstig-messianischem Tonfall: Die Stunde der Einsicht naht, wie die Bäume trotz kalter Witterung grünen, wenn ihre Zeit gekommen ist. […] So eng verwurzelt sind die Kulturen, daß sie sich wiederum vereinen müssen, denn unser Erdteil wird und kann noch nicht untergehen. Sternhell funkelt dem Sehenden künftiges Einverständnis […]. Ich halte es für meine Pflicht, jenem Gesundungswillen zu leben.111

Diese Idee der Völkerverbindung, die wie eine »Brandfackel« die Gemüter entzünden soll, macht zwischen Juden und Nichtjuden keinen Unterschied mehr. Doch sie ist getragen von jüdischen Vorkämpfern, die aus der antisemitischen Verletzung heraus die übernationale Denkart gelernt haben. So charakterisiert Landau die Juden am Ende ihrer Trilogie als »Friedensbringer in jedem Kulturvolk«112 – und erklärt im Abschlusssatz auch die Bedeutung des Titels: »Trotz Quälerei, trotz ewiger Verfolgung sind wir unzerstörbar, nicht auszurotten, daher die Starken: Versöhnung säen, der Weltseele Ruhe bescheren, das ist das Recht des Stärkeren!«113

5.8 Aufnahme des Holzwegs in der zeitgenössischen Kritik Obwohl keine Auflagenzahlen des Romans vorliegen, genaue Aussagen also nicht getroffen werden können, ist aus der Tatsache, dass noch im Jahr der Erstveröffentlichung des Holzwegs drei Auflagen erschienen, zu schließen, dass der Roman auf einiges Interesse stieß. Im Winter 1918 erschienen zwei Rezensionen in vielgelesenen jüdischen Monatszeitschriften: in Im Deutschen Reich und

|| 109 L. Audnal (= Elisabeth Landau): Die Brandfackel. Dresden: Piersons 1929, S. 41. 110 Ebd., S. 361. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 173. 113 Ebd., S. 362.

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in den Neuen jüdischen Monatsheften. Interessanterweise geht keiner der beiden Rezensenten darauf ein, dass die Handlung des Holzwegs um die Jahrhundertwende angesiedelt ist. Die Ironie dieser Unaufmerksamkeit ist unübersehbar, wenn der Autor (die Autorin?) des Im Deutschen Reich-Artikels Landau empfiehlt, in den Folgeromanen »größere Sorgsamkeit« anzuwenden.114 Ernster zu nehmen sind allerdings zwei andere Gesichtspunkte dieser Rezension; sie betreffen die Verbindung des Geschlechts der Autorin mit dem Charakter und der Qualität ihres Erzählstils und die Stellungnahme zu Landaus kritischer Darstellung der jüdischen Gesellschaft Berlins. Schon in der Mahnung, »größere Sorgsamkeit« walten zu lassen, die durch eine weitere Warnung vor »Flüchtigkeiten« ergänzt wird, scheint eine gewisse Herablassung in der Haltung des Rezensenten auf. Diese wird problematisch, liest man sie in Verbindung mit der Charakterisierung von Landaus Stil als spezifisch weiblich. Denn wenn auch die »Wahrhaftigkeit und Bekenntnistreue« ihrer Milieuschilderungen gelobt und ihr »Scharfblick« als typisch weibliche Eigenschaft positiv hervorgehoben wird, so untergräbt die Beschreibung ihrer Darstellung »jüdischer Schwächen« als Ausdruck der »Wehleidigkeit einer Frau, die unter den Mängeln oder Unarten ihrer nächsten Angehörigen bitter leidet« den so weit positiven Eindruck.115 Mit dem misogynistischen Seitenhieb wird Landau – in Bezug auf ihre Zeichnung überangepasster, rückgratloser Juden wie Erwin und Gertrud Frank – die Urteilskraft abgesprochen. Doch warum? Der Rezensent beantwortet diese Frage, wenn er zu bedenken gibt: »Es kann bezweifelt werden, ob der Zeitpunkt für eine solche Selbstkritik gut gewählt ist. Wenn es gilt, sich gegen einen äußeren Feind zu verteidigen, dann müssen innere Streitigkeiten schweigen.« Und noch deutlicher wird diese Mahnung in dem Vorwurf, Landaus Kritik an den deutschen Juden führe »dem Antisemitismus Wasser und Munition zu[….]«. Der Rezensent, J. L., hatte bereits vor Ausbruch des Krieges eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, deren Hauptstoßrichtung der Kampf gegen den Antisemitismus war, darunter einen ausführlichen Bericht über Debatten im Reichstag zu antisemitischen Haltungen im deutschen Militär und einen Beitrag über die

|| 114 L., Ein Berliner jüdischer Roman (wie Anm. 39), hier und im Folgenden S. 468. Die Rezension ist lediglich mit den Initialien »J. L.« unterzeichnet. Einzelne im Folgenden angesprochene Merkmale des Rezensionstexts lassen aber darauf schließen, dass es sich um einen männlichen Autor handelt. 115 Dies und die folgenden Zitate: Ebd., S. 467.

5.8 Aufnahme des Holzwegs in der zeitgenössischen Kritik | 241

offene Anfeindung jüdischer Kurgäste auf der Insel Borkum.116 Immer ist es ihm darum zu tun, ungerechtfertigte Anschuldigungen und Ausgrenzungen zurückzuweisen und für die Rehabilitierung beleidigter oder benachteiligter Juden einzutreten. Und wenn der Kampf gegen den Antisemitismus, der in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten mit verzweifelter Kraft geführt wurde, sich auch durchaus unterschiedlicher Strategien bediente, so ist doch ein notwendiger Kernbestandteil aller programmatischer anti-antisemitischer Texte die positive Darstellung der Juden oder doch zumindest das Herunterspielen ihrer Schwächen.117 Kein Wunder also, dass die kritische Schilderung der jüdischen Gesellschaft um die Familie Frank den Ärger des Rezensenten erregte. Er konzentriert sich so ausschließlich auf diesen Aspekt des Romans, dass er die beiden positiven Handlungsmöglichkeiten, die Landau mittels ihrer Protagonisten anbietet, gänzlich ausblendet: Weder Hinrichsen noch Elise finden auch nur Erwähnung. Die Tatsache, dass der Rezensent zu der zentralen Frage der Zeit – »Wie sollen die Juden sich verhalten?« – eine andere Stellung einnimmt als die Autorin, steht hier einer fairen und ausgewogenen Würdigung im Weg, und der misogynistische Verweis auf das Geschlecht der Autorin scheint die Waffe gewesen sein, die als nächste zur Hand lag. Ein ähnlicher Vorwurf lässt sich gegen die Kritik des Holzwegs in den Neuen jüdischen Monatsheften erheben. Der Autor, Siegbert Feuchtwanger, ein einflussreicher Journalist und Jurist (und Cousin Lion Feuchtwangers),118 hatte schon 1916 ein Buch mit dem Titel Die Judenfrage als politisches und wissenschaftliches Problem veröffentlicht, in dem er die Komplexität des Begriffs der ›Judenfrage‹ analysiert und sich für ihre Lösung durch die Wissenschaft ausspricht. Die objektive historische und sozialwissenschaftliche Untersuchung der Verdienste der Juden, so lautet sein Argument, führten dem »kulturell Wertenden« vor Augen, wie wichtig das Überleben des Judentums sei.119 So gestaltet er die Einstellung zum Judentum als Frage der Bildung und sucht, Emotionen und

|| 116 J. L.: Bilder aus dem Reichstag. In: Im Deutschen Reich (1905), H. 4 (April), S. 190–200; Dr. J. L.: Borkum in – Deutschland. In: Im Deutschen Reich (1905), H. 10 (Oktober), S. 520–524. 117 Für einen Überblick über fiktionale und nicht-fiktionale anti-antisemitische Texte der frühen Weimarer Republik vgl. Robertson, The ›Jewish Question‹ (wie Einleitung, Anm. 7), S. 196–202. 118 Feuchtwanger arbeitete als promovierter Rechtsanwalt in München. Ab 1933 war er zweiter Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde München, 1936 wanderte er nach Palästina aus. Vgl. Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933. München: Oldenbourg 2006, S. 228. 119 Siegbert Feuchtwanger: Die Judenfrage als politisches und wissenschaftliches Problem. Berlin: Heymanns 1916, S. 79.

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Vorurteilen durch rationales und faktenbezogenes Denken (»ein Angebot an Orientierung und Aufhellung des »Tatbestand[s]«) zu begegnen.120 Kurz: auch Feuchtwanger war tatkräftig im Kampf gegen den Antisemitismus engagiert und womöglich noch mehr an der Kommunikation eines positiven Judentums interessiert als der Rezensent der Zeitschrift Im Deutschen Reich. Dass er Landaus Roman nicht eben wohlwollend gegenüberstand, ist somit einzusehen; interessant ist aber seine Argumentationsführung. Auch er setzt sich mit den Positionen Hinrichsens und Elises – den tragenden Stimmen des Texts – nicht näher auseinander, sondern pauschalisiert mit einer gewissen Arroganz, »in der Beurteilung der Judenfrage« sei Landau »immer noch über 1890 nicht hinausgekommen« und mithin sei Der Holzweg »ein – zeitgeschichtlich betrachtet – unmodernes Buch«.121 Feuchtwanger verwechselt hier zwei Ebenen: die der dargestellten Zeit und die der »Beurteilung der Judenfrage«. Letztere speist sich, wie dies Kapitel gezeigt hat, durchaus aus den aktuellen zeitgenössischen Verhältnissen und Debatten: Die Haltungen beider Hauptfiguren, Hinrichsens Zweifel am Erfolg seiner idealistischen kämpferischen Haltung und die vernunftbetonte Entschlossenheit Elises zur Emigration, sind mentale Zeichen der Generation nach dem Ersten Weltkrieg, nicht der noch weitgehend hoffnungsvollen Haltung der meisten assimilierten Juden um 1890. Feuchtwangers Unterlassung, zwischen diesen beiden Ebenen zu unterscheiden mag in ungenauem Lesen begründet sein, aber es ist auch denkbar, dass wir es hier mit dem rhetorisch unlauteren Abwertungsversuch eines Andersdenkenden zu tun haben. Ein anderer Versuch, die Autorin zu diskreditieren, ist ebenso ungeschickt und ruft zunächst ein gewisses Erstaunen hervor: »Der Verfasser«, so schreibt Feuchtwanger – und widerspricht damit der nur einige Sätze vorher geäußerten Feststellung »daß eine Frau sich hinter dem Namen ›Audnal‹ verbirgt«, – hat viel und gut beobachtet, aber man wird den Eindruck nicht los, als habe er das, was er beobachtet, als darstellbar erst sehen gelernt durch die bekannten klassischen Darstellungen analogen Milieus, z. B. bei Heinrich Mann und Fontane u. a. m..« Nun ist es zwar schwerlich als ernsthaftes Manko zu verstehen, wenn Landaus Roman aus der Masse der zeitgenössischen Veröffentlichungen durch Verweis auf die Nachfolgerschaft von zwei der geschätztesten Autoren des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts herausgehoben wird. Doch die implizierte Kritik wird verständlich, wenn wir einen Schritt weiter gehen: Der ›Ausrutscher‹ oder die Vergesslichkeit bezüglich des Geschlechts der Auto-

|| 120 Ebd., S. VII. 121 Siegbert Feuchtwanger: L. Audnal, »Der Holzweg«. In: Neue jüdische Monatshefte, 10. November 1918, S. 112.

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rin weist auf eine Grundeinstellung hin, die Autorschaft – oder vielleicht spezifisch Romanautorschaft – als männliche Domäne begreift. Explizit wird dies bestätigt, wenn Feuchtwanger die Tatsache, »daß eine Frau sich hinter dem Namen ›Audnal verbirgt‹« heranzieht, um »manche […] Eigentümlichkeit des Buchs« zu erklären. In diesem Licht ist die Nachfolgerschaft Fontanes und Manns als ein Mangel an Originalität zu verstehen und wird, zusammen mit der Unfähigkeit zu aktueller Beurteilung der Judenfrage und der hier ebenfalls festgestellten exzessiven Idealisierung Hinrichsens (»wie Held Siegfried«) als ›typisch‹ weibliche Schwäche inszeniert. Über die starke Protagonistin, deren Stimme weitsichtig und klar den Weg der deutschen Juden in die Zukunft weist, verliert Feuchtwanger fast kein Wort. Beide Rezensenten scheinen also eine Strategie zu verfolgen, nach der weibliche Autorschaft in abwertender Intention instrumentalisiert wird, um dem eigenen Unbehagen an der kritischen Darstellung des deutschen Judentums Ausdruck zu verleihen. Dieses Vorgehen ist aus der aktuellen politischen Situation deutscher Juden 1918 verständlich, doch die Rezensionen, die beide an prominenter Stelle erschienen, haben ohne Zweifel die Rezeptionsgeschichte von Landaus Roman langzeitig beeinflusst: Das Wissen um den Holzweg und um seine bemerkenswerte Protagonistin Elise versinkt nach 1918 ohne jede Spur.122 Das ist zu bedauern, denn der Roman, und vor allem diese zukunftsweisende Figur, bedeuten einen literaturgeschichtlich wichtigen Einschnitt: Die deutsche Jüdin verlässt Deutschland – und mit der Absage an das Projekt der deutsch-jüdischen Symbiose geht der Abschluss mit dem Genre des deutschjüdischen Zeitromans einher.

|| 122 Der Folgeroman, Ahasver, ist in keiner der einschlägigen jüdischen Zeitschriften mehr besprochen worden.

6 Schluss Wie eingangs bemerkt, versteht sich dieses Buch als Antwort auf Liliane Weissbergs Anregung, deutsch-jüdische Literatur nach Konzepten von Weiblichkeit zu befragen, als Fortsetzung von Arbeiten wie denen von Sigrid Weigel und Barbara Hahn, die der Kultur jüdischer Weiblichkeit nachgeforscht haben, und als Ergänzung der Studien von Florian Krobb und Anne Fuchs, die wichtige Einblicke in die ›von außen‹ konstruierten literarischen Bilder der Jüdin gegeben haben. Ein Ziel war es, der »Geschichte des Vergessens, der Aussparung« entgegenzuwirken, als die Silvia Bovenschen die Geschichte der »Präsentationen des Weiblichen in den kulturellen Diskursen« beschrieben hat1 – eine Beschreibung, die auf die Historiographie deutsch-jüdischer Literatur auch heute noch zutrifft. Es ging darum, die Konstruktionen jüdischer Weiblichkeit in Schriften jüdischer Autorinnen der Hochmoderne, die heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten sind, wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen und der Historiographie der deutsch-jüdischen Literatur ein Kapitel hinzuzufügen. Neben dem Präsentieren von Unbekanntem bestand ein Teil dieser Arbeit aber auch darin, bestehende Urteile und Einordnungen der betrachteten Werke, die sich oft nur auf Teilaspekte konzentrierten, zu überprüfen. Um einen unverstellten Zugang zu den Schriften zu gewährleisten und ihr Verständnis in all ihrer Komplexität zu ermöglichen, war es wichtig, sie aufgrund einer genauen Re-Lektüre sowie der umfassenden Kontextualisierung in zeitgenössischen kulturgeschichtlichen Strömungen und im Gesamtwerk der Autorinnen neu zu interpretieren. Als Resultat lässt sich feststellen, dass Croners Abhandlung über die ›moderne Jüdin‹ sich gegen die Einordnung in den Kontext einer Diskussion unter Jüdinnen über die positive Bestimmung der eigenen Position sperrt. Statt einer persönlich engagierten Stimme im Gespräch unter Jüdinnen über die eigene Identität finden wir eine deutlich distanzierte und von Brüchen durchzogene Darstellung, die philo- und antisemitische Diskurse und Klischees mischt. Erst über die Betrachtung der modernen Jüdin im Kontext von Croners anderen Veröffentlichungen und in der kontrastiven Analyse zu Nahida Remys Buch Das jüdische Weib wird offensichtlich, wo Croners primäre Schreibmotivation und

|| 1 Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 65.

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der Schwerpunkt des Texts eigentlich liegen: in der Propagierung eines konservativen Weiblichkeitsideals unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Hauschners Doppelroman Die Familie Lowositz ist nicht primär die Geschichte des männlichen Protagonisten Rudolf, wie Gertrud Bäumer oder auch Andreas Herzog vermeinten, sondern eine gleichgewichtig konzipierte fiktionale Auseinandersetzung mit der sozialen Situation und psychologischen Befindlichkeit männlicher und weiblicher deutscher Jugend in Prag. Die Geschichte der Camilla ist nicht als untergeordnetes, sondern vielmehr als das grundlegende Narrativ dieses Romans anzusehen: Die autobiographischen Entsprechungen zu Hauschners Leben, die Wiederaufnahme von Themen und Motiven aus ihren anderen Romanen, die außergewöhnliche psychologische Tiefe, mit der sie Camilla beschreibt, weisen darauf hin. Das jüdische Milieu, in dem der Roman spielt, ist nicht bloß »zufällig« (Geiger), sondern vielmehr zentral für das Verständnis des Romans, der einen scharfen Angriff auf die in jüdischen Kreisen praktizierte arrangierte Verheiratung beinhaltet. Und Camilla fügt sich am Ende eben nicht wieder in die vorgegebenen Strukturen der patriarchalischen Gesellschaftsordnung ein: Auf der Grundlage ihrer durch Irrwege und Leiden erreichten Reife wagt sie (wenn auch wenig erfolgversprechend) am Romanende den Ausbruch und weist den Weg in einen ›natürlicheren‹ Lebensentwurf. Meisel-Hess’ Roman Die Intellektuellen ist bisher nur sehr vereinzelt in der Forschung wahrgenommen worden, doch auch hier lässt sich in R. Hinton Thomas’ Interpretation der Protagonistin Olga als Inbild dionysischer Energie eine Lesart ausmachen, die die eigentliche Konzeption der Figur als Modell der Überwindung triebhafter Impulse im Sinne der instinktgeleiteten Vernunft ‒ und die Verankerung des Romans im gedanklichen Umfeld des Reformdarwinismus ‒ eher verstellt. Landau schließlich ist bei den Rezensenten ihres Holzwegs auf so tiefe Konsternation über die unschmeichelhafte Darstellung ihrer jüdischen Mitbürger gestoßen, dass die Kritiken sich ganz auf diesen Aspekt ihres Romans konzentrierten, der der antisemitischen Hetze Vorschub zu leisten drohte. Die Diskussion um die Handlungsmöglichkeiten der Juden in einem von antisemitischem Affekt beherrschten Deutschland und die über die Protagonistin Elise vertretene rational zukunftsorientierte Position der Autorin bleiben unerwähnt. Während in allen anderen Fällen Fehleinschätzungen oder ›blinde Flecken‹ der Interpretation darauf zurückgeführt werden können, dass die Leser den Texten mit einer bestimmten thematisch orientierten oder ideologischen Erwartungshaltung begegnet sind, liegt der Fall hier ernster. Aus (durchaus verständlicher)

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Besorgnis um die Wirkung des Texts wird der Autorin die Glaubwürdigkeit entzogen – und ihr Schreiben dem Altpapier der Geschichte übergeben. Haben wir den Zugang zu diesem Textkorpus von Romanen jüdischer Autorinnen wieder freigelegt, so stellen diese sich als faszinierende Beiträge zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte dar. Einige Ergebnisse ihrer Analyse sollen hier noch einmal zusammenfassend dargestellt werden. Zuerst ist festzustellen, dass sich in den hier betrachteten Texten nur sehr wenige Rückgriffe auf Imaginationen der Jüdin finden, die aus der Außensicht nicht-jüdischer und/oder männlicher Perspektiven formuliert und tradiert worden sind. Das Bild der ›schönen Jüdin‹ – »Metapher für die doppelt Andere, in der die Phantasmen über das andere Geschlecht mit denen über das ›Jüdische‹ eine exotische Verbindung eingehen«,2 erscheint nur bei Croner, deren Text ein Konglomerat von Fremd- und Eigendiskursen darstellt. In der hier behandelten Romanliteratur, die autobiographisch begründet ist und nachdrücklich die ›Innensicht‹ der deutschen Jüdin vertritt, finden sich derartige Klischeebilder nicht. Statt eines topischen Figurenarsenals sehen wir individuell gezeichnete Charaktere, die durch psychologische Tiefe (Hauschner), sozialpolitische Verve (Meisel-Hess) und die gedankliche Klarheit und Weitsichtigkeit ihrer Positionen und Argumente (Landau) bestechen. Die Auseinandersetzung mit den drei anfangs als tragend beschriebenen Diskursachsen ist in all diesen Texten zentral. Im Hinblick auf die identitäre Definition ›der Jüdin‹, auf die Verarbeitung der Diskurse um Judentum und Weiblichkeit also, zeigen sich hier zunehmend selbstbewusste Positionierungen. Darstellungen der großstädtischen Lebensumwelt unterstützen diese auf tragende Weise, denn, weit mehr als realistischer Hintergrund mimetischer Literatur, sind sie als bedeutungstragende Komponenten in die Auseinandersetzungen mit deutsch-jüdischer und weiblicher Identität eingebunden. Auffallend ist, dass die vier Autorinnen mit sehr unterschiedlichen Konzepten des ›Jüdischen‹ arbeiten. Alle vier waren Vertreterinnen des hoch assimilierten deutsch-jüdischen Bürgertums; insofern ist das Nachdenken über das Judentum ihrer Protagonistinnen (und ihrer selbst) eine Konfrontation mit dem von der Hegemonialkultur als das ›Andere‹ Beschriebenen. In der Betrachtung der Behandlung dieser Konfrontation ist es sinnvoll, die kulturelle und psychologische Komponente des ›Jüdischen‹ von den Einstellungen zur jüdischen Körperlichkeit zu trennen.

|| 2 Weigel, Jüdische Kultur und Weiblichkeit (wie Einleitung, Anm. 26), S. 2. Hervorhebung im Original.

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Croners Text setzt sich insofern von den anderen ab, als schon in seiner Anlage als ›wissenschaftliche‹ völkerpsychologische Abhandlung das Verständnis des Beschreibungsobjekts der ›modernen Jüdin‹ als der ›Anderen‹ eingeschrieben ist. Die Jüdin erscheint hier sowohl als Ideal- als auch als Negativbild. Was allerdings zunächst als klare binäre Kontrastierung ›moderner‹, das heißt rastlos gehetzter, intellektueller, emanzipierter oder auf Äußerlichkeiten fixierter Weiblichkeit mit mythischen Traumbildern orientalischer Schönheit und dem Idealtypus der jüdischen Mutter daherkommt, zeigt sich bald als brüchiges Gedankengebäude, das die ambivalente Haltung der von ihrer jüdischen Herkunft entfremdeten Autorin reflektiert. Demgegenüber stellen die drei fiktionalen Texte weit stimmigere Entwürfe jüdischer Weiblichkeit vor. Bei Hauschner finden wir – ganz im Gegensatz zu Croners Entwurf – eine tief im eigenen Erleben wurzelnde Auseinandersetzung mit den psychologischen Auswirkungen des Judentums und des Ausbruchsversuchs aus patriarchalischen Strukturen jüdischer Kultur. Jüdische Weiblichkeit ist hier als Befindlichkeit beschrieben, als psychologische Last, die aus der spezifisch jüdischen Tradition und Kulturgeschichte erwächst. Die Frage, die Hauschner aufwirft – und letztlich unbeantwortet lässt – ist, ob es möglich ist, sich von dieser kulturell begründeten und über Jahrhunderte zur mentalen Anlage verfestigten Last zu befreien. Meisel-Hess legt ihrem Roman ein wesentlich positiveres Verständnis des ›Jüdischen‹ zugrunde. Es ist eine mentale Kraft, eine emotionale und intellektuelle Energie, der sie im Rahmen ihres evolutionären Denkens eine wichtige Bedeutung zuweist. Der Rückgriff auf zeitgenössische Diskurse jüdischer Intellektualität ermöglicht es ihr, die Zuschreibung von Andersartigkeit auf geistigem Gebiet positiv anzunehmen und sie als treibende Kraft für gesellschaftlichen Fortschritt darzustellen. Zwar spielen antisemitische Angriffe explizit in Meisel-Hess’ Romangebäude keine Rolle, doch es liegt nahe, die Betonung der Rolle der jüdischen Protagonisten für den sozialen Entwicklungsprozess zumindest zum Teil als Antwort auf diskriminatorische Tendenzen der wilhelminischen Gegenwartskultur zu sehen. Wesentlich offensichtlicher liegt eine solche reaktive Haltung Elisabeth Landaus Entwurf jüdischer Identität zugrunde. Im Holzweg definiert sie diese als ethische Position in Abgrenzung von nichtjüdischer Schuldzuweisung einerseits und jüdischer Selbsterniedrigung andererseits, als bewusste Entscheidung für die zugewiesene Andersartigkeit und als deren positive Wendung. Das Spektrum sowohl der inhaltlichen Füllung des Begriffs des ›Jüdischen‹ als mentale, emotionale und ethische Komponente und der Haltungen dazu ist also in den hier untersuchten Texten sehr breit. Alle jedoch reflektieren eine

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ablehnende Einstellung gegenüber der als jüdisch kodierten Körperlichkeit. In Croners Bild der sexualisierten Jüdin und in Hauschners Schilderung von Rudolfs Selbstbeschreibung als »schwarzer Fleck« wird das Unbehagen am jüdischen Körper besonders deutlich, aber auch bei Meisel-Hess und Landau, deren Protagonistinnen auf geistiger bzw. ethischer Grundlage mit einem gewissen Stolz zu ihrem Judentum stehen, dominiert das Schönheitsideal der ›nordischen Rasse‹ und die Ablehnung semitischer Züge. Als »hässlich« konfigurierte Merkmale werden dabei weitgehend nicht mit den Protagonistinnen selbst assoziiert – selbst Meisel-Hess’ Olga legt als reife, energievolle Rednerin die angeborene Hässlichkeit ab ‒ sie werden aber auch nicht, wie in mancher zeitgenössischer Romanliteratur assimilierter jüdischer Autoren, den Ostjuden als ›Fremdkörpern‹ zugeordnet.3 Bei Hauschner und Meisel-Hess ist es der Bruder der Hauptprotagonistin, der als hässlich beschrieben wird, eine Figur also, die dieser nicht näher stehen könnte. Und die Autorinnen gehen mit diesem ›Makel‹ des jüdischen Körpers – gemäß ihren weltanschaulichen Grundhaltungen – auf sehr unterschiedliche Weise um: Erscheint er Hauschner als physisches Pendant zur psychischen Last des Judentums, so begreift Meisel-Hess ihn als genetische Eigenschaft, die im Evolutionsprozess überwindbar ist. Meisel-Hess vertraut auf einen Vorgang der Assimilation, der in der Mischung aller (weißen) ethnischen Gruppen besteht und in dem solche Mängel durch verantwortliches Reproduktionsverhalten aus der zukünftigen genetischen Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung ausgeschlossen werden können. Biologistisches Denken wie dieses, das an Ideale verbesserten »Menschtums« geknüpft ist, ruft im Rückblick unser Befremden hervor, erstens aufgrund der impliziten Annahme der Überlegenheit der weißen Hautfarbe und zweitens weil wir hier Vorläufer zu Ideen sehen, die von Ideologen der Nationalsozialisten in rassistische Denkmodelle integriert und auf unmenschliche Weise verfolgt wurden. Es ist jedoch wichtig, sich durch dieses Lesen im Rückblick nicht den Blick auf die inhaltliche Komplexität der Texte zu verstellen. Noch einmal soll daran erinnert werden, dass Meisel-Hess’ Roman im Kontext eines integrativen und optimistischen Zukunftsmodells zu lesen ist, das auf die Überwindung rassischer Unterschiede ausgerichtet ist – auch wenn Stanislaus und Olga als »Übergangsgeschöpfe« im Sinne dieses teleologischen Entwurfs persönliche Opfer bringen müssen. Anders als Hauschner und Meisel-Hess bindet Landau die körperliche Beschreibung ihrer Romanfiguren an deren ethische Charakterisierung. Sie stellt

|| 3 Georg Hermanns Julius, Jettchen Geberts »neuer Vetter« aus Posen, »klein, fett« und »wie zusammengehämmert«, mag als Beispiel hierfür einstehen. Vgl. Hermann, Jettchen Gebert (wie Kap. 3, Anm. 110), S. 171.

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der Mehrzahl der durch die antisemitische Anfeindung »gebogenen« und »verkümmerten« deutschen Juden ihre modellhaft zum Judentum stehenden Protagonisten entgegen, deren moralische Integrität sich in ihrem geraden Wuchs spiegelt. Wenn sie den blonden Hünen Hinrichsen mit den physischen Merkmalen ausstattet, die im zeitgenössischen Denken der ›nordischen Rasse‹ zugeordnet werden, so unterstreicht sie damit einerseits die Substanzlosigkeit der Zuweisung von Andersartigkeit, andererseits aber bestätigt sie auf diese Weise die positive Wertung des ›nordischen‹ Ideals und die Ablehnung semitischer Erbmerkmale, die damit einherging. Croner ist die einzige der vier Autorinnen, die der zeitgenössischen Rassenhierarchisierung etwas entgegenzusetzen hat: die Imagination der rätselhaft-mythischen Orientalin. In ihrem Text wird dieses Bild, das durchaus als positive Leitvorstellung hätte funktionieren können, jedoch von gegenläufigen Imaginationen überlagert – und in den mimetischrealistischen Romanentwürfen Hauschners, Meisel-Hess’ und Landaus findet das irreale Traumbild keinen Raum. Es bietet sich an, an dieser Stelle auf Anne Fuchs’ Feststellung zurückzukommen, dass männliche deutsch-jüdische Autoren (Freud, Kafka, Drach, Roth und Hilsenrath) die Zuschreibung von ethnischer Andersartigkeit in das Paradigma des Geschlechts verschieben und die eigene »experience of abjection« auf die literarische Gestaltung von Weiblichkeit übertragen.4 Die Frage, die sich hier beinahe notwendig anschließt, ist die, ob sich in den Texten jüdischer Frauen eine entsprechende Negativprojektion auf eine Gruppe wie auch immer konstituierter ›Anderer‹ findet – und es scheint mir, dass dies in den drei fiktionalen Texten, die hier zur Diskussion stehen, tatsächlich der Fall ist: Die negative Projektion wird hier in das Paradigma der sozialen Schicht überführt. In allen drei Fällen sind es die jüdischen Kleinbürger, von denen die Autorinnen sich und ihre Heldinnen als Angehörige des gehobenen Bürgertums durch ihre überlegene Bildung, Weltläufigkeit – und bei Landau auch der damit verknüpften ethischen Überlegenheit – abheben. Das Kleinbürgertum ist als Umfeld der Protagonistinnen gestaltet, aus dessen Beengung sie sich zu befreien suchen. Nur Meisel-Hess’ Olga ist in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, Hauschners Olga und Landaus Elise ist dieses Umfeld lediglich durch Heirat zugeteilt – und kann so als von Grund auf wesensfremd dargestellt werden. In allen Fällen jedoch ist der Ausbruch aus diesem Milieu, das durch Manifestationen des Jüdischen charakterisiert ist, die als rückständig und unkultiviert gezeichnet wer-

|| 4 Vgl. Fuchs, A Space of Anxiety (wie Einleitung, Anm. 17), S. 2.

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den, als Bedürfnis und Voraussetzung für die Entfaltung der gebildeten jüdischen Frau geschildert. Doch auch wenn diese Bewegung der Befreiung allen Narrativen unterliegt, ist es durchaus nicht immer die Großstadt, die als Zielort oder als Ort des erfolgreichen Neuanfangs konfiguriert wird – auch wenn selbst Croner, die ihren Leserinnen die Einordnung in patriarchalische Strukturen ans Herz legt, sich der befreienden Wirkung und den geistigen Anregungen Berlins nicht verschließen kann. Das positive Großstadtbild und die Schilderung der Neukonstituierung einer befreiten, selbstbestimmten örtlichen Zugehörigkeit sind vom Grad der rationalen, selbstverantwortlichen Bewusstheit der Protagonistin abhängig, von der Einstellung der Autorin zur Moderne und von der sozialen Situation der Juden in Berlin zum Zeitpunkt des Schreibens. Nur Meisel-Hess schildert die Übersiedlung aus der beengten kleinstädtischen Welt in die Metropole Berlin ohne Vorbehalt als intensiv erlebte Befreiung in einer Umgebung kulturellen und sozialen Fortschritts. Hauschners konzeptuelle Grundlage von Camillas Reifung und Heilung – ein Schritt, der der Romanlogik zufolge nur in der Nähe zur Natur vollzogen werden kann ‒ steht einer positiven Großstadtzeichnung entgegen und verlangt vielmehr ein Bild Berlins als dekadenter Gegenwelt zu der Zielvorstellung des ›natürlichen‹ Lebens. Und als Landau sich inmitten der Welle antisemitischen Affekts gegen Ende des Ersten Weltkriegs anschickte, ihren Holzweg zu schreiben, war Berlin für die deutsche Jüdin als positives, befreiendes Lebensumfeld nicht mehr denkbar. Ganz im Gegenteil erscheint die Stadt hier als mit expressionistischer Metaphorik angereicherte Räumlichkeit einer sterbenden und todbringenden Kultur. Für Landaus Elise, die Croners Vorschlag ablehnt, die zugeschriebene Andersartigkeit in der großstädtischen Anonymität zu verbergen, ist es nun der Weg der Abwendung von Berlin, der Befreiung und Neuanfang verspricht. Neue Wege und Zukunftsentwürfe, die im weiteren Rahmen auf gesellschaftlichen Fortschritt abzielen, sind bei allen vier Autorinnen eng mit der kulturerneuernden Kraft von Weiblichkeit, Mutterschaft und Mütterlichkeit verknüpft. Über die Rhetorik der Differenz schreiben sie sich selbstbewusst in zeitgenössische Diskurse ein, die die zukunftstragende Kraft des Weiblichen betonen. Interessant ist aber auch hier die Bandbreite der Entwürfe, die sehr unterschiedliche Gewichtungen der (individuellen und ›erweiterten‹) Mütterlichkeit und der biologischen Mutterschaft beinhalten. Croners Modell des Schritts zurück in eine vormoderne Zeit, in der die Frau sich in erster Linie über die Mutterrolle definiert, und Hauschners Verklärung der Mutter-Kind-Bindung als Weg zu individueller Heilung und kultureller Erneuerung mögen auf den ersten Blick recht ähnlich anmuten. Der entscheiden-

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de Unterschied liegt aber darin, dass Hauschner, ebenso wie auch Meisel-Hess und Landau, über ihre Konzepte der Mutterschaft/Mütterlichkeit ein Handeln legitimiert, das gegen die Moral oder die herrschende Meinung der Mehrheitsgesellschaft opponiert. Alle drei Romanautorinnen lösen die Mutter-KindBeziehung aus dem häuslich-familiären Kontext heraus; wo sie der Vaterschaft eine Rolle zugestehen, bleibt diese deutlich untergeordnet. In beinahe exklusiver Konzentration auf die Mutter stellen sie die Verknüpfung von Rationalität, Selbstverantwortung und Mutterschaft bzw. Mütterlichkeit als wegweisend für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt und spezifisch auch für die Zukunft des deutschen Judentums dar. Croner sieht zwar im Aufgehen der jüdischen Frau in der Mutterschaft den Schritt, der das deutsche Judentum vor den Bedrohungen der Moderne zu bewahren vermag, ihr Entwurf bleibt aber insofern problematisch, als sie das »selbstlose[] […] Sich-bescheiden« der Mutter in den Vordergrund stellt (MJ, 40). Die Selbstaufgabe und notwendige Sublimierung der überentwickelten Sexualität der Jüdin stehen hier im Vordergrund, nicht die Verbindung von positiver Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Fortschritt. Diese Verbindung ist für Hauschner dagegen ein zentrales Anliegen. Erst Camillas Durchbrechen des Kreislaufs liebloser Unnatur und Passivität, der in der Verheiratung und Mutterschaft ohne eigene Handlungsfreiheit begründet liegt, verspricht ihr ein erfülltes Leben und weist den Weg über die Auflehnung zu einer besseren, freieren Lebensgestaltung. Nur aufgrund ihrer psychologischen Bereitschaft zur Annahme der Mutterrolle kann sie die Kraft entwickeln, die Fesseln des patriarchalischen Judentums zu lösen. Ebenso verbindet auch Landau den Gedanken notwendiger kultureller Erneuerung mit der Mutterrolle: Mütterlicher Instinkt und selbstbewusste Rationalität liegen Elises Entscheidung zugrunde, einen neuen Anfang in einer toleranteren Gesellschaft zu suchen. Meisel-Hess ist die einzige der hier betrachteten Autorinnen, die uns keine Imagination einer jüdischen Mutter präsentiert. Zwar stellt sie die Bedeutung der biologischen Mutterschaft für das Wohl der Gesamtgesellschaft ins Zentrum ihres Denkgebäudes und weist damit der Frau eine große Wirkungskraft und soziale Verantwortung zu, für ihre jüdischen Protagonisten bedeutet diese Verantwortung aber den Verzicht auf leibliche Elternschaft. Indem sie jedoch Olga führend an der Bewegung zur gesellschaftlichen Reform im Bereich der Sexualität und des Mutterschutzes beteiligt, schreibt sie ihr die mit der Mutterschaft assoziierte Kraft, die wir bei Hauschner und Landau finden, ebenfalls ein. Das sozialpolitische Engagement aller vier Autorinnen steht also außer Frage, und alle weisen der jüdischen Frau eine zentrale Stellung in ihren Texten zu. Um sich Gehör zu verschaffen und die Rezeption ihrer Werke zu beeinflussen,

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greifen sie geschickt auf unterschiedliche literarische und diskursive Traditionen und zeitgenössische Debatten zurück. Pauschalisierende Begriffe wie »Tendenzliteratur« oder »Anklageliteratur«5 fassen die Komplexität dieser verschiedenen Ansätze nicht. Croner bettet ihr Traktat in den Kontext der Völkerpsychologie ein, um ihm damit den Status objektiver Beobachtung zu verleihen. Wenn der Versuch jedoch wenig erfolgreich ist, liegt das daran, dass sie Diskurse der Dissimilation und der Assimilation mischt und den Anspruch der Wissenschaftlichkeit durch antisemitisch aufgeladene Rhetorik unterläuft. Hauschner dagegen schreibt sich mit ihrer Familie Lowositz in die »kleine Literatur« deutschsprachiger Autoren in Prag ein, die sich die identitäre Problematik der deutschen Juden zum Thema macht. Für die psychologisch hoch differenzierte Charakterisierung ihrer Camilla greift sie außerdem auf zu Jahrhundertbeginn viel diskutierte Konzepte der weiblichen Überspanntheit (Dohm, Freud) und der Dekadenz (Krafft-Ebing) zurück. Diese Thematik, aber auch ihre narrative und stilistische Gewandtheit, die es ihr erlaubt, Erzählpositionen gekonnt zu variieren und die psychologische Krise ihrer Protagonistin in der syntaktischen Auflösung des Texts virtuos zu spiegeln, zeigen Hauschner als lesenswerte Autorin auf der Schwelle zur Moderne. Meisel-Hess’ Roman Die Intellektuellen ist literarisch weniger ausgefeilt, doch als Weltanschauungsroman, der gesellschaftlich brisante Modelle sexueller Reform, sozialistischer Eugenik und monistischer Philosophie diskutiert, war ihm das Interesse zumindest reformorientierter Kreise sicher. Wie Hauschner, so richtet auch Meisel-Hess das Anliegen ihres Romans weit über die persönliche Geschichte ihrer Protagonisten – und aus der von Lou Andreas-Salome geschmähten »frauenhaft[en]« Literatur – aus. Sie positioniert ihren Roman aber auch im Bereich feministischer Literatur, indem sie ihren LeserInnen über strukturelle intertextuelle Hinweise nahelegt, Olgas Weg als Weiterführung und Abschluss der Entwicklung weiblicher Emanzipation und Selbstfindung zu lesen, die Hedwig Dohm in ihren Romanen dargestellt hatte. Landau schließlich bedient sich erprobter und beliebter Formen deutschjüdischer Literatur, um einen neuen Inhalt zu vermitteln: die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten der deutschen Juden nach dem Ersten Weltkrieg. Mit der Diskussion des Heimatbegriffs stellt sie einen der prominentesten gesellschaftlichen Diskurse der Zeit in den Mittelpunkt ihres Texts und hinterfragt

|| 5 Vgl. z. B. Max Lorenz: Die Litteratur am Jahrhundert-Ende. Stuttgart 1900, Kapitel »Frauenwerke«. Teilabdruck in Reuter, Aus guter Familie (wie Einleitung, Anm. 32), Bd 2: Dokumente, S. 444–445, hier S. 444.

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seine Gültigkeit für die deutschen Juden. Hiermit, sowie über die gelungene strukturelle und stilistische Anlage ihres Romans und über dessen Platzierung im Programm des namhaften Erich Reiss Verlags schafft sie ihm die besten Voraussetzungen für eine weitreichende Rezeption. Und doch ist die Aufnahme nicht nur dieses, sondern aller hier betrachteter Texte – aufgrund von teils sehr nachvollziehbaren Faktoren zeitgenössischer Leserhaltungen oder spezifischer Kontextualisierungen und Forschungsinteressen späterer literaturwissenschaftlicher Kritik – nur sehr begrenzt geblieben. Sie sind jedoch wichtige Zeugnisse der Vielstimmigkeiten und Differenzen in den Positionen und (literarischen) Selbstverortungen deutsch-jüdischer Frauen in einer Zeit rapiden Wandels und schreiben der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte eine weibliche Komponente ein. Mögen sie im historischen Rückblick gewürdigt werden.

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Personenregister Alafberg, Friedrich 149, 160, 170 Alberti, Conrad 3 Allen, Ann Taylor 136, 139 Andreas-Salome, Lou 149, 253 Arendt, Hannah 228f., 236f. Aristoteles 158 Audnal, L. Siehe Landau, Elisabeth Bab, Julius 200 Badt, Bertha 43 Bauer-Imhof, Alfred 158 Bauman, Zygmunt 4, 191 Bäumer, Gertrud 70, 74f., 104, 124, 246 Bauschinger, Sigrid 10, 16, 207 Beer, Arnold 59 Beradt, Martin 68 Biale, David 190 Bloch-Zavřel, Lotte 68 Boetcher Joeres, Ruth-Ellen 97 Bölsche, Wilhelm 132, 143, 148, 150f., 159, 179, 191 Bonin, Ella von 74 Bovenschen, Silvia 245 Boyarin, Daniel 1 Boy-Ed, Ida 94 Braidotti, Rosi 220 Brandes, Georg 146 Braun, Christina von 81f., 102 Breuer, Josef 81, 85 Breuer, Raphael 47 Brinker-Gabler, Gisela 8, 162 Brod, Max 3, 59, 68, 73, 114ff., 211 Brümmer, Franz 199 Buber, Martin 3, 12, 25f., 43, 45 Canetti, Veza 10 Chamberlain, Houston Stuart 187, 200 Cixous, Hélène 82 Clement, Catherine 82 Cramer, August 120 Croner, Else 1, 16ff., 21ff., 26ff., 45, 47ff., 67, 109f., 118, 131f., 176, 179, 181, 193, 196, 207, 232, 245, 247ff. Croner, Johannes 23

D’Annunzio, Gabriele 200 Darwin, Charles 20, 99, 136f., 152, 154, 158, 181, 214 Deleuze, Gilles 75 Dilthey, Wilhelm 171 Dohm, Hedwig 14, 20, 68, 80, 86, 88, 93, 108, 132, 140, 160ff., 168ff., 191, 253 Drach, Albert 5, 250 Dronke, Ernst 230 Droste-Hülshoff, Annette von 43 Drumont, Edouard 187 Ebbinghaus, Hermann 23 Eisner, Kurt 198 Ellis, Havelock 137, 191 Feuchtersleben, Ernst Freiherr von 143 Feuchtwanger, Lion 241 Feuchtwanger, Siegbert 241ff. Flaubert, Gustave 147 Fontane, Theodor 23, 90, 242f. Forel, Auguste 143f., 150, 156, 191 Foucault, Michel 215 Franz, Erich 53 Franzos, Karl Emil 35 Frapan(-Akunian), Ilse 148, 221 Frenzel, Karl 15 Freud, Sigmund 3, 5, 61, 81, 85, 134, 146, 157, 214f., 250, 253 Frick, Wilhelm 63 Fritz, Susanne 70 Fuchs, Anne 5, 245, 250 Gaus, Günter 228 Geiger, Ludwig 101, 108, 246 George, Stefan 130 Gerhard, Adele 154 Gerstenberger, Katharina 46f., 56 Gide, André 200 Gilman, Sander 1, 12, 19, 21, 38, 51, 54, 128 Gobineau, Arthur de 187 Goethe, Johann Wolfgang von 20, 132, 152f., 158, 160, 169f., 191, 203, 219, 234 Goldschmidt, Meyer Aaron 59

274 | Personenregister

Goltz, Bogumil 29, 49, 52f., 118 Groschopp, Horst 129 Guattari, Félix 75 Haeckel, Ernst 143f., 152, 191, 234 Hahn, Barbara 10, 16, 19, 21, 47, 54, 245 Harden, Maximilian 68, 200 Hauschner, Auguste 1, 10, 17ff., 65ff., 83, 85f., 88ff., 110ff., 131f., 149, 153, 173, 179, 184, 187, 193, 205, 210f., 232f., 246ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 158 Heinse, Wilhelm 158 Hermann, Georg 2, 7, 13, 113, 176, 194 Herz, Henriette 16 Herzl, Theodor 26 Herzog, Andreas 70, 125, 246 Heym, Georg 231 Hilsenrath, Edgar 5, 250 Hirschfeld, Magnus 138 Hitler, Adolf 24, 61, 63 Hofmann, Ida 179 Hofmannsthal, Hugo von 200 Horch, Hans Otto 124 Huerkamp, Claudia 32 Ibsen, Henrik 158 Jacobowski, Ludwig 125 Jacobs, Jürgen 171 Jasper, Willi 10 Jodl, Friedrich 150 Jones, Sidney 200 Kafka, Franz 5, 175, 236f., 250 Kant, Immanuel 158, 181 Kantorowicz, Alfred 68 Kaplan, Marion 109, 113 Kayserling, Meyer 46 Keller, Gottfried 146 Kevles, Daniel 136 Key, Ellen 36 Kilcher, Andreas 2, 17 Krafft-Ebing, Richard von 82f., 94, 98, 100, 253 Krische, Paul 212ff., 218 Krobb, Florian 106, 208, 245

Landau, Elisabeth 1, 17, 20, 193f., 199ff., 213ff., 219ff., 246ff. Landau, Lizzie Siehe Landau, Elisabeth Landauer, Gustav 68 Langbehn, Julius 56f. Lange, Helene 14, 142 Lange, Hella-Sabrina 10, 101, 107f. Laquer, Benno 139 Lasker-Schüler, Else 10, 17, 25, 27, 59 Lazarus, Moritz 46, 48, 50, 52 Lazarus, Nahida Ruth Siehe Remy, Nahida Lessing, Theodor 63, 120 Levin, Rahel Siehe Varnhagen, Rahel Lewald, Fanny 226, 228f. Lienhard, Fritz 15 Löwenfeld, Leopold 120, 225 Lowenstein, Steven M. 4 Lueger, Karl 175 Magris, Claudio 75 Mann, Heinrich 242f. Mann, Thomas 76, 90, 94, 206 Massey, Doreen 7 Mauthner, Fritz 68, 193, 222ff. Mayer, Eduard von 168 Meisel-Hess, Grete 1, 17, 20, 86, 129ff., 138ff., 163ff., 172ff., 183ff., 193, 221, 232, 234f., 246ff. Mendelssohn, Moses 34, 38 Mendes-Flohr, Paul 199f. Meskimmon, Marsha 1 Messel, Alfred 179 Michaelis, Karin 74 Mocek, Reinhard 139 Mommsen, Theodor 195 Mosse, George L. 195f. Müller-Kurzwelly, Konrad Alexander 210 Münzer, Kurt 59 Nietzsche, Friedrich 99f., 134f., 143, 145f., 148, 152, 158, 162, 164ff., 181, 233 Noack, Victor 151, 157 Nordau, Max 120 Oedenkoven, Henri 179 Oppenheimer, Franz 197f.

Personenregister | 275

Pailer, Gaby 160 Park, Robert E. 177 Pfemfert, Franz 149 Pinthus, Kurt 232f. Ploetz, Alfred 136, 183 Poppenberg, Felix 147 Poritzky, Jakob Elias 71, 73, 126 Preece, Julian 10 Pulzer, Peter 197

Spranger, Eduard 23f., 35f. Steiner, Ludwig 77, 79 Steinthal, Heymann 52 Stephan, Inge 8 Stirner, Max 162, 164 Stöcker, Helene 133, 191 Strauss und Torney, Lulu von 142 Strohmaier, Alexandra 10 Susman, Margarete 44f.

Rahden, Till van 4 Rathenau, Walther 3, 15, 182f. Reiss, Erich 200, 254 Rembrandt Harmensz van Rijn 57 Remy, Nahida 16, 47ff., 52ff., 58f., 245 Reuter, Gabriele 68, 84ff., 99, 108 Reventlow, Franziska zu 154 Robertson, Ritchie 3, 187, 204, 209 Roebling, Irmgard 146 Rosenthal, Max 185 Roth, Joseph 5, 129, 191, 250

Thackeray, William M. 160 Theilhaber, Felix 135 Thomas, R. Hinton 167, 246 Tille, Alexander 136 Toller, Ernst 200 Tolstoi, Leo 162 Treitschke, Heinrich von 120, 195

Schaukal, Richard 146f. Scheffler, Karl 15, 34, 175, 230 Schiller, Friedrich 159 Schilling, Sabine 8 Schirach, Baldur von 61 Schlör, Joachim 57 Schnitzler, Arthur 3, 127, 222, 226 Scholem, Gershom 4, 225 Schreiber, Adele 142, 154ff., 161, 186 Schwartz, Agatha 129 Schwartz, Michael 187 Seemann, Birgit 69 Segall, Jakob 197 Showalter, Elaine 81f. Silbergleit, Arthur 53, 59 Simmel, Georg 15, 178, 217 Simon-Friedberg, Johanna 44 Sombart, Werner 182, 187 Sorkin, David 4 Spann, Othmar 155, 189 Spörk, Ingrid 10

Ury, Else 63 Van de Velde, Henry 200 Varnhagen, Rahel 16 Veit, Dorothea 16 Vergil 158 Viebig, Clara 68 Volkov, Shulamith 11, 13, 195 Wassermann, Jakob 13, 27f. Weber, Lilo 86 Weigel, Sigrid 8f., 17, 245 Weininger, Otto 37f., 129 Weissberg, Liliane 1f., 228, 245 Wengraf, Richard 146 Werner, Sidonie 55, 57, 109 Whitman, Walt 158 Winkler, Paula 16, 25, 43 Wittmann, Livia 16 Wolff-Frankfurter, Ulla 15 Wollstein, Jakob 22 Wronsky, Siddy 44 Zola, Émile 151 Zweig, Stefan 3