Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 7 2006 9783486839487

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Jahrbuch für Europäische Geschichte / European History Yearbook: Band 7 2006
 9783486839487

Table of contents :
Schwerpunktthema: Die Schweiz als europäisches Refugium
The Marian Exiles in Switzerland
Ein Volk auf der Flucht. Die Schweiz als Refugium der Waldenser
Politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich in der Schweiz
Die Schweiz und das literarische Exil (1933–1945)
Die Ungarnflüchtlinge von 1956 in der Schweiz
Mitteleuropa - Osteuropa - Ostmitteleuropa? Bemerkungen zur Entstehung einer europäischen Region im Frühmittelalter
Die österreichischen Assoziierungsbestrebungen an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957–1972 im Spiegel der Europa- Konzeption von Ludwig Erhard und Charles de Gaulle
Die direktdemokratische Dimension der Europäischen Gemeinschaft
Forschungsberichte
Jüdische Geschichte im europäischen Kontext – ein Forschungs- und Literaturbericht
Europa-Institute und Europa-Projekte
Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ein Laboratorium der historischen Europaforschung
Von den deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien zum Deutschen Historischen Institut Moskau
Auswahlbibliographie
Europa-Schrifttum 2005 (mit Nachträgen)
Autorenverzeichnis

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Jahrbuch für Europäische Geschichte

Jahrbuch fur Europäische Geschichte Herausgegeben am Institut für Europäische Geschichte von Heinz Duchhardt in Verbindung mit Wlodzimierz Borodziej, Peter Burke, Ferenc Glatz, Georg Kreis, Pierangelo Schiera, Winfried Schulze

Band 7 2006

R. Oldenbourg Verlag München 2006

Redaktion: Malgorzata Morawiec, Jan Gudian

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2006 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: buch bücher dd ag, 96158 Birkach ISBN 13:978-3-486-57916-1 ISBN 10: 3-486-57916-9

Inhaltsverzeichnis

Schwerpunktthema: Die Schweiz als europäisches Refugium Ashley Null, Berlin: The Marian Exiles in Switzerland Hans Ulrich Bächtold, Zürich: Ein Volk auf der Flucht. Die Schweiz als Refugium der Waldenser Carsten Goehrke, Förch: Politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich in der Schweiz Kristina Schulz, Lausanne: Die Schweiz und das literarische Exil (1933-1945) Tamas Kanyo, Budapest: Die Ungarnflüchtlinge von 1956 in der Schweiz

Andere Beiträge Märt a Font, Pees: Mitteleuropa - Osteuropa - Ostmitteleuropa? Bemerkungen zur Entstehung einer europäischen Region im Frühmittelalter Thomas Ratka, Wien: Die österreichischen Assoziierungsbestrebungen an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957-1972 im Spiegel der EuropaKonzeption von Ludwig Erhard und Charles de Gaulle Georg Kreis, Basel: Die direktdemokratische Dimension der Europäischen Gemeinschaft

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Forschungsberichte Kerstin Armborst, Mainz: Jüdische Geschichte im europäischen Kontext ein Forschungs- und Literaturbericht

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Europa-Institute und Europa-Projekte Joachim Berger, Mainz: Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Ein Laboratorium der historischen Europaforschung

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Heinz Duchhardt, Mainz: Von den deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien zum Deutschen Historischen Institut Moskau

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Auswahlbibliographie Matthias Schnettger/Malgorzata Morawiec, Mainz: Europa-Schrifttum 2005 (mit Nachträgen)

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Autorenverzeichnis

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SCHWERPUNKTTHEMA Die Schweiz als europäisches Refugium Der Gedanke, den 7. Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte der Schweiz und ihren europäischen Verflechtungen zu widmen, einem Land mitten in Europa, das nie mit den formalen europäischen Strukturen geliebäugelt hatte, trotzdem aber für ein europäisches Musterland gehalten wurde, speiste sich aus der Überzeugung, dass es (wieder einmal) an der Zeit sei, diese geläufige Meinung von verschiedenen Seiten neu beleuchten zu lassen. Die Schweiz als politisches Modell und als ein Land, das wie kein anderes Toleranz, Freiheit und Sicherheit gewährte, hat zweifelsohne die Gemüter vieler Intellektueller, religiöser Nonkonformisten, Freiheitskämpfer und Politiker in Europa bewegt und beeinflusst. Aber gibt es auch Momente, die Freiheit und Toleranz in der praktischen Politik bewegten? Waren es die religiös Verfolgten des 16. Jahrhunderts, die Freiheitskämpfer des 19. oder die politischen Flüchtlinge des 20. Jahrhunderts, die für das Ethos der Toleranz, der Freiheitsliebe und der Neutralität verantwortlich waren? Ein europäisches „Refugium" ist in der Schweiz entstanden: ein Schlupfloch, eine Schutzzone. Wie Europa damit umgegangen ist, weiß man: der gesamte Kontinent (samt britischen Insel) brachte seit dem Mittelalter ununterbrochen Schutzbedürftige hervor, die in dem Alpenreduit Zuflucht gefunden haben, und die Schweizer Politik tolerierte, solange sie dem europäischen Machtspiel nicht in die Quere kam. Wie ist die Schweiz mit diesem „europäischen" Auftrag zurechtgekommen? Indem sie sich permanent wehrte, ihre Eigenart aufheben zu müssen, ihre Neutralität und ihre Nicht-Zugehörigkeit zu Europa, und indem sie ein vielfach von außen kritisiertes, aber dann doch anerkanntes Regelkorsett aufstellte, das ihr ermöglichte, den schmalen Grat zwischen den eigenen und fremden (sprich: europäischen) Interessen zu wahren. Dass die eigenen Grundsätze dann doch zu den viel gelobten europäischen wurden, ist kein Zufall. Es ist eher ein Beleg dafür, dass die Schweiz ein Refugium der europäischen Toleranz und gesellschafts-politischen Vielfalt geworden ist - auch wenn dies in dem vorliegenden Band des Jahrbuchs für Europäische Geschichte lediglich an Fallbeispielen belegt werden kann.

The Marian Exiles in Switzerland By

Ashley Null

'Shippe ouer your trinkets and be packing ye Papistes'. According to an allegorical illustration in John Foxe's famous Acts and Monuments, such was the ideal fate for advocates of romish religious practices during Edward VI's reformation of the Church of England (1547-1553)'. Although later Anglicans would find their religious identity in the holiness of beautiful worship, the Edwardian reformation was the consciously revolutionary antithesis 2 . Its goal was nothing less than a complete break from what was considered to be the erroneous salvific assumptions as well as the idolatrous liturgical practices of the medieval church. In the illustration's upper panel, 'the papistes' are depicted as hurriedly carrying their ecclesiastical paraphernalia out of a church and boarding a ship, while behind them images are being pulled down and burned. The comment in the margin reads: 'Every plant which my heauenly father hath not planted shall bee plucked vp. Mat. 15'. In marked contrast to this tumult, the panel beneath is the epitome of stately stability. Entitled 'The Temple well purged', all is order, rectitude, and calm. On left side Edward, seated on his throne with sword in hand, gives the Bible to his kneeling prelates while the court's noblemen look on. On the right side is a cut-away view of a newly 'purged' church. The congregation is reverently hearing a sermon in a building with white-washed walls and a 'Communion Table' in the place of an altar. The illustration's message is clear. For the blessings of a new and better day to come, the church must reverently receive the Word of God, but the godly magistrate must also use his sword to destroy the props of the old ecclesiastical order and remove its agents from English shores. Yet less than seven years later, the sword was in a different hand, and the shoe was on the other foot. With Edward VI's untimely death on 6 July 1553 and the collapse of an attempt at Protestant succession through Lady Jane Grey by 20 July, the devout roman catholic Mary Tudor ascended the throne determined to right the wrongs done to her, her mother and the mother church of Christendom. Now a government-sponsored Counter-Reformation began

1

John FOXE, Actes and Monuments, London 1570, p. 1483. Diarmaid MACCULLOCH, Tudor Church Militant: Edward VI and the Protestant Reformation, London 1999.

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to unfold 3 . In the midst of a complete religious volte-face, the majority of the English people kept doing what they had been doing during the last twenty years of shifting governmental religious policy. They simply conformed, many with real enthusiasm4. Yet what of the Edwardian protestant activists who had eagerly imbibed that revolutionary air? What should they do?

I. Archbishop Cranmer established the battle line at the Mass. In his Defence of the True and Catholic Doctrine of the Sacrament (1550), he had already identified its doctrines of transubstantiation and satisfaction as the twin roots of the 'Romish antichrist' 5 . Hence, when it was rumoured that he had restored the Mass at Canterbury in August 1553, he wrote a denial, saying The Devil goeth about by lying to overthrow the Lord's Holy Supper, and to restore the Latin Satisfactory Masses, a thing of his own Invention and Device [...] [which] containeth many horrible Blasphemies in it 6 .

Since devotion to the Sacrament of the Altar was the hallmark of her own personal piety, Mary was only too happy to make acceptance of the Mass the litmus test for Christian Orthodoxy in her realm 7 . When Cranmer refused to apologize for his statement's being placarded around London, he was subsequently arrested and the process which led to his martyrdom began8. Since such was the fate of those who openly resisted the Mass, Nicholas Ridley, former Bishop of London and Cranmer's fellow prisoner, offered only two alternatives for true Christians in England: remain for martyrdom or flee9. He rejected out of hand the Nicodemite solution of Naaman the Syrian, namely, outward conformity with the body at Mass, but giving true worship to God alone with the heart 10 . Of course, this had been an acceptable strategy for the evangelical cause under Henry VIII. Ridley, however, quoted Romans 6:19 to make clear that season was now closed, since Christians were not to 3

David LOADES, The Reign of Mary Tudor, London 1979, pp. 96-128. Eamon DUFFY, The Voices of Morebath: Reformation and Rebellion in an English Village, London 2001, pp. 152-68. 5 John E. Cox, Writings and Disputations of Thomas Cranmer [...]. Relative to the Sacrament of the Lord's Supper, Cambridge 1844, pp. 5-7. 6 John STRYPE, Memorials of [...] Thomas Cranmer, London 1694, Book III, p. 306. 7 David LOADES, The English Church during the reign of Mary, in: Reforming Catholicism in the England of Mary Tudor: The Achievement of Friar Bartolomi Carranza, ed. by John Edwards and Ronald Truman, Aldershot 2005, pp. 33-48. 8 Diarmaid MACCULLOCH, Thomas Cranmer: A Life, London 1996, pp. 551-553. 9 Nicholas RIDLEY, A Piteous Lamentation, in: The Works of Nicholas Ridley, ed. by Henry Christmas, Cambridge 1843, pp. 47-80. 10 For the story of Nicodemus, see John 3:1-21, especially verse 2. For the story of Naaman the Syrian, see II Kings 5, especially verses 17-19. 4

Null, The Marian Exiles

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practice again the sins they had left behind". To any Nicodemite who trusted that 'God will hold me excused, for he shall have my heart - what can I do more?', Ridley warned that any physical participation in and financial support for the restored rites of Antichrist was to bear the 'mark of the beast' 1 2 . Since no one could know in advance whether he would in the end be willing to pay the cost for refusing to participate in the Devil's web of deceptions, Ridley urged those not restrained by unavoidable responsibilities to 'flee the infection of the antichristian doctrine by departure out of the realm' 1 3 . Naturally, the first to go were those who had already decided to leave their homeland to avoid Antichrist - the protestant refugees from the continent whom Edward VI had welcomed 14 . In September 1553 the foreign theologians Peter Martyr Vermigli, Bernardino Ochino and Pierre Alexander left England. The same month 175 members of the Dutch and French 'Stranger Churches' in London, including Jan Laski their superintendent, boarded ships to begin their journey to find new cities of refugee where they could enjoy the same freedom of worship as Edward had granted them in England. Valerand Poullain and his small community of Walloon weavers at Glastonbury did the same by the end of the year 15 . Many English Protestants, however, hesitated to follow, as if to do so would seem a desertion of duty, a failure due to fear 16 . Thomas Howard, heir to the Duke of Norfolk, urged his old tutor John Foxe to linger in England, since what will you gain by flight? Banishment, poverty, contempt, and the reproach of a runagate. You are not yet come into danger of d e a t h ' 7 .

In his Vocacyon (1553), John Bale extensively paralleled his adventures in escaping from his new episcopal see in Ireland to the travails which the Apostle Paul experienced on his journey from Caesarea to Rome. Undoubtedly, Bale wanted to encourage fellow Protestants that his Paul-like experience of persecution followed by deliverance should assure them that 'our most mercyfull God [...] delyvereth them in most depe daungers' 1 8 . None-

" Cf. The Works of John Knox, ed. by David Laing, Edinburgh 1855, IV, 159. RIDLEY, A Piteous Lamentation (note 9), pp. 66-71. For an excellent discussion of Nicodemism during the English Reformation, see Andrew PETTEGREE, Marian Protestantism: Six Studies, Aldershot 1996, pp. 86-117. 13 RIDLEY, A Piteous Lamentation (note 9), p. 66. 14 Andrew PETTEGREE, Foreign Protestant Communities in Sixteenth-Century London, Oxford 1986. 15 PETTEGREE, Foreign Protestant Communities (note 14), pp. 114-118; ID., Marian Protestantism (note 12), pp. 42-^14, 58, 68 n. 16 Jonathan WRIGHT, Marian Exiles and the Legitimacy of Flight from Persecution, in: Journal of Ecclesiastical History 52 (2001), pp. 220-243. 17 James F. MOZLEY, John Foxe and his Book, London 1940, p. 38. 18 The vocacyon of Johan Bale, ed. by Peter Happe and John N. King, Binghamton 1990, pp. 3 1 , 3 3 - 3 6 . 12

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theless, his lengthy self-identification with Paul also suggests a lingering defensiveness, that he still felt a need to justify his flight. Bale was by no means alone in this regard amongst the Marian exiles 19 . Cranmer, always the sensitive pastor, rejected such scruples. Writing from prison, he counselled Jane Wilkinson, the influential evangelical sister of Lord North, against hesitation. 'If you be loth to depart for slandering God's word, remember, that Christ, when his hour was not yet come, departed out of his country into Samaria'. He assured her that the similar flights by Paul and other apostles 'came not of fear, but of godly wisdom to do more good'. Consequently, Cranmer urged her 'to withdraw yourself [...] into some place where God is most truly served'. He added in closing, 'that you will do, do it with speed, lest by your own folly you fall into the persecutors' hands' 2 0 . Unfortunately, some of the exiles did not heed this advice, choosing to leave only after compromising themselves before the Catholic authorities in England 21 . Amongst them were such notable leaders as John Jewel, Bishop John Barlow, and Bishop John Scory 22 . During Mary's reign about 1 000 English fled their homeland 23 . With the failure of Wyatt's Rebellion in early 15 54 24 , some of these were political fugitives, most of whom settled in France and Italy 25 . Those fleeing primarily because of religious persecution naturally sought refugee in lands where, as Cranmer had put it, 'God is most truly served', the protestant strongholds of Germany and Switzerland. The first half of 1554 saw the establishment of the principal English exile communities at Strassburg, Emden, Wesel, Frankfurt, and Zürich, for in each of these cities the English religious refugees found 19

'If one leafs past the title page of numerous other works [of the Marian exiles], one finds the same note sounded regularly. The writer is always a banished man, an unwilling exile, a sufferer who has sacrificed home, family, and goods for the sake of Christ's truth', in: Edward J. BASKERVILLE, A Chronological Bibliography of Propaganda and Polemic: Published in English Between 1553 and 1558, Philadelphia 1979, pp. 16 n.; cf. WRIGHT, Legitimacy of Flight (note 16), pp. 234 n. 20 John E. Cox, Miscellaneous Writings and Letters of Thomas Cranmer, Cambridge 1846, pp. 444 n. See also MACCULLOCH, Cranmer (note 8), pp. 548 n. PETTEGREE, M a r i a n P r o t e s t a n t i s m ( n o t e 12), p. 9 8 . 22

John STRYPE, Ecclesiastical Memorials, Oxford 1822, Book III, Part 1, p. 241. Cf. Christina GARRETT, The Marian Exiles, Cambridge 1938, pp. 80,198, 285. 23 The standard figure of about 800 given by Foxe and confirmed by GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 30-32, has been revised by PETTEGREE, Marian Protestantism ( n o t e 12), pp. 3 n., 1 0 - 1 4 . 24

According to David Loades, the rebellion was basically 'secular and political'; David LOADES, Two Tudor Conspiracies, Cambridge 1965, p. 17. For the contrary case, see Malcolm R. THORP, Religion and the Wyatt Rebellion of 1554, in: Church History 48 (1979), pp. 363-80. " For the exiles in France, see GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 32-38; and LOADES, Two Tudor Conspiracies, pp. 151-175. For those in Italy, see Kenneth R. BARTLETT, The English Exile Community in Italy and the Political Opposition to Queen Mary I, in: Albion 13 ( 1 9 8 1 ) , p p . 2 2 3 - 2 4 1 .

Null, The Marian

Exiles

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friends willing to assist them with relocation. At Strassburg they were welcomed by Vermigli and Alexander who had previously settled there. At Emden, Laski's presence prepared the way. At Wesel, the pastor of the French church in London spoke on behalf of the English to the city officials. At Frankfurt, Valerand Poullain and his Glastonbury weavers did the same for William Whittingham and his group 26 . At Zürich, Bullinger had an established history of hospitality towards English students and Henrician exiles, including Bale and Hooper 27 .

II.

Mindful of 'the hope that other and happier times will at length arrive; especially when we see that changes in kingdoms are of very frequent occurrence' 28 , the exiles devoted themselves to Cranmer's injunction 'to do more good' for the protestant cause back home. One obvious means was the continued theological education of'English youths' that, should it please God to restore religion to its former state in that kingdom, they may be of some benefit to the church of England 2 9 .

Support for these scholars was provided 'by godly merchants' such as John Burcher 30 , and the 'godly men' who gave 'Almes and liberalities' to Richard Chambers so that he could 'relieue therwith such poore dispersed Englishe brethern' 31 . Since Peter Martyr Vermigli had been the Regius Professor of Divinity at Oxford, it should not be surprising that some of his English students would follow him to Strassburg when he resumed his previous post as divinity lec26

GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 8 n., 47^49; PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), p. 13, footnote 13. 27 Theodor VETTER, Englische Flüchtlinge in Zürich während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Neujahrsblatt von der Stadtbibliothek [Zürich], Zürich 1893; Gottfried W. LOCHER, Zwingiis Einfluß in England und Schottland - Daten und Probleme, in: Zwingliana 14 (1975), pp. 165-209, at: pp. 190-192. 28 Original Letters relative to the English Reformation written during the reigns of King Henry VIII, King Edward VI, and Queen Mary: Chiefly from the Archives of Zurich [henceforth: OL], ed. by Hastings Robinson, Cambridge 1847, II, p. 748. 29 OL (note 28), II, p. 514. 30 E. g., he gave 20 florins yearly to Michael Renniger (OL [note 28], I, p. 376) and a stipend to John Jewel, see Lawrence HUMPHREY, luelli vita, London 1573, p. 87. 31 A Brief Discourse of the Troubles Begun at Frankfort, London 1846, p. 182. For the authorship of this book, see Patrick COLLINSON, The Authorship of "A Brieff Discours off the Troubles Begönne at Franckford', in: Journal of Ecclesiastical History 9 (1958), pp. 188-208; cf. Strype's description of twenty-six 'sustainers' who had pledged financial support for the exiles, one of whom was Richard Hilles, the business partner in Strassburg of Burcher, STRYPE, Ecclesiastical Memorials (note 22), Book III, Part 1, p. 224.

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turer in the cathedral. However, with its strategic location for communications, Strassburg also became the home for many leading politicians, courtiers and churchmen associated with the Edwardian regime. In contrast, Zürich was primarily a haven for theologians. On 5 April 1554, Bullinger recorded the arrival of Chambers with Robert Home, former dean of Durham, his wife, and a small group of Oxbridge 'students'. They petitioned the magistrates to 'be permitted to sojourn in this most famous city [...] where [God] is most sincerely preached and most purely worshipped'. 'About 12' lived together in collegio in the house of Froschauer the printer, 'happily, like brothers'. Bullinger took great personal interest in their welfare. He lectured before them regularly and noted with approval that they 'deny themselves even what is necessary for their support, and live far too sparingly'. Nearly twenty years later, William Cole is reputed to have said that the brothers dined on mice in Zürich. Although their standard of living was surely modest, such a comment was probably only an exaggeration, especially since they were able to retain the services of a clergyman's widow. On 24 August 1554, Bullinger wrote to the 'sustainers' on their behalf, assuring them that the Zürich academics were conscientious in their studies and lived 'in constant prayer, in godly discipline, and in purity and innocence of life'. When Stephen Gardiner arrested their London patrons, cutting off much of their support, Bullinger arranged for the city authorities to give them a generous stipend32. A second major activity of the exiles was applying these theological activities to the current pastoral needs of those they had left behind. It was obvious to the refugees that England was being punished for its sins. During Edward's reign the people had failed to adopt in their inner convictions and outward conduct the protestant piety established by law. Now they were experiencing God's judgment as a result 33 . The editor of Cranmer's Unwritten Verities spoke for many when he wrote: We were talkers only and not walkers, lip-gospellers, from the mouth outward and no farther [...]. We could speak of God's word and talk gloriously thereof; but in our hearts we were full of pride, malice, envy, covetousness, backbiting, rioting, harlot-hunting, no whit bettered at all than we were before under the pope's kingdom [...]. We read not the scriptures, neither heard them, for any amendment of our own wicked lives, but only to make a brag and a shew thereof, to check and to taunt others [...] to say 32

Emil E c u , Heinrich Bullingers Diarium, Basel 1904, p. 46; OL (note 28), II, pp. 7 4 7 752; Theodor VETTER, Relations between England and Zurich during the Reformation, London 1904, pp. 51-55; GARRETT, Marian Exile (note 22), pp. 8 n.; HUMPHREY, Iuelli vita (note 30), pp. 89-91; Oxford Dictionary of National Biography [henceforth: ODNB], ed. by Henry C. G. Matthew and Brian Harrison, Oxford 2004, XII, p. 529. Joy SHAKESPEARE, Plagues and Punishment, in: Protestantism and the National Church in England, ed. by Peter Lake and Maria Dowling, London 1987, pp. 103-123; Jane DAWSON, Revolutionary Conclusions: The Case of the Marian Exiles, in: History of Political T h o u g h t 11 ( 1 9 9 0 ) , p p . 2 5 7 - 2 7 2 , at: p p . 2 6 0 - 2 6 7 .

Null, The Marian Exiles

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and not to do was not only amongst the unlearned sort, but also amongst the great clerks and chief preachers of God's word 3 4 .

Since sin was the root of England's troubles, the only possible solution had to be repentance. As John Bale wrote in his Vocacyon, 'Repent yet in the ende / and doubtlesse thu [carefull congregacion] shalt have a most prosperouse delyveraunce' 35 . Accordingly, the Marian exiles embarked on a substantial publishing program which encouraged the people of England to reject the false teachings of the Mass and amend their ways by the Word of God. Their propaganda campaign produced an astonishing amount of material, including at least 105 different protestant works in English and 40 in Latin36. The genera varied greatly. There were entertaining ballads, autobiographical adventures like Bale's Vocacyon, and comic polemic such as the anonymous Commyssion (supposeedly sent from Satan to the Bishop of London). Yet the exiles did not neglect to produce serious works also. Among these were Ridley's A Piteous Lamentation as well as John Ponet's Diallacticon and Thomas Beacon's Coenae sacrosanctae dominae - learned Latin defences of the Edwardian eucharistic doctrine37. Lastly, John Bale and John Foxe produced highly influential Latin histories of the English church based on Bale's apocalyptic understanding of two archetypal churches existing through the ages, namely, the false, persecuting church of the Antichrist and the true suffering church of the martyrs38. That there was a conscious attempt at some coordination and mutual consultation in this campaign between the exile leaders in different cities is evident from John Ponet's letter to his former chaplain Bale, dated 6 July 1555. Writing from Strassburg, Ponet acknowledges that a popular strategy is important: 'Ballets, rymes, and short toyes that be not deare, and will easily be born away doe much good at home amonge the rude peple'. Nevertheless, as former bishop to former bishop, Ponet urges Bale to leave 'suche easy exerises' to others so as not to neglect his 'more weightie purposes'. Mindful of 34 Cox, Cranmer's Miscellaneous Writings (note 20), p. 9; cf. RIDLEY, A Piteous Lamentation (note 9), pp. 58-61. 35 The vocacyon of Johan Bale (note 18), p. 81. 36 For the bibliography of Marian propaganda in English, both protestant and roman catholic, see BASKERVILLE, Chronological Bibliography (note 19), as revised by him in: Edward BASKERVILLE, Some Lost Works of Propaganda and Polemic from the Marian Period, in: The Library, Sixth Series, 8 (1986), pp. 47-52. For the bibliography of the Marian exiles in Latin, see PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), pp. 118-128, 183-196. 37 BASKERVILLE, Chronological Bibliography (note 19), pp. 13-22; PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), p. 122. 38 Katharine R. FIRTH, The Apocalyptic Tradition in Reformation Britain 1530-1645, Oxford 1979, pp. 32-110; Richard BAUCKHAM, Tudor Apocalypse, Appleford 1978, pp. 68-112; Jane E. A. DAWSON, The Apocalyptic Thinking of the Marian Exiles, in: Prophecy and Eschatology, ed. by Michael Wilks, Oxford 1994, pp. 75-91; Crawford GRIBBEN, The Puritan Millennium: Literature & Theology, 1550-1682, Dublin 2000, pp. 57-66.

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the need for teamwork ('Let us all feyght in a throupe together'), Ponet closes by soliciting Bale's advise on his own first attempt at polemic 39 . Without the erastian sword of England's godly prince to impose order on the religious exiles, any sense of unity could only come through this kind of mutual consultation and consent. For that very reason, the third and final major goal of the exiles proved painfully elusive, namely, maintaining a unified churchmanship as a model for any future restoration of a protestant Church of England. To the leading figures of the Edwardian regime at Strassburg, it seemed perfectly obvious that a protestant English church in exile should reflect the usages of the national church at the time of the late king's death. After all, a major justification for their fleeing the country was to preserve the religious accomplishments of that reign, accomplishments for which many of their colleagues back home faced martyrdom. Yet the Edwardian religious program was not without its protestant critics. The last-minute insertion of the 'Black Rubric' in the 1552 Prayer Book was a clear reminder that John Knox and others felt that the Edwardian Reformation had not gone far enough. The 'Black Rubric' was a statement clarifying that kneeling at Communion in no way implied a real presence understanding of the sacrament. Knox had demanded that people sit to receive Communion. He was grieved that a confusing, papist tradition without any warrant in Scripture had been retained. According to Knox, if a worship practice was not based on Scripture, it was contrary to Scripture. Cranmer thought otherwise. Although he agreed that doctrinal matters always had to been grounded in the Bible, he argued that liturgical ceremonies were adiaphora and needed only not be contrary to Scripture. Ancient ceremonies, if they aided piety and furthered the Gospel, could be retained. In the end, Cranmer won the main point that kneeling to receive Communion was to be retained, whereas Knox had to be content with the 'Black Rubric' and its specific denial of a papist interpretation of the practice. The following year Cranmer sealed his victory by including his understanding of ceremonies in Article 33 of the official English statement of doctrine, the Forty-Two Articles: It is not necessarie that tradicions and ceremonies bee in all places one, or vtterlie like. For at al times thei haue been diuers, and maie bee chaunged, according to the diuersitie of countries, and mennes maners, so that nothing bee ordeined against goddes worde 4 0 .

For Cranmer, unity between the reformed churches of Europe was to be based on holding a common doctrine, but not the practice of a common church life 41 . 39

Edward J. BASKERVILLE, John Ponet in Exile: a Ponet Letter to John Bale, in: Journal of Ecclesiastical History 37 (1986), pp. 442-447. 40 Charles HARDWICK, A History of the Articles of Religion, Cambridge 1859, p. 318. 41 MACCULLOCH, Cranmer (note 8), pp. 525-529.

Null, The Marian

Exiles

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Yet Knox was not the sort of man to take defeat with contentment. When Mary came to the throne, he was quite clear that in addition to the issue of individual faithlessness there was a further, crucial cause for God's wrath on England - the deficiencies in Edward's ecclesiastical policies. Among many sins that moved God to plague England, I affirmed that slackness to reform religion, when time and place was granted, was one [...]. I reproved this opinion [that religion was already brought to perfection in the Edwardian church] as fained and untrue, by the lack of discipline which is not in the [Prayer] Book, neither could in England be obtained; and by the trouble that Mr. Hooper sustained for the rochet, and such trifles in the Book allowed 4 2 .

Therefore, when William Whittingham's like-minded majority at Frankfurt called Knox to be their pastor, he warned his fellow refugees that if we from England brought the same vices that we had in England, and obstinately did continue in the same, his justice must needs punish us in Germany also; and translate us beyond the places of our expectatioun, as were sometimes the Israelites beyond Babylon 43 .

For Knox and his followers, true repentance by the exiles had to include implementing amongst themselves the reforms in worship and discipline that had not been permitted in England. Since both the adherents to the Edwardian formularies and their opponents saw the importance of a unified English Protestant witness against the Marian regime, conflict between them was inevitable. Frankfurt took the initiative. In August 1554 they began a campaign to have all the other English exiles come and join them in building a truly reformed prototype for a restored Protestant Church of England. The leaders in Strassburg responded with countermeasures. Their efforts culminated in March 1555 with the sending of a contingent of Prayer Book supporters led by Richard Cox to Frankfurt to join the congregation. As soon as they did so, they voted to remove Knox from preaching and a week later completed their coup by arranging for him to be expelled from the city. The 'Coxians' were now determined to 'haue the face off an English churche', but that meant not only using the Prayer Book but also abiding by Article 33. They willingly adapted Cranmer's liturgy by omitting private baptism, confirmation, saints' days, kneeling at communion, the surplice and the cross, but not because they were 'impure and papistical', only out of respect for local custom. However, they retained liturgical responses, which the 'Knoxians' opposed, and made all voting members of the congregation subscribe to the Forty-Two Articles. Not surprisingly, the 'Knoxians' remained 42 43

Works of Knox (note 11), IV, p. 44. Ibid.

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deeply unhappy. They wished to see an English-speaking congregation which bore 'the face of Christ's church' as embodied by the best reformed churches on the Continent. Those frustrated at Frankfurt now looked to Switzerland to fulfil their vision. Some went to Basel with John Foxe. The remainder travelled on with Whittingham to Geneva where, as he wrote, 'Gods worde is truly preached manners beste reformed and in the earthe the chiefest place off true comforte' 44 .

III.

The triumph of the Coxian party at Frankfurt led to the splintering of the 'English college' in Zürich. Already on 12 May 1555, 116 Italian refugees had arrived in the city, putting such a strain on Zürich's resources that the magistrates refused to admit any more foreigners 45 . No doubt the new situation reduced whatever stipend the city had been able to give the English. Then in the Autumn of 1555, the 'Coxians' decided to set up a theological college46. Now assured of Frankfurt's respect for the Prayer Book, Home agreed to become its lecturer in Hebrew, while his fellow Zürich academic John Mullins agreed to give the Greek lectures. Three other Zürich scholars moved there as well: Henry Cockcrofit, Nicholas Kervile, and William Cole 47 . When Home was elected as pastor of the congregation in January 1556, by the beginning of the next month Chambers had decided to join him in Frankfurt as well 48 . Yet not all the English 'brothers' in Zürich followed their leaders to Frankfurt. Four left instead for Geneva: Robert Beaumont, James Pilkington, John Pretie and Thomas Spencer49. Three moved to Basel: Thomas Bentham, Roger Kelke and Laurence Humphrey 50 . Only John Park-

44

Troubles at Frankfort (note 31), pp. 37-59, especially 38, 49 and 59; Works of Knox (note 11), IV, pp. 41^19, 55-57; Robin A. LEAVER, The Liturgy of the Frankfurt Exiles, 1555, Bramcote 1984; Marshall M. KNAPPEN, Tudor Puritanism: A Chapter in the History of Idealism, Chicago 1939, pp. 118-133; David M. LOADES, The Sense of National Identity among the Marian Exiles (1553-1558), in: Humanism and Reform: The Church in Europe, England, and Scotland, 1400-1643, ed. by James Kirk, Oxford 1991, pp. 99-108. 45 VETTER, Relations (note 32), p. 55. Cf. OL (note 28), I, pp. 148 n., where on 23 August 1555 Richard Morrison cites this ban as the reason he decided to stay in Strassburg. Nevertheless, Richard Cox himself appears to have moved from Frankfurt to Zürich in November 1555 and remained there until 1557, GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 135 n. 46 Troubles at Frankfort (note 31), p. 60. 47 Rudolf JUNG, Englische Flüchtlings-Gemeinde in Frankfurt am Main 1555-1559, Frankfurt a. M. 1910, pp. 43, 46. 48 Ibid., pp. 44, 53. Cf. their joint letters to Zurich, OL (note 28), 1, pp. 126-134. 49 'Livre des Anglois', or Register of the English Church at Geneva under the Pastoral Care of Knox and Goodman 1555-1559, ed. by Alexander F. Mitchell, n.p. 1880 [?], pp. 7 n. 50 GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 86 n., 193 n., 203 n., 357 n.

Null, The Marian Exiles

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hurst clearly remained in Zürich for the duration of his exile as a houseguest of Rudolph Gualter 5 1 . This exodus of English scholars was somewhat reversed upon the appointment of Peter Martyr Vermigli to succeed Conrad Pellican as professor of Hebrew at Zürich. Vermigli had come under increasing Lutheran pressure at Strassburg, and when he left the city on 13 July 1556, John Jewel and Edwin Sandys moved with him. Thereafter, Zürich saw a steady stream of distinguished English exiles visiting Vermigli as well as Bullinger. No doubt Sir Anthony Cook spoke for many when he wrote to the 'apostle of the English nation' (as Foxe styled Vermigli): Ί wish it were in my power to converse with you at large upon these and other matters, that in the abundance of my grief and tears your learned and godly discourse might afford me comfort' 5 2 . If Vermigli's presence drew many exiles to visit Zurich, Basel's internationally famous publishing industry encouraged others to move to that city. For many, like John Banks, the print shops offered a means of support. When in late 1554 his patron was unable to continue to support his studies in Strassburg, Banks was only too happy for Bullinger's help in finding a j o b with a printer in Basel 5 3 . Between those working in the publishing houses and those studying at the university, numbers which often overlapped, by April 1555 the English exile community in Basel had grown large enough to petition the city magistrates for admission 5 4 . For writers in the exiles' propaganda program, Basel offered not only a means of support but also an opportunity to get their own works through the presses. After the troubles at Frankfurt, first John Foxe, who had sided with Knox, and then John Bale, who had not, moved to Basel in the latter half of 1555. So did Lawrence Humphrey from Zürich. All three worked in the printing trade, Foxe and Humphrey for both Johann Oporinus and Hieronymous Froben, Bale for Oporinus. All three also enrolled in the university 55 . Because of their long51 O D N B (note 32), XLII, pp. 7 8 3 - 7 8 5 , Kurt Jakob RÜETSCH1, Rudolf Gwaithers Kontakte zu Engländern und Schotten, in: Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, ed. by Alfred Schindler and Hans Stickelberger, Bern 2001, pp. 3 5 1 - 3 7 3 , at: pp. 3 5 8 - 3 6 0 . According to GARRETT (Marian Exiles [note 22], pp. 2 6 9 n.) in the light o f his undated letter to Bullinger (OL [note 28], I, pp. 3 7 4 - 3 7 6 ) , after a brief stay in Strassburg in late 1555, Michael Renniger 'appears' to have returned to Zurich. For how long, however, remains an open question. 52

Charles SCHMIDT, Peter Martyr Vermigli. Leben und ausgewählte Schriften, Elberfeld 1858, p. 219; Patrick COLLINSON, Archbishop Grindal 1519-1583: the struggle for a reformed Church, London 1979, pp. 72 n.; OL (note 28), 1, pp. 139 n. 53 OL (note 28), I, pp. 296 n„ 3 0 6 - 3 0 9 . 54 Garrett counts 38 Englishmen listed on the rolls of the University of Basel between 1554 and 1559, although she admits in some individual entries in her census that their actual presence in Basel appears dubious; GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 26 n. For the list, ibid., pp. 357 n. For the petition, translated into English, ibid., pp. 358 n. 55

O D N B ( n o t e 3 2 ) , 111, 4 8 4 , X X , 6 9 7 , X X V I I I , 7 9 6 ; G A R R E T T , M a r i a n E x i l e s ( n o t e 2 2 ) ,

p. 3 5 7 .

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standing friendship, Foxe and Bale initially lived together with Oporinus. Then, in 1557 'die Engellender' rented from the city the Klarakloster, a former convent, for £24 per annum 56 . Bale, Foxe and at least nine others lived Ίη nostro collegio', including four members of the old Zürich household, for Pilkington had since left Geneva for Basel by the Autumn of 155657. Devoting himself to 'more weightie purposes', Bale finished the final version of his mammoth undertaking, Scriptorum illustrium maioris Britanniae [...] catalogus - a histoiy of the English church via some 900 biographies interspersed with summaries of political events. Catalogus stressed the continuity of the true church in England, despite the tyranny of papal corruption, and the country's return to pure Christianity under Henry and Edward. For Foxe, Basel's publishing contacts put him at the centre of an international network of Protestant historians like Matthew Flacius, John Sleidan, and Jean Crespin. Through interaction with Bale and these other scholars, Foxe was able to develop further his ideas about the history of the church as the ongoing fulfilment of the Book of Revelation. At the same time, in another example of leaders at Strassburg informally co-ordinating the exiles' propaganda efforts, Edmund Grindal invited Foxe to take part in a project to record the witness of the Marian martyrs. The Strassburg group was to collect the documents for an English edition, while Fox would provide a Latin translation. In the event, the English work was abandoned. Foxe, however, persevered, incorporating the Marian material into his own much grander project to examine English church history in the light of Revelation from the Lollards through the reign of Mary. Published in 1559 at about 750 pages by the Basel printers Oporinus and Nicholas Bryliner, Foxe's Rerum in ecclesia gestarum was the prototype for his later highly influential Acts and Monuments58. Bale and Foxe were able to be so intensively productive in Basel, despite the strife they found there amongst the exiles. Writing to Thomas Ashley at Frankfurt in 1556, Bale made clear that the English congregation in Basel was just as fractious as the one at Frankfurt, except that those who opposed the Prayer Book remained in power. And whereas you desire before your coming to know the state of our Church; to be plain in few words, it is troublous at this present [...]. When we require to have common prayers, according to our English order, [our elders and their factious affinity] tel us, that the magistrate wil in no case suffer it: which is a most manifest ly. They mock the rehearsal of God's 56

GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 55-57, 361. Bale listed the following residents: James Pilkington, Richard Turner, Thomas Bentham, Roger Kelke, William Cole, John Plough, Edmund Lawrence, John Dodman, and Christopher Soothous, in: Scriptorum illustrium maioris Britanniae [...] catalogus, Basel 15571559, pp. 741 n. For Pilkington, see GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 250 n. 58 PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), pp. 122-125; FIRTH, Apocalyptic Tradition (note 38), pp. 70-82; ODNB (note 32), XX, pp. 696-698. 57

Null, The Marian

Exiles

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commandments, and of the epistles and gospels in our Communion, and say they are misplaced; they blaspheme our Communion, calling it a popish mas, and say, that it hath a popish face, with other fierce dispisings and cursed speakings. These mocks, and these blasphemies, with such like, they take for invincible theology. With these they build, with these they boast, with these they triumph, in erecting their church of the purity Bale defended 'the English order' and considered those o f the 'purity' to be setting up 'a seditious faction'. A s a man disposed to conciliation, Foxe would have found the strife unpleasant, but not the elders' goal o f an internationally recognisable reformed church. Indeed, Foxe was interested in Christian martyrs precisely because he saw them as the visible face o f the true universal church. Therefore, it is ironic that his Acts and Monuments became over time 'one o f the cornerstones o f English Protestant identity' 6 0 . With Calvin's invitation to c o m e to Geneva, William Whittingham and his group at last had the opportunity to establish without compromise a truly reformed prototype for a restored protestant Church o f England 6 1 . Twenty-eight exiles, including six wives and seven children, arrived from Frankfurt on 13 October 1555 6 2 . They joined twenty English refugees already resident in Geneva, including Thomas Lever. The congregation elected Christopher Goodman and Anthony Gilby as the first pair o f ministers, since John Knox was away in Scotland. William Whittingham was also elected as one o f the two elders along with two deacons. After his return the following year, Knox and Goodman were elected annually as pastors, with Gilby now serving as an elder 6 3 . The congregation shared the Marie la N o v e church with the Italian congregation, the English using the building on Mondays, Tuesdays, and Wednes-

59

STRYPE, Ecclesiastical Memorials (note 22), Book 111, Part 2, pp. 313-315; Patrick COLLINSON, The Elizabethan Puritan Movement, London 1967, p. 33. 60 Diarmaid MACCULLOCH, Reformation: Europe's House Divided, 1490-1700, London 2 0 0 3 , p. 2 8 5 . 61

The standard accounts of the Marian exiles in Geneva are: Livre des Anglois (note 49); Charles MARTIN, Les Protestants Anglais refugies Ä Geneve au temps de Calvin 1555-1560: Leur Eglise - Leurs Ecrits, Geneve 1915; Dan G. DANNER, Pilgrimage to Puritanism: History and Theology of the Marian Exiles at Geneva, 1556-1560, New York 1999; KNAPPEN, Tudor Puritanism (note 44), pp. 134-148; Henry J. COWELL, The Sixteenth-century Englishspeaking Refugee Churches at Geneva and Frankfurt, in: Proceedings of the Huguenot Society of London XVI (1939), pp. 209-230; Samuel J. KNOX, John Knox's Genevan Congregation, in: Journal of the Presbyterian Historical Society of England XI (1956), pp. 3-18. Livre des Anglois (note 49), pp. 6 η. NB, however, that Charles Martin, often followed by others, incorrectly gives the figure as 27 exiles coming from Frankfurt; MARTIN, Les Protestants Anglais refugies (note 61), p. 45. 63 Livre des Anglois (note 49), pp. 11 n. For a discussion of Whittingham's eventual ordination, of which there is no record in the Livre des Anglois and which was later disputed in the Elizabethan church, see GARRETT, Marian Exiles (note 22), p. 333; Dan G. DANNER, Calvin and Puritanism: The Career of William Whittingham, in: Calviniana: Ideas and Influence of Jean Calvin, ed. by Robert V. Schnucker, Kirkwood 1988,pp. 151-164,at: p. 155.

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days and probably at 9:00 a. m. on Sundays 64 . Fulfilling Whittingham's originnal hope that as many English exiles as possible would gather in one truly reformed congregation, the Geneva church quadrupled in number to over 200 participants before it was officially closed on 30 May 156065. The members came from a cross-section of society: knights, merchants, ministers, students, farmers and several sorts of tradesmen 66 . Thus, roughly one-fifth of the Marian exiles belonged at one time or another to the English church in the city. Knox clearly articulated what made Geneva such a special place for him and his followers: [Geneva] is the maist perfyt schoole of Chryst that ever was in the erth since the dayis of the Apostillis. in other places, I confess Chryst to be trewlie preachit, but maneris and religioun so sinceirlie reformat, I have not yit sene in any uther place 6 7 .

In other words, England may have had godly preachers, but they lacked authority to make people act according to what they said. They could neither bring about a thorough reformation in public worship nor enforce biblical standards for public morality. For these failings God had loosed his wrath on the nation. Under Calvin, however, the church in Geneva had been able to accomplish both goals. Here, here was the living model which showed the English people what they needed to do, if they were serious about repenting of their previous folly. Therefore, the English exiles in Geneva went immediately to work fashioning a congregational life that reflected the principles and practices of their host city. They quickly adopted the reformed church order which had been drawn up at Frankfurt by Knox, Whittingham, Gilby, Foxe and Thomas Cole but rejected. Then, to fulfil their prophetic role to the English-speaking peoples, shortly thereafter they published it bound up with other useful religious material. Appearing in February 1556, The Forme of Prayers and Ministration of the Sacraments, &c., used in the Englishe Congregation at Geneua contained everything needed for a completely new foundation for a future protestant Church of England: a clearly reformed confession of faith, a method of 64

So DANNER, Pilgrimage to Puritanism (note 61), p. 23, based on MARTIN, Les Protestants Anglais refugies (note 61), pp. 39 n. But the text is ambiguous and can be read to mean that the English would preach on Mondays, Tuesdays and Wednesdays at 9:00 a. m., William D. MAXWELL, The Liturgical Portions of the Geneva Service Book used by John Knox while a Minister of the English Congregation of Marian Exiles at Geneva, 1556— 1559, Edinburgh 1931, p. 7. 65 The standard figure is 212 based on MARTIN, Les Protestants Anglais refugies (note 61), pp. 43^19. COWELL, English Refugee Churches (note 61), p. 212, adds that there were 146 families. KNOX, Geneva Congregation (note 61), p. 7, however, gives the figures as no less than than 233 souls, or about 140 family units. 66 COWELL, English Refugee Churches (note 61), p. 212. 67 Works of Knox (note 11), IV, 240. Of the English-speaking exiles in Geneva, only Knox and one other member were Scottish, KNOX, Geneva Congregation (note 61), p. 7.

Null, The Marian

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electing congregational leadership (pastors, elders and deacons), an outline for worship services and pastoral offices which had very little in common with Cranmer's, fifty-one metrical Psalms, a plan for church discipline, and an English translation of Calvin's catechism 68 . As appropriate for a fresh start for English Protestantism, the 'Preface' stated the Geneva congregation's fundamental principle. Their handbook presented a forme and order of a reformed church, lymited within the compasse of God's Woorde, which our Saviour hathe left unto us as onely sufficient to governe all our actions bye; so that what so ever is added to this Wörde by man's device, seme it never so good, holy or beautifull, yet before our God, whiche is jelous and can not admitt any companyon or counseller, it is evell, wicked, and abominable 6 9 .

At last, Knox's commtitment to the regulative principle had been enshrined in a formulary intended for English public worship. But the Forme of Prayers made equally clear that godly worship alone was not sufficient. Discipline was also crucial: And as the Word of God is the life and soule of this Churche, so this godlie ordre and discipline is as it were synewes in the bodie, which knit and joyne the members together with decent order and comelynes. It is a brydle to staye the wicked frome their myschiefes. It is a spurre to pricke forward suche as be slowe and necligent; yea, and for all men it is the Father's rodde ever in a readines to chastice gentelye the fautes committed, and to cawse theym afterward to lyve in more godlie feare and reverence 7 0 .

Convinced that theirs was now the face of Christ's universal church, the Geneva exiles also printed at the same time Whittingham's Latin translation of the handbook for the benefit of their continental reformed colleagues 7 1 . The new church formularies, however, were only the beginning of the Geneva exiles' own publishing program. More a linguist than a theologian, Whittingham devoted himself to translations: a Latin edition of Ridley's treatise on the Lord's Supper for continental audiences, an English version of Beza's work on predestination, and a new English translation of the New Testament with notes influenced by Beza's recent critically revised Latin text 72 . An-

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For the confession of faith, liturgies, and discipline, see Works of Knox (note 11), IV, pp. 143-214. For the liturgy, see Robin A. LEAVER, 'Goostly psalmes and spiritual! songes': English and Dutch Metrical Psalms from Coverdale to Utenhove, 1535-1566, Oxford 1991, pp. 226-237. For the church offices, see PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), pp. 32 n. 69 Works of Knox (note 11), IV, 160 n. 70 Ibid., p. 203. 71 Ibid., p. 148. 72 Certen godly, learned, and comfortable conferences [...]. Whereunto is added A Treatise against the error of Transubstantiation (n.p., 1556); A Brief declaration of the chiefe poyntes of Christian Religion, set forth in a Table [Geneva 1556]; The Newe Testament of Our

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thony Gilby and John Knox wrote original works defending the doctrine of double predestination 73 . In Mary's last year on the throne, Goodman and Knox also wrote explosive political tracts which argued that Christians had an obligation to overthrow an idolatrous ruler 74 . Goodman even went so far as to argue that if inferior magistrates like Parliament failed to address the situation, then 'God giveth the sword in to the people's hand' for armed resistance 75 . Denounced by fellow Marian exiles and disowned by Calvin, a biblical rationale for tyrannicide was extremely controversial in its own right. That Knox and Goodman denounced government by women as part of their critique against Mary not only doomed whatever chances they themselves may have had for advancement in Elizabeth's Church of England but also fostered royal suspicion of the city where these works had been printed 76 . The last major project of Whittingham and his colleagues was their most ambitious, a truly 'user-friendly' English translation of the whole Bible. Finally completed in 1560, the Geneva Bible included a series of groundbreaking innovations. Theirs was the first English Bible to divide chapters by verses; the first to appear in Roman instead of Gothic type; the first to be issued in a handy (quarto) size; and the first to include concordances, maps, and illustrations of difficult passages. Its annotations emphasised such favourite themes of the Geneva exiles as the need for the state to further 'godly reformation', the preacher as prophet, the importance of predestination, that faith must produce good works, and the struggle between Christ and Antichrist as the key to human history 77 . At least 140 editions were printed beLord Jesus Christ. For Whittingham's literary career, see DANNER, Career of Whittingham (note 63), pp. 156-161. 73 Anthony GILBY, A briefe Treatyse of election and reprobacion, Geneva 1556; John KNOX, An answer to a great nomber of blasphemous cavillations written by an Anabaptist, and adversarie to Gods eternal predestination, Geneva 1560. See Ο. T. HARGRAVE, The Predestinarian Offensive of the Marian Exiles at Geneva, in: Anglican and Episcopal History 42 (1973), pp. 111-123. 74 Christopher GOODMAN, How Superior Powers Oght To Be Obeyed Of Their subjects, Geneva 1558; John KNOX, The First Blast Of The Trumpet Against The Monstruous regiment of Women, Geneva 1558. Cf. John PONET, A Shorte Treatise of politike power, Strassburg 1556. See Gerry BOWLER, Marian Protestants and the Idea of Violent Resistance to Tyranny, in: Protestantism and the National Church in Sixteenth Century England, ed. by Peter Lake and Maria Dowling, London 1987, pp. 124-143; Dan G. DANNER, Resistance and the Ungodly Magistrate in the Sixteenth Century: The Marian Exiles, in: Journal of the American Academy of Religion 49 (1981), pp. 471-481; DAWSON, Revolutionary Conclusions (note 33), pp. 257-272; David H. WOLLMAN, The Biblical Justification for Resistance to Authority in Ponet's and Goodman's Polemics, in: Sixteenth Century Journal 13 (1982), pp. 29-41.

" GOODMAN, Superior Powers (note 74), p. 185. 76 DANNER, Pilgrimage to Puritanism (note 61), pp. 88 n.; Zurich Letters, ed. by Hastings Robinson, Second Series, Cambridge 1845, p. 131; PETTEGREE, Marian Protestantism ( n o t e 12), p p . 1 4 3 - 1 4 9 . 77

Maurice BETTERIDGE, The Bitter Notes: The Geneva Bible and its Annotations, in: Six-

Null, The Marian Exiles

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tween 1560 and 1644 7 8 . A bestseller in Elizabethan England, required by law to be owned by every Scottish householder, the version which Governor Bradford brought with him to America on the Mayflower, the Geneva Bible was, by far, the greatest publishing success o f the Marian exiles 7 9 . Looking back at all their accomplishments in Geneva, Goodman wrote unapologetically to Pete Martyr Vermigli about the bitter strife that had gone before: 1 do not now repent o f having stood forth and laboured with others in that cause, which has been the chief occasion o f that happy agreement and solid peace which by the great blessing o f God we enjoy in this place: which 1 persuade myself never would have occurred, if for the sake o f the other party it had been permitted to contaminate the purity o f religion with the dregs o f popery which they wished to force upon u s 8 0 .

IV. Conclusion In the Autumn o f 1558 Robert Home and Richard Chambers visited the Geneva exiles by way o f the relatively new English community at Aarau. This group had originally settled at Wesel in 1555, but Lutheran opposition to their practicing a reformed view o f Communion led to the authorities requiring them to move on by April 1557. Thomas Lever, their pastor since 1556, naturally looked to Switzerland for a new refuge and received permission to settle the group in Bernese territory. O f the 100 approximate English exiles at Wesel, 93 persons found shelter at Aarau on 11 August 1557. Most were o f humble origins. Many were weavers 8 1 . The purpose o f Home's and Chambers' visit had been once again to provide financial support for the two refugees communities. The English leaders at Geneva interpreted their generosity as an attempt at reconciliation. Consequently, when they received news o f Mary's death shortly thereafter, they attempted once more to rally the exiles to a united support for their churchmanship. Writing the various English communities, the Geneva group stated teenth Century Journal X I V ( 1 9 8 3 ) , pp. 4 1 - 6 2 ; Dan G. DANNER, The Contribution o f the Geneva Bible o f 1560 to the English Protestant Tradition, in: Sixteenth Century Journal XII ( 1 9 8 1 ) , pp. 5 - 1 8 ; GRIBBEN, Puritan Millenium (note 38), pp. 6 7 - 7 9 ; Basil HALL, The Genevan Version o f the English Bible, in: The Journal o f the Presbyterian Historical Society XI ( 1 9 5 7 ) , pp. 6 6 - 8 0 . 7 8 DANNER, Geneva Bible (note 77), pp. 5 n. For a good overview o f the three different versions o f the Geneva Bible, see BETTERIDGE, Bitter Notes (note 77), pp. 4 4 n. 7 9 Ibid., pp. 44, 52, 62. 8 0 OL (note 28), II, p. 769. 8 1 Troubles at Frankfort (note 31), pp. 184 n.; GARRETT, Marian Exiles (note 22), pp. 5 0 53, 3 5 3 - 3 5 6 ; PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), pp. 6 4 - 7 8 ; O L (note 28), I, pp. 1 6 0 - 1 7 0 .

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one more time their understanding of the root of their country's suffering and the best means for its avoidance in the future: Moste earnestly desiringe yow that we maie altogether teache and practise that true knowledge off Goddes worde, whiche we haue lerned in this oure banishment and by goddes mercifull prouidence, seene in the beste reformed churches: That consideringe oure negligence in times paste and goddes punishemente for the same, we maie with zeele and diligence endeauour to recompence it 8 2 .

The congregation at Frankfurt replied with great courtesy but clearly refused to join in Whittingham's grand plan. Practically speaking, they reminded the English at Geneva that decisions about ceremonies would now be made by the new godly magistrate and her Parliament, not by those in exile. Therefore, the proper issue at hand was not what those ceremonies would be, but how the returning exiles would respond to them: As we purpos to submit oure selues to such orders as shall be established by authoritie, beinge not of themselues wicked, so we would wishe yow willingly to do the same. For where as all the reformed churches differ amonge them selues in diuers ceremonies, and yet agree in the vnitie of doctrine: we se no inconuenience if we vse some ceremonies diuers from them, so that we agree in the chief points of oure religion 8 3 .

No one could have stated the position of the Edwardian church any better. In 1559 Knox was able to implement his thorough reformation in Scotland, and the Bible and liturgy of the English-speaking congregation in Geneva became the accepted norm in the Kirk. However, to the great on-going discontentment of the party of 'purity', the Frankfurt refugees had had the better grasp of English politics. The Geneva exiles would have little influence in shaping the Elizabethan Settlement in 1559 and even less effectiveness in altering it later towards their goals 84 . For Elizabeth's was a 'Nicodemite Settlement'. Its three chief architects - the queen, William Cecil, her principal secretary, and Matthew Parker, her first Archbishop of Canterbury - all had remained in England during Mary's reign, and all had conformed 85 . Elizabeth was willing to restore the formularies of the old Edwardian church, but not its revolutionary spirit. She based her somewhat idiosyncratic Protestantism on that Edwardian distinction between doctrine and ceremonies then used the ensuing vestments controversy to deprive of office the 'hotter sort' 82

Troubles at Frankfort (note 31), pp. 186-188. Ibid., pp. 188-90. 84 Kenneth R. BARTLETT, The Role of the Marian Exiles, in: The History of Parliament: The House of Commons 1558-1603, ed. by Peter W. Hasler, London 1981,1, pp. 102-110; PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), pp. 129-150; Brett USHER, William Cecil and Episcopacy, 1559-1577, Aldershot 2003, pp. 1-23; COLLINSON, Elizabethan Puritan Movement (note 59). 85 PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), p. 106. 83

Null, The Marian Exiles

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who would not conform 8 6 . This godly magistrate used her sword not to bring further Protestant reform, but to prevent it. Therefore, Elizabeth's church valued its Swiss ties, so strengthened by the exile, if only to reassure itself, that regardless of the particularities of the settlement, it remained a full member in the international family of reformed churches. Bullinger in Zürich, crucially helpful in supporting clerical conformity during the vestments controversy, received four different fellowship cups as signs of gratitude for his city's hospitality to the refugees: one each from Parkhurst, Jewel and Home, all now bishops, and one from Queen Elizabeth herself 8 7 . Although Geneva became a refuge in spirit for those who fought against conformity, Calvin eventually became the pre-eminent theologian of both the English clerical establishment and their harshest critics 88 . The importance of the Elizabethan church's ties to the Swiss only lessened toward the end of her reign. Then a small group of clergy began to find their spiritual identity more in the ancient liturgical traditions preserved in English cathedrals than in the reformed doctrine preached from their pulpits. Now the Prayer Book and the article on ceremonies became the means of fostering the face of an English national church which saw itself as neither roman nor reformed. Anglicanism as the holiness of beauty had begun. Revolution by the heirs of the Geneva exiles would follow.

Zusammenfassung In der Schweiz wurden marianische Flüchtlingsgemeinden in Zürich (1554), Basel (1555), Genf (1555), und Aarau (1557) gegründet. Zürich entwickelte sich zur Zentrale für englische theologische Studien, weil sich dort Theologen aus Oxford und Cambridge niederließen. In Basel fanden Engländer wie John Bale und John Foxe Arbeit im Druckgewerbe und somit die Möglichkeit, anti-katholische Werke zu veröffentlichen. Nach ihrer Niederlage im Frankfurter Liturgiestreit 1555 kamen John Knox, William Whittingham und ihre Anhänger in Calvins Genf, weil sie dort den Freiraum fanden, ihr Modell einer wirklich reformierten Kirche von England voranzutreiben. Die Genfer 86

John H. PRIMUS, The Vestments Controversy: An Historical Study of the Earliest Tensions within the Church of England in the Reigns of Edward VI and Elizabeth, Kampen 1960. 87

KNAPPEN, Tudor Puritanism (note 44), pp. 204-208; PRIMUS, Vestments Controversy (note 86), pp. 125-131; VETTER, Relations (note 32), pp. 58-60, J. Wayne BAKER, Erastianism in England: The Zürich Connection, in: Zürcher Reformation (note 51), pp. 3 2 7 3 4 9 , at: p p . 3 3 7 - 3 4 3 . 88

PETTEGREE, Marian Protestantism (note 12), p. 148.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

Flüchtlinge verbreiteten ihre Vorstellungen durch ein Verlagsprogramm, insbesondere durch die Genfer Bibel. Erst 1557 wurde die englische Gemeinde in Aarau gegründet. Ursprünglich hatten sich diese Engländer im niederrheinischen Wesel niedergelassen, waren aber wegen ihres reformierten Abendmahlsverständnisses ausgeweisen worden.

Ein Volk auf der Flucht Die Schweiz als Refugium der Waldenser Von

Hans Ulrich

Bächtold

I. Eine der Sekten des Mittelalters Die Waldenser, die für die nachreformatorische Schweiz zur politischen Herausforderung, j a letztlich zum asylpolitischen Prüfstein werden sollten, entstammten einer der zahlreichen Sektenbewegungen des Hochmittelalters 1 . Ihre Anfange werden fassbar im Wirken des Kaufmanns Peter Valdes in Lyon, der 1177 eine dem christlichen Armutsideal verpflichtete religiöse Gemeinschaft begründete. Verhielt sich diese anfanglich noch kirchentreu, so beschleunigte sich nach der Häretisierung durch Rom - Ablehnung der Laienpredigt, Exkommunikation auf dem Konzil von Verona im Jahre 1184 - ihre organisatorische und dogmatische Eigenentwicklung. Ihre Anhängerschaft erstreckte sich sehr bald über ganz Europa; bereits im 13. Jahrhundert fanden sich geheime Waldenserzirkel geballt in Südfrankreich, in der Lombardei, in Deutschland und in Böhmen. Die Bibel galt den Waldensern als alleinige Autorität, und die Bergpredigt wurde zum Maß für ihre Lebensgestaltung. Dies bedingte die Ablehnung jeglicher Gewalt, also auch die durch die Obrigkeiten geübte Blutgerichtsbarkeit oder das Führen von Kriegen. Die Heiligen- und die Bilderverehrung, das Wallfahrtswesen usw. der römischen Kirche wurden abgelehnt. Die im Untergrund wirkenden Wanderprediger, die in apostolischer Armut lebten, verwalteten die Sakramente Beichte und Messe.

1 Über die Geschichte der Waldenser ist viel publiziert worden. Zum Stand der Forschung vgl. Euan Κ. CAMERON, Waldenser, in: Theologische Realenzyklopädie 35 (2003), S. 3 8 8 402 (mit Bibliografie). Überblicke bieten Giorgio TOURN, Geschichte der Waldenser-Kirche, Erlangen 1987; und Gabriel AUDISIO, Die Waldenser. Die Geschichte einer religiösen Bewegung. Aus dem Franz. von Elisabeth Hirschberger, München 1996. Über die Beziehung der Schweiz zu den Waidensem vgl. Johann Caspar MORIKOFER, Geschichte der evangelischen Flüchtlinge in der Schweiz, Leipzig 1876, S. 255-276; und Arturo PASCAL, L'espatrio dei Valdesi in terra svizzera, Zürich 1952. Eine enorme Materialfiille zum Thema bietet Theo KLEFNER, Die Waldenser auf ihrem Weg aus dem Val Cluson durch die Schweiz nach Deutschland 1532-1755, 4 Bde., Göttingen 1980-1996. Die Literatur ist zusammengestellt bei Lise GACOND, Bibliographie du refuge Huguenot en Suisse apres la revocation de l'edit de Nantes, in: Schweizerische Zeitschrift fiir Geschichte 36 (1986), S. 368-391.

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Die Bewegung, die sich im 15. Jahrhundert den Hussiten annäherte 2 , wurde durch die Verfolgung der kirchlichen Inquisition - exemplarisch etwa sind die Prozesse im schweizerischen Freiburg 1399/1430 3 oder das Verfahren und die Hinrichtung des Wanderpredigers Friedrich Reiser in Straßburg 14584 - bis zum Beginn der Neuzeit fast gänzlich ausgelöscht. Nur gerade in den Cottischen Alpen, vor allem in den Talschaften Val Pragela und Val Perouse, und im südfranzösischen Luberon konnten sich, unter den wechselnden, doch stets gleich bleibend repressiven Herrschaften Frankreichs und des Herzogtums Savoyens, einige Waldensergemeinden erhalten.

II. Die Waldenser und die Reformation in der Schweiz Die Waldenser, die man im besten Fall als mittelalterliche Ketzerbewegung kannte, traten erst im frühen 16. Jahrhundert ins Blickfeld der Schweizer. Die Reformation in den Stadtorten Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen und im zugewandten St. Gallen wie auch in der von Bern annektierten Waadt 5 und in der Stadt Genf, also gleichsam in der Nachbarschaft zu Savoyen, eröffnete den bedrängten und isolierten Waldensern neue Perspektiven. Und sie nutzten diese Möglichkeit in optimaler Weise. Nach ersten Kontakten zu evangelischen Pfarrern, v. a. zu Guillaume Farel, dem Reformator der Westschweiz, suchten sie aktiv die Nähe zur Schweiz, konsultierten 1530 Reformatoren in Bern, Basel und Straßburg 6 und formulierten schließlich auf ihrer Synode von Chanforan 1532 ein reformatorisches Bekenntnis. Dies gelang allerdings erst nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Traditionalisten, musste doch auf wesentliches dogmatisches Eigengut, etwa auf das Verbot, Eide zu leisten oder Magistratenämter zu bekleiden, auf den Zölibat ihrer Prediger oder auf die Beichte verzichtet werden 7 . Doch aus einer fernen Wesensverwandtschaft kam es 1532 zur Gleichschaltung mit der zwinglisch-reformierten Reformation. 2

Vgl. dazu Amedeo MOLNAR, Die Waldenser. Geschichte und europäisches Ausmaß einer Ketzerbewegung, Freiburg i. Br. 1993. 3 Gut erforscht durch Kathrin Utz Tremp, vgl. ζ. B. Kathrin UTZ TREMP, Von der Häresie zur Hexerei. Waldenser- und Hexenverfolgungen im heutigen Kanton Freiburg (1399-1442), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 52 (2002), S. 115-121; DIES., Waldenser, Wiedergänger, Hexen und Rebellen. Biographien zu den Waldenserprozessen von Freiburg im Üchtland (1399 und 1430), Freiburg 1999. 4 Vgl. Miloslav POLIVKA, Friedrich Reiser, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, 1994, Sp. 1577 f. (mit Literatur). 5 Bern hatte 1536 im Krieg gegen das Herzogtum Savoyen die Waadt erobert und annektiert; vgl. Leonhard von MURALT, Renaissance und Reformation, in: Handbuch der Schweizer Geschichte (weiter: HBSG), 2 Bde., 2. Aufl. Zürich 1980, Bd. 1, S. 389-570, hier: S. 529 f. 6

7

V g l . KIEFNER ( A n m . 1), I, S. 2 8 f.

Wiedergabe der 24 Artikel der Waldensersynode, September 1532, ebd., S. 342-344.

Bächtold, Ein Volk auf der Flucht

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Die Stadt Genf, die durch ihre Bündnisse mit Bern und Freiburg in loser Verbindung zur damaligen dreizehnörtigen Eidgenossenschaft 8 stand, wurde in der Folge - wegen ihrer geografischen, sprachlichen und ab 1536 (mit Johannes Calvin) ihrer konfessionellen Nähe - zur Anlaufstelle für die savoyisch-französischen Waldenser. Durch Genf wurden die Täler in der Folge mit evangelisch-reformiertem Schrifttum und mit Pfarrern versorgt, und Genf diente als Fluchtburg für die verfolgten Exponenten der Waldenser. Genf blieb die wichtigste Schaltstelle, auch als die Minderheitenproblematik in Savoyen zur Sache der evangelischen Schweiz geworden war.

III. Die Politik der guten Dienste 1536-1685 Die Stadt Genf, in ihrer Souveränität durch das Herzogtum Savoyen und durch Frankreich stets gefährdet, bedurfte zunehmend der Rückdeckung durch die Schweiz. Politisch fand sie in Bern ihren entscheidenden Rückhalt, kirchenpolitisch verbanden sich ihre Pfarrer früh mit den Kirchenmännern in Zürich, dem als Vorort der Eidgenossenschaft besondere Bedeutung zukam. Der Leiter der Zürcher Kirche, Heinrich Bullinger, unter den schweizerischen Protestanten bereits in den dreißiger Jahren die maßgebliche Autorität, wurde in den Jahren 1536 und 1538 von Antoine Saunier, dem in den Waldensertälern wirkenden Reformator von Payerne, als Fürsprecher der piemontesischen Glaubensbrüder gewonnen 9 . Die ersten von ihm erwirkten diplomatischen Vorstöße Zürichs 1536 und zusammen mit Bern, Basel und Straßburg 1537 am französischen Hofe zugunsten der Waldenser blieben zwar erfolglos 10 , doch die Hilfsbereitschaft war nun breit angelegt; denn die evangelischen Orte der Schweiz handelten in der Folge zumeist gemeinschaftlich. Deren Eintreten für die Anliegen der Waldenser bei der Führung Savoyens und Frankreichs war jedoch politisch stets brisant. So lösten sie, nach einem Massaker unter den Waldensern der Provence (Luberon) im Jahre 1545, mit ihrem Bittschreiben an König Franz I. nur Empörung über die Einmischung aus 11 . Solche Unternehmen störten nicht nur die internationalen Beziehun8 Zur dreizehnörtigen Eidgenossenschaft 1513-1798 (Uri, Schwyz, Unterwaiden, Luzem, Zürich, Glarus, Zug, Bern, Freiburg, Solothurn, Basel, Schaffhausen und Appenzell) vgl. Andreas WÜRGLER, Eidgenossenschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz (weiter:

H L S ) , B d . 4 , B a s e l 2 0 0 5 , S. 1 1 4 - 1 2 1 . 9

Vgl. KIEFNER ( A n m . ) , I, S. 2 9 f., 71 f.

10

Zu den Interventionen der evangelischen Schweizer zugunsten der Waldenser vgl. auch Hans Ulrich BÄCHTOLD, „Das Thier wütet!'" - Zürich und die Hilfe fur die Waldenser im Piemont von Heinrich Bullinger (1504-1575) bis Anton Klingler (1649-1713), in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser um 1700, hrsg. von Albert de Lange und Gerhard Schwinge, Heidelberg 2004, S. 37-58. " Gabriel AUDISIO, Les vaudois du Luberon. Une minorite en Provence (1460-1560), Gap 1984, S. 360-371, 402; vgl. Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

gen, sie gefährdeten stets auch den inneren Frieden der konfessionell gespaltenen Schweiz. Durch den Abschluss des sog. Ewigen Friedens von 1516 (1663 mit König Ludwig XIV. erneuert) 12 und durch Solddienstallianzen waren die eidgenössischen Orte zwar seit früher Zeit eng mit Frankreich verbunden, doch die Außenpolitik der nachreformatorischen Eidgenossenschaft war zweigeteilt in jene der katholischen, savoyenfreundlichen und jene der evangelischen Orte, die der Stadt Bern folgten, welche immer wieder savoyische Restitutionsansprüche auf die Waadt befürchten musste 13 . Für die evangelische Schweiz, die innenpolitisch überdies von der katholischen Minorität dominiert wurde, war es somit heikel, ihre Solidarität mit den Glaubensverwandten in Savoyen und in Frankreich politisch umzusetzen. Dennoch gingen die evangelischen Orte im Jahre 1557, als sich die Verfolgung in den Waldensertälern durch Frankreich im Verbünde mit Rom verschärfte, noch einen Schritt weiter. Auf Betreiben von Wilhelm Farel, Theodor Beza und Bullinger - sogar einige Fürsten in Deutschland waren miteinbezogen - wurde nach etwelchen Diskussionen 14 eine Delegation an den französischen Hof gesandt. Doch die hohen Erwartungen erfüllten sich nicht, religiöse Toleranz war auf dem Petitionsweg sichtlich nicht zu erwirken. Der unglückliche Verlauf des Krieges Frankreichs gegen Spanien absorbierte aber die Kräfte derart, dass die Waldenser in den fernen Alpentälern vergessen gingen und für Jahrzehnte unbehelligt blieben 15 ; zudem waren diese Gebiete 1574 an den Herzog von Savoyen zurückgefallen 16 und auch das Toleranzedikt von Nantes 1598 sorgte für eine gewisse Duldsamkeit. Unter der Regentschaft der herzoglichen Witwe Christine, einer eifrigen Verfechterin der „einen" katholischen Religion, setzten in den dreißiger (weiter: EA), hrsg. auf Anordnung der Bundesbehörden unter der Direktion von Jacob Kaiser, 21 Bde., Luzern 1839-1886, hier: IV/ld, S. 4 7 9 - 4 8 2 . 12 Der „Ewige Friede" von 1516 abgedr. in: EA (Anm. 11), III/2, S. 1 4 0 6 - 1 4 1 5 , erneuert 1663 abgedr. in: EA (Anm. 11), VI/1, S. 1 6 4 1 - 1 6 7 3 ; vgl. auch MURALT, in: HBSG (Anm. 5), Bd. 1, S. 428 f.; und Ulrich IM HOF, in: HBSG (Anm. 5), Bd. 2, S. 677 f. 13 Die katholischen Orte Uri, Schwyz, Unterwaiden, Luzem, Zug und Solothurn schlossen 1560 ein Bündnis mit dem Herzog von Savoyen, das bis 1684 immer wieder erneuert wurde. Den Hilfs- und Soldbündnissen mit Frankreich, die den „Ewigen Frieden" von 1516 ergänzten, blieben Zürich von 1521 bis 1614 und Bern von 1529 bis 1582 fern. Vgl. dazu Peter STADLER, Das Zeitalter der Gegenreformation, in: HBSG (Anm. 5), Bd. 1, S. 5 7 1 - 6 7 2 ; Ulrich IM HOF, Ancien Regime, in: HBSG (Anm. 5), Bd. 2, S. 6 7 3 - 7 8 4 ; und Martin KÖRNER, Allianzen, in: HLS (Anm. 8), Bd. 1, Basel 2002, S. 195-197, hier: S. 196. 14 Der Unmut in Basel oder der Widerstand der Solddienstanhänger in Bern, die das Unternehmen zu hintertreiben suchten, werfen ein Schlaglicht auf das Spiel der Interessen; vgl.

BÄCHTOLD ( A n m . 1 0 ) , S . 4 2 f. 15 Dazu AIcuin HOLLAENDER, Eine Schweizer Gesandtschaftsreise an den französischen Hof im Jahre 1557, in: Historische Zeitschrift 69, N. F. 33 (1896), S. 385^110; Arturo PASCAL, Le ambascerie dei cantoni svizzeri e dei principi [...] in favore dei Valdesi, in: Bollettino storico-

bibliografico S u b a l p i n o 18 ( 1 9 1 3 ) , S. 8 0 - 1 1 9 , 3 1 4 - 3 3 6 , s o w i e 19 ( 1 9 1 4 ) , S. 2 6 - 3 8 . 16

Über die wechselnden Herrschaftsverhältnisse in Savoyen und Piemont vgl. KIEFNER (Anm. 1), I, S. 52 f.

Bächtold, Ein Volk auf der Flucht

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Jahren des 17. Jahrhunderts die systematischen Verfolgungen wieder ein 17 . In dieser Zeit erstand mit Johann Jakob Ulrich der wohl bedeutendste Waldenserfreund der Schweiz. Der in Genf, später in Zürich tätige Pfarrer, der mit fuhrenden Waldensern wie etwa Antoine Leger 18 auf vertrautem Fuße stand, scheiterte 1644 jedoch mit dem Plan, eine Bittgesandtschaft an die Fürstin zu entsenden, am Widerstand Berns, konnte sich schließlich aber durchsetzen, als die Verfolgungswelle 1655 in einem Blutbad (den sog. Piemontesischen Ostern) kulminierte. Dieses Ereignis, das 4 000 Opfer forderte, mobilisierte die evangelischen Staaten europaweit. Zürich informierte Oliver Cromwell, die Kurfürsten Brandenburgs und der Pfalz, den Landgrafen von Hessen, die Niederlande und Schweden 19 , und in Aarau beschlossen die evangelischen Orte im Juni, trotz energischer Einrede ihrer katholischen Miteidgenossen eine Gesandtschaft nach Savoyen abzuordnen 20 . Diese sprach im Juli - die Waldenser hatten sich bereits militärisch formiert und leisteten erfolgreichen Widerstand - in Turin vor und verhandelte, allerdings erfolglos; der Herzog gab sich ränkevoll und abweisend 21 . Erst als sich Frankreich unter dem Druck Oliver Cromwells einschaltete, kam ein Friedensvertrag zustande, der die waldensischen Gebiete zwar ausgliederte und einengte, in denen aber den reformierten Talbewohnern die Religions- und Kultusfreiheit garantiert war 22 . Allerdings schützte auch dieser Vertrag nicht vor bedrückenden Schikanen, die schließlich 1663 in blutige Verfolgungen ausarteten. Diesmal widersetzten sich die Waldenser den savoyischen Truppen aber derart erfolgreich, dass die herbeigeeilte zürcherisch-bernische Gesandtschaft im Februar 1664 einen für die Waldenser äußerst günstigen Friedensvertrag vermitteln konnte, der ihre Rechte sicherstellte 23 .

17 Vgl. Elsbeth Corona KLINKERT, Die evangelischen Kantone und die Waldenser in den Jahren 1655 und 1685/86, Zürich 1917, S. 6-8. 18 Zu Johann Jakob Ulrich und Antoine Leger vgl. Albert de LANGE, Antoine Leger (1596-1661), Das Leben eines Waldenserpfarrers zwischen Konstantinopel und Genf, in: Von Berlin bis Konstantinopel. Eine Aufsatzsammlung zur Geschichte der Hugenotten und Waldenser, hrsg. von Andreas Flick und Albert de Lange, Bad Karlshafen 2001, S. 119-

167; auch BÄCHTOLD ( A n m . 10), S. 4 4 - 4 7 . 19

V g l . KLINKERT ( A n m . 17), S . 8 f., 1 0 - 1 2 .

20

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Städte, [alter Kalender: 16. Juni] 26. Juni 1655, in: EA (Anm. 11), VI/1, S. 252 f. 21 Vgl. KLINKERT (Anm. 17), S. 15-33. Die evangelischen Fürsten in Deutschland anerboten nicht Geld oder diplomatische Hilfe, sondern Schutz und Wohnplatz für die Verfolgt e n ; v g l . B Ä C H T O L D ( A n m . 10), S. 4 7 . 22

Wiedergabe des Vertrages von Pignerol, 8./18. Aug. 1655, bei KLINKERT (Anm. 17), S. 38 f. Vgl. dazu Gerold MEYER VON KNONAU, Die evangelischen Kantone und die Waldenser in den Jahren 1663 und 1664, Leipzig 1911, S. 167-170: Wiedergabe des Patentes vom 14. Februar 1664.

23

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) IV. Die Aufhebung des Ediktes von Nantes und ihre Folgen

Alle Toleranzversprechen fielen dahin, als König Ludwig XIV. mit der Aufhebung des Ediktes von Nantes im Oktober 1685 die Ausübung des evangelischen Kultus verbot und den Hugenotten die Ausreise untersagte 24 . Für den französischen Teil der Cottischen Alpen war bereits im Mai ein ähnliches Verbot ergangen, und auch von Herzog Viktor Amadeus II. wurde mit Nachdruck verlangt, sein Territorium von den Evangelischen zu säubern. Vergeblich verlangten die evangelischen Orte der Schweiz noch im Oktober die Einhaltung der Patente von 1655 und 1664, und die Interventionen des Kurfürsten von Brandenburg und der Niederlande im Januar 1686 blieben ebenso ergebnislos 25 . Am 31. Januar [10. Febr.] erließ der Herzog - widerwillig zwar, wie er eingestand - ein Verbot nach dem Vorbild des französischen Ediktes; jedoch im Unterschied zu diesem gestattete es den Waldensern die Auswanderung 26 . Schon vor dem Erlass des französischen Ediktes waren Hugenotten in die Schweiz eingeströmt. Im Herbst 1685 soll es in der Westschweiz von Flüchtlingen „gewimmelt" haben. Im September schob Genf, von Ludwig XIV. unter Druck gesetzt, rund 2 000 französische Hugenotten in die Eidgenossenschaft ab 27 , doch schon im Dezember gelangten erste Gruppen von Waldensern in die Stadt 28 . Die evangelische Schweiz, die sich den Exulanten als nächstliegender Fluchtort anbot, musste angesichts der anschwellenden Flüchtlingsströme Vorsorge treffen. Dabei wurden nicht nur Fragen der materiellen Kapazität aufgeworfen, vor allem auch die politischen Risiken galt es zu entschärfen. Die Frage etwa, wie weit die eidgenössisch-französischen Verträge die Aufnahme der illegal Ausreisenden zuließen, beantwortete ein Gutachten der Universität Basel, das im November 1685 belegte, dass die Verträge der Schweiz mit Frankreich Glaubensflüchtlinge nicht betreffen würden 29 . Gleichermaßen mussten die Bedenken der katholischen Miteidgenossen ausgeräumt werden. Wie eng der innenpolitische Spielraum für die Evangelischen war, zeigte der Konflikt um ein Schaffhauser Bettagsmandat, das durch seine Für die Jahre nach der Aufhebung des Ediktes vgl. auch Emil BLÖSCH, Bern und die Waldenser im Jahre 1686, Bern 1886; Eduard BÄHLER, Kulturbilder aus der Refugiantenzeit in Bern (1685-1699), Bern 1908; Bruno BARBATTI, Das „Refuge" in Zürich, Ein Beitrag zur Geschichte der Hugenotten- und Waldenserflüchtlinge nach der Aufhebung des Edikts von Nantes und zur Geschichte der Stadt Zürich, Zürich 1957; Rudolf UZLER, Schaafhausen und die Glaubensflüchtlinge, Zürich/Schaffhausen 1940. 24

25

V g l . KLEFNER ( A n m . 1), II, S. 2 1 , 1 2 4 f., 1 2 7 .

26

Vgl. KLINKERT (Anm. 17), S. 61; und KlEFNER (Anm. I), II, S. 128.

27

Vgl. BARBATTI ( A n m . 2 4 ) , S. 31, 3 3 .

28

Bereits vor dem Jahreswechsel waren an die 300 Waldenser - die letzten, die in den Alpen noch hatten Widerstand leisten können - nach Genf ausgereist und auf die evangelischen Orte der Schweiz verteilt worden. Vgl. KLEFNER (Anm. 1), II, S. 156 f. 29 Zürich ZB, Ms. J 135, 330r.-335v.; KlEFNER (Anm. 1), II, S. 25.

Bächtold, Ein Volk auf der Flucht

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Ausfälligkeiten einen Streit mit den katholischen Orten provoziert hatte 30 , wonach Bern mit der Begründung, weil „die gegenwärtig im Vorteil stehenden katholischen Orte sehr laut reden, hingegen das evangelische Häuflein den Atem leise ziehen muss", zur Mäßigung aufrief 31 . Mit einem raschen diplomatischen Vorstoß versuchten die beiden schweizerischen Gesandten, der Berner Bernhard von Muralt und der Zürcher Johann Kaspar von Muralt, den Herzog in Turin umzustimmen und gleichzeitig die Waldenser vom militärischen Widerstand abzumahnen. Weder das eine noch das andere gelang 32 , so dass - wie die beiden anschließend vor der Tagsatzung berichteten 33 - „der bekannte und betrübte Zustand erfolget". Der „Zustand" meinte den Krieg der von Pfarrer Henri Arnaud aufgeputschten Waldenser gegen die savoyischen und französischen Armeen, welcher im Herbst 1686 mit einer vernichtenden Niederlage endete. Viele Waldenser waren umgekommen, einige Tausend Überlebende wurden gefangen gesetzt, ihre Kinder enteignet und zur katholischen Erziehung freigegeben; manche hatten zum Katholizismus konvertiert 34 . Damit war der Herzog in die Lage versetzt, das Problem mit seinen „rebellischen Untertanen" endgültig zu lösen. Graf Ottavio Solaro di Govone, den er in die Schweiz schickte, um ein „Sicherungsprojekt" auszuarbeiten, handelte mit den beiden von Muralt ein Konzept aus, das die Freilassung und die Ausreise der Gefangenen in die Schweiz vorsah, wobei diese versichern mussten, diese so bald als möglich in andere, entferntere Länder zu schaffen, damit der Herzog „in Zukunft von diesem Volke nicht mehr beunruhigt" werde 35 . Man dachte dabei in erster Linie an die protestantischen Territorien in Deutschland, die bereits Hugenotten aufgenommen hatten. Um die Jahreswende 1686/87 erließ Viktor Amadeus das Freilassungsedikt und ließ die gefangenen Waldenser an die Grenze schaffen 36 .

30 Die katholischen Orte hatten beschlossen, das Papier in Luzem öffentlich zu verbrennen; vgl. Tagsatzung der katholischen Orte in Luzern, 2 7 . - 2 9 . Oktober/6.-9. November 1686, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 181 f.; vgl. auch UZLER (Anm. 24), S. 102. 31 Vgl. Tagsatzung der Orte Zürich und Bern, Bern, 2 0 . - 2 4 . November/30. November bis 4. Dezember 1686, in: EA (Anm. II), VI/2, S. 183 f. 32 Vgl. KiEFNER (Anm. 1), II, S. 129-138. 33 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Baden, Juli 1686, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 176. 34 Vgl. die Zahlen bei KiEFNER (Anm. 1), II, S. 146 f. 35 Zu den Verhandlungen Willy BräNDLY, Das in Luzem aufgestellte Emigrationsprojekt zugunsten der Waldenser (17. Oktober 1686), in: Zwingliana IX/4 (1950), S. 2 3 9 - 2 4 7 . 36

V g l . K i E F N E R ( A n m . 1), II, S . 1 6 4 .

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) V. In die Schweiz - Frühjahr 1687

Bereits im Konflikt von 1655 war erstmals eine Aussiedlung als Lösungsmöglichkeit angesprochen, aber - nachdem der Herzog eingelenkt hatte - nicht weiter diskutiert worden 37 . Und im Vorfeld des waldensischen Aufstandes von 1686 war unter den evangelischen Orten der Schweiz die Möglichkeit einer Massenauswanderung, bzw. -aufnähme erörtert, jedoch verworfen worden, da die Bedenken, 6 000 mittellose Personen unterbringen zu können 38 , und die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen Frankreichs gegen Genf zu groß waren 39 . Doch das Abkommen mit Govone setzte die evangelischen Politiker nun unter Zugzwang. Sie waren sich bewusst, dass sie mit der Aufnahme der Waldenser an die Grenze der Belastbarkeit gehen würden. Doch sie konnten auf ihre Erfahrungen abstellen, die sie seit der Hugenotteneinwanderung gewonnen hatten. Mit den Exulantenkammern 40 , d. h. mit den Kommissionen, die für die Aufnahme, Unterbringung, Versorgung, Finanzierung, auch für die „Echtheit" der Flüchtlinge (Glaubensprüfung) 41 zuständig waren, waren gut funktionierende Einrichtungen vorhanden, und mit den deutschen Fürsten bestanden seit Jahren nützliche Beziehungen. An einer Zusammenkunft im Dezember 1686 in Aarau einigten sich die evangelischen Abgeordneten auf den organisatorischen Rahmen des Asylprojektes. Sie beschlossen, die erwarteten 5 000 bis 6 000 42 piemontesischen Talleute (wie sie in den Quellen zumeist genannt wurden) den einzelnen Orten nach einem bestimmten Verteilschlüssel zuzuweisen, regelten deren Unterhalt und sahen Geldsammlungen vor; die Verhandlungen mit den Fürsten in den deutschen Zielgebieten überließen sie den Waldensern selbst, die über ihre Niederlassungsorte frei entscheiden sollten 43 . Die demografische Lage für eine Ansiedlung im Deutschen Reich war nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg mit seinen Bevölkerungsverlusten günstig; die Fürsten waren bereit, geradezu begierig 44 , Leute aufzunehmen, 37

Vgl. oben Anm. 21.

38

V g l . KLINKERT ( A n m . 17), S. 7 4 ; u n d KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 138.

39

Genf, das immer im Visier der benachbarten Mächte Frankreich und Savoyen gestanden hatte, schien im Januar 1686 derart gefährdet zu sein, dass die evangelischen Orte Truppen bereitstellten, vgl. KlEFNER ( A n m . I ) , II, S. 128. 40 41

42

Vgl. KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 2 7 f. V g l . BÄHLER ( A n m . 24), S. 13, 2 8 ; u n d KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 26.

Graf Govone hatte 5 000 angekündigt, der Hof in Turin sprach von rund 6 000, vgl.

KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 161 f. 43

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, 24.-28./14.-18. Dezember 1686, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 185. Zürich hatte 28%, Bern 44% Basel 13%, Schaffhausen 9% und St. Gallen 6% aufzunehmen. Die Kollekte in Zürich erbrachte übrigens die enorme Summe von 40 000 Gulden, vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 162. 44 Es wurden sogar Protestanten in Frankreich angeworben, KlEFNER (Anm. 1), II, S. 195.

Bächtold, Ein Volk auf der Flucht

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um Bevölkerungslücken zu füllen und verödete Landstriche wieder zu besiedeln. Schon 1683 hatte der Kurfürst von Brandenburg seine Bereitschaft signalisiert, französische Flüchtlinge aufzunehmen 45 . Auch Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth hatte sich offen gezeigt und dehnte das Angebot im Frühjahr 1687 auf die Waldenser aus. Herzog Karl Friedrich von Württemberg, von seiner lutherischen Geistlichkeit unter Druck gesetzt - die „calvinistische Religion" verstanden diese als „Gift", das „wie Krebs" wuchere hatte 1685 noch die Aufnahme von Hugenotten abgelehnt 46 , wusste sich aber allmählich gegen die Bedenken seiner Gelehrten durchsetzen 47 . Im Frühjahr 1687 langten zwischen 2 500 und 3 000 Waldenser in Genf in ζ. T. erbärmlichem Zustande an. Sie wurden fürs erste versorgt und über vorbestimmte Kanäle auf die evangelische Schweiz verteilt 48 . Man verfuhr mit der Zuweisung - trotz des Widerstrebens der Flüchtlinge, die ganz gerne am Genfersee, also in der Nähe ihrer Heimat geblieben wären - zügig und gemäß Plan. Bern übernahm 1 300 der Flüchtlinge, Zürich knapp 1 000; die restlichen ca. 500 verteilten sich aufNeuenburg, Biel, Schaffhausen und St. Gallen. Während die Asylanten in Bern, Basel und Schaffhausen auf die Landschaft verteilt wurden, quartierten sie Zürich und St. Gallen in kommunalen Gebäuden (Spitälern, Schützenhäusern, Klosteranlagen) und bei Familien in den Städten ein 49 . Die Waldenser konnten - wie vor ihnen die Hugenotten - mit einem wohlwollenden Empfang rechnen. Die Kirchenmänner und Gelehrten, die durch internationale Kontakte über die glaubenspolitischen Vorgänge stets gut unterrichtet gewesen waren, hatten in Publikationen und Predigten 50 über Jahrzehnte hinweg das Bild der leidenden Glaubensbrüder in den piemontesischen Talschaften vermittelt, die Obrigkeiten in Pflicht genommen 51 und damit das Feld bereitet 52 . 45

V g l . KIEFNER ( A n m . 1), II, S . 1 9 5 .

46

Vgl. ebd., S. 41^14, 211. Nach einem Besuch des Zürcher Ratsherrn Christoph Werdmüller im Mai 1687 in Stuttgart war ein Gutachten der Universität Tübingen eingefordert worden. Die Theologen, die in den Waldensern verkappte Calvinisten sahen, antworteten ablehnend, während die Juristen der Meinung waren, man könne hoffen, diese einfachen Leute mit der Zeit zur Glaubenseinheit bringen zu können. Nach einer weiteren Intervention Werdmüllers sagte Württemberg zu, Waldenser unter gewissen Bedingungen aufzunehmen. KIEFNER (Anm. 1), II, S. 213 f., 222. 48 Vgl. ebd., S. 169; Augusto A. HUGON und Enrico A. RIVORE, Gli esuli Valdesi in Svizzera (1686-1690), Torre Pellice 1974, gibt die durch die Schweiz ziehenden Waldenser, soweit fassbar, namentlich. 47

49

50

V g l . KIEFNER ( A n m . 1), II, S . 1 7 9 - 1 8 9 .

Vgl. ζ. B. Johann Heinrich HEIDEGGER, Consolatio Christiana sive Martyrum omniumque persecutiones sustinentium, Zürich 1678; oder Johann Jakob GESSNER, Clerus Pacificus oder Kunst-Griffe der heutigen römischen französischen clerisey, Zürich 1685. 51 Vgl. ζ. B. die Interventionen der Züricher Kirchenmänner Bullinger und Johann Jakob Ulrich vor dem Rat, BÄCHTHOLD (Anm. 10). 52 Die Aufnahmebereitschaft und Spendefreudigkeit war bemerkenswert. Neben Privatspen-

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Anders als die Hugenotten entsprachen die Waldenser aber einem neuen, ungewohnten Flüchtlingstypus. Sie waren zumeist einfache, wenig gebildete Alpenbewohner, die mittellos und unfreiwillig aus ihrem Land gestoßen worden waren - eine Situation, die eine kräftigere Betreuungsintensität erforderte. Obwohl das Volk in der Regel großherzig spendete, konnten die kulturellen und sozialen Unterschiede im persönlichen Zusammentreffen zu Reibungen fuhren. Die Zwangseinquartierungen zeigen 53 , dass mit der völligen und vorbehaltlosen Akzeptanz nicht durchwegs zu rechnen war, und mancher Stadtbürger mochte den einfachen Bauern nicht an seinem Tische haben 54 . Doch im Gegensatz zu den Hugenotten, die zumeist qualifizierte Berufsleute (Handwerker und Kaufleute) waren, bildeten die Waldenser keine Konkurrenz zu heimischen Gewerbetreibenden und mussten keinen Widerstand der Wirtschaft befürchten. Die zeitliche Befristung des Projekts ließ die Aufgabe als lösbar erscheinen 55 . Aber der Optimismus von Aarau verschwand sehr rasch, als sich die Waldenser nach der Jahreswende dagegen sträubten, weiterzuziehen. Sie konnten sich - dies war seit ihrer Vertreibung aus den heimatlichen Tälern deutlich geworden - mit dem Gedanken einer Ansiedlung in fremdem Land, und gar im fernen Brandenburg, nicht anfreunden. Die Obrigkeiten setzten zwar alles daran, die Flüchtlinge zur Weiterreise zu bewegen 56 , doch ließ der Widerstand nicht nach, und in Befragungen erklärten die Waldenser stereotyp, dass sie ohne ihre in Savoyen zurückgehaltenen Angehörigen nicht weiter ziehen wollten, dass sie das Klima im nördlichen Brandenburg (wo nicht einmal Wein angepflanzt werden könne) scheuten, außerdem bestünde dort kaum noch die Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Heimat 57 . Dieser Tatbestand, die Einbehaltung der Angehörigen - 80 gefangene „Aufständische" und 46 Pfarrer sowie 800 Kinder befanden sich noch in Savoyen - wurde zum stets wiederkehrenden Argument fur die Verweigerung. Noch während der Ausschaffung der Waldenser aus Savoyen hatten sich zwar Berner und Zürcher Beauftragte in Turin um die Freilassung aller bemüht, jedoch nur die minimale Zusage erhalten, dass die Pfarrer und die

den wendete ζ. B. Bern jährlich ein Fünftel seiner Staatseinkünfte fur die Flüchtlinge auf, vgl. Walter BODMER, Der Einfluß der Refugianteneinwanderung von 1550-1700 auf die schweizerische Wirtschaft. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühkapitalismus und der Textilindustrie, Zürich 1946, S. 127; auch BÄHLER (Anm. 24), S. 21. 53 Wer keine Flüchtlinge aufnehmen wolle, müsse bezahlen, verfugte der Berner Rat mehrmals, vgl. BÄHLER (Anm. 24), S. 25. 54

55

V g l . BARBATTI ( A n m . 2 4 ) , S. 1 0 9 .

Man rechnete mit einer Aufenthaltsdauer von etwa einem halben Jahr, vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 180. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 205 f.

Bächtold, Ein Volk auf der Flucht

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Kinder freikommen würden, sobald die Waldenser aus der Schweiz ausgereist seien 58 . Aus diesem Dilemma konnten sich die Gastgeber nur befreien, indem sie den Vertrag mit Govone konsequent erfüllten. Um die Abwicklung zu beschleunigen, sahen sie an ihrer Tagsatzung im April 1687 vor, die Fürsten von Brandenburg und Hessen sowie die Niederlande und den Prinzen von Oranien um Unterstützung zu bitten, und schickten den Zürcher Ratsherrn David Holzhalb auf eine Erkundungsreise durch die protestantischen Länder Deutschlands, um Aufriahmeprivilegien für die Flüchtlinge auszuhandeln 59 ; denn die Waldenser selbst hatten sich nicht sehr zielstrebig um die Niederlassung in Deutschland bemüht.

VI. Nach Deutschland - Sommer 1688 Die Bemühungen in den Sommermonaten des Jahres 1687, die Asylanten zum Verlassen der Schweiz zu bewegen, fruchteten noch wenig. Einige Gruppen wanderten zwar ins Herzogtum Württemberg aus 60 , doch Ende Juli unterlief eine Schar bewaffneter Waldenser die Bemühungen der Schweizer mit einem Versuch, heimlich über den Genfersee nach Savoyen zurückzukehren 61 . Mit geschärftem Misstrauen, gestützt auf positive Mitteilungen Holzhalbs 62 , aber auch angesichts der knapper werdenden Mittel, wurde den Waldensern im August eine Monatfrist zum Aufbruch nach Brandenburg gesetzt 63 . Die Drohung, Reiseunwilligen die Unterstützungsgelder zu streichen, dürfte bewirkt haben, dass bis Ende Oktober 1687 einige Hundert Flüchtlinge die Schweiz verließen 64 . Als Holzhalb der evangelischen Tagsatzung im November die Ergebnisse seiner Reise vorlegte, war die Erleichterung groß. Die Kurpfalz hatte sich bereit erklärt, 2 000 Piemontesen aufzunehmen, ebenso der Kurfürst von Brandenburg, Bremen hatte eine Kollekte erhoben und die Niederlande sowie der Landgraf von Hessen-Kassel waren willens, dies zu tun, während Prinz Wilhelm von Oranien versprochen hatte, „zum Trost der Thalleute [zu] con58 59

Vgl. ebd., S. 170-172. Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Aarau, 12./22.-16./26.

A p r i l , in: E A ( A n m . 11), V I / 2 , S. 1 8 9 f.; und KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 1 9 6 - 1 9 8 . H o l z h a l b s

Reise dauerte vom 2. Mai bis zum 29. Oktober 1687. Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte, Baden, Juli 1687, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 199. 61 Zu diesem ersten Rückkehrversuch vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 191-194. 62 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte, Baden, Juli 1687, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 199. 63 Die Begründung, dass man sie nötigenfalls aufs Land verteilen müsste, wo sie sich selbständig zu ernähren hätten, zeigt, dass die Grenzen der wirtschaftlichen Tragfähigkeit erreicht waren, vgl. Tagsatzung der 4 evangelischen Städte und Genf, Aarau, 7./17.-10V20. August 1687, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 206. 60

64

V g l . KlEFNER ( A n m . I), II, S. 1 9 9 f.

34

Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

curriren". Außerdem lag den Abgeordneten ein Aufnahmeangebot des Herzogs von Württemberg vor. Zuversichtlich wählten sie Brandenburg zum Zielort für die Flüchtlinge, u. a. weil ,je weiter die Thalleute von der Eidgenossenschaft entfernt untergebracht werden, von ihnen letzterer [der Schweiz] desto weniger Unannehmlichkeiten erwachse und auch mehr Aussicht vorhanden ist, dass Savoyen die gefangenen Geistlichen und andere Personen in Freiheit seze". Sie sahen vor, die Flüchtlinge nach deren Überwinterung in der Schweiz, wenn nötig mit obrigkeitlicher Gewalt, nach Brandenburg abzufertigen65. Eigentlich hätten es die Politiker nach den Erfahrungen, die sie in den vergangenen Monaten gemacht hatten, besser wissen müssen. Im Frühjahr 1688 waren die Positionen ebenso verhärtet wie zuvor. Alle Überzeugungsarbeit bewirkte nichts - die Zürcher Pfarrer etwa versuchten erfolglos, ihre Waldenser mit biblisch-theologischen Argumenten umzustimmen, interpretierten die Zerstreuung und Neuansiedlung als gottgewollte Sendung66. Doch die Tagsatzung blieb bei ihrem Ausschaffungsplan, sie präzisierte bloß, dass bis zum 1. März „die Widersezlichen mit Weib und Kindern [...] auf Kosten der betreffenden Orte an die eidgenössische Grenze geführt, mit einem Reisegeld von einem Reichsthaler auf jeden Kopf versehen und die Zugangsorte wohl verwahrt werden, damit die Auswanderer nicht wieder auf den eidgenössischen, viel weniger auf den savoyischen Boden zurükkehren können" 67 . Und in der Tat, unter dem wachsenden obrigkeitlichen Druck erklärten sich zahlreiche Waldenser bereit, mit ihren Familien abzureisen - jedoch nicht weiter als in die Pfalz und nach Württemberg, keinesfalls nach Brandenburg. Die Abfertigung, die im März anlief, erfolgte aber derart eifrig und überhastet, dass sie gleich wieder gestoppt werden musste, weil sich die Flüchtlingsmassen in Schaffhausen aufstauten. Scharen von Talleuten strömten in dieser unüberschaubaren Lage in die Kurpfalz ab 68 , der nun schwere Versorgungsprobleme erwuchsen. Gedrängt von den Niederlanden, verfugte die Schweiz daraufhin einen vorläufigen Ausschaffungsstopp 69 . Die ersten bescheidenen Erfolge in diesem Sommer 1688 wurden durch einen erneuten Rückkehrversuch in Frage gestellt. Wieder hatten einige Hundert bewaffneter Waldenser aus der Schweiz und der Pfalz, indoktriniert von 65

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Aarau, 1./11.-6./16. November 1687, in: EA (Anm. 11), S. 209 f., sowie KlEFNER (Anm. 1), 11, S. 200. Bremen hatte 1 355 Reichstaler gesammelt, die Niederlande die Summe von 233 000 Gulden. 66

V g l . BARBATTI ( A n m . 2 4 ) , S. 111.

67

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Aarau, 13./23.-16./26. Februar 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 214 f. Ein Vorschlag der Niederlande, Waldenser in ihren Kolonien anzusiedeln wurde diesen gar nicht erst vorgetragen, KlEFNER (Anm. 1), II, S. 205. 68

69

V g l . KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 2 0 2 - 2 0 4 , 2 2 6 .

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Aarau, 30.-31. März/910. April 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 216 f. Die Finanzhilfe der Niederlande an die Schweiz wurde zudem in die Pfalz umgelenkt, vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 227.

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Henri Arnaud, militärisch angeführt von Josue Javanel und heimlich unterstützt von den Niederlanden, versucht, sich durch das Wallis in ihre Täler durchzuschlagen, und erst im letzten Augenblick waren sie von Walliser und Bemer Truppenaufgeboten abgefangen worden 70 . Dieser zweite Versuch rief Proteste sowohl von Seiten des Herzogs, der die Rückkehr sogleich per Edikt unter die Todesstrafe stellte 71 , als auch von Seiten des katholischen Wallis hervor, das mit Savoyen verbündet war, und führte zu erheblicher Aufregung. Die Berner, denen die entrüsteten katholischen Orte Nachlässigkeit und Passivität vorwarfen, redeten sich mit Unwissen heraus. Herzog Viktor Amadeus, der vorerst gerne einen eidgenössischen Bürgerkrieg gesehen hätte, lenkte schließlich ein, und alsbald glätteten sich die Wogen 72 . Doch für die evangelische Schweiz waren die Asylanten nun zu höchst unbequemen Gästen geworden. Die im Juli 1688 in Baden versammelten evangelischen Politiker stellten ernüchtert fest, dass „deren beförderliche Entfernung wegen der Widersezlichkeit, des Undanks und des Müssiggangs derselben und wegen des tollkühnen Versuches von Individuen, von Aigle aus gewaltsam durch Wallis wieder in ihre Thäler einzudringen, allgemein sehr gewünscht wurde", und beschlossen, dass die Renitenten ohne Gnade über Basel nach Brandenburg abgeschoben werden sollten 73 . Die energisch vorangetriebene Abschiebung konnte bis zum September 1688 weitgehend abgeschlossen werden - sogar die verhinderten Rückkehrer, die sich vorerst am Bielersee verschanzt hatten, gaben auf 7 4 . Die Waldenser hatten sich anscheinend mit ihrem Schicksal abgefunden und verabschiedeten sich in offiziellen Dankesschreiben von ihren Gastgebern 75 . Selbst die katholischen Orte stellten im Herbst beruhigt fest, dass sich nur noch 120, meistens alte, kranke und schwache Piemontesen im Lande befänden 76 . Das Projekt, das die evangelische Schweiz zwei Jahre lang in Atem gehalten hatte, schien seinen glücklichen Abschluss gefunden zu haben.

70

Zu diesem zweiten Rückkehrversuch vgl. ebd., S. 231-241. Vgl. ebd., S. 240. 72 Vgl. ebd., S. 239, 241. 73 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Juli 1688, in: EA (Anm. 11), Vl/2, S. 224; dazu auch Charles EYNARD, Les adieux des Vaudois ä Bäle, juillet 1688, in: Bulletin de la Societe de l'histoire vaudoise 44 (1922). 74 Diese letzten Standhaften forderten, wie die französischen Flüchtlinge in der Schweiz bleiben zu dürfen, da ihnen dies beim Verlassen von Savoyen versprochen worden sei, vgl. Tagsatzung der evangelischen Städte, Langenthal, 22.-24. Juli/1.-3. August 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 225 f. 75 Vgl. KLEFNER (Anm. Zu den Dankesschreiben vgl. ebd., f.; der Dankesbrief der Waldenser in Zürich abgedr. bei BARBATTI (Anm. 76 Vgl. Tagsatzug der Orte Luzern, Uri und Schwyz, Weggis, 13./23. September 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 230. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 270, gibt für den Sommer 1688 folgende Anwesenheitszahlen: Pfalz 779, Württemberg 900, Brandenburg 862. Schaffhausen ca. 240, Genf 129, Neuenburg 39, Bern 44, Zürich 96, Basel und St. Gallen 8. 71

1), II, S. 251-253.

S. 248 24), S. 114-116.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) VII. Zurück in die Schweiz - Herbst 1688

Das Geschehen auf dem europäischen Kriegsschauplatz machte das mühsam Erreichte freilich mit einem Schlag zunichte. Im September 1688 - kaum hatten die letzten Flüchtlinge die Schweiz verlassen - fielen französische Truppen in die Pfalz ein 77 , worauf die Waldenser ihre kaum bezogenenen Heimstätten fluchtartig verließen und wieder an die Schweizergrenze zogen. Der Herzog von Württemberg verschärfte das Problem, indem er angesichts der Bedrohung durch die Franzosen seinen Aufhahmebeschluss widerrief. Anfang Oktober standen 1 500 Personen vor Schaffhausen und baten um Einlass 78 . Die Schweizer verhielten sich abweisend und gaben sich unzugänglich. Man habe für dieses eigensinnige Völklein genug getan, ließ Zürich die Schaffhauser wissen, und schloss seine Grenzen 79 . Die Waldenser würden nicht mehr aufgenommen, entschieden auch die evangelischen Abgeordneten im Oktober in Baden lapidar, nun müssten auch die in der Schweiz verbliebenen Talleute, mit Ausnahme der alten und kranken, aus dem Land 80 . Die Flüchtlinge bei Schaffhausen seien mit Geld auszustatten und nach Brandenburg zu weisen. Der unbarmherzige und politisch unhaltbare Beschluss wurde jedoch rasch revidiert. Das Elend der Flüchtlingsfamilien, die im anbrechenden Winter rund um Schaffhausen in den Wäldern hausten und sich von Wurzeln und wildem Obst ernährten, war unerträglich 81 . Die evangelischen Orte nahmen sie wieder zur Überwinterung auf 8 2 - nicht ohne die katholischen Orte zu beschwichtigen, die bereits neue Gefahren für Herzog Viktor Amadeus heraufziehen sahen 83 . Aber im Frühjahr 1689 wiederholte sich das Kräftemessen, das schon zwei Jahre zuvor stattgefunden hatte. Angetrieben von Henri Arnaud, weigerten sich die Rückkehrer aus der Pfalz und aus Württemberg, nach Brandenburg auszuwandern 84 . Und die Niederlande ersuchten die evangelischen Orte am 2. März 77

Zum Pfälzischen Erbfolgekrieg vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 271. Gemäß UZLER (Anm. 24), S. 58: 1 587 Personen, davon 209 Kinder unter zehn Jahren. 79 Am 17./27. Oktober 1688 wurde ihnen mitgeteilt, sie sollen abreisen, denn sie hätten ihr Unglück selbst verschuldet. Sollten sie nicht weiterziehen, verlören sie die Unterstützung der Schweiz, und man überließe sie ihrem Verderben. Vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 275. 80 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte, der Städte St. Gallen und Biel, 30. September/10. Oktober-6./16. November 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 240-243. 81 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte, der Städte St. Gallen und Biel, Baden, 30. September/10. Oktober-6./16. November 1688, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 241; und UZLER (Anm. 24), S. 58 f. 82 Anfang November 1688 wurden 1680 Waldenser auf die fünf evangelischen Städte verteilt. Viele von ihnen zogen allerdings ins benachbarte Graubünden weiter, vgl. KIEFNER (Anm. 1), II, S. 276 f., 282. 83 Vgl. Eidgenössische Tagsatzung, Baden, 30. September/10. Oktober-6./16. November 168, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 238. 84 Kurfürst Friedrich III. hatte im November zuvor versprochen, die aus der Kurpfalz und aus dem Herzogtum Württemberg Vertriebenen aufzunehmen, vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 283. 78

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offiziell, die Talleute im Lande behalten, bis ihnen in England, Schottland oder Irland eine Bleibe geschaffen werden könne; sie versicherten auch, deren Unterhalt in der Schweiz zu finanzieren85. Der Aufschub wurde gewährt, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Pfarrer Antonius Klingler, dem neuen starken Mann in Zürich 86 . Allein, schon die unrealistische Idee der Aussiedlung auf die britischen Inseln hätte eigentlich stutzig machen müssen. Die Verzögerung durch die Niederlande gehörte bereits ins strategische Konzept der Alliierten England, die Niederlande, Deutschland, Spanien und Schweden waren ab Mai 1689 in der „Großen Wiener Allianz" vereinigt - im Kampf gegen Frankreich.

VIII. La Glorieuse Rentree - Sommer 1689 Einige der evangelischen Orte begannen zwar im April 1689 mit Zwangsausschaffungen nach Brandenburg und auch ins Herzogtum Württemberg, das sich bereit erklärt hatte, provisorisch Waldenser aufzunehmen - doch der Erfolg blieb bescheiden. 300 bis 400 Waldenser entwichen nach Graubünden, und noch Hunderte verblieben in Neuenburg, in der bernischen Waadt und Genf* 7 . In der Zwischenzeit reifte im verschworenen Kreise um die fuhrenden Waldenser Arnaud und Josue Janavel, mit Hilfe des niederländischen und des englischen Gesandten, ein groß angelegter Rückkehrplan heran. In der Schweiz liefen Gerüchte um, man hatte Ahnungen und Befürchtungen, und die Verantwortlichen versuchten, einem solchen Vorhaben mehr oder weniger ernsthaft entgegenzuwirken. Schaffhausen wies Arnaud im April unter Androhung der Todesstrafe aus der Stadt, Graf Govone ließ diesem nachstellen, um ihn auszuschalten, und Bern versuchte mit erhöhter Wachsamkeit einen Zusammenzug am Genfersee zu verhindern. Dennoch gelang das Unternehmen, das als Glorieuse Rentree in die Geschichtsschreibung eingehen sollte 88 . Die knapp tausend gut ausgerüsteten Waldenser sammelten sich im August 1689 unter den Augen und unter Zutun der bernisch-waadtländischen Bevölkerung bei Prangins, setzten über den See 8 9 und kämpften sich durch Savoyen in ihre Täler durch. Dem gelungenen Handstreich folgte das heftige politische Nachspiel in der Schweiz. Die evangelischen Orte gerieten unter scharfen Beschuss ihrer Widersacher. Dem Anwurf der katholischen Miteidgenossen, den Neutralitäts85

Vgl. ebd., S. 2 8 4 f. Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Städte St. Gallen und Biel, Baden, 7./17. M ä r z - 2 9 . März/8. April 1689, in: EA ( A n m . 11), VI/2, S. 2 6 6 f. Über Antonius Klingler, den Leiter der Zürcher Kirche, vgl. BÄCHTOLD ( A n m . 10), S. 48, A n m . 73, und S. 5 0 - 5 2 . 87 V g l . KlEFNER ( A n m . I) II, S. 2 8 5 , 2 8 7 , 2 8 9 f. 88 V g l . dazu die Beiträge in: DalFEuropa alle Valli Valdesi. Atti del c o n v e g n o „II Glorioso Rimpatrio", 1 6 8 9 - 1 9 8 9 , hrsg. von Albert de Lange, Turin 1990. 89 V g l . KlEFNER ( A n m . 1), II, S. 2 9 6 - 2 9 8 , 308. 86

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bruch wissentlich verschuldet zu haben, konnten die Evangelischen nicht viel entgegenhalten. Sie suchten dagegen in langen historischen Exkursen über die menschenverachtetende Behandlung der Waldenser Verständnis zu wecken. Der französische Gesandte beanstandete, dass sich unter den Rückkehrern sogar französische Hugenotten befänden - was die Evangelischen selbstverständlich weder bestätigen noch bestreiten konnten; er wusste außerdem, dass die Truppe mit dem Prinzen von Oranien in Verbindung stand und von Gabriel Convenant, dem niederländischen Gesandten in Zürich, ausgerüstet und finanziert worden war 90 . Die geglückte Rückkehr der Waldenser provozierte damit eine weitere innere Krise und rückte die Schweiz gleichzeitig in den Fokus der europäischen Politik. Dass die Berner anschließend den unglücklichen Hauptmann Bourgeois hinrichten ließen, der mit einer wilden Schar Bewaffneter Arnaud hatte nachziehen wollen, war wohl kaum mehr als eine unnötige Demonstration ihres Vollzugseifers91. Denn bereits in dieser Zeit zeichnete sich die Wende in der savoyischen Außenpolitik ab und bot den Waldensern völlig neue Perspektiven. Im Frühjahr 1690 wandte sich Herzog Viktor Amadeus II. von Frankreich ab und näherte sich der von Wilhelm von Oranien (seit 1689 König Wilhelm III. von England) angeführten Allianz. Die vertriebenen Waldenser wurden unversehens zur willkommenen Verstärkung im Krieg Savoyens und der Alliierten gegen Frankreich; dadurch bot sich ihnen die Gelegenheit, wieder Heimrecht in ihren Tälern zu erhalten. Auch der zuvor vom englischen Gesandten Coxe organisierte Hilfszug für Arnaud (das sog. Lindauer Projekt), bestehend aus Waldensern und Hugenotten, verwandelte sich nun in ein Unterstützungskorps für den Herzog92. Bereits im Mai 1690 lud Herzog Viktor Amadeus die Waldenser und die Hugenotten zur Rückkehr nach Savoyen ein, ließ die Gefangenen frei und stellte Pässe für die Vertriebenen aus, und auf sein Bitten hin ließ der Kurfürst von Brandenburg seine Waldenser wieder ausreisen93. Er bewarb sich zudem bei den evangelischen Orten der Schweiz um ein Bündnis und stellte dafür die Religionsfreiheit für Waldenser und andere Protestanten in seinem Territorium in Aussicht - ein Anerbieten, das von den Niederlanden wärm90

Vgl. Außerordentliche eidgenössische Tagsatzung, Baden, 1./11-7./17. Sept. 1689, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 296-298,302 (Tagsatzung der evangelischen Orte, St. Gallens und Biels). 91 Zum Plünderungszug dieser aus Neuenburgern, Waadtländern, Franzosen und Waldensern bestehenden Truppe vgl. Eduard BÄHLER, Der Freischarenzug nach Savoyen vom September 1689 und sein Anführer Jean Jacques Bourgeois von Neuenburg, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 42 (1917), S. 1-86. 92 Vgl. Christopher STORRS, Der politische Kontext der Vertreibung der französischen Protestanten aus dem Piemont (1698), in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser (Anm. 10), S. 15. Auch Convenant hatte bereits im September einen Hilfszug für Arnaud geplant, vgl. KiEFNER (Anm. 1), II, S. 371. 93

Vgl. ebd., S. 376, 382 f.

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stens zur Annahme empfohlen wurde 94 . Euphorisch schrieb Arnaud im Juli aus dem Piemont nach Zürich: „Ich ermahne und bitte alle Flüchtigen und die anderen, die den Fortschritt des Reiches des Sohnes Gottes lieben, sich uns anzuschließen [...], die Zeit ist gekommen, das Heilige Zion wieder aufzubauen" 95 . Etwas später berichtete er vor der Tagsatzung in Baden - er war im Auftrag des Herzogs auf Werbereise in die Niederlande 96 - , dass in den Tälern eine „kleine Republik" heranwachse, so dass Hoffnung auf Fortpflanzung des alten Glaubens bestehe 97 . Die neue savoyische Politik hatte eine kräftige Reisewelle ausgelöst. Waldenser und Hugenotten aus der Pfalz, aus Brandenburg und Württemberg gesellten sich nun zu den Pionieren der Glorieuse Rentree, die sich in den Alpentälern den Winter über hatten behaupten können. Die Sache der Waldenser schien sich zum Guten zu wenden. Doch die Schweiz sah sich erneut einem Ansturm von Norden her ausgesetzt. In Schaffhausen sammelten sich im Oktober 1690 etwa 700 Heimkehrer, die verpflegt und beherbergt werden wollten. Der Lebensmittelboykott des Kaisers gegen die Schweiz, die als Söldnerlieferantin für Frankreich zur Partei geworden war 98 , erschwerte die Versorgung beträchtlich. Doch glücklicherweise blieb ihr die Durchreise der Rückkehrer weitgehend erspart; denn nach der Besetzung Savoyens durch Frankreich im Herbst war der Weg über den Genfersee verriegelt, so dass die Zuzüger Uber die Bündner Pässe ins Piemont gelenkt werden mussten 99 . Die Lebensbedingungen in den kriegsversehrten Tälern waren für die heimkehrenden Familien äußerst beschwerlich - vergeblich waren die deutschen Fürsten gebeten worden, Frauen und Kinder zurückzuhalten - , und die Reintegration in den folgenden Jahren gelang nur unter widrigen Umständen und nur mit Hilfe der Schutzmächte. Insbesondere die Niederlande und die evangelische Schweiz, die noch immer Waldenser beherbergte 100 , unterstützten in der Folge die Gemeinden in den Tälern regelmäßig mit Kollektengeldern. Der Wiederaufbau der Kirche schritt rasch voran, obschon der Herzog den Reformierten in seinem Herrschaftsgebiet die Religionsfreiheit formell erst im Mai 1694 gewährte 101 . 94

Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, Aarau, 10./20. Juli 1690, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 351; und KlEFNER (Anm. 1), II, S. 392 f. Auch ein Bündnis Englands mit den evangelischen Orten stand im Juli 1690 bis April 1691 zur Debatte; vgl. EA (Anm. 11), VI/2, S. 351,358 f., 380-382, 403. 95 Vgl. Henri Arnaud an Joseph Auguste du Cros, 5. Juli 1690, Barbatti (Anm. 24), S. 122. 96

97

V g l . K l E F N E R ( A n m . 1), II, S . 3 9 1 f.

Arnaud sprach von etwa 1 000 Mann, die 10 Kirchen benutzten, vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und Stadt St. Gallen, 17./27. September 1690, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 365 f. 98 Zu dieser fatalen Verknüpfung vgl. UZLER (Anm. 24), S. 94-96. 99 Barbatti (Anm. 24), S. 122; U Z L E R (Anm. 24), S. 62; K l E F N E R (Anm. 1), II, S. 387. 100 Vor allem Angehörige von Rückkehrern, zumeist Frauen und Kinder, die in der Schweiz geblieben waren, vgl. KlEFNER (Anm. 1), II, S. 399-402. 101 Vgl. ebd., S. 407,409.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) IX. In die Schweiz zurück - Herbst 1698

Das Glück erwies sich als trügerisch; denn Viktor Amadeus II. wechselte die politisch-militärische Front ebenso abrupt, wie er dies einige Jahre zuvor getan hatte. Als erster scherte er im Jahre 1696 aus der „Wiener Allianz" aus und einigte sich mit Ludwig XIV. 1 0 2 . Er erhielt von diesem seine Gebiete zurück - unter der Bedingung, dass er alle Franzosen aus seinem Herzogtum ausweise. Unter dem Druck Frankreichs erließ er schließlich im Juli 1698 kurz nach dem Friedensschluss von Rijswijk, der den Pfälzischen Erbfolgekrieg beendete - das Ausweisungsedikt 103 . Nachdem sich erste Gruppen von Hugenotten und französischstämmigen Waldensern, die ζ. T. seit Jahrzehnten in den Tälern ansässig gewesen waren, schon mit den alliierten Truppen aus dem Piemont zurückgezogen hatten, löste der herzogliche Erlass 1698 den letzten großen Exodus aus. Die evangelische Schweiz, gleichsam in die Situation von 1686/87 zurückversetzt, gab sich trotz der außerordentlichen Belastung weiterhin solidarisch mit ihren Glaubensverwandten. Wie damals schon, sahen die evangelischen Politiker vor, die im September erwarteten 3 000 Personen kurz zu versorgen und dann, ohne längere Beherbergung, nach Württemberg weiterzuleiten 104 . Und wie damals schon mussten sie diesen Beschluss kurze Zeit später revidieren; denn angesichts des erbärmlichen Zustandes der Flüchtlinge befürchteten sie, „diese Unglüklichen möchten durch möglichst schnelle Abschiebung bei dieser Jahreszeit den Beschwerden erliegen und das bisherige Liebeswerk für diese Glaubensgenossen beflekt werden". Auf Arnauds Ersuchen hin gewährten sie den Flüchtlingen das Winterquartier und legten den Abreisetermin „unwiderruflich" - auf Ende März 1699 fest 105 .

X. Für immer nach Deutschland - Frühjahr 1699 Im Gegensatz zur Fluchtwelle von 1686/87 erwies sich die Suche nach Ansiedlungsorten diesmal schwieriger, denn die deutschen Fürsten waren nicht mehr gleichermaßen aufnahmebereit und stellten strengere Bedingungen. Anderseits waren die Flüchtlinge nun bereit - wohl im Wissen darum, dass sie ihre letzte Wanderung angetreten hatten - , in Deutschland zu siedeln. Bereits im Dezember 1698 hatten Henri Arnaud und Jacques Papon in Würt-

102

Über die Gründe und den Verlauf vgl. STORRS (Anm. 92), S. 13-36. Vgl. KlEFNER (Anm. 1), III, S. 35 f. 104 V g i Tagsatzung der evangelischen Städte, Aarau, 26. August/5. September 1698, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 736 f. 105 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Städte, Aarau, I6./26. September 1698, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 738 f. 103

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temberg die Zusage zur Einwanderung erwirkt 1 0 6 , und auch die Schutzmächte förderten nun, anders als früher, den Weiterzug der Flüchtlinge. Die Niederlande ernannten ihren in Zürich residierenden Gesandten Pieter Valkenier 1 0 7 zum Flüchtlingskommissar, der zu Beginn des Jahres 1699 mit den deutschen Fürsten Aufnahmebedingungen aushandelte und die Ansiedlung im Reich koordinierte 1 0 8 . Im Januar 1699 wurde die Ausreise nach Württemberg plangemäß ins Werk gesetzt: Die Flüchtlinge sollten in Kontingenten über Schafifhausen nach Tuttlingen gefuhrt werden, wo ihnen der Kommissar das Reisegeld auszuteilen hatte „und sie dann der Vorsehung Gottes und der Mildherzigkeit der Menschen überläßt" 1 0 9 . Die Tagsatzung fasste überdies die Ausreise über Basel nach Hessen-Darmstadt ins Auge, da Papon auch mit dem Landgrafen einen Aufnahmeplan ausgehandelt hatte 1 1 0 . Am 2. Juni 1699 verließen die letzten 200 der nahezu 3 000 piemontesischen Flüchtlinge, jene aus Bern, die Schweiz rheinabwärts 1 1 '. Damit konnte die evangelische Schweiz das Projekt Waldenserhilfe endgültig abschließen. Sie hatte die karitative Pflicht, die ihr mit der Reformation zugefallen war, über alle Unwägbarkeiten hinweg erfüllt, und es war ihr sogar gelungen, bis zum Schluss den innen- und außenpolitischen Konsens zu erhalten. Die Ansiedlungsaufgaben lagen fortan ganz in den Händen der evangelischen Fürsten im Deutschen Reich 1 1 2 . In Brandenburg, in Hessen, in der Pfalz, im Herzogtum Württemberg und in der Markgrafschaft Baden-Durlach erhielten die Waldenser in den folgenden Jahren und Jahrzehnten Siedlungsgebiete und gründeten ζ. T. eigene Dörfer (Ortsnamen wie Pinache, Perouse oder Serres in Württemberg erinnern noch heute an die bewegten Jahre dieser Kolonisation). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Waldenserkolonien in die Landeskirchen integriert und verloren ihren spezifisch reformierten Status weitgehend 1 1 3 . 106 v g l . Tagsatzung der evangelischen Orte und Biel, Baden, Dezember 1698, EA (Anm. 11), VI/2, S. 762; KlEFNER (Anm. 1), III, S. 64-66. 1 0 7 Vgl. neuestens Albert de LANGE, Pieter Valkenier. Ein Überblick über sein Leben und Werk, in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser (Anm. 10), S. 61-108. 1 0 8 Vgl. Barbara DÖLEMEYER, Privileg oder Vertrag? Valkeniers Verhandlungen mit den deutschen Fürsten, in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser (Anm. 10), S. 159-174; auch KlEFNER (Anm. 1), III, S. 70-74. 1 0 9 Vgl. Tagsatzung der evangelischen Orte und St. Gallen., Aarau, 9./19.-15./25. Januar 99, in: EA (Anm. 11), VI/2, S. 763 f. 1 1 0 Jacques Papon d. J. hatte im November 1698 mit dem Landgrafen einen Aufnahmeplan ausgehandelt, vgl. KlEFNER (Anm. 1), III, S. 66 f. 1 1 1 Vgl. ebd., S. 75-82. 1 1 2 Zur Ansiedlung in Deutschland vgl. Theo KlEFNER, Die Privilegien der nach Deutschland gekommenen Waldenser, 2 Teile, Stuttgart 1990; Hermann EHMER, Die verfassungsrechtlichen Probleme der Aufnahme der reformierten Waldenser im lutherischen Württemberg, in: Pieter Valkenier und das Schicksal der Waldenser (Anm. 10), S. 201-214. 1 1 3 Vgl. dazu Dreihundert Jahre Waldenser in Deutschland. Herkunft und Geschichte. Mit

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Die Flüchtlinge, die sich nach der Glorieuse Rentree wieder in den Cottischen Alpen niedergelassen hatten, überdauerten die Jahrhunderte in kirchlicher Selbständigkeit, erlangten 1848 die bürgerlichen Freiheiten und bilden heute zusammen mit den Baptisten, den Lutheranern, den Methodisten und der Heilsarmee den Bund der protestantischen Kirchen Italiens. Mehr als die französischen Hugenotten, waren die Waldenser, welche die Schweiz zwischen 1686 und 1698 mehrmals durchquerten, für die evangelischen Orte zur politischen und wirtschaftlichen Herausforderung geworden. Dennoch hinterließ das verfolgte und umgetriebene Völklein - im Gegensatz zu den französischen Protestanten, die der Schweizer Wirtschaft zum Ende des 17. Jahrhunderts starke Impulse vermittelten - in der Schweiz keine Spuren 114 .

Summary As a result of the revocation of the Edict of Nantes, some 3 000 Waldensians (a group of Protestant descendants of a dissident movement in the Middle Ages who had remained in the Piedmont Valleys) were expelled from the Duchy of Savoy in the spring of 1687. They found temporary refuge in the Protestant area of Switzerland, but, as stipulated, they were to be resettled in Brandenburg. However, their resistance to moving farther - as well as their increasing importance in the strategy of the allies (England, the Netherlands and others) in the war against France-Savoy - delayed the execution of the resettlement plans. Within this context, Protestant Switzerland encountered strong economic and political pressure because it still accommodated thousands of Huguenots, and it constantly had to defend its asylum policy against fellow Catholic Swiss, as well as against France. The situation came to a head in the summer of 1689 when a large group of Waldensians were returned by armed force from Switzerland to their native valleys (La Glorieuse Rentree). Savoy's about-face when it joined the anti-French alliance aided the refugees' return migration and seemed to resolve the problem of asylum seekers for Switzerland. However, toward the end of the war in 1698 the duke's restriction on the generous religious freedom he had originally granted triggered a new wave of asylum seekers that tested (for the last time) the confessional solidarity of the Protestant Swiss. It was not long before all the refugees could be passed along to Germany, where they were absorbed into Brandenburg, Hesse, and Württemberg. einem Führer durch die deutschen Waldenserorte, hrsg. von Albert de Lange, 2. Aufl. Karlsruhe 1999. 114 BODMER (Anm. 52), S. 118-144 für die Hugenotten und S. 144 f. für die Waldenser.

Politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich in der Schweiz Von

Carsten Goehrke „Außer in der Schweiz hätte ich mich in keinem anderen Land Europas, ja nicht einmal in England, naturalisieren lassen", notierte in seinem Lebensrückblick der berühmte russische Publizist und Freigeist Alexander Herzen (1812-1870), der auf der Flucht vor dem langen Arm der Polizei seines Heimatlandes 1851 sich in das Schweizer Bürgerrecht einkaufte. „Es widerstrebte mir, freiwillig die Untertanenschaft eines Landes auf mich zu nehmen. Ich wollte doch nicht einen schlechten Herrn gegen einen guten eintauschen, sondern aus dem Zustand der Leibeigenschaft heraus, zu einem freien Ackerbauern werden. Für das gab es nur zwei Länder: Amerika und die Schweiz". Die Vereinigten Staaten lagen viel zu weit vom europäischen Wirkungsfeld seiner publizistischen Intentionen entfernt. Also kam als Zufluchtsort nur die Schweiz in Frage. Allerdings hatte er im Jahr zuvor noch einen unangenehmen Zusammenstoß mit der sturen Zürcher Fremdenpolizei gehabt, die für seinen Sohn Kolja, welcher die Taubstummenschule in Zürich besuchte, einen eigenen Pass oder eine Kaution von 800 Schweizerfranken verlangt hatte, andernfalls die Ausweisung drohe. Auch später versetzte der Umgang der Schweizer Bürokratie mit Ausländem Herzen immer wieder in helle Empörung, so dass er selber eher selten in seiner neuen Heimat weilte und den Schweizer Pass lediglich dazu benutzte, um im Ausland von der zaristischen Polizei nicht behelligt zu werden. Dass politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich sich in der Schweiz einbürgern ließen, war allerdings eher selten 1 . Dies brauchte es auch nicht unbedingt, denn wer in der Schweiz als Ausländer mit einer bloßen Aufenthaltsbewilligung lebte, konnte sich vor der Verfolgung durch die russische politische Polizei sicher fühlen. Im Folgenden wird danach zu fragen sein, wie die Eidgenossenschaft zu dieser Rolle als Zufluchtsort für politisch Verfolgte gekommen ist, wo diese Rolle ihre Grenzen fand, wie sich die Zusammensetzung der politischen Flüchtlinge im Lauf der Zeit verändert hat und wie der Stellenwert der

1 Zu den bekanntesten Beispielen zählte einer der Führer des menschewistischen Flügels der russländischen Sozialdemokratie, Pawel Axelrod (1850-1928), der sich 1881 in Zürich niederließ und 1899 das dortige Bürgerrecht erwarb.

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Schweiz für die politische Emigration aus dem Zarenreich im internationalen Vergleich einzuschätzen ist 2 .

I. Russland und die Schweiz im Kraftfeld der europäischen Politik von 1815 bis zum Ersten Weltkrieg Dass die Schweiz als Aufenthaltsort auf politische Emigranten eine wachsende Sogwirkung ausübte, geht auf zwei Ursachen zurück: zum einen auf den Umgang mit Ausländern, die auf ihrem Boden Wohnsitz genommen hatten, zum anderen auf den Umgang der anderen europäischen Staaten mit politisch Andersdenkenden. Die Schweiz war 1815 auf dem Wiener Kongress bewusst als ein Staatenbund „regeneriert" worden, dessen schwach ausgebildete Zentralinstanzen Gewähr dafür zu bieten schienen, dass von seiner republikanischen Verfassung den europäischen Monarchien keine Gefahr drohte. Dafür wurde das Land mit einer internationalen Garantie seiner „immerwährenden Neutralität" entschädigt. Zar Alexander I. - von einem Schweizer erzogen - war an dieser Konstruktion wesentlich mitbeteiligt 3 . „Ihre geografische Lage und Neutralität machten die Schweiz zu einem idealen Standort zarischer diplomatischer Präsenz in Westeuropa. Während die direkten Beziehungen zu den verschiedenen Regierungen im Konfliktfall sowohl als Kommunikationsorgane wie als Informationsquellen auszufallen drohten, fungierte die Gesandtschaft in Bern als krisenresistenter Beobachtungsposten" 4 . Von dort ließen sich auch unauffällig die benachbarten Länder ausspionieren 5 . Dass Russland anders als Frankreich, das Habsburgerreich und später auch Italien und das Deutsche Kaiserreich mit der Schweiz keine gemeinsamen Grenzen teilte, setzte es in geringerem Maße unmittelbaren bilateralen Interessenkonflikten aus und

2

Einen gedrängten Gesamtüberblick über Entwicklung und politische Rahmenbedingungen des Aufenthaltes russischer Revolutionäre in der Schweiz seit dem späten 19. Jahrhundert bietet: Alfred Erich SENN, Les revolutionnaires russes et l'asile politique en Suisse avant 1917, in: Cahiers du monde russe et sovietique 9 (1968), S. 324-336. Auswahlbibliographie zur slawischen Emigration in der Schweiz, in: Asyl und Aufenthalt. Die Schweiz als Zuflucht und Wirkungsstätte von Slaven im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Monika Bankowski [u. a.], Basel/Frankfurt a. M. 1994, S. 337-453. 3 Werner G. ZIMMERMANN, Die schweizerisch-russischen Beziehungen 1815-1918, in: Schweiz - Russland: Beziehungen und Begegnungen [Rossija - Svejcarija], Zürich 1989, S. 154-175, hier: S. 154-157. "Peter COLLMER, Die Schweiz und das Russische Reich 1848-1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung, Zürich 2004, S. 123. 5 Am Beispiel der von Bern aus (allerdings recht stümperhaft) betriebenen Militärspionage: Peter COLLMER, Kommunikation an der Peripherie des Herrschaftsapparats. Der russische Militärattache in Bern und seine Geheimagenten (1912/13), in: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, hrsg. von Nada Boäkovska [u. a.], Köln [u. a.] 2002, S. 173-199.

Goehrke, Politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich

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prädestinierte es dazu, in Konflikten zwischen der Eidgenossenschaft und ihren Nachbarstaaten zu vermitteln 6 . Allerdings entwickelte sich die Schweiz nach 1815 und insbesondere im Gefolge der französischen Revolution von 1830 anders, als es die in der „Heiligen Allianz" zusammengeschlossenen reaktionären Mächte erwartet hatten. „Mit dem wachsenden Nationalbewusstsein, das immer stärker das Fehlen gesamtschweizerischer Behörden fühlbar machte" 7 , setzte ein innenpolitischer Emanzipationsprozess ein, der nach 1830 darin gipfelte, dass in der Mehrheit der Kantone die freiheitlich gesinnten Liberalen an die Macht kamen, und dass die Entwicklung schließlich auf einen militärischen Konflikt zwischen katholisch-konservativen und protestantisch-liberalen Kantonen hintrieb („Sonderbundskrieg" von 1847), aus welchem der neu formierte „Bundesstaat" von 1848 mit deutlich gestärkter Staatsspitze hervorging 8 . Wenn die Großmächte, insbesondere das Habsburgerreich nicht gegen diese neue Ordnung der Dinge intervenierten, so lag dies einerseits daran, dass sie im Revolutionsjahr 1848 vollauf damit beschäftigt waren, das revolutionäre Feuer in den eigenen Ländern zu löschen, aber auch daran, dass Russland sich damit begnügte, die diplomatischen Beziehungen zur Schweiz abzubrechen, 1855 aber wieder zum courant normal zurückkehrte 9 . Dass in den liberalen Kreisen der Schweiz alle diejenigen, die im Ausland für ihre nationale oder politische Freiheit kämpften, als Gleichgesinnte betrachtet wurden und Sympathie und Unterstützung fanden, zeigte sich schon anlässlich des griechischen Aufstandes von 1821-1829 gegen die Osmanen 10 . Nach 1830 wurde die Schweiz dann vollends zum Zufluchtshafen für alle Freiheitskämpfer, die sich vor der Repression der reaktionären Staaten in Sicherheit bringen mussten: vor allem italienische Patrioten und Revolutionäre, deutsche Liberale, ferner - nach den gescheiterten Aufständen von 1830/31 und 1863/64 gegen die Herrschaft des Zaren - Polen 11 . Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich jedoch das Erscheinungsbild derer, die in der Schweiz Schutz suchten, zu wandeln. In den Vordergrund traten nun mehr und mehr Angehörige der politischen Opposition, die 6

ZIMMERMANN (Anm. 3), S. 159-169; COLLMER (Anm. 4), S. 291-302. Geschichte der Schweiz - und der Schweizer, red. von Beatrix Mesmer, Basel 1983, Bd. 2, S. 259. 8 Ebd., S. 243-280, Bd. 3, S. 10-16. 9 COLLMER (Anm. 4), S. 185-210. 10 Der Aufstand löste in der Schweiz eine Welle regelrechter Griechenbegeisterung aus. 1823 wurden 160 Auslandgriechen, die über die Schweiz dem Kriegsschauplatz zustrebten, aufgenommen und beköstigt, vgl. Robert DÜNKI, Der Zug griechischer Flüchtlinge durch die Schweiz im Jahr 1823, in: Zwischen Adria und Jenissei. Reisen in die Vergangenheit. Werner G. Zimmermann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Nada Boäkovska [u. a.], Zürich 1995, S. 169-192. 11 Marc VUILLEUMIER, Flüchtlinge und Immigranten in der Schweiz. Ein historischer Überblick, Zürich 1989, bes. S. 20 f. 7

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das heimische Regime aus dem Untergrund heraus mit revolutionären Mitteln bekämpften. Für diese Art von politischen Flüchtlingen - utopische Sozialisten, Anarchisten, Sozialrevolutionäre, Marxisten, Pariser Kommunarden von 1871 - hegte man hierzulande nur sehr begrenzt Sympathien, weil man befurchten musste, dass ihre Ideen auch in der sich allmählich verbürgerlichenden Schweiz Anhänger finden könnten 12 . Außerdem sorgte die Tatsache, dass die Flüchtlinge von Schweizer Boden aus ihren politischen Kampf im heimischen Untergrund weiter führten, immer wieder für ausländische Druckversuche auf die Eidgenossenschaft, die inkriminierten Oppositionellen und Revolutionäre auszuliefern oder zumindest auszuweisen. Obgleich die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland von diesen Problemen am stärksten belastet waren, hielt Russland sich weiterhin mit Repressalien gegen die Eidgenossenschaft zurück und unterstützte auch nicht Bismarcks Drohungen, mit denen er 1888 die Ausweisung der Redaktion der Wochenzeitung Sozialdemokrat. Organ der deutschen Sozialdemokratie erzwang, welche nach Erlass des „Sozialistengesetzes" in Deutschland seit 1879 von der Schweiz aus operiert hatte13. Dieses Beispiel zeigt, in welchem internationalen Minenfeld sich die Bemühungen der Eidgenossenschaft bewegten, die eigene Souveränität, die eigenen Werte und damit auch den Schutz der auf ihrem Territorium lebenden Ausländer zu verteidigen. Dass dies meistens gelang und man offene militärische Interventionen verhindern konnte, war das Ergebnis mehrerer einander verstärkender Umstände: Der gefestigte Bundesstaat von 1848 stellte seine internationale Handlungsfähigkeit immer wieder unter Beweis. Er tat dies, indem er auf ausländische Druckversuche flexibel reagierte, ohne offen zu Kreuze zu kriechen; dadurch vermochte er den Pressionen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch durfte er fast immer auf ein gewisses Wohlwollen und die Kooperationsbereitschaft des mächtigen Zarenreiches zählen. Diese schließlich führten sich nicht nur darauf zurück, dass die traditionellen und vielschichtigen Beziehungen zwischen beiden Ländern14 eine 12 VUILLEUMIER (Anm. 11), bes. S. 40 f.; am Beispiel russischer und italienischer Anarchisten in der Schweiz: Iris HUTTER und Stefan GROB, Die Schweiz und die anarchistische Bewegung, dargestellt am Wirken und Leben von Michael Bakunin, Sergei Netschajew und Errico Malatesta, in: „Zuflucht Schweiz". Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Carsten Goehrke und Werner G. Zimmermann, Zürich 1994, S. 81-119; am Beispiel der Pariser Kommunarden: Oliver THIELE, Communards von 1871 in der Schweiz, in: ebd., S. 65-79. 13 Daniel CUSINAY [u. a.], Deutsche Sozialdemokraten in der Schweiz nach dem Erlass des Sozialistengesetzes (1878-1890), in: ebd., S. 121-172. 14 Von russischer Seite genoss die Schweiz einen besonderen Ruf als Reiseland und Ort der Erholung (vgl. dazu: Fakten und Fabeln. Schweizerisch-slavische Reisebegegnung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Monika Bankowski [u. a.], Basel 1991; Landschaft und Lyrik. Die Schweiz in Gedichten der Slaven. Eine kommentierte Anthologie, hrsg. von Peter Brang, übersetzt von Christoph Ferber, Basel 1998), ferner seit 1867 als Studienland

Goehrke, Politische Flüchtlinge aus dem Zarenreich

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verlässliche Basis bildeten, sondern auch darauf, dass das idealisierte Schweizbild des 18. Jahrhunderts in Russland noch bis ins frühe 20. Jahrhundert nachwirkte 15 .

II. Spielregeln und Grenzen des Aufenthaltsrechts für Ausländer in der Schweiz Bevor das Verhängnis des Ersten Weltkriegs über Europa hereinbrach, herrschte im Reiseverkehr Freizügigkeit. Nur das Zarenreich verlangte für den Grenzübertritt einen Reisepass, um die Identität der Ein- und Ausreisenden kontrollieren zu können. Daher waren formelle Asylanträge für politische Flüchtlinge gar nicht nötig. Die kantonalen Behörden in der Schweiz verlangten von eingereisten Ausländern nur eine polizeiliche Anmeldung und erwarteten im Gegenzug, dass die Angemeldeten im Stande waren, für ihren Lebensunterhalt selber zu sorgen, nicht der schweizerischen Fürsorge zur Last zu fallen sowie ein unbescholtenes Leben zu führen. Infolgedessen lässt sich bei der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg zwischen Menschen, die aus beruflichen Gründen gekommen waren, solchen, die hier nur ihre Pension verzehren und solchen, die studieren wollten auf der einen und politischen Migranten auf der anderen Seite nicht ohne weiteres unterscheiden. Wo will man beispielsweise bei einem namhaften russischen Gelehrten wie Lew Metschnikow (1838-1888), der 1864 als Angehöriger der politischen Opposition in die Schweiz emigrierte, sich dort aber zunehmend der Wissenschaft zu widmen begann und von 1883 bis zu seinem Tode an der Neuenburger Akademie Geographie lehrte, zwischen politischer und beruflicher Migration trennen 16 ? insbesondere fur Frauen, die an den Hochschulen des Zarenreiches zum Studium erst 1913 zugelassen wurden (vgl. dazu: Daniela NEUMANN, Studentinnen aus dem Russischen Reich in der Schweiz [ 1 8 6 7 - 1 9 1 4 ] , Zürich 1987; Monika BANKOWSKI-ZÜLLIG, Russische Studierende in der Schweiz, in: Schweiz - Russland [Anm. 3], S. 7 2 - 8 8 ) . Schweizerischerseits gewann das Zarenreich zunehmend an Bedeutung als Einwanderungsland (vgl. dazu zusammenfassend: Carsten GOEHRKE, Die Auswanderung aus der Schweiz nach Russland und die Russlandschweizer: Eine vergleichende Forschungsbilanz, in: Schweizerische Zeitschrift fur Geschichte, 48 [1998], S. 2 9 1 - 3 2 4 ) , sowie als Handelspartner, Kapitalimporteur und Wirtschaftsstandort (vgl. dazu: Urs RAUBER, Schweizer Industrie in Russland: Ein Beitrag zur Geschichte der industriellen Emigration, des Kapitalexportes und des Handels der Schweiz mit dem Zarenreich [ 1 7 6 0 - 1 9 1 7 ] , Zürich 1985). 15 Die russische Entdeckung der Schweiz: Ein Land, in dem nur gute und ehrbare Leute leben, hrsg. von Jewgeni Netscheporuk, Zürich 1989 (Textanthologie); Iris HUTTER, Zwischen Idealisierung und Vorurteil. Das russische Bild der Schweiz im Zeitalter Nikolaus' I. und Alexanders II., Zürich 1999 (unpublizierte Lizentiatsarbeit, Universität Zürich). 16 Peter JUD, Leon Metchnikoff 1838-1888. Ein russischer Geograph in der Schweiz. Zürich 1995; Kurzfassung: DERS., Lev Mecnikov (Leon Metchnikoff) - ein russischer Geograph in der Schweiz, in: Bild und Begegnung. Kulturelle Wechselseitigkeit zwischen der

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Ein Gleiches gilt für die Studierenden. Die Schweizer Hochschulen waren 1872/73 und dann wieder von etwa 1900 bis zum Ersten Weltkrieg von Studierenden, vor allem Studentinnen aus dem Zarenreich hoffnungslos überlaufen 17 . Diese Massierung von Angehörigen der jungen russischen, jüdischen und polnischen Intelligenzija zog automatisch politische Agitatoren nach, die unter dem Schutz der Schweizer Toleranz revolutionäre Zirkel aufzubauen suchten. Die enge Verquickung von Studium und Politisierung vor allem bei den russischen Studentinnen Zürichs veranlasste Kaiser Alexander II. dazu, im Juni 1873 einen Ukas zu unterschreiben, „der alle in Zürich studierenden Untertaninnen aufforderte, die Stadt bis zum 1. Januar 1874 zu verlassen, andernfalls ein dort nach diesem Datum abgelegtes Examen in Russland nicht mehr anerkannt werde" 18 . Aber auch unter den Angehörigen späterer Generationen befanden sich nicht wenige, die ein ernsthaftes Studium und politisches Theoretisieren in Zirkeln Gleichgesinnter miteinander verbanden. Bekanntestes Beispiel dafür ist Rosa Luxemburg, die aus dem polnischen Teil des Zarenreiches stammte und nach achtjährigem Studium des Staatsrechts und der Nationalökonomie an der Universität Zürich 1897 mit dem Doktorat abschloss 19 . Von den weniger im Rampenlicht stehenden Revolutionärinnen, die in der Schweiz studierten, lässt sich das Beispiel der mit einem Schweizer Arbeiterarzt verheirateten Lidija Kotschetkowa besonders gut dokumentieren 20 . Wo lagen in der Schweiz die Grenzen der politischen Toleranz, und welche Rechtsinstrumente standen den Schweizer Behörden zur Verfügung, um Schaden vom eigenen Lande abzuwenden? „[...] Das Asylrecht war ursprünglich kein eigenständiges Recht; der Flüchtling unterstand vielmehr dem Ausländerrecht". „Die schweizerische Asylgewährung stützte sich bis zum Einschnitt des Zweiten Weltkriegs auf den Begriff des politischen Flüchtlings als eines politisch aktiven Oppositionellen. Der Begriff war jedoch nie gesetzlich definiert worden, um der Politik einen Spielraum bei der Asylgewährung zu erhalten" 21 . Diesen Spielraum hatte sie auch nötig, um den wiederholten ausländischen Pressionen geschmeidig begegnen zu können. Dabei gingen die Schweizer Behörden davon aus, dass diejenigen Ausländer, die in der Schweiz Schweiz und Osteuropa im Wandel der Zeit, hrsg. von Peter Brang [u.a.], Basel 1996, S. 465-483. 17 Das absolute Maximum wurde im Gefolge der russischen Revolution von 1905 während des Wintersemesters 1906/07 erreicht, als 36 % aller an Schweizer Hochschulen Immatrikulierten aus dem Zarenreich stammten, davon zwei Drittel weiblichen Geschlechts, vgl. NEUMANN (Anm. 14), S. 15, weitere statistische Angaben S. 14-21, Graphik S. 25. 18

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BANKOWSKI-ZÜLLIG ( A n m . 14), S. 82.

Verena STADLER-LABHART, Rosa Luxemburg an der Universität Zürich 1889-1897, Zürich 1978. 20 Karin HUSER, Eine revolutionäre Ehe in Briefen. Die Sozialrevolutionärin Lidija Petrowna Kotschetkowa und der Anarchist Fritz Brupbacher, Zürich 2003, bes. S. 67-70. 21 Helga NOE AESCHBACH, Die Entwicklung der fremden- und asylrechtlichen Grundlagen seit dem Ersten Weltkrieg, in: „Zuflucht Schweiz" (Anm. 12), S. 219-255, hier: S. 231.

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Schutz suchten, keine kriminellen Delikte begangen hatten, und dass die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen Verfolgten sich in der Schweiz jeglicher Aktivitäten enthielten, die dem Gastland schadeten und es im Extremfall sogar in ernsthafte diplomatische Konflikte mit den Herkunftsländern verwickelten 22 . Dass solche Konflikte immer wieder entstehen konnten, hing auch mit der Aufsplitterung der behördlichen Kompetenzen zusammen. Wenn Ausländer gegen kantonale Gesetze oder mit einzelnen Staaten abgeschlossene Niederlassungsverträge verstießen, war der betreffende Kanton für sie zuständig und konnte sie in eigener Regie ausweisen. Gefährdeten sie die „innere oder äußere Sicherheit", waren die Bundesbehörden zuständig. Doch eine ständige Bundesanwaltschaft und damit auch eine eigentliche Politische Polizei wurde erst 1889 eingeführt, als Bismarck in Zusammenhang mit der bereits erwähnten Affare um die Auslandsredaktion des Sozialdemokrat die Eidgenossenschaft unter Druck gesetzt hatte, ihre Ausländer politisch wirksamer zu kontrollieren 23 . Weil die Bestimmungen der schweizerischen Bundesverfassungen von 1848 und 1874 bezüglich politischer Delikte von Ausländern nicht sehr präzise gefasst waren 24 , sah sich der Bund genötigt, im Nachgang zur Einführung der ständigen Bundesanwaltschaft 1892 ein Auslieferungsgesetz zu erlassen, welches auch formalrechtlich vom Grundsatz der Nichtauslieferung bei politischen Straftaten abrückte, „wenn die Handlung f...] vorwiegend den Charakter eines gemeinen Verbrechens oder Vergehens hat" (Art. 10) 25 . Zuvor schon hatte der Bund - um seine eigenen Kompetenzen zu stärken - , mit einer Reihe von Staaten bilaterale Abkommen geschlossen, welche die Auslieferungspflicht eingrenzten und die Modalitäten regelten. Mit Russland kam es im Gefolge des „Falls Netschajew" am 17. November 1873 zu einem derartigen Auslieferungsabkommen 26 . Der „Fall Netschajew" war der wohl spektakulärste und umstrittenste Auslieferungsfall der Schweiz im 19. Jahrhundert. Sergei Netschajew (1847— 1882) hatte in Russland einen revolutionären Geheimzirkel aufgebaut und 1869 einen Mitverschwörer, den er als Polizeispitzel verdächtigte, umgebracht. Der Verfolgung entzog er sich durch Flucht ins Ausland, wurde im August 1872 von Agenten der russischen Geheimpolizei in Zürich aufgespürt und auf Anweisung der Bundesregierung von der Zürcher Polizei verhaftet. 22

Werner G. ZIMMERMANN, Asyl in der Schweiz. Aspekte und Dimensionen eines Dauerthemas, in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 13-18, hier: S. 16 f. 23 CUSINAY (Anm. 13), S. 160 f. 24 Es handelte sich um reine „Kann"-Bestimmungen, welche eine Auslieferung „für politische und Pressevergehen" in das Ermessen der Kantone stellten. 25 Jürg PLEISS, Die Schweiz und die Auslieferung politischer Flüchtlinge aus dem europäischen Osten. Vom Fall Necaev 1872 zum Fall Vasil'ev 1908, in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 81-106, bes. S. 81, 92. 26

E b d . , S. 9 1 ; COLLMER ( A n m . 4 ) , S. 3 0 2 - 3 0 8 .

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Russland stellte daraufhin ein Auslieferungsbegehren, das in der Schweizer Öffentlichkeit hohe Wellen warf. In der Zwickmühle zwischen den russischen Emigranten und den Schweizer Liberalen, welche Netschajew als schützenswerten politischen Flüchtling taxierten, und dem Vorwurf, einen gemeinen Mörder zu decken, entschied sich die Bundesregierung dafür, den Inkriminierten als Mörder auszuliefern und die zarischen Behörden zu verpflichten, ihn lediglich für dieses Delikt, nicht aber für allfällige politische Vergehen abzuurteilen. Russland hielt sich zwar pro forma an diese Zusage, doch Netschajew verschwand trotz einer Verurteilung zu 20 Jahren Zwangsarbeit für den Rest seines Lebens in einem Kerker 27 . Von den insgesamt sieben Personen, die zwischen 1870 und 1917 von der Schweiz nach Russland ausgeliefert wurden und zuvor politische Fluchtgründe geltend gemacht hatten, lässt sich neben Netschajew nur die Auslieferung des Studenten Wiktor Wassiljew im Jahre 1908 als Grenzfall einordnen, denn auch Wassiljew hatte einen Mord zu verantworten - allerdings den an einem russischen Polizeioffizier. Die übrigen Fälle zählen bei näherer Prüfung schwerlich zur Kategorie politischer Flüchtlinge 28 . Dass Ausländer, die für sich den Status eines politischen Flüchtlings reklamierten, auf Betreiben ihres Herkunftslandes an dieses ausgeliefert wurden, war meistens durch einen Entscheid des Bundesgerichts rechtlich legitimiert und blieb - wie erwähnt - auf einzelne Grenzfälle beschränkt. In der Regel bedienten sich die Schweizer Behörden stattdessen des Instruments der Ausweisung, um unliebsame Fremde los zu werden. Damit konnte man Auslieferungsbegehren ausländischer Regierungen zuvorkommen, vor allem aber zugereisten politischen Agitatoren, die in der Schweiz Unruhe verbreiteten, das Handwerk legen. Eine Ausweisung galt im Gegensatz zur Auslieferung insofern als humaner, da sie es den Betroffenen anheimstellte, in welches Drittland sie sich begeben wollten, um ihre persönliche Sicherheit nicht zu gefährden. Das bekannteste Beispiel einer innen- wie außenpolitisch motivierten Ausweisung ist wohl dasjenige des russischen Fürsten Pjotr Kropotkin (18421921), der als einer der Theoretiker des Anarchismus bekannt wurde und nach seiner Flucht aus Petersburger Festungshaft (1876) unter den Uhrenarbeitern im Schweizer Jura eine intensive Propagandatätigkeit entfaltete. Als 1881 Zar Alexander II. ermordet wurde und Kropotkin diese Tat öffentlich billigte, nutzte der Bundesrat diese Gelegenheit, um den unliebsamen Agitator durch eine vorsorgliche Ausweisung loszuwerden 29 . Ähnlich verfuhr man 27

Einzelheiten ebd., S. 308-313; PLEISS (Anm. 25), S. 82-91. Ebd., S. 81,96-101; C o l l m e r (Anm. 4), S. 315-317. 29 Caroline Cahm, Kropotkin and the Rise of Revolutionary Anarchism, 1872-1886, Cambridge [u. a.] 1989, S. 98-172; Mario Vuilleumier, Horlogers de I'anarchisme. Emergence d'un mouvement: la federation jurassienne, Lausanne 1988, bes. S. 96 f., 104-106, 110 f.; C o l l m e r (Anm. 4), S. 322-326. 28

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sieben Jahre später mit der vierköpfigen Redaktion der von Bismarck inkriminierten Exilzeitschrift Sozialdemokrat* Deutschland ließ seine in die Schweiz emigrierten Sozialdemokraten während der achtziger Jahre durch die Polizeidirektion im elsässischen Mülhausen überwachen - in der Regel durch in der Schweiz niedergelassene Deutsche, die nebenamtlichen Spitzeldienst versahen. Wenn allerdings die Schweiz es wagte, einen auf handhafter Tat bei der Spitzelanwerbung ertappten deutschen Polizeioffizier auszuweisen wie 1889 den Mülhausener Polizeidirektor Wohlgemuth, dann löste man damit auf diplomatischer Ebene ein mittleres Erdbeben aus 31 . Das Zarenreich befand sich in einer etwas günstigeren Ausgangsposition, weil die schweizerische Öffentlichkeit dem untergründigen Treiben der russischen Emigranten ohnehin sehr misstrauisch gegenüberstand. Daher arbeiteten die Agenten der zarischen Geheimpolizei, die von Paris aus ihre in der Schweiz lebenden Landsleute überwachte, im Allgemeinen gut mit den kantonalen Polizeibehörden zusammen, zumal diese sich allein schon aus sprachlichen Gründen außer Stande sahen, die russischen Geheimzirkel zu unterwandern 32 . Politische Delinquenten, derer Russland unbedingt habhaft werden wollte, wurden durch eigene Spitzel in der Schweiz meist sehr schnell aufgespürt und der kantonalen Polizei gemeldet. In Genf beispielsweise standen stets einzelne Kantonspolizisten auch auf der Lohnliste der von Paris aus wirkenden Residentur der zarischen Geheimpolizei. Auf diesem Wege wurde etwa Netschajew in Zürich dingfest gemacht und in Auslieferungshaft genommen 33 . Generell lässt sich sagen, dass die Schweizer Behörden die russischen Emigranten in Ruhe ließen, solange diese nicht die öffentliche Ruhe und Ordnung störten oder die kantonale Polizei auf dem Weg über die Bundesregierung von St. Petersburg aus in konkreten Fällen zum Handeln gedrängt wurde. Die Schweizer Öffentlichkeit liebte die Russinnen und Russen nicht, tolerierte sie aber, weil Reisende und Studierende Geld in das noch arme Land brachten. Dass die Studierenden sich abschotteten, dass unter ihnen viele Frauen waren, denen man ein ausschweifendes Leben nachsagte und die man „Kosakenpferdchen" titulierte, verunsicherte viele Bürger 34 . Vom Zarenreich

30

CUSINAY ( A n m . 13), S. 1 4 1 - 1 5 2 . Ebd., S. 1 5 2 - 1 6 6 . 32 Ladisias Μ YSYROWICZ, Agents secrets tsaristes et revolutionnaires russes ä G e n e v e 1 8 7 9 1903, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2 3 (1973), S. 2 9 - 7 2 . ; COLLMER (Anm. 4), S. 1 6 3 - 1 7 2 . Allgemein: Richard J. JOHNSON, Zagranichnaia Agentura: The Tsarist Political Police in Europe, in: Journal o f Contemporary History 7 / 1 - 2 ( 1 9 7 2 ) , S. 2 2 1 - 2 4 2 , zur S c h w e i z S. 229; Viktor S. BRACEV, Zagraniönaja agentura Departamenta Policii (1883— 1917) [Die ausländische Agentur des Polizeidepartements 1 8 8 3 - 1 9 1 7 ] , St. Petersburg 2 0 0 1 . 31

33

PLE1SS ( A n m . 25), S. 8 4 f. BANKOWSKI-ZÜLLIG (Anm. 14), S. 7 9 - 8 1 ; Liliane BRÜGGER, Russische Studentinnen in Zürich, in: Bild und B e g e g n u n g (Anm. 16), S. 4 8 5 - 5 0 8 ; HUSER (Anm. 20), bes. S. 5 4 - 5 9 . 34

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hatte die Öffentlichkeit das Bild eines eher barbarischen, rückständigen Landes, welches der Zar mit der Knute regierte35. Von dort konnte man nichts Gutes erwarten. Besonders fremdartig erschienen den Zürcherinnen und Zürchern die Ostjuden, die vor allem nach den antisemitischen Pogromen des Revolutionsjahres 1905 zunehmend aus dem Zarenreich flohen und auch in der Schweiz auftauchten. Als der Zürcher Stadtrat daraufhin verfügte, zahlreiche ostjüdische Zuwanderer auszuweisen, war der Beifall großer Teile der Öffentlichkeit ihm gewiss 36 . Hoch gingen die Wogen der Empörung auch, als 1889 eine russisch-polnische Gruppe von Studierenden am Stadtrand Zürichs mit Sprengstoff experimentierte und es dabei einen Toten und einen Schwerverletzten gab 37 . Als sich nach der Jahrhundertwende weitere Sprengstoffaffären häuften und 1906 gar die Studentin Tatjana Leontjewa in einem Interlakener Hotel den elsässischen Kurgast Charles Müller erschoss, weil sie ihn mit dem russischen Innenminister Durnowo verwechselt hatte, flammten in Öffentlichkeit und Parlament erneut heftige Debatten „um Asylrecht, Auslieferungsbegehren, Studienbeschränkungen und ähnliche Maßnahmen" auf, die schließlich dazu führten, dass die Universität Zürich 1914 die Einfuhrung eines Numerus clausus für ausländische Studierende ins Auge fasste 38 . Blickt man auf den Umgang der Schweizer Behörden mit „Untertanen" (russisch poddannye) des Zarenreiches zurück, die den Freiraum, welche die Eidgenossenschaft ihren Gästen bot, für eine politische Betätigung nutzten, der sie daheim nur im Untergrund hätten nachgehen können, so lässt sich vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein gewisser roter Faden durchaus erkennen. In einem internationalen Umfeld, dessen staatliche Protagonisten die Schweiz im Allgemeinen eher misstrauisch beobachteten, galt es die Balance zu finden zwischen dem Pochen auf die eigene staatliche Souveränität im Rahmen der seit 1815 von den Großmächten garantierten Neutralität sowie dem durch die liberale Tradition gebotenen Schutz politisch Verfolgter einerseits, innenpolitischen Rücksichten sowie einem pragmatisch-geschmeidigen Verhalten in der Außenpolitik andererseits, welches bestrebt war, Konflikte mit den Großmächten unterhalb der Interventionsschwelle zu halten. Das Recht auf politisches Asyl - von den Liberalen schon früh als Teil schweizerischer Identität mythisch überhöht - geriet in der Öffentlichkeit mehr und mehr unter Restriktionsdruck, als die emphatisch begrüßten Liberalen und Demokraten aus Deutschland und die nationalen Freiheitskämpfer aus Russisch-Polen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 35

Andreas MOSER, „Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten". Das Schweizer Russlandund Russenbild vor der Oktoberrevolution (im Druck, Zürich 2006). 36 Karin HUSER BUGMANN, Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880-1939, Zürich 1998, bes. S. 81 f., 99-103, 120-122. 37 Catalina ZWEIDLER, Die Bombenaffäre 1889 auf dem Zürichberg, in: „Zuflucht Schweiz" (Anm. 12), S. 173-196. 38

BANKOWSKI-ZÜLLIG ( A n m . 1 4 ) , S . 8 7 f.; COLLMER ( A n m . 4 ) , S. 3 3 2 - 3 3 7 .

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abgelöst wurden durch revolutionäre Systemveränderer, deren extremste Gruppierungen die Aufenthaltsbedingungen ihres Gastlandes nicht respektierten, die öffentliche Ordnung gefährdeten oder mit der radikalen Opposition der Schweiz selber paktierten 39 .

III. Die erste Phase des politischen Asyls: Nationale Freiheitskämpfer aus dem Zarenreich in der Schweiz Bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus prägten in der Schweiz Flüchtlinge, die sich gegen die nationale Unterdrückung ihrer Heimat aufgelehnt hatten, das Bild politischer Asylanten aus dem Osten Europas. Es waren dies vor allem Polen. Nachdem die „Adelsrepubik" Polen-Litauen zwischen 1772 und 1795 in drei Schritten dem Expansionshunger ihrer Nachbarmächte Russland, Preußen und Habsburgerreich zum Opfer gefallen war, existierte bis 1918 kein unabhängiger polnischer Staat mehr. Nach Frankreich war es nun die Schweiz, die wegen ihrer zentralen Lage, politischen Neutralität und entschiedenen Verteidigung des Asylrechts das polnische Exil anzog. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen in das späte 18. Jahrhundert zurück. Wie Marysia Morkowska aufgezeigt hat, suchte die polnische Adelsintelligenzija bei ihrem Bemühen, nach dem Schock der ersten Teilung von 1772 durch entschiedene Reformen den inneren Zusammenhalt und die Abwehrkraft des Staates zu stärken, nach einem Vorbild. Sie fand es - vermittelt vor allem durch Schweizer, die in Polen einflussreiche Positionen bekleideten - in der einzigen wirklichen Republik Europas, einer idealisierten und mythisch überhöhten Eidgenossenschaft. Wenn dieses idealisierte Schweizbild sich bis ins 20. Jahrhundert zu halten vermochte und eine besondere Beziehung zwischen beiden Völkern begründete, so hat dies ähnlich wie in Russland wesentlich damit zu tun, dass man keine gemeinsamen Grenzen miteinander hatte, aus denen Interessenkonflikte hervorwachsen konnten, und dass wegen der großen räumlichen Distanz es erst spät und nur für eine Minderheit möglich war, Ideal und Realität miteinander zu vergleichen 40 . Der erste prominente Pole, der sich als politischer Flüchtling in der Schweiz niederließ, war Tadeusz Kosciuszko (1746-1817). Er hatte 1794 den gescheiterten polnischen Aufstand gegen die Teilungsmächte angeführt, der 39

Dazu zusammenfassend: ZIMMERMANN (Anm. 22), S. 16 f.; DERS., Nachwort, in: „Zuflucht Schweiz" (Anm. 12), S. 575-579; Carsten GOEHRKE, Das östliche Europa und die „Zuflucht Schweiz". Eine Bilanz aus historischer Sicht, in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 317-333. 40 Marysia MORKOWSKA, Vom Stiefkind zum Liebling. Die Entwicklung und Funktion des europäischen Schweizbildes bis zur Französischen Revolution, Zürich 1997, S. 161-198. Zu Schweizern in polnischen Diensten vgl. auch Marek ANDRZEJEWSKI, Schweizer in Polen. Spuren der Geschichte eines Brückenschlages, Basel 2002, S. 67-84.

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im folgenden Jahr mit dem endgültigen Verschwinden des polnischen Reststaates von der Landkarte geahndet wurde. Nach russischer Kriegsgefangenschaft und langen Exiljahren in den Vereinigten Staaten und Frankreich verbrachte Kosciuszko die beiden letzten Lebensjahre im Hause seines Freundes Peter Josef Zeltner in Solothurn41. Massencharakter nahm die Emigration in die Schweiz jedoch erst nach den vergeblichen Aufständen von 1830/31 und 1863/64 im russisch beherrschten Teil Polens an 42 . Die jüngste Forschung hat herausgearbeitet, in welchem Maße sich bei der Aufnahme der Flüchtlinge in der Schweiz beide Male polnische Ambitionen, vom sicheren Boden aus den Kampf um die Befreiung der Heimat weiterzufuhren, und Versuche schweizerischer Parteien, die Polen für innenpolitische Ziele zu instrumentalisieren, überlagerten. Der Aufstand von 1830/31 hatte erst phasenverschoben Auswirkungen auf die Schweiz, als 1833 etwa 500 polnische Kombattanten - getreu der Devise, dass jeder Freiheitskampf in Europa letztlich auch der Befreiung Polens dienlich sei - von Frankreich aus über die Schweiz nach Deutschland strebten, um einem revolutionären Putsch in Frankfurt am Main beizuspringen. Doch da dieser schnell niedergeschlagen war, blieben sie in der Schweiz hängen, wo sie sehr schnell von den Liberalen vor allem des Kantons Bern als willkommene Unterstützung beim Kampf gegen die konservativen Kräfte begrüßt wurden und auch den Basellandschäftlern gegen die baselstädtische Herrschaft ihr militärisches Know-how liehen. Doch als ein Teil von ihnen die polnischen Interessen wirksamer in der revolutionären Bewegung des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Mazzini vertreten sahen und sich 1834 in dessen „Savoyerzug" verstrickten, sah sich die vor 1848 im Inneren noch labile Schweiz dem geballten Protest der konservativen Mächte gegenüber und suchte die polnischen Gäste so schnell wie möglich wieder los zu werden 43 . 41

Zum Beziehungsfeld „Kosciuszko, Polen und die Schweiz", vgl. „Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas": Kosciuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz, hrsg. von Heiko Haumann und Jerzy Skowronek, Basel 1996, S. 239-351. 42 Überblick bei ANDRZEJEWSKI (Anm. 40), S. 113-122; detallierter: Czeslaw LESNIEWSKI, L'emigration polonaise en Suisse. 1832-1850/1, in: Pologne - Suisse. Recueil d'etudes historiques, Varsovie/Lwöw 1938, S. 75-101; Marianne LUDWIG, Der polnische Unabhängigkeitskampf von 1862 und die Schweiz, Basel/Stuttgart 1968; Kurzfassung: DES., Der polnische Unabhängigkeitskampf von 1863 und die Schweiz, in: Studia Polono-Helvetica, hrsg. von Helena Madurowicz-Urbanska und Markus Mattmüller, Basel/Frankfurt a. M. 1989, S. 113-133; Haiina FLORKOWSKA, Strukture polskiej emigracji politycznej w Szwajcarii w latach szescdziesi^tych XIX wieku [Die Struktur der polnischen politischen Emigration in der Schweiz in den 1860er Jahren], Wroclaw [u. a.] 1976. 43 Christian KOLBE, Asylanten als Agitatoren in der Schweiz. Die Aktivitäten polnischer Flüchtlinge anlässlich der Aufstände von 1830/31 und 1863/64 und der Aufenthalt des italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini in der Schweiz, in: „Zuflucht Schweiz" (Anm. 12), S. 17-37, hier: S. 19-28; Markus SOMM, Zinnsoldaten der Innenpolitik. Die

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Höher schlug die Polenbegeisterung in der Schweiz 1863, bereits als der zweite groß angelegte Aufstand gegen Russland noch voll im Gange war. In allen größeren Städten bildeten sich Polenkomitees, um die Öffentlichkeit mit der polnischen Sache zu solidarisieren und Geldspenden und Kleider zu sammeln. Vor allem die oppositionellen Demokraten des Kantons Zürich, die den allmählich verknöchernden herrschenden Liberalen einen Umbau der repräsentativen in eine direkte Demokratie abringen wollten, nutzten die Gelegenheit, um sich als Vorkämpfer für die Freiheit Polens zu profilieren. In Zürich etablierte sich daher auch ein Zentralkomitee, welches alle Polenausschüsse unter seinem Dach zusammenschloss, unter dem maßgeblichen Einfluss des in der Schweiz sesshaft gewordenen Grafen Wladyslaw Plater stand und mit dem Dichter Gottfried Keller eine namhafte Persönlichkeit als Sekretär aufzuweisen hatte 44 . Die Euphorie kühlte jedoch schon ab, als Plater Waffen nach Polen spedieren wollte und damit der Schweiz ernsthafte diplomatische Schwierigkeiten ins Haus standen. Als dann nach der Niederschlagung des Aufstandes 1864 über 2 500 Flüchtlinge ins Land strömten und glaubten, mit offenen Armen empfangen zu werden, legte sich - je länger die Asylanten blieben - angesichts der erheblichen Kosten, die dadurch entstanden, die Polenbegeisterung bald wieder. Die große Mehrheit der Flüchtlinge setzte sich nach und nach in andere Länder ab, vor allem nach Frankreich, England und in die USA. In der Schweiz blieben ihrer 584 45 . Immerhin war damit der Grundstock für eine nicht unbeträchtliche polnische Exilkolonie gelegt, die aus Polen ständig Zuzug erhielt. Zu ihnen zählten namhafte Persönlichkeiten wie der Publizist und spätere Mitbegründer der Polnischen Sozialistischen Partei, Bolestaw Limanowski (1835-1935), der von 1878 bis 1889 in der Schweiz lebte und durch seine Artikel wesentlich dazu beigetragen hat, unter dem Polentum ein idealisiertes Bild der Schweiz wach zu halten 46 . Auch der erste Staatspräsident des im Jahre 1918 wiedererstandenen Polen - Gabriel Narutowicz (1865-1922) - war 1886 in die Schweiz ausgewandert und hatte es dort zum Professor für Hydrotechnologie am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich gebracht. Weil er als Politiker sich dafür einsetzte, nach dem Vorbild der Eidgenossenschaft auch im polnischen Staat den nationalen Minderheiten die volle Gleichberechtigung zu gewähren, wurde er von einem nationalistischen Fanatiker erschossen 47 . Asylpraxis der Schweiz gegenüber revolutionären polnischen Flüchtlingen im 19. Jahrhundert, in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 47-68, hier: S. 48-55. 44 Dazu: Gottfried Keller und der polnische Freiheitskampf vom Jahre 1863/64. Akten und Briefe eingeleitet und hrsg. von Adam Lewak, Zürich 1927. 45 SOMM (Anm. 43), S. 55-63; KOLBE (Anm. 43), S. 28-31. 46 Marek ANDRZEJEWSKI, Boleslaw Limanowski und die Schweiz, in: Bild und Begegnung (Anm. 16), S. 151-165. 47 Marek ANDRZEJEWSKI, Gabriel Narutowicz, Staatspräsident Polens, und die Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift ftir Geschichte 39 (1989), S. 304-310.

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Graf Plater war es auch, der 1870 damit begann, auf Schloss Rapperswil am Zürichsee ein Polenmuseum einzurichten, in welchem historisch relevante Sammlungsgegenstände zu einer nationalen Gedenkstätte vereinigt wurden. Bis zur Wiedererstehung eines unabhängigen polnischen Staates blieb Rapperswil daher eine auf neutralem Boden gelegene nationale Weihe- und Wallfahrtsstätte für Polen aus aller Welt - fast so etwas wie ein Ersatz für die fehlende eigene Hauptstadt48. Blieb die polnische Emigration in der Schweiz bis zum Ersten Weltkrieg primär auf die Gewinnung der nationalen Unabhängigkeit fixiert, so überlagerten sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bei der ukrainischen und der kaukasischen 49 Sozialrevolutionäre und national-emanzipatorische Ziele. Als 1876 die zaristische Regierung, um nationalistischen Tendenzen zu begegnen, den Gebrauch des „Kleinrussischen" - wie das Ukrainische in regierungsoffizieller Diktion hieß - in Schrifttum und öffentlichem Verkehr verbot, verlegte der namhafte Historiker und Publizist Michail Drahomanow ( 1 8 4 1 1895) seinen Wohnsitz nach Genf, wo er bis 1889 blieb und als Mittelpunkt eines kleinen Kreises eine fruchtbare wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit entfaltete. In seiner politischen Ausrichtung verbanden sich ein Sozialismus gemäßigt anarchistischer Richtung mit einem moderaten Nationalismus, welcher der Ukraine innerhalb eines demokratischen und föderalen Russland einen autonomen Status erkämpfen wollte 50 .

IV. Die zweite Phase des politischen Asyls: Revolutionäre aus dem Zarenreich in der Schweiz Alexander Herzen war so etwas wie eine erste revolutionäre Schwalbe, die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Schweiz als sicheren Hort fur die politische Opposition Russlands entdeckte. Hinzu stießen noch insbesondere der Lyriker und Publizist Nikolai Ogarew (1813-1877) und der 1850 aus Frankreich ausgewiesene und von Russland ausgebürgerte politische Publizist Nikolai Sasonow (1815-1862), der sein Leben in Genf beschloss. Eine eigentliche Welle politischer Emigranten folgte jedoch erst, als sich nach der von Kaiser Alexander II. 1861 durchgesetzten Aufhebung der bäu48

Helmut NEUBACH, Das Polenmuseum in Rapperswil. Ein Beitrag zur Geschichte der polnischen Emigration in der Schweiz, in: Zeitschrift für Ostforschung 13 (1964), S. 721-728. 49 Materialy ο Cjurichskom kruzke kavkazskich studentov ,jarmo" (1873 g.) [Materialien über den Zürcher Zirkel kaukasischer Studenten „Jarmo" (1873)], in: Izvestija Akademii Nauk Armjanskoj SSR, serija obSCestvennoj nauki [Nachrichten der Akademie der Wissenschaften der armenischen SSR, Serie Gesellschaftswissenschaften], 1964, Nr. 2, S. 57-69. 50 Monika BANKOWSKI-ZÜLLIG, „Kleinrussischer Separatist" oder „russischer Nihilist"? Michail P. Drahomanov und die Anfänge der ukrainischen Emigration in der Schweiz, in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 107-138.

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erlichen Leibeigenschaft und einer Reihe weiterer Reformgesetze immer deutlicher zeigte, dass die Autokratie nicht bereit sein würde, den letzten entscheidenden Schritt auch noch zu wagen - nämlich sich freiwillig in eine konstitutionelle Monarchie zu verwandeln und die Macht mit gewählten Vertretern des Volkes zu teilen. Die politischen Flüchtlinge, die nun in der Schweiz erschienen, unterschieden sich von Herzen, Ogarew und Sasonow durch ihre Jugend, durch ihre überwiegende Zugehörigkeit nicht zum wohlsituierten Adel, sondern zur nichtadligen Intelligenzija sowie durch ihren radikalen „Nihilismus". Viele von ihnen kamen aus der Geheimorganisation „Land und Freiheit" (Zemlja i Volja), die in Russland nach Unruhen unterdrückt worden war. Ihrem nur lose organisierten Zirkel in der Schweiz gaben sie die Selbstbezeichnung „Junge Emigration". Trotz ihrer stärkeren ideologischen Fixierung entwickelten sich zwischen der „Jungen Emigration" und den unabhängigen revolutionären Geistern Herzen und Ogarew im Laufe der sechziger Jahre lebhafte Diskussionen und teilweise sogar eine Zusammenarbeit 51 . Die russische politische Emigration der sechziger Jahre in der Schweiz wurde durch drei Wesensmerkmale geeint: durch die Überzeugung, dass das autokratische System ihrer Heimat nur noch auf revolutionärem Wege beseitigt werden konnte; durch die Hoffnung auf das Bauerntum, das mit seiner schieren Masse und seiner Urkraft den Umsturz bewältigen könne, und drittens dadurch, dass dessen agrargenossenschaftliche Organisationsform der Landumteilungsgemeinde unter dem Blickwinkel eines utopischen Sozialismus bereits als Ausgangsbasis einer künftigen sozialistischen Gesellschaft Russlands interpretiert wurde. Gegen Ende der sechziger Jahre begannen aus den noch relativ diffusen politischen Strömungen, die ihre Wurzeln in der radikalen Wissenschaftsgläubigkeit eines nihilistischen Materialismus und in den Traditionen des utopischen Sozialismus Frankreichs hatten, im Umkreis einzelner Theoretiker, die als Kristallisationskerne fungierten, profiliertere Ideologien herauszuwachsen, die zueinander mehr und mehr in - teilweise erbitterte - Konkurrenz traten. Wesentlich beschleunigt hat diesen Prozess die große studentische vor allem weibliche - Kolonie, die von 1871 bis 1873 an der Universität Zürich existierte und deren Angehörige von führenden russischen Revolutionstheoretikern wie Bakunin und Lawrow persönlich umworben wurden.

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Vgl. etwa Revolutionnaires et exiles du XIX siecle: Autour d'Alexandre Herzen. Documents inedits, hrsg. von Marc Vuilleumier [u. a.], Geneve 1973; Lettres inedites. Herzen, Ogarev, Bakounine, introduction, übersetzt und kommentiert von Michel Mervaud, Paris 1975; Boris P. KOZ'MIN, Gercen, Ogarev i „Molodaja e migracija" [Herzen, Ogarev und die „Junge Emigration"], in: DERS., lz istorii revoljucionnoj mysli ν Rossii. Izbrannye trudy [Aus der Geschichte des revolutionären Denkens in Russland. Ausgewählte Werke], Moskau 1961, S. 483-577.

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Zugleich verlagerte sich damit das Zentrum der russischen politischen Emigration vorübergehend von Genf nach Zürich 52 . Es waren vor allem zwei Hauptrichtungen, die unter den revolutionären „Populisten" (narodniki) - wie die Sozialisten genannt wurden, welche auf die anarchische Kraft des Bauerntums setzten - vom Ende der sechziger bis in die späten siebziger Jahre Gestalt annahmen 53 : auf der einen Seite diejenigen, die sich um Pjotr Lawrow (1823-1900) scharten, welcher dazu aufrief, die bäuerliche Revolutionsbereitschaft durch Agitation und politische Aufklärung zu ibrdern 54 ; auf der anderen Seite die Anarchisten um Michail Bakunin (1814-1876) und nach dessen Tod um Pjotr Kropotkin (1842-1921), welche unmittelbar zur revolutionären Aktion schreiten wollten und dadurch eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu errichten hofften. Bakunin, der von 1867 bis zu seinem Tode in der Schweiz lebte (zunächst in Genf, seit 1869 aus gesundheitlichen Gründen im Tessin, um dann in Bern zu sterben), mischte sich immer wieder nicht nur in die inneren Angelegenheiten der Schweiz ein 55 , sondern hatte auch bei revolutionären Unruhen Italiens seine Hände im Spiel. Daher war es wohl sein früher Tod, der ihm das Schicksal einer Ausweisung erspart hat 56 . Die I. Internationale, die bis zu ihrem Auseinanderbrechen auf dem Haager Kongress 1872 noch die meisten Revolutionäre Europas - sowohl Anarchisten als auch Marxisten und russische Populisten - in sich vereinigte, verfügte von 1869 bis 1872 in Genf über eine eigene russische Sektion 57 . Innerhalb der russischen Kolonien isoliert waren wegen der verschwörerischen Radikalität und Inhumanität ihrer revolutionären Ideen der schon genannte Sergei Netschajew und der anfänglich mit ihm verbundene Pjotr Tkatschew (1844-1885), welcher von 1873 bis 1880 in der 52

Jan Marinus MEIJER, Knowledge and Revolution: The Russian Colony in Zuerich (1870-1873). A Contribution to the Study of Russian Populism, Assen 1955. 53 Dazu wichtig die Erinnerungen von Leo Deutsch vor allem an die Jahre 1878-1880 in der Schweiz: Lev G. DEJC, Russkaja revoljucionnaja emigracija 70-ch godov: M. Bakunin, L. Varynskij, S. Dikätejn, M. Dragomanov, N. Zukovskij, P. Kropotkin, P. Lavrov, Z. RaiIi, A. El'snic i P. TkaCev, Peterburg 1920. 54 Dazu Boris S. ITENBERG, P[etr] L. Lavrov Ν russkom revoljucionnom dvizenii [P. L. Lawrow in der russischen revolutionären Bewegung], Moskau 1988. 55 Als Netschajew 1869 in die Schweiz, und zwar nach Genf floh, kam es zu einer engen Zusammenarbeit mit Bakunin und Ogarew, vgl. Stephen T. COCHRANE, The Collaboration of Neöaev, Ogarev and Bakunin in 1869. NeCaev's Early Years, Gießen 1977. Doch diese währte nicht lange, denn schon im Frühjahr 1870 entzog sich Netschajew einer drohenden Auslieferung nach Russland durch die Flucht, bevor er 1872 nochmals zurückkam. Bakunin suchte ihm dadurch beizuspringen, dass er 1870 mit einer vorgeblich von einem Schweizer Patrioten abgefassten anonymen Broschüre eine Auslieferung als nationale Schande brandmarkte, vgl. Les ours de Berne et l'ours de St.-Petersbourg. Complainte patriotique d'un suisse humilie et desespere, Neuchätel 1870. 56 Natalja M. PLRUMOVA, Bakunin, Moskau 1970, bes. S. 273-391. 57 Woodford D. MCCLELLAN, Revolutionary Exiles: The Russians in the First International and the Paris Commune, London 1979; Boris S. ITENBERG, Pervyj Internacional i revoljucionnaja Rossija [Die I. Internationale und das revolutionäre Russland], Moskau 1964.

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Schweiz ebte und wegen seiner Propagierung einer von einer konspirativen kleinen Elite durchgeführten Revolution, die in der revolutionären Diktatur dieser Elite gipfeln sollte, in der Historiographie oft als erster Bolschewist bezeichnet wird 58 . Als sich gegen Ende der siebziger Jahre immer deutlicher abzeichnete, dass alle Versuche, die russischen Bauern durch politische Agitation zu revolutionieren, auf Sand gebaut waren, geriet Lawrows „sanfter Weg" zur Revolution in eine Krise. Die „Populisten", die sich 1876 in der revolutionären Organisation „Land und Freiheit" (Zemlja i volja) zusammengeschlossen hatten, spalteten sich 1879 in zwei Flügel: Die Mehrheit beschloss nun zum gezielten Terror gegen die Autokratie und ihre Exponenten vorzugehen und gründete zu diesem Zweck die Geheimorganisation „Volksfreiheit bzw. Volkswillen" (Narodnaja volja)·, die Minderheit setzte auch weiterhin auf den Weg der politischen Basisarbeit und nannte sich fortan „Schwarze Umteilung" (Cernyj peredel). 1881 gelang es den Terroristen der „Volksfreiheit" zwar, Kaiser Alexander II. zu ermorden, doch dem gnadenlosen Gegenterror der Polizeiorgane fielen in der Folge die meisten ihrer Aktivisten ebenfalls zum Opfer. Da sich nunmehr immer deutlicher abzeichnete, dass weder der terroristische noch der auf die Agitierung der Bauern zielende „sanfte Weg" es vermocht hatten, das autokratische System zu erschüttern, setzte in der politischen Emigration ein Umdenken ein. Vor allem Exponenten des „sanften Weges" wie Georgi Plechanow (1856-19 1 8) 59 , Wera Sassulitsch (18491919) 60 , Leo Deutsch und Pawel Axelrod 61 begannen mit erheblicher Verspätung nun den Marxismus zu entdecken, der auf die revolutionäre Kraft des Industrieproletariates setzte. 1883 gründeten die vier Genannten in Genf mit der Gruppe „Befreiung der Arbeit" (Osvobozdenie truda) die erste von Russen geleitete marxistische Organisation. Sie sah ihre Aufgabe vor allem darin, marxistische Schriften zu übersetzen und konspirativ in Russland zu verbreiten sowie mit den sozialistischen Bewegungen des Auslandes zusammenzuarbeiten 62 . Im Zarenreich selber entstanden - begünstigt durch den industriel58

Albert L. WEEKS, The First Bolshevik: A Political Biography of Peter Tkachev, New York/London 1968; Deborah HARDY, The Lonely Emigre: Petr Tkachev and the Russian Colony in Switzerland, in: The Russian Review 35 (1976), S. 400-416. 59 Plechanow lebte seit 1880 im Exil, meist in Genf, vgl. Samuel H. BARON, Plekhanov. The Father of Russian Marxism, London 1963; Detlef JENA, Georgij Walentinowitsch Plechanow. Historisch-politische Biographie, Berlin/Jena 1989. 60 Sassulitsch lebte von 1878 bis 1889 und von 1897 bis 1905 in der Schweiz, vgl. Wolfgang GEIERHOS, Vera Zasuliö und die russische revolutionäre Bewegung, München/Wien 1977; Jay BERGMAN, Vera Zasulich: A Biography, Stanford, CA 1983. 61 Abraham ASCHER, Pavel Axelrod and the Development of Menshevism, Cambridge, MA 1972. 62 Thies ZIEMKE, Marxismus und Narodniöestvo. Entstehung und Wirken der Gruppe „Befreiung der Arbeit", Frankfurt a. M./Bern 1980; Pervaja marksistskaja organizacija Rossii gruppa „Osvobozdenie truda": 1883-1903, Dokumenty, stat'i, materialy, perepiska, vospo-

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len Aufschwung der neunziger Jahre - ebenfalls marxistische Untergrundorganisationen, aus denen 1898 die „Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei" hervorging. Weil die Partei im Untergrund arbeiten musste, entstand 1888 mit dem „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten" im Schutz des Exils eine Dachorganisation, die ihre Zentren in Genf, Zürich und Berlin hatte und bis zur Spaltung der Partei 1903 als offizielle Auslandvertretung der russländischen Sozialdemokratie fungierte. Sie nutzte ihre Freiräume auch, um in der Schweiz politische Schriften drucken zu lassen und nach Russland zu schmuggeln. Bis zum Jahre 1900 bildete die Genfer Gruppe „Befreiung der Arbeit" den Kern des Auslandsbundes, doch der autoritäre Führungsanspruch Georgi Plechanows machte eine Entflechtung unumgänglich 63 . Bedenkt man noch Rosa Luxemburgs langjähriges Studium an der Universität Zürich, so kann man ohne weiteres davon sprechen, dass die Schweiz in geographischer Hinsicht die „Wiege" der Sozialdemokratie des Zarenreiches gewesen ist 64 . Auch als die Partei sich 1903 gespalten hatte - in einen gemäßigten und auf eine Massenpartei setzenden Flügel unter Führung Plechanows, Axelrods, Sassulitschs und Juli Martows („Menschewiki") und in einen radikal-elitären unter Lenin („Bolschewiki") - , spielte das Schweizer Exil weiterhin eine zentrale Rolle, denn sowohl Plechanow als auch Sassulitsch (bis 1905) und Axelrod blieben in Genf bzw. Zürich. Von den späteren Bolschewiki haben einige zeitweise in der Schweiz studiert (u. a. die Frauentheoretikerin Alexandra Kollontai und der spätere Volkskommissar für das Bildungswesen Anatoli Lunatscharski 65 ) oder vorübergehend dort im Exil gelebt (beispielsweise Wladimir Bontsch-Brujewitsch, Nikolai Bucharin, Inessa Armand und der spätere Leiter des sowjetischen Gesundheitswesens Nikolai Semaschko). Lenin selber hat sich in der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg nur zeitweise aufgehalten - insbesondere 1903-1905 und 1908, meist in Genf.

minanija [Die erste marxistische Organisation Russlands - die Gruppe „Befreiung der Arbeit": 1883-1903, Dokumente, Aufsätze, Materialien, Briefwechsel, Erinnerungen], red. von Michail T. lovuk, Moskau 1984; Frank ORTMANN, Revolutionäre im Exil. Der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten" zwischen autoritärem Führungsanspruch und politischer Ohnmacht (1888-1903), Stuttgart 1994, S. 29-45. 63 ORTMANN (Anm. 62); Kurzfassung: DERS., Allmacht und Ohnmacht. Der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten" als Entwicklungsproblem russischen politischen Emigrantentums in der Schweiz (1888-1903), in: Asyl und Aufenthalt (Anm. 2), S. 139-147. ORTMANN, Allmacht und Ohnmacht (Anm. 63), S. 140. 65 Vgl. Daniela STEJLA, V. V. Tronin i Α. V. LunaCarskij ν Cjuriche: sud'by dvuch russkich filosofov-emigrantov [V. V. Tronin und Α. V. Lunaöarskij in Zürich: Das Schicksal zweier russischer Philosophen im Exil], in: Russkaja emigracija do 1917 goda - laboratorija liberalnoj i revoljucionnoj mysli [Die russische Emigration vor 1917 - ein Laboratorium des liberalen und revolutionären Denkens], St. Petersburg 1997, S. 128-141.

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Der Erste Weltkrieg brachte dann jedoch große Teile der Sozialdemokratie des Zarenreiches in der Schweiz zusammen - und zwar erstmals sowohl der Menschewiki als auch der Bolschewiki. Mit Juli Martow (1873-1923) stieß von 1915 bis 1917 ein weiterer älterer Exponent des Menschewismus zu Plechanow und Axelrod 66 , und Lenin selber überwinterte mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja während der Kriegsjahre von September 1914 bis Februar 1916 in Bern, danach in Zürich. Am 9. April 1917 reiste er zusammen mit 30 weiteren Pol item igranten (darunter auch die prominenten bolschewistischen Führungsmitglieder Grigori Sinowjew und Karl Radek) über Deutschland und Schweden nach Russland zurück, um in das revolutionäre Geschehen einzugreifen. Die Reise hatte im Verein mit deutschen Regierungskreisen der Schweizer Fritz Platten organisiert. Lenin, der die internationalen Sozialistenkonferenzen von Zimmerwald (1915) und Kiental (1916) im Kanton Bern benutzt hatte, um für die Umpolung des Weltkriegs in einen internationalen revolutionären Klassenkrieg zu werben, vermochte es jedoch nicht, die fuhrenden Exponenten der Schweizer Sozialdemokratie auf seine Seite zu ziehen oder zumindest die Partei zu spalten. Frustriert schüttelte er daher den Staub der Schweiz von seinen Füßen, nachdem er dort - mit Unterbrechungen immerhin sechseinhalb Jahre seines Lebens verbracht hatte 67 . Der liberaldemokratischen Opposition des Zarenreiches, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Vertretern der lokalen und regionalen Selbstverwaltungsorganisationen (Semstwos), gemäßigten ehemaligen Sozialdemokraten wie Peter Struve (1870-1944) und liberal gesinnten Intellektuellen zu formieren begann, diente die Schweiz lediglich als vorübergehender Stützpunkt, um sich ungestört über den politischen Kurs klar zu werden. Struve, der seit 1902 in Stuttgart lebte, erkor das knapp jenseits der Grenze gelegene Schafihausen als jenen Ort, wo sich vom 20. bis 22. Juli etwa anderthalb Dutzend namhafte russische Liberale treffen konnten, ohne bei ihrer Vorbereitung des Gründungskongresses des „Bundes der Befreiung" (Sojuz osvobozdenija), der am Anfang des folgenden Jahres in St. Petersburg aus der Taufe gehoben wurde, von der zaristischen Geheimpolizei behelligt zu werden 68 . Aus diesem Bund ging 1905 die „Partei der Volksfreiheit" bzw. die „Partei der Konstitutionellen Demokraten" („Kadetten") hervor.

Israel GETZLER, Martov: A Political Biography o f a Russian Social Democrat, London/ Melbourne 1967, bes. S. 1 4 1 - 1 4 9 . 67 Willi GAUTSCHI, Lenin als Emigrant in der Schweiz, Zürich/Köln 1973, Zeittafel S. 352; Alfred Erich SENN, The Russian Revolution in Switzerland, 1 9 1 4 - 1 9 1 7 , Madison, Milwaukee/London 1971. Speziell zu Lenins Taktik: Robert Craig NATION, War on War: Lenin, the Zimmerwald Left, and the Origins o f Communist Internationalism, Durham, N.C. 1990. 66

Richard PIPES, Struve: Liberal on the Left, 1 8 7 0 - 1 9 0 5 , Cambridge, M A 1970, bes. S. 3 3 3 - 3 3 5 .

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) V. Der historische Stellenwert der Schweiz für die politische Emigration aus dem Zarenreich

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1917 kann man die Schweiz als einen Asylschauplatz betrachten, an dessen politischen Flüchtlingen aus dem Zarenreich sich sämtliche Schattierungen revolutionärer Ideologien und politischer Opposition in ihrer Entwicklung ablesen lassen. Untervertreten waren in diesem Spektrum nur die liberalen Konstitutionalisten und die Angehörigen der zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Wurzeln des „Populismus" und Marxismus heraus neu gegründeten „Partei der Sozialisten-Revolutionäre" (SR) 69 . Welchen Stellenwert die Schweiz als Zuflucht für die politische Emigration aus dem Zarenreich vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eingenommen hat, lässt sich heute relativ genau abschätzen. Eigentlich waren es nur drei Länder, die mit wechselnder Intensität und in unterschiedlichen Funktionen die meisten Flüchtlinge anzogen: Frankreich, die Schweiz und England 70 . Bei ihnen trafen am ehesten die Rahmenbedingungen zusammen, welche für die Wahl des Ziellandes ausschlaggebend waren: eine gewisse Sicherheit vor dem Zugriff der zaristischen Geheimpolizei; größere russische Kolonien, in denen sich die Migranten bewegen und in denen sie neue Anhänger rekrutieren konnten; eine Infrastruktur für Publikationen und den Austausch von Ideen (Druckereien, Bibliotheken, Versammlungsmöglichkeiten, Hilfsorganisationen); eine nicht zu große Entfernung von der Heimat, um Personenverkehr, Nachrichtenaustausch und Schriftenschmuggel ohne allzu gravierenden Zeitverlust bewältigen zu können (wie dies bei den USA der Fall gewesen wäre). Die Vorteile der Schweiz: „Sie verfugte über eine liberale Verfassung, eine ausgebaute Infrastruktur und über ein breites revolutionäres Rekrutierungs69

Von den mittleren Führungskadern der SR nutzte beispielsweise die mit dem Zürcher Arbeiterarzt verheiratete Lidija Kotschetkowa die Schweiz immer wieder für kurze Aufenthalte als Refugium, vgl. HUSER (Anm. 20). 70 Dazu am differenziertesten: Eliane L E U T E N E G G E R und Slavica S O V I L J , Der Stellenwert der Schweiz für die revolutionäre Emigration aus dem Zarenreich im internationalen Vergleich, in: „Zuflucht Schweiz" (Anm. 12), S . 459-504; Slavica S O V I L J , Ins Exil für die Heimat. Die oppositionelle Emigration aus dem Zarenreich im 19. Jahrhundert. Eine vergleichende Untersuchung über Lebensbedingungen, Tätigkeit und Wirkung der russländischen Emigrationsbewegung in ausgewählten europäischen Exilländern und den USA, unter besonderer Berücksichtigung der Schweiz, Zürich 1995 (unpublizierte Lizentiatsarbeit Universität Zürich); vgl. ferner: A. Ja. K L P E R M A N , Glavnye centry russkoj revoljucionnoj emigracii 70-80-ch godov XIX v. [Die Hauptzentren der russischen revolutionären Emigration der 1870-80er Jahre], in: IstoriCeskie zapiski [Historische Aufzeichnungen] 88 (1971), S . 257-295; Vladislav Ja. G R O S U L , Mezdunarodnye svjazi rossijskoj politiceskoj E migracii vo 2-j polovine XIX veka [Die internationalen Beziehungen der russischen politischen Emigration in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts], Moskau 2001, ist nach Epochen und politischen Richtungen der Emigranten, nicht nach Ländern gegliedert.

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potential, währenddem ihre Bedeutung für die ,ideelle' Weiterentwicklung und den Transit eher gering blieb. Die verfassungsmäßig garantierte Meinungs- und Pressefreiheit, die politische Stabilität sowie ausbaufähige Druckereien bildeten dabei die Grundvoraussetzungen dafür, dass sich die Schweiz als eines der Zentren der russischen revolutionären Emigration zu etablieren vermochte" 71 . Hinzu kam, dass die wachsende Zahl von Studierenden, vor allem Frauen gerade in der Schweiz ein attraktives Rekrutierungspotential für Revolutionäre eröffnete. Hauptzentrum der politischen Emigration war Genf - zum einen wegen seiner Nähe zu Frankreich, zum anderen, weil russische Intellektuelle als Fremdsprache eher Französisch als Deutsch mitbrachten. Zürich vermochte Genf nur vorübergehend auszustechen, und zwar von 1871 bis 1873 und von 1887 bis 1889 - jeweils wegen seiner studentischen Kolonie 72 . „Als ,ideelles' Zentrum rangierte Frankreich vor der Schweiz, trafen sich doch die revolutionären Größen vornehmlich in Paris. Der höhere Stellenwert Frankreichs in dieser Hinsicht lässt sich vor allem aus der kulturhistorischen Verbundenheit mit dem Zarenreich erklären". „Trotz der relativen politischen Stabilität der Schweiz galt England - in besonders kritischen Situationen - als das sicherste Land für politische Emigranten, ließ es sich doch in keiner Art und Weise von Russland unter Druck setzen. Die Schweiz lieferte politische Emigranten zwar nicht aus, konnte sich als Kleinstaat aber diplomatischem Druck weniger hartnäckig widersetzen. In diesen Fällen griff es verschiedentlich zum Mittel der Ausweisung als Lösung" 73 . Insgesamt lässt sich die einander ergänzende Funktion der drei Länder auf die Formel bringen, „dass die Schweiz allgemein eher als das logistische und Frankreich als das geistige Zentrum angesehen wurde, währenddem England sichere Zuflucht bot, wenn wirklich Not am Mann war" 74 .

Summary From the early 19th century up to the end of the First World War Switzerland attracted a growing number of persons leaving the Russian Empire for political reasons. This attraction stemmed from the liberal tradition, as well as from the neutrality of the Swiss state, which was guaranteed in 1815 by 71 72 73 74

LEUTENEGGER (Anm. 70), S. 493 f. KIPERMAN (Anm. 70), S. 259-269. LEUTENEGGER (Anm. 70), S. 494. Ebd., S. 494 f.

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the great powers of Europe. This combination of liberal principles and neutrality enabled the Swiss government to protect foreigners living within the boundaries of Switzerland against politically motivated persecution in their homelands, and especially from autocratic Russia. Nevertheless as a small state, Switzerland had to respond elastically to the pressure of big powers like Russia, which in extreme cases led to an order to expel the incriminated into a third country (as in the case of Prince Peter Kropotkin) or in the case of a murder, even to extradition to Russia (as in the case of Sergei Nechaev). Two waves of political refugees were attracted to Switzerland. The first wave from 1830 until 1864 consisted primarily of Polish patriots fighting for the independence of their homeland from Russia in the insurrections of 1830/31 and 1863/64. This struggle against national suppression was highly regarded by Swiss liberals and democrats. In contrast to this warm reception, the second wave of refugees from the 1860s - most of them members of the Russian revolutionary underground (anarchists, Marxists, social revolutionaries) met with suspicion within public opinion, because they were suspected of stirring social unrest among Swiss people. Compared to the two other countries attracting political refugees from Russia - Great Britain and France - Switzerland held the position as the printing and distribution base of political emigration, while France had a key position as the intellectual center and Great Britain as the most secure shelter from tsarist persecution.

Die Schweiz und das literarische Exil (1933-1945) Von

Kristina Schulz

Seit dem Erscheinen des so genannten Bergier-Berichts im Jahre 2001/2002 kann die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg als weitgehend erforscht gelten 1 . Der Bericht ermöglichte es auch, einen Gesamtüberblick über die schweizerische Flüchtlingspolitik zu gewinnen 2 . Der Einberufung der Expertenkommission im Jahre 1996 gingen historische Arbeiten voraus, welche die vorherrschende Vorstellung der Schweiz als ein seiner humanitären Tradition folgendes Asylland und Bewahrerin der Demokratie kritisch hinterfragten und als Teil einer nationalen „Rechtfertigungsideologie" 3 betrachteten. Damit setzten sie auf der Ebene von in den 1930er Jahren offiziell propagierten und bis heute wirksamen - Werten, Leitbildern und Ideen an. Dennoch befasste sich die Bergier-Kommission nicht mit deren Vermittlern: hommes des lettres, Gelehrten und Schriftstellern 4 . Gerade an der Schnittstelle zwischen einer - unten noch auszuführenden - Kultur der „Geistigen Landesverteidigung", die zu stärken die schweizerischen Schriftsteller von den politischen Autoritäten aufgerufen waren, und der Haltung gegenüber Flüchtlingen jedoch lässt sich, so die These des vorliegenden Beitrags, zeigen, wie komplex und kontrovers das Verhältnis der Schweiz zu Deutschland war. Das Feld der kulturellen Produktion ins Zentrum zu rücken, erlaubt die Schwierigkeiten zu 1 Die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg" (UEK) hat in 25 Monographien mit insgesamt mehr als 25 000 Seiten umfassende Analysen der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt. Eine stark gekürzte Version liegt vor: Pietro BOSCHETTI, Les Suisses et les nazis. Le rapport Bergier pour tous, Geneve 2 0 0 4 . 2 Kurt IMHOF [u. a.], Die Flüchtlings- und Außenwirtschaftspolitik 1 9 3 0 - 1 9 4 8 im Kontext der öffentlichen politischen Kommunikation 1 9 3 8 - 1 9 5 0 , sowie Unabhängige Expertenkommission, Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, beide: Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg, Zürich 2 0 0 1 - 2 0 0 2 . Weitere Einzelstudien nuancieren diesen Überblick, wie kürzlich: Jörg KRUMMENACHER, Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2 0 0 5 . 3 Georg KREIS, Die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7 ( 1 9 9 7 ) , S. 5 5 2 - 5 7 9 , hier: S. 5 7 1 . Der Artikel gibt einen grundlegenden Überblick über die jüngere Forschungsentwicklung. 4 Eine einzige Teilstudie befasst sich mit dem kulturellen Bereich: Esther FRANCINI [u. a.], Fluchtgut - Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1 9 3 3 - 1 9 4 5 und die Frage der Restitution, Zürich 2 0 0 2 . Einen vorbildlichen Beitrag zur Schließung der Forschungslücke leistet Ursula AMREIN, „Los von Berlin". Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich", Zürich 2 0 0 4 .

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analysieren, die sich aus dem doppelten Selbstverständnis des Alpenlandes, einerseits als ein Ort der Zuflucht für Fremde, andererseits als eine selbständige, sich von den sie umgebenden totalitären Regimen abgrenzende helvetische Gemeinschaft, ergaben. Fokussiert auf die Jahre 1933 bis 1945, bezieht der vorliegende Beitrag die Ergebnisse der neueren Forschungen zur Flüchtlingsfrage (I) auf die Situation des kulturellen, genauer: des literarischen Feldes der deutschsprachigen Schweiz. Denn hier, in der Propagierung einer „Geistigen Landesverteidigung", manifestierte sich das politische Konzept der Schweiz als Willensnation (II) 5 . Vor diesem Hintergrund wird schließlich die Haltung gegenüber literarischen Flüchtlingen betrachtet (III).

I. Die Schweiz als Flüchtlingsland Das Thema der Flüchtlingspolitik der Jahre 1933 und 1945 hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Konjunkturen der öffentlichen Aufmerksamkeit durchlaufen. Seine Aufarbeitung bzw. deren Ausbleiben unterlag zeitgebundenen Erkenntnisinteressen, wie dem Bedürfnis nach moralischer Stabilisierung (ausbleibende Auseinandersetzung im Nachkriegsjahrzehnt), der Suche nach den „Tätern" (1960er Jahre 6 ) oder schließlich dem Ziel, an die seit zwei Jahrzehnten international geführte Debatte über Schuld und Mitschuld (1980er und 1990er Jahre 7 ) anzuschließen. Auf der Grundlage der vorliegenden Arbeiten lassen sich Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsströme charakterisieren. Bereits im Kontext des Ersten Weltkriegs ging die Schweiz zu einer Politik der Grenzkontrolle und Grenzschließung über 8 . Diese richtete sich insbesondere auch gegen Juden, deren Anträge auf Einbürgerung wesentlich strenger behandelt wurden als die anderer Einreisewilliger. Die wirtschaftliche Krise der Zwischenkriegszeit führte zu einer Radikalisierung in der Ausländerpoli5

Die Studie, aus welcher der vorliegende Beitrag über das literarische Feld der deutschsprachigen Schweiz hervorgeht, untersucht die Auswirkungen der Aufnahme französischer und deutscher Autoren auf das Ankunftsland. 6 Alfred A. HÄSLER, Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge, Zürich 1967. 7 Ζ. B. Andre LASSERRE, Frontieres et camps. Le refuge en Suisse de 1945 Ä 1945, Lausanne 1995; Georg KREIS, Die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1933-1945, Basel 1997; Jürg STADELMANN, Umgang mit Fremden in bedrängter Zeit. Schweizerische Flüchtlingspolitik 1940-1945 und ihre Rezeption bis heute, Zürich 1998. Auch die Arbeit der Bergier-Kommission, deren öffentliche Finanzierung durch den schweizerischen Bundesrat gebilligt wurde, sowie Veröffentlichungen wie der eher journalistische Essay von Anne WEILL-LEVY [U. a.], La discrimination, principe directeur de la politique d'immigration, 2 Bde., Geneve 1999 und 2003, entstanden im Kontext dieses auflebenden Interesses. 8 Die Eidgenössische Zentrale für Fremdenpolizei wurde 1917 als Einheit des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) gegründet um, gegen die „ausländische Überbevölkerung" zu kämpfen.

Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil

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tik, die jedoch zunächst keine gezielte Flüchtlingspolitik vorsah. Für den Aufenthaltsstatus des weit überwiegenden Teils der (zivilen) Flüchtlinge war das 1931 beschlossene und 1934 in Kraft getretene „Bundesgesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer" (ANAG) maßgeblich, das zwischen drei Aufenthaltskategorien unterschied: der unbeschränkten Niederlassung und einer zeitlich begrenzten Aufenthaltsgenehmigung (beide Kategorien setzten das Vorhandensein gültiger Ausweispapiere des Heimatstaats voraus) sowie einer von den kantonalen Instanzen zugesprochenen, auf drei bis sechs Monate beschränkten Autorisierung des Aufenthalts (sogenannte Toleranzbewilligung). Letzterer Status, der fiir die zumeist ohne gültige Dokumente in die Schweiz eingereisten Flüchtlinge als einziger in Frage kam, wurde auf die Mehrheit der geschätzten 60 000 Zivilflüchtlinge in der Zeit des Krieges angewandt 9 . Damit galt fiir die Flüchtlinge ein Regelwerk, das ursprünglich die Einwanderungsfrage regeln sollte und auf die besondere Situation durch die totalitaristischen Regime der Nachbarstaaten Verfolgten keine Rücksicht nahm. Erst 1942 führten die Behörden den Status des „Flüchtlings" ein. Diese Flüchtlinge (auch „internierte Flüchtlinge") wurden bei ihrer Ankunft in die Schweiz in Flüchtlingslager eingewiesen und unterlagen der Arbeitspflicht 10 . Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen macht es schwer, ein einheitliches Bild der Gewährungspram zu zeichnen. Für alle Instanzen galt jedoch vor und während des ganzen Zweiten Weltkrieges die Maxime, dass die Schweiz wesentlich ein Durchgangsland darstelle und die Flüchtlinge gehalten seien, möglichst schnell ihre Ausreise in ein anderes „sicheres" Land vorzubereiten. Mit der Zuspitzung der politischen Situation in Europa nach 1938 und der immer radikaleren Judenverfolgung in Deutschland sowie den im Krieg von Deutschland besetzten Ländern verringerten sich die Möglichkeiten einer solchen Weiterreise, so dass es zunehmend schwieriger wurde, diese Maxime in der Praxis beizubehalten. Auf den „Anschluss" Österreichs reagierte die Schweiz mit einer Verschärfung der Grenzkontrollen, einer Zunahme der Ausweisungen und einer rigorosen Politik der Ablehnung insbesondere jüdischer Flüchtlinge aus dem „Reich"''. Angestrebt wurde von Seiten der schweizerischen Autoritäten eine 9

BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 57. Boschetti, der auf die Schwierigkeiten hinweist, zuverlässige Zahlen zu erhalten, differenziert z w i s c h e n 51 129 zivilen Flüchtlingen, e t w a 2 0 0 0 Inhabern einer vorübergehenden kantonalen Toleranzbewilligung und 7 0 0 0 bis 8 0 0 0 Emigranten, die bereits vor Kriegsausbruch in der S c h w e i z lebten. Dazu kamen circa 104 0 0 0 militärische Flüchtlinge, die, g e m ä ß der Haager Konvention aus d e m Jahre 1907, in der S c h w e i z interniert waren. 10 Im Anschluss an die Benennungspraxis der U E K wird im vorliegenden Beitrag der Begriff des Flüchtlings zusammenfassend fur politische Flüchtlinge, Emigranten und internierte Flüchtlinge benutzt.

" Der österreichische „Anschluss" wurde am 12. März 1938 entschieden. A m 28. März beschloss der schweizerische Bundesrat die Visumspflicht fur Inhaberinnen und Inhaber

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Ausweitung der Visumspflicht für sämtliche Deutschen, die eine Einreise in die Schweiz begehrten. Diese Lösung, von der eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen zu erwarten gewesen wäre, da das Empfängerland, also die Schweiz, in jedem Fall einzeln über Genehmigung oder Zurückweisung hätte entscheiden können, war im Hinblick auf die diplomatischen (und auch wirtschaftlichen) Beziehungen zu Deutschland nicht durchsetzbar. Schließlich verzichteten die schweizerischen Autoritäten auf die uneingeschränkte Visumspflicht. Im Gegenzug kennzeichneten die deutschen Behörden die Pässe deutscher Juden mit einem deutlich sichtbaren „J". Wenn auch auf Seiten der schweizerischen Behörden durchaus Bedenken gegen diese Form der Ausweisung bestanden, weil sie - sollte Deutschland die Gegenseitigkeit der Maßnahme einfordern - auch schweizerische Juden treffen konnte und sie zudem Gefahr lief, Widerstand aus der Öffentlichkeit zu provozieren, unterzeichneten die deutsche und die schweizerische Seite am 29. September 1938 ein entsprechendes Protokoll. Folgt man dem Bergier-Bericht, führte der Bundesrat mit der Billigung dieses Beschlusses die rassistische Konzeption der nationalsozialistischen Gesetzgebung in das Verwaltungsrecht der Schweiz ein 12 . Mit dem Kriegsausbruch erlebte die Eidgenossenschaft die Heimkehr von (bis 1945) insgesamt über 50 000 Auslandsschweizern und sah sich dem Drängen auf Einreise zehntausender von Flüchtlingen ausgesetzt. Da das Selbstverständnis als Transitland sich nun nicht mehr als wirklichkeitsgerecht erwies 13 , bedurfte es aus der Sicht der schweizerischen Autoritäten einer noch strengeren Zurückweisung von „illegalen", d. h. ohne Visa eingereisten Flüchtlingen 14 . Gleichzeitig, besonders aber seit 1942, als man die Juden in Deutschland nicht mehr aufforderte, das Land zu verlassen, sondern sie verhaftete, vor Ort tötete oder aber in die Gaskammern der Vernichtungslager brachte, stieg die Anzahl der Flüchtlinge, die versuchten, die Grenze zur Schweiz „illegal" zu überqueren. Für diesen Fall sah das schweizerische Fremdenpolizeireglement die sofortige Zurückweisung und - bei nochmaliger Festnahme - die Auslieferung an die Behörden des Herkunftslandes vor 15 . Dies traf wiederum die am stärksten von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik Betroffenen: des österreichischen Passes. Bis zum 1. April 1938 reisten, Schätzungen entsprechend, 3 000 bis 4 000 Flüchtlinge aus Österreich in die Schweiz ein. 12 BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 36. Am 18./19. August 1938 beschloss der Bundesrat, dass Flüchtlinge ohne Visa zurückzuweisen seien, selbst wenn ihr Leben dadurch in Gefahr geriet. Am 4. Oktober 1938 wurde eine Visumspflicht für „Nicht-Arier" eingeführt, die in die Schweiz einreisen wollten. 13 Für jene, die, größtenteils vor dem Krieg, eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatten, die Schweiz aber nach Ausbruch des Krieges nicht mehr verlassen konnten, schuf man im Oktober 1939 den rechtlichen Status des Emigranten. 14 Ab September 1939 galt die allgemeine Visumspflicht. 15 Vgl. Kreisschreiben des EJDP, Mesures contre l'affux des refugiees etrangers civils et militaires. Berne, 13 aoüt 1942, Confidentiel, N ° 296; dazu WEILL-LEVY, Discrimination (Anm. 7), S. 21 ff.

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Juden, aber auch Osteuropäer sowie Roma und Sinti, auf die der Status des „politischen Flüchtlings" nicht angewendet wurde, galten sie doch als Flüchtlinge aufgrund rassischer oder antisemitischer, nicht aber aufgrund politischer Verfolgung. Zahlreich sind die Belege dafür, dass die strengen Regelungen in einzelnen Kantonen, in bestimmten Grenzabschnitten sowie unter dem Einfluss vieler lokaler Verantwortlicher und der lokalen Bevölkerung nicht eingehalten und auf diese Weise viele Menschen gerettet wurden 16 . Im Herbst 1943 wurde auch von offizieller Seite für eine Mäßigung der Aus- und Rückweisungspraxis plädiert. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als nach dem Fall des faschistischen Regimes in Italien und der Besetzung Norditaliens durch Hitlers Truppen Tausende von Flüchtlingen von Süden her versuchten, die schweizerisch-italienische Grenze zu überschreiten. Doch erst im Juli 1944 wurde die Gesetzgebung entsprechend geändert und der Status des Flüchtlings auch auf Juden angewandt 17 . Die Zahl der im Zweiten Weltkrieg an der Grenze Abgewiesenen wird - unter Vorbehalt - insgesamt auf mindestens 24 500 geschätzt 18 .

II. Die „Geistige Landesverteidigung" der Schweiz Die Erforschung der „Geistigen Landesverteidigung" ist Produkt und Produzent zugleich einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Selbstbild der Schweiz als „einig in der Vielheit" 19 . Eine sich seit den 1970er Jahren konturierende reflexive Wende in der schweizerischen Historiographie der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs hat dazu geführt, die reale Existenz der Einheit zu hinterfragen. Bis heute ist der Begriff der „Geistigen Landesverteidigung" Gegenstand konkurrierender Geschichtsinterpretationen 20 . Je nach Erkenntnisinteresse und Wertverhaftung der Forschenden wird 16

Dazu auch: Jean-Pierre RICHARDOT, Die andere Schweiz. Eidgenössischer Widerstand 1940-1944, Berlin 2005. 17 Als Grund für die Öffnung vermutet Stadelmann (STADELMANN, Umgang [Anm. 7], S. 94 ff.), dass aufgrund der nachlassenden Kriegserfolge Deutschlands der Druck der Deutschen auf die Schweiz nachließ, ferner die Lebensbedingungen von Regimegegnern in Deutschland und die Verfolgung der Juden immer mehr bekannt wurden. Von einem völligen Gesinnungswandel könne jedoch, auch angesichts der Kontinuität der „Überfremdungsabwehr" nach 1945, nicht gesprochen werden. Etwas weniger als die Hälfte der Flüchtlinge, die in die Schweiz gelangten, waren Juden. 18 UEK, Flüchtlinge (wie Anm. 2), S. 31. Diese Schätzung bezieht sich auf jene Abweisungen, die Spuren hinterlassen haben. Die Zahl der tatsächlich Zurückgewiesenen dürfte um vieles höher liegen. 19 Emblematisch: Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität, hrsg. von Guy P. Marchai und Aram Mattioli, Zürich 1989. 20 Vgl. im folgenden bes. Joseph MOOSER, Die „Geistige Landesverteidigung" in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte

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dabei die „Geistige Landesverteidigung" entweder als „heroisches Kollektiverlebnis" des Widerstandes gegen die faschistische Herrschaft gedeutet oder, mit dem Blick auf die restriktive Flüchtlingspolitik, als „Anpassung" 21 . Der Historiker Hans-Ulrich Jost und der Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer zählen zu den frühen Vertretern der These, die Schweiz habe sich noch in der Abwehr an dem nationalsozialistischen Feind orientiert, indem sie „selbst im Streben nach nationaler Unabhängigkeit [...] Elemente der politischen Kultur des Gegners" 22 übernahm. Bestrebt, sich von einer Interpretation der geistigen Landesverteidigung als anti-totalitäre Haltung abzugrenzen, schlugen sie den Begriff des „helvetischen Totalitarismus" 23 bzw. des „demokratischen Totalitarismus" 24 vor. Mit dem Hinweis auf die vielfältigen Bedeutungszuschreibungen des Wortes streben neuere Forschungen an zu zeigen, wie das Schlagwort von unterschiedlichen historischen Akteuren benutzt und gedeutet wurde. Im Folgenden geht es zum einen darum, in Abgrenzung zu anderen konkurrierenden Definitionen der „Geistigen Landesverteidigung" die wesentlichen Elemente jener zeitgenössische Interpretation zu charakterisieren, die sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre als dominierendes Konzept durchsetzte; zum anderen zu zeigen, auf welchen Wegen sich über den Begriff der „Geistigen Landesverteidigung" das politische Konzept der Willensnation kulturalisieren ließ.

Ein Begriff - divergierende Interpretationen Gelang es, mit dem Stichwort der „Geistigen Landesverteidigung" nach außen ein Bild der Einheit zu vermitteln, stellte es, Mooser folgend, zumindest bis 1939 innenpolitisch nur einen Minimalkonsens dar, der auf dem Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt, zur dezentralen Organisations- und Entscheidungsstruktur sowie einer Abwehrhaltung nach außen beruhte 25 . Die Verwen-

47 (1997), S. 685-708. Zur Problematik ebenfalls: Hans AMSTUTZ, Das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Schweiz in den Jahren 1930-1945, Aarau 1996. 21 Vgl. MOOSER, Geistige Landsverteidigung (Anm. 20), hier: S. 686 f. 22 Ebd., S. 687. 23 Hans-Ulrich JOST, Bedrohung und Enge (1914-1945), in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Basel 1986, S. 731-819, hier: S. 761. Jost lehnt allerdings die Ausschließlichkeit von „Widerstand" versus „Anpassung" ab. 24 Charles LINSMAYER, Die Krise der Demokratie als Krise ihrer Literatur. Die Literatur der deutschen Schweiz im Zeitalter der Geistigen Landesverteidigung, in: Frühling der Gegenwart. Deutschschweizer Erzählungen 1890-1950, hrsg. von Andrea Linsmayer und Charles Linsmayer, Frankfurt a. M. 1990, S. 436-493, hier: S. 463. 25 Jakob Tanner weist auf unumstritten geltende Orientierungsmuster hin, die eine gewisse Übereinstimmung und Kontinuität erklären: die „Anerkennung einer kulturellen Kraftfeldervielfalt, eine ausgeprägte bottom-up Organisation der politischen Willensbildung sowie dezentralisierte Entscheidungsprozesse", verbunden mit struktureller „Führerlosigkeit". Vgl. Jakob TANNER, „Die Ereignisse marschieren schnell". Die Schweiz im Sommer 1940,

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dung des Begriffs der „kulturellen Landesverteidigung" wurde bereits für die ausgehenden 1920er Jahre nachgewiesen 26 . Benutzt wurde er von einem radikal-demokratischen Nationalrat, Jakob Zimmerli, der einen Antrag auf Subventionen des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes verteidigte mit dem Argument, es gelte, gegen die „Überfremdung" des literarischen Marktes anzukämpfen. Ab 1933 eigneten sich unterschiedliche politische Strömungen den Begriff der „Geistigen Landesverteidigung" an und gaben ihm eine jeweils andere DeutungsVariante 27 . Idealtypisch sind eine neokonservative, eine liberale und eine linke Interpretation zu unterscheiden. Dargestellt werden ihr jeweiliger historischer Bezugspunkt, die Erwartungen an die gesellschaftliche Organisation, die anzustrebende Staatsform sowie die Definition des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat. Historischer Bezugspunkt: Der positive Bezugspunkt für den seit Anfang des 20. Jahrhunderts sich entfaltenden neuen Konservativismus war die Gesellschaft der Vormoderne. Die am exponiertesten durch den reaktionären Freiburger Gelehrten und Schriftsteller Gonzague de Reynolds (1880-1970) hervorgebrachte Modemisierungskritik betrachtete die Französische Revolution als Anfang vom Ende bewährter Werte und Ordnungen, ein Prozess, der aus dieser Sicht mit einer schädlichen Urbanisierung und Kapitalisierung einer ehemals „heilen", ländlichen Welt einherging. Im Gegensatz zu dieser rückwärts gewandten Vision bezogen Vertreter des bürgerlich-liberalen Bürgertums, die ihr Sprachrohr in alten bürgerlichen Zeitungen wie der „Neuen Zürcher Zeitung" hatten, sich zwar ebenfalls auf die Französische Revolution, deuteten diese aber als Beginn einer demokratischen, bürgerlichen Revolution, die ihre erfolgreiche Weiterfiihrung 1848 fand. Hierin trafen sich ihre Vorstellungen mit denen der Sozialdemokratischen Partei, die, wenngleich sie an der Eigenständigkeit der Arbeiterinteressen festhielt, mit ihrem Parteiprogramm von 1935 auf das Ziel einer von der Arbeiterklasse getragenen Revolution der Gesellschaft verzichtete und sich zum „Arbeitsfrieden" bekannte. Gesellschaftliche Organisation: Diejenigen, die die Legitimation der geistigen Landesverteidigung aus Formen traditioneller gesellschaftlicher Organisation bezogen, plädierten für eine „neue ,Einheit' von Gesellschaft und Politik im Zeichen der Autorität" 28 . Hauptträger der angestrebten Gesellschaft waren aus dieser Sicht die ländliche Gesellschaft mit der traditionellen Bauernschaft sowie die alten patrizischen Eliten. Dagegen sprachen sich die Anhänger einer liberalen Sichtweise ftir eine dynamische demokratische in: Struktur und Ereignis, hrsg. von Andreas Suter und Manfred Heuling, Göttingen 2001, S. 2 5 7 - 2 8 2 , hier: S . 2 6 1 . 26 Ulrich NIEDERER, Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Kulturpolitik und individuelle Förderung: Jakob Bührer als Beispiel, Tübingen 1994, S. 118. 27 Ich folge im wesentlichen der Argumentation von MOOSER, Geistige Landesverteidigung (Anm. 20), S. 6 9 0 ff. Ebd., S. 691.

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Staatsform aus, in die sich auch die Arbeiterbewegung integrieren sollte. Sie setzten auf die Repräsentanten der technisch-wirtschaftlichen Moderne als Träger des angestrebten Wandels. Die linke Deutungsvariante der geistigen Landesverteidigung rückte soziale Sicherheit als Schlüsselelement der anzustrebenden Gesellschaft ins Zentrum und verband ihr Plädoyer für gesellschaftliche Reformen - die Revolutionsaspiration war in den Hintergrund getreten - mit wirtschafts- und sozialpolitischen Erwartungen und der Hoffnung auf einen Abbau von Klassenunterschieden. Wenngleich keine der drei Deutungsvarianten sich auf ein rassistisches oder völkisches Konzept berief, vertraten einzig die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung einen explizit antifaschistischen Standpunkt. Staatsform und Verhältnis zwischen Bürger und Staat: Die antiliberale und antidemokratische Denkströmung des Neokonservatismus setzte nicht auf demokratisch gewählte Institutionen des Verfassungsstaats, dessen Aufgabe es war, die staatsbürgerlichen Rechte des Individuums zu garantieren, sondern auf die föderalen Strukturen des Gemeinwesens. Die Eidgenossenschaft wurde im Sinn einer „bündischen Gemeinschaft" interpretiert, in der die einzelnen Bestandteile des Bundes gegenüber einem liberalen Bundesstaat die Oberhand behalten sollten. Das Verhältnis vom Bürger zum Staat sollte durch Autorität und Gehorsam geprägt sein und alle Bereiche des Lebens umfassen („totale Demokratie" 29 ). Abgelehnt wurde demgegenüber alles, was von außen kam. Besonders der Marxismus wurde auf schädliche ausländische Einflüsse zurückgeführt 30 . Die liberale Sichtweise verteidigte die demokratischen Institutionen, die als „positives Erbe" der bürgerlichen Revolution galten 31 . Man setzte auf eine Staatsform, in der die mündigen Bürger auf der Grundlage vorgesehener Kanäle der Interessensäußerung über das Schicksal des Landes verhandeln sollten. Eine solche Sichtweise war nicht zwangsläufig anti-föderal, stellte jedoch die Interessen der Nation über die partikularen Anliegen der Kantone. In Abgrenzung zum Neokonservatismus wurde das Verhältnis zwischen Bürger und Staat explizit als nicht autoritär und nicht interventionistisch definiert. Die linke Deutungsvariante schließlich strebte eine Volksgemeinschaft an, in deren Mittelpunkt soziale Gerechtigkeit stand und in der das Streben des Staates dem Abbau von Arbeitslosigkeit und die Überwindung der wirtschaftlichen Krise galt. Angesichts einer zunehmenden Bedrohung durch deutsche Expansionsbestrebungen in den 1930er Jahren gewann die neokonservative Deutung der geistigen Landesverteidigung als Rückbesinnung auf genuin „schweizeri29

Der Begriff tauchte erstmals im Schweizer Spiegel auf; vgl. Für die totale Demokratie, in: Schweizer Spiegel, Oktober 1938, S. 30-35. 30 LINSMAYER, Krise (Anm. 24), S. 442. 31 LINSMAYER, Frühling (Anm. 24), S. 100.

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sehe" Werte an Überzeugungskraft. Basierend auf der Annahme einer spezifisch schweizerischen Kultur und Wesensart, avancierte eine so verstandene „Geistige Landesverteidigung" zum „Schlüsselbegriff der innenpolitischen Integrations- und der außenpolitischen Abgrenzungsbemühungen" 32 . „Verteidigt" wurde damit unter anderem der schweizerische Binnenmarkt, den es für kulturelle Güter attraktiver zu machen galt, nachdem der deutsche Markt mit der nationalsozialistischen Politik der „Gleichschaltung" in starkem Maß eingeschränkt war 33 .

Übersicht: Deutungsvarianten der „geistigen Landesverteidigung"

Bezugspunkt

Neokonservative

Liberale

Linke

Vormoderne, radikale Kritik der Moderne, die Werte und Ordnung zerstöre

Revolutionen von 1789 und 1848 als demokratische, bürgerliche Revolutionen gedeutet

Prospektiv

Negativer Bezugspunkt Französische Revolution

Ziel/Erwartung

Einheit von Gesellschaft und Politik im Zeichen der Autorität

Dynamische demokratische Staatsform Harmonisierte Vorstellung einer alle Kräfte vereinenden Demokratie Integration der Arbeiterbewegung

Staatsform

Förderalistische Strukturen

Verhältnis Bürger-Staat

„Totale Demokratie"

Nicht autoritär

autoritäre Demokratie

Nicht interventionistisch

Autorität und Gehorsam

Trägerschaft

Ländliche Gesellschaft Patrizische Eliten

32

33

Liberaler Bundesstaat

Soziale und politische Revolution

Soziale Sicherheit Wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen Abbau von Klassenunterschieden Explizit antifaschistisch Volksgemeinschaft mit sozialer Gerechtigkeit Klassenlose Gesellschaft

Verhandlung mündiger Bürger Vertreter der technisch-wirtschaftlichen Moderne

Arbeiterschaft

A M R E I N , LOS v o n B e r l i n ( A n m . 4 ) , S . 9 1 .

Dazu: Martin DAHINDEN, Das Schweizerbuch im Zeitalter von Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung, Bern 1987; Julian SCHÜTT, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, 2. Aufl. Zürich 1997.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) Nationale Manifestationen der kulturellen Eigenständigkeit der Schweiz

Am 9. Dezember 1938 adressierte der Bundesrat an das Parlament eine Botschaft, die unter der Federführung des katholisch-konservativen Bundesrates Philipp Etter entstanden war 34 . Diese Botschaft legte die Prinzipien der schweizerischen Kulturpolitik dar und war gleichzeitig ein Plädoyer dafür, die Kulturförderung trotz, ja gerade wegen der angespannten außenpolitischen Situation stark zu machen. Welche Bedeutung wird der geistigen Landesverteidigung in diesem Schlüsseldokument der schweizerischen Kulturpolitik Ende der 1930er Jahre gegeben? Zunächst wird betont, dass die geistige Landesverteidigung eine unverzichtbare Ergänzung zur „bewaffneten und wirtschaftlichen Landesverteidigung"35 darstelle, gehe es doch darum, „die geistigen Kräfte des Landes zu mobilisieren und für die geistige und politische Selbstbehauptung"36 einzusetzen. Der Anspruch der Autoren auf öffentliche Unterstützung gründet auf der Schlüsselfunktion der Kulturschaffenden als Wahrer „schweizerischer Kulturwerte" und Werber dieser Werte „im In- und Ausland" 37 . Nebeneinander werden zwei Grundsätze der Kulturpolitik des Bundes hervorgehoben: die Freiheit der Kultur als Bedingung für ein fruchtbares, schöpferisches Geistesleben sowie die Kulturhoheit der Kantone. Ein die freie Persönlichkeit schützender kultureller Föderalismus wird so - ohne Deutschland direkt zu nennen - in Anschlag gebracht gegen eine „staatlich diktierte und dirigierte Kultur" 38 . Die besondere Bedeutung einer geistigen Verteidigung des Landes wird aus dessen spezieller geographischer Lage und den spezifischen kulturellen Verhältnissen, der Zugehörigkeit zu drei Sprach- und Kulturräumen, abgeleitet. Zurückgewiesen wird „eine Auffassung vom Staat, wonach die staatlichen Grenzen mit dem sprachlichen Gebiet zusammenfallen müssen" 39 . Die lange Geschichte der Schweiz habe gezeigt, dass die Einheit der Eidgenossenschaft nicht auf der Einheit der Sprache sondern auf dem gemeinsamen Willen zur staatlichen Gemeinschaft beruhe. Diesen Willen im Sinn einer „positiven Besinnung auf die geistigen Grundlagen unserer schweizerischen Eigenart" zu stärken und „unschweizerisches Gedankengut" 40 abzuwehren, sei die eigentliche Aufgabe der geistigen Landesverteidigung. Was aber prägt den so evozierten schweizerischen Geist? 34

MOOSER, Geistige Landesverteidigung (Anm. 20), S. 690. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung (im folgenden: Botschaft), in: Bundesblatt N° 50 vom 14. 12. 1938, Bd. 2, S. 9 8 5 - 1 0 3 5 , hier: S. 985. 36 Ebd., S. 985 f. 37 Ebd., S. 996. 38 Ebd., S. 994. 39 Ebd., S. 996. 40 Ebd. 35

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Drei Konstanten werden hervorgehoben: Erstens, die Zugehörigkeit der Schweiz „zu drei großen geistigen Lebensräumen des Abendlandes und Zusammenfassung des Geistigen dieser drei Lebensräume in einen gemeinsamen Lebensraum" 41 , zweitens, die „hündische Gemeinschaft" sowie die Besonderheit der schweizerischen Demokratie, schließlich drittens, die „Ehrfurcht vor der Würde und Freiheit des Menschen" 42 . Untermauert mit dem Hinweis auf einen gemeinsamen geographischen Bezug, die Verbundenheit zu den Alpen und insbesondere zum St. Gotthard, verschmelzen in diesem Selbstbild kulturelle (kulturelle Vielfalt), gesellschaftliche (Wille zur staatlichen Gemeinschaft in der Form einer Eidgenossenschaft) und politische (Demokratie und Freiheit des Menschen) Aspekte. Zweifellos trägt die Kulturbotschaft die Handschrift einer neo-konservativen Deutung der geistigen Landesverteidigung. Sie fordert zum einen auf, die traditionellen Werte zu wahren und an bewährten Konstanten festzuhalten. Zum anderen postuliert sie - entgegen aller Beteuerungen im Hinblick auf die Eigenständigkeit der Kultur - die Einheit von Gesellschaft und Politik, indem sie gleichsam selbstverständlich davon ausgeht, dass die Kultur in den Dienst der Politik zu nehmen sei. Kultur für politische Zwecke zu instrumentalisieren, scheint den Autoren nicht bedenklich 43 . Bemerkenswert ist schließlich die fortlaufende Betonung der föderalen Organisation des kulturellen Lebens der Schweiz. Der Föderalismus gilt als „der stärkste Wall gegen geistige Gleichschaltung" 44 und als Garant der schweizerischen Demokratie, die gleichsam „organisch" von unten her aufgebaut sei. Wenngleich Deutschland namentlich nur am Rande der Kulturbotschaft genannt wird, scheint so das Schreckbild einer auf Expansion gerichteten deutschen Kultur doch zwischen den Zeilen unübersehbar durch 45 . Die akute Gefahr Deutschlands fur die Schweiz wird in der Tatsache gesehen, dass die totalitäre Organisation und Zentralisierung des deutschen kulturellen Lebens mit einer Schließung des deutschen Marktes für Kultur-, besonders Literaturerzeugnisse aus der deutschsprachigen Schweiz einhergehe und deren Rezeption damit auf den kleinen Binnenabsatzmarkt beschränkt werde. Folglich gelte es, die inländische Literaturproduktion zu stützen, um ein „vom Ausland unabhängiges schweizerisches Schrifttum im Sinne unserer geistigen

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Das Rätoromanische wird erst im Zuge dieser Aufwertung der Regionen als vierte Landessprache anerkannt. Kulturell wird es dem romanischen Raum zugerechnet. 42 Botschaft (Anm. 35), S. 998. 43 An der deutschen Kulturpolitik wird allerdings gerade diese Vereinnahmung kritisiert. Vgl. ebd., S. 994. 44 Ebd., S. 999. 45 Der Einmarsch der Wehrmacht in Österreich und dessen „Anschluss" ans „Reich" lag ein gutes halbes Jahr zurück. Seitdem waren zahlreiche Kulturschaffende vor den Auswirkungen der kulturellen „Gleichschaltung" aus Österreich in die Schweiz geflohen.

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Selbstbehauptung" 46 sicher zu stellen. Dies solle für Bücher und Zeitschriften ebenso gelten wie für das Theater, den Film und das Radio. Angeregt wird ferner eine Belebung des Austauschs von Kulturgütern (Ausstellungen, Vorträge, Sprachaufenthalte, Übersetzungen) zwischen den verschiedenen Sprachgemeinschaften in der Schweiz, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und die „schweizerische Geistesgemeinschaft mehr denn je zum Erlebnis werden zu lassen" 47 . Die Kulturbotschaft mündete in den Entwurf einer von der Eidgenossenschaft geförderten Einrichtung, die - in Form einer Stiftung „Pro Helvetia" - der dargelegten kulturpolitischen Linie zur Realisierung verhelfen sollte. Vorbereitet wurde die Vorlage zum Bundesbeschluss über die Gründung der Stiftung durch Diskussionen, die bereits seit 1935 in kultur-politisch offenen Kreisen geführt wurden und an denen die führenden Vertreter des bundesweit organisierten „Schweizerischen Schriftstellerverbandes" (SSV), Felix Moeschlin (1882-1969) und Karl Naef (1894-1969), beteiligt waren 48 . Etter schien es zu diesem Zeitpunkt noch nicht dringlich, auf eine gesamtschweizerische Kulturpolitik hinzuarbeiten, er ließ vielmehr durchblicken, dass die Kulturpflege in erster Line Sache der Kantone und nicht des Bundes sei 49 . Der SSV und die „Neue Helvetische Gesellschaft" (NHG), deren Mitglied Karl Naef war, drängten weiter auf die Formulierung von Richtlinien für eine nationale kulturelle Politik, wobei die Abwehr von Fremden für sie zentral war 50 . Die Debatten zur Gründung einer nationalen Institution zur Koordination kulturpolitischer Maßnahmen wurden in den Kreisen um die NHG und den SSV weitergeführt. Im April 1938 legte Naef einen Entwurf für ein entsprechendes Institut vor, der auch vom Departement des Inneren, dem Bundesrat Etter vorsaß, wahrgenommen wurde 51 . Die Vorschläge gingen direkt in die bereits zitierte Botschaft des Bundesrates vom 9. Dezember 1938 ein. Beantragt wurde mit dem beigefügten Entwurf „Bundesbeschluss 46

Botschaft (Anm. 35), S. 1003. Ebd., S. 1008. Vergleichbare Maßnahmen werden auch für die Kulturwerbung im Ausland vorgeschlagen sowie in Bezug auf das Erziehung- und Bildungswesen. Hier wird insbesondere die föderale Kompetenzverteilung hervorgehoben. 48 Schweizerischer Schriftstellerverein, Grundsätze für eine eidgenössische Kulturpolitik, 20. Juni 1935, Bundesarchiv Bern: Ε 3001 (A) 3, Bd. 26; vgl. hierzu AMREIN, LOS von Berlin (Anm. 4), S. 89. 49 Philippe ETTER, Bemerkungen zu den Grundsätzen für eine eidgenössische Kulturpolitik. Aktennotiz zur Sitzung mit Moeschlin und Naef vom 26. Juni 1935, Bundesarchiv Bern: Ε 3001 3, Bd. 26, zitiert nach AMREIN, LOS von Berlin (Anm. 4), S. 90 f. 50 Neue Helvetische Gesellschaft, Wirken für schweizerische Eigenart im Auslande, vom 15. Juli 1936 an Giuseppe Motta, Bundesarchiv Bern: Ε 3001 (A) 3, Bd. 36, zitiert nach ebd., S. 92 f. Die Autoren definierten geistige Landesverteidigung u. a. als „Kampf gegen das unerwünschte fremde Kulturgut", „Kampf gegen die artfremden ausländischen Bühnenleiter und Bühnenkünstler" und „Kampf gegen die ausländische Schund und Kitschliteratur". 51 Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch Franz KESSLER, Die Schweizerische Kulturstiftung „Pro Helvetia", Zürich 1993. 47

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betreffend Schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung" eine jährliche finanzielle Zuwendung „für die Zwecke schweizerischer Kulturwahrung und Kulturwerbung" 52 . Um das Geld zu verwalten, sollte eine privatrechtliche Stiftung mit dem Namen „Pro Helvetia" gegründet werden, die rechtlich dem Eidgenössischen Departement des Inneren unterstehen sollte. Die Bundesversammlung nahm die Vorlage am 5. April 1939 an. Generalsekretär von „Pro Helvetia" wurde Karl Naef 5 3 . Noch während der vorbereitenden Diskussionen über die Kulturstiftung engagierten sich Naef und Etter fiir ein weiteres Projekt 54 , mit dem die Besinnung auf das Schweizerische und die Darstellung der Nation als Willensgemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden sollte: die schweizerische Landesausstellung, die, seit Anfang 1936 geplant, im Sommer 1939 in Zürich stattfand. Ziel der am 6. Mai 1939 in Zürich eröffneten „Landi" 55 war es, zu einer positiven Darstellung der schweizerischen Identität beizutragen. Die Ausstellung strebte an, wirtschaftliche, technische und kulturelle Errungenschaften zu präsentieren und damit nach innen und nach außen die Stärke der Schweiz zu demonstrieren. Dabei galt es, einerseits die Schweiz als Land des technischen Fortschritts darzustellen (dazu trug beispielsweise eine eigens errichtete Seilbahn bei, mit der die verschiedenen Ausstellungsorte in Zürich zu erreichen waren), andererseits aber, traditionelle Werte und Konstanten stark zu machen. Angestrebt wurde „die Beförderung einer zukunftsgerichteten Entwicklung, die sich innerhalb der tradierten Normen und Wertvorstellungen zu vollziehen hatte" 56 . Dabei wurde bei vielfaltigen Gelegenheiten die Schweiz als Nation dargestellt, deren Einheit nicht auf „Blut, Rasse, Sprache" 5 7 gegründet war, sondern einerseits auf einer der Schweiz spezifischen Vielfalt eben dieser Kriterien („einig in der Vielheit") und andererseits durch den Bezug auf den gemeinsamen Lebensraum, die Alpen 58 .

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Botschaft (Anm. 35), S. 1014. Allerdings wurde „Pro Helvetia" zunächst nicht als Stiftung gegründet, sondern funktionierte bis Kriegsende als „Arbeitsgemeinschaft Pro Helvetia". Diese umfasste nach der Mobilmachung im September 1939 die zwei relativ unabhängig voneinander arbeitenden Abteilungen „Volk" und „Armee". Die Abeilung „Armee" wurde als Sektion „Heer und Haus" der Propagandasektion der Armee unterstellt. Erst 1949 fand die „Arbeitsgemeinschaft Pro Helvetia" als Kulturstiftung ihre ursprünglich geplante Form. 54 Als Vorsitzender des Departments des Inneren war Etter an der Planung zentral beteiligt. Naef wurde 1937 in das künstlerische Komitee gewählt. 55 Die Ausstellung schloss am 29. Oktober 1939. 56 AMREIN, LOS von Berlin (Anm. 4), S. 124. 57 Schrifttum, Musik und bildende Künste, in: Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939, Bd. IV: Die Aussteller der LA: Vollständiges Verzeichnis der Fachgruppenkomitees, der Aussteller und des Ausstellungsguts, Zürich 1939, S. 433-443. 58 Dazu: Georg KREIS, Der „homo alpinus helveticus". Zum schweizerischen Rassendiskurs der 30er Jahre, in: Erfundene Schweiz (Anm. 19), S. 175-190. 53

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Die schweizerischen Schriftsteller waren auf der Landesausstellung ebenfalls präsent: in der Abteilung „Buch und Schrifttum"59. In Form einer Autorenschau mit 320 Einzelporträts wurden die „Schweizerdichter" in einem dreibändigen Werk der Öffentlichkeit vorgestellt. Exilautoren dagegen hatten in der Ausstellung keinen Platz. Auf sie wurde allenfalls indirekt verwiesen, indem „Überfremdung" und „Fremdeninvasion" als Bedrohung fur die Einheit des Landes evoziert wurden.

III. Willkommene kulturelle Elite oder „wesensfremde Elemente"60? Deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen im schweizerischen Exil Es wird angenommen, dass zwischen 1933 und 1945 zwischen 1 500 und 2 500 Literaten gezwungen wurden, Deutschland zu verlassen, rund 160 von ihnen fanden den Weg in die Schweiz 61 . Die ersten, darunter Thomas Mann und ein Teil seiner Familie, trafen bereits Anfang 1933 ein, eine zweite Flüchtlingswelle wurde durch die Bücherverbrennungen ausgelöst, die am 10. Mai 1933 in Berlin und anderen deutschen Universitätsstädten stattfanden. Weitere Schriftsteller und Intellektuelle folgten, mit einem erneuten Höhepunkt 193 8 62 . Ihre Einreise und ihr Aufenthalt in der Schweiz unterlag Bedingungen, die durch das oben beschriebene Regelwerk festgeschrieben wurden. Doch fielen die Literaten, die Deutschland verlassen hatten, weil sie unter den Bedingungen der „Gleichschaltung" nicht arbeiten konnten, ja oft an Leib und Leben bedroht waren, unter eine - nur sehr vage definierte - Sonderkategorie. Im 59

Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung 1939, Bd. II, S. 535-542. „Wir dürfen uns von unserer bisherigen fremdenpolizeilichen Praxis trotz der heutigen Ereignisse nicht abweichen und müssen uns vor allem gegen eine Festsetzung wesensfremder Elemente mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln wehren". EJDP an die kantonalen Polizeidirektionen und an die schweizerischen Gesandtschaften und Konsulate in Europa, „betr. Einreise von Israeliten", März 1933, zitiert nach: Heimat Los Schweiz. Deutschsprachige Literatur im Schweizer Exil 1933-1950, Ausstellung im Strauhof, Zürich. Vgl. dazu auch: Deutschsprachige Schriftsteller im Schweizer Exil 1933-1950. Eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933-1945, Begleitbuch, Wiesbaden 2002. 61 Ebd., S. 9. Als Schriftsteller werden im Anschluss an diese Darstellung Menschen bezeichnet, „die im Hauptberuf schreiben und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten", ebd., S. 7. Neuere, im Schweizerischen Literaturarchiv erhobene Zahlen korrigieren diese Angabe nach oben (etwa 180). 62 Zur quantitativen Auswertung der Einreisewellen vgl. Jeanne LÄTT, Refuge et ecriture, Neuchätel 2003, S. 122 f. Unter den in der Schweiz (vorübergehend) Zuflucht suchenden Literaten befanden sich bekannte Schriftsteller wie Bertolt Brecht (1898-1956, kurzer Aufenthalt 1933 in Zürich, Weiterreise nach Dänemark), Alfred Döblin (1878-1957, kurzer Aufenthalt 1933, Weiterreise nach Frankreich) oder Robert Musil (1880-1942, 1938 bis 1942 Aufenthalt in Zürich, dann Genf, wo er 1942 starb), aber auch zahlreiche weniger bekannte Frauen und Männer, die in Deutschland oder Österreich als Schriftsteller gelebt hatten. 60

Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil

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April 1933, drei Tage nach dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte in Deutschland, erging ein Memorandum des Polizeidivisionschefs Heinrich Rothmund an seinen Chef Häberlein, in dem es um die Frage ging, wie man mit dem zu erwartenden Flüchtlingsstrom umzugehen habe. Erwogen wurde der Begriff des „politischen Flüchtlings", worunter „die Führer der Parteien, die Mitglieder der Parlamente des Reichs, der Länder und der Städte, die Gewerkschaftsfunktionäre sowie die Arbeiter, Angestellten und Studenten" zu fassen seien, „die aktiv an den Auseinandersetzungen der Parteien teilgenommen haben, und auch die Intellektuellen wie Redakteure, Schriftsteller, Anwälte und Lehrer" 63 . Unter diese 1933 neu eingeführte, „relativ" privilegierte Kategorie 64 fielen zwischen 1933 und 1945 lediglich 644 Personen 65 , schloss sie doch Kommunisten, Juden und jene aus, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten eine Verfolgung im Heimatland zwar befürchteten, aber noch nicht offen davon betroffen waren 66 . Dass die Verweigerung, dem Reichsverband deutscher Schriftsteller beizutreten, bereits genügte, um von den politischen Autoritäten in Deutschland als Regimegegner angesehen zu werden, der bloße Nicht-Beitritt somit bereits als politisches Bekenntnis galt, wurde in der Schweiz nicht in Rechnung gestellt. Eine literarische Tätigkeit allein reichte nicht aus, um diesen Status zu erhalten, sie musste nachweislich mit einem politischen Engagement verbunden sein. Zudem war lediglich der Aufenthalt von in der Schweiz bekannten Persönlichkeiten erwünscht. In allen anderen Fällen war eine individuelle Prüfung des Antrags notwendig 67 . Insgesamt blieb der Status der literarischen Flüchtlinge sehr unscharf. Während manche eine Aufenthalts- und selbst eine beschränkte Arbeitsgenehmigung erhielten, wich die Behandlung anderer nicht von derjenigen ab, die alle anderen Flüchtlinge erfuhren. Die Entscheidungen wurden je nach (außenpolitischer Situation, ausführender Person/Instanz und Renommee des Zuflucht Suchenden, einer strengeren oder einer weniger strengen Auslegung der Regelungen folgend, gefallt. So gab es Erfahrungen wie die von Thomas Mann, der im Mai 1933 in seinem Tagebuch festhielt: „Beim Chef des Polizei-Departements [...] Größtes Entgegenkommen, Dispens von der Beibringung üblicher Papiere. Schon

63

Documents Diplomatiqes Suisses, Bd. 10, Bern 1982, S. 6 2 6 f., zitiert nach LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 36 (Übersetzung von K. S). 64 Mit der Anerkennung als politischer Flüchtling ging die Ausstellung einer (regelmäßig zu erneuenden) Toleranzbewilligung einher. Politische Tätigkeiten waren ihnen unter Androhung der sofortigen A u s w e i s u n g untersagt. 65 BOSCHETTI, Les Suisses (Anm. 1), S. 8. 66 Zudem musste nach einer Anordnung des Bundesrates am 4. April 1933 jeder, der den Status als politischer Flüchtling in Anspruch nehmen wollte, sich im innerhalb von 4 8 Stunden nach der Einreise bei der Polizei melden, danach war die Möglichkeit der Anerkennung als politischer Flüchtling verwirkt. 67

Vgl. LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 34.

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beim Empfang bedankte er sich für unseren Besuch" 68 . Thomas Mann war am 26. Februar 1933 in die Schweiz eingereist. Der Aufenthalt war ursprünglich als Vortragsreise geplant, doch als deutlich wurde, dass die politische Situation sich in Deutschland vorerst nicht ändern würde, ließ er sich mit seiner Familie Ende 1933 in Küsnacht, am Ufer des Zürisees, nieder. Während seines Aufenthalts in der Schweiz, von wo aus er 1938 in die Vereinigten Staaten emigrierte, erfuhr Thomas Mann keine nennenswerten Einschränkungen seiner schriftstellerischen Tätigkeiten: er schrieb in dieser Zeit an den „Joseph-Romanen", hielt Vorträge und zu seinem 60. Geburtstag fand im CorsoTheater in Zürich eine Festveranstaltung statt 69 . Demgegenüber standen Erlebnisse wie diejenige des jüdischen Schriftstellers Hans Sahl, der, 1934 in die Schweiz eingereist, nur eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung erhielt und es nach deren Ablauf nicht wagte, „am Tage auf die Strassen zu gehen aus Angst, man könnte mich verhaften und, wie es damals zu geschehen pflegte, über die deutsche Grenze stellen"70. Wie Thomas Mann die berufliche Tätigkeit als Schriftsteller fortführen zu können, war ein Privileg, das bei weitem nicht alle literarischen Flüchtlinge hatten. Wenn sie nicht als Ausnahmefälle behandelt wurden, beispielsweise aufgrund einer langen Verbundenheit mit dem Land oder vorhergehenden Publikationsaktivitäten in der Schweiz, unterlagen sie wie alle anderen Flüchtlinge einem strikten Berufsverbot. Angehalten, die Schweiz so schnell wie möglich wieder zu verlassen, sollten sie sich weder in den schweizerischen Arbeitsmarkt noch in das damit oft einhergehende soziale Leben integrieren. Ab 1940 konnten Emigranten dagegen zum Arbeitsdienst in ein Arbeitslager eingezogen werden. Dass es ihnen untersagt war, sich politisch zu betätigen oder auch nur zu äußern, war für viele Schriftsteller, zu deren Selbstbild es gehörte, in der Rolle von Intellektuellen in politische Debatten einzugreifen, schon schlimm genug. Aber überhaupt nicht mehr literarisch tätig zu sein, war für die meisten eine kaum ertragbare Situation. Die zahlreichen Erzeugnisse des literarischen Exils, zeigen, dass viele Schriftsteller weiterhin schrieben und es ihnen mitunter auch gelang, in schweizerischen Verlagen zu erscheinen oder Artikel in Zeitschriften unterzubringen71. Ein 68

Thomas Mann, Tagebuch vom 2 . 5 . 1933; vgl. auch Deutschsprachige Schriftsteller (Anm. 60), S. 32. Zu Thomas Mann in der Schweiz vgl. u. a. Rolf KLESER, Erzwungene Symbiose. Thomas Mann, Robert Musil, Georg Kaiser und Berthold Brecht im Schweizer Exil, Bern 1984; Thomas SPRECHER, Thomas Mann in Zürich, Zürich 1992; sowie die auf der Auswertung der Archivdokumente der Bundes- und Kantonalbehörden basierende Studie von Patricia DVORACEK, „meinetwegen" - Der Musteremigrant Thomas Mann, in; Prominente Flüchtlinge in der Schweiz, Bern 2003, S. 68-97. 70 Hans SAHL, Das Exil im Exil, Frankfurt a. M. 1990, S. 55. 71 Hier ist insbesondere auf die Rolle des Verlegers Emil Oprecht hinzuweisen, in dessen Verlagen die Mehrheit der knapp 500 Bücher geflohener Schriftsteller erschienen, die 69

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weiteres Zeugnis dieser Produktivität im Exil waren die Uber zwanzig in der Schweiz gedruckten Exulanten-Zeitschriften 72 . Am stärksten traf es jene, die nach 1942 das Land betraten und direkt interniert wurden. Im Flüchtlingslager waren beispielsweise der in antifaschistischen Organisationen tätige Manes Sperber (1905-), der 1942 aus Angst vor der Deportation die Grenze von Frankreich her überquerte, der jüdische Schriftsteller Stephan Hermlin (1915-1997, sein bürgerlicher Name lautete Rudolf Leder) und der 1936 aus Deutschland ausgebürgerte Schriftsteller und expressionistische Dichter Jakob Haringer (1898-1948). Haringer wurde 1938 dem Flüchtlingslager Bellechasse übergeben und kommentierte von dort aus: „Dieser Aufenthalt in Straflagern und im Zuchthaus bedeutet für mich doch vor allem deshalb mein Unglück, weil ich in dieser Massenumgebung weder lesen noch schreiben konnte und Tag und Nacht keine Ruhe hatte und unter diesem ständigen Zuchthausdruck stehe" 73 . Insgesamt drückt die Haltung der Einwanderungsbehörden ein Misstrauen gegenüber den literarischen Flüchtlingen aus. Sie standen unter dem doppelten Verdacht, einerseits zu einer „kulturellen Überfremdung" der Schweiz beizutragen und andererseits den einheimischen Schriftstellern die Arbeit wegzunehmen 74 . Gegen eine solche, äußerst restriktive Politik waren aus den Rängen der schweizerischen Autoren kaum nennenswerte Proteste zu vernehmen. Dass der Diskurs der „Geistigen Landesverteidigung" in Schriftstellerkreisen an den Überfremdungsdiskurs anschloss und die Gestalt eines Ausgrenzungsdiskurses annahm, hing unter anderem mit den wirtschaftlichen Bedingungen der Krise der 1930er Jahre zusammen, welche die Situation der Autoren generell schwierig machte und die Angst vor Konkurrenz schürte. Wie die meisten im Feld der Kulturproduktion Tätigen waren die Schriftsteller in hohem Maß mit kulturellem Kapital ausgestattet, nur wenige aber verfugten über ökonomisches Kapital. Von kleinen Honoraren für Zeitungsartikel lebend, die nach Zeilen bezahlt wurden, klagten viele Autoren über Verschuldung, Verarmung oder schlicht Hunger. So bemerkte der Zürcher Dichter und Chronist Kurt Guggenheim in einem Briefentwurf an den Berner Radiodirektor Kurt Schenker: „ [...] Und nun hat es sich gezeigt, dass die Berufskrankheit des Schriftstellers - des Nur-Schriftstellers, ohne Nebenberuf, ohne

zwischen 1933 und 1945 in der Schweiz gedruckt wurden. Für eine Auflistung der Verlage s. LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 237 f. 72 Eine Liste der in der Schweiz erschienenen Zeitschriften des deutschen Exils zwischen 1933-1945 findet sich ebd., S. 233 ff. 73 Hans Haringer, an die Polizeiabteilung Bern, undatierter Brief, zitiert nach: Deutschsprachige Schriftsteller (Anm. 60), S. 215. 74 Auch die Abweisung von deutschen Verlagen, die vergeblich versuchten, sich vorübergehend in der Schweiz niederzulassen, wie der S. Fischer Verlag oder der Rhein-Verlag, wurde mit diesen Argumenten begründet.

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Posten, ohne Vermögen - unfehlbar die Unterernährung ist" 75 . Das Wort von Proletarisierung der Literaten machte die Runde. Das Phänomen des armen Literaten war auch in der Schweiz nicht neu, jedoch verschlechterten sich ab 1933 die Bedingungen: Der deutsche Literaturbetrieb schloss nach und nach seine Pforten für schweizerische Autoren. Die traditionell engen Beziehungen zwischen dem Börsenverein der deutschen Buchhändler und den schweizerischen Buchhändlerorganisationen, die eine gewisse Öffnung des deutschen Absatzmarktes für deutschsprachige Autoren aus der Schweiz ermöglich hatten, durchliefen nach der „Gleichschaltung" eine Krise 76 . Auch die Eingliederung des Reichsverbands deutscher Schriftsteller in die Reichsschrifttumskammer, die als Teil der Reichskulturkammer direkt dem deutschen Propagandaministerium unterstand, löste in kulturpolitisch interessierten Kreisen der Schweiz Bedenken aus, sah die deutsche Seite doch vor, dass jeder Autor und jede Autorin, die in Deutschland gedruckt und verbreitet wurde, Mitglied des Reichsverbandes sein musste 77 . Während also der deutsche Markt für schweizerische Autoren enger wurde, blieb rechtlich der schweizerische Markt für deutsche Literaturerzeugnisse weiterhin offen. Gerade im Bereich des Journalismus und des Feuilleton war die Angst vor literarischen Produktionen aus deutscher Feder groß, denn mit zunehmendem Druck in Deutschland boten selbst bekanntere Autoren aus Deutschland ihre Texte und ihr Können in der Schweiz an und dies vielfach billiger als die schweizerischen Kollegen. Das Überangebot wirkte sich auf die Publikations- und Preispolitik der Zeitschriften und Zeitungen aus: längere Wartezeiten und niedrigere Löhne waren in Kauf zu nehmen. Das Sekretariat des SSV, der sich seit seiner Gründung im Jahre 1912 als Sprachrohr der schweizerischen Autoren verstand, berechnete 1935 den Preis, den Autoren pro veröffentlichter Zeile in Zeitungen und Zeitschriften durchschnittlich erhielten. Er belief sich auf 15 Rappen/Zeile, ein Drittel von dem, was noch wenige Jahre zuvor gezahlt worden war 78 . Eine weitere Verschlechterung der ökonomischen Situation zeichnete sich mit dem Anstieg des Papierpreises Ende der 1930er Jahre ab. Die Zeitschriften begannen Papier zu sparen, indem sie zu allererst die Seiten des Feuilletons und der Kulturberichterstattung zusammenstrichen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Politik des SVV gegenüber den Exilliteraten zu betrachten.

75 Vgl. Gustav HuONKER, Literaturszene Zürich. Menschen, Geschichten und Bilder 1914 bis 1945, Zürich 1985, hier: S. 126. 76 Vgl. Martin DAHINDEN, Das Schweizerbuch im Zeitalter von Nationalsozialismus und Geistiger Landesverteidigung, Bern 1987. 77 Vgl. AMREIN, LOS von Berlin (Anm. 4), S.65 ff. Die Repräsentanten des SSV konnten in langen Diskussionen erreichen, dass die Beitrittspflicht für Schweizer nicht verpflichtend gemacht wurde. 78 HuONKER, Literaturszene (Anm. 75), S. 128.

Schulz, Die Schweiz und das literarische Exil Der Schweizerische

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Schriftstellerverband

In den meisten Fällen unsicher, wie mit Einreisegesuchen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern umzugehen und welcher Status zuzuweisen sei, wandte sich die Fremdenpolizei im Frühjahr 1933 an den SSV. Der SSV riet der Fremdenpolizei im Mai 1933, wenige Tage nach den Bücherverbrennungen in Deutschland, prominenten ausländischen Autoren die Bewilligung zum Aufenthalt und zur Ausübung einer literarischen Tätigkeit zu erteilen, literarisch tätigen Personen, die aus politischen Gründen verfolgt werden, Asyl zu gewähren, alle übrigen literarischen Flüchtlinge jedoch zurückzuweisen und dafür zu sorgen, „dass sie den schweizerischen Markt mit ihren Erzeugnissen in keiner Weise belasten" 79 . In einem Brief an die Eidgenössische Fremdenpolizei in Bern begründete der SVV seine harte Linie mit wirtschaftlichen Erwägungen. „Der schweizerische Schriftsteller ist [...] mehr denn je auf den Inlandsabsatz seiner literarischen Erzeugnisse angewiesen. [...] Der Aufenthalt jedes ausländischen Schriftstellers bedeutet daher für den schweizerischen Autor eine Konkurrenz" 80 . Doch wird das Argument der Konkurrenz abgeschwächt im Fall prominenter Autoren „von wirklich hervorragender Bedeutung", da ihre Anwesenheit „für jedes Gastland eine Bereicherung des künstlerischen Lebens" darstelle, sie der Schweiz „an geistigen Werten reichlich wiedergeben, was sie uns vielleicht an wirtschaftlichen nehmen werden" 81 . Scharf wehrte sich dagegen der SSV gegen die Einreise derjenigen Schriftsteller, die im Verdacht standen, aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz kommen zu wollen. „Wir wenden uns gegen die kleinen Zeilenschreiber [...], die weder zu den Prominenten noch zu den politischen Verfolgten zu zählen sind, und die in die Schweiz kommen, weil sie glauben, hier ein bequemes Leben fuhren zu können" 82 . Das Schreckbild der drohenden Konkurrenz wird verstärkt durch das einer Gefahr fiir das Geistesleben des Landes durch fremde Elemente, die „unsere inneren Auseinandersetzungen [...] von außen her" 83 beeinflussen könnten. Umfassende Analysen der Korrespondenz zwischen dem SSV und den Autoritäten der Fremdenpolizei haben gezeigt, dass die Prinzipien der Abwendung von Konkurrenz und der Ablehnung von „unschweizerischem" Gedankengut während des gesamten Zeitraums leitend fiir die Begutachtung der Flüchtlingsdossiers durch den SSV waren 84 . Zwischen 79

Schweizerischer Schriftstellerverein, Brief an die Eidgenössische Fremdenpolizei vom 25. Mai 1933, abgedruckt in LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 242-244, hier: S. 244. 80 Ebd., S. 242 81 Ebd. 82 Ebd., S. 244. 83 Ebd. 84 Vgl. die umfassende Analyse in ebd., bes. S. 93 ff.; sowie AMREIN, LOS von Berlin (Anm. 4), S. 3 9 ff.

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1933 und 1945 begutachtete der SSV unter der Führung von Moeschlin und Naef 114 Dossiers, befürwortete die Einreise in 39 Fällen und riet in 31 Fällen der Fremdenpolizei davon ab, eine Autorisierung auszustellen. In den übrigen Fällen war die Fürsprache zumeist mit bestimmten Bedingungen verknüpft 85 . In der Regel - wenn auch nicht in allen Fällen - folgte die Fremdenpolizei den Vorschlägen des SSV. Die Entscheidungen des SSV gegenüber den Flüchtlingen wurden überwiegend von den Vorsitzenden des Vereins gefällt, ohne dass die Meinung der Vereinsmitglieder eingeholt wurde 86 . Doch sind Proteste aus den Reihen der Mitglieder gegen die literaturpolitische Linie der Vereinsspitze nicht belegt, ein stiller Konsens schien darüber vorzuherrschen, dass den Interessen der schweizerischen Autoren Vorrang einzuräumen sei gegenüber dem Postulat einer den tagespolitischen Interessen übergeordneten Wahrung der Freiheit des Wortes. Die Angst, keinen Verlag zu finden, von der Zensur verboten zu werden oder aber etwas zu schreiben, dass sich nicht verkaufte, weil es den ästhetischen Kriterien der „Geistigen Landesverteidigung" nicht gerecht wurde, führten dazu, dass die öffentlichen Interventionen zugunsten von literarischen Flüchtlingen die Ausnahme blieben, zumindest schien der SSV nicht der Ort, an dem die schweizerischen Schriftsteller sich solidarisch an die Seite ihrer verfolgten Kolleginnen und Kollegen stellten 87 . Alles in allem verhielten sich die schweizerischen Autoren konform zur Politik ihres Interessenverbandes. Sie widerstanden nur selten ihrem verinnerlichten „Zensor" 88 , der sie vor dem Selbstausschluss aus der Gemeinschaft der „guten Schweizer" bewahrte und die literarisch-ästhetischen Werte der „Geistigen Landesverteidigung" als verbindliche Norm akzeptieren ließ.

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Bei 13 Anträgen ist das Urteil nicht eindeutig. LÄTT, Refuge (Anm. 62), S. 126 f. 87 Doch sind auch zahlreiche Beispiele von offener Aufnahme und Hilfestellung zu nennen. Emil Oprecht (1895-1952), Zürcher Verleger und Bruder des sozialdemokratischen Politikers Hans Oprecht, war eine der Schlüsselfiguren im literarischen Bereich. Er ermöglichte 1933 die Übersiedlung der „Büchergilde Gutenberg" in die Schweiz, die unter dem Namen „Europa Verlags- und Aktiengesellschaft" neu ins Leben gerufen wurde mit dem Ziel, die Bücher der Gilde auf dem schweizerischen Buchmarkt zu vertreiben. Emil Oprecht war auch einer der Mitbegründer der „Neuen Schauspiel AG", die 1938 ins Leben gerufen wurde, um das Zürcher Schauspielhaus, seit 1933 ein Anlaufpunkt der Emigrantenkultur und Arbeitgeber vieler emigrierter Schauspieler aus Deutschland, vor dem Konkurs zu retten. Zur Geschichte des Schauspielhauses in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. Ute KRÖGER und Peter EXINGER, „In welchen Zeiten leben wir" Das Schauspielhaus Zürich (1938-1998), Zürich 1998; Schweizertheater. Drama und Bühne der Deutschschweiz, hrsg. von Hans Amstutz [u. a.], Zürich 2000. Auch traten einige schweizerische Autoren oder Autoren als Garanten für die Asyl Suchenden auf und intervenierten zu ihren Gunsten bei den politischen Autoritäten. Das war zum Beispiel der Fall bei Robert Lejeunes, der sich fur Robert Musil einsetzte, oder bei Caesar von Arx, der Georg Kaiser unterstüzte. Eine umfassende Untersuchung der Solidaritätsgesten steht noch aus. 86

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LINSMAYER, Krise (Anm. 24), S. 471.

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IV. Ausblick Führte die spezifische Situation der Jahre 1933-1945 und die Präsenz zahlreicher ausländischer Schriftsteller zu einer Internationalisierung des literarischen Feldes der Schweiz oder überwog eine kulturelle Schließung? Obwohl, ist zunächst festzuhalten, die Schweiz Ziel vieler Literaten war, die aus Deutschland und Österreich, aber auch aus Frankreich und Italien flohen, kann man direkt kaum von einer Öfftiung des literarischen Feldes sprechen. Zu einem Dialog zwischen schweizerischen Autoren und literarischen Flüchtlingen kam es kaum. Dies lag unter anderem in dem flüchtlingspolitischen Selbstbild der Schweiz als Transitland begründet. Nur wenige Flüchtlinge konnten sich auf einen längeren Aufenthalt einstellen, wurden sie doch immer wieder aufgefordert auszureisen. Längerfristige Kooperationen waren so schwierig aufzubauen. Zu diesem Ergebnis kommt man jedenfalls, betrachtet man die deutschsprachige Schweiz. Zieht man die Romandie hinzu, stellt sich das Bild differenzierter dar. Das französischsprachige literarische Feld der Schweiz öffnete sich in den Kriegsjahren für literarische Einflüsse aus Frankreich, empfing zahlreiche nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Nord- und der Etablierung des Vichy-Regimes in Südfrankreich geflohene Autoren und gab ihnen die Möglichkeit, Bücher und Artikel in schweizerischen Verlagshäusern und Zeitschriften zu veröffentlichen. Damit wurde, besonders nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Sommer 1940, die Schweiz zu einem literarischen Zentrum der französischsprachigen Literatur, für einen kurzen Moment war die vom literarischen Zentrum Paris so betrachtete „Provinz" nicht mehr „Provinz" 89 . Allerdings war diese Öffnung nicht dauerhaft; nach dem Krieg nahm das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarländern schnell wieder seine alte Gestalt an 90 . Blickt man indes auf Ideen und Konzepte einer zukünftigen europäischen Friedensordnung, die in der Schweiz in Abgrenzung zum totalitären Denken, aber auch in Angrenzung zur offiziellen Politik der „Geistigen Landesverteidigung" entstanden, kann man von einer Öffnung allerdings durchaus sprechen. Die bisherigen Ausführungen haben sich im wesentlichen auf den Bereich des offiziellen Umgangs mit kulturellen Belangen und mit der Flüchtlingsfrage bezogen. Doch gab es, wie an vereinzelten Beispielen gezeigt wurde, auch individuelle Initiativen, die der Linie der Autoritäten nicht entsprachen. Es handelt sich um Gesten der Solidarität, in denen Beziehungen zwischen schweizerischen und ausländischen Autoren aufgebaut wurden, Bande, welche die Zeit des Krieges überdauerten und die Schweiz auch längerfristig durchaus zu

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Vgl. Alain CLAVIEN [U. a.], „La province n'est plus la province": les relations culturelles franco-suisses ä l'epreuve de la Seconde Guerre mondiale (1935-1950), Lausanne 2003. 90 Vgl. ebd., S. 325.

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einem Treffpunkt internationaler literarischer Strömungen und Einflüsse machte 91 . Darüber hinaus sind auf dem Boden der Schweiz Ideen entstanden, die, wenn sie auch dem einenden Wert der Neutralität der Schweiz verpflichtet waren, so doch mit einem Plädoyer an die Öffentlichkeit traten für eine Schweiz, in welcher der Ideenaustausch mit den europäischen Nachbarländern gefördert und die kulturellen Beziehungen zu den drei Nachbarländern gepflegt werden müssten. Für ein solches Denken steht beispielsweise die Person Denis de Rougemonts (1906-1985). Für ihn legitimiert sich die Neutralität der Schweiz nur über ihre Vorbildfunktion für ein künftiges Europa der Föderationen. Die Schweiz habe die Aufgabe und - aufgrund ihrer Erfahrungen - auch die Mission, die europäische Föderation zu fördern. „Der , internationale Schweizer'", so Rougemont in einem Artikel in „Mass und Wert", „ist ein Mensch, der kraft Tradition und kraft Notwendigkeit Europa kennen muss und kennen kann. Europa kennen, nicht um es dem einen oder anderen Imperialismus dienstbar zu machen, sondern um es zustande zu bringen. Nicht um sich seiner zu bedienen, sondern um ihm zu dienen" 92 . Es bleibt anzufügen, dass Rougemont, der seit 1939 in der Propagandasektion „Heer und Haus" der schweizerischen Armee tätig war, 1940 von den politischen Autoritäten mit Nachdruck aufgefordert wurde, das Land mit dem Ziel einer längeren Vortragsreise in die USA zu verlassen, da seine kritischen Äußerungen gegen die deutsche Regierung sich mit dem offiziellen Standpunkt der Neutralität der Schweiz nicht vereinen ließen93. Nach dem Krieg knüpften Einzelne an solche Ideen über ein europäisches Gemeinwesen und die Rolle der Schweiz darin wieder an, beispielsweise in der Gründung des „Centre Europeen de la Culture" 1950 in Genf, dem Rougemont, der 1946 wieder nach Europa zurückkehrte, vorstand, und in zahlreichen Initiativen zur Verteidigung und Stärkung einer europäischen Kultur. Jedoch zeichneten sich auch diese Initiativen durch eine ambivalente Haltung in der Frage nach Schließung oder Öffnung aus. Die Idee der „Geistigen Landesverteidigung" war auch in den 1950er Jahren ein politisches Leitmotiv. Zwischen den „Fronten" des Kalten Krieges, sah die Schweiz sich erneut vor die Aufgabe gestellt, ihre Spezifizität zu bestätigen. Auf der Suche nach einer Haltung, die zugleich das Prinzip der Neutralität beibehielt und die So91

Hier kann die Bedeutung des Zürcher Schauspielhauses, eines Treffpunkts der Emigrantenkultur unmittelbar vor, aber auch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgehoben werden. Vgl. ζ. B. die dortige Tätigkeit Bertolt Brechts ab 1947. 92 Denis DE ROUGEMONT, Gedanken über den Föderalismus, in: Mass und Wert. Zweimonatsschrift, hrsg. von Thomas Mann und Konrad Falke 3 (1940), H. 3 (März/April), S. 291-299, hier: S. 298. 93 Vgl. zu Rougemont: Bruno ACKERMANN, Denis de Rougemont. Une biographie intellectuelle, Bd. 1: De la revolte ä l'engagement. L'intellectuel responsible, Bd. 2: Combats pour la liberte. Journal d'une epoque, Lausanne 1996.

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Exil

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lidarität mit dem Westblock erlaubte, schlug sie auf militärischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene sowie in der öffentlichen Meinung eine Politik der Internationalisierung ein (Gründung und Empfang zahlreicher internationaler Organisationen auf dem Boden der Eidgenossenschaft). Sie beanspruchte aber gleichwohl den „Sonderfall Schweiz", der sich auf die spezifisch schweizerischen Errungenschaften der direkten Demokratie, des Föderalismus und der aktiven militärischen Verteidigung gründete 9 4 . Damit grenzte sie sich insbesondere gegen das etatistisch-zentralistische Modell der Sowjetunion ab. Diese Ablehnung schlug sich innenpolitisch in einer rigiden Politik der Ausgrenzung und Denunzierung sozialistischer und kommunistischer Tendenzen nieder, eine Politik, deren Opfer auch linke Schriftsteller, ausländische wie einheimische, waren. Die Geschichte der „Geistigen Landesverteidigung" war, kann man daraus schließen, nach dem Krieg nicht zu Ende. Ihre Erforschung könnte nicht nur dazu beitragen, die vielfältigen Ausdeutungen der „Geistigen Landesverteidigung" in den 1930er und 1940er Jahren zu systematisieren, sondern auch aus einer Langzeitperspektive einen Bezug zwischen diesem Konzept und seiner Kritik durch eine „neue" Historiographie der Schweiz seit den 1970er Jahren herzustellen.

Summary Before the 1970s, Switzerland's role during World War II has seldom been treated other than to emphasize again and again the country's neutrality. Only recently has a historical research commission studied the most important aspects of the role of Switzerland in the Second World War (see: Bergier report). Based on this report, this article retraces Switzerland's refugee politics during the Nazi era and World War II. In addition to this, it relates refugee politics to the field of cultural production by concentrating on literary refugees. In fact, during the Nazi era and World War II, Switzerland offered refuge to about 160 German-speaking writers. But, for most of them, as for nonliterary refugees, their stay was subjected to many restrictions: they were under police surveillance, they had to regularly renew their residence permits, and they were not allowed to work as writers or journalists. These restrictions

94

Joseph JURT, La Suisse dans la Guerre Froide, in: Emigration et Guerre Froide, hrsg. von Anne-Marie Corbin, Maine 2 0 0 4 , S. 3 3 - 4 4 . Vgl. auch: Kurt IMHOF, Die S c h w e i z im Kalten Krieg oder der „Sonderfall" im Westblock, in: Itinera 18 (1996), Die S c h w e i z im internationalen System der Nachkriegszeit, 1 9 4 3 - 1 9 5 0 , hrsg. von Georg Kreis, S. 1 8 0 - 1 8 3 .

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will be analysed in light of recent research on the politics of Switzerland's „spiritual defence".

Die Ungarnflüchtlinge von 1956 in der Schweiz Von

Tamas Kanyo Emigration bedeutet, dass man alles, wozu man eine Verbindung hatte, verlässt, die Menschen, mit denen man eine gemeinsame Geschichte hatte, und man geht in die Fremde und richtet sich dort ein und das, was man nach einer gewissen Zeit hinter sich gelassen hat, das wird fremder. Man bleibt immer fremd1.

I. Die revolutionären Ereignisse des Oktober und November 1956 in Ungarn waren eine wichtige „heiße" Phase des Kalten Krieges und wurden auch in vielen europäischen Staaten zum Auslöser innenpolitischer Auseinandersetzungen und politischer Prozesse. In vielen Fällen war der Bezug zum „eigentlichen Geschehen" in Ungarn nicht mehr herzustellen, trotzdem entwickelten sich Begriffe wie „Ungarn 56", „Ungarn-Krise" „der ungarische Volksaufstand" zu einer Chiffre, die je nach politischer Couleur eine andere Bedeutung trug. Die Erschütterung und die Solidarisierung mit den Ungarn waren gerade in der Schweiz sehr ausgeprägt: „Die Schweizerinnen und Schweizer solidarisierten sich nicht nur, sondern sie identifizierten sich unter dem Eindruck des Geschehens geradezu mit dem freiheitsliebenden ungarischen Volk" 2 . Es kam zu Demonstrationen, Solidaritätskundgebungen, Sammlungen von Hilfsgütern. Innenpolitisch kam es zu harten Auseinandersetzungen mit Menschen, die linken Gruppierungen zugeordnet wurden, allen voran der kommunistischen „Partei der Arbeit" (PdA). „In diesem emotional geladenen Klima lösten sich offenbar bei vielen all die Spannungen, welche sich durch die Anforderungen und die raschen Veränderungen der Lebensumstände in der Nachkriegszeit angestaut hatten, wobei der Umstand schwer auf den Menschen lastete, dass man trotz äußerem Wohlergehen in Tat und Wahrheit nicht im Frieden, sondern in einem Zustand zwischen Krieg und Frieden lebte" 3 . Die entstandene Atmosphäre einer antikommunistischen Hysterie wurde oft mit dem McCarthysmus in den USA (1952-1954) verglichen 4 . Viele Entwicklungen waren 1

Zit. in: Tamas KANYO, Emigräcio es Identitäs, 1956os menekültek Sväjcban [Emigration und Identität, 1956er Flüchtlinge in der Schweiz], Budapest 2002, S. 101. Eine überarbeitete Fassung soll 2006, dem 50. Gedenkjahr der Ungarischen Revolution, auf Deutsch erscheinen. 2 Katharina BRETSCHER-SPINDLER, Vom Heissen zum Kalten Krieg, Vorgeschichte und Geschichte der Schweiz im Kalten Krieg 1943 bis 1968, Zürich 1997, S. 240. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 239.

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mit jenen der westeuropäischen Staaten vergleichbar. Es entwickelte sich aber auch eine Eigendynamik, die u. a. geprägt war durch schweizerische Eigenheiten: Die Verschonung von den Weltkriegen und die politische Neutralität. Es wurde schon verschiedentlich die These aufgestellt, dass den Ungarnflüchtlingen auch eine Art Lehre aus der jüngsten Vergangenheit zu Gute gekommen sei. Die Diskussion um den unmenschlichen Umgang mit jüdischen Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs bereitete das Terrain zu dieser Haltung vor. 1954 erteilte der Bundesrat - unter äußerem Druck - den Auftrag, „die Bundesversammlung und die Öffentlichkeit durch eine objektive, möglichst umfassende Darstellung über die Politik zu unterrichten, welche die schweizerischen Behörden in der Flüchtlingsfrage seit dem Jahre 1933 befolgt haben" 5 . So entstand der Ludwig-Bericht. In dessen Schlusswort liest man: Es „kann kein Zweifel darüber bestehen, dass eine weniger zurückhaltende Zulassungspolitik unzählige Verfolgte vor der Vernichtung bewahrt hätte" 6 . Im Verlauf der Niederschlagung der ungarischen Revolution ab dem 4. November 1956 verließen über 200 000 Menschen ihre Heimat. Der Schweizer Bundesrat entschied sich in mehreren Beschlüssen bis Frühling 1957, insgesamt 13 438 Flüchtlinge aufzunehmen. Die Mehrheit der Flüchtlinge erhielt Dauerasyl. Ein Teil ging später nach Ungarn zurück, ein anderer zog in ein drittes Land. Auf dem Weg der Familienzusammenführung konnten allerdings auch neue Flüchtlinge in die Schweiz einreisen. Die Gesamtzahl pendelte sich bis Anfang der 60er Jahre auf ungefähr 13 000 ein. Die Struktur und Herkunft der Flüchtlinge waren unterschiedlich: 71 % Männer befanden sich im Alter zwischen 20 und 40 Jahren; die meisten kamen aus Budapest oder Westungarn; 45 % der eingereisten Flüchtlinge besaßen ein Abiturzeugnis oder einen Hochschulabschluss 7 . Im Folgenden soll in einer Auseinandersetzung mit narrativen Konstruktionen - Erinnerungen von UngarnflUchtlingen des Jahres 1956 - den Fragen nachgegangen werden, wie sich ausgewählte Flüchtlinge in einer neuen Welt zurechtgefunden haben, was es bedeutete, sich als Ungarnflüchtling in der Schweiz neu zu orientieren, die eigenen Überzeugungen und Selbstverständnisse revidieren zu müssen. Wie wurde dieser Prozess erlebt; welche Momente blieben als die bedeutendsten Herausforderungen in der Erinnerung?

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Carl LUDWIG, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart (1957), Bern 1966, S. 12. 6 Ebd., S. 372. Hinzu kommt im Schlussteil des Berichts ein Kapitel „Grundsätze für die Handhabung des Asylrechtes in Zeiten erhöhter internationaler Spannungen und eines Krieges. Bericht des Bundesrates vom 1. Februar 1957", wo die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs einer Neubeurteilung zugrunde liegen. Fast wie eine praktische Bestätigung jener „Theorie" folgt im letzten Kapitel ein Bericht über die Aufnahme ungarischer Flüchtlinge. 7 Judit BlRKAS, Die Ungarnflüchtlinge von 1956 in der Schweiz, ihre Aufnahme und Eingliederung, Lizentiatsarbeit, Basel 1985, S. 19 ff.

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Bei dieser Darstellung geht es um die zusammenfassende Sicht, also quasi um die Resultate einer in deutscher Sprache noch nicht publizierten umfangreicheren Arbeit 8 , der als Grundlage die Aufzeichnungen von zwei Dutzend Lebenswegerzählungen zur Verfügung standen. Zu den Auswahlkriterien gehörte, dass jene über die gesamte Schweiz verteilten Flüchtlinge ausgewählt wurden, die eine relevante Rolle in der Emigrantenszene als Organisatoren verschiedener Vereine gespielt oder sich (auch öffentlich) zu dem Emigrantendasein geäußert haben. Diese Auswahl deutet allerdings darauf hin, dass den gesammelten Aussagen ein Moment des involvierten Experten innewohnt. Zu den vertretenen Berufsgruppen gehören Psycholog(inn)en, (jungsche und freudsche) Psychoanalytiker, Schriftsteller, Journalisten, Seelsorger, Hochschuldozenten und Ärzte. Diese Auswahl kann zwar nicht als repräsentativ für die Ungarnflüchtlinge gelten, zum Ziel der Studie gehört jedoch mehr als eine Statistik aufzustellen oder repräsentative Aussagen darzulegen. Es sollen immerhin Einblicke in das Verständnis der Handlungsräume und in die Erinnerungsbreite gewährt werden. Das Wesentliche bei einer solchen qualitativen Arbeit sehe ich in der Auseinandersetzung mit den „Stimmen", das hier aber aus Platzgründen auf ein mehr illustratives Minimum beschränkt bleibt.

II. Bei der Suche nach der Herausforderung der selbstgestellten Aufgabe der Emigranten war der gesamtbiographische Zusammenhang wichtig, da der eigene Werdegang der Erzählenden sehr stark in Bezug auf die Herkunft erklärt wird, so die eigene Verortung („Aufstieg", Weiterfuhrung der Familientradition bzw. Deklassierung). Die Kategorien, denen sich die Interviewten zuordneten (bürgerlichjüdisch, protestantisch, katholisch, bäuerlich, aristokratisch, Gentry, intellektuell, Arbeiter oder auch der politische Standpunkt), erhalten in der Erzählung auf der Argumentationsebene eine quasi genetische Größe. Als aufschlussreich für die Analyse des Diskurses galten auch die selbst erlebten oder von der eigenen Umgebung vermittelten Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus war es von Bedeutung, in welcher Situation jemanden die Revolution traf: als enttäuschten Reformkommunisten oder als politischen Häftling in einem Gefängnis? Am Anfang der Emigration stand die Niederschlagung der Revolution. Evident mag die Motivation zur Flucht erscheinen. Doch wie sahen diese Beweggründe individuell aus? Mit welcher Begründung haben sich die Betroffenen für die Emigration entschieden? 8

KANYO, Emigräciö e s Identitäs (Anm. 1).

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Etliche Zeitzeugen fühlten sich durch ihre Involviertheit in die revolutionären Geschehnisse genötigt, das Land zu verlassen, um einer Rache zu entgehen. Oft bezeichneten sie ihre Motivation passiv, ζ. B. als Angehörige (Frau, Bruder, Vater eines Mitglieds eines Revolutionsrats), von dem man sich nicht trennen wollte. Zu den beschriebenen Aktionen gehörte die Mitwirkung in Arbeiter- und Studentenräten bzw. in Revolutionskomitees. Für einige (so ζ. B. orthodoxe Juden, deren Ausreisanträge noch vor der Revolution abgelehnt worden waren) war es seit 1949 die erste Gelegenheit, das Land zu verlassen. Diesem Motiv schlossen sich viele an, die sich schon aufgrund ihres belasteten Vorlebens bzw. ihrer Herkunft keine Chancen in der Volksrepublik ausrechneten. Es gab auch Menschen, die in einer Massenpanik das Land verließen: als Bewohner eines Grenzdorfes, von dem nach Angaben des Zeitzeugen ca. die Hälfte der Bevölkerung in das einige hundert Meter entfernte Österreich flüchtete. Eine relativ späte Entscheidung zur Flucht wurde von einem Ehepaar getroffen, weil es die erneut geschlossenen Grenzen nicht hinnehmen wollte. Ein weiterer Zeitzeuge gab an, dass es im November zu Streiks kam und er diese „untätige Zeit" fur eine Art Studienreise nutzen wollte. Wenn man wiederum untersucht, warum gerade die Schweiz zur Wahlheimat wurde, könnte man grob zwei Kategorien erstellen. Einmal betrifft es jene, die quasi aus dem Affekt heraus eine mehr oder weniger zufällige Wahl getroffen haben oder sich von einem Kollegen überreden ließen, d. h. als Gruppe zusammenbleiben wollten. Anderen dauerte das Schlangestehen vor den amerikanischen Behörden zu lang. Einige wiederum wollten in Europa bleiben; sie kannten eventuell bereits eine der schweizerischen Landessprachen. Andere trafen eine bewusste Entscheidung über ihr Ziel, sei es, weil sie über fundierte Vorkenntnisse verfügten (einige waren nach dem Zweiten Weltkrieg für mehrere Monate als Rotkreuzkind in der Schweiz gewesen und hatten ζ. T. ihre Beziehungen, so gut es ging, aufrechterhalten), sei es, dass sie positiv wirkende Informationen über das Land von einem Bekannten erhalten hatten. Auch die Anwesenheit eines Verwandten konnte einen Anhaltspunkt geben, auch wenn anschließend in der Schweiz dann der Kontakt zu jenem Angehörigen kaum aufrechterhalten wurde. Dazu kam das Image der Schweiz, demzufolge das Land mit seiner humanitären Tradition und der Neutralität in einem sehr positiven Licht erschien. Betrachtet man die Erwartungen in den Erzählungen, dann geht daraus auch hervor, dass einige Leute die Emigration anfangs nur als eine vorübergehende Angelegenheit betrachteten. Man hoffte auf eine politische Lösung (ζ. B. dass die UNO vermitteln könnte, oder dass die Sowjets aus eigener Einsicht ihre Truppen wieder abziehen würden) und die Rückkehr. So fungierten als Erwartungen ζ. B., ein Studium zu absolvieren, Sprachen zu lernen, berufliche Erfahrungen zu sammeln.

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Während einige (ζ. B. während der Revolution aus dem Gefängnis befreite Menschen) schlicht überleben wollten und gar keine Erwartungen hegten, kämpften andere um die Zusammenfuhrung der auseinander gerissenen Familie. Ein Zeitzeuge konnte erst zehn Jahre später, 1966, seine Frau aus der Volksrepublik Ungarn in die Schweiz holen. Prozesse der Integrationsarbeit, mit der alle konfrontiert wurden, kristallisierten sich in vielen Bereichen heraus. Da war zunächst der Aspekt der Sprache, der als Grundlage der Kommunikation am wichtigsten gewesen sein dürfte. Der sprachliche Akzent zählte bei vielen Emigranten zu ihrem Kennzeichen, der mitunter als Ausländer-Stigma empfunden wurde. Auch wurde die lateinische Schweiz oft als der ungarischen Lebenseinstellung näher liegend als die Deutschschweiz betrachtet. Etwas grotesk dürfte jener Umstand wirken, dass die aus einer stalinistischen Diktatur geflüchteten Personen in der demokratischen Schweiz die Ungleichbehandlung der Frauen entdeckten 9 . Die sprachliche Barriere zu überwinden, gehörte zu den grundsätzlichen Aufgaben. Hier bot die Schweiz ein besonderes Terrain - nicht nur wegen ihrer vier Landessprachen. Das Sonderphänomen hieß: die Schweizer Dialekte. Das folgende Zitat mag gleich mehrere Seiten dieses Aspekts beleuchten, vor allem den Prozess der Akzeptanz von beiden Seiten: „Zehn Jahre lang sprach ich nur Hochdeutsch; aber ich hatte es nicht gerne, wenn man mit mir Hochdeutsch sprach, nur weil ich Hochdeutsch redete. Ich hätte es lieber gehabt, wenn sie Schweizerdeutsch zu mir gesprochen hätten. Das bedeutet immer eine Ausgrenzung, wenn ein Schweizer beginnt, Hochdeutsch zu sprechen. 1967 war ich in Amerika und unterrichtete dort an einer Universität. In jenen neun Monaten entdeckten wir, dass wir eigentlich in der Schweiz zu Hause sind. Also man brauchte etwas ganz anderes kennen zu lernen, um zu sehen, dass wir in den letzten zehn Jahren in der Schweiz und in Basel verwurzelt waren, und als wir nach Hause kamen, fing ich an, Schweizerdeutsch zu sprechen. Was sicher kein Zufall war, sondern eine emotionale Umstellung. Ich hatte den Eindruck, eine Mauer sei gefallen, als ich selber Schweizerdeutsch zu sprechen begann. Sie haben uns aufgenommen, indem sie sich uns gegenüber über die Ausländer beschwerten, was ein Zeichen dafür war, dass sie vergaßen, dass wir auch Ausländer sind" 10 . Die Art der Kontaktaufhahme mit Schweizern dürfte sehr individuelle Formen gehabt haben. An einzelnen Universitätsfakultäten bildeten Studenten unter sich enge Gruppen, die sich auch etwas vom schweizerischen Umfeld abkapselten. Für die Anfangszeit wird eine starke Solidarität auch in materieller Hinsicht konstatiert, sowie ein gewisser „Klassenunterschied" zu den Einheimischen, die sich andere Freizeitbeschäftigungen erlauben konn9 10

Das Frauenstimmrecht wurde auf eidgenössischer Ebene 1971 eingeführt. KANYO, Emigräcio es Identitäs (Anm. 1), S. 54 f.

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ten. Diese starke Gruppenzugehörigkeit lockerte sich allmählich, wenn die Leute ihren Status änderten, ihr Studium absolvierten, ihrer Arbeit nachgingen, eine Familie gründeten und es weniger gemeinsame Interessen gab. Einzelne kapselten sich, was Freundschaft bzw. soziales Leben anbelangt, regelrecht von ihrem schweizerischen Umfeld ab (oder sie fanden diesbezüglich keinen Anschluss), andere taten es so mit ihren früheren Landsleuten. Die ursprünglich von schweizerischer Seite initiierten Ungarnvereine, die in mehreren Städten gegründet wurden, um einen Gesprächspartner zu haben, verloren mit der Zeit zusehends an Attraktivität. Hinzu kamen auch Konflikte 11 , die die Menschen von der Teilnahme abhielten: „Man wird reifer und die Bedürfnisse steigen. Am Anfang waren wir froh, überhaupt Leute zu treffen, die einen ähnlichen Background hatten" 12 . Mehr Aussicht hatten selbst initiierte Vereinigungen, die sich über das Ungarische hinaus einem weiteren Thema widmeten, so die Schriftstellervereinigung, die Berufsvereinigungen der ungarischen Architekten und Ingenieure, der Ärzte etc.; kulturelle Vereine: Musik- und Tanzgruppen; Sportvereine: Fußball- und Tischtennisklubs etc.; auch Pfadfindervereine. Zahlenmäßig dürften Versammlungen mit kirchlichem Hintergrund die meisten Personen mobilisiert haben. Eine besondere Bedeutung hatten die sich europaweit formierende Intellektuellenbewegungen (ausgehend von den revolutionären Studentenvereinigungen), wie die Freie Universität Protestantischer Ungarn in Europa und die Pax Romana. Diese hatten mit ihren regelmäßigen Veranstaltungen und ihren Tamisdat-Ausgaben eine gewisse Ausstrahlung auch in der Volksrepublik Ungarn. Am Anfang gab es auch aus Schweizer Sicht Konflikte. Sie zeigen sich an folgenden Beispielen (es handelt sich um Stimmen der damaligen Mitglieder der „Studentischen Direkthilfe Schweiz - Ungarn", die sich besonders für ihre Kommilitonen einsetzten) 13 : „Man hat hie und da gespürt, dass diese Ungarn gegenüber allem, was staatlich war oder staatlich unterstützt wurde, ein tiefes Misstrauen hatten. Das war etwas, was man ihnen erst nehmen musste. Also, wenn sie es mit der Fremdenpolizei zu tun haben, musste man ihnen beibringen, dass das nichts Böses ist, sondern dass es etwas ist, was sein muss, und dass es einer demo11

Ein gewisses Konfliktpotenzial barg auch der Anlass bzw. der Zeitpunkt der Emigration. Die 1956er trafen auf solche, die kurz nach dem Krieg Ungarn verlassen hatten. Ein Teil von ihnen wurde als sehr rechts stehend betrachtet, während viele Flüchtlinge, die nach 1956 kamen, als „Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet wurden. 12 KANYO, Emigräcio es Identitäs (Anm. 1), S. 79. 13 Dieses Vorgehen ließe sich in eine Tradition der schweizerischen Geschichte der Flüchtlingspraxis einreihen. Die meisten Hilfsmassnahmen (wie bei den Hugenotten, so wie bei Flüchtlingen der Französischen Revolution) wurden oft von der jeweils weltanschaulich ideologisch oder konfessionell - nahe stehenden Gruppierung getroffen.

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kratischen Kontrolle untersteht. Das war am Anfang sehr schwierig, ihnen diese Angst zu nehmen. Man musste ihnen erst erklären, dass es eine Aufsicht ist, über der Verwaltung; dass diese an das Recht gebunden ist; dass sie nicht willkürlich behandelt werden können. Das war etwas, was ihrem Erfahrungsbereich fremd gewesen ist" (Kopp, S. 4) 14 . Und weiter: „Ich kann mich nicht an solche Konflikte erinnern. Erst Jahre später sind mehr und mehr Ungarn aufgetaucht, die die Gerichte beschäftigt haben. Da hat man gesehen, dass bei jeder Flüchtlingswelle, wenn die Gefangnisse aufgehen - und das ist ja passiert in Ungarn - da kamen auch die weniger edlen Menschen heraus. Aber im Jahr 56 hat das noch keine Rolle gespielt". Oder eine andere Meinung: „[...] ich bin ein Nachkomme der Hugenotten. Verschiedene alte Basler Familien mit französischen Namen sind ja Hugenottenabkömmlinge. Wir haben in unserer Familie nie vergessen, dass wir auch einmal als Flüchtlinge nach Basel gekommen sind. Die Hugenotten waren eine ökonomische und intellektuelle Elite damals im 17. Jahrhundert, und ich habe daran gedacht. Ich dachte, dass hier jetzt wieder Menschen kommen, die unser Land bereichern. Und solche habe ich auch kennen gelernt und mit solchen habe ich zusammen gearbeitet. Und dann waren diese Leute für uns ein Zeichen für den Zusammenbruch des Sowjetsystems, und wir hofften, es würde sich ausbreiten" (Miville S. 2 f.) 15 . Bei den konstatierten Mentalitätsunterschieden gab es Bereiche bzw. Werte, die später von den Flüchtlingen übernommen wurden. Hervorgehoben hatte man die Pünktlichkeit und die Präzision, die es zu lernen galt, sowie ein anderes Verhältnis zum Vorgesetzten, der nicht den Antreiber spielte, sondern beobachtete und das Ergebnis kontrollierte. Als ein wiederkehrendes negatives Moment galten verschiedenste Formen von „Kleinlichkeit", die auch in dem selbstkritischen Schweizer Diskurs als „Bünzlitum" abgetan wurde 16 . Die Ungarn betrachteten viele ihrer Handlungsgewohnheiten als eher spontan improvisiert, wobei es dafür in der Schweiz eine formelle Regel bzw. eine ausgerichtete Ordnung gab (Hausordnung, Vorschriften), die tatsächlich auch eingehalten wurden. „Die Gründlichkeit, die Kleinlichkeit der Schweizer fiel den Ungarn am Anfang schwer, aber ich selbst bin ein gründlicher, kleinlicher, ordnungsliebender Mensch, so dass dies für mich keine Probleme ergab. Denn diesbezüglich fühlte ich mich manchmal schweizerischer als die Schweizer selbst, und manchmal versuchte ich, meinen Schweizer Kollegen Ordnung beizu14 Tamas KANYO, Die Schweiz und die ungarische Revolution von 1956. Eine Spurensuche, in: Bios (Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History) 2/2000, S. 208-224, hier: 216 f. 15 Ebd., S. 213. 16 Ein oft geäußertes Beispiel betrifft ζ. B. die Badegewohnheit. Der Vorwurf lautete, die Ungarn (viele kamen aus der Bäderstadt Budapest) würden zu oft (täglich) baden bzw. zuviel warmes Wasser vergeuden.

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bringen. Das ist vielleicht eine Frage der Generation, des Alters. Für mich gab es diesbezüglich keine Probleme" 17 . „Eine der positivsten Eigenschaften der Schweizer - warum wir auch hier gerne leben - ist die Bereitschaft zu diesem unglaublich nüchternen praktischen Denken. Über Jahrzehnte hinweg habe ich in den Lehrerkonferenzen erfahren, dass man über jedes Thema auf eine sehr nüchterne Weise pro und contra argumentieren konnte; dass die Leute nicht ihren Kopf verlieren; dass Leute, die sich nicht ausstehen konnten und sich dies unter vier Augen auch sagten, auf einer Konferenz miteinander mit größter Objektivität sprechen konnten. Ein Ungar wäre ein Leben lang beleidigt: ,Ich spreche nicht mit ihm, er existiert für mich nicht'. Das wäre eine typisch ungarische Reaktion" 18 . Bei den hier ausgewählten Beispielen wird klar, dass die Adaption ζ. T. vollzogen wurde. Es gibt allerdings auch Beispiele, wo dieses „fremde Moment" als solches nicht erkannt wurde und in jenem Bereich auch keine Annäherung an diese Auffassung erfolgte.

III.

Der folgende Teil soll die Erwartungshaltung von Schweizern darstellen, die ihre Solidarität und Aufhahmebereitschaft (doch) an ein bestimmtes Bild, an eine bestimmte Erwartung knüpften: „Wir hatten eigentlich keine Erwartungen gehabt. Aber eines muss ich schon sagen. Wir hatten den Kontakt zu den Studenten gesucht und auch gehabt. Wir dachten, sie seien ganz vehemente Antikommunisten, die gegen das Regime gekämpft haben. Als wir dann die ersten direkten Kontakte zu ihnen hatten in Budapest und dann in Wien und in der Schweiz, da haben wir plötzlich festgestellt, ja nein, so ist das j a gar nicht, wie wir es gedacht hatten. Diese sind zum Teil gar keine Antikommunisten, sie bekannten sich zum Teil völlig zum Sozialismus, aber sie wollen Demokratie und Freiheit, und sie wollen auch die Öffnung nach Westen. Viele von ihnen waren im Prinzip auch Kommunisten oder Sozialisten, und sie sagten es auch, aber sie wollten eine andere Form von Kommunismus. Das ist für uns schon etwas unerwartet gekommen, auf jeden Fall haben wir das nicht an die , große Glocke gehängt', wir haben sogar dem einen oder anderen Ungarn gesagt, das müsse er nicht gerade vor dem Mikrophon erzählen, sonst begreifen das die Leute nicht. Weil natürlich die ganze Emotion, die da aufgeladen worden ist mit diesem 56 in Ungarn - diese war antikommunistisch gewesen. Da muss man sich

17 18

KANYO, Emigräcio es Identitäs (Anm. 1), S. 67. Ebd.

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nichts vormachen, und da wäre das schon etwas schief in der Landschaft gelegen" (Renschier S. 9 f.) 19 . In dieser „Überraschung" kulminierten viele Widersprüche in der Interpretation der Ereignisse. Da wären zunächst die dominierenden Bilder, die der Logik der Machtblöcke und somit gesamthaft des Kalten Kriegs entsprachen. Die Sowjetunion sprach von einer „faschistischen Konterrevolution", während die Gegenseite nicht nur den Antistalinismus, sondern auch oft antisozialistische Momente hervorhob. Beiden waren der Schematismus und das Hervorheben des destruktiven Elements gemeinsam. Kaum zur Kenntnis genommen wurden die neu entstandenen staatstragenden Strukturen, die sich mit dem Zusammenbruch des Gewaltregimes formierten, beispielsweise die Bewegung der Arbeiterräte 20 . Das sind Momente, die es erlauben von einer Revolution zu sprechen. Eine Revolution ist nie „eindeutig" - so trafen die Befragten in der überaus heterogenen Gruppe der Ungarn anscheinend auch auf die „Kommunisten". Es muss allerdings hinzugefugt werden, dass einige der Flüchtlinge diese strikt antikommunistische Erwartungshaltung als einen gewissen Druck erlebten und sich diesem Erwartungsschema fugten, oder sie folgten aus eigenem Antrieb einer (erwarteten) gegen die „Linke" gerichteten Linie. Doch viele andere hatten eine Vorstellung, die diesem Schematismus nicht entsprach, die aber mit zu den Hauptforderungen bzw. zum Wesentlichen der 1956er Revolution gehörte. Sie reagierten auf diese gesteuerte Auffassung mit Unverständnis. Der Kalte Krieg leitete für viele Emigranten ein Zeitalter des Misstrauens ein. Dieses Misstrauen erstreckte sich über viele Ebenen, und so gerieten viele Immigranten in das Blickfeld der Bundespolizei. Die Konstellation des Kalten Krieges ermöglichte es, kleinere Konflikte aufzubauschen und sie in den globalen Zusammenhang des West-Ost Gegensatzes hineinzumanövrieren. Ein vages Bild des Ausmaßes der Denunziationen, die nicht selten zu einschneidenden Konsequenzen führten (Verschiebung/Abbruch des Einbürgerungsverfahrens, Verlust einer Stelle oder die Verunmöglichung einer Stellenbewerbung), entstand zu Beginn der 1990er Jahre, als im Zuge der Fichen-

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KANYO, Die Schweiz (Anm. 13), S. 214. So berichtete die Basler sozialdemokratische Arbeiter Zeitung (AZ) zwar über „antisowjetische Sowjets" (Sowjet bedeutet russisch: Rat), die sich auch mit den Aufständischen als Arbeiter und Werktätige solidarisierten, doch zeigt eine Stellungnahme: „Mag sein, dass sich einige Arbeiterräte gefunden haben. Die meisten dieser Gebilde dürften aber von der kommunistischen Führung gegründet worden sein, um die Revolution des Volkes auf diese Weise auffangen zu können. [...] Dahinter versteckt sich ganz einfach der Wunsch, die Dinge wieder in die Gewalt zu bekommen", in: AZ, 29. Oktober 1956, S. 2. Hannah Arendt gehörte zu den großen Ausnahmen, die die Bedeutung dieser Räte erkannte. Ihre Gedanken zu diesem Thema publizierte sie kurz nach den Ereignissen in einer Broschüre „On Hungarian Revolution". 20

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afifäre21 die Möglichkeit der Einsicht in die Dossiers (Fichen) der geheim agierenden Bundespolizei gewährt wurde: „Nach drei Jahren kam es zu verschiedenen Zerwürfnissen unter den Ungarn. Einzelne Ungarn zeigten uns an. Es gab Verdächtigungen [...]. Die Ungarn versuchten noch Jahre lang bei der UNO bei einer Kommission zu intervenieren, diese veranstalteten Anhörungen [...]. Dag Hammarskjöld durfte dann nicht nach Ungarn einreisen. [...] Einzelne Leute bezichtigten uns der Spionage und es kam plötzlich zu einer Hausdurchsuchung. Das war gesetzlich gesehen eine unerhörte Sache. Man kann ja nur mit richterlicher Verfügung eine Hausdurchsuchung durchführen. [...] Das ist für die ganze Emigration leider in einer gewissen Hinsicht typisch. Später stellte sich dann heraus, dass die Bundespolizei wissen wollte, ob wir wirklich nicht mit den Kommunisten zusammenarbeiteten, oder ob wir eine Verschwörung gegen die damalige Ungarische Regierung planten. Das hatte die Bundespolizei untersucht. Ich bekam (später) eine achtseitige Lobeshymne, in Anerkennung meines Engagements für die Integration der Ungarn. Also im Prinzip hatte ich kein Problem mit dem Schweizer Rechtsdienst. Damit wollten sie mir eine Genugtuung geben. Denn sie sahen, dass ich weder für Kädär noch gegen ihn spionierte". „Später kamen dann die Fichen, die mich überhaupt nicht interessierten. Aber da ständig Freunde kamen mit ihren eigenen Fichen, in denen ich dauernd vorkam oder auf mich Bezug genommen wurde, habe ich dann auch um Einsicht gebeten. Nur das Stichwortverzeichnis umfasste mehr als 12 Seiten und das Dossier war schon völlig unübersichtlich. Die meisten Betroffenen waren genau die, welche sich in die Schweizer Gesellschaft am besten eingefügt hatten. Ein Beispiel: XY war ein aktiver reformierter Geistlicher, der bei Barth war und so weiter und er wurde observiert, man traute ihm nicht. Ich war Kirchenratspräsident und ein angesehener Bürger. Die Verbindungsleute der Bundespolizei, die Spitzel, das waren zumeist Ungarn, die konnten ihre Schweinereien treiben. Unsere Telefone wurden abgehört usw. Sehr viele unverständliche Dinge haben sich im Nachhinein geklärt. Einige hatte es die Stelle gekostet" 22 . Abgesehen von den üblen Anschuldigungen gab es auch Hinweise, wonach verschiedene Personen und Organisationen vom Geheimdienst der Volksrepublik Ungarn beobachtet wurden, und dass Versuche unternommen wurden, 21

Der Fichenskandal oder die Fichenaffäre kam im Jahre 1989 durch den Bericht einer Parlamentarischen Untersuchungskommission zustande, welcher eine Amtsgeheimnisverletzung im Bundesrat (Regierung) untersuchte. Dem Bericht nach wurden 900 000 Personen und Organisationen von der Bundespolizei beobachtet. Die Akten konnten von den Betroffenen eine Zeit lang zur Einsicht beantragt werden. Nachdem der Bundesrat zuerst die Vernichtung der Akten beschließen wollte, wurden sie dem Landesarchiv übergeben und für 50 Jahre gesperrt. 22 KAMYO, Emigräciö es Identitäs (Anm. 1), S. 97 f.

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nicht genehme Personen zu desavouieren und Organisationen zu zersetzen 2 3 . Das Erfassen des Ausmaßes dieses Kapitels steht noch bevor. Ein Schritt wird getan sein, sobald das Archiv der Staatssicherheit (Ällambiztonsäg Szolgälatok Törteneti Leveltära) den Einblick in die relevanten Akten gewährt. Bei der Einschätzung des Emigrantenschicksals entstehen einige weitere Schwierigkeiten. Zu den ausgewählten Zeitzeugen gehören nur die „Gebliebenen", die „Überlebenden". Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass die Einschätzungen fast durchweg positiv ausfallt, so dass das Schicksal der 1956er Flüchtlinge in der Schweiz als Erfolgsstory dargestellt wird. „Ich glaube persönlich, dass zumindest die 1956er sich weitgehend gut assimiliert haben. Das hat sich letztlich 1989 erwiesen. Wenn es leidende Emigranten gewesen wären, die bangend auf die Stunde der Rückkehr in das Heimatland warteten, dann wären 1989 massenweise Leute nach Hause gegangen. Das ist nicht passiert. Die meisten sind hier so verwurzelt und verankert, dass sie sich wohl keine andere Existenz mehr vorstellen können" 2 4 . Beinahe als Ausnahme gilt die Stimme eines Technikers, der später eine Zeit lang Fremdenlegionär in Frankreich war und dann wieder in die Schweiz zurückkam: „Da gab es große Unterschiede. Ich hörte, dass es viele Ungarn in der Psychiatrischen Klinik gab, auch 1956er als Patienten. Es gab nicht nur solche, die große Karriere gemacht haben, sondern auch welche, die irgendwie mit dieser ganzen Situation nicht fertig geworden sind. Ich hatte mehrere Freunde, die Selbstmord verübten" 2 5 . Auf die Frage, ob sie mit dem früheren Emigrantendasein eine Verpflichtung der Schweiz gegenüber eingingen, antworteten die meisten mit einer breiten Palette an Vorstellungen. Sie reichte von „keine Verpflichtung" bis hin zur Einstellung, Aufklärungsarbeit über den Kommunismus leisten oder Statements zur Lage und Kultur Ungarns abgeben zu müssen. Nebst etwas pathetisch anmutenden Zielen, wie „die Fahnen von 1956 hochhalten", wird vermehrt darauf hingewiesen, dass es zunächst wichtig war, sich zurechtzufinden, den hiesigen Erwartungen zu entsprechen, und so einen Beitrag zum guten R u f der Ungarn in der Schweiz zu leisten. Hinzu kamen Stimmen, andere Emigranten aus anderen Ländern bei ihrer Integration zu unterstützen. Viele der Interviewten konnten ihre eigene Position besser bestimmen, wenn sie sich für eine Zeit lang in einem dritten Land aufhielten oder (meist erst als Schweizer Bürger) Ungarn besuchen konnten:

Von einem Beispiel direkt versuchter Einflussnahme vgl. KANYO, Emigracio es Identitäs (Anm. 1), S. 95 ff., auch Läszlo LUKA, Rendhagyo elet [Ein außerordentliches Leben], Basel/Budapest 2 0 0 5 , S. 83 f., 158 ff. 2 4 KANYO, Emigracio es Identitäs (Anm. 1), S. 99. 2 5 Ebd. 23

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„Seit ich nach Ungarn fahren kann, habe ich auch die Schweiz besser schätzen gelernt. Es hat sich herausgestellt, dass vieles nicht stimmte; es gab viele nostalgische Emigrantenträume, die zerfallen sind. Dazu parallel haben sich für mich viele schweizerische Eigenschaften aufgewertet, ζ. B. die Reserviertheit, die Zuverlässigkeit; diese typischen Schweizer Tugenden, die habe ich sehr gerne, und sie fehlen mir in Ungarn manchmal sehr" 26 . Schaut man heute auf die Millionen von Migranten - „Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge, f...] pendelnde Intellektuelle"27 - , und nimmt man die Vertriebenen in einem nicht lokalen Sinn hinzu - „Humanisten aus der Welt der Apparate", die „ältere Generation aus der Welt ihrer Kinder und Enkel" 28 - , so kann man konstatieren, dass das Emigrantendasein vieles an Exotischem eingebüsst hat, dass es quasi einen Normalzustand darstellt und somit zu einer Herausforderung beinahe aller geworden ist. Die Position der Ungarnflüchtlinge von 1956 in der Schweiz könnte man als einen Teil der Avantgarde dieser Entwicklung ansehen.

Summary After the suppression of the 1956 Revolution in Hungary about 200,000 people left the country; 13,000 of them went to Switzerland. The article summarizes the „results" of research that deals with the reflections of selected Hungarian 1956 refugees in Switzerland on their lives. The core question is how the refugees handled the critical core processes of their new situations i.e. the way refugees viewed the task and process of orientation, socialization and integration and the manner in which they coped with these challenges. The approach employs a micro-history perspective based on oral history sources. The text shows the exceptional heterogeneity of the voices, although there is a certain similarity in structure (in the challenges faced or the perceived circumstances), such as the special trying personal experiences of the Cold War.

26

Ebd., S. 102. Vilem FLUSSER, Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Bensheim 1994, S. 16. 28 Ebd., S. 104. 27

ANDERE BEITRÄGE Mitteleuropa - Osteuropa - Ostmitteleuropa? Bemerkungen zur Entstehung einer europäischen Region im Frühmittelalter* Von

Märta Font

Wo liegt Europa? Maria Todorova wirft diese Frage auf in einem jüngst erschienenen Aufsatz 1 . Die Fragen ließen sich fortsetzen: Was ist Europa? Welche Regionen des euroasiatischen Kontinents werden Europa zugerechnet? Die Antwort kann dadurch beeinflusst werden, wie sie auf eine bestimmte Epoche bezogen wird, welche Aspekte dabei gewichtet werden. Wir sind mit der Verfasserin des zitierten Aufsatzes weitgehend einer Meinung, dass die Auffassung von den heutigen europäischen Regionen stark durchpolitisiert ist und von einer Großmachtposition ausgeht - und dass das geändert werden sollte. Wir versuchen zur laufenden Diskussion über die Entwicklung Europas, Uber seine Regionen aus der Sicht der Mediävistik unsere Gedanken hinzufügen, wobei wir uns auf den mittleren Teil Europas konzentrieren 2 . Den mediävistischen Aspekt heben wir deswegen hervor, weil die Literatur über die Bestimmung der Regionen oder einzelner Begriffe auf die Methode der Komparatistik zurückgreift, indem sie spätere Epochen als tertia comparationis nutzt 3 . Hinsichtlich des Frühmittelalters ist die Anwendung zahlreicher Begriffe problematisch, die für das Spätmittelalter ohne Bedenken verwendbar sind (wie ζ. B. Staat), jedoch für das Frühmittelalter auf eine vom modernen Staat völlig abweichende Struktur treffen. Die Verwendung des Begriffs „mittelalterlicher Staat" ist im wesentlichen eine Konvention, da wir kein Wort haben, mit dem wir ihn vom modernen Staat unterscheiden könnten. Diese Art von Unsicherheit ist in der Mediävistik auf internationaler Ebene ver* Die Forschung wurde von der ungarischen Stiftung OTKA 043432 finanziert. 1 Maria TODOROVA, Wo liegt Europa? Von der Einteilung eines Kontinents und seinen historischen Regionen, in: Europäische Rundschau 33/3 (2005), S. 47-62, hier: S. 47. 2 Zur ausfuhrlichen Begründung unserer Ansichten siehe: Märta FONT, A kereszteny nagyhatalmak vonzäsäban [Im Spannungsfeld der christlichen Großmächte], Budapest 2005. 3 Vgl. ζ. B. Frank HADLER, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in vergleichender Absicht, Einleitende Bemerkungen, in: Comparativ 5 (1998), S. 7-13, hier: S. 7-9.

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breitet. Gyula Kristö behauptet, dass dieser Streit dadurch entschieden wird, wie die jeweilige Epoche den Begriff verwendet4. Um das zu belegen, untersucht er den Wortgebrauch von regnum, monarchia, res publica, patria in den mittelalterlichen ungarischen Quellen. Man kann sich damit völlig einverstanden erklären, dass jeder der lateinischen Begriffe „eindeutig für die Existenz eines Machtgebildes spricht". Es ist aber dann fraglich, ob das Machtgebilde den Staats-Begriff ausschöpft oder nicht. Wenn wir unter dem Begriff , Staat' das Funktionieren eines Institutionensystems verstehen, dann können wir kaum auf dem von mir untersuchten Gebiet und in jener Zeit von , Staat' sprechen. Wenn wir die Existenz der von den christlichen Herrschern errichteten neuen Machtgebilde mit dem Staat identifizieren, dann müssen wir vom , Staat' sprechen. Für beide Definitionen gibt es zahlreiche Beispiele: dass der moderne Staat durch stabile Grenzen, durch ein entstandenes Zentrum (Hauptstadt), durch ein System von Institutionen, stabile Rechtsordnung, durch ein stehendes Heer gekennzeichnet ist; und dass der mittelalterliche Staat durch die Vereinigung von je einem Gebiet, von je einer Menschengruppe unter der Führung eines Herrschers oder einer führenden Gruppe entsteht5. Im Frühmittelalter haben wir anstelle von , Staat' die Bezeichnungen Herrschaftszentrum, Machtzentrum, Herrschaftszone benutzt. Das Zustandekommen einer neuen Machtstruktur steht außer Frage, nur ihre Bezeichnung ist strittig. Die Vorsicht gründet in der ausgedehnten Diskussion. Das wird durch die Analyse des mittelalterlichen Denkens untermauert: „Zum Gegenstand des mittelalterlichen politischen Denkens zählen wir die Art der Gesellschaft, ihre Organisation, ihre Regierung und die Ideen hinsichtlich ihrer Ziele". Der am meisten auffallende Mangel dieser Definition ist, dass sie den Staat nicht erwähnt, den aber doch jede Untersuchung der politischen Ideen seit dem Mittelalter umgreifen muss. Die Erschließung dieser Grundlage ist hilfreich für die Charakterisierung des größten Teils des Mittelalters: Obwohl der Begriff des Staates, der historisch gesehen nicht fest ist, von den modernen Assoziationen abweichende mittelalterliche Züge haben kann, ist es nur schwer vorzustellbar, dass man damit die politisch organisierte Gesellschaft des mittelalterlichen Westens vor dem 12. Jahrhundert beschreiben kann. Des Weiteren ist die ganze Frage des mittelalterlichen Staates recht konfus: es gibt ζ. B. Wissenschaftler, die die Ursprünge der Idee des Staates in eine bestimmte Zeit verorten, etwa die Zeit der Karolinger. Die Meinungsunterschiede kreisen dann darum, wie stringent der Begriff „Staat" angewandt wird, und sie zeigen, wie schwer die Deutung des mittelalterlichen politiGyula KR1ST0, A magyar ällam megszületese [Entstehung des ungarischen Staates], Szegedi Közepkortörteneti könyvtär [Szegediner Bibliothek der mittelalterlichen Geschichte], Bd. 8, Szeged 1995, S. 39-57. 5 Jean W. Sedlar, East Central Europe in the Middle Ages 1000-1500, Bd. III, Seattle/ London 1994, S. 14. 4

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sehen Denkens ist: ein bedeutender Teil seines Inhalts passt nicht in die „modernen Praekonzeptionen über das politische Denken" 6 . Von Kristo abweichend, denkt der erwähnte Verfasser auch über den Inhalt des Begriffs res publica nach: „die Bedeutung der Regierung und des Staates ist in theologischer Hinsicht der Dienst für das Gemeinwohl" 7 , und seine für das regnum benutzte Bestimmung lautet so: „die transpersonale Dimension der Regierung" 8 . Für die Machtstruktur des Mittelalters ist ein weiteres Zitat einschlägig: „Im Frühmittelalter sind europaweit unzählige Widersprüche und Variationen in der Machtkultur und in der politischen Kontrolle zu betrachten. Gleichzeitig gibt es grundlegende Ähnlichkeiten in der Entwicklung von dem spätantiken autokratischen System über die Königreiche der Barbaren bis hin zum Konzept des Reiches als gebietsmäßige und soziale Einheit, bis hin zur Dienstübernahme des christlichen Herrschers, bis hin zur kleineren oder größeren Teilung der Macht und der Verantwortung zwischen dem König und der weltlichen und kirchlichen Aristokratie" 9 . Bei der Untersuchung der zeitgenössischen Begriffe wird die Lage auch noch dadurch verkompliziert, dass sich die Begriffe für die politischen und religiösen Verpflichtungen bezüglich der Herrschaft nicht unterscheiden 10 , und die im lateinischen Europa entstandene Deutung der Begriffe patria und regnum ist viel komplizierter, als dass man sie auf den Staat beziehen könnte 11 : „Am Ende der zwischen 1100-1200 vollendeten Entwicklung ist die Hauptfrage: in welchem Maße vollzog sich oder vollzog sich nicht die Übertragung der sakral gewordenen patria communis auf eine gegebene politische Einheit" 12 . Eine funktionsfähige staatliche Struktur baut auf Institutionen auf, die in bestimmten Rahmen und nach bestimmten Regeln funktionieren. Davon ist aber keine Rede bei den neu entstandenen politischen Einheiten, weder an der Jahrtausendwende noch denen, die sich im 11.-12. Jahrhundert formierten 13 . Die Stabilität des „Staates" ruht im Wesentlichen auf Personen, die die Herrschaft der Dynastie verkörpern und sie sichern. Die starke personelle Bindung ist mit den Störungen beim Machtwechsel zu belegen, bzw. mit der oft 6

Joseph CANNING, Α közepkori politikai gondolkodäs törtenete 300-1450 [Die Geschichte des politischen Rechts im Mittelalter], Budapest 2002, S. 11 f. 7 Ebd., S. 68. 8 Ebd., S. 100. 9 Rosamond MCKITTERICK, The Early Middle Ages, Oxford 2001, S. 56. 10 The Cambridge History of Medieval Political Thought c. 350-1450, hrsg. von Jeremy H. Burns, Cambridge 1988, S. 221-224. 11 Dominique LOGNA-PRAT, A politikai ter kereszteny letrehozäsa [Die christliche Formierung des politischen Raums], in: Aetas 1999, Bd. 3, S. 57-72; Pierre MONNET, Α közepkori Patria Nemetorszag vonatkozäsäban, birodalomszervezes es regionälis tudatformäk között [Die mittelalterliche Patria in einem deutschen Kontext zwischen der Organisation des Rechtes und reginalen Formen der Identität], in: Aetas 3 (1999), S. 73-94. 12 lOGNA-PRAT (Anm. 11), S. 60. 13 Joseph R. STRAYER, On the Medieval Origins of the Modern State, Princeton 1970.

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auftretenden Instabilität, die mit der Auswahl der die Macht ausübenden Person innerhalb der Dynastie einhergeht. Die deutschsprachige Fachliteratur verwendet fur diesen Prozess den Begriff Herrschaftsbildung bzw. für das als Endprodukt entstehende politische Gebilde die Bezeichnung PersonenverbandsstaatH. Der Ursprung des an Personen gebundenen Staates ist mit der Stammesordnung eng verbunden. Deswegen hat Kristo die verschiedenen Etappen von „Staatlichkeit" mit der Hinzuftigung von Attributen charakterisiert: barbarischer, Stammes-, dann christlicher Staat15. Der Übergang von der Stammesordnung zur christlichen Staatlichkeit ist in der von uns untersuchten Region überall vorhanden; sogar das Weiterleben früherer Traditionen unter christlichen Vorzeichen ist zu beobachten. Parallel damit, den Mustern der christlichen Reiche folgend, formiert sich ein Institutionensystem, das sich im Laufe des 10.-12. Jahrhunderts in mehreren Abschnitten modifiziert und je eigene Charakterzüge nach Gebieten aufweist. Deswegen ist es angemessen, für das 10.-12. Jahrhundert besser über neue politische Zentren, über politische Einheiten als über Staatlichkeit zu sprechen. Der Europa-Begriff um die erste Jahrtausendwende wich wesentlich von unserem heutigen Europa-Begriff ab, er war meistens als Synonym der christlichen Welt (Orbis Christianus) im Gebrauch. Gerade die erste Jahrtausendwende war die Zeit, als sich das mit der christlichen Welt identifizierende Europa „auszudehnen begann", sich unserem heutigen Begriff des Kontinents näherte. Das sich in diesem Sinne „einigende" Europa trug aber von Anfang an potentielle Bruchlinien in sich, durch die die einzelnen Regionen bis zum 13. Jahrhundert markant voneinander zu unterscheiden waren. Die Bruchlinien zeichneten eindeutig die Linien von Europa Occidens und Europa Oriens nach, und in ihrer Nachbarschaft kam das sog. ZwischenEuropa zustande, das Züge aufwies, die von den beiden „Europa" abwichen 16 . Im Folgenden benutzen wir den Begriff Zwischen-Europa in dem Sinn, dass wir ihn auf Gebiete ausdehnen, die in die Reichweite der beiden damaligen Großmächte - Byzanz und das Römisch-deutsche Kaiserreich gelangten. Da der Bruch zwischen Rom und Byzanz an der ersten Jahrtau14 Vgl. Egon BOSHOF, Königtum und Königherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert, München 1993, S. 90-94; in ungarischer Literatur siehe: György GYÖRFFY, A magyar ällam felnomäd elözmenyei [Die halbnomadische Vorgeschichte des ungarischen Staates], in: Nomäd tärsadalmak es ällamalakulatok [Gesellschaften und Staaten der Nomaden], hrsg. von Ferenc Tökei, Budapest 1983, S. 365-390, hier: S. 383. 15 Gyula KRISTO, Levedi törzsszövetsegetöl Szent Istvän allamäig [Vom Stammesverband von Levedi bis zum Staat Stephans des Heiligen], Budapest 1980, S. 435-491; DERS., Entstehung (Anm. 4), 97-127, 299-333. 16 Jenö S z ü c s , Väzlat Europa härom törteneti regiojäröl [Die drei historischen Regionen Europas], Budapest 1983, S. 8-10; Frank HADLER, Mitteleuropa - „Zwischeneuropa" Ostmitteleuropa. Reflexionen über eine europäische Geschichtsregion im 19. und 20. Jahrhundert, in: Berichte und Beiträge des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (1996), S. 34-63, hier: S. 34.

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sendwende noch nicht erfolgt war, scheint die Konstruktion des späteren Osteuropa nicht begründet zu sein. Wir beschäftigen uns nicht mit den Gebieten, die nicht in die Reichweite der genannten beiden Großmächte kamen (ζ. B. dominierte in Skandinavien der englische Einfluss), und auch nicht mit denen, die zwar in deren Reichweite kamen, in denen aber die christliche Mission bis zur Jahrtausendwende keine Ergebnisse aufweisen konnte: ζ. B. der Christianisierungsversuch Byzanz' in Kasarien. Um die erste Jahrtausendwende gestalteten sich am Rand von zwei christlichen Großreichen mehrere Herrschaftszentren, aus denen jene Region entstand, die heute Ostmittel- bzw. Osteuropa genannt wird. Diese Herrschaftszentren sollten unserer Meinung nach zu dieser Zeit noch als einheitlich betrachtet werden, da sich die die Regionen voneinander trennende Bruchlinie im 10.-12. Jahrhundert noch nicht ausbildete. Davon zeugen auch die Quellen: Adam von Bremen ζ. B. sah noch keinen Unterschied zwischen slawischen Gruppen: ,JSclauonia igitur amplissima Germaniae provincial, oder aber: Ungarn wurde mit mehreren aus der Vergangenheit bekannten Steppenvölkern identifiziert 18 . Die neuen Machtzentren von Zwischen-Europa um die Jahrtausendwende, die Keime der künftigen christlichen Staaten, sind durch die Machtgebilde zu fassen, in denen die christliche Bekehrung im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts Wurzeln geschlagen hatte (Prag, Posen, Gran, Kiew). Vom Augenblick der Geburt der christlichen Staatlichkeit an sind freilich zwischen den parallel laufenden Erscheinungen zahlreiche Unterschiede zu bemerken, die die später markanter werdenden Differenzen schon in sich trugen. Auf die Entwicklung der Zentren in der Mitte Europas im 10.-12. Jahrhundert wirkten unzweifelhaft die in der Nachbarschaft tätigen christlichen „Großmächte", das ostfränkische Königreich (das spätere Römisch-deutsche Kaiserreich) und Byzanz. Beide hatten auf die Veränderungen in Ostmittel- und Osteuropa um die Jahrtausendwende Einfluss. Unseres Erachtens formierten sich die neuen politischen Einheiten in der Anziehungskraft der Großmächte durch die Adaptation der von den Nachbarn entwickelten Muster und durch ihre schon früher existierenden Traditionen. Wenn wir die komparative Methode für das Mittelalter anwenden, ist das nicht ohne Beispiele 19 . Neben den größere Epochen umfassenden Werken

17 Magistri Adami Gesta, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scolarum separatim editi, Hannover 1993, S. 311 (Lib. 11, cap. 18). 18 Vgl. Gyula KRIST0, Hungarian History in the Ninth Century, Szeged 1996, S. 5 7 - 7 0 ; Andräs R0NA-TAS, Α honfoglalö magyar nep [Ungarisches Volk zur Zeit der Landnahme], Budapest 1996, S. 2 0 9 - 2 4 2 . 19 Vgl. ζ. B. Heinrich MITTEIS, The State in the Middle Ages. A Comparativ Constitutional History o f Feudal Europe, N e w York 1975; Werner CONZE, Geschichte Ostmitteleuropas von der Karolingerzeit bis ins 18. Jahrhundert, München 1992; Klaus ZERNACK, Polen und

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gibt es auch Beispiele für die vergleichende Untersuchung der Region 20 . Christian Lübke arbeitete ein System von Gesichtspunkten aus, das sich für die allgemeine Anwendung eigne 21 . Die von Lübke vorgeschlagenen Gesichtspunkte, die sich in erster Linie auf die Paralleluntersuchung von Böhmen, Polen und Ungarn beziehen - die Kiewer Rus wird nur nebenbei erwähnt - , enthalten Material für die Zeit von der Mitte des 12. Jahrhunderts an, um die Sonderstellung der genannten Regionen zu beweisen. Und Lübkes kürzlich erschienenes neues Buch bezeichnet in seinem Titel das Gebiet östlich von Deutschland einheitlich als östliches Europa 22 . In den erwähnten Werken, die vorgaben, die mitteleuropäische Geschichte von Mittelost- bzw. Osteuropa komparatistisch zu untersuchen, finden wir oft, statt auf die Quellen Bezug zu nehmen, bloße Hinweise auf die Fachliteratur; bei den ungarischen Bezügen betrachten wir das als ungenügend. In den mittelalterlichen Zentren des heutigen Ostmitteleuropa übten vier Dynastien die Herrschaft aus: die der Pfemysliden, der Piasten, der Rurikiden und der Ärpäden. Unseres Erachtens gibt die Untersuchung der inneren Struktur dieser vier Machtzentren einerseits auf die Anfänge Antwort, als die Bruchlinie zwischen Mittelost- und Osteuropa entstand, zeigt aber zugleich den ähnlichen Start. Andererseits können wir innerhalb des mitteleuropäischen Systems, das - die Unterschiede nicht beachtend - für gleich gehalten wird, auf sehr wesentliche Abweichungen hinweisen. Eigenartig sind die tschechischen Beispiele, da Böhmen sowohl hinsichtlich der kirchlichen als auch der weltlichen Herrschaft ein Untertyp des polnischen Systems gewesen zu sein scheint, da Böhmen nicht selbständig und unabhängig war. Ein anderer, aber nicht weniger wichtiger Umstand ist, dass die für den Vergleich ausgewählten Herrschaftszentren miteinander in ständigem Kontakt waren. Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994. Es ist merkwürdig, dass das Mittelalter in den erwähnten Bänden zu wenig beachtet wird. 20 Vgl. György SZEKELY, Törzsek alkonya - nepek születese [Untergang der Stämme Geburt der Völker], in: Szäzadok 110 (1976), S. 415-429; DERS., Koronaküldesek es kirälykreäläsok a 10-11. szäzadban [Kronensendungen und Königskreationen in Europa im 10.—11. Jahrhundert], in: Szäzadok 116 (1984), S. 905-949; Coronations, Medieval and Early Modern Ritual, hrsg. von Jänos Bait, Berkeley/Los Angeles 1990; Barbara KRZEMIENSKA und DuSan TRESI', Wirtschaftliche Grundlagen des frühmittelalterlichen Staates in Mitteleuropa (Böhmen, Polen, Ungarn im 10—11. Jahrhundert), in: Acta Poloniae Historica 40 (1979), S. 5 - 3 1 ; Karol MODZELEWSKI, Romai Europa, feudälis Europa, barbär Euröpa [Romanisches Europa, feudales Europa, barbarisches Europa], in: Aetas 3 (2000), S. 5 - 2 4 ; Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Bd. 1 2, hrsg. von Alfred Wieczorek und Matthias Hinz, Stuttgart 2000. 21

Christian LOBKE, Die Prägung Ostmitteleuropas im Mittelalter, in: Berichte und Beiträge des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V., 1996, S. 5 3 - 6 3 , hier: S. 59 ff.; DERS., Die Prägung im Mittelalter: Frühe ostmitteleuropäische Gemeinsamkeiten, in: Comparativ 5 (1998), S. 14-24, hier: S. 22 ff. 22 Christian LOBKE, Das östliche Europa. Die Deutschen und das europäische Mittelalter, München 2004.

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Wir betrachteten die vier Zentren Zwischen-Europas nach folgenden Gesichtspunkten 23 : >

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Sichtung der intern entstandenen Quellen (erzählende Quellen, Gesetze, amtliche Schriftlichkeit) und Ergebnisse der Quellenkritik; damit soll das vorhandene Niveau der Schriftlichkeit beleuchtet werden. Es wurde mit Berichten und Informationen aus der unmittelbaren Nachbarschaft ergänzt, die hauptsächlich für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts der erzählenden Quellen relevant sind. Aufnahme des Christentums und Kirchenorganisation, wobei wir folgendes untersuchen: Zeit und Umstände der Annahme des Christentums (also die Effektivität der Mission), Prozess des Ausbaus der kirchlichen Hierarchie, Ursprung ihrer Einkünfte, Tempo und Struktur der Klostergründungen, Ausbreitung einer christlichen Mentalität. Bei der Organisation der fürstlichen (königlichen) Macht haben wir betrachtet: das Zustandekommen der dynastischen Macht, also das Verhältnis zwischen den die Machtausübung organisierenden Vornehmen und der Dynastie, die Rolle der Gefolgschaft und des königlichen Rates, die Änderungen der Gebiete in der Herrschaftszone („Expansion bei der Staatsgründung", „Kämpfe bei der Organisation des Staates"), die Führung des Reiches und des Heeres, dessen Struktur, die fürstliche/königliche Erbfolge. Bei der Wirtschaft und Gesellschaft untersuchten wir: die ethnische Zusammensetzung der Untertanen des Fürsten (des Königs) und deren wirtschaftliche Folgen, die Organisation des fürstlichen (königlichen) Hofes im Alltag, die Lage der freien und abhängigen Gruppen, die Präsenz von libertas, die Mobilität.

Diese Reihenfolge ist nicht zufallig. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die in der Region entstandenen schriftlichen Quellen, deren Mängel (späte Entstehung, das komplizierte Schicksal der Manuskripte, Kompilationen, die Erscheinung der Topoi usw.) bei der Interpretation von je einer Quellenstelle als bestimmend zu betrachten sind 24 . Die ersten bedeutenden Werke der Geschichtsschreibung 25 unter den erzählenden Quellen erschienen in den vier 23

Vgl. Christian LOBKE, Die Prägung Ostmitteleuropas (Anm. 21), S. 59 ff. Vgl. Michael T. CLANCHY, From Memory to Written Record, England 1066-1307, Oxford/Cambridge (US) 1993; Dennis Howard GREEN, Medieval Listening and Reading, The Primary Reception of German Literature 800-1300, Cambridge 1994; Michael RICHTER, The Oral Tradition in the Early Middle Ages, Turnhout 1994; Elisabeth VAN HOUTS, Memory and Gender in Medieval Europe 900-1200, London 1999. 25 Norbert K.ERSKEN, Geschichtsschreibung im Europa der „nationes", Münster 1995; Hans-Werner GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter, Berlin 1999; Jan D4BROWSKI, Dawne dziejopisarstwo polskie [Polnische Geschichtsschreibung in den vergangenen Zeiten], Wroclaw [u. a.] 1964; Duäan TRESTIK, Die Anfange der böhmischen Geschichtsschreibung, Die ältesten Prager Annalen, in: Studia Zrödlo24

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Zentren im wesentlichen zu Beginn des 12. Jahrhunderts: die Chroniken des Cosmas von Prag, des Anonymus Gallus aus Polen, die Poveszty vremmenih let (PVL) in Kiew und die ungarische Urchronik (oder: Urgeste). Während die ersten Werke der tschechischen und polnischen Chronikschreibung selbständig (selbstverständlich in späteren Manuskripten) erhalten sind 26 , sind die PVL und die ungarische Urgeste nur in späteren kompilierten Fassungen bekannt. Bei der PVL konnte aufgrund der großen Zahl Manuskripte eine seitdem selbständig behandelte - Textrekonstruktion angefertigt werden 27 . Bei der ungarischen Urgeste gab es dafiir keine Möglichkeit. Die hagiographische Literatur steht in engem Zusammenhang mit den Heiligenkulten. Die neuen Zentren haben zum Teil mit Hilfe der Kleriker den Heiligenkult des Missionsgebiets „importiert", die an der Bekehrungstätigkeit teilnahmen. Als Zeichen der Festigung des Christentums erschienen die „eigenen" Heiligen, also die am Ort entstandenen Kulte. Die westeuropäischen charakteristischen Züge des Heiligwerdens mischten sich in unserer Region 28 . Der zum Patron der Tschechen avancierte Heilige Wenzel war kein gesalbter Herrscher, organisierte keine Kirche, Bekehrung konnte er nur in einem enggezogenen Kreis durchführen. Sein Martyrium hat ihn in die Reihe der Heiligen erhoben. Der ungarische Heilige Stephan ist „apostolisch", er bekehrt, organisiert die Kirche und ist ein miles Christi, da er das, was er zustande gebracht hatte, auch verteidigt. Er tut das alles mit päpstlicher benedictio. Der Heilige Wladimir von Kiew ist ähnlich wie Stephan Bekehrer und Organisator der Kirche, aber kein gesalbter Herrscher; er war nach seinem Tod in erster Linie in seiner Familie populär, die Entstehung seines Kultes fällt in das 13. Jahrhundert. Während in Ungarn bis zum Ende des 12. Jahrznawcze 23 (1978), S. 1-37; Gerhard PODSKALSK Y, Christentum und theologische Literatur in der Kiever Rus (988-1237), München 1982; Gyula KRISTÖ, Magyar historiogräfia I., Törtenetiräs a közepkori Magyarorszägon [Ungarische Historiographie I., Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Ungarn], Budapest 2002. 26 Cosmas Pragensis Chronica Boemorum, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Nova Series, Bd. 2, München 1995; Galli Anonymi Cronica et Gesta Ducum sive Principum Polonorum, Monumenta Poloniae Historica, Nova Series II, hrsg. von Carolus Maleczynski, Krakow 1952. 27 Povest' vremennych let [Die Erzählung der vergangenen Jahre], Bd. I—II, hrsg. von Vera P. Adrianovoj-Peretc, Moskva 1950; Die Quellentexte in deutscher Übersetzung siehe: Reinhold TRAUTMANN, Die altrussische Nestorchronik. Povest' vremennych let, Leipzig 1931; Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, in: Scriptores rerum Hungaricarum [SRH], Bd. I—II., hrsg. von Emericus Szentpetery, Budapestini 1937-1938, Bd. I., S. 239-505. 28 Gabor KLANICZAY, AZ uralkodök szentsege a közepkorban [Das Heiligtum der Herrscher im Mittelalter], Budapest 2000, S. 70-168; Duäan TRESTIK, Poöätky Pfemyslovcü, Vstup Cechü do ddjin (530-935), Praha 1997, S. 117-137; Stanislaw SZCZUR, Historie Polski. Sredniowiecze [Geschichte Polens. Das Mittelalter], Krakow 2002, S. 95-97; John FENNELL, A History of Russian Church to 1448, London/New York 1995, S. 58-61; Gail LENHOFF, The Martyred Princes Boris and Gleb. A Socio-Cultural Study of Cult and the Texts, Columbus, Ohio 1989.

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— Osteuropa

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hunderts auch noch ein anderer Herrscher in die Reihe der Heiligen eintrat, fehlten die „eigenen" Heiligen im 10.-12. Jahrhundert bei den Piasten, und zwar nicht nur unter den Herrschern, sondern auch bei den Mitgliedern der Dynastie, die zur Macht gelangten. Diese repräsentieren in der Kiewer Rus Boris und Gleb, in Ungarn Fürst Emmerich. A u s einem anderen Kreis k a m e n die weiteren frühen Heiligen der Region, ζ. B. Gerhard, der Märtyrer-Bischof in Ungarn, Adalbert auf b ö h m i s c h e m , polnischem und ungarischem Gebiet. Beide wurden über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus verehrt, ihr Kult verbreitete sich (dem Kult Adalberts ging auf tschechischem Boden der Wenzels voraus). Regionale Verehrung wurde den ungarnländischen Eremiten-Heiligen zuteil, Zoerard-Andreas und Benedikt. Ihre Popularität ist mit der des Feodossij von Kiew und des Moses von Ungarn zu vergleichen. Die sich selbst enthaltende, asketische L e b e n s f ü h r u n g diente im \\J\2. Jahrhundert auch innerhalb des M ö n c h t u m s als Vorbild. In der Region war der Adalbert-Kult von größter Wirkung. Zu seiner Popularität trug auch die Bezieh u n g des kaiserlichen Hauses zu ihm bei, außerdem die früh entstandenen Legenden. Es ist aber festhaltenswert, dass er in sich mehrere Kriterien des Heiligwerdens vereinigte: die v o r n e h m e Herkunft, die Bischofswürde, die Missionstätigkeit, die asketische Lebensweise und das M a r t y r i u m 2 9 . Die philosophische Literatur wird in der Geschichte der Region im 10./12. Jahrhundert nur durch einige wenige Werke repräsentiert. Unter ihnen ragt die Gattung des Fürstenspiegels in der Kiewer Rus und Ungarn heraus. Die beiden W e r k e entstanden mit einem Zeitabstand von einem Jahrhundert. Inhaltlich wiechen sie voneinander ab: Während die lnstitutio morum des Heiligen Stephan als staatsphilosophisches W e r k zu betrachten ist, hat das Wladimir M o nomach zugeschriebene W e r k Poucsenyije autobiographischen Charakter 3 0 . Gegenüber den erzählenden Quellen vertreten die Gesetze einen anderen Typ, der bezüglich des Zustandes der damaligen Gesellschaft ein objektiveres Bild vermittelt. Leider haben sich die D o k u m e n t e der Gesetzgebung in den einzelnen Zentren der Region ungleichmäßig erhalten. Die D o k u m e n t e der früheren tschechischen und polnischen G e s e t z g e b u n g hinterließen ihre Spuren nur in den erzählenden Quellen; in der Kiewer Rus und in Ungarn blieben die frühen Gesetze umfänglicher - aber nicht in ihrem vollen Text und in Kompilation - erhalten. Im Allgemeinen ist f ü r die frühen Gesetze charakteristisch - und das gilt auch f ü r unsere Region - , dass in ihnen die Elemente 29

Märta FONT, Κ voprosu ο vzaimootnoäeniach kul'ta svjatych s razprostranieniem christianskogo myälenia [Zur Frage der Wechselwirkung von Heiligenkulten und Mentalität], in: Studia Slavica Savariensia 12 (2003), S. 153-160. 30

PODSKALSKY, C h r i s t e n t u m ( A n m . 2 5 ) , S. 8 3 - 1 0 6 ,

194-202, 215-232; Simon

FRANK-

LIN, Literacy and Documentation in Early Medieval Russia, in: Speculum 60/1 (1985), S. 1 - 3 8 ; Jenö SZUCS, Istvän kiräly Intelmei - Istvän kiräly ällama [lnstitutio morum und der Staat Stephans des Heiligen], in: DERS., Nemzet es törtenelem [Nation und Geschichte], Budapest 1974, S. 3 5 9 - 3 7 9 .

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der barbarischen Stammesgewohnheitsrechts (consuetudo) und des christlichen kanonischen Rechts miteinander verknüpft sind. Auf die ungarische Gesetzgebung wirkte auch die Rechtsgewohnheit der westlichen Nachbarschaft ein (Bayern - Lex Baiuwariorum). In beiden Gesetzeswerke sind zudem die Spuren des byzantinischen Rechts nachzuweisen. Es ist zu beachten, dass sich die kirchliche und weltliche Gesetzgebung in der Kiewer Rus völlig trennten, in Ungarn blieben mehrere Berührungspunkte 31 . Während die Meinungen und die Vergangenheitsbetrachtung in der historischen Literatur, und die schriftliche Festlegung der Gesetze die Interessen der herrschenden Dynastie und ihrer unmittelbaren Umgebung zum Ausdruck brachten, ist die amtliche Schriftlichkeit der Tatsache zu verdanken, dass breitere Kreise der Gesellschaft die Wichtigkeit der schriftlichen Festlegung des Eigentums erkannten. Die Urkunden über die königlichen (fürstlichen) Donationen dienten in erster Linie der Rechtssicherheit der Belehnten. Das Bedürfnis entstand am frühesten im Kreis der in die Region kommenden Kleriker, die diese Erfahrung mit sich brachten. Dieses Bedürfnis erwachte bei den Nichtklerikern erst später. Der Zeitabschnitt der amtlichen Schriftlichkeit, in dem die einzelnen Phasen der Amtsführung und auch die Ergebnisse der Rechtsprechung schriftlich festgelegt wurden, liegt jenseits der Grenze unserer Epoche 32 . Bis zur Jahrtausendwende müssen wir die Erweiterung des Orbis Christianus als Tatsache annehmen, obwohl man von der Symbiose der christlichen und heidnischen Sitten- und Gedankenwelt in der Region im Laufe des 11. Jahrhunderts (an manchen Orten auch noch im 12. Jahrhundert) ausgehen kann 33 . Der Prozess der Umwandlung wird durch die Heidenaufstände ge31

Barbara KÜRBisÖWNA, Dagome iudex - Studium krytyczne [Quellenkritik zur sog. „Dagome iudex"], in: Poczqtki panstwa polskiego [Anfänge des polnischen Staats], hrsg. von Kazimierz Tymieniecki, Bd. 1, Poznan 1962, S. 363-423; Oskar KOSSMANN, Polen im Mittelalter, Bd. II, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im Bannkreis des Westens, Marburg a. d. Lahn 1985, S. 6 2 - 6 4 ; Jaroslav N. SCAPOV, Juznoslavianskoe pravovoie nasledie na Rusi [Südslawisches Rechtserbe in der Rus], Moskva 1978, S. 4 9 - 8 7 ; Daniel H. KAISER, The Growth of the Law in Medieval Russia, Princeton 1980, S. 2 9 - 3 6 ; Josef ^EMLICKA, t e c h y ν dob6 knizeci (1034-1198) [Böhmen in der Fürstenzeit], Praha 1997, S. 383; Märta FONT, Similarities and Dissimilarities in the Early Laws of Kievan Rus and Hungarian Kingdom in the 11th century, in: Specimina Nova ex Instituto Historico Universitatis Quinqueecclesiensis, Pars Prima, Sectio Medievalis II (2003), S. 7 - 2 3 . 32

Andräs KUBINYI, Kirälyi kancelläria es udvari käpolna a XII. szäzad közepen [Königliche Kanzlei und Hofkapelle], in: Leveltäri Közlemenyek [Archivmitteilungen] 46 (1975), S. 5 9 - 1 2 1 ; S I A P O V , J u z n o s l a v i a n s k o e ( A n m . 3 1 ) , S. 1 4 0 - 1 4 8 ; G y ö r g y GYÖRFFY, Ärpäd-

kori oklevelek 1001-1196 [Urkunden der Arpadenzeit], Budapest 1997, S. 7; ZEMLICKA, t e c h y Ν dobi knizeci (Anm. 31), S. 185. 33 Märta FONT, Κ voprosu Ο perechodie ot jazyCestva k christianstvu (na primere Sredniej i Vostoinoj Jevropy) [Zur Frage des Mentalitätswechsels zwischen Heidentum und Christentum (anhand von Beispielen aus Mittel- und Osteuropa)], in: Cirill es Metöd peldajät követve... Tanulmänyok H. Töth Imre 70. születesnapjära [Studien zum 70. Geburtstag von Imre H. Töth], hrsg. von Käroly Bibok [u. a.], Szeged 2002, S. 123-129.

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kennzeichnet, die uns daran erinnern, dass der mit Machtmitteln unterstützte „Systemwechsel" überall mit Hindernissen zu rechnen hatte. Die Interessensphären der von den beiden christlichen Großreichen ausgegangenen Mission grenzten sich um die Jahrtausendwende noch nicht voneinander ab, die byzantinische Bekehrung von damals hat ihre Spuren im 11. Jahrhundert auch noch auf tschechischem Boden hinterlassen, und die westliche Mission erreichte Kiew. Im Karpatenbecken existierte auch noch nach dem Schisma die Orthodoxie mit dem lateinischen Ritus nebeneinander, obschon der lateinischen kirchlichen Struktur untergeordnet. Man kann die Tätigkeit der Basilitenklöster bis zum Ende des 12. Jahrhunderts verfolgen 34 . Der Mentalitätswechsel zwischen Heidentum und Christentum begleitet unsere Epoche. Die einzelnen Phasen des Prozesses stellen sich wie folgt dar: Nachdem sie von dem christlichen Glauben informiert worden waren, ließen sich einige der Vornehmen taufen, das hatte aber in breiteren Kreisen keine Wirkung. Eine wesentliche Änderung trat erst ein, als der die Macht ausübende Fürst die Bekehrung mit seinen eigenen Mitteln zu unterstützen begann: er schloss eine christliche Ehe, erzwang Massentaufen, unterstützte den Ausbau der kirchlichen Hierarchie und sicherte diesem Prozess einen materiellen Hintergrund, bzw. sanktionierte mit Gesetzen die Verbreitung der christlichen Lebensweise. Die Heidenaufstände erfolgten fast gesetzmäßig, bzw. der religiöse Synkretismus war bis zum Ende der Übergangszeit präsent. Vom Mentalitätswechsel zeugen der Ausbau der kirchlichen Hierarchie und die Verehrung der „eigenen" Heiligen, also das Phänomen der lokalen Kulte. Bei der Entstehung der ersten kirchlichen Zentren und bei ihrer Legitimierung sind die Rolle des Papstes und des Kaisers (bzw. im Fall von Byzanz die des Kaisers und des Patriarchen) hervorzuheben. Um die Jahrtausendwende übten nach „der Ordnung der Welt" die Herrschaft zwei Kaiser, der „Basileus kai Autokrat or" und der ,Jmperator Augustus Romanorum", aus, und die geistliche Macht wurde vom byzantinischem Patriarchen und dem römischen Papst verkörpert. Es ist ein wichtiger Umstand, dass der um die Jahrtausendwende herrschende Kaiser Otto III. im byzantinischen Geist erzogen worden war, die ihn mit der byzantinischen Auffassung vertraut machte; die Jahrtausendwende zeugt von dem Zusammenspiel des Papstes und des Kaisers 35 . 34

Bernhard STASIEWSKI, Zur Verbreitung des slawischen Ritus in Südpolen während des 10. Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 7 (1959), S. 7 - 2 5 ; Henrik BIRNBAUM, Zum (hoffentlich) letztenmal über den weitgereisten Method und die Lage Altmährens, in: Byzantinoslavica 57 (1996), S. 188-193, hier: S. 190; Märta FONT, Magyarok es keleti szlävok, Adalekok a kapcsolatok egyhaztörteneti hätterehez [Ungarn und die Ostslaven, Bemerkungen zum kirchenpolitischen Hintergrund der Beziehungen], in: A magyar müvelödes es a keresztenyseg [Ungarische Kultur und das Christentum], Bd. II, hrsg. von Istvän Monok [u. a.], Budapest/Szeged 1998, S. 4 9 7 - 5 0 6 . 35 Peter SCHREINER, Die byzantinische Missionierung als politische Aufgabe: Das Beispiel der Slaven, in: Byzantinoslavica 57 (1995), S. 5 2 5 - 5 3 4 ; Kurt GÖRICH, Otto III. Romanus,

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Von den in den vier Regionen organisierten kirchlichen Zentren wurde nur noch die tschechische Kirche nicht selbstständig, sondern gehörte in unserer Epoche bis zu deren Ende zur iurisdictio des Erzbischofs von Mainz. Die polnischen und ungarischen Kirchen und die von Kiew wurden selbstständig, mit einem Erzbischof bzw. einem Metropoliten an der Spitze. Der Großfürst von Kiew hatte nicht das Recht, die Oberpriester auszuwählen, in unserer Epoche entsandte - bis auf zwei Fälle (1051, 1147) - bis zuletzt der Patriarch von Konstantinopel nicht nur die Metropoliten, sondern auch die Bischöfe. Bei den Polen war durchgehend die Zahl der Oberpriester ausländischer Herkunft bedeutend, sie beherrschten aber nicht ausschließlich das Feld, was auch in der tschechischen und ungarischen Kirche nicht der Fall war (es gab zur gleichen Zeit Oberpriester deutscher, französischer, italienischer Herkunft). Die Kirchenoberhäupter wie auch die Priester waren in der Rus wie auch bei den Polen in starkem Maße vom Herrscher abhängig. In der Rus erhielten sie den Zehnten von den Einnahmen des Fürsten, ebenso in Polen. In Böhmen handeln die Urkunde vom Jahr 1086 und die Privatstiftungen des 12. Jahrhunderts, in Ungarn die Urkunden über die Verschenkungen und die Gesetze vom Eigentum der Kirche36. Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts wurden auf tschechisch-mährischem Gebiet zwei Bistümer organisiert, in Polen kamen sieben Bistümer und zwei Erzbistümer, in Ungarn die Diözesen von zehn Bistümern und zwei Erzbistümern zustande, in der Kiewer Rus vierzehn. Hinsichtlich der Klostergründungen wich die Rus von den anderen Teilen der Region völlig ab. Einerseits deshalb, weil es dort nur Basilitenmönche gab, andererseits deshalb, weil sich die bekannten Stiftungen an den Fürsten knüpften, meistens an den Großfürsten. In den drei anderen Zentren der Region waren alle monastischen Orden und auch manche Ritterorden vertreten. In Ungarn und in Böhmen schalteten sich auch die Vornehmen am Ende des 11. Jahrhunderts ein, aber hauptsächlich im 12. Jahrhundert. In Polen und in der Kiewer Rus kann man die Tatsache und Umstände der Stiftungen aus den erzählenden Quellen herausschälen.

Saxonicus et Italicus, Sigmaringen 1995; Pierre RLCHE, Gerbert d'Aurillac, le pape de l'an mil, Fayard 1987; Märta FONT, Missions, Conversions and Power Legitimization in East Central Europe at the Turn of the First Millenium, in: East Central and Eastern Europe in the Early Middle Ages, hrsg. von Florin Curta, Ann Arbor/Mich. 2005, S. 283-296. 36 Zdenäk FIALA, Die Organisation der Kirche im Pfemyslidenstaat des 10.-13. Jahrhunderts, in: Siedlung und Verfassung Böhmens in der Frühzeit, hrsg. von Frantiäek Graus und Herbert Ludat, Wiesbaden 1967, S. 133-143; Zygmunt SULOWSKL, Pocz^tki kosciola polskiego [Anfänge der polnischen Kirche], in: Kosciol w Polsce [Die Kirche in Polen], hrsg. von Jerzy Kloczowski, Krakow 1966, S. 17-123; SZCZUR, Historia Polski (Anm. 28), S. 88-94; Gyula KRISTO, Die Arpadendynastie, Budapest 1993, S. 75-78, 155-158; Jaroslav N. ÄCAPOV, Gosudarstvo i cerkov' Drevniej Rusi X-X1II vv. [Der Staat und die Kirche in der Alten Rus im 10.-13. Jahrhundert], Moskva 1989, S. 23-73; Anton V. KARTASEV, Oöerki russkoj cerkvi [Studien über die russische Kirche], Bd. I, Moskva 1993, S. 157-192.

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Die Proportion zwischen der fürstlichen und privaten Stiftungen sind je nach Gebiet verschieden: wir haben keine verlässlichen Angaben für viele Orte 37 . Die Macht der Dynastien, von denen die des 10. Jahrhunderts zu christlichen Herrschaftszentren geführt wurden, wurzelte gleichwohl in der Stammesordnung. Die Erhebung der Dynastien aus den Vornehmen des Stammes war ein Produkt der heidnischen Zeit Ein greifbares Indiz des Zum-christlichen-Herrscher-Werdens ist die Königskrönung 38 . Die Tatsache der Krönung bedeutete für die neuen Dynastien die „internationale Anerkennung" und innerhalb des Landes den Triumph über die Rivalen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass sich die Repräsentanten der neuen Dynastien für eine Krone an einen christlichen Kaiser und/oder an den Papst wandten. Das war unabhängig davon notwendig, woher der bei der Liturgie der Krönung gebrauchte Gegenstand stammte. In dieser Hinsicht entwickelte sich in den neuen christlichen Zentren der Jahrtausendwende eine völlig unterschiedliche Lage. Die außerhalb des Römischdeutschen Reichs stehenden, aber mit ihm eng verbundenen Piasten (Steuerzahlung, Präsenz auf den Reichsversammlungen) wurden vom Kaiser nicht in dem Sinn als gleichrangige Partner betrachtet, dass sie auch in den Besitz der mit der Krönung einhergehenden Sakralität gelangten. Im 11. Jahrhundert haben für sich zwei Piastenfürsten die Krönungsliturgie organisiert - zuerst die Umstände eines Kaiserwechsels, dann den Investiturstreit ausnutzend. Die Pfemyslidenfürsten waren im Laufe des 11. Jahrhundert immer eng mit dem Römisch-deutschen Reich verbunden, ihr Gebiet bildete dessen integrierten Teil, wie es ja auch die Kirchenorganisation widerspiegelte. Im 11. Jahrhundert kam auf das Haupt nur eines einzigen Fürsten eine Krone im Sinn der Anerkennung, aber nur ad personam und nicht vererbbar, nicht durch die Vermittlung des Papstes, sondern ihm zum Trotz. Ende des 12. Jahrhunderts erwarb Ottokar I. Premysl den Königstitel, aber das änderte an der Zugehörigkeit Böhmens zum Reich nichts, es verstärkte nur dessen Prestige innerhalb des Reiches. In Ungarn blieb nach der vom Kaiser und dem Papst gleichzeitig anerkannten Krönung im Jahre 1000 die Königskrönung im Gebrauch, aber der Ursprung der Legitimation war bei den Herrschern im 11. 37

Zusammenfassend siehe: FONT, Im Spannungsfeld ( A n m . 2), S. 1 1 1 - 1 2 1 . Percy Ernst SCHRAMM, Kaiser, Könige und Päpste, Bd. 1V/2, Stuttgart 1971, S. 1 3 0 132, 518, 527, 536; Imagines potestatis. Rytualy, Symbole i konteksty fabularne w l a d z y wierzchniej. Polska X - X V wieku [Rituale, Symbole und mythischer Inhalt von der höchsten Macht], hrsg. von Jacek Banaszkiewicz, Warszawa 1994; Alexander V. NAZARENKO, Dervniaia Rus na mezdunarodnych putiach, Mezdisciplinamye oterki kul'turnych, torgovych, politiöeskich sv'azej 1X-XI1 vv. [ D i e Alte Rus auf internationalen W e g e n . Interdisziplinäre Studien über die kulturellen, kaufmännischen und politischen Beziehungen im 9 . - 1 2 . Jahrhundert], Moskva 2 0 0 1 , S. 3 3 9 - 3 9 0 ; Märta FONT, Krone und Schwert. Die Anerkennung des Herrschaftsrechts in Mittel- und Osteuropa, in: Acta Historica Posoniensia II, East Central Europe at the Turn o f the 1st and 2nd Millenia, hrsg. von Vincent Mücska, Bratislava 2 0 0 2 , S. 9 - 3 6 . 38

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Jahrhundert verschieden. Die Fürsten des Arpadenhauses nutzten die sich aus der Nachbarschaft des anderen christlichen Reiches ergebende Lage aus: mangelte es an der Anerkennung des römisch-deutschen Kaisers, holten sie sie beim anderen Kaiser ein (Geza I.). Bei der Krönung Kolomans zum König wurde über die Frage ein Stillstand erreicht, seitdem war die Anerkennung des Königstitels der ungarischen Herrscher unbestritten. Das Fehlen der Krönung im Fall der Kiewer Rus kann damit erklärt werden, dass der Anspruch auf eine Krone nicht auftauchte. Die Rus wurde durch die Gebietseroberungen von Byzanz nicht gefährdet, ihre Souveränität konnte sie auch ohne dieses besondere Machtsymbol aufrechterhalten 39 . Zugleich kann man nicht sagen, dass der römisch-deutsche Kaiser wegen des Wegfalls der Krönung die Macht der tschechischen und polnischen Fürsten nicht anerkannt hätte: aber eben nicht als königliche, sondern als fürstliche. Das war ebenfalls mit entsprechenden Äußerlichkeiten verbunden, aber ohne päpstliche benedictio hatten sie nicht dieselbe Sakralität wie eine Krönung. Die vom Kaiser übertragene Macht wurde durch die Übergabe des Schwertes versinnbildlicht; den eigenen Untertanen gegenüber war das Setzen auf den Thron das Zeremoniell, das die höchste Macht darstellte. Die Liturgie des Setzens auf einen Steinthron oder auf einen bestimmten Steinthron war bei den Tschechen und in der Kiewer Rus mit Sicherheit vorhanden, bei den Polen vermutlich40. In Ungarn gibt es dafür keine Angabe. Von den vier untersuchten Zentren wurde die Ordnung der Machtübergabe41 im \\J\2. Jahrhundert in dreien (Piasten, Premysliden, Rurikiden) 39

Märta FONT, Koloman the Learned, King of Hungary, Szeged 2001, S. 9-16; DIES., Krone und Schwert (Anm. 38), S. 26-28. 40 Cosmas (Anm. 26), S. 185 (III. 19.); Polnoe sobranie russkich letopisej [Gesamtausgabe der russischen Jahrbücher], Bd. II (Ipat'evskaja letopis [Hypatios Chronik]), hrsg. von Boris M. Kloss, 2. Aufl. Moskva 2001, S. 321, 327, 478; Bogo GRAFENAUER, Ustoliievanje koroSkih vojvod in drzava karantanskih slovenov [Thronerhebung der Fürsten bei den Karantanen-Slawen], Ljubljana 1952; Ulrich STEINMANN, Die älteste Zeremonie der Herzogseinsetzung und ihre Umgestaltung durch Habsburger, in: Carinthia 57 (1967), S. 469497; Roderich SCHMIDT, Die Einsetzung der böhmischen Herzöge auf den Thron zu Prag, in: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, hrsg. von Helmut Beumann und Werner Schröder, Sigmaringen 1978, S. 439- 464; Zbigniew DALEWSKI, Wladza - przestrzen ceremonial. Miejsce i ceremonia inauguracji wladcy w Polsce sredniowiecznej do koiica XIV w. [Macht - Raum - Ritus. Der Schauplatz und die Zeremonie der Herrschereinsetzung im mittelalterlichen Polen bis zum Ende des 14. Jahrhunderts], Warszawa 1996, S. 111. 41 Jörg K. HOENSCH, Geschichte Böhmens: Von der slawischen Landnahme bis zur Gegenwart, München 1987, S. 53-56; ZEMLICKA, Cechy Ν dobfe knizeci (Anm. 31), S. 73 f.; KOSSMANN, Polen im Mittelalter (Anm. 31), S. 129; Roman MICHALOWSKI, Princeps fundator. Studium ζ dziejow kultury politycznej w Polsce X-XIII wieku [Studien zur Geschichte der politischen Kultur in Polen im 10.-13. Jahrhundert], Warszawa 1993, S. 61; Jaroslaw WENTA, Ο strözach „testamentu" Boleslawa Krzywoustego [Über die Garantie des „Testaments" von Boleslaw Schiefmund], in: Spoleczenstwo Polski Sredniowiecznej [Polnische Gesellschaft im Mittelalter], Bd. 8, hrsg. von Stanislaw Kuczynski, Warszawa 1999, S. 67-112, hier: S. 68 ff.; Martin DIMNIK, The „Testament" of Yaroslav „The Wise".

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reguliert, immer nach dem Prinzip des senioratus. Man kann an eine eingeschränkte Vererbung denken: der die Regelung formulierende Fürst wollte ja nur seinen eigenen Nachfahren Einfluss sichern und nicht (wenn es solche überhaupt gab) einer Nebenlinie. In der Perspektive konservierte dieses Vorgehen aber die Praxis des senioratus. Die ebenso traditionelle territoriale Aufteilung der Macht und ihre Verbindung mit der Machtteilung im Allgemeinen beinhaltet die Möglichkeit einer späteren Zersplitterung - höchstwahrscheinlich gegen das Willen dessen, der die Regelung formulierte. Im Fall der territorialen Aufteilung ist es wichtig, dass sie auf den später eroberten Gebieten des Machtzentrums beruhte. In Ungarn war die Lage anders. Die Machtteilung des ducatus wollte nicht den Nachfahren eine untergeordnete, jedoch selbstständige territoriale Sondermacht schenken, sondern sie war ein Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen den Mitgliedern einer und derselben Generation. Sie war eine unter Druck erfundene Lösung. Wenn wir nur die sicherlich als i/wca/wi-Gebiete zählenden Nyitra und Bihar betrachten, so kann ihre Zurückfuhrung auf Sippenvorgeschichten nicht bewiesen werden. Das gleiche gilt für die Frage, ob Nyitra eine mährische Vorgeschichte hatte und sich so die spätere Einführung des ducatus erklärt. Man kann sich aber vorstellen, dass die Organisation der Grenzverteidigung die territoriale Machtbegründung unentbehrlich machte. Im Spiegel der Ereignisse des 11. Jahrhunderts kann dies sowohl im Fall von Nyitra, als auch in dem von Bihar belegt werden. Die Auflösung des Systems wurde durch die Stabilisierung der Grenzen sowie die weniger und schwächer werdenden Angriffe möglich. Diese Interpretation scheinen die Balkanfeldzüge am Ende des 11. Jahrhunderts zu unterstützen. In der Frage der Thronfolge strebte man in Ungarn - wenn es denn einen Nachfahren gab - nach der Realisierung des Prinzips der primogenitura. Das wurde durch die Tradition der Krönung gestärkt und verlieh der weltlichen Macht etwas Sakrales. In den drei anderen Fällen fehlt das. Es ist charakteristisch für die gesamte Region, dass die Thronerbfolge im 11./12. Jahrhundert keine allgemein akzeptierte Ordnung fand. Die im 10. Jahrhundert entstandenen Zentren von „Zwischen-Europa" können ohne Ausnahme nicht mit dem Gebiet der sich später formierenden Länder gleich gesetzt werden 42 . Die Herrschaft der Premysl-Dynastie begrenzte A Re-examination, in: Canadian Slavonic Paper 2 9 (1987), S. 3 6 9 - 3 8 6 ; Märta FONT, Die Vererbung der fürstlichen/königlichen Macht in Ostmitteleuropa im 10.-12. Jahrhundert, in: Acta Slavica Antiqua, hrsg. von Alexander V. Majorov, Sankt-Petersburg (im Druck). 42 Herwig WOLFRAM, Reichsbildungen, Kirchengründungen und die Entstehung neuer Völker, in: Europas Mitte (Anm. 20), Bd. I. S. 3 4 2 - 3 5 3 ; FrantiSek GRAUS, Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter, Sigmaringen 1980, S. 50; KOSSMANN, Polen im Mittelalter (Anm. 31), S. 6 5 - 6 7 ; Simon FRANKLIN und Jonathan SHEPARD, The Emergence of Rus 7 5 0 - 1 2 0 0 , London/New York 1996, S. 112-138, 2 6 5 - 2 7 7 , 3 2 4 - 3 3 9 ; György GYÖRFFY, Istvän kiräly es müve [König Stephan und sein Werk], 3. Aufl. Budapest 2000, S. 83; KRISTO, Entstehung (Anm. 4), S. 323.

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sich anfangs nur auf einen Teil des Böhmischen Beckens mit Prag als Zentrum, die der Piasten auf das Gebiet Gnesen - Posen, die der Rurikiden auf den Wasserweg Nowgorod - Kiew, die der Ärpaden auf den westlichen Teil des Karpatenbeckens. Nach der Erstarkung der Macht in den ersten Zentren kann die Absicht der Eroberung, der Gebietsvergrößerung verfolgt werden, eine eigenartige „Expansion der Staatsgründung". In ihrem Verlauf gerieten die neuen politischen Zentren auch miteinander in Streit, da die Grenzen unsicher waren, sich mehrmals änderten. Die Unsicherheiten der Zentren, die unter einer Dynastie die Macht zu organisieren versuchten, gaben den benachbarten Mächten Anlass zur Einmischung. Das Römisch-deutsche Reich nahm das tschechische Machtzentrum unter seine Obhut, machte die polnischen Fürsten zu seinen Steuerzahlern, aber seine Reichweite ging nicht bis Kiew. Ungarn war eine Ausnahme: Es konnte den Kampf im 11. Jahrhundert mit dem römisch-deutschen Kaiserreich, im 12. Jahrhundert mit Byzanz aufnehmen und konnte die Angriffe der Nomaden aus der Steppe zurückschlagen. Die Rus war nur von einer Seite der Steppe bedeutenderen Angriffen ausgesetzt, aber die Großfürsten konnten vor dem Auftauchen der Tataren den Grenzschutz im Süden organisieren. Ein anderer Typ der Expansion, der gekennzeichnet war durch die Ausdehnung über die früheren Stammesgebiete hinaus, tauchte am Ende des 11. Jahrhunderts bzw. im 12. Jahrhundert auf 4 3 . Bei der Kiewer Rus ist eine spontane Volksbewegung in Richtung Nordwesten zu beobachten. Die Wanderung der slawischen Bevölkerung nach Osten setzte sich somit fort. Dieses „Ausschwärmen der Bevölkerung" traf so lange auf kein besonderes Hindernis, bis die Ausdehnung des Fürstentums Wladimir-Susdal die Siedlungsgebiete der Wolgabulgaren erreichte. Bei den Westslawen stabilisierte sich die Verknüpfung der tschechisch-mährischen Gebiete, in Polen kamen die Zugehörigkeit Schlesiens und die Ausdehnung in Richtung Baltikum auf die Tagesordnung. Die Zugehörigkeit Schlesiens verursachte in den tschechisch-polnischen Beziehungen, die von Halitsch-Volhynien in den Beziehungen von Polen und Kiew ein langfristiges Problem. Die militärische Expansion Ungarns begann am Ende des 11. Jahrhunderts mit dem Erwerb Slawoniens und Kroatiens und setzte sich später mit der Sicherung der Herrschaft über Dalmatien 43

Cosmas (Anm. 26), S. 73-79, 141 f.; Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg, Monumenta Germanise Historica, Scriptores, Nova Series Bd. 9, München 1996, S. 408-410; SRH (Anm. 27), Bd. I, S. 366-370, 414 f.; Povest' vremennych let (Anm. 27), S. 27-29, 52-93, 164-184; HOENSCH, Geschichte Böhmens (Anm. 41), S. 50-56, 61-68, 71-79; TRESTIK, PoCätky Pfemyslovcü (Anm. 28), S. 437-440; ZEMLICKA, Cechy ν dobe kniieci (Anm. 31), S. 35-41, 70 f., 104-140; Gotthold RHODE, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 21-37, 41^15; SZCZUR, Historia Polski (Anm. 28), S. 244-315; FRANKLIN und SHEPARD, The Emergence of Rus (Anm. 42), S. 245-278, 339-352, 365-371; Gyula KRIST0, Az Ärpäd-kor häborüi [Die Kriege der Arpadenzeit], Budapest 1986, S. 46-66; GYORFFY, König Stephan (Anm. 42), S. 309-315.

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und einen Teil Bosniens (Rama) fort. Die Expansion der ungarischen Könige war eindeutig militärischer Art, ihr folgte keine Bevölkerungsbewegung vom Karpatenbecken nach außen. Der Schlüssel der Bewahrung der Selbständigkeit ist in der militärischen Organisation, in der erfolgreichen Sicherung des Grenzschutzes, in den Möglichkeiten der fürstlichen (königlichen) Macht, in denen sie sich geltend machen konnte, nicht zuletzt in der Verwaltungsstruktur zu suchen. Die Burg war sowohl ein Schauplatz der Verteidigung wie der inneren Verwaltung. Man errichtete Burgen - im 10./12. Jahrhundert Schanzenburgen - in der gesamten Region, nicht alle unbedingt Produkte der „Staatsgründung". Das auf die Burgen gestützte Verwaltungssystem ist in der gesamten Region zu beobachten, man kann aber keine funktionalen Unterschiede feststellen. Auf den böhmischen, polnischen und Kiewer Gebieten kam der Zentrums-Charakter einer Festung wie gröd/hrad/gorod innerhalb der früheren traditionellen „Grenzen" zur Geltung. Bei den comitatus in Ungarn kann man so etwas nicht nachweisen. Die Gespannschaften waren unter den Ärpäden organisatorische Einheiten von verschiedenem Charakter und unterschiedlichen Befugnissen. Der an ihrer Spitze stehende königliche Beamte (lat. Comes = Gespann) wurde nicht aufgrund seiner Abstammung, sondern aufgrund des dem König geleisteten Diensts in dieses Amt eingesetzt. Bei der Errichtung der Burggespannschaften war es wichtig, dass König Stephan das Heer nicht nach dem Geblütsrecht neu organisierte, wodurch die Unterordnung unter den Willen des Herrschers innerhalb des Landes und der erfolgreiche Grenzschutz gesichert wurden. Hinsichtlich der Verteidigung des Landes war es wichtig, dass die Sippen durch die Errichtung der Komitate unter Stephan dem Heiligen ihrer früheren militärischen und gesellschaftsorganisierenden Funktionen beraubt wurden; an ihre Stelle wurde ein künstliches, neu organisiertes Gebilde gesetzt. Die Sippen zogen sich in die Privatsphäre zurück, wo sie mit den durch das Sippenrecht gesicherten Böden und aufgrund der auf die ganze Sippe ausgedehnten Erbfolge bis zum 13. Jahrhundert zum bestimmenden Faktor der ungarischen Gesellschaft wurden. Im Grenzschutz spielte neben den Burgen in Ungarn die weiterlebende Praxis der Steppenordung, das System der militärischen Hilfsvölker und die Errichtung der Grenzverhaue die Hauptrolle. Beides können wir auch in der Kiewer Rus finden: obwohl hier keine der Hilfsvölker in eine privilegierte Stellung kam und die Grenzverhaue eine Übergangslösung darstellten 44 . 44

Reinhard WENSKUS, Die Slavischen Stämme in Böhmen als ethnische Einheiten, in: Siedlung und Verfassung Böhmens, S. 32—41; Stanislaw ARNOLD, Terytoria plemienne w ustroju administracyjnym Polski piastowskiej [Stammesgebiete in der polnischen administrativen Struktur der Piasten], in: DERS., Ζ dziejöw sredniowiecza. Wybör pism [Aus der Geschichte des Mittelalters. Ausgewählte Schriften], Warszawa 1968, S. 2 3 3 - 4 0 4 , hier: S. 2 4 1 - 2 4 8 ; ZERNACK., Polen und Russland (Anm. 19), S. 76; ZEMLLCKA, Cechy Ν dobe knizeci (Anm. 31), S. 1 4 0 - 1 4 7 ; Gyula KRISTÖ, Telepites es ällamalapitäs [Ansiedlung und

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Die demographischen Strukturen der Region sind für das 10.-12. Jahrhundert unbekannt. Wir kennen weder die Bevölkerungszahl noch haben wir Angaben über die Bevölkerungsdichte 45 . Die ausländischen Quellen des 12. Jahrhunderts sprechen noch immer von einer geringen Bevölkerung, obwohl eine allmähliche Bevölkerungsvermehrung zu vermuten ist. Was neben den spärlichen Angaben als sicher gilt, ist die heterogene ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Das gilt besonders für Ungarn und die Kiewer Rus. In Ungarn traf der Stammesverband von Ungarn und Türken im Karpatenbecken mit bedeutender slawischer Bevölkerung zusammen, dann nahm er im 11./12. Jahrhundert neue Elemente aus der Steppe (ζ. B. die Petschenegen) auf. In der Kiewer Rus gehörten neben den slawischen und den vom Norden kommenden normannisch-varägischen Gruppen auch die benachbarten Steppenvölker (Petschenegen, Kumanen, Wolgabulgaren) und die nach der nordöstlichen Ausdehnung assimilierten finnischen Gruppen zu den Untertanen des Großfürsten. Auf den nordpolnischen Gebieten ist ebenso die Gruppe der varägisch-normannischen Händler nachweisbar. Wir treffen sie auch auf tschechischem Gebiet und im Süden Ungarns (Ismaeliten oder ungarisch „böszörmenyek") und in den wichtigsten Zentren der Kiewer Rus die Repräsentanten des muslimischen Handels und Juden. In Kenntnis dessen war die Arbeitsteilung unter den Ethnien natürlich. In drei Zentren der untersuchten Region (auf tschechischem, polnischem, ungarischem Gebiet) erschienen im 12. Jahrhundert die ersten westeuropäischen Einwanderer 46 , deren Kommen einerseits die bisherige niedrige Bevölkerungsdichte belegt, die andererseits durch die ihnen zugesprochenen Privilegien zur Entstehung der strukturellen Eigenarten Mitteleuropas beitrugen. In der Kiewer Rus wissen wir nur für Nowgorod von der Ansiedlung von deutschen bzw. schweStaatsgründung], in: Tanulmänyok Karäcsonyi Bela 70. születesnapjära [Festschrift zum 7 0 . Geburtstag von Bela Karäcsonyi], hrsg. von Sändor Csemus, Szeged 1 9 8 9 , S. 4 7 - 5 8 ; Attila Z S O L D O S , The Legacy of Saint Stephen, Budapest 2 0 0 4 , S. 7 1 - 8 8 . 45 History of Poland, hrsg. von Aleksander Gieysztor [u. a.], Warszawa 1979, S. 58, 79; Henryk S A M S O N O W I C Z , Historia Polski do roku 1 7 9 5 [Geschichte Polens bis 1 7 9 5 ] , Warszawa 1 9 9 0 , S. 1 5 f.; Z E M L I Ö C A , techy Ν dobe knizeci (Anm. 3 1 ) , S. 1 5 - 1 8 , 3 7 ; Gyula K R I S T 0 , Magyarorszäg lelekszäma az Arpäd-korban [Ungarns Einwohnerzahl in der Arpadenzeit], in: DERS.: Honfoglaläs i s tärsadalom [Landnahme und Gesellschaft], Szeged 1 9 9 6 , S . 1 1 0 - 1 5 4 ; Günther S T Ö K L , Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3 . Aufl. Stuttgart 1 9 9 0 , S. 1 8 - 2 9 , 1 2 4 - 1 2 6 . 46 Handbuch der böhmischen Länder, hrsg. von Karl Bosl, Stuttgart 1967, S. 246; H O E N S C H , Geschichte Böhmens (Anm. 4 1 ) , S. 7 4 f.; K O S S M A N N , Polen im Mittelalter (Anm. 3 1 ) , S. 4 1 0 ; S Z C Z U R , Historia Polski (Anm. 2 8 ) , S. 2 1 8 - 2 2 1 ; Erik F Ü G E D I , Befogadö: a közepkori magyar kirälysäg [Die Aufnahmfähigkeit des ungarischen Königtums], in: DERS., Koldulö barätok, polgärok, nemesek [Bettelmönche, Bürger, Adelige], Budapest 1981, S. 3 9 8 - 4 1 8 ; Thomas N Ä G L E R , Die Ansiedlung der Siebenbürgischen Sachsen, Bukarest 1 9 9 2 , S. 8 1 - 1 1 4 ; Harald Z I M M E R M A N N , Die deutsch-ungarischen Beziehungen in der Mitte des 12. Jahrhunderts und die Berufung der Siebenbürger Sachsen, in: D E R S . , Siebenbürgen und seine „hospites Theutonici", Wien [u. a.] 1 9 9 6 , S. 8 3 - 1 0 1 .

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dischen Kaufleuten; doch hatten sie auch noch keine Privilegien ähnlicher Art wie im mittleren Teil Europas 47 . Die Versorgung des Herrschers und seiner Gefolgschaft wurde unter den Voraussetzungen der Selbstversorgung durch das System der dienenden Völker gesichert 48 . Die Dienstleistungen dieser Völker fur die fürstliche (herrscherliche) Hofhaltung waren für die ganze Region charakteristisch. In Ungarn kam es zu einer ähnlichen Organisation der vor Ort vorhandenen Bevölkerung slawischer Herkunft, die mit der slawischen Bezeichnung der Siedlungen der Dienstvölker nachzuweisen ist. In der Kiewer Rus kennen wir keine Siedlungen von Dienstvölkern, nur noch Bezeichnungen, die sich auf dienende Gruppen beziehen. Vermutlich war auch die Siedlungsstruktur vor dem Ende des 12. Jahrhunderts nicht stabil, die fürstliche Besitzstruktur war erst im Entstehen begriffen. Über die Organisation und Besteuerung der Dienstvölker kam der Arbeitsteilung nach Ethnien eine wichtige Rolle zu. Im Fall der Kiewer Rus stammten die „Waldprodukte" (die wichtigsten Artikel, mit denen sich die Kiewer Rus in den Warenverkehr einschaltete, waren Pelze, Honig und Wachs) teils von der slawischen Bevölkerung, teils von den finnougrischen Gruppen. Auf den südlichen Gebieten ist die Großviehzucht (Gestüte des Fürsten!) mit Sicherheit an die Steppenvölker zu knüpfen 49 . Das bedeutende Gewicht der Viehzucht blieb in Ungarn auch weiterhin erhalten, obwohl die Rolle des Ackerbaus mit dem Fortschreiten der Ansiedlung wuchs. In der von Tschechen und Polen bewohnten Region ist das Einwirken der Steppe auf die Viehzucht auszuschließen. Der Fernhandel spielte in der ganzen Region eine wichtige Rolle 50 . In der 47

Vgl. die Aufsätze im Band: Novgorod. Markt und Kontor der Hanse, hrsg. von Norbert Angermann und Klaus Friedland, Köln/Weimar/Wien 2 0 0 2 ; Elena A . RIBINA, Inozemnye dvory ν Novgorode XII-XV1I vv. [Ausländische Höfe in N o w g o r o d im 12.-17. Jahrhundert], Moskva 1986. 48

FrantiSek GRAUS, Die Entstehung der mittelalterlichen Staaten Mitteleuropas, in: Historia 10 ( 1 9 6 5 ) , S. 5 - 6 5 , hier: S. 5 2 - 5 7 ; Gusztäv HECKENAST, Fejedelmi (kirälyi) szolgälönepek a korai Arpäd-korban [Fürstliche/königliche Dienstvölker in der Frühzeit der Arpadenmonarchie], Ertekezesek a törteneti tudomänyok köreböl [Studien aus der Geschichtswissenschaften], Bd. 53, Budapest 1970, S. 3 2 - 5 2 ; Karol MODZELEWSKI, Organizacja gospodarcza panstwa Piastowskiego [ D i e Organisation der Wirtschaft im Land der Piasten], Wroclaw [u. a.] 1975, S. 1 5 - 2 1 ; U w e HALBACH, Der russische Fürstenhof vor d e m 16. Jahrhundert, Stuttgart 1985, S. 2 0 - 4 1 ; Klaus HELLER, Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. I, Die Kiever und Moskauer Periode, Darmstadt 1987, S. 9 - 1 6 ; FONT, Im Spannungsfeld (Anm. 2), S. 2 1 9 - 2 2 7 . 49

STÖKL, Russische Geschichte ( A n m . 4 5 ) , S. 6 9 - 7 7 ; HELLER, Russische Wirtschaftsund Sozialgeschichte (Anm. 4 8 ) , S. 3 5 - 4 3 . 50 Witold HENSEL, Kultura i iskusstvo p o l s k o g o P o m o n a Ν epohu ranniego srednievekovia (VII—XI) [Die Kultur und Kunst im polnischen Pommern des Frühmittelalters ( 7 . - 1 1 . Jahrhundert)], in: Slavanie i Skandinavy [Die Slawen und Skandinaven], hrsg. von Elena A. Melnikova, Moskva 1986, S. 3 1 3 - 3 3 7 , hier: S. 3 2 3 - 3 2 5 ; Thomas H. NOONAN, The Monetary History o f Rus in Soviet Historiography, in: Harvard Ukrainian Studies 9 / 3 - 4 ( 1 9 8 7 ) , S. 3 8 4 - 4 4 3 ; Igor Ja. FROJANOV, Kievskaia Rus. Oöerki socialno-ekonomiöeskoj

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Kiewer Rus wurden Kiew und Nowgorod, auf polnischem Gebiet Posen und Krakau sowie das tschechische Zentrum Prag zu bedeutenden Zentren des Fernhandels. Im Karpatenbecken berührte der Fernhandel eher das südliche Gebiet (die Gegend an der unteren Donau ab dem Ende des 11. Jahrhunderts), von den Herrschaftszentren waren Esztergrom/Gran und Fehervär/Weißenburg im Vergleich zu den eben genannten Zentren weniger bedeutend; obwohl die Anwesenheit „mobiler" Kaufleute in der Region belegt ist. Im Fernhandel ist die Präsenz der Waräger in der Rus und in der Umgebung von Pommern (bis Posen) nachweisbar. Für den Handel der Juden und Muslime gibt es im ganzen „Zwischen-Europa" Belege. Der „Verbrauch" der produzierten Lebensmittel erfolgte mit dem „Umzug" des Hofes, wie die Verzeichnung der Einkünfte zur Zeit Belas III. zeigt. Deswegen wurde die Verpflichtung zur Herbergsgebung (descensus) wichtig. Davon abweichend und auch zeitlich früher (belegt im 10. Jahrhundert) ist die poljugyje in der Rus, die eher eine beuteartige Einkunft war 51 . Sie wurde durch die aus einzelnen Zentren nach Kiew gelangte darty abgelöst. Für die Gesellschaftsstruktur ist die fortlaufende Differenzierung charakteristisch. Im 10. Jahrhundert kam es zum Aufschwung der Dynastien. Der Dienst in der Umgebung des Herrschers und die damit verbundenen Einkünfte schufen die Möglichkeit zur Aushebung von Freien. Im 11./12. Jahrhundert vollzog sich der grundlegende Unterschied zwischen den Freien und den Dienstleuten nach Ausweis der Gesetze, deswegen galt libertas als Schlüsselfrage der Zeit. Die Zahl der Gemeinfreien war in der ganzen Region bedeutend, und die Schicht erschien auch auf politischer Ebene, wie ζ. B. in der Form von vecse und colloquia bei den Westslawen. In Ungarn ist die einzige Spur davon das von Bela I. aus dem ganzen Land einberufene consilium (1061). Den wirtschaftlichen Aufstieg unter den Freien bedeutete der fürstliche Dienst. DiHerkunft war nicht unbedingt ein Vorteil, da die aus der Gefolgschaft umgewandelte Organisation, die die zentrale Verwaltung leitete, nicht nur aus den Vornehmen der alten Stammesorganisation bestand, sondern auch vom Herrscher abhängige Ausländer integrierte. Die Rolle der sich auflösenden Gefolgschaft übernahm in einem Teil der Region, auf tsche-

istorii [Kiewer Rus. Studien zur Geschichte der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse], Leningrad 1974, S. 151-158; FRANKLIN und SHEPARD, T h e Emergence of Rus (Anm.

42), S. 279-287; Käroly Mesterhäzy, Regeszeri adatok Magyarorszäg 10-11. szäzadi kereskedelmehez [Archäologische Angaben zum ungarischen Handel im 10.—11. Jahrhundert], in: Szäzadok 127 (1993), S. 450-468; Ahmad NAZMI, Commercial Relations between Arabs and Slavs (9th—11th centuries), Warszawa 1998, S. 173-176; Christian LOBKE, Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichen Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 144-176. 51 FROJANOV, Kievskaia Rus (Anm. 50), S. 454-465; III. Bela emlökezete, hrsg. von Gyula Kristo und Ferenc Makk, Budapest 1981, S. 81 f.; Attila ZSOLDOS, AZ Ärpädok es alattvalöik [Die Arpaden und ihre Untertanen], Debrecen 1997, S. 122 f.

Font, Mitteleuropa — Osteuropa — Ostmitteleuropa?

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chischem und ungarischem Gebiet, schnell der Rat, der aus den vornehmen Mitgliedern der engeren Gefolgschaft bestand 52 . Alles in allem kann man feststellen, dass dieser Teil Europas im 10.-12. Jahrhundert nur im geographischen Sinn als eine Region betrachtet werden kann, bzw. nur insofern, als er in dem „Keil" zwischen den beiden christlichen Großreichen liegt. Ein gemeinsamer Zug der einzelnen Zentren besteht darin, dass sich die Wege der christlichen Mission kreuzten. Später wurden im Westen die byzantinischen Einwirkungen zurückgedrängt bzw. die Beziehungen zu den Zentren, die das Latein als liturgische Sprache benutzten, veränderten sich im östlichen Teil. Unseres Erachtens trat das an der Grenze unserer Epoche, um das Ende des 12. Jahrhunderts, ein. Bis dahin „trennte sich" Zwischen-Europa in Ostmittel- und Osteuropa. Und in den drei Zentren OstmittelEuropas begannen vom 13. Jahrhundert an die Ähnlichkeiten zu dominieren. Im 10.-12. Jahrhundert weisen die Machtzentren der Region „ZwischenEuropa" neben den Ähnlichkeiten an der Oberfläche zahlreiche Unterschiede auf. Die Beziehungen zu den Großreichen ζ. B. entwickelten sich unterschiedlich. Das tschechische Gebiet „fiel" von der Interessensphäre von Byzanz aus, wo früher die kirchliche Präsenz nachweisbar war, doch scheint der Einfluss Byzanz' auf weltlichem Gebiet nie vorhanden gewesen zu sein. Auf polnischem Gebiet kann man keine Spur des byzantinischen Einflusses nachweisen, die Wirkung der byzantinischen Mission bis hierher ist eher Phantasie als Wirklichkeit. In Ungarn wurde der kirchliche Einfluss von Byzanz im 11./12. Jahrhundert allmählich zurückgedrängt. Einen nichtkirchlichen Einfluss versuchte Byzanz erst in den 60er Jahren des 12. Jahrhunderts im Karpatenbecken zu gewinnen; es konnte damals vorübergehend Gebiete erwerben, die früher unter der Oberhoheit des Königreiches Ungarns gestanden hatten. Aus der Interessensphäre des Römisch-deutschen Reiches fiel die Kiewer Rus bis zum 12. Jahrhundert heraus: die Mission zu Beginn des 10. Jahrhunderts scheiterte, die im 11. Jahrhundert noch bestehenden weltlichen Beziehungen (Eheschließung, Kiewer Fürst am kaiserlichen Hof) setzten sich nicht fort. Ungarn wurde - wahrscheinlich dank seinen kirchlichen und politischen Beziehungen zu beiden Kaiserreichen - in jeder Hinsicht zu einer souveränen Macht der Region. Hinsichtlich der Beziehung zum Römischdeutschen Kaiserreich waren auch die tschechische und die polnische Lage nicht identisch. Böhmen integrierte sich im Wesentlichen hinsichtlich der Kirchenorganisation und auch auf der Ebene der weltlichen Herrschaft in das Reich, obwohl es in dessen Rahmen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts zwei52 FROJANOV, Kievskaia Rus (Anm. 48), S. 87-100; Ilona BOLLA, Α jogilag egyseges jobbägysäg kialakuläsa [Die Entstehung der gleichrechtigen Leibeigenschaft], Budapest 1983, S. 17-95; HALBACH, Der russische Fürstenhof (Anm. 48), S. 23, 33; KRISTO, Entstehung (Anm. 4), S. 287-297; ZEMLlCKA, Cechy Ν dobi knizeci (Anm. 31), S. 72-74; ZSOLDOS, Die Arpaden (Anm. 51), S. 198-200; SZCZUR, Historia Polski (Anm. 28), S. 165-167.

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feilos wichtige Positionen für sich erfocht. Die Kirchenorganisation Polens emanzipierte sich dagegen von der Reichskirche, mehrere polnische Fürsten wurden aber zu Steuerzahlern des Kaisers. Die Kirchenorganisation der Rus war Byzanz untergeordnet, wir finden aber wegen der geographischen Entfernung keine Spur der Abhängigkeit weltlicher Art. Die Selbständigkeit der einzelnen Zentren - bzw. die Stufe der Selbständigkeit - hing davon ab, wie sie der weltlichen und kirchlichen Expansion der Kaiserreiche widerstehen konnten. Auf der weltlichen Seite - so meinen wir hatte der Charakter des Heeres eine bestimmende Rolle. Für die gesamte slawische Bevölkerung ist es charakteristisch, dass sie ihr Verteidigungssystem auf die in der Zeit der Stammesorganisation befestigten Zentren aufbauend organisiert hatte. Diese Zentren waren mit befestigten Erdburgen (Schanzenburgen) versehen, die auch - vermutlich - je einer Sippe als Zentrum dienten. In der Umgebung der befestigten Zentren lebte die freie Agrarbevölkerung (Gemeinfreie). Diese Schicht der Gemeinfteien bildete bei der Verteidigung bzw. bei Heereszügen das Lager der Krieger. In der zentralen Siedlung (grad/hrad/ gröd/gorod) lebte das Sippen- oder Stammesoberhaupt mit seiner Gefolgschaft. Unseres Erachtens erreichte weder die Zahl der Gemeinfreien noch die Zahl der Gefolgschaft eine bedeutende Größenordnung. Deswegen hatte man einen Anspruch auf ergänzende Streitkräfte, die in den Chroniken als „Hilfsgesuch" erscheinen. Bei den Ungarn lebte die Vergangenheit der Steppe in der Heeresorganisation weiter. Die Eigenartigkeiten der „Kampfbereitschaft" und der Kriegstechnik der mobilen Viehzüchtergesellschaft kamen im Gefolge der Streifzüge zum Ausdruck. Die Praxis der Steppe, der Einsatz militärischer Hilfsvölker, hielt sich auch bei den Ungarn. Die Hilfsvölker wurden durch Privilegien zum Kriegszug verpflichtet, sonst waren diese Gruppen „sich selbst erhaltend", d. h. sie beanspruchten die materielle Unterstützung des Herrschers nicht. Der Vorteil lag in der Tatsache, dass es sich um ein ständig in Bereitschaft stehendes, gegenüber der Gefolgschaft „billigeres" und zahlreicheres Kriegsvolk handelte. In der Kiewer Rus erschienen über das Verteidigungssystem der Slawen hinaus die Waräger und die Krieger von der Steppe als militärische Gruppe. Die Waräger waren eher Mitglieder der fürstlichen Gefolgschaft. Die Kiewer Großfürsten nahmen mit den Steppenvölkern teils den Kampf auf und verteidigten sich gegen sie. Zu diesem Zweck bauten sie - die üblichen Techniken des Festungsbaus anwendend - Verteidigungsschanzen. Daneben nahmen sie bestimmte Steppenvölker als militärische Hilfsvölker in Dienst, wie ζ. B. im 12. Jahrhundert die Gruppe mit dem sog. schwarzen Hut. Im 12. Jahrhundert erschienen in den fürstlichen Gefolgschaften auch Personen nomadischer Herkunft (Kumanen, Wolgabulgaren). Die Gefolgschaft als Mittel der fürstlichen Sondermacht war überall in der Region präsent. Die fürstliche Gefolgschaft der Stammeszeit wandelte sich nach der Staatsgründung zum Rat des Herrschers (königlicher oder furstli-

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eher Rat: consilium, dumi), der zugleich eine zentrale Regierungsfunktion übernahm. Die Stärke der Gefolgschaft hing vom Volumen der fürstlichen Einkünfte ab. In der Stammeszeit machten die Einkünfte die Beute, die Besteuerung des Handels und der eroberten Menschengruppen aus. Diese Praxis änderte sich auch nach der Annahme des Christentums - also in den Anfängen der Staatsorganisation - nicht. Die notwendigen Lebensmittel bezogen die Fürsten vom Dienstvolk, Edelmetall aus der Besteuerung des Handels bzw. durch die Rechtsprechung. Im 12. Jahrhundert wissen wir von der Steuer der aus dem Westen gekommenen Siedler. Aus den fürstlichen Einkommen musste auch die Verstetigung der Mission finanziert werden. Die an der Bekehrung beteiligten Bischöfe hatten höchstwahrscheinlich keine sonstigen Einkünfte. Die Kirchenorganisation war die erste, die das gesamte Herrschaftsgebiet umfasste. In ihr gewannen die aus dem Ausland gekommenen Geistlichen eine bestimmende Rolle. In Ungarn zogen die frühe Kodifikation des kirchlichen Zehnten, die den Klöstern geschenkten Besitztümer die frühe Verselbständigung der Kirche nach sich. Die Gründungsurkunde des Prager Bistums datiert ein Jahrhundert später als das Bistum selbst. Die Forschung nimmt an, dass es auch schon damals Besitztümer hatte außer der Schenkung des Fürsten. Die Reihe der Klostergründungen zeigt die ähnliche Lage der Kirche wie in Ungarn, allerdings mit dem Unterschied, dass die tschechische Kirche nicht selbständig war. Auf polnischem Gebiet hielt sich lange die Abhängigkeit der Kirche von den fürstlichen Schenkungen, das Privilegium fori und die Immunität der Besitztümer von den Abgaben an den Fürsten kam erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts auf die Tagesordnung. In der Kiewer Rus dominierte die Überlassung des fürstlichen Zehnten die Hierarchie der kirchlichen Einkünfte, so hing die Lage der Kirche maßgeblich von der Beziehung zu den Fürsten ab. Mit dem Begriff Zwischen-Europa wollten wir betonen, dass die untersuchten vier Zentren im 10.-12. Jahrhundert einheitlich Teil der christlichen Welt wurden und sich der Unterschied noch nicht zeigte, der die östlichen und mittleren Teile Europas im 13. Jahrhundert markant voneinander trennte. Die neu auftretenden politischen Akteure im Raum zwischen den zwei Großreichen hatten - wenn auch nicht unter gleichen Umständen - den Herausforderungen von Seiten der Kaiserreiche in gleicher Weise zu begegnen. Es ist unbestreitbar, dass zahlreiche abweichende Züge innerhalb der Region nachzuweisen sind, und bei der sozialen Gliederung und der Machtstruktur im Ι Ο Ι 2. Jahrhundert ist ζ. B. die Bezeichnung „mitteleuropäisches Modell" stark in Frage zu stellen. Hinsichtlich der Ganzheit Mitteleuropas nahmen wir den Europa-Begriff von Jenö Szücs als Grundlage, nach der Europa im Frühmittelalter das Synonym des Christentums war 53 . Die folgende Feststellung von 53

SZÜCS, Die drei historischen Regionen (Anm.16), S. 8 - 1 4 .

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Szücs bestreiten wir aber. „Kaum wurde Europa aus dem einfachen geographischen Rahmen zum Synonym der Christianitas, zur kulturellen, sogar zur strukturellen Identität, spaltete es sich sofort nach der Reichweite von Rom und Byzanz" 54 . Das Ergebnis unserer Forschungen ist, dass dieses „sofort" eine verhältnismäßig lange Zeit ausmachte, da die Absonderung Osteuropas innerhalb der behandelten Region erst bis zum Ende des 12. Jahrhunderts erfolgte.

Summary The author of this study takes the view of Maria Todorova as her starting point. According to Todorova, the understanding of the European regions of our time is strongly political and reflects the standpoint of great powers, and it therefore needs to be revised. The author joins the debate over the notion and regions of Europe from her own standpoint as a medievalist and concentrates mostly on the central part of Europe. The medievalist perspective is important because most literature on the regions of Europe focuses mainly on later periods and thereby neglects comparisons to earlier times and definitions of some notions. The notion of Europe around the turn of the first millennia differed sharply from that of today and was mostly used as a synonym for the Christian world. It was exactly at the turn of the first millennia that Europe started to expand and began to resemble what we know as the continent today. A unifying Europe in this sense, however, incorporated potential lines of division along which clearly different regions had evolved by the 13th century. These lines of division unambiguously depicted the border between Europa Occidens and Europa Oriens and in between the two a certain "Middle Europe" developed which had features that could be distinguished from those of the other two. The author of this work makes use of the term "Middle Europe" to describe all those territories over which the influence of the two contemporary great powers, Byzantium and the Holy Roman Empire, extended. As the cleavage between these two great empires had not yet occurred as of the turn of the first millennia, it is not justified to distinguish what would later become Eastern Europe. The author investigates the four centres of Middle Europe, all of which had developed by this point in time. The examined four centres were understood as parts of the Christian world in the 10-12th centuries. At that time, the difference that in the 13th century would distinguish between 54

Ebd., S. 10.

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the areas of Eastern and Central Europe was not yet present. The new political entities in the region between the two great powers, even if not under the same circumstances, had to face the challenge of the two empires. There is no doubt that there are a number of distinctive features within the region, especially in regard to the fabric of society and power structures. The above-mentioned centres have the common feature that Christian missionaries reached them all from both directions. Later, in West Byzantine the effects of missions dwindled, whereas in the East there was a change in the links with the centres which used Latin as a liturgical language. The author claims that these changes occurred toward the end of the 12th century. At that time, the two parts of Middle Europe divided into East-Central and Eastern Europe. The three centres of East-Central Europe began to exhibit common features from the 13th century onward.

Die österreichischen Assoziierungsbestrebungen an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957-1972 im Spiegel der Europa-Konzeptionen von Ludwig Erhard und Charles De Gaulle Von

Thomas Ratka I. Einleitende Hypothesen zur österreichischen Selbstwahrnehmung im europäischen Integrationsprozess Während die Republik Österreich im sogenannten „Gedenkjahr" 2005 das 50jährige Bestandsjubiläum ihrer zentralen Identitätsbausteine - Staatsvertrag und Neutralität - mit großem Pomp feierte, wurde vom Wiener Zeithistoriker Oliver Rathkolb in seinem Essay Die paradoxe Republik die These vom österreichischen „Solipsismus" aufgestellt: Danach ist die österreichische Selbstwahrnehmung von einer permanenten Ich-Bezogenheit und Überschätzung der eigenen kulturellen und politischen Bedeutung innerhalb Europas und der Welt gekennzeichnet1. Dies zeige sich auch in der kollektiven historischen Eigenwahrnehmung: Österreich habe, so die allgemeine Vorstellung, ob seiner Sonderposition stets auch einen „Sonderweg" zu beschreiten gehabt2. In den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik stimmte die Fremdwahrnehmung als „Sonderfall" mit der Selbstwahrnehmung noch überein, auch weil die Besonderheit Österreichs im In- und Ausland - damals noch mit Erfolg - bestimmte „Funktionen" erfüllte: Für die Sowjets war Österreich der lebende Beweis für die Möglichkeit einer „friedlichen Koexistenz" der beiden grundverschiedenen Systeme, seit John F. Kennedy wurde die österreichische Neutralität in den USA positiv bewertet und als Beispiel dafür angesehen, wie sich ein freies Land im Schatten der UdSSR behaupten konnte3, und in Österreich selbst hatte die Eigenreflexion als 1

Oliver RATHKOLB, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2 0 0 5 , Wien 2 0 0 5 . Ernst BRUCKMÜLLER, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und geschichtlich-politische Prozesse. Wien 1996; Friedrich HEER, Der K a m p f um die österreichische Identität, 2. Aufl. Wien/Köln/Graz 1996, S. 3 5 4 ff.; Manfried RAUCHENSTEINER, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1 9 4 5 - 1 9 5 5 , Graz/Wien/Köln 1979, S. 15 ff.; Hanns HAAS und Rudolf G. ARDELT, Kein „Sonderfall": Österreich von der Befreiung z u m Staatsvertrag, in: Zeitgeschichte 7 (1980), S. 3 0 8 ff.; Klaus EMMERICH, Anders als die Anderen, Wien 1992, S. 7 ff. 2

3

Martin KOFLER, Kennedy und Österreich - Neutralität im Kalten Krieg, Innsbruck 2 0 0 3 , S. 2 6 ff.

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„Sonderfall" gerade nach 1945 eine stark identitätsstiftende Wirkung. Vor allem aber wurde zu Beginn der Zweiten Republik die besondere Stellung des Landes zur Erreichung der primären Zielsetzung Österreichs - der Erlangung der Unabhängigkeit - instrumentalisiert: Zunächst ging es darum, „den alliierten Besatzungsmächten ein unabhängiges und unschuldiges Österreich schmackhaft zu machen" (Werner Suppanz) 4 und mit dem „Etikett Sonderfall, Kleinstaat zwischen den Blöcken" 5 einen möglichst günstigen Platz im beginnenden europäischen Integrationsprozess zu finden. Trotz teilweiser Sowjetbesatzung war Österreich Empfänger der ERP-Mittel, die immerhin einen Anteil von 14 Prozent an der Gesamtwirtschaftsleistung des Landes ausgemacht haben 6 (die sowjetische Führung hatte die Tschechoslowakei und Polen von einer Teilnahme am Marshallplan 7 zurückgehalten) 8 . Gleichzeitig reagierte man abwartend auf das amerikanische Drängen, an der Handelsliberalisierung unter den ERP-Ländern teilzunehmen 9 . Somit deckten sich lange Zeit die Eigen- und die Fremdwahrnehmung Österreichs und seiner Neutralität als europäische Besonderheit weitgehend: In Washington, Bonn, Moskau und Paris wurde stets der Sonderstatus Österreichs hervorgehoben - und fast immer gelobt. Für die österreichischen Erwartungen in Bezug auf den sich mit der Gründung der EWG im Jahr 1957 radikal beschleunigenden westeuropäischen Integrationsprozess bedeutete diese tatsächliche Sonderstellung von Beginn an aber ein Dilemma: Das Land stand „zwischen den Blöcken", war nach zehnjähriger Besatzung zwar neutral (und die Neutralität, obwohl aus „freien Stücken" erklärt, war gerade der Preis für die Erlangung des Staatsvertrages gewesen), aber wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch eindeutig prowestlich orientiert. Ein „bloßes" Handelsabkommen wäre zu wenig, eine Assoziierung ohne Sonderregelungen zu 4

Werner SUPPANZ, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimation im Ständestaat und in der Zweiten Republik, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 6. 5 Zum Begriff des „Sonderfalls Österreich" statt vieler Manfried RAUCHENSTEINER, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945-1955. 6 Im Vergleich waren es in den Niederlanden bloß 10,8%, in Frankreich 6%, in Deutschland 2,8% und in Belgien/Luxemburg 0,6%. Insgesamt profitierte 1948/49 Österreich pro Kopf mit etwa 100 $ [US] - viel mehr als vergleichsweise die Bundesrepublik Deutschland. Dazu im Detail Ingrid FRABERGER und Dieter STIEFEL, „Enemy Images": The Meaning of „Anti-Communism" and its Importance for the Political and Economic Reconstruction in Austria after 1945, in: The Marshall Plan in Austria, hrsg. von Günter Bischof [u. a.], New Brunswick/London 2000, S. 56 ff. 7 Zunächst hatte Außenminister Molotow sogar überlegt, die Sowjetunion selbst [sie!], die Tschechoslowakei und Polen am Marshallplan teilnehmen zu lassen, diesen Plan aber bald verworfen. Vgl. dazu Gen George B. MCCLELLAN, Molotov Remembers, Cold War International History Project (1992), S. 17 f. 8 Gerald STOURZH, Geschichte des Staatsvertrages 1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität, 3. Aufl. Graz/Wien/Köln 1985, S. 79. 9 Michael GEHLER, 17. Juli 1989: Der EG-Beitrittsantrag, in : Österreich im 20 Jahrhundert, hrsg. von Rolf Steiningerund Michael Gehler, Wien 2000, S. 518 m. w. N.

Ratka, Die österreichischen Assoziierungsbestrebungen

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viel, und eine Vollmitgliedschaft - gerade in Hinblick auf permanente sowjetische Warnungen - außerhalb des politisch Machbaren gegeben. Daher war es erklärtes Ziel, fur den Sonderfall Österreich ein „Abkommen der besonderen Art" mit der EWG - das fiir Österreich wegen der starken Westorientierung seiner Wirtschaft von essentieller Bedeutung war - abzuschließen 10 . Da dieses Bestreben nur sehr schwierig in die verschiedenen „Europakonzeptionen" der „Global Players" USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich einzuorden war, wurde es sehr unterschiedlich rezipiert und löste in Österreich und auf internationaler Ebene zahlreiche und langwierige Debatten aus, aus denen im folgenden Beitrag bundesdeutsche und französische Perzeptionen herausgegriffen seien. Nach erfolgreichem Abschluss des Staatsvertrages musste Österreich bei den EWG-Assoziierungsverhandlungen erstmals erkennen, dass die Berufung auf seinen „Sonderstatus" am Ende - erstmals - keinen Erfolg brachte. Die von Österreich in der internationalen Politik im Laufe der letzten Jahrzehnte so oft gezogene „Sonderfall-Karte" sticht heute vergleichsweise überhaupt nicht mehr: Ihre Überzeugungskraft wurde seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 immer schwächer und hat nach der vollzogenen Erweiterungsrunde im Mai 2004 in einem Europa der 25 endgültig ausgespielt; damit hat sich der seit 1945 gezogene Kreis um den Sonderstatus Österreichs nunmehr endgültig geschlossen. Oliver Rathkolb kritisiert in diesem Zusammenhang, die österreichischen Entscheidungsträger würden noch immer nicht zur Kenntnis nehmen, dass „isolierte Kleinstaateninteressen ohne breite Koalitionen zum Scheitern verurteilt" seien. Der „Sonderstatuts" Österreichs im Kalten Krieg gelte heute nicht mehr, in Europa sei ein „Sonderfall Österreich" somit nicht länger möglich. Dies müsse sich ändern, wenn sich Österreich „auch in die EU effektiv einbringen" wolle". Der vorliegende Beitrag versucht, den Ansatz einer österreichischen Selbstbeschreibung zu vermeiden und die Bemühungen des Landes um ein Assoziierungsabkommen mit der EWG aus ausgewählten Fremdperspektiven zu 10 Notiz Reichling über die Gespräche mit Bock in Fuschl, 9./10. Juni 1966. Kommissionsarchiv, C E A B 2/2640. Bock vertrat - zur Verblüffung seines Gesprächspartners - auch die Auffassung, im Fall der Bildung einer solchen „Sondergemeinschaft" müsse die „Verwaltungshoheit bei Österreich bleiben" - etwa in Form der Bildung eines „österreichischen Montanorgans", das der Jurisdiktion des (österreichischen) Verwaltungsgerichtshofes unterworfen sein sollte [sie!]. 11 Oliver RATHKOLB, Österreich zwischen Neutralität und Allianzfreiheit 1953-2000, in: Zeitschrift fur Geschichte der Europäischen Integration 7/2 (2001), S. 103-125, hier: S. 225. Vgl. dazu auch Sören DOSENRODE-LYNGE, Westeuropäische Kleinstaaten in der EPG und EPZ, Chur/Zürich 1993, S. 185 f., die die belgische Strategie der Bildung von Kleinstaatenallianzen beschreibt: Die Benelux-Staaten würden in ihrer europapolitischen Taktik oft die Strategie des Initiators, der Mitbegründung von Organisationen, der Förderung der supranationalen Integration und die Vermittler-Strategie anwenden. A u f Österreich trifft dagegen wohl nur Letzteres zu.

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untersuchen. Da eine komplette Darstellung sämtlicher europa- und weltpolitischer „Akteure", aber auch der genauen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jeden Umfang eines Zeitschriftenbeitrages mehrfach sprengen würde 12 , seien - unter bewusster Ausklammerung der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Italiens - zwei wesentliche Persönlichkeiten und ihre Wahrnehmung der österreichischen Integrationskonzepte herausgegriffen: Ludwig Erhard und Charles De Gaulle.

II. Die Rolle der BRD als Unterstützerin Österreichs in der strategischen Zwickmühle Paris - Washington 1. 1957-1961: Europapolitik im Zwiespalt Adenauer - Erhard Die Beurteilung des Projekts der „großen Freihandelszone" - nach der es zu einem wirtschaftlichen „Brückenschlag" zwischen der EFTA und der EWG kommen sollte - war innerhalb der BRD 1 3 überaus uneinheitlich: Besonders der Wirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard 14 war ein lautstarker Verfechter dieser Lösung (er hatte beispielsweise Frankreich wegen seiner ablehnenden Haltung sogar so scharf kritisiert, dass darauf eine französische Demarche im deutschen Bundeskanzleramt folgte 15 ), während Konrad Adenauer den multilateralen Verhandlungen gegenüber skeptisch bis ablehnend eingestellt war 16 . Erhard hatte mit seinem unbedingten Enthusiasmus für die „große Freihandelszone" - fur sie wollte er „bis zum Letzten kämpfen" - aber eine isolierte Stellung: Er befand sich nicht nur im Gegensatz zu Adenauer und Frankreich, sondern auch zum Kommissionspräsidenten Walter Hallstein, den er wegen seiner reservierten Einstellung zur Freihandelszone - ebenso wenig diplomatisch - als „Verderber Europas" bezeichnet hatte 17 . Erhard war in Paris eine Art europapolitische persona non grata: In 12 Den Wahrnehmungen sämtlicher EWG- und EFTA-Staaten sowie der USA und Sowjetunion gehe ich in meiner Dissertation ausführlich und unter Heranziehung zahlreicher Primärquellen nach: Thomas RATKA, Selbst- und Fremdperzeptionen der österreichischen „Sonderweg-Strategie" in der europäischen Integration 1957-1972, Wien 2004, bes. S. 125 ff. 13 Zur innerdeutschen Diskussion der Integrationskonzepte vgl. statt vieler Wolfgang WESSELS, Die Westeuropäische Integration und die Bundesrepublik Deutschland, in: Europäische Integration und die deutsche Frage, hrsg. von Jens Hacker und Siegfried Mampel, Berlin 1988, S. 43 ff. 14 Zur Person Ludwig Erhard - nach 1963 - ausführlich Horst OSTERHELD, Außenpolitik unter Bundeskanzler Ludwig Erhard 1963-1966 - Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt, Düsseldorf 1992. 15 „Handelsblatt" vom 23. Dezember 1960. 16 Dazu Michael GEHLER, Klein- und Großeuropäer, in: Ungleiche Partner, hrsg. von Michael Gehler [u. a.], S. 619 ff. m. w. N. 17 Schöner (Bonn) an Kreisky vom 9. Januar 1960. Österreichisches Staatsarchiv [im Folgenden: ÖStA], Archiv der Republik [im Folgenden: AdR], Bundeskanzleramt (im Folgen-

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französischen Regierungskreisen wurde er als „schwarzes Schaf der deutschen Außenpolitik" bezeichnet; es wurde ihm nachgesagt, er unterstütze nicht den französisch-deutschen Motor, sondern wolle nur „die Ostmärkte für den deutschen Export erschließen". Er sei „überzeugter Gegner der restriktiven und exklusiven Europapolitik De Gaulles und ein entschiedener Anhänger einer Öffnung und Erweiterung des gemeinsamen Marktes nach allen Seiten, vor allem gegenüber England und den USA" 18 . Auch spätere Aussagen Erhards als Bundeskanzler- bei einem offiziellen Staatsbesuch des österreichischen Bundespräsidenten Schärf meinte er etwa „deutsch sind wir alle, wenn auch glücklicherweise nicht mehr in einem Reich" - mussten in Paris auf wenig Gegenliebe stoßen 19 . Die deutsche Regierung war in EWG-Fragen insgesamt zwar immer „Verbündete" 20 Österreichs: Bei zahllosen Kontaktaufnahmen fand ein bilateraler Informationsaustausch statt, wie er mit einem anderen EWG- oder EFTA-Staat unmöglich gewesen wäre. Dennoch wurde von den meisten maßgeblichen deutschen Politikern - etwa von Finanzminister Franz Etzel - offen ausgesprochen, dass man, „bei aller Unterstützung der österreichischen Anliegen", den französischen Forderungen nach einer zeitlich verzögerten und bloß sektoralen Integration im Rahmen der großen Freihandelszone „aus politischen Gründen" nachgeben müsse 21 . Die österreichische Positionierung innerhalb der EFTA beurteilte die BRD intern jedoch eher negativ. In einer Einschätzung des bundesdeutschen Außenministeriums vom Frühjahr 1960 ist zu lesen: „Im britischen Fahrwasser schwimmt auch Österreich. Es bestehen große Unterschiede zwischen der Regierungserklärung Julius Raabs mit den Zielen der europäischen Integration. Raab sprach immerhin vom Ziel eines Höchstmaßes von Selbstbestimmung und wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit" 22 .

Auch der bundesdeutsche Botschafter in Wien, Carl H. Mueller-Graaf, zeichnete Anfang 1960 in einem Bericht an das Auswärtige Amt in Bonn kein allzu den: BKA)/Bundesministerium fur Auswärtige Angelegenheiten (im folgenden: BMfAA), ZI. 102.014, GZ1. 100.000-Wpol/60. 18 Fuchs (Paris) an Kreisky vom 2. Mai 1963, Gespräch mit Maurice Schumann, ZI. 2 7 pol/63. ÖStA, AdR, BmfAA (Anm. 17). 19 Rede des deutschen Bundeskanzlers Dr. L. Erhard anläßlich des Staatsbesuches des Bundespräsidenten Dr. A. Schärf in der Bundesrepublik am 24. Juni 1964, abgedruckt in: Hans MAYRZEDT und Waldemar HUMMER, 20 Jahre österreichische Neutralitäts- und Europapolitik, Wien 1976, S. 288 f. 20 Kreisky bezeichnete die Vertreter der Bundesrepublik in diesem Zusammenhang als „sehr verläßliche Freunde"; vgl. „Arbeiter-Zeitung" vom 22. März 1959. In Bezug auf den multilateralen Ansatz traf dies aber nur auf Erhard zu, der diesbezüglich sehr bald innerhalb der deutschen Regierung isoliert war. 21 Bobleter (Hohe Behörde/EGKS Luxemburg) an Figl vom 21. März 1958. ÖStA, AdR, BKA/BMfAA (Anm. 17), ZI. 547.069-pol/58, GZ1. 544.198-pol/58. 22 Aufzeichnungen AA Bonn über den Stand der Europäischen Integrationspolitik im Frühjahr 1960 vom 5. April 1960. D2-2-200-80.00/279/60/Vs-Vertr. Deutsches Bundesarchiv (im folgenden: DBA), Nachlass Carstens, NL 1337,649.

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positives Österreich-Bild; angesprochen werden vor allem die Neutralitätsauffassung des neuen Bundeskanzlers Bruno Kreisky und dessen Ressentiments23 gegen eine EWG, der Deutschland angehöre: „Der Wechsel [...] von Figl zu Kreisky ist von vielen nicht ohne Besorgnis beobachtet worden. Der Wandel von dem klaren, scheinbar einfachen, christlichen [sie!], mutigen und taktvollen, wohl auch mit eigener, aber nie ernste Grundsätze verratenden Bauernschläue und Wendigkeit ausgezeichneten niederösterreichischen Bauernbunddirektor, der an der Begründung und Rettung der Zweiten Republik einen entscheidenden Anteil hat, zu dem intellektuellen, verhältnismäßig jungen Sozialisten ließ schon aus der Natur der handelnden Personen heraus eine gewisse Änderung der österreichischen Außenpolitik erwarten. Das politische Weltbild, das der konfessionslose, „teilweise jüdische" (wie er sich selbst mir gegenüber ausdrückte), aus wohlhabenden Industriefamilien stammende sozialistische Minister besitzt, ist mir aus vielen Gesprächen mit ihm verhältnismäßig klar. Kreisky ist fest überzeugt, daß es zwischen der Sowjetunion und den USA zu einem dauernden Ausgleich kommen wird [...]. Nach außen suchen Kreisky und Pittermann nicht sozialistische Motive, sondern die Angst vor einem Anschluß in den Vordergrund zu schieben. Bei Kreisky war dieses Motiv auch stärker. Als er mir unter vier Augen auseinandersetzte, dass bei der überragenden Stellung, welche die Bundesrepublik in der EWG einnähme, der Beitritt zur EWG die österreichische Metallindustrie zu Filialbetrieben der deutschen herabsinken lassen und damit der im Staatsvertrag verbotene Anschluß an die Bundesrepublik vollzogen werden würde, schien er an diese törichte Übertreibung wirklich zu glauben 24 . Wie die Schweizer sehen viele Österreicher die EWG als einen Versuch an, nach den gescheiterten französischen (Napoleon) und deutschen (Hitler) Versuchen einer Einigung des Kontinents durch Hegemonie nun den Kontakt durch eine gemeinsame deutschfranzösische Hegemonie zu einigen. Zusammenfassung: Der neue sozialistische Außenminister beginnt im Verein mit seinem Parteiführer und Vizekanzler angesichts der europäischen Wirtschaftsintegration das Land in eine gefährliche außenpolitische Problematik hineinzusteuern" 25 .

2. Ambivalente Haltung zum Thema Österreich Die im Dezember 1961 eingebrachten Assoziierungsanträge Österreichs, Schwedens und der Schweiz wurden von deutscher Seite unterschiedlich be23

Kreisky tätigte vor allem in Paris, London und Moskau selbst bei offiziellen Anlässen antideutsche Aussagen wie kein anderer österreichischer Politiker; vgl. „Arbeiter-Zeitung" vom 22. März 1959 (Anm. 20). 24 Kreisky äußerte etwa ein halbes Jahr später gegenüber dem bundesdeutschen Außenminister Heinrich von Brentano, ein Beitritt Österreichs zur EWG komme „einem Anschluß an Deutschland gleich". Vgl. das Protokoll der Arbeitssitzung anläßlich des Besuchen von Dr. Bruno Kreisky in Bonn vom 7./8. März 1960. PA des AA/Berlin, 203-82.21/94.19. 25 Gesamtbericht „Österreich am Anfang des Jahres 1960" der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Wien, Mueller-Graaff an das Auswärtige Amt. Archiv des Auswärtigen Amtes/Berlin (vormals Bonn), Pol. 203 Nr. 20/60 VSV.

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urteilt. Das Erhard unterstehende Bundeswirtschaftsministerium reagierte positiv 26 : Nach einer internen Einschätzung („Wirtschaftliche Grundsatzfragen der Assoziierung oder eines Beitrittes [sie!] Österreichs zur EWG") hätten zwar alle drei neutralen Staaten im Prinzip dieselben Vorbehalte angemeldet, Österreich sei hinsichtlich seiner Sonderwünsche aber „am zurückhaltendsten"; diese seien lediglich „mit der Darlegung der staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ausgefüllt". Man sollte das Nachbarland daher „auf breiter Basis unterstützen" 27 . Einhellige Zustimmung signalisierte auch der Deutsche Industrie- und Handelstag: Eine Assoziierung Österreichs sei trotz der Neutralität „selbstverständlich möglich"; der BRD falle bei den Verhandlungen eine „besonders verantwortungsvolle Rolle zu" 28 . Die BRD geriet zu Beginn der sechziger Jahre insgesamt in eine strategische Zwickmühle. Einerseits war die „Achse" Paris-Bonn von Beginn an der eigentliche „Motor" der europäischen Integration, der keinesfalls ins Stottern geraten durfte, und seit 1963 war man mit Frankreich durch den deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag noch enger verbunden. Es konnte von Deutschland somit lediglich, wenn überhaupt, mit vorgehaltener Hand gegen die französische Europapolitik agiert werden 29 . Auf der anderen Seite standen die USA: Es war aus bundesdeutscher Sicht ebenso aus historischen, realund sicherheitspolitischen Gründen denkunmöglich, auf Dauer eine Außenpolitik zu verfolgen, die gegen die Interessen Washingtons gerichtet gewesen wäre. Zudem scheint es seit dem Jahr 1961 in Deutschland allmählich zu einer Art Paradigmenwechsel im Verhältnis zu den USA und zu Frankreich gekommen zu sein: Ende 1960 war in den Vereinigten Staaten der junge, dynamische Demokrat John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt worden, der, zumindest in der deutschen öffentlichen Meinung, De Gaulle und Adenauer und damit die deutsch-französische Umklammerung plötzlich „alt" aussehen ließ 30 . Die Frage, ob eine deutsch-amerikanische Annäherung - die De Gaul-

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Vgl. dazu etwa Agstner (Bonn) an Kreisky, Anregung auf ein Gespräch, mit den Neutralen in der Assoziierungsfrage, ZI. 8-pol/62. Österreichisches Institut für Zeitgeschichte (im folgenden: ÖlfZG), Nachlass Fuchs, DO 834, Mp. 49: „Wenn die neutralen Staaten auf deutscher Seite einen Befürworter ihrer Interessen haben, so ist dies am ehesten das Bundeswirtschaftsministerium mit Prof. Erhard an der Spitze". 27 „Wirtschaftliche Grundsatzfragen der Assoziierung oder eines Beitrittes Österreichs zur EWG". Bonn, 8. Oktober 1962. DBA (Anm. 22), Bestand Bundesministerium für Wirtschaft/Referat EA 3, Sig. Β 102/65148. 28 Pressemitteilung des Deutschen Industrie- und Handelstages vom 5. März 1962. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 832, Mp. 27. 29 So betonte die bundesdeutsche Regierung auf einer deutsch-französischen Konferenz in Paris am 21./22. Januar 1963, dass der Beitritt Großbritanniens „aus politischen und wirtschaftlichen Gründen notwendig" sei und „früher oder später" stattfinden müsse. DBA (Anm. 22), Nachlass Hallstein, Ν 1266, Aktenband 650, St. S. 79/63 vom 30. Januar 1963. 30 Michael J HOGAN, The Marshall Plan. America, Britain and the reconstruction of Western Europe 1947-1952, Cambridge 1987, S. 25: „Für viele bundesdeutsche Bürger schienen

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le stets zu verhindern trachtete - nicht viel mehr bringen könne, stand im Raum 31 . Dieser Zwiespalt - Deutschland war schon in der GroßbritannienFrage „Diener zweier Herren" aus Paris und Washington - macht verständlich, dass die österreichische Hoffnung, von Deutschland in Assoziierungsangelegenheiten bei De Gaulle oder in den USA unmittelbar unterstützt zu werden, unberechtigt sein musste. Die von Kreisky so bezeichnete „freundschaftliche Verbundenheit" führte maximal zu einer rhetorischen Unterstützung der österreichischen Anliegen in Ratssitzungen des EWG-Ministerrates. Dieser „Spagat" zwischen Washington und Paris, den die deutsche Außenpolitik zunehmend zu bewältigen hatte, wurde kurze Zeit nach dem Veto De Gaulles gegen den Beitritt Großbritanniens besonders virulent: Karl Carstens - damals noch Staatssekretär im bundesdeutschen Außenministerium - fand in einem geheimen internen Strategiepapier Ende Jänner 1963 unmissverständliche Worte in Richtung Frankreich: De Gaulle habe „eine schwere Krise innerhalb der westlichen Staatenwelt" ausgelöst; der „Gegensatz zwischen Frankreich und seinen übrigen EWG-Partnern" lähme „den Fortschritt in der EWG". Die größte Befürchtung der Bundesrepublik Deutschland müsse sein, von der feindseligen Haltung De Gaulles gegenüber Großbritannien und den USA „in Geiselhaft" genommen zu werden: „Es droht die Gefahr, daß die Amerikaner eine gegen die EWG und insbesondere gegen die Bundesrepublik gerichtete Haltung einnehmen". Dieses Carstens-Dossier verdeutlicht den geringen Aktionsradius der bundesdeutschen Außenpolitik im Schatten der globalen Interessenpolitik De Gaulles, andererseits wurde durch den „Schock" des Vetos aber auch eine „innerliche" Loslösung von der unbedingten Anbindung an die „Pariser Achse" in Gang gesetzt. Die bundesdeutsche Außenpolitik geriet somit in Zugzwang und musste ihre Standpunkte gegenüber den USA ins rechte Licht rücken, um einen außenpolitischen Kollateralschaden, der als Folge des De Gaulle'schen Vetos unvermeidlich schien, zu verhindern. Indes wurden von bundesdeutscher Seite gerade nach dem De Gaulle-Veto die Reaktionen der einzelnen EFTA-Staaten genau beobachtet. In einem internen Schreiben des Bundeswirtschaftsministeriums vom 20. Februar 1963 ist zu lesen, in Deutschland und auch in der EWG sehe man wegen des österreichischen Alleinganges „Auflösungstendenzen innerhalb der EFTA"; gerade dies sei „der Grund, warum Frankreich dem österreichischen Alleingang" zustimme. Die „Frontstellung" innerhalb der EWG bezüglich Österreich sei „Frankreich und die BRD einerseits, Benelux und Italien plötzlich der Kanzler und der General so etwas wie ,alte Herren' geworden zu sein. Könnten nicht die deutsch-amerikanischen Beziehungen Deutschland viel mehr bringen? " 31 Jacques BARIETY, Die Rolle der persönlichen Beziehungen zwischen Bundeskanzler Adenauer und General de Gaulle für die deutsch-französische Politik zwischen 1958 und 1963, in: Adenauer und Frankreich. Die deutsch-französischen Beziehungen 1958 bis 1969, Bonn 1990, S. 12 ff., hier: S. 25.

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andererseits". Der Sowjetunion könne dies „gar nicht so unrecht" sein: Sie hätte durch den „Fall Österreich einen neuen Konflikt unter den Ländern der EWG - was vielleicht ein reizvoller Aspekt sein mag" 32 . In der BRD wurden auch die Positionen der anderen EWG-Mitgliedstaaten zum Thema Österreich-Assoziierung laufend eingeschätzt. In einem Papier des Bundeswirtschaftsministeriums aus dem April 1963 heißt es: „Holland: am negativsten, weil nicht gegen Österreich, sondern für die EFTA. Österreich gefährde die EFTA mit seinen Alleingängen. Die Verhandlungen sollten auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Belgien: etwas weniger negativ, aber auch nicht sehr wohlgesinnt. Luxemburg: schwer zu durchschauen. Italien: daß es wegen Südtirol negative Einstellung zeigen wird, scheint sich nicht zu bestätigen. Frankreich: keine Voraussage möglich. Ursprünglich positiv, aus Animosität gegen die EFTA, später negativ, weil Präzedenzfall, Abneigung gegen die Verstärkung des deutschen Elements in der EWG. Deutschland: Unsere eigene Haltung ist so positiv wie möglich. Die wirtschaftlichen Gründe sind überwältigend. Auch politisch können wir uns keine Absage leisten, obwohl wir den Schaden, der der EFTA damit entstehen kann, bedauern (das Auswärtige Amt bedauert dies übrigens nicht). Ein Mandat der Kommission zu exploratorischen Gesprächen wird wegen der Haltung der Benelux-Partner das Maximum sein, das sich durchsetzen läßt"33.

3. Ludwig Erhard wird Bundeskanzler und verfolgt eine von Paris unabhängige Österreich-Politik Wie oben dargestellt, war es kurz nach der Gründung der EWG vor allem Ludwig Erhard, der die Wünsche Österreichs nach einem Brückenschlag zum „Gemeinsamen Markt" besonders unterstützt hatte, während sich Konrad Adenauer wesentlich reservierter verhielt, da er die europäische Integration und die EWG vor allem als politisches Mittel zum Zweck des deutsch-französischen Ausgleiches und weniger als „Wirtschaftsgemeinschaft" im engeren Sinne betrachtete. Am 16. Oktober 1963 wählte der deutsche Bundestag Erhard nach dem Rücktritt Adenauers zu dessen Nachfolger. Somit kam es im deutschen Bundeskanzleramt auch in der Österreichfrage zu einer spürbaren Trendwende: Schon bei seinem ersten Auftritt vor der Presse meinte Er32

Internes Scheiben des bundesdeutschen Wirtschaftsministeriums vom 20. Februar 1963. DBA (Anm. 22), Bestand Bundesministerium für Wirtschaft/Referat EA 3. 33 Sprechzettel für die Ratssitzung am 1./2. April 1963. Bonn, 29. März 1963. DBA (Anm. 22), Bestand Bundesministerium für Wirtschaft/Referat EA 3 - 910.383.

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hard, dass man Österreich bezüglich seiner EFTA-Mitgliedschafit Jetzt nicht vor die Wahl stellen" dürfe34. Damit stellte er sich explizit gegen die französische Linie, die eine gleichzeitige Zugehörigkeit zu zwei Präferenzsystemen als völlig ausgeschlossen betrachtete. Ein Positionspapier des Bundeswirtschaftsministeriums präzisierte: „Wir sehen im Gegenteil in einer doppelten Zugehörigkeit Österreichs eine Verklammerung der beiden regionalen Organisationen EWG und EFTA, die in einer sinnfälligen Weise einen .Brückenschlag' darstellt, der auch für eine Assoziierung anderer EFTA-Länder beispielhaft werden kann. Ob wir uns mit unserer Ansicht durchsetzen können, ist freilich nicht sicher. [...] Österreich würde bei Verlassen der EFTA interessante Handelschancen vertun. [...] Wir sind der Meinung, daß die gleichzeitige Zugehörigkeit zu einer FHZ (EFTA) und einer Zollunion (Assoziierung mit EWG) nicht nur rechtlich zulässig ist, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll und praktisch durchführbar ist. Auf dem EFTA-Markt mit EFTALändem, auf dem EWG-Markt mit EWG-Ländern zu konkurrieren bringt Vorteile für Österreich. [...] Eine Assoziierung wäre wirtschaftlich für Deutschland sehr wichtig, während der Handel Österreich-Frankreich unbedeutend ist. Eine Assoziierung und EFTA, das ist ein Präzedenzfall zum Guten, denkt man an das deutsche Ziel eines erweiterten Europa" 35 .

Bundeskanzler Erhard legte auf Staatsbesuchen stets sein bekanntes EuropaKonzept dar: Er sei „zutiefst überzeugt", dass Europa „über EWG und EFTA hinweg" geeint werden müsse 36 . Den Europakonzepten De Gaulles widersprach er offen: „Wir betrachten Großbritannien als einen Teil Europas, unabhängig von seinen Commonwealthbindungen und wir nehmen nicht an, dass Europa in sich selbst eine dritte Macht werden könnte" 37 .

4. 1968-1972: Die Bundesrepublik gibt Rücksichtnahme auf Frankreich auf Nach 1968, als eine bilaterale Österreich-Lösung auch wegen des italienischen Vetos infolge der Terroranschläge in Südtirol immer unwahrscheinlicher wurde, ebbte auch die offene Unterstützung aus Deutschland merklich ab. Statt dessen intensivierte die deutsche Außenpolitik ihre Bemühungen, Frankreich zu einer Änderung seiner starren Haltung in der Frage des britischen Beitrittes zu bewegen: Man stellte sich nicht einmal mehr rhetorisch hinter De Gaulle, sondern versuchte, eine aktive Vermittlerrolle einzuneh34

Kreisky an Gorbach vom 8. Januar 1964. Kreisky-Archiv, Box E(W)G-EFTA. Internes Scheiben des bundesdeutschen Wirtschaftsministeriums vom 20. Februar 1963. DBA (Anm. 22), Bestand Bundesministerium für Wirtschaft/Referat EA 3. 36 Tschöp (Kopenhagen) an Kreisky vom 14. Juli 1964, Bundeskanzler Dr. Erhard - offizieller Besuch in Dänemark - 8. und 9. Juni 1964 - Tischrede - Gedanken über Europa, ZI. 21 l-Res./64. 37 Ebd. 35

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men, wobei eine solche innenpolitisch nicht unumstritten war. Während es Kurt Georg Kiesinger, CDU-Bundeskanzler der Großen Koalition seit 1966, ablehnte, in einer „aktiven Front der Fünf gegen Frankreich mitzuwirken", wandte sich SPD-Außenminister Willi Brandt demonstrativ gegen die bisherige Rücksichtnahme auf Frankreich: Die EWG werde „von einer Stagnation bedroht, wenn es nicht zu Englandverhandlungen" komme. Er werde daher „alles daran setzen", dass eine Einigung stattfinden werde 38 . Brandt wies auch, ohne Österreich zu nennen, darauf hin, dass die USA „Präferenzabkommen, die keinen politischen Integrationseffekt in Richtung EG-Erweiterung" hätten, weiterhin „grundsätzlich ablehnen" würden und dass er diesen Standpunkt verstehe: Handelsarrangements der EWG sollten daher „eine deutliche Verbindung mit der Erweiterung der Gemeinschaften aufweisen, und zwar in Form entweder eines Zeitplans über mehrere Jahre oder eines festen Termins" 39 . Schon davor hatte sich eine Achse zwischen Brandt und seinem Amtskollegen der britischen Labour-Regierung, George Brown, gebildet. Brown, überzeugter EWG-Befürworter, soll im Vorfeld des zweiten Beitrittsansuchens im Jahr 1967 zu Brandt gesagt haben: „Willy, let us in and we will take the lead" 40 . Für Österreich bedeutete dies ein Abwarten: Zuerst musste die „britische Frage" gelöst werden, ehe man fiir sich selbst ein maßgeschneidertes EWG-Arrangement erwarten konnte.

III. Frankreich - Europapolitische Persönlichkeitsspaltung, personifiziert in De Gaulle 41 Die französische Europapolitik war von Beginn an von mehrschichtigen, teilweise einander widersprechenden Interessen geprägt. Wenn schon der hohe Preis der Abgabe von Souveränitätsrechten an eine supranationale Gemeinschaft wie die EWG bezahlt werden musste, dann sollte dafür ein Kemeuropa unter französischer Führung bei möglichst weitgehender Einbindung 38

NZZ vom 18. Dezember 1968. B M f A A (Anm. 17) an Botschaften Paris, Rom, Den Haag, Bonn, Luxemburg, Brüssel, Genf vom 21. November 1968, Weitere britische Reaktionen zur Integrationsfrage und zum kommenden EFTA-Ministerrat in Wien, fs 25.120 (908-res/68). ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 836, Mp. 58. 40 Wolfram KAISER, Culturally Embedded and Path-Dependent: Peripheral Alternatives to ECSC/EEC „core Europe" since 1945, in: Zeitschrift für Geschichte der Europäischen Integration 7/2 (2001), S. 11-36, hier: S. 15. 41 Obwohl es immer unexakt und fragwürdig ist, einen Staat mit einer Person gleichzusetzen, ist dies zumindest in außenpolitischer Hinsicht fur Frankreich während der Präsidentschaft De Gaulles wohl zulässig. So auch Birgitt HALLER und Anton PELINKA, Charles De Gaulle und die österreichische Europapolitik, in: De Gaulles europäische Größe. Analysen aus Österreich, hrsg. von Klaus Eisterer und Oliver Rathkolb, Wien/Salzburg 1991, S. 7 7 - 8 4 , hier: S. 79. 39

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Deutschlands entstehen. Eine Neutralisierung des Gemeinsamen Marktes durch eine Erweiterung um die neutralen Staaten einerseits und eine verstärkte Einflussnahme der USA durch einen Beitritt Großbritanniens - der aus der Sicht De Gaulles dem „Hineinlassen eines trojanischen Pferdes" gleichgekommen wäre 42 - andererseits konnte somit a priori nicht mit den strategischen Interessen Frankreichs konform gehen 43 . Ein größeres Europa hätte eine Gefährdung der Hegemonialstellung Frankreichs und dessen Möglichkeit zur „Umklammerung" Deutschlands zur Folge gehabt. Gleichzeitig aber konnte die Vision eines von Frankreich geprägten und auch militärisch von den USA emanzipierten 44 „Europa vom Atlantik zu Ural" 45 langfristig nur unter Einbindung auch der „Non-Six" (also der EFTAStaaten) erreicht werden 46 : De Gaulle war davon überzeugt, dass am Ende des „Kalten Krieges" wieder die geografische Konstellation Amerika-EuropaAsien in den Vordergrund treten werde. Für ihn war die EWG kein Instrument des „Kalten Krieges", sondern die Lösung der „deutschen Frage", die wiederum ein wesentliches nationales Interesse Frankreichs war, sowie ein Vehikel, um Frankreichs Gewicht in der Weltpolitik zu erhöhen 47 . Insbesondere glaubte De Gaulle nicht an eine fortdauernde Kraft der Ideologien: Diese waren für ihn nur eine „zeitweilige Überdeckung der bleibenden nationalen Interessen"48. Dieser Zwiespalt - mittelfristige Ablehnung einer Erweiterung des Gemeinsamen Marktes und gleichzeitige Großeuropa-Visionen - spaltete 42

Britain and the Common Market: Narrowing the Gap (Working Paper C-2), Lo Spettatore Internazionale Η 4 - 5 (1966), S. 18 ff. 43 Vgl. aus der Sicht der ehemaligen DDR Jochen DANKERT, Die Außenpolitik Frankreichs. V. Republik, Berlin (Ost) 1989, S. 46 ff.: In der kommunistischen Geschichtsschreibung war das Verhalten De Gaulles nichts anderes als ein Versuch, nicht über den „NATOMechanismus in militärische Konflikte der USA hineingezogen zu werden". 44 Frank COSTIGLIOLA, France and the United States, The Cold Alliance since Wold War II, New York/Don Mills 1992, S. 120. 45 Zu den Europakonzepten De Gaulles siehe besonders ausfuhrlich Hans-Dieter LUCAS, Europa vom Atlantik bis zum Ural? Europapolitik und Europadenken im Frankreich der Ära de Gaulle (1958-1969), Bonn/Berlin 1992, S. 81 ff. Lucas periodisiert die Europapolitik Frankreichs nach 1958 wie folgt: 1958-1962: Dekolonisierung und Kalter Krieg; 1962-1964: Zwischen europäischem und atlantischem Europa; 1965-1968: „Europa vom Atlantik zum Ural". 46 Dazu m. w. N. Gabriele BRENKE, Europakonzeptionen im Widerstreit. Die Freihandelszonen-Verhandlungen 1956-1958, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 595-633, hier: S. 622 f. 47 Wolfram KAISER, Using Europe, Abusing the Europeans. Britain and the European Integration, 1945-1963, ICBH in association with the Institute of Contemporary British History, 1996, S. 211; Kaiser konstruiert interessanterweise eine „Interessenidentität" von De Gaulle und Macmillan: Ersterer hätte die Vision einer Führerschaft der grande nation, der andere die Rolle Großbritanniens als Weltmacht zu sichern gehabt. Der Unterschied sei nur gewesen, dass die französischen Interessen im Gegensatz zu den britischen in der EWG bestens gesichert gewesen seien und dass die Verbindung Deutschland-Frankreich für De Gaulle nur dazu gedient habe, seine europäischen Interessen zu erreichen. 48 Bernhard BUSSMANN, Wege nach Gesamteuropa. Dokumentation der Beziehungen zwischen West- und Osteuropa 1943-1965, Köln 1966, S. 98 f. m. w. N.

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nicht nur Frankreich, sondern auch De Gaulle und dessen Europakonzeptionen 49 . Bald war zwar absehbar, dass De Gaulle die Römischen Verträge zwar nicht aufkündigen, aber als Symbolfigur des „Europa der Vaterländer" den Bilateralismus auf Regierungsebene jeder Form der multilateralen Annäherung den Vorzug geben würde und dass eigentlich schon mit seiner Amtsübernahme im Frühsommer 1958 und dem Inkrafttreten der Verfassung der V. Republik, die den Präsidenten mit enormen Vollmachten ausgestattet hatte, das Projekt der „großen Freihandelszone" endgültig gescheitert sein musste: Obwohl nach außen von offizieller französischer Seite zunächst eine anderslautende Rhetorik gegenüber der „großen Freihandelszone" gepflegt wurde, war die negative Grundhaltung unübersehbar 50 . 1. Auswirkungen des De Gaulle'schen Europakonzeptes auf Österreich Auf Österreich sollte sich diese „europapolitische Persönlichkeitsspaltung" De Gaulies vorerst nachteilig auswirken. Nicht nur der von Kreisky und auch Raab verfolgte multilaterale Ansatz war seit der Regierungsübernahme des Generals mittelfristig zum Wunschtraum geworden: Selbst hinsichtlich einer bilateralen EWG-Anbindung Österreichs - Frankreich hatte den Bilateralismus Drittstaaten gegenüber sogar zu seiner europapolitischen Doktrin erklärt 51 - schlugen in der Brust des französischen Präsidenten zwei Herzen: Einerseits war ihm der Gedanke, dass auf diese Weise eine Art „Ersatzanschluss" verwirklicht würde, zutiefst zuwider 52 , andererseits musste eine Lösung der „deutschen Frage" im Rahmen der europäischen Integration zwangsläufig auch Österreich mit einschließen. Die auch von Ludwig Erhard angestrebte „große Freihandelszone" war nicht nur für De Gaulle inakzeptabel, sondern stieß in Frankreich insgesamt auf eine breite Ablehnung. Im Laufe der Verhandlungen wuchs einerseits der Widerstand der französischen Industrie und der Bauernverbände, andererseits wollte man, so sie zustande kommen würde, der „großen Freihandelszone", ebenso wie dies bei der EWG geschehen war, einen starken politischen Inhalt Zu D e Gaulles Europakonzeptionen vgl. illustrierend etwa Willy BRANDT, Erinnerungen, Frankfurt a. M . 1990, insb. S. 2 4 2 ff.; Heinz K U B Y , Provokation Europa - Die Bedingungen seines politischen Überlebens, Köln/Berlin 1965, S. 3 6 7 ff.; Giuseppe M A M M A RELLA, Europa - Stati Uniti, un'anlleanza difficile 1 9 4 5 - 1 9 8 5 , Firenze 1996, S. 192 ff. 50 Rotter (Paris) an Figl, Bericht ZI. 3 7 - p o l / 5 8 , 2 3 . 9 . 1 9 5 8 . Ö S t A , AdR, B K A / B M f A A ( A n m . I 7 ) , I l - p o l , ZI. 5 5 4 . 6 9 5 - p o l / 5 8 , GZI. 5 4 7 . 4 9 l - p o l / 5 8 . 51 „ D i e Presse" v o m 26. N o v e m b e r 1959, die entsprechende A u s s a g e n des französischen Finanzministers Antoine Pinay wiedergibt. 52 Im Detail Thomas ANGERER, Frankreich und die Österreichfrage - Historische Grundlagen und Leitlinien 1 9 4 5 - 1 9 5 5 , Wien 1996, S. 345 ff.; s o auch Kolb (Brüssel) an Figl v o m 21. Januar 1959, ZI. l l - p o l / 5 9 . ÖStA, AdR, B K A / B M f A A ( A n m . 1 7 ) , ZI. 2 3 6 . 8 3 8 - p o l / 5 8 , GZI. 2 3 6 . 0 7 l - p o l / 5 9 . 49

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geben: Nahm man bei Gründung der „Sechsergemeinschafit" den Wegfall der Zölle um den Preis politischer Vorteile noch in Kauf, so erwartete man sich diese nun auch bei der Freihandelszone. Diese müsse, so Olivier Wormser zum österreichischen Botschafter, über wirtschaftliche Aspekte hinausgehend einen „Baustein zur Schaffung Europas" darstellen. Wenn England erkläre, der Commonwealth sei ihm wichtiger, dann könne „man nicht optimistisch sein" 53 . Die Linie Bruno Kreiskys - der nicht nur an der Entstehung der EFTA maßgeblich mitgewirkt hatte, sondern auch dafür mitverantwortlich war, dass die EFTA in ihrer Präambel den von De Gaulle energisch abgelehnten „Brückenschlag" zu einem ihrer Hauptziele erklärt hatte - musste dem französischen Präsidenten besonders missfallen. De Gaulle betrachtete die EFTA freilich nicht nur skeptisch, sondern vor allem als eine Art „feindseliges Gebilde", waren in ihr doch die Briten tonangebend. Zuweilen setzte er Großbritannien mit der kleinen Freihandelszone gleich. Als Kreisky von einem London-Besuch nach Paris kam, soll De Gaulle zu ihm gesagt haben: „Ja, was glauben Sie denn eigentlich? Was haben denn Sie mit England gemeinsam? Sie haben da die EFTA, oder wie das heißt, errichtet, was soll das für Österreich, das so weit weg liegt, bedeuten" 54 ? De Gaulle hat Kreisky sogar vorgehalten, schuld daran zu sein, dass Österreich bei der EFTA sei, obwohl die „Danubiens" mit den „Inselbewohnern" nichts gemeinsam hätten; dieser entgegnete, Österreich müsse sich „um ein Mutterschiff [Großbritannien] herumgruppieren" 55 . Das Verhältnis Kreisky - De Gaulle war dennoch von großem gegenseitigem Respekt geprägt, wie unten zu zeigen sein wird. 2. „Mais, M. Fanfani, l'Autriche c'est l'Europe": Zuerst für eine Assoziierung Österreichs Die Haltung De Gaulles zu den österreichischen EWG-Ambitionen war, wie bereits angesprochen, durchaus ambivalent: Einerseits musste eine Einbindung Österreichs in den Gemeinsamen Markt seinem Konzept, dass Europa eines Tages „vom Atlantik bis zum Ural" reichen solle, entsprechen 56 und die auf Selbständigkeit pochenden Neutralen konnten zudem - nach Einschätzung von Botschafter Ernst Lemberger - „eigentlich Alliierte im Kampf gegen die 53

Vollgruber (Paris) an Figl vom 9. Oktober 1957, Gespräch mit O. Wormser über die Freihandelszone, ZI. 46-pol/57. ÖStA, AdR, BKA/BMfAA (Anm. 17). 54 Zitiert nach Michel GUERIN, in: De Gaulles europäische Größe (Anm. 41), S. 61. 55 Bruno KREISKY, Im Strom der Politik - Erfahrungen eines Europäers. Der Memorien zweiter Teil, Wien 1988, S. 186 f. 56 In diesem Sinne äußerte der Generaldirektor fur Wirtschaftsfragen im Quai d'Orsay, Olivier Wormser, im März 1963: Frankreich befürworte die Assoziierung „kontinentaleuropäischer Staaten". Vgl. Rolf STEINtNGER, Österreichs „Alleingang" nach Brüssel, in: Die Neutralen und die Europäische Integration 1945-1995, hrsg. von Michael Gehler und Rolf Steininger, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 577 ff., hier: S. 585 f. m. w. N.

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Ausdehnung der Supranationalität" sein 57 . Das österreichische Neutralitätskonzept ging dementsprechend mit De Gaulies Vorstellungen von einem von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion unabhängigen Europa als „dritte Kraft" in der Weltpolitik konform, und die österreichischen Wünsche, im Fall einer Assoziierung in den zu schaffenden Institutionen nach dem Einstimmigkeitsprinzip vorzugehen, mussten ihm, der die Mehrheitsentscheidungen (deren Einfuhrung damals von sämtlichen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Frankreich gefordert wurde) und der die Supranationalität des Europarechtes aus tiefster Überzeugung ablehnte, eigentlich aus der Seele sprechen. Weniger sympathisch war De Gaulle der Gedanke, dass der „deutsche Block" im Gemeinsamen Markt bei einer Anbindung Österreichs gestärkt würde; vor allem aber wollte er wegen Österreich keinen Konflikt mit der Sowjetunion riskieren, da er der Auffassung war, dass es früher oder später zu einem „Ausgleich" zwischen „seinem" Europa mit dieser kommen werde. Ein ambivalentes Verhältnis hatte De Gaulle im Übrigen auch zum (starken) Kommissionspräsidenten Walter Hallstein: De Gaulle verfolgte die Strategie der Bildung eines Kerneuropa unter Ausschluss Großbritanniens vor allem deswegen, um Deutschland enger an dieses Kerneuropa - und damit enger an Frankreich - zu binden. Darin fand er in Hallstein zwar einen wichtigen strategischen Verbündeten. Andererseits war De Gaulle, der immer von einem „Europa der Vaterländer" 58 gesprochen hatte, gerade das von Hallstein von Beginn an unterstützte, ja durch ihn personifizierte Prinzip der Supranationalität suspekt. Er wollte keine „überstaatliche" Gemeinschaft - und trotzdem sprach er sich unmissverständlich für den Beschleunigungsplan Hallsteins aus 59 . Wie bereits betont, waren für De Gaulle einerseits eine Stärkung Deutschlands, eine aus seiner Sicht unnötige Provokation der Sowjetunion und eine Neutralisierung der EWG unerwünscht, andererseits war Österreich geradezu ein Kernland Europas und Brücke für sein „Europa der Vaterländer" 60 . Insofern „verteidigte" er gegenüber anderen EWG-Mitgliedstaaten zuweilen das österreichische Assoziierungsanliegen. Bei einer Zusammenkunft mit dem italienischen Außenminister Fanfani im April 1962 in Turin hat der General seinen Gesprächspartner einer Art „Prüfung" unterzogen: De Gaulle fragte nach der italienischen Einstellung zu einer Assoziierung Spaniens, 57 Lemberger (EWG/Brüssel) an Kreisky, Wendung in der Assoziationspolitk der EWG?. ZI. 17 Res./62. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 832, Mp. 27. 58 Zum Begriff differenzierend Ignaz SEIDL-HOHENVELDERN, De Gaulle, die europäische Integration und Österreich, in: De Gaulles europäische Größe (Anm. 41), S. 70 ff. 59 Schwarzenberg (London) an Kreisky vom II. April 1960. ÖStA, AdR, BKA/BMFAA (Anm. 17), Wpol., ZI. 21-pol/60, ZI. 76.133-pol/60, GZ1. 70.737-pol/60. 50 Vgl. etwa Pressekonferenz De Gaulle vom 15. Mai 1962, auf der er sich für ein „Europa der Staaten" und nicht der „Mythen und Fiktionen" aussprach. Abgedruckt in Jürgen SCHWARZ, Der Aufbau Europas - Pläne und Dokumente 1945-1980, Bonn 1989, S. 381 ff. Aus Prostest traten am nächsten Tag fünf französische Minister zurück.

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worauf er eine mit italienischen Exportinteressen (Oliven, Orangen) begründete negative Antwort erhielt. Als er sodann auf das Thema Österreich zu sprechen kam und Fanfanis Antwort „nicht sehr freundlich" ausfiel, replizierte er mit großem Nachdruck: „Mais, M. Fanfani, l'Autriche c'est l'Europe!" 61 In diesem Zusammenhang sei ein Ausspruch von De Gaulle angeführt, der zu Kreisky - als dieser ihm erzählte, dass die Sowjetunion aufgrund Art. 4 des Staatsvertrages [Anschlussverbot, Anm. d Autors] niemals ein Naheverhältnis Österreichs zur EWG akzeptieren würde - gesagt haben soll: „Wir [Frankreich, Anm. d. Autors] sind ja dabei [bei der EWG, Anm. d. Autors], was soll denn passieren? Sagen Sie das Chruschtschow, daß ich Ihnen gesagt habe, wir meinen ein Deutschland nach dem Status quo, so wie es heute ist, also kein großes Deutschland"62. Diese Betonung der Führungsrolle Frankreichs innerhalb der EWG hatte schon Jahre davor der österreichische Botschafter in Moskau, Franz Karasek, vorgeschlagen, um Bedenken zu zerstreuen, der „deutsche Block" würde durch eine Assoziierung Österreichs an die EWG die Übermacht bekommen 63 . Karasek betonte diesen Punkt auch drei Jahre später, im Jahr 1965, bei einem Treffen De Gaulies mit Bundeskanzler Josef Klaus: Er habe in Moskau den Eindruck gewonnen, dass die Sowjets zu dem Zeitpunkt den Gemeinsamen Markt zu fürchten aufgehört hätten, zu dem De Gaulle sein Veto gegen einen britischen Beitritt ausgesprochen habe 64 . Wenige Monate vor seinem Veto gegen weitere Verhandlungen mit Großbritannien äußerte De Gaulle anlässlich eines Staatsbesuches65 von Gorbach und Kreisky in Paris Ende Juni 1962 seine „Enttäuschung" darüber, dass Österreich noch keine konkreten Pläne für eine EWG-Assoziierung entwickelt habe. Kreisky dürfte diese „vorgeschobene" Enttäuschung als solche erkannt haben und stellte - zur leichten Verärgerung De Gaulles - klar, dass die Assoziierung Österreichs „in Zusammenhang mit dem britischen Beitritt gesehen werden" müsse. Die von Kreisky ebenso betonte Notwendigkeit, dass die Neutralen koordiniert vorgehen müssten, akzeptierte De Gaulle allerdings, er sprach sogar davon, dass die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EWG „nicht unbedingte Voraussetzung für Arrangements der Neutralen mit

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Fuchs (Paris) an Kreisky vom 18. April 1962, Streiflichter zur Zusammenkunft zwischen De Gaulle und Fanfani vom 5. April 1962, ZI. 24-pol/62. ÖlfZG (Anm.26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 52. Auf die italienische Gegenfrage, was denn Deutschland sei, antwortete De Gaulle: „L'Allemagne, c'est notre tache de la contraindre de faire partie de l'Europe. L'Allemagne sans la Prusse ce n'est rien, que serait l'Italie sans la Lombardie"? 62 Zitiert nach Michel GUERIN, in: De Gaulles europäische Größe (Anm. 41), S. 59 f. 63 Schreiben Hartmann an Gorbach vom 30. Oktober 1961. Archiv Karl von VogelsangInstitut (KvVI), Box EWG-EFTA. 64 Josef KLAUS, Macht und Ohnmacht in Österreich - Konfrontationen und Versuche. Wien/München/Zürich 1971, S. 381. 65 Der Staatsbesuch war die dritte Station einer „Goodwill-Tour" in die vier Unterzeichnerstaaten des Staatsvertrages, Anm. d. Autors.

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der EWG" sei 66 . Kreisky meinte zu Journalisten, man habe „das Maximum an Konzessionen" erreicht. In den Zeitungen wurde dieser Erfolg entsprechend „gefeiert". Die konservative österreichische Tageszeitung „Die Presse" glaubte in ihrer Schlagzeile sogar an einen Durchbruch: „De Gaulle: Weg zur EWG ist frei. Verhandlungserfolg Gorbachs und Kreiskys - Paris unterstützt Österreichs Assoziierung" 67 . An der positiven Einschätzung des Paris-Besuches wurden aber bald erste Zweifel laut. Wenige Tage nach dem Staatsbesuch meinte Ludwig Erhard - zu diesem Zeitpunkt noch Wirtschaftsminister - inoffiziell zur österreichischen Botschaft in Bonn, den österreichischen Optimismus, De Gaulle werde das österreichische Assoziierungsgesuch unterstützen, teile er nicht: Er habe in Brüssel von französischer Seite bisher „kein solches Entgegenkommen feststellen" können 68 . Schon zuvor, im April 1962, war dem österreichischen Botschafter Martin Fuchs bei seinem Antrittsbesuch im Quai d'Orsay äußerste Zurückhaltung entgegengebracht worden: Der Wunsch der Neutralen, ihre Assoziierungsanliegen noch im Sommer dem Ministerrat vortragen zu können, werde „wohl kaum erfüllt werden"; die Verhandlungen mit England würden, so Couve De Murville, „die ganze weitere Entwicklung des Gemeinsamen Marktes in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht entscheidend beeinflussen" und würden daher „wesentlich länger dauern als allgemein angenommen" 69 . 3. Das Veto De Gaulies: Tatsächlich ein geeigneter „Startschuss" für den österreichischen Alleingang? In Österreich wurde das Veto De Gaulles 70 insbesondere von Handelsminister Fritz Bock, der damit auf heftigen Widerstand Kreiskys stieß, als Startschuss für einen Alleingang unabhängig von den übrigen Neutralen gesehen. Von Botschafter Martin Fuchs kamen aus Paris zunächst nur wenig ermuti66

M A Y R Z E D T / H U M M E R ( A n m . 1 9 ) , S . 3 5 7 f.

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„Die Presse" vom 27. Juni 1962; in einem Kommentar heißt es: „Frankreich wird Österreichs Assoziierung zur EWG nicht nur keine Hindernisse in den Weg legen, sondern sie vielmehr fördern; es wird dafür eintreten, daß man dabei die durch den neutralen Status gezogenen Grenzen akzeptiere; kein Entgegenkommen wird indes beim höchst konkreten Gespräch über wirtschaftliche Details der Assoziierung zu erwarten sein. Elastisch-zuvorkommend im Politischen, harter Partner im Wirtschaftlichen: das ist Paris nach dem Gorbach-Besuch". Vgl. etwa auch die „Wiener Zeitung" vom 27. Juni 1962: Volles Verständnis für Österreich. 68 Schöner (Bonn) an Kreisky vom 7. Juli 1962, Bundesminister Prof. Erhard/Besuch Dean Rusks in Bonn, zu Bericht ZI. 30-pol/62 vom 26. Juni 1962. ÖStA, AdR, BMfAA (Anm. 17), GZ 63.724-4/62. 69 Vgl. zur französischen Sicht der Großbritannien-Frage auch dessen Memorien: Couve DE MURVILLE, U n e Politique Etrangere 1 9 5 8 - 1 9 6 9 , o.O. 1971, S. 3 8 5 ff. 70

Eine Zusammenstellung der „Verzögerungen" des Integrationsprozesses durch De Gaulle bietet Walter LLPGENS, Europäische Integration, Stuttgart 1983, Rn. 95 ff.

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gende Berichte. Ende Jänner 1963 schreibt er in einem privaten Brief an Bundeskanzler Gorbach: „Für sehr ernst halte ich [...] hingegen gewisse, von irrigen Voraussetzungen ausgehende Überlegungen und Schlußfolgerungen, die von politischen und wirtschaftlichen Kreisen in Österreich an die durch die bekannte Stellungnahme de Gaulies ausgelöste schwere Krise der Brüsseler Verhandlungen mit England geknüpft werden. Nach Ansicht dieser Kreise, deren guten Glauben ich nicht bezweifle, würde es genügen, daß wir uns - nach einem Wechsel im Außenministerium - schleunigst von der EFTA absetzen, uns von den beiden anderen Neutralen distanzieren, das erste Flugzeug nach Paris besteigen und uns De Gaulle reumütig an die Brust werfen, damit sich uns in Brüssel alle Tore weit öffnen. Nun, ganz so einfach sind die Dinge - leider - nicht" 71 .

Fuchs begründete seine Skepsis damit, dass Frankreich allein zwar Vetos aussprechen, aber nicht allein alle Türen öffnen könne. De Gaulle gehe von der Voraussetzung „wer oder was Europäer ist, bestimme ich" aus [sie!], aber es sei zweifelhaft, ob ihm diesbezüglich Italien und die Beneluxländer, ja sogar Deutschland folgen würden. Frankreich sei in Wirklichkeit isoliert, die Achse Paris-Bonn ernte in Moskau, Washington, Rom und Den Haag nur Missfallen. Österreich dürfe in einer solchen Situation „keine einseitige oder gar exklusive Politik betreiben". Wer behaupte, man habe den Zug verpasst, weil man auf England zu sehr Rücksicht genommen habe, der wolle „in einen Zug einsteigen, der ins Ungewisse oder gar in die falsche Richtung fahre" 72 . 4. Geheimgespräche Paris-Moskau über die Österreich-Frage? 1964/65 wurden die französischen Äußerungen zur Österreich-Frage immer zurückhaltender73. War dies ein erstes Zeichen für eine Änderung der Linie Frankreichs, statt einer Unterstützung Österreichs künftig mehr auf die Moskauer Vorbehalte Rücksicht zu nehmen? Die parallele sowjetisch-französische Interessenlage, einen starken „deutschen Block" innerhalb der EWG möglichst zu verhindern, ließen in Wien immer wieder Mutmaßungen aufkommen, diesbezüglich würden sogar Geheimgespräche zwischen Paris und Moskau gefuhrt. Bundeskanzler Klaus stellte beim Staatsbesuch von De Murville74 im Mai 1965 in Wien daher mehr oder weniger offen diese Frage. 71

Fuchs (Paris) an Gorbach privat vom 28. Januar 1963. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 841, Mp. 103. 72 Ebd. 73 Unterredung zwischen Außenminister Dr. Fritz Bock und Außenminister Couve de Murville am 30. Januar 1965, ZI. 25-Res./65. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 52. 74 Zwei Wochen davor hatte der französische Außenminister anlässlich einer Rede zum zehnten Jahrestag der Staatsvertragsunterzeichnung Österreich bemerkenswert als „das erste Opfer einer verbrecherischen Angriffspolitik" Hitlers [sie!] bezeichnet. Vgl. die Rede des französischen Außenministers M. Couve de Murville anlässlich der zehnten Wiederkehr

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Der französische Außenminister wies zwar darauf hin, dass er selbst sich hüte, diese Frage gegenüber seinem sowjetischen Kollegen anzuschneiden, „um nicht den Eindruck zu erwecken, daß Frankreich in dieser Beziehung Bedenken" hege, glaube aber, dass „die Sowjetunion es im Falle des Zustandekommens eines vernünftigen Arrangements wahrscheinlich doch bei einem Protest bewenden lassen" würde (De Murville wies den Übersetzer eigens an, das Wort „vernünftig" in das Protokoll aufzunehmen). Klaus seinerseits beeilte sich hinzufügen, Österreich wolle es in Hinblick auf sowjetische Ressentiments verhindern, dass „Bonn in Brüssel als Anwalt österreichischer Interessen" auftrete; eine Unterstützung Frankreichs wäre zweifellos dienlicher 75 . Im unmittelbaren Vorfeld der Assoziierungsverhandlungen versüßte sich der österreichische Ton bei Staatsbesuchen in Paris dann wieder zusehends. Man identifizierte sich offen mit den politischen Zielen und Europavorstellungen De Gaulies, und auch die „Sonderfallkarte" wurde wieder vermehrt gezogen. Bundeskanzler Klaus betonte bei einem Treffen mit Premierminister Georges Pompidou Ende Juni 1965 (wobei das Protokoll der Sitzung pikanterweise den USA zugespielt wurde 76 ), Österreich präferiere das „Europa der Nationen", da es eine politische Integration „nicht mitmachen" könne. Dass es noch zu keinem Arrangement mit dem Gemeinsamen Markt gekommen sei, habe die österreichische Wirtschaft schon eine Milliarde Schilling gekostet, ganz abgesehen davon, dass mangels Rechtssicherheit keine Investitionsentscheidungen getroffen werden könnten. Österreich könne zwar „keine entscheidende Rolle in irgendeinem europäischen Strategieplan" spielen, habe aber eine „einzigartige Position in Europa" und könne immerhin eine wichtige „Brückenfunktion" übernehmen; es sei ein „Stabilitätsfaktor in der Donauregion" 77 , der für Frankreich verstärkt nutzbar gemacht werden sollte. Tags darauf wurde De Gaulle beim Treffen mit Klaus sehr deutlich. Nach einer salbungsvollen Einleitung des Bundeskanzlers antwortete er: des Tages der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1965, abgedruckt in: MAYRZEDT/HUMMER (Anm. 19), S. 292 ff. 75 Aufzeichnung über ein Gespräch zwischen Bundeskanzler Josef Klaus und Außenminister Maurice Couve de Murville vom 30.5.1965. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 837, Mp. 73. 76 Secret Incoming Telegram „Klaus visit" an das State Department vom 1. Juli 1965. NARA, RG 59, Central Foreign Policy File, 1963-1966, Box 1901, abgedruckt in Michael GEHLER, Der Lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Bd. II, Dokumente, Innsbruck 2002, S. 379 f. 77 Botschafter Fuchs schrieb schon davor in einer Zusammenfassung des „Europabildes" De Gaulles, dass dieser die Aufgabe Österreichs nicht wie die USA als Brückenkopf zwischen der „freien" und der „kommunistischen Welt", sondern „in Hinblick auf seine alte völkerverbindende Tradition" als „Berührungspunkt und Verbindungsglied zwischen der romanischen, germanischen und slawischen Welt" sehe. Vgl. Fuchs (Paris) an Kreisky vom 14. Juni 1965, Die französische Außenpolitik und ihre Beziehung zu Österreich - Rekapitulation im Hinblick auf den Pariser Besuch des Herrn Bundeskanzlers und des Herrn Bundesministers, ZI. 45-pol/65. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 837, Mp. 77.

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„Frankreich hat nichts dagegen, daß Sie ein Sonderabkommen mit der EWG schließen; das scheint mir ganz natürlich zu sein. Ich weiß allerdings nicht, ob der Gemeinsame Markt viel Zukunft, ob er überhaupt Zukunft hat. Wir verstehen, daß Sie ein derartiges Abkommen wünschen; in diesem Falle könnten Sie aber der Freihandelszone nicht mehr angehören. Es ist kaum möglich, eine doppelte Zugehörigkeit ins Auge zu fassen. Wie Sie diese beiden Probleme miteinander in Einklang bringen wollen, ist Ihre Sache. [...] Wir sehen nicht ein, warum Sie sich mit der NATO abgeben sollen [sie!]. Je mehr sich die Dinge entwickeln, desto weniger kümmern wir uns selbst um die NATO. Die Zukunft liegt weder in der Ν ΑΤΟ, noch in der EWG. Entweder es wird zu einer Zusammenarbeit von einem Ende Europas zum anderen kommen und in diesem Falle werden wir eine Friedenschance haben oder es wird weiterhin eine Atmosphäre des Kalten Krieges vorherrschen [...]" 78 . Abschließend forderte D e Gaulle eine Teilnahme Österreichs auch an einer politischen Zusammenarbeit: „Von unserem Standpunkt aus müßte man diese wirtschaftliche Organisation [die EWG, Anm. d. Autors] auch durch eine Organisation der politischen Zusammenarbeit ergänzen, denn eines hängt mit dem anderen zusammen. Wenn Sie sich mit dem Gemeinsamen Markt assoziieren, sehe ich nicht ein, warum Sie nicht auch an einer derartigen Organisation der politischen Zusammenarbeit teilnehmen sollten. Für Sie wie für uns würde es sich um eine Organisation handeln, die die Souveränität der Staaten respektiert. Alles andere wäre nicht ernst zu nehmen. Jedenfalls ist Frankreich an der Unabhängigkeit Österreichs interessiert und die Bundesrepublik hat sich mit diesem Zustand offenbar abgefunden [sie!]. Es ist allerdings nicht die offizielle Politik der Bundesrepublik, Österreich zu absorbieren, aber nach allem, was einmal geschehen ist, begreifen wir, daß die Russen aufmerksam sind. [...] Es liegt auf der Hand, daß Sie das Vertrauen der Russen umso mehr gewinnen werden, je weniger sich ihr Handel auf Westdeutschland konzentriert" 79 . Dass D e Gaulle Bruno Kreisky, obwohl dieser als Außenminister seiner Integrationskompetenzen v o m Koalitionspartner entledigt worden war, besondere Bedeutung beimaß, zeigt die Begebenheit, dass er ihn g e g e n das Protokoll dennoch zu einem ausführlichen Gespräch bat. Er erörterte mit ihm seine, wenn auch irrealen, Vorstellungen von einer „Donaukonföderation" in Mitteleuropa, in der Österreich eine bedeutende Rolle - gleichsam als Baustein (s)eines Gegenkonzeptes zu einem starken „deutschen Block" innerhalb des vereinten Europa und zur Vorherrschaft der beiden Supermächte auf dem Kontinent, als Teil des „Europa v o m Atlantik zum Ural" - spielen sollte. Kreisky teile D e Gaulies Standpunkt hinsichtlich der Einschätzung der U S Politik zwar nicht, seine Auffassungen waren j e d o c h dahingehend ähnlich, dass es für ihn nicht „den kommunistischen Ostblock", sondern eher viele 78

Unterredung im Elysee am 1. Juli 1965. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 837, Mp. 73. Ebd.

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dahinter stehende Nationen mit ihren spezifischen Interessen gebe; nicht umsonst hat Kreisky schon davor, ähnlich „irreal" wie De Gaulle, von einem „Brückenschlag EWG-EFTA-COMECON" [sie!] gesprochen. Erneut fanden sich nach dem Frankreich-Besuch im Sommer 1965 in der österreichischen Presse regelrechte Jubelmeldungen: Bundeskanzler Klaus erklärte nach seiner Rückkehr, in Paris wurden „alle hochgespannten Erwartungen noch übertroffen". Man sei „neuerlich mit Nachdruck versichert" worden, dass Österreich „weiterhin mit der Hilfe Frankreichs rechnen" könne. Dieser Feststellung „gerade von einer Signatarmacht des Staatsvertrages" komme „zweifellos besondere Bedeutung zu" 80 . Frankreich wurde vom offiziellen Österreich geradezu als „Schutzmacht" der Assoziierungsbestrebungen gefeiert. 5. Der Podgomy-Besuch in Österreich als Trendwende: Frankreich nun auf Distanz zu den österreichischen Assoziierungsbemühungen Österreich urgierte weiterhin seine Assoziierungswünsche, erhielt jedoch immer öfter die Antwort, dass man sich mit den Verhandlungen Zeit lassen müsse - eben weil Österreich ein „Sonderfall" sei; kurze Zeit davor hatte man das Sonderfall-Argument noch zur Begründung eines schnelleren Verhandlungstempos herangezogen. Frankreich betonte nunmehr auch seine „besondere Verantwortung" als Signatarmacht des österreichischen Staatsvertrages und - wenn auch vorsichtig artikuliert - gewisse Interessenparallelen mit der Sowjetunion, die De Gaulle inzwischen sogar nicht einmal mehr als Feindstaat empfand: Im Jänner 1966 ließ er den Mitgliedsstaaten der NATO ausrichten, dass „Frankreich nach 1969 nicht mehr Mitglied der NATO - so wie sie heute ist - sein" werde. Die sowjetische Bedrohung Europas werde dann „praktisch verschwunden sein" 81 . Der neue österreichische Außenminister Lujo Tonöic-Sorinj wiederholte Mitte November 1966 bei Couve De Murville den österreichischen Standpunkt: Man wolle ein Abkommen mit der EWG, um prinzipiell „zwei Extreme zu vermeiden": Es dürfe „weder aus wirtschaftlichen Gründen das Risiko einer politischen Katastrophe, noch aus politischen Rücksichten das Risiko einer wirtschaftlichen Katastrophe in Kauf genommen" werden. Der französische Außenminister betonte dennoch, dass Frankreich „insofern mit der Sowjetunion" übereinstimme, als es „selbst die Aufrechterhaltung der österreichischen Neutralität als wesentliches Element des europäischen Gleichgewichtes" ansehe 82 . 80

„Wiener Zeitung" vom 4./5. Juli 1965. Präsidenten Hallstein privat, Brüssel, 28. Januar 1966. D B A (Anm. 22), Nachlass Hallstein, Ν 1266, Aktenband 1199. 82 Aufzeichnung über die Unterredung zwischen Außenminister Couve de Murville und Bundesminister Dr. Tonöic am 18. November 1966, Z. 436-Res./66. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 57. 81

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Am 6. Dezember 1966 wies Couve De Murville in einer geschlossenen EWG-Ministerratssitzung darauf hin, dass der Abschluss eines Vertrages Österreichs mit der EWG „eine Reihe von heiklen politischen Problemen" aufwerfe, denen man in Brüssel bisher „offenbar nicht genügend Beachtung geschenkt" habe und denen „Frankreich als Signatarmacht des Staatsvertrages besondere Bedeutung" beimesse 83 . Diese Ankündigung, das österreichische Ansuchen künftig dilatorisch behandeln zu wollen, ist im Zusammenhang mit der von De Gaulle verfolgten Annäherungs- und Verständigungspolitik gegenüber der Sowjetunion zu betrachten; andererseits sah er wohl die Gefahr, die Sowjetunion könne tatsächlich Maßnahmen gegen Österreich ergreifen, was ihn - den bisherigen „Förderer" des Sonderarrangements innerhalb der EWG - politisch unnötig eingeengt hätte. Vor einem erneuten Österreich-Besuch Couve De Murvilles im September 1967 wurde vom österreichischen Botschafter in Paris, Martin Fuchs, ein ausführlicher Bericht 84 verfasst, der die Hintergründe des allgemeinen Eindrucks, dass sich die Einstellung der französischen Regierung seit dem Besuch des sowjetischen Staatspräsidenten Nicolaj Wiktorowitsch Podgorny in Wien Mitte September 1966 stetig verschlechtert habe 85 , was diese aber nicht zugab, zum Inhalt hatte. Der Podgorny-Besuch - dieser hatte noch massivere Einwände gegen eine Assoziierungslösung als bisher erhoben - markierte in der Tat eine deutliche Trendwende in der französischen Rhetorik gegenüber Österreich: Es häuften sich die Meldungen aus Paris, dass auf die sowjetischen Interventionen Rücksicht genommen werden solle. Der Österreich-Referent für EWG-Angelegenheiten im französischen Außenministerium, M. Scheer, meinte zu Botschafter Fuchs, für Frankreich sei „die Einstellung der Sowjetunion [...] in außenpolitischer Hinsicht von besonderer Bedeutung", weil es in seiner „Eigenschaft als einzige Signatarmacht des Staatsvertrages, die zugleich auch Mitglied der EWG" sei, seiner „besonderen Verantwortung bewußt" sei. Überdies verfolge man in Paris „mit Beunruhigung", dass in der österreichischen 83 Expose Botschafter Martin Fuchs (ohne Datum), Die französische Haltung in der Frage eines Arrangements besonderer Art zwischen Österreich und der EWG. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 51. 84 Bericht Fuchs (Paris) an TonCic (ohne Datum), ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 836, Mp. 60. 85 Unmittelbar nach dem Podgomy-Besuch war man im Quai d'Orsay überrascht, dass dieser zunächst beim Kanzler von der Möglichkeit eines Handelsarrangements gesprochen und anschließend im Fernsehen jede Art der Verbindung Österreichs zum Gemeinsamen Markt kategorisch abgelehnt hatte. Österreich habe „die Verhandlungen mit der EWG wohl zu schnell vorangetrieben" [sie!], ab jetzt werde man „vielleicht ein etwas langsameres Tempo einschlagen müssen". Vgl. Fuchs an Bock, 25.989 hgi (ohne Datum). ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 56. Zum französischen Positionswechsel s. ausf. und m. w. N. Michael GEHLER, Staatsvertrag, Neutralität und die Integrationsfrage 1955-1972: Die Sicht des Westens, in: Der österreichische Staatsvertrag 1955 - Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität, hrsg. von Arnold Suppan [u. a.], Wien 2005, S. 842 ff., hier: S. 881 ff.

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Bundesregierung „keine volle Übereinstimmung hinsichtlich der zu verfolgenden Politik gegenüber der EWG" bestehe. Sollte das stimmen, so würde Frankreich, das die österreichischen Bestrebungen immer unterstützt habe, in eine „peinliche Lage" versetzt werden. Besonders die von Österreich immer noch geforderte Doppelmitgliedschaft in EWG und EFTA sei für Frankreich „unannehmbar" 86 . 6. Der nächste Schritt: Paris „auf gleicher Linie wie Moskau"! Frankreich trat also plötzlich - wie dies die Sowjetunion stets getan hat - als um die Neutralität und Unabhängigkeit Österreichs besorgte Signatarmacht des Staatsvertrages auf, sodass in Österreich erneut vermutet wurde, dass zwischen den beiden Staaten diesbezügliche Absprachen stattgefunden haben mussten. In Wien war man sich - wie aus den Botschaftsberichten von Fuchs hervorgeht - der Diskrepanz zwischen Rhetorik (französische Regierungsmitglieder betonten immer wieder, mit den Sowjets nicht über das Verhältnis Österreichs zur EWG zu sprechen, damit nicht der Eindruck entstehe, Frankreich sehe irgendwelche Probleme) und politischem Willen durchaus bewusst. Außenminister TonCic-Sorinj sprach im März 1967 einen sowjetischen Mittelsmann direkt auf diese Vermutung an und berichtet: „Nach einem Augenblick des Schweigens fugte er eine interessante Bemerkung hinzu, er sagte, daß der Eindruck, die Sowjetunion mache hier Österreich Schwierigkeiten, ein falscher Eindruck sei: Die wahren Schwierigkeiten für Österreich kämen aus Brüssel und Paris. [...] Paris sei auf gleicher Linie wie Moskau, das heißt, ein Arrangement mit Österreich darf die Unabhängigkeit Österreichs weder direkt noch indirekt, weder politisch noch wirtschaftlich beeinflussen. Daher werde sich in Zukunft bei den Verhandlungen herausstellen, daß wir den Forderungen der Kommission nicht zustimmen können, weil diese zu weit gingen, Frankreich dann aber niemals zustimmen würde, wenn wir den Forderungen der Kommission nachgeben würden. Meine Frage, ob darüber zwischen der Sowjetunion und Frankreich Absprachen wären, beantwortete er dahingehend, daß Absprachen gar nicht notwendig seien, da ja die Gemeinsamkeit der Interessen völlig klar auf der Hand liege" 87 .

7. Das „zweite Veto" De Gaulles: Kein „zweiter Startschuss" für Österreich Nach dem zweiten Veto De Gaulles gegen einen britischen Beitritt im Mai 1967 (das insofern subtiler war als das erste, als der General die Überzeugung 86

Botschafter Fuchs (Paris) vom 29. September 1966, Arrangement Österreichs mit dem Gemeinsamen Markt, ZI. 378-Res./66. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 53. 87 Schreiben TonCic-Sorinj an Botschafter Wodak vom 19. Juli 1972. Kreisky-Archiv, Bestand Integration, Box 1274.

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äußerte, dass alle anderen Mitgliedsstaaten ohnehin seine Bedenken teilten und daher ein Veto im Ministerrat gar nicht mehr nötig wäre), in dem er den Briten erneut „noch unzulängliche Europareife" konstatiert hatte, schien De Gaulle umso mehr entschlossen, „alles zu tun, um es nicht einmal zur Aufnahme von Verhandlungen zwischen Brüssel und London kommen zu lassen" 88 . Mitte 1967 wurde Handelsminister Bock - der nun auch innenpolitisch unter massivem Erfolgsdruck stand und dem bewusst war, dass Frankreich von einer Fürsprecherin zum Haupthindernis einer Assoziierungslösung geworden war - energischer und warnte in Paris mit eindringlichen Worten vor einer „Finnlandisierung" Österreichs, würde man den sowjetischen Drohungen folgen und keinen Vertrag mit der EWG abschließen. Der französische Außenminister regagierte auf den unmissverständlichen Vorwurf von Bock, Frankreich habe sich der sowjetischen Auffassung angeschlossen, ebenso schroff: „Wenn man in Wien glaubt, daß unsere Stellungnahme von der Sowjetunion beeinflusst worden ist oder daß wir ihre Wortführer sind, so irrt man sich sehr. Ich möchte, dass hier keine Zweideutigkeiten aufkommen: Unsere Position ist eine rein französische Position. [...] Wir haben kein Interesse, den bestehenden Zustand zu gefährden. [...] Es war vielleicht unser Fehler, daß wir nicht gleich von Anfang an diese [...] Schwierigkeiten bedacht und studiert haben" 89 .

Bei inoffiziellen Gesprächen zwischen der EWG-Kommission und Vertretern der französischen Regierung zeigte sich jedoch, dass genau das Gegenteil von dem stimmte, was De Murville jenseits diplomatischer Höflichkeit gegenüber Bock behauptet hatte. Frankreich habe seine Position noch nicht genau festgelegt, weil „die sowjetische Haltung noch nicht feststehe" [sie!]; Letztere werde in Österreich „zu optimistisch beurteilt". Frankreich fühle sich veranlasst, auf diese „angesichts der gegenwärtigen Anspannung Rücksicht zu nehmen". Außerdem habe man in Paris den Eindruck, „daß innerhalb der österreichischen Regierung keine einheitliche Auffassung hinsichtlich der zu verfolgenden Integrationspolitik" herrsche 90 . 8. Der Schlussstrich: „Österreich wird von niemandem Unterstützung finden" Bei ihrem Staatsbesuch in Wien wollten der französische Ministerpräsident Pompidou und Außenminister Couve De Murville im September 1967 trotz deutlich geäußerter Wünsche keine Unterstützung der Assoziierungsverhand88

Fuchs (Paris) an Bock vom 22. Mai 1967, England und die EWG - Die Einstellung De Gaulies, ZI. 168-Res/67. ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 52. 89 Ebd. Bock betonte daraufhin, sein Gesprächspartner möge nicht außer Acht lassen, dass er „hier in der nicht sehr angenehmen Rolle eines Bittstellers" für seine Regierung auftreten müsse, „der um die Weiterführung der Verhandlungen mit der EWG" ersuche. 90 BMfAA (Anm. 17), Wien an österreichische Botschaft in Paris, ZI. 67.140 1/4/67; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 834, Mp. 50.

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lungen zusagen, sondern ließen es lediglich bei einem „Ausdruck der Sympathie" bewenden 9 1 . Dem österreichischen Botschafter Fuchs wurde wenige Tage nach dem Pompidou-Besuch inoffiziell mitgeteilt, dass man in Frankreich trotz der Enttäuschung, die entstanden sei, glaube, dass die Äußerungen von Pompidou „das ihre dazu beigetragen" hätten, „den Österreichern die nackten Tatsachen [sie!], die sich aus dem Abschluß eines Arrangements mit dem Gemeinsamen Markt ergeben, vor Augen zu führen". Man glaube, Wien sehe die Dinge nun „klarer"92. Aus den Quellen geht interessanterweise auch hervor, dass österreichische Diplomaten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland immer wieder - vertraulich - Uber die - ebenso vertraulichen - bilateralen Unterredungen Österreichs mit Frankreich genauestens informierten. Zum Beispiel berichtete die bundesdeutsche Vertretung in Brüssel am 25. September 1967 an das Auswärtige Amt nach Bonn: „Wie mir vertraulich berichtet wurde, habe Frankreich die österreichische Bitte (die anlässlich des Pompidou-Besuches in Wien geäußert wurde), zwischen Österreich und Italien wegen der EWG-Assoziierung und des Südtirol-Konfliktes zu vermitteln, abgelehnt. Die Franzosen gaben behutsam zu verstehen, dass ihnen Rom doch näher stehe als Wien. Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom befreundeten Österreich' und vom .befreundeten und verbündeten Italien". Im Außenamt in Wien hat man diesen Formulierungsunterschied sofort begriffen. Die Bewertung ist für Bock und das Außenamt diesmal einheitlich: Bezüglich des italienischen Vetos werde Österreich von niemandem Unterstützung finden. Paris wolle sich nicht festlegen; die vorgebrachten Gründe sind Ausflüchte. Vermutlich werde bei einer Assoziierung Österreichs ein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens immer schwerer, eine weitere Ursache ist die französische Ostpolitik. Somit will und muß Wien zuerst Südtirol lösen. Wenn Rom wegen Südtirol zu verhandeln bereit ist, wird es das Veto nicht halten können. Österreich suchte daher den Ausweg, Couve zu drängen, die Südtirol-Diskussion in Brüssel [sie!] zu führen. Die innenpolitische Stellung von Bock ist bei einem endgültigen Scheitern Wiens in Brüssel nicht mehr zu halten" 9 3 .

Im Jahr 1967 waren die Erfolgsaussichten der Assoziierungsverhandlungen auf einen Nullpunkt gesunken. Doch Frankreich hätte, selbst wenn es gewollt hätte, nichts mehr für Österreich bewegen können: Es hatte nach dem „zweiten Veto" De Gaulles gegen den britischen Beitritt bei den übrigen Mitgliedstaaten so sehr an Sympathie verloren, dass eine französische Initiative für Österreich von den EWG-Partnern vermutlich negativ aufgenommen worden 91

„Kurier" vom 2. September 1967. Amtsvermerk Fuchs (Paris) vom 25. September 1967, ZI. 359/Res./67; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 838, Mp. 80. 93 Botschaft der BRD in Brüssel an AA Bonn Nr. 404 vom 4. Oktober 1967; DBA (Anm. 22), Bestand Bundesministerium für Wirtschaft/Referat EA 3, Sig. Β 102/129.630. 92

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wäre. Pompidou erklärte jedoch ohnehin, er halte es aus diesen Gründen „nicht fur opportun, die Österreich-Frage in Brüssel jetzt wieder aufzurollen" 94 . In der Folge wurde auch der sonst so besonnene Botschafter Fuchs „undiplomatischer" und nannte bei Gesprächen im Umfeld von De Gaulle die eigentliche Problematik deutlicher beim Namen. Gegenüber Alain Prate, dem neuen Wirtschaftsberater des Generals, äußerte er seine Verwunderung, dass sich Frankreich „plötzlich auf eine Unvereinbarkeit des bisherigen Verhandlungssystems" mit dem Vertrag von Rom berufe, nachdem man Jahrelang auf dieser Grundlage verhandelt und dabei ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung erzielt" habe. Österreich habe seit Dezember 1961 wohl schon genügende Beweise seiner Geduld geliefert, man könne es dem Land nicht zumuten, „mit verschränkten Armen einfach auf bessere Zeiten zu warten". Dennoch hat sich der Gesprächspartner von Fuchs „überwiegend rezeptiv" verhalten95. Mitte März 1968 berichtete Fuchs bei einer Botschafterkonferenz in Wien nicht nur, dass sich die französische Zurückhaltung seit September des Vorjahres „nicht geändert und keineswegs aufgelockert" habe: Französische Vertreter würden nun überhaupt eine „besonders vorsichtige und abwartende Haltung in allen Fragen [...], die nicht ihre eigenen materiellen Interessen, besonders auf dem Agrarsektor, betreffen und berühren" einnehmen; dies sei seit VA Jahren, also seit dem letzten Österreich-Besuch des sowjetischen Präsidenten Podgorny zu beobachten. In Brüssel vollziehe sich ebenso ein atmosphärischer Wandel: Auch die anderen Staaten würden ihre Interessen nun mit einer größeren „Rücksichtslosigkeit" verfolgen; dieses „Überhandnehmen nationalwirtschaftlicher Rücksichten und Sonderinteressen" und das „Wiederaufleben protektionistischer Tendenzen im Inneren der Gemeinschaft" bedeute letzten Endes ungünstigere Rahmenbedingungen für Österreich. Botschafter Fuchs empfahl in seinem erneut sehr ausfuhrlichen, alle Möglichkeiten auslotenden Expose erstmals, statt der bisher diskutierten Modelle (Assoziierungsvertrag, Vertrag „sui generis", Lösung im Rahmen der Kennedy-Runde) einen „rein handelspolitischen Vertrag" anzustreben, wie dieser schon von Frankreich und Deutschland angeregt worden sei: So würde Österreich nicht in „machtpolitisch bedingte diplomatische Auseinandersetzungen der Sechs über die mit der Erweiterung der EWG zusammenhängenden Fragen" hineingezogen. Eine Lösung „ohne oder gar gegen Frankreich" habe „angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse und im Hinblick auf die weitgehende Anlehnung der Bonner Politik an französische 94

Fuchs (Paris) an Tonöic vom 2. Januar 1968, ZI. 25.001; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 54. 95 Fuchs (Paris) an Bock und Tonöic vom 25. Januar 1968, Österreich - EWG - Gespräch mit dem wirtschaftspolitischen Berater des Präsidenten der Republik, ZI. 39-Res./68; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 53.

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Positionen in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Verwirklichung". Nur dies trage einem „realpolitischen Standpunkt" Rechnung 96 . 9. 1968-1972: Anhaltendes Interesse am status quo bis zum Rücktritt De Gaulles Das restliche Jahr 1968 brachte zunächst wenig Änderungen in der französischen Grundhaltung: De Gaulle betonte erneut, die Zugehörigkeit Großbritanniens „zum atlantischen Block" stelle sich seiner Aufnahme in die EWG hindernd in den Weg. Außenminister Michel Jean-Pierre Debre meinte noch deutlicher, das „bisher Erreichte" solle „nicht durch einen Sprung ins Unbekannte gefährdet werden", weshalb sich an der französischen Haltung nichts geändert habe: „L'organisation du Marche Commun que nous concevons n'est pas celle du Traite de Rome, avec son Ideologie politique que nous rejetons" 97 . Der britische Botschafter in Paris meinte daraufhin fast resignierend, der französische Widerstand sei nach wie vor „von politischen, weniger von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt": Frankreich nehme derzeit sogar bewusst erhebliche wirtschaftliche Nachteile, die sich aus der Nichtteilnahme des Vereinigten Königreiches am Gemeinsamen Markt ergäben, in Kauf 9 8 . Auch in der Österreich-Frage änderte sich die französische Haltung zunächst nur wenig; teilweise wurden sogar direkt sowjetische Argumentationsmuster übernommen. Die CSSR-Krise nahm Staatssekretär Jean De Lipowski zum Anlass, bei einem Besuch beim nunmehrigen Außenminister Kurt Waldheim auf das „anhaltende Interesse" Frankreichs an der „Aufrechterhaltung und Stärkung der österreichischen Neutralität und Unabhängigkeit" hinzuweisen: Österreich stelle „geradezu ein Symbol und einen Prüfstein für die Möglichkeit der friedlichen Koexistenz dar", [sie!] Die sowjetischen Befürchtungen seien zwar übertrieben, aber auch Frankreich habe Interesse an einem unabhängigen Österreich 99 . Nach dem Rücktritt De Gaulles im Frühjahr 1969 wurde von französischer Seite sogar noch offener kommuniziert, dass eine Assoziierung Österreichs nicht nur ein Problem mit der Sowjetunion bringen würde, sondern auch - was der General nur mit

96

Expose Fuchs „Frankreich und die österreichischen Bemühungen um eine Regelung der Beziehungen zur EWG" (ohne Datum, verfasst fur die Botschafterkonferenz in Wien am 14./15. März 1966); ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 835, Mp. 57. 97 Fischer (Paris) an Waldheim vom 18. September 1968, Frankreich, Großbritannien und die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft, ad ZI. 35—pol/68; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 838, Mp. 81. 98 Ebd. 99 Aufzeichnung über eine Unterredung zwischen Herrn Bundesminister Dr. Kurt Waldheim und Staatssekretär im französischen Außenministerium Jean de Lipowski vom 14. November 1968, ZI. 279-Res./68; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 842, Mp. 117.

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vorgehaltener Hand gesagt hatte - das Kräfteverhältnis Deutschlands zu Ungunsten Frankreichs verschieben würde. 10. Vorstoß für rein handelspolitische Abkommen Für ein rein handelspolitisches Arrangement kamen im Spätherbst 1968 jedoch erstmals zustimmende Signale aus Paris: Der Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung des Quai d'Orsay, Gesandter Brunet, erklärte gegenüber dem österreichischen Botschafter, Frankreich wolle - auch für die Beitrittskandidaten Dänemark und Großbritannien, aber auch die übrigen Neutralen Schweden und die Schweiz - demnächst im Einvernehmen mit Deutschland „konkrete und positive" Vorschläge machen, auch, um die Benelux-Staaten und Italien „zu einer klaren Stellungnahme in dieser Angelegenheit zu nötigen"; , jedwedes Junktim" in dieser Frage werde von Frankreich „strikt abgelehnt" 100 . Ende Februar 1969 konnte Außenminister Waldheim bei einem Paris-Besuch von seinem Amtskollegen Michel Debr£ und von Premierminister De Murville die Zusicherung erhalten, Frankreich wolle nun wieder eine „beschleunigende Initiative" für ein handelspolitisches Arrangement für Österreich ergreifen; man werde darauf drängen, dass diese „Arrangements" nicht nur für beitrittswillige Staaten - die Kommission hatte sich kurz zuvor in diese Richtung geäußert sondern auch für Österreich, Schweden und die Schweiz getroffen werden 101 . Die Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen 1972 wurden von Frankreich weder gefördert noch behindert; nachdem sich der Beitritt Großbritanniens abzeichnete, war eine Assoziierung Österreichs zu einer vernachlässigbaren „Restgröße" geworden.

IV. Zusammenfassung Deutschland war vor und während der Assoziierungsverhandlungen ein zwar unterstützender Partner Österreichs, der sich aber stets im Hintergrund hielt und den Bedenken aus Paris, Moskau oder Washington nie offiziell widersprochen hat: Anders als bei den Beitrittsverhandlungen im Jahr 1994, als sich Deutschland als aktivster Motor des Fortschrittes der Verhandlungen und „Anwalt" Österreichs betätigt hat, beschränkte sich die Unterstützung in den sechziger Jahren auf (wenn auch besonders enge) gegenseitige Konsulta100 Fuchs (Paris) an Platzer (Generalsekretär im BMfAA) vom 28. Oktober 1968, ZI. 2 6 5 Res/68; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 842, Mp. 117. 101 „Wiener Zeitung" vom 23./24. Februar 1969; Fuchs (Paris) an BMfAA vom 24. Februar 1969, ZI.25.025; ÖlfZG (Anm. 26), Nachlass Fuchs, DO 839, Mp. 94.

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tionen und einen regen Informationsaustausch. Frankreich war zunächst Fürsprecherin eines bilateralen Abkommens sui generis mit Österreich, nachdem es davor die multilateralen Verhandlungen auf OEEC-Ebene hatte scheitern lassen. Die französische Interessenpolitik war insgesamt von einer tiefgreifenden Divergenz geprägt: De Gaulle benötigte Österreich einerseits als „Brückenkopf für sein „Europa vom Atlantik zum Ural", andererseits sollte Deutschland durch eine Assoziierung Österreichs an den Gemeinsamen Markt keinesfalls gestärkt werden. Als der sowjetische Widerstand immer deutlicher wurde, sah der General auch seinen angestrebten langfristigen „Ausgleich" mit Russland gefährdet und war somit nicht mehr bereit, das österreichische Assoziierungsanliegen innerhalb der EWG zu unterstützen. Frankreich hatte sich trotz anderslautender Rhetorik zum Zeitpunkt des italienischen Vetos schon längst gegen eine umfassende Österreich-Lösung entschieden, und auch das zweite „Non" De Gaulies gegen die Großbritannien-Verhandlungen im November 1967 wirkte sich negativ auf die integrationspolitische Lage Österreichs aus. Die Freihandelsabkommen 1972 wurden dann allerdings nicht mehr behindert.

Summary The article begins by giving a view of Austria's self-perception as a European "special case" and the implications of this status for its foreign and European policy. The second section analyses Germany's perspective on Austria's ambitions for an association treaty with the European Communities; Chancellor Konrad Adenauer and his successor Ludwig Erhard had completely different concepts as to how to integrate Austria in the EC. The third section describes Charles de Gaulle's position as quite ambivalent: in the early 1960s, he was a strong supporter of Austria's association (he thought Austria's association would destroy the EFTA and weaken Great Britain), but only a few years later he changed his opinion completely and tended to follow Soviet arguments that Austria's membership in the common market would violate its neutrality and might endanger the balance of power in Europe.

Die direktdemokratische Dimension der Europäischen Gemeinschaft Von

Georg Kreis Der Verfassungsgebungsprozess der EU hat mit dem negativen Ausgang der beiden Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden einen brüsken Marschhalt verordnet bekommen. Die einen sehen in der Zwangspause bloß eine Reflexionspause, die zu einer verbesserten Vollendung des kürzlich Begonnenen fuhren soll. Auch die EU-Staats- und Regierungschefs wollen im Juni 2006 entscheiden, wie die Verfassung „doch noch gerettet" werden könnte1. Andere sehen in den beiden Nein und dem momentanen Sistieren des Abstimmungsprozederes das definitive Scheitern des Projekts und denken über Ersatzlösungen nach. Was kann eine historische Betrachtung in dieser Situation leisten? Kann sie aufzeigen, an welchem Punkt sich das Gemeinschaftsprojekt derzeit befindet? Grundsätzlich sollte die Geschichte in der Lage sein aufzuzeigen, was vorangegangen ist. Doch was ist das „was", das da vorangegangen ist? Sind es - in der longue duree - die seit nun über einem halben Jahrhundert dauernden Bemühungen um eine Europäische Verfassung 2 ? Oder ist es die erst in den 1990er Jahren einsetzende unmittelbare Vorgeschichte des jüngsten Verfassungsprojekts? Und was wäre gewonnen, wenn man eine konsolidierte Vorstellung von diesen beiden Geschichten zur Verfugung hätte? Im Rückblick auf die unmittelbare Vorgeschichte des jüngsten Verfassungsprojekts könnte man vor allem feststellen, was man während des laufenden Prozesses übersehen oder falsch gewichtet hat. Etwa, dass man die Erarbeitung der Verfassung noch breiter hätte abstützen müssen, dass man nicht den sonderbaren Mischbegriff eines Verfassungsvertrags hätte verwenden sollen, dass es offensichtlich ein Fehler war, die Verfassung mit dem Einbezug des bisherigen „Acquis communautaire" (als Teil III) zu belasten, dass es vielleicht besser gewesen wäre, alle Abstimmungen zum gleichen Zeitpunkt durchzuführen, etc. 1 Die EU-Kommission hat, nach der Aktion „Dialog mit Europa" aus dem Jahr 2000, einen neuen Anlauf im Erkunden der Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen genommen. Am 27. März 2006 hat sie ein Intemet-Diskussionsforum gestartet, in dem man darlegen kann, was man von Europa erhofft und was einem als Europäer/in Sorgen bereitet und wie die EU „aussehen" soll, http://europa.eu.int/debateeurope/. 2 Zur allgemeinen Entwicklung: 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984, hrsg. von Walter Lipgens, Bonn 1986.

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Der folgende Beitrag will das alles nicht ergründen. Ihm geht es vielmehr darum, die Elemente der direktdemokratischen Mitbestimmung in der Geschichte der EU aufzuzeigen. Dabei könnte man überrascht sein, wie viel demokratische Substanz bereits zusammengekommen ist. Man könnte darum, wie engagierte Promotoren der direkten Demokratie es tun3, diese Geschichte als einen Prozess der sich laufend verdichtenden Partizipation verstehen, der entweder beinahe zwangsläufig zu einer weiteren Substantiierung des Demokratischen führt oder der mindestens einen hoffnungsvoll stimmenden Anknüpfungspunkt für weitere Anstrengungen bildet. Unter Historikerinnen und Historikern ist man sich indessen schnell einig, dass nichts von alleine kommt und es keine innere, sozusagen teleologischen Programmierung (schon gar nicht zu mehr Demokratie) gibt, sondern, was ist, das Ergebnis von Kräften und Konstellationen ist. Das Spannende in der Geschichte ist gerade das, was auf Grund der Kontingenz aus irgendwelchen Gründen eintritt, obwohl es nicht eintreten müsste. Das Aufkommen eines gemeinsamen Wollens, dessen Erfolg oder Fiasko.

I. Zunächst indirekte statt halbdirekte Demokratie Die Europäische Bewegung der Stunde Null ging 1944/45 als Basisbewegung selbstverständlich davon aus, dass „Europa" von unten nach oben gebaut werden müsse. Der Mouvement Europien der Federalistes wollte einen voll demokratischen surpranationalen Staat schaffen und zu diesem Zweck 1947 eine Art Etats Generaux einberufen; ein Gremium, das eine Europäische Verfassung hätte ausarbeiten sollen, zu der dann eine allgemeine Abstimmung hätte durchgeführt werden sollen. 1948 trat aber die Wende zu Gunsten eines „Europa von oben" ein, und 1950 wurde nicht ein Zusammenschluss in einem einzigen Schritt über die Verfassungsgebung, sondern ein Zusammenschluss in Etappen mit der sektoriellen Integration angekündigt. In diesem Szenario sollte die Verfassung nach einer Reihe weiterer Teilintegrationen bloß - oder immerhin - den krönenden Abschluss bilden. In der Methode der sektoriellen Integration war Demokratie zunächst überhaupt nicht vorgesehen, auch nicht in Form der indirekten Demokratie über parlamentarische Mitsprache. Im Fall des Europarats schuf man 1949 zwar eine Parlamentarische Versammlung; die britische Regierung hätte deren Mitglieder aber am liebsten durch die nationalen Regierungen ernannt und nicht gewählt gesehen durch die nationalen Parlamente, wie es schließlich 3

Vgl. etwa Bruno KAUFMANN, Eine Prise Schweiz für die EU-Verfassung, in: Helvetia im Aussendienst. Was Schweizer in der Welt bewegen, hrsg. von Jürg Altwegg, Zürich 2004, S. 155-170. Kaufmann ist Direktor des Initiative & Referendum Institute Europe (IRI Europe) vormals Amsterdam, jetzt Marburg.

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doch durchgesetzt wurde 4 . Und der Gründungsvater Jean Monnet meinte anfänglich, für die Europäischen Kohle- und Stahlunion (EGKS) eine haute autorite ohne einen (pseudo)parlamentarischen Appendix schaffen zu können. In der Folge erlebte das Parlament schrittweise doch weitere Aufwertungen: 1975 mit der Einführung substantieller Haushaltskompetenzen, 1985-1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte, 1991-1993 mit den Vertrag von Maastricht, 1997 mit dem Vertrag von Amsterdam, so dass man heute feststellen kann, dass abgesehen vom wichtigen Recht auf Bestätigung des Kommissionspräsidenten und der Kommission sowie der nötigen Zustimmung zu jeder Erweiterung und zu Verträgen mit Drittstaaten mehr als die Hälfte die Gesetzgebung und der Haushaltsmittel von einem Gremium beschlossen werden, das anfanglich gar nicht vorgesehen war. Aus der Fusion der 1951 und 1957 für die EGKS, EWG und EAG geschaffenen Parlamentarischen Versammlungen und aufgewertet durch die 1979 erstmals abgehaltenen direkten Wahlen 5 sowie durch die laufende Erweiterung der anfanglich bescheidenen Kompetenzen entwickelte sich das Europäische Parlament zu einer Institution, die mittlerweile diesen Namen verdient und die indirekte Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in beachtlichem Maß gewährleistet. Dass die indirekt- wie die direktdemokratische Mitsprache zunächst nicht möglich war, könnte eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Gemeinschaft gewesen sein. Das Projekt der EU wäre heute möglicherweise nicht so weit fortgeschritten, wie es ist, wenn es von Anfang an mit mehr Demokratie ausgestattet gewesen wäre. Die Vermutung, dass mehr demokratische Mitsprache gleich von Anfang an den Ausbau behindert hätte, stützt sich auf die Beobachtung, dass im internen und auf eine kleine Zahl von Unterhändlern beschränkten diplomatischen Prozess der nötige Konsens leichter gefunden werden kann als in öffentlichen und auf Profilierung bedachten Kontroversen der parteipolitischen Arena. Aus wenig Demokratie wurde allmählich mehr Demokratie. Das Mehr und das Weniger muss aber im Gesamtkontext beurteilt werden. Neben der Zunahme auf supranationaler Ebene ging wegen der laufenden Verschiebungen der Zuständigkeiten teilweise eine Abnahme auf nationaler Ebene einher; Verschiebung weg von der nationalen Ebene mit ausgebauter Demokratie hin zur supranationalen Ebene mit unterentwickelter Demokratie. Die Zunahme war also nicht absolut, sondern relativ.

4

Marie-Therese BiTSCH, Jalons pour une histoire du Conseil de l'Europe, Bern 1997. Die Direktwahl wurde am Haager Gipfel von 1969 beschlossen. Die Befürworter konnten ein vorhandenes Gelegenheitsfenster nutzen: Die Stärkung der Exekutivseite durch Schaffung einer „Conference des chefs d'Etat et de gouvernements" machte - im Sinne eines Gegengewichts - die Stärkung der Vertretung der Völker nötig und darum möglich. 5

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) II. Die „Anfänge" der direkten Konsultationen

Hält man nach Volksabstimmungen Ausschau, die im Zusammenhang mit Fragen der europäischen Integration durchgeführt wurden, findet man eine größere Zahl, als man gemeinhin annimmt. Gemeint sind wirkliche Abstimmungen, nicht Wahlen, wie sie für das Europäische Parlament seit 1979 durchgeführt werden; Wahlen, bei denen übrigens die Stimmbeteiligung paradoxerweise permanent zurückging, obwohl die Kompetenzen des Parlaments laufend zunahmen. Ob es Abstimmungen in Sachfragen gab, hing ganz von den nationalen Gegebenheiten ab: von zwingenden Verfassungsvorschriften, von der jeweiligen Mehrheitsmeinung der Parlamente oder von Entscheiden von Staats- und Regierungschefs. Eine spezielle Kategorie bilden die beim Volk als dem modernen Souverän eingeholten Beitrittsabstimmungen, mit denen man die Zustimmung zur partiellen Abtretung von Souveränität einholte. Sie fanden und finden in einem Moment statt, da die Staaten noch nicht Mitglieder der EG oder EU sind. Trotzdem gehören sie zum Gesamtbild und sind darum einzubeziehen. Verteilt auf die Jahre 1972-2003 gab es immerhin 17 Beitrittsabstimmungen (vgl. Anhang I). Nicht abgestimmt wurde in den sechs Gründungsstaaten und in der drei Staaten der Süderweiterung (Griechenland, Spanien und Portugal) sowie in Großbritannien, wo aber im Juni 1975 aus innenpolitischem Kalkül eine Verbleibe-Abstimmung angesetzt wurde. Daneben gab es, verteilt ebenfalls auf drei Jahrzehnte, eine bemerkenswert hohe Zahl von 14 weiteren Sachabstimmungen (vgl. Anhang II). Das sind doch mehr, als man gemeinhin in Erinnerung hat. Zwei davon betrafen die Einheitliche Europäische Akte (1986), acht die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1998) und Nizza (2001 und 2002), zwei weitere den Beitritt zum Euro (2000 und 2003) und je eine in Frankreich 1972 zur ersten Erweiterung und in Italien 1989 zu einer Initiative fur die EU-Verfassung6. Die größere Zahl, die sich bei genauerem Hinsehen offenbart, weist aber eine ausgesprochen ungleiche Verteilung und hohe Dichte in der jüngsten Zeit auf: Von den 17 Beitrittsabstimmungen fallen vier in die Zeit vor 1992 und 13 auf die Zeit nach 1992. In den 14 Sachabstimmungen ist die Verteilung ähnlich: vier fanden vor 1992 und zehn nach 1992 statt. Wie sieht die Verteilung nach Ländern aus? Irland und Dänemark stehen bei diesen Plebisziten mit je fünf Abstimmungen an der Spitze; in diesen 6

Dieses Referendum ging auf eine Initiative der Spinelli-Föderalisten zurück und forderte, dass sich Italien für eine föderalistische EU-Verfassung einsetzen soll. Es stieß auf extrem großes Wohlwollen, sowohl des Parlamentes, das den Weg fürs fakultative Referendum ebnete, wie auch bei der Stimmbevölkerung. Die konkreten Folgen waren jedoch bescheiden. Vgl. Transnationale Demokratie. Impulse für ein demokratisch verfasstes Europa, hrsg. von Roland Erne [u. a.]., Zürich 1995; The European Constitution: Bringing in the People, hrsg. von Faybrice Filliez und Bruno Kaufmann, Amsterdam/Bern 2004.

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beiden Ländern sind die Volksabstimmungen für j e d e Vertragsänderung verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Frankreich folgt mit zwei Abstimmungen a u f der Liste, und Italien und Schweden hatten j e eine Abstimmung. Frankreich nimmt insofern eine besondere Position ein, als hier 1972 unter Pompidou die allererste EG-Abstimmung überhaupt durchgeführt wurde 7 . Die Abstimmung von 1972 kann man aber nicht als Anfang bezeichnen, weil sie ein Einzelvorgang blieb und keine Praxis einleitete. Wenn es nach General de Gaulles Willen gegangen wäre, hätte man übrigens bereits zu Beginn der 1960er Jahre in allen damaligen Mitgliedsländern eine Volksabstimmung zu der von ihm vorgeschlagenen Politischen Union durchführen sollen. Das von ihm gewählte Wort der „feierlichen Plebiszite" verrät j e d o c h , dass er da nicht an umkämpfte Entscheide dachte 8 . Direkte Demokratie ist aber mehr als nur die Approbation der Massen eines solitären,

von einem

cäsaristisch

eingestellten

Staatschef gefällten

Ent-

scheids 9 . Sie hat nur dann die Qualität, die man von ihr erwarten kann, wenn sie unter bestimmten Bedingungen Konsultationen der Bürger und Bürgerinnen zwingend vorschreibt. In der Schweiz, dem Land der direkten Demokratie, gibt es die strikte Meinung, dass man nicht nach Belieben Volksabstimmungen durchführen darf. Fehlt die entsprechende Vorschrift, muss a u f eine Volksabstimmung verzichtet werden, selbst wenn man sie gerne hätte. In anderen Ländern gibt es diesbezüglich offenbar einen breiteren Spielraum.

III. Der basisdemokratische Aufbruch der 1990er Jahre Die gängige Vorstellung, dass die EU an einem Demokratiedefizit leide, bezieht sich in erster Linie a u f die anfanglich ausgesprochen schwachen K o m petenzen des Europäischen Parlaments und nicht a u f die fehlende direkte Mitsprache. Der Einbezug der Basis beziehungsweise die Forderung nach größerer Bürgernähe wurde erst im Laufe der 1990er Jahre zu einem breiter abgestützten Postulat. Man kann in der in Italien 1 9 8 9 durchgeführten Abstimmung unter anderem ein Produkt dieser Belebung sehen, obwohl man sie auch als Teil der nationalstaatlichen Tradition verstehen muss. Welches sind 7 Allerdings mit einer Nichtbeteiligung von gegen 40% und 7% leeren Stimmzetteln. Pierre GERBET, La construktion de l'Europe, 2. Aufl. Paris 1994. 324 ff. 8 Pressekonferenz vom 5. September I960. Text in: Ernst WEIDENFELD, De Gaulle sieht Europa. Reden und Erklärungen 1958-1966, Frankfurt a. M. 1966, S. 54 f. 9 Das mit der V. Republik eingeführte Referendum wurde bisher vor allem eingesetzt „comme une arme dans la main du chef de l'Etat pour consolider sa position face aux partis" (Partick JARREAU, Jacques Chirac et son referendum, in: „Le Monde" vom 12 März 2005. Ob bei Wahlen oder bei Abstimmungen: Maßgebend ist, dass sie kontrovers (contested) sein können. Vgl. etwa Seymour Martin LIPSET und Jason M. LAKIN, The Democratic Century, Oklahoma 2004.

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die Gründe dafür, dass der basisdemokratischen Partizipationsforderungen der Jahre 1944-1947 zu Beginn der 1990er Jahre eine Wiederbelebung erfuhren? Eine nahe liegende Erklärung könnte darin gesehen werden, dass sich der Zuwachs an Entscheidungskompetenzen auf der supranationalen Ebene insbesondere durch den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 mobilisierend auf die Basis ausgewirkt hat. Wie weit bereits im Vorfeld und während der letzten Verhandlungen vom Dezember 1991 Kritik an der fehlenden Basislegitimation laut wurde, müsste noch abgeklärt werden. Dass sich schon sehr schnell die öffentliche Kritik meldete, davon zeugt etwa die im Frühjahr 1992 aus dem Lager der französischen Linken hervorgegangene Schrift, welche „Maastricht" als Alarmruf (clairon) gegen die Eurokraten und die zu große Kluft zwischen den Bürgerinnen und Bürgen verstand und eine verfassungsgebende Versammlung forderte 10 . Möglicherweise ging dann vom dänischen Nein zu „Maastricht" vom 2. Juni 1992 (mit 52,1 %) eine weitere Signalwirkung aus. Vor allem aber setzte der französische Abstimmungskampf, der am 20. September 1992 bloß eine sehr knappe Zustimmung zur Vorlage brachte, eine Grundsatzdebatte über die direkte Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger in der europäischen wie der französischen Politik frei. Der schweizerische Politologe Andreas Gross stellte damals befriedigt fest, dass weder die Befürworter mit ihrem knappen Ja von 51,1 % noch die Opposition mit ihrem nicht ausreichenden Nein von 48,9 % zufrieden sein konnten, dass aber die direkte Demokratie die Siegerin der Abstimmung gewesen sei". EU-Kommissionspräsident Jacques Delors verstand den Referendumsausgang ebenfalls als Ruf nach mehr Demokratie, er meinte damit aber die indirekte Demokratie und sprach sich für den weiteren Ausbau des Europäischen Parlaments aus. Eine weitere, weniger nahe liegende Erklärung für ein Erstarken der basisdemokratischen Ansprüche der 1990er Jahre könnte in der Einkehr der Demokratie im Bereich der ehemaligen sowjetischen Machtzone nach 1989 liegen. Dieser Erklärung befriedigt aber nur, wenn man darin ein eigenständiges Phänomen sieht und nicht davon ausgeht, dass die „Wende" im Osten bloß eine Variante eines allgemeinen, Ost wie West erfassenden Aufbruchs war. Nicht auszuschließen ist, dass gegen Ende der 1980er Jahre ein transnationaler Trend zeitgleich den demokratischen Aufbruch beidseits des „Eisemen Vorhangs" beflügelte. 10

Julien DRAY, Gerard FILOCHE, Les clairons de Maastricht: Pour L'Europe, contre les fronts nationaux, Paris, Mai 1992. Zit. nach Andreas GROSS, Auf der politischen Baustelle. Eine europäische Verfassung fur eine transnationale Demokratie eröffnet auch der Schweiz neue Integrationsperspektiven, Zürich 1996, S. 59. 11 GROSS, Auf der politischen Baustelle (Anm. 10), S. 57. Text vom Oktober 1992. Gross war schon damals SP-Nationalrat und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.

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Nach der ersten Intensivierung der Debatte um 1992 dürfte es schon wenig später eine weitere Dynamisierung der Diskussion um die demokratische Qualität der EU gegeben haben. Die doppelte Erweiterungsperspektive, die seit 1992 mit formellen Beitrittsgesuchen fassbar und mit den beiden Beitrittsschüben von 1995 und 2004 konkretisiert wurde, nährte den Wunsch, noch vor diesem Ein- und Zuzug die europäische Hausordnung unter Dach bekommen zu haben. 1994 befasste sich eine Kommission des Europäischen Parlaments unter dem Präsidium des Belgiers Fernand Herman erneut mit der Verfassungsfrage und legte einen umfassenden Bericht vor 12 . Das weiter gewachsene Interesse an den Verfassungsfragen fand seinen Niederschlag auch in der Publizistik; das bezeugen die Schriften etwa des Staatsrechtlers Ulrich K. Preuss oder des bereits zitierten Politologen Andreas Gross 13 . Zunächst verlief der weitere Prozess aber in traditionellen Gleisen: Im Juni 1995 wurde eine 18köpflge Groupe de reflexion im Hinblick auf die bevorstehende Regierungskonferenz eingesetzt. Die diplomatische Konferenz nahm, gemäß dem bereits 1991 festgelegten Terminplan, im März 1996 in Turin ihre Arbeit auf und erarbeitete den als „Maastricht II" bezeichneten Vertrag, der im Oktober 1997 in Amsterdam unterzeichnet wurde. Eine weitere wichtige Etappe bildete der innovative und auf Betreiben der deutschen Bundesregierung zustande gekommene Beschluss des Europäischen Rats von Köln vom Juni 1999, einen Konvent zur Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte einzuberufen. Der erstmals in der Geschichte der EG/EU so eingesetzte Konvent setzte sich aus den 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs plus dem Präsidenten der Europäischen Kommission, aus 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments und aus 30 nationalen Parlamentariern (zwei aus jedem Mitgliedstaat) zusammen und erarbeitete in der Zeit vom Dezember 1999 bis zum September 2000 unter dem Vorsitz von Altbundespräsident Prof. Roman Herzog diese Charta, die einerseits inhaltlich wie verfahrensmäßig den gestiegenen Basiserwartungen Rechnung tragen wollte, anderseits diesen aber weiteren Auftrieb gab. Der bereits breit angelegte Konvent führte breit gefächerte Anhörungen mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, den Beitrittsländern und den maßgeblichen Institutionen durch. Die Vertreter des Europäischen Gerichtshofs, des Europarats und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begrüßten den Entwurf als mitberatende Beobachter. Und die Öffentlichkeit war über Veranstaltungen, Medien und Internet und zahlreiche schriftliche Eingaben aktiv beteiligt.

12

Zentrumspartei, Mitglied der Union Europeen des Federalistes, ehem. Minister. Ulrich K. PREUSS, Eine Verfassung für Europa, in: Kommune Nr. 7/95, S. 50-58. Zit. nach GROSS, Auf der politischen Baustelle (Anm. 10), S. 196. Oder im gleichen Jahr: Transnationale Demokratie (Anm. 13). Neuerdings: Bruno KAUFMANN und M. Dane WATERS, Direct Democracy in Europe. A Comprehence Reference Guide to the Initiative and Referendum Process in Europe, Durham 2004. 13

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Die Charta, welche zum ersten Mal in einem einzigen Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden Personen zusammenfasste, wurde als eigenes Dokument am 7. Dezember 2001 von den drei europäischen Institutionen (Parlament, Rat und Kommission) proklamiert, war aber nicht integraler Bestandteil des Vertrags von Nizza und hätte erst im Verfassungsvertrag als Teil II in das europäisches Verfassungsrecht aufgenommen werden sollen.

IV. Die „Anfänge" des jüngsten Verfassungsgebungsprozesses Der Gipfel im belgischen Laeken vom Dezember 2001 bildete so etwas wie einen Anfang im jüngsten europäischen Verfassungsgebungsprozess. Die Erklärung vom 15. Dezember 2001 leitete diesen Prozess ein, sie bekannte sich zum demokratischen Prinzip und sie bestimmte auch eine demokratisch sein wollende Methode der Verfassungserarbeitung. Die Erklärung belegt, dass die Spitze der EU die demokratische Mitbestimmung als zentrale Herausforderung einstufte. Man räumte sogar ein, dass „alles" viel zu sehr über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg geregelt werde und die Basis darum eine bessere demokratische Kontrolle wünsche. Darum müsse die EU nicht nur mehr Effizienz, sondern auch mehr Transparenz und an erster Stelle mehr Demokratie entwickeln. Die auf mehr demokratische Mitwirkung angelegte Methode der Verfassungsarbeit sah wiederum einen Konvent in ähnlicher Zusammensetzung wie der vorangegangenen vor. Auch Delegierte der Beitrittsländer (inklusive der Türkei) wurden einbezogen. Darüber hinaus gab es Beobachter und ein Forum. Als Beobachter wurden eingeladen: drei Vertreter des Wirtschafts- und Sozialausschusses und drei Vertreter der europäischen Sozialpartner sowie sechs Vertreter im Namen des Ausschusses der Regionen (die von diesem aus den Regionen, den Städten und den Regionen mit legislativer Befugnis zu bestimmen waren) und der Europäische Bürgerbeauftragte. Das Forum stand im Hinblick auf eine umfassende Debatte und die Beteiligung aller Bürger an dieser Debatte allen Organisationen offen, welche die Zivilgesellschaft repräsentierten (Sozialpartner, Wirtschaftskreise, nichtstaatliche Organisationen, Hochschulen usw.). Es handelte sich um ein strukturiertes Netz von Organisationen, die regelmäßig über die Arbeiten des Konvents unterrichtet wurden. Von diesen Beiträgen hieß es, dass sie in die Debatte einfließen würden. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal wurde das Internet als Mittel zur Herbeiführung von mehr Bürgernähe eingesetzt. Bereits im Februar 2000 lancierte die EU-Kommission die Aktion „Dialog mit Europa". Damit sollte ein Dialog mit den Bürgern Europas über Ziele

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und Zweck der angestrebten institutionellen Reform in Gang kommen. Wie sollten die Institutionen aussehen, die Europäische Union ihre Beschlüsse fassen, etc.? (http://europa.eu.int/comm/igc2000/dialogue/index_de.htm). Bis zu den fehlgeschlagenen Abstimmungen wurde der Konvent mit seinen zusätzlichen Einrichtungen als großer Fortschritt gepriesen. Heinz Kleger würdigte den Konvent als Institution, welche „eine Grundlage für die Entwicklung eines europäischen demos''· geschaffen habe 14 . Unter dem Aspekt der basisdemokratischen Partizipation war er dies auch verglichen mit den hinter verschlossenen Türen unter Berufsdiplomaten geführten Regierungskonferenzen. Mit der Verschlechterung der Stimmung gegenüber dem Verfassungsvertrags rückte dieser negative Vergleichspunkt jedoch in den Hintergrund und wurde der Konvent stärker am Ideal eines über allgemeine Wahlen gebildeten Verfassungsrats gemessen und entsprechend stärker negativ bewertet. Das Ergebnis der Konventarbeit wurde dem Europäischen Rat am 20. Juni 2003 in Thessaloniki überreicht. Es folgte die übliche Regierungskonferenz, und am 29. Oktober 2004 wurde - in Anlehnung an die Vertragsunterzeichnung von 1957 - auf dem Kapitol in Rom feierlich unterzeichnet. Die anschließende Ratifikation durch die 25 Mitglieder wurde schon damals als nicht leicht, aber doch nicht als derart schwierig eingestuft, wie sie sich ein paar Monate in einigen Fällen später erweisen sollte. Verfassungsabstimmungen sind besondere Sachabstimmung, da geht es nicht einfach um Gesetze, sondern um das Grundgesetz. Dass zu Verfassungen Volksabstimmungen durchgeführt werden, ist beinahe die Regel. Auch in Staaten, die keine direkte Demokratie kennen, werden Verfassungen zur Abstimmung dem Volk vorgelegt. Das rechtliche Fundament des Staates erfordert eine breite Legitimationsbasis. Und da gewisse Neuerungen durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) und die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza in nationalen Verfassung Änderungen für nötig gehalten wurden, die ihrerseits nicht ohne Volksabstimmungen vorgenommen werden durften, gab es in den Jahren 1986-1992 die bereits erwähnten Plebiszite. In der parlamentarischen Beratung des ausgereiften Verfassungsprojekts von 1984 (Spinelli) waren mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit bloß Zustimmungen der nationalen Parlamente vorgesehen, niemand dachte damals an Volksabstimmungen 15 . Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Idee der Plebiszite erst in den 1990er Jahren an Terrain gewonnen hat. Noch im Jahr 2000 konnte ein Spezialist des Europarechts die heute etwas naiv an14

Heinz KLEGER, Was kann und was soll eine Europäische Verfassung? Überlegungen zum Verfassungsentwurf des Konvents, in: Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union, hrsg. von Francis Cheneval, Münster 2005, S. 153-177. Vgl. Der Konvent als Labor: Texte und Dokumente zum europäischen Verfassungsprozess, hrsg. von Heinz Kleger, Münster 2004, Zit. S. 165. 15 Zur allgemeinen Entwicklung: 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung (Anm. 2).

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mutende Frage aufwerfen, ob die „europäischen Völker" einer Verfassung zustimmen müssten, und dann die halbwegs zustimmende Antwort geben, ja, ein entsprechender Text müsse den Parlamenten (!) unterbreitet werden. Volksabstimmungen, erklärte er weiter, seien nicht zwingend, sie könnten aber zusammen mit den nächsten Direktwahlen von 2004 zur Steigerung der Legitimation durchgeführt werden 16 . Im Moment dieser Wahlen lag dann aber noch kein abstimmungsreifer Verfassungstext vor. Während der Konventberatungen wurde im März 2003 ein von 97 Konventmitgliedern (von insgesamt zweimal 105) unterstützter Vorschlag eingebracht, europaweit ein obligatorisches Verfassungsreferendum vorzusehen17. Die Umsetzung des Postulats war allein schon aus zeitlichen Gründen nicht realisierbar. Das einheitliche Verfahren hätte den Vorzug gehabt, dass man es überall etwa gleichzeitig hätte durchführen können.

V. Das französische Verfassungsreferendum Dass am 29. Mai 2005 in Frankreich abgestimmt wurde, hing im Ausgangspunkt allein vom Staatspräsidenten ab 18 . Wie man weiß, beurteilte Jacques Chirac das Referendum anfänglich zwar als „connerie" und als „tir d'une balle dans le pied", und trotzdem kam er nicht darum herum, eine Abstimmung mit einer entsprechenden Verkündung am Nationalfeiertag, dem 14. Juli 2004, einzuleiten19. Indirekt diesen Entscheid kritisierend, bemerkte dazu Henri Froment-Meurice, Ambassadeur de France: „On ne devrait se lancer dans un referendum, quand il n'est pas obligatoire, que si l'on est sür de le gagner" 20 ! In der Diskussion um die Frage, ob ein derartiges Referendum nötig war, wurden frühere Referenden rekapituliert: natürlich dasjenige von 1992 zu Maastricht, aber auch dasjenige von 1988 zum Vertrag mit der Nouvelle-Caledonie und dasjenige vom September 2000 über die Dauer der Präsidentschaften (quinquennat). Im vergangenen Jahr gab es Spekulationen darüber, welche Wirkung vom Abstimmungskalender ausgehen könnte. Im französischen Wahlkampf war

16 Roland BIEBER, Ein Grundgesetz für Europa. Die Bemühungen um eine europäische Verfassung, in: Vom Schumann-Plan zum Vertrag von Amsterdam. Entstehung und Zukunft der EU, Wien/New York 2000, S. 340. 17 Conv. 658/03. 18 In einer zweiten Phase brauchte es wohl noch die Zustimmung des Kongresses von Versailles (Nationalversammlung und Senat) mit einer Dreifunftel-Mehrheit. Am 28. Februar 2004 stimmten 730 Mitglieder für die Verfassungsänderung, 66 dagegen, 96 enthielten sich der Stimme. 19 Partick JARREAU, Jacques Chirac et son referendum, in: „Le Monde" vom 12. März 2005. 20 „Le Figaro" vom 7. März 2005.

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immer wieder vom effet contagieux die Rede 21 . Das spanische Ja hatte jedoch kaum einen Franzosen dazu bewogen, ebenfalls mit Ja zu stimmen. Hingegen dürfte die eigens vorgezogene Beratung im deutschen Bundestag vom 12. Mai einen leicht positiven bzw. freundlichen Druck erzeugenden Effekt auf die Abstimmung in Frankreich vom 29. Mai gehabt haben. Das französische Nein von 54,9 % könnte der Opposition in Dänemark einen Auftrieb gegeben haben, den sie aber bei dem deutlichen Nein von 61,8 % gar nicht benötigte. In Großbritannien setzte die Regierung einen eventuellen Abstimmungstermin absichtlich spät an, um im Fall anderer Ablehnungen gar nicht mehr abstimmen zu müssen oder im Fall von Annahmen durch die übrigen 24 Mitglieder einen möglichst massiven Druck auf die eigenen Bürgerinnen und Bürger ausüben zu können. Bekanntlich sahen die 25 EU-Mitglieder nicht nur keinen gemeinsamen Termin, sondern auch keine einheitliche Art der Ratifizierung vor: 15 ratifizierten nur über die nationalen Parlamente, zehn wollten Volksabstimmungen durchführen, wobei diese Durchführungen zum Teil vom freien Ermessen der Regierungs- und Staatschef abhing. Es herrschte typische europäische Vielfalt. Bisher konnte man - wenn man von Deutschland absieht, dessen Grundgesetz aus historischen Gründen keine Volksabstimmungen mehr vorsieht nicht feststellen, dass sich Bürgerinnen und Bürger von Ländern ohne Volksabstimmung im Vergleich mit Bürgerinnen und Bürgern mit Volksabstimmung wesentlich benachteiligt fühlten. Immerhin wurde in Italien so etwas wie eine Stellvertreterdebatte beobachtet. In Frankreich bemerkte man: „Prives de referendum, les Italiens s'immiscent dans le debat Fran9ais"22. Ob das zu begrüßen oder zu bemängeln ist: Politische Gepflogenheiten ruhen in hohem Maß in sich selber, im Landesüblichen, und werden höchstens an sich diskutiert, aber nicht im Vergleich mit anderen Ländern. Ein anderer unter dem Aspekt der transnationalen Vergemeinschaftung der Politik positiver Aspekt bestand darin, dass sich zahlreiche nichtfranzösische Europäer, jeweils von französischen Institutionen eingeladen, in den französischen Abstimmungskampf einschalteten. Abstimmungskämpfe wie der im Mai 2005 in Frankreich geführte (mit Appellen etwa eines Vaclav Havel und zahlreicher anderer Europäer) leisten jedenfalls einen wichtigen Beitrag zur Herstellung einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit 23 . 21

Diktum des dänischen Europaabgeordneten Jens-Peter Bonde, vgl. „Le Monde" vom 23. März 2005. Die Berechnungen von Eric Chaney von der Bank Morgan Stanley haben den positiven Ansteckungseffekt sehr hoch bewertet, indem sie die Anteile der erwarteten negativen Stimmen in der darauf folgenden Abstimmung halbiert haben („Le Monde" vom 1. April 2005). Dem ist die Vermutung entgegenzuhalten, dass die negativen Ansteckungen stärker wirken werden als die positiven. 22 „Le Monde" vom 18. Mai 2005, S. 7. 23 Titelschlagzeile „L'Europe contre-attaque pour sauver le oui", in: „Le Monde" vom 20. Mai 2005. Vaclav HAVEL, Pour une souverainete partagee, in: „Le Monde" vom 21. Mai

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Ohne Zweifel fand wegen der Abstimmung zwangsläufig eine gewisse Auseinandersetzung mit Reformprojekten und den damit verbundenen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung statt. Die Abstimmung gab den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften Gelegenheit, sich zu manifestieren und sich in der öffentlichen Debatte ins Spiel zu bringen. So machte eine Autorin im „Figaro" darauf aufmerksam, dass das Abstimmungsverhalten der Frauen entscheidend sei und dass es in den Parlamentspräsidentinnen Simon Veil und Nicole Fontaine zwei große französische Europäerinnen gibt 24 . Oder Jose Bove, der Wortführer der Confederation paysanne, erhielt Gelegenheit, in „Le Monde" auf die Deregulierungsgefahren für die Bauernbetriebe aufmerksam zu machen 25 . Man kann die These wagen, dass solche Abstimmungskämpfe nicht nur ein wichtiger Moment des Aushandelns politischer Forderungen, sondern auch eine wichtige Form des kollektiven Lernens sind und ohne Abstimmungsdatum diese Lernprozesse ausblieben. Vor allem nach dem 29. Mai 2005 konnte man dann allerdings auch Stimmen hören, die dieser These ausdrücklich widersprachen und erklärten, dass mit der Abstimmungsdebatte sogar die Desinformation zugenommen habe 26 . In Verfassungsgebungsprozessen kann man sogar immer wieder hören, dass die Herstellung von Bürgernähe, das Bekanntmachen mit den öffentlichen Problemen, die Vitalisierung der Demokratie ein wesentliches eigenes Ziel und nicht nur ein Nebeneffekt des Projekts sei 27 . Im Fall des französischen Neins ist es klar, dass es nur zu einem Teil dem Verfassungsvertrag selber galt. Giscard d'Estaing, ehemaliger Staatspräsident und Präsident des Verfasungskonvents, betonte es immer wieder, das Nein habe nicht dem Text, sondern dem Kontext gegolten. Dem innenpolitischen 2005, Frontseite. Es war vor allem die europäische Linke und namentlich die Polit-Prominenz Westeuropas, die sich „einmischte": die Deutschen Gerhard Schröder und Joschka Fischer (letzterer auch im Streitgespräch mit dem sozialistischen Senator Jean-Luc Melenchon, in: „Le Monde" vom 7. Mai 2005), der Portugiese Mario Soares, der Spanier Josep Borrell, der Belgier Elio Di Rupo; die drei wichtigsten italienischen Gewerkschaften, in: „Le Monde" vom 25. Mai 2005, Frontseite. Aber auch Gremien der EU: So sprachen sich die 25 in Paris versammelten Gesundheitsminister fur ein „oui Fran$ais" aus, in: „Le Monde" vom 18. April 2005. 24 Beatrice MAJNONI D'LNTIGNANO, Membre du Conseil d'analyse economique, in: „Le Figaro" vom 8. März 2005. 25 „Le Monde" vom 18 März 2005. 26 Erhard FRIEDBERG, Direktor des Centre de sociologie des organisations im Institut d'etudes politiques de Paris, ist ganz entschieden der Meinung: „Le dibat n'etait pas exemplaire, il n'a pas ameliore le niveau de connaissances des Francis sur l'Europe et certainement pas servi la cause de l'Europe en France". Was gewonnen habe, sei vielmehr die systematische Desinformation gewesen, in: „Le Monde" vom 7. Juni 2005. 2 ' 1997 wurde u. a. mit diesem Argument die Totalrevision der Verfassung von Basel-Stadt gefordert, in: „Basler Zeitung" vom 27. Februar 1997. Ähnlich in den 1960er Jahren auf gesamtschweizerischer Ebene, vgl. Georg KREIS, Die Lancierung der Totalrevision der Bundesverfassung in den 1960er Jahren, in: Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren, Zürich 1998, S. 21-38.

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Kontext, der dadurch gekennzeichnet war, dass die französische Regierung dem Ausgang der vorangegangenen Regionalwahlen zu wenig Rechnung getragen hatte und darum einen Denkzettel verpasst bekam. Aber auch dem internationalen und wirtschaftlichen Kontext, dem die Befürchtung entsprang, dass mit der Osterweiterung in Kombination mit der geplanten Direktive Bolkestein die Arbeitsplätze in Frankreich zusätzlich gefährdet seien. Die starke Ausrichtung auf die aktuelle Regierung gestattete es Giscard d'Estaing, nachträglich sogar eine mehrheitliche Zustimmung zu „seinem" Verfassungsprojekt herbeizureden, indem er von den 55 % Nein-Stimmen sagte, dass 10 % der aktuellen Regierung (die auch er nicht mag) galten und dass sich 6 % gegen die überhaupt nicht aktuelle EU-Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen hätten, so komme man doch auf eine schöne Zustimmungsrate zur eigentlichen Vorlage28. Giscard d'Estaing erklärte im Frühjahr 2005, dass „ä la difference des Suisses, qui savent voter sur des textes, les Franfais (...) se prononcent sur la question qu'ils ont envie de se poser" 29 . Leider ist das eine Idealisierung: Auch in der Schweiz besteht die Tendenz, bei gewissen Vorlagen insbesondere zur Fremdenpolitik nicht zu den konkret vorgelegten Fragen abzustimmen, sondern über die gesamte Problematik ein emotionales Demonstrationsurteil abzugeben. Das Nein erhielt durch den Umstand zusätzlichen Auftrieb, dass um jeden Preis ein Ja erwartet wurde und die Wahl eigentlich keine Wahl war. Das war auch der Grund, warum der prominente Historiker Jacques Le Goff die Prozedur des Referendums als antidemokratisch bezeichnete30. Verfassungsabstimmungen sind, wie im Fall des Vertrags von Maastricht (1992) und des Vertrags von Nizza (2000), eigentlich keine echten Entscheide. Es besteht ein hoher Erwartungsdruck, der davon ausgeht, dass bei dieser „Übung" ein zustimmendes Resultat rauskommt. Man musste sich im Fall des Verfassungsvertrags bewusst sein: Wenn auch nur eine Abstimmung negativ ausgeht, werden die anderen 24 Zustimmungen - vorläufig - nicht umgesetzt werden können. Die Regierungen und das politische Kader waren im Grunde condamnes ä reussir, sie hatten in ihren Ländern schlicht ihre Hausaufgaben zu machen und gefälligst für ein positives Votum zu sorgen. Sachlich ist es allerdings gerechtfertigt, dass man international ausgehandelte Ergebnisse nicht in gleichem Maß einer Ablehnung aussetzen will wie ein innenpolitisch vorbereitetes Projekt. Gilt dies schon für einen bilateralen Vertrag, ist es in noch höherem Maß bei einem multilateralen Vertragswerk der Fall. Dass es sich hier um einen Entscheid ohne echte Wahl handelte, 28

„Le Monde" vom 15. Juni 2005. Giscard d'Estaing wiederholte die Kontext-Erklärung in einem größeren Interview im „Standard" vom 24./25./26. Dezember 2005. 29 Zit. nach „Le Monde" vom 31. Mai 2005. 30 Jacques Le Goff: „Je suis, en outre, oppose au precede du referendum, ä mes yieux antidemocratique", in: „Le Monde" vom 22. März 2005.

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wurde von der Opposition heftig beanstandet. Der französische Spitzenpolitiker Nicolas Sarkozy gab die Parole aus: „Nous n'avons pas le droit de dire non" 31 . Hatte der Bürger in einer derartigen Situation wirklich nicht das Recht, nein zu sagen? Der auf der äußeren Rechten politisierende Altminister Charles Pasqua nahm diese Ordre prompt auf und drehte sie um mit einem „On a le droit de dire non" 32 . In einer „Abstimmung ohne Wahl" könnte es neben den sachlich begründeten Ablehnungen auch ein Nein bloß aus Protest geben. Ob es um eine Totalreform wie beim Projekt einer neuern Verfassungen oder nur um eine Teilreform geht: Die Nein-Sager haben es oft leichter. Gegnerschaft bringt in der Regel mehr Militanz und Mobilisation zustande und kann mit Polemik mehr bewirken als befürwortende Würdigung. Man muss Leute gar nicht zu Gegnern machen, sondern sie nur verunsichern. Dies führt dazu, dass diese sich sagen, dass man im Zweifelsfall eher nein stimmen sollte. Die schweizerische Erfahrung zeigt, dass Sachgeschäfte in der Ausgangslage, am Anfang der Abstimmungskampagne, jeweils recht hohe Zustimmungen haben, dass sie diesen Vorsprung aber mehr und mehr verlieren, je näher der Abstimmungstermin kommt, so dass die Befürworter glücklich sind, wenn der Rückgang des ursprünglich hohen Zustimmungsgrades von 70 % und 60 % noch vor der 50 %-Marke stehen bleibt und nicht darunter rutscht. Mit anderen Worten: Die mit einem Anteil von 30 % gestartete Opposition ist schnell bei 49 %, sogar 51 %. Als sich Staatspräsident Chirac im Juli 2004 für das Referendum entschied, lag die Zustimmung bei etwa 64 %; als er im März 2005 den Abstimmungstermin auf den 29. Mai 2005 ansetzte, lag die Zustimmung noch bei etwa 58 %. Manche hätten, um das Ja nicht zu lange dem Erosionsprozess auszusetzen, eine kürzere Frist als diese 85 Tage gewünscht. Dass man nicht Nein sagen dürfe, das scheinen die beiden bekannten Fälle von Zustimmungsverweigerung zu zeigen. Sie belegen aber auch, dass man solche „Pannen", mindestens wenn sie kleinere Mitglieder betreffen, korrigieren kann: Im Fall des dänischen Nein beschloss der Gipfel von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992 wichtige Ausnahmeregelungen für Dänemark (keinen Zwang zum Euro und zur gemeinsamen Verteidigung, keine zwingende Teilnahme an der weiteren Rechtsentwicklung, insbesondere im Rechtsverkehr). 50 wurde bei leicht gesteigerter Stimmbeteiligung (von 83,1 % auf 85,5 %) aus einem im Juni 1992 zustande gekommenen Nein von 52,1 % im Mai 1993 ein Ja von 56,8 %. Im Fall des irischen Nein zu Nizza wurden, was das Gesamtprojekt betraf, keine gewichtigen Änderungen vorgenommen, hingegen bezüglich der Neutralität fur Irland wichtige Zusicherungen abgegeben. Das Nein von 53,9 % 31 32

„Le Figaro" vom 7. März 2005. „Le Monde" vom 17. März 2005.

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im 2001 wurde wiederum innerhalb eines Jahres 2002 in der zweiten Runde in ein Ja von sogar 62,9 % umgewandelt, dies auch über eine stärkere Mobilisation der Wählerschaft mit einer Steigerung der Stimmbeteiligung von 34,4 % auf 48,6 % 3 3 .

VI. Hin zu einem Mehr an direkter Demokratie? Die Verfechter der direkten Demokratie hoffen, dass durch die geballte Ladung der zehn freigesetzten Volksabstimmungen eine demokratisierende Dynamik ausgelöst wird. Die Befürworter für mehr Volksrechte in der EU sagen, dass die EU danach nicht mehr die EU von zuvor sein werde und dass man inskünftig - wegen der geöffneten Schleuse - mehr Volksabstimmungen werde durchführen müssen 34 . Dem könnte allerdings die Einmaligkeit des Geschäfts widersprechen. Der Zürcher Staatsrechtler Giovanni Biaggini sieht in einem bloß einmaligen demokratischen Input in Form einer allgemeinen Abstimmung über die Einführung eines Grundgesetztes keine ausreichende Legitimationsbasis und spricht sich im Fall von künftigen Änderungen der EU-Verfassung für ein fakultatives Verfassungsreferendum aus - implizit wohl nicht zufällig nach schweizerischem Vorbild 35 . Grundgesetze gibt es nicht alle Jahre einzuführen, und allzu viele Grundfragen stehen auch nicht zur Verfügung. In Ländern wie Großbritannien, Dänemark und Schweden kann es noch um die Einführung des Euro gehen. Dann könnte es, wie bereits laut gefordert, um Volksabstimmungen bei der eventuellen Aufnahme der Türkei in etwa zehn Jahren gehen. Schon im Jahr 2000 war im Hinblick auf die Osterweiterung von Plebisziten auch auf der Aufnahmeseite die Rede 36 . Das war, wenn man vom bereits erwähnten Spezialfall in Frankreich 1972 absieht, ein neues Phänomen, das sich aus einem Zusammenfallen von zwei Tendenzen erklärt: einerseits der wachsenden Skepsis gegen diese Erweiterung, andererseits dem stärker werdenden Ruf nach Mitsprache der Bürger 37 . 33

Ireland and the European Union: N i c e , Enlargement and the Future o f Europe, hrsg. von Michael Holmes, Manchester 2005. Brigitte MARCHER, The European Debate in Ireland: Lessons and Stimuli in the Perspective o f the Forthcoming European Elections ( R e s u m e o f a public debate at the „Renner Institute" held in Vienna on September 26, 2003). Pat LYONS und Richard SlNNOTT, Voter Turnout in the Republik o f Ireland, Dublin 2 0 0 3 (Information von Clive Church, Kent). 34

S o wird das Referendum in Irland über die Abtreibung als ein „spillover" der E U - A b stimmungen gedeutet. 35 Giovanni BIAGGINI, Direktdemokratische Legitimation der EU-Verfassung?, in: Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union (Anm. 14), S. 3 4 9 - 3 7 4 , zit. S. 358, 366. 36 Zum Beispiel Günter VERHEUGEN in der „Zeit" v o m 7. Juli 2 0 0 0 . Etwa gleichzeitig Expertenpapier der Friedrich Ebert Stiftung. 37 Pierre MOSCIVICI, ehemalger Europaminister, e h e m a l i g e s Mitglied des Europäischen Parlaments und Mitglied des Konvents forderte ein demokratisches System (S. 95), eine

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In Frankreich hat der Kongress dieser Erwartung bereits entsprochen, indem er am 28. Februar 2005 eine Verfassungsbestimmung beschloss, die für jede künftige Erweiterung (mit Ausnahme von Rumänien, Bulgarien und Kroatien) die Zustimmung des französischen Volkes verlangt. In Österreich gab der Kanzler Schüssel ein ähnliches Versprechen ab. Ein Ausbaus der direkten Demokratie mit Volksabstimmungen zu begrenzten Sachgeschäfte, auch über einzelne Gesetze beziehungsweise Richtlinien, ist auch in der EU von morgen nicht vorgesehen. Der Verfassungsvertrag enthält in Art. 1-47 zwar eine revolutionäre Neuerung 38 . „Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen. Die Bestimmungen über die Verfahren und Bedingungen, die für eine solche Bürgerinitiative gelten, einschließlich der Mindestzahl von Mitgliedsstaaten, aus denen diese Bürgerinnen und Bürger kommen müssen, werden durch Europäisches Gesetz festgelegt".

Man kann in der Aufnahme dieses Artikels ein Indiz dafür sehen, dass die Idee der direkten Democratic weiter gediehen ist - a fait son chemin. Als Historiker interessiert man sich weniger für die Frage, ob das eine gute oder weniger gute Innovation handelt, sondern eher für die Frage, wie es dazu gekommen ist. Auf Grund der Darstellung eines schweizerischen Experten und Militanten der direkten Demokratie ergibt sich das folgende provisorische Bild: Dieser Teil der ultimes retouches kurz vor dem Gipfel von Thessaloniki vom Juni 1993 hat eine beinahe zehnjährige Vorgeschichte, in der es zu einer wichtigen Zusammenarbeit zwischen NGO (wie eurotopia) und Regierungsdelegationen (vor allem der italienischen und österreichischen) und dann auch mit einzelnen Exponenten des Konvents gekommen ist39. Dass es schließlich zu dieser Lösung kam, ist auf die von Olivier Duhamel im März 2005 in einer öffentliche Debatte in der Ecole des Sciences Po in Paris beschriebenen Kombination von volonte et chaos zurückzufuhren, wobei es in dieser Fall viel mehr Willen als Chaos gab.

öffentliche Debatte und eine „redefinission du lien entre l'Europe et le citoyen" (S. 135), aber auf diese neue Initiative ging er nicht ein. Vgl. Les 10 questions qui fächent les Europeens, Paris 2004. 38 Andreas AUER, European Citizens' Initiative, in: European Constitutional Law Review 1/1 (2005), S. 79-86. 39 KAUFMANN, Eine Prise Schweiz (Anm. 3) S. 155-170. Die frühen Ambitionen sind belegt etwa in der Vierteljahrszeitschrift für Integrationsfragen „Die Union" 4 (1998).

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Das vorgesehene Initiativrecht ist vielleicht ein bescheidener Anfang 4 0 . Jedenfalls ist es eng begrenzt. Es beschränkt sich auf eine unformulierte Anregung in einem genau umschriebenen Punkt. Der so angestoßene Prozess verläuft dann aber nach dem bereits etablierten Prozedere zwischen Kommission, Rat und Parlament - und ohne Basisbürger. Das neue Instrument könnte die Integration stärken, weil seine Anwendung den Ausbau der transnationalen Kooperation von Parteien und Verbänden erfordert und die Interaktion zwischen unterer und oberer Ebene intensiviert. Die Europäische Initiative könnte auch insofern einen Anfang bedeuten, als mit diesem demokratischen Recht weitere demokratische Rechte eingefordert werden könnten. Auch wenn die neue Europäische Initiative zu einem wichtigen Instrument werden sollte, werden weiterhin die meisten Geschäfte auf der Ebene des Europäischen Parlaments behandelt und mitentschieden.

VII. Hin zu neuen Dimensionen der Demokratie? Die Kritiker des Demokratiedefizits haben sich mehrheitlich stets am klassischen Parlamentsmodell des Nationalstaates orientiert, sie wollen aus dem Parlament eine richtige Volkskammer, sodann aus Ministerrat eine zweite Kammer (einen Bundesrat) und aus der Kommission eine richtige Regierung machen 4 1 . In jüngerer Zeit melden sich aber Stimmen, die diese Ambition für verfehlt halten und ihr vorwerfen, sich an einem überholten Modell zu orientieren. Sie propagieren ein alternatives Modell. Es sei nämlich eine Illusion zu meinen, dass sich Politik auf entscheidende Orte konzentrieren lasse und ihre Legitimation aus repräsentativ-demokratischer Willensbildung gewinne. Politik habe kein Zentrum und ziele nicht aufs Ganze. Politik sei polyzentrisch und ziele auf kleine Teillösungen von kleinen Teilproblemen. Der Bamberger Soziologe Richard Münch hat diesem neuen Verständnis einen schon 2001 erschienenen Aufsatz gewidmet und diesen mit dem einprägsamen Titel versehen „Demokratie ohne Demos" 4 2 . Das neue Verständnis zeichnet kein statisches Staatsgebäude mit einfacher Geometrie, wie man es in der Schule lernt. Er zeichnet ein dynamisches und hybrides Gebilde und sagt von seinen Wesensmerkmalen, es bilde eine plu40

Der Zürcher Politologe Simon Hug sagt von diesem neuen Instrument, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit „ziemlich belanglos" bleiben werde. Möglichkeit und Grenzen der direkten Demokratie in der EU, in: Legitimationsgrundlagen der Europäischen Union (Anm. 14), S. 41 l^t27, hier S. 427. 41 Karl-Heinz REIF, Wahlen, Wähler und Demokratie in der EG. Die drei Dimensionen des demokratischen Defizits, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 19 (1992), S. 43-52. 42 Richard MÜNCH, Demokratie ohne Demos. Europäische Integration als Prozess des Institutionen- und Kulturwandels, in: Theorien europäischer Integration, hrsg. von Wilfried Loth und Wolfgang Wessels, Opladen 2001, S. 177-203, speziell ab S. 199 ff.

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ralistische Mehrebenendemokratie mit einer Vielzahl von beweglich Arenen und einer Vielzahl von offenen Gruppen, die um Einfluss und provisorische Lösungen kämpfen. Gesetzgebung schaffe nur einen Rahmen, es gebe keine definitiven Lösungen, alles bleibe Stückwerk, beliebig revidierbar und permanent korrigierbar. Ob der Entdecker der postmodernen Welt nur eine postmoderne Brille aufgesetzt oder tatsächlich postmodern gewordene Verhältnisse wahrgenommen hat, soll hier offen bleiben. Bei gewissen Formulierungen schwingt schon einiges Wunschdenken mit, wenn von „immer mehr verblassenden Resten von Nationen" geschrieben wird und neben der Vielzahl horizontal angeordneter Interessengruppierungen „vor allem" selbstverantwortlich handelnde Individuen vermeintlich wahrgenommen werden. Die beiden Politikverständnisse heben zwei Realitäten auf Kosten des anderen hervor. Die beiden Welten, die moderne des streng geometrischen Nationalstaats und die postmoderne der nach variabler Geometrie funktionierenden Prozessmaschine, müssen sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen. Auch wenn es nach einem schwachen Versuch eines Ausgleichs aussieht: Die Denker wie die Praktiker, auf nationaler wie auf supranationaler Ebene, sind gut beraten, wenn sie die informellen und inoffiziellen Politikprozesse wahrnehmen und ernst nehmen. Wer andererseits die informelle Politik ins Zentrum rückt, sollte die formellen Prozesse nicht unterschätzen und auch nicht gering schätzen. Es gibt wichtiger werdende Zonen, wo sich die beiden begegnen, ja überschneiden 43 . Die Auseinandersetzungen um die demokratischen Rechte bewegen sich oft zwischen zwei Mustern: Das eine sieht - dies mehr beklagend als ihm zustimmend - den Trend zu einem fortschreitenden Abbau und einer stetigen Schmälerung der Basispartizipation infolge der ebenfalls zunehmenden Verlagerung der Entscheide auf unerreichbar hohe Ebenen oder scheinbar fernen Orten - wie Brüssel. Das andere Muster meint, in den letzten Jahren einen noch nie da gewesenen globalen Aufbruch in eine neue demokratische Qualität wahrzunehmen und die direkte Demokratie von Etappensieg zu Etappensieg eilen zu sehen - von der Ukraine bis nach Taiwan 44 . Der „Economist" hat von einem weltweiten Trend gesprochen und diesen als „next big Stepp for Menkind" gewürdigt. Unsere akademischen Studien, die sich mit den schwierigen Fragen der politischen Partizipation befassen, bewegen sich im Mittelfeld zwischen diesen Extremvorstellungen.

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Ebd., S. 203. KAUFMANN, Eine Prise Schweiz (Anm. 3), S. 110. Die Volksinitiative wird auch in den USA als zukunftsträchtiges Instrument gewürdigt, vgl. John G. MATSUSAKA, For the Many and the Few: The Initiative, Public Policy and American Democracy, Chicago 2004.

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Anhang I 17 Beitrittsabstimmungen 10.05.1972-IRLAND (83,1 % J A ) 2 6 . 0 9 . 1 9 7 2 - N O R W E G E N (53,5 %NE1N) 02.10.1972 - DÄNEMARK (63,3 % JA) 05.06.1975 - GROSSBRITANNIEN Verbleiben (67,2 % JA) 12.06.1994 - ÖSTERREICH (66,6 % JA) 16.10.1994 - FINNLAND (56,9 % JA) 13.11.1994-SCHWEDEN ( 5 2 , 7 % J A ) 28.11.1994 - NORWEGEN (52,2 % NEIN) 08.03.2003 - MALTA (53,7 % JA) 23.03.2003 - SLOWENIEN (89,6 % JA) 03.04.2003 - SLOWAKEI (86,8 % JA) 12.04.2003 - UNGARN (83,8 % JA) 11.05.2003 - LITAUEN (91,8 % JA) 08.06.2003 - POLEN (77,4 % JA) 14.06.2003-TSCHECHIEN ( 7 7 , 3 % J A ) 14.09.2003 - ESTLAND (66,8 % JA) 21.09.2003 - LETTLAND (67,5 % JA)

Anhang II 14 Sachabstimmungen (drei davon gingen negativ aus, zwei wurden korrigiert) 23.04.1972 - FRANKREICH: EG-Erweiterung (68,3 % JA) 26.05.1986 - IRLAND: Einheitliche Europäische Akte (69,9 % JA) 2 7 . 0 6 . 1 9 8 6 - DÄNEMARK: Einheitliche Europäische Akte (56,2 % J A ) 18.06.1989 - ITALIEN: Initiative für EU-Verfassung (88,1 % JA) 02.06.1992 - DÄNEMARK: „Maastricht" (52,1 % NEIN) 18.06.1992 - IRLAND: EU-Vertrag von Maastricht (69,1 % JA) 2 0 . 0 9 . 1 9 9 2 - FRANKREICH: „Maastricht" (51,1 % J A ) 18.05.1993 - DÄNEMARK: „Maastricht" 2. Abst. (56, 8 % JA) 22.05.1998 - IRLAND: EU-Vertrag von Amsterdam (61,7 % JA) 28.05.1998 - DÄNEMARK: EU-Vertrag von Amsterdam (55,1 % JA) 28.09.2000 - DÄNEMARK: Beitritt zum Euro (53,1 % NEIN) 07.06.2001 - IRLAND: EU-Vertrag von Nizza (53,9 % NEIN) 19.10.2002 - IRLAND: EU-Vertrag von Nizza, 2. Abst. (62,9 % JA) 14.09.2003 - SCHWEDEN: Beitritt zum Euro (56,1 % NEIN)

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Jahrbuch für Europäische

Geschichte

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Anhang III Abstimmungen zum Verfassungsvertrag Volksabstimmungen: Spanien: 20. Februar 2005 (89,6 %Ja) Frankreich: 29. Mai 2005 (54,9 %Nein) Niederlande: 1. Juni 2005 (61,8 %Nein) Luxemburg: 10. Juli 2005 (56,5 % Ja) Dänemark: September 2005 (verschoben) Portugal: Oktober 2005 (verschoben) Polen: Oktober 2005 (verschoben) Grossbritannien: März 2006 (verschoben) Tschechien: Juni 2006 (ohne Termin) Irland: 2006 (ohne Termin) Parlamentsabstimmungen (alle zustimmend): Litauen: 11. November.2004 Ungarn: 20. Dezember 2004 Slowenien: 1. Februar 2005 Italien: 6. April 2005 Griechenland: 19. April 2005 Slowakei: 11. Mai 2005 Österreich: 25. Mai 2005 Deutschland: 27. Mai 2005 Lettland: 2. Juni 2005 Zypern: 30. Juni 2005 Malta: 6. Juli 2005 Belgien: 9. Feb. 2006 Schweden: Dezember 2005 (verschoben) Estland: 9. Mai 2006 Finnland: 12. Mai 2006

Summary This contribution illustrates the elements o f direct democratic participation in decision-making throughout the history o f the European Union. Alongside the well known semi-direct democracy o f the European Parliament, lesser

Kreis, Die direktdemokratische

Dimension

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known and, surprisingly, more direct democratic participation has occurred in the last few years. Apart from the accession referendums that took place outside the EU, mainly after 1992, all 14 referendums were carried out in different manners. Out of these referendums, four took place before and ten after 1992; this was partly due to national regulations and partly due to the discretion exercised by the heads of state and government. Why did fundamental democratic participation demands that originated around 1945 experience a revival in the beginning of the 1990s? When a draft constitutional treaty was discussed in the 1980s nobody had yet considered that the treaty should have been subject to a direct referendum. There are three main reasons: first, the general increase of decision-making competence on a supranational level certainly had an impact on the basis; second, the collapse of the USSR in 1989; and third, the referendums on „Maastricht" in France and Denmark in 1992 perhaps had a reviving effect. The two conventions of 1999 and 2001 were the first conventions in EU history aimed at accommodating the basic democratic need for co-determination. However, they not only satisfied this need, but also they nurtured it. It was again referendums in France and Denmark, this time regarding the constitutional treaty, which last year (2005) gave fresh impetus to the democracy debate. Some emphasize that these referendums showed the limits of direct democracy. Others see them as the starting point for a new democratic quality of the EU

FORSCHUNGSBERICHTE Jüdische Geschichte im europäischen Kontext ein Forschungs- und Literaturbericht Von

Kerstin

Armborst

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Geschichte der Juden in besonderem Maße in den Brennpunkt der historischen Forschung und Lehre gerückt. Dies zeigt sich zum einen an den speziellen Forschungseinrichtungen im In- und Ausland, von denen viele erst in den 1990er Jahren gegründet worden sind, aber vor allem auch an der Vielzahl der Publikationen, die in dieser Zeit zu Fragestellungen der jüdischen Geschichte erschienen sind. Neben einer bedeutenden Anzahl wichtiger Einzelstudien, welche eine Region oder ein Territorium in den Blick nehmen bzw. sich auf die jüdische Bevölkerung eines Landes konzentrieren, hat die Forschung gerade in den vergangenen fünf bis zehn Jahren auch eine Reihe von Publikationen hervorgebracht, die sich aus engen zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen lösen und einen breiteren komparativen oder transnationalen Rahmen anlegen. Der folgende Bericht wendet sich jenen Forschungen zur jüdischen Geschichte zu, die hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes aus einem erweiterten Blickfeld heraus neue Erkenntnisse liefern und auf diese Weise einen Beitrag zu einer übergeordneten europäischen Perspektive leisten können. Anders als in dem 2005 erschienenen Forschungsbericht zur europäischjüdischen Historiographie von Paula E. Hyman 1 , der vor allem jene Werke herausgreift, die sich mit der jüdischen Geschichte in einzelnen europäischen Ländern und Regionen beschäftigen 2 , sollen hier also umfangreichere Arbeiten - Überblicksdarstellungen, Monographien und Sammelbände - aus den letzten zehn Jahren betrachtet werden, welche die Nationalgeschichte hinter sich lassen, sich ihrer jeweiligen Fragestellung vielmehr mit einem länderübergreifenden vergleichenden oder transnationalen Ansatz nähern und so der Forschung neue Sichtweisen eröffnen. Dabei werden Arbeiten mit unter1 Paula E. HYMAN, Recent Trends in European Jewish Historiography, in: The Journal of Modern History 77 (June 2005), S. 345-356. 2 Besprochen werden ζ. B. Jaques EHRENFREUND, Memoire juive et nationalite allemande: Les juifs berlinois ä la Belle Epoque, Paris 2000; Todd M. ENDELMAN, The Jews of Britain, 1656 to 2000, Berkeley 2002 und Benjamin NATHANS, Beyond the Pale: The Jewish Encounter with Late Imperial Russia, Berkeley 2002.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

schiedlichen Themenstellungen und Epochenschwerpunkten ausgewählt und auf ihren Beitrag zu einer europäisch-jüdischen Historiographie hin untersucht. Da die zu untersuchenden Arbeiten thematisch vielgestaltig und verschiedenperspektivisch sind, wird sich die chronologisch den behandelten Epochen folgende Betrachtung an mehreren Leitfragen orientieren, die durchgehend Beachtung finden sollen: 1. welche Themenbereiche der jüdischen Geschichte werden in einem europäisch relevanten Kontext behandelt; 2. welchen geographischen und zeitlichen Rahmen legen die Arbeiten an, welche Zäsuren werden gesetzt und wie werden sie begründet und 3. mit welchen Ansätzen versuchen die Arbeiten ihr jeweiliges Thema im europäischen Kontext auszuloten und wie gehen sie dabei methodisch vor? Nur wenige jüngere Publikationen haben es sich zur Aufgabe gemacht, einen Überblick über die Geschichte der Juden in Europa zu geben. Die Arbeit von Friedrich Battenberg 3 - als Standardwerk mittlerweile in der zweiten Auflage erschienen - hat mit ihrer Konzentration auf längerfristige Prozesse und umfassende Strukturzusammenhänge eine neue Grundlage für die Beantwortung übergreifender Fragestellungen zur Geschichte der europäischen Juden in ihrer nichtjüdischen Umwelt geschaffen. Dieser Ansatz wird mit dem „Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa" 4 weiterverfolgt, das sowohl die inneren Entwicklungen der jüdischen Gemeinschaften als auch die Beziehungen zwischen den Juden und den sie umgebenden christlichen und muslimischen Gemeinschaften von den Anfängen bis zur Gegenwart darstellen und analysieren will. Dazu ist das Werk in zwei Bände unterteilt: Der erste, vor allem politik- und sozialgeschichtlich orientierte Band ist ländergeschichtlich ausgerichtet, wobei teilweise auch größere geographische Räume betrachtet werden, da die Grenzen der Kultur- und Kommunikationsräume, die sich aus einer innerjüdischen Perspektive ergeben, in der Regel nicht mit den staatlichen Grenzen deckungsgleich sind und diese daher etwa für die jüdische Geschichte im Heiligen Römischen Reich bis 1648 oder für Ost- und Südosteuropa keinen sinnvollen Analyserahmen darstellen. Die Essays des zweiten Bandes untersuchen innerjüdische Entwicklungen religiöser und philosophischer, sprachlicher und kultureller sowie wirtschaftlicher und sozialer Natur, deren Beschreibung und Untersuchung sich „fast immer einer an den Grenzen der europäischen Staaten orientierten Perspektive entzieht" 5 . Gerade dieser zweite Band ist es, der in den sieben Abteilungen „Binnenstruktur", „Religion", „Kulturelle Entwicklung", „Geistige Ent3

Friedrich BATTENBERG, Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650, Bd. 2: Von 1650 bis 1945, Darmstadt 1990 (2. erw. Auflage Darmstadt 2000). 4 Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 1: Länder und Regionen, Bd. 2: Religion, Kultur, Alltag, hrsg. von Elke-Vera Kotowski [u. a.], Darmstadt 2001. 5 Ebd., Bd. 1,S. 11.

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen Kontext

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wicklung", „Die Juden und die christliche Gesellschaft", „Judenfeindschaft" und „Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus" die transnationale, europäische Dimension der jüdischen Geschichte herausarbeitet, wobei der Verzicht auf eine einheitliche Struktur der Beiträge einerseits eine thematische und konzeptionelle Vielfalt ermöglicht, andererseits aber auch die Synthese und Gesamtschau der Untersuchungsergebnisse sowie das Erkennen von themenübergreifenden, innerjüdischen Zäsuren erschwert. Wie in der Vergangenheit bereits vielfach festgestellt wurde, besteht hinsichtlich der Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte der Juden in Europa noch immer ein großer Nachholbedarf, vor allem wenn es darum geht, den engen Rahmen einer Religions- und Bildungsgeschichte des Judentums zu verlassen. Dabei sind vor allem von der Einbettung der innerjüdischen Entwicklungen in einen breiteren historischen Kontext und der Analyse der Beziehungen zwischen den Juden und den sie umgebenden Christen und Muslimen für die europäische Geschichte des Mittelalters bedeutsame Erkenntnisse hinsichtlich der Werthaltungen und Einstellungen der jeweiligen Gruppen und Individuen zu erwarten. Diese Einschätzung liegt der Forderung des Mediävisten Alfred Haverkamp nach einer stärkeren Hinwendung der Mittelalterforschung zu einer „Geschichte der Juden in Europa" zu Grunde, die auch wesentlich europäische Geschichte sei: „Bemühungen um eine europäische Geschichte im Mittelalter bleiben daher ohne die Geschichte der Juden nicht nur in wesentlichen Bereichen unvollständig, sondern sie verfehlen geradezu existentielle Komplexe und sind somit in hohem Maße revisionsbedürftig" 6 . Ein besonderes Problemfeld hinsichtlich der Erforschung der europäischjüdischen Geschichte im Mittelalter stellt die Definition der Reichweite Europas dar, denn - so Haverkamp - „die räumliche Ordnungseinheit ,Europa' [...] ist christlich und mit einem deutlich lateinisch-christlichen Akzent fixiert"; eine Erforschung der mittelalterlichen Geschichte erfordere daher vielmehr eine „Offenheit des Europabegriffs für große Übergangszonen in Regionen, die geografisch zu Asien und Afrika gehören" 7 . In diese Richtung argumentiert auch Michael Toch, wenn er die ersten Abschnitte der europäischen frühmittelalterlichen Geschichte der Juden als noch gänzlich der Mit-

6

Alfred HAVERKAMP, Europas Juden im Mittelalter - Streifzüge, in: Europas Juden im Mittelalter. Katalog zur Ausstellung „Europas Juden im Mittelalter" im Historischen Museum der Pfalz Speyer vom 19. November 2 0 0 4 bis 20. März 2005, im Deutschen Historischen Museum Berlin vom 23. April bis 28. August 2005, hrsg. vom Historischen Museum der Pfalz Speyer, Ostfildern-Ruit 2004, S. 17-35, hier: S. 20. Die Ausstellung „Europas Juden im Mittelalter" hatte sich zum Ziel gesetzt, sowohl an die bedeutende Judengemeinde von Speyer zu erinnern als auch die europäische Dimension des Judentums in dieser Epoche zu verdeutlichen. 7

Ebd., S. 19.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

telmeerwelt verhaftet beschreibt und als ihre Zentren Spanien, Italien, Südfrankreich und Byzanz benennt 8 . Ebenso wie die geographische Eingrenzung, so ist auch der zeitliche Rahmen der mittelalterlichen europäisch-jüdischen Geschichte ein bedeutender Diskussionspunkt. Folgt man dem Konzept von Friedrich Battenberg, so setzte die „Zeit des europäischen Judentums" im 10. Jahrhundert ein, wobei die Vorgeschichte mit den Siedlungen jüdischer Kaufleute seit dem 7. und 8. Jahrhundert begann 9 . Die Herausgeber der Quellenedition „Juden in Europa" 10 , Julius H. Schoeps und Hiltrud Wallenborn, dagegen dokumentieren die Vorund Grundlagengeschichte mit Quellen zu den politischen Entwicklungen im Judäa der hellenistischen und römischen Zeit, zur religiösen Entwicklung des Judentums bis zum Abschluss des Babylonischen Talmud sowie zur Geschichte der Juden im Römischen Reich, denn „in das Blickfeld der Europäer und in den Zusammenhang der europäischen Geschichte gerieten die Juden und das Judentum [...] bereits in der mit den Eroberungen Alexanders des Großen [...] beginnenden hellenistischen Zeit und endgültig dann im Zusammenhang mit der Einbeziehung Judäas in den römischen Machtbereich" 11 . Während Schoeps und Wallenborn in der Schrift des Augustinus „De civitate Dei" die bis zum Ende des Mittelalters gültige theologische Grundlage für den Umgang der christlichen Kirchen mit den Juden sehen 12 und das Dokument daher gleichsam als eine Zäsur an das Ende des Kapitels zur gemeinsamen Vorgeschichte der aschkenasischen und sephardischen Juden setzen, erkennen sie fur die mittelalterliche Geschichte der beiden jüdischen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Einschnitte: die Zäsur für die mittel- und westeuropäischen Juden bestimmen sie auf das Jahr 1350 - den Höhepunkt der Pogrome der Pestzeit 13 , fur die spätmittelalterliche Geschichte der sephardischen Juden benennen sie die Ausweisung der Juden aus Spanien 1492 als schwerwiegenden Einschnitt 14 . Die Bemühungen der Mittelalter- und Frühneuzeitforschung auf dem Gebiet der europäisch-jüdischen Geschichte haben in den vergangenen Jahren verschiedene Studien hervorgebracht, die sich ihrem spezifischen Untersuchungsgegenstand vergleichend nähern, wobei deutlich zu Tage tritt, wie stark der Forschungsstand lokal und regional divergiert. Dies zeigt sich beispielsweise in dem Sammelband zur Tagung „Judenvertreibungen während des Mit8

Michael TOCH, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998, S. 4. BATTENBERG, Das europäische Zeitalter der Juden, Bd. 1 (Anm. 3), S. 6. 10 Juden in Europa. Ihre Geschichte in Quellen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum späten Mittelalter, hrsg. von Julius H. Schoeps und Hiltrud Wallenborn, Darmstadt 2001. Es handelt sich hierbei um den ersten Band einer auf fünf Bände angelegten Quellenedition. " E b d . , S. 1. 12 Ebd., S. 11. 13 Ebd., S. 18. 14 Ebd., S. 30. 9

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen

Kontext

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telalters" 15 , dessen Beiträge sich mit verschiedenen Regionen in Europa beschäftigen 16 und je nach geographischem Schwerpunkt in ganz unterschiedlichem Maße auf frühere Forschungen aufbauen können. Die starke räumliche Differenzierung der Untersuchung ist erforderlich, da selbst innerhalb des westlichen Europa hinsichtlich der Judenverfolgungen kein linear zeitliches Ablaufschema anzuwenden ist 17 . Mit seinem kulturräumlich orientierten Rundblick versucht der Band erstmals für den Kontext der Judenvertreibungen eine übergreifende Betrachtungsweise, für die jedoch auf Grund des divergierenden Forschungsstandes nur schwer eine gemeinsame Grundlage erarbeitet werden kann. Ferner wird offenbar, dass die hier enthaltenen Ansätze zu einer vergleichenden Analyse noch eine weitergehende Systematisierung erfordern. Erstrebenswert für die weitere Forschung erscheint daher eine „begründete Kombination der jeweiligen Untersuchungsräume nach den Faktoren, die für die christliche Majorität und für die jüdische Minorität bestimmend waren" 18 . Auch fur die jüdischen Gemeinden und ihren christlichen Kontext liegt nun mit einem geographisch weitgreifenden Tagungsband 19 eine kulturräumlich vergleichende Untersuchung vor. Der Band setzt seinen Schwerpunkt auf die aus christlich-europäischer Sicht als Mittelalter bezeichneten Jahrhunderte, behandelt aber insgesamt eine Zeitspanne von der christlichen Zeitenwende und der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende der „alteuropäischen" Ära im 18. Jahrhundert, um auf diese Weise bedeutsame Vorprägungen, langfristige Kontinuitätsstränge und zugleich entscheidende Veränderungen erfassen zu können. Innerhalb der einschlägigen nichtjüdischen Forschung zu Städten und Gemeinden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurden die jüdischen Gemeinden bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts meist nur am Rande beachtet und in der stark auf die Entstehung von „Kommunen" fixierten, rechts- und institutionsgeschichtlich dominierten For15

Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Friedhelm Burgard [u. a.], Hannover 1999. 16 Der Band versammelt Beiträge zu Lucca, Mainz, zum Erzbistum Magdeburg, zum englischen Königreich, zu Sizilien und Süditalien, zu den Folgen der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel, aus Territorien im Midi und Städten in der Provence sowie zu Judenverfolgungen in Brabant und zu antijüdischen Exzessen in Polen. 17 Alfred HAVERKAMP, Judenvertreibungen in Mittelalter und Frühneuzeit - Erscheinungsformen und Zusammenhänge, Betrachtungsweisen und Erkenntnischancen. Zur Orientierung, in: Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit (Anm. 15), S. 1 - 2 1 , hier: S. 7. 18 Ebd., S. 15. 19 Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Christoph Cluse [u. a.], Hannover 2003. Wie der Sammelband zu den Juden Vertreibungen (Anm. 15), geht auch diese Publikation auf eine Tagung an der Universität Trier zurück, die in Zusammenarbeit mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichteten Trierer Sonderforschungsbereich 235 „Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum 19. Jahrhundert" veranstaltet wurde.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

schung meist ausgeblendet, obwohl sie als ausgeprägte „Sakralgemeinschaften" sowohl für die Suche nach den Wurzeln als auch für die Frage nach den verschiedenartigen Erscheinungs-, Bedingungs- und Funktionsweisen von Gemeinden im Vergleich neue Erkenntnisse ermöglichen20. Da neuere, meist allerdings auf eine ausgewählte Gemeinde konzentrierte Studien21 nun gezeigt haben, dass die vergleichende Betrachtung von jüdischer und christlicher Gemeinde und ihrer Beziehungen für die Erforschung beider Gemeinschaftsformen bedeutende Ergebnisse verspricht, widmet sich der Band diesem Themenkomplex in einem größeren geographischen Kontext, wobei für die Antike und das frühe Mittelalter der weite Mittelmeerraum im Zentrum steht, während für das hohe und das späte Mittelalter nahezu alle Regionen berücksichtigt werden, in denen innerhalb der römisch-lateinischen Christenheit Juden in größerer Zahl lebten, und sich der Blickwinkel für die frühe Neuzeit auf Mitteleuropa verengt 22 . Wie schon der Band zu den Judenvertreibungen, so liefert auch diese, zahlreiche Einzelstudien zu jeweils relativ eng begrenzten geographischen Räumen umfassende Publikation in ihrer Gesamtheit erste wichtige Ansätze für eine grenzüberschreitende, auf die europäische Perspektive ausgedehnte Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes23. Eine räumlich weniger differenzierte Herangehensweise zeigen dagegen zwei Monographien zu sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen der mittelalterlichen europäisch-jüdischen Geschichte. In seiner Studie aus dem Jahre 2004 untersucht der Jerusalemer Historiker Avraham Grossman unterschiedliche Aspekte des Lebens jüdischer Frauen im mittelalterlichen Europa 24 mit einem starken Schwerpunkt auf den Jahrhunderten von 1000 bis 13 00 25 . Hinsichtlich des geographischen Rahmens seiner Studie bietet Gross20

Alfred HAVERKAMP, Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext: Konzeptionen und Aspekte, in: Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext (Anm. 19), S. 1-32, hier: S. 4-6. 21 S. etwa Israel J. YUVAL, Heilige Städte, heilige Gemeinden - Mainz als das Jerusalem Deutschlands, in: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Robert Jütte und Abraham P. Kustermann, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 91-101; Matthias SCHMANDT, Judei, cives et incole. Studien zur jüdischen Geschichte Kölns im Mittelalter, Hannover 2002. 22 HAVERKAMP, Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext (Anm. 20), S. 8. 23 S. dazu den zusammenfassenden Abschnitt „Aspekte im Vergleich" im einfuhrenden Beitrag von HAVERKAMP (Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext [Anm. 20], S. 19-32). An dieser Stelle sei auch hingewiesen auf ein neueres Grundlagenwerk für die Beschäftigung mit der Geschichte der Juden im mittelalterlichen Europa: Das von Alfred Haverkamp herausgegebene kommentierte Kartenwerk „Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen", 3 Bde., Hannover 2002, das 1800 jüdische Niederlassungen verzeichnet und charakterisiert, schafft eine solide Basis für einen möglichen detaillierten Vergleich der Untersuchungsräume. 24 Avraham GROSSMAN, Pious and Rebellious. Jewish Women in Medieval Europe, Waltham, Mass. 2004. 25 Als Begründung fur diese zeitliche Eingrenzung fuhrt Grossman vor allem die schlechte Quellenlage für das Früh- und Spätmittelalter an (ebd., S. 6 f.).

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen

Kontext

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man keine Definition seines Europabegriffs, sondern grenzt seine Arbeit lediglich von früheren Studien ab, die die Stellung der Frauen in den Mittelmeerländern untersuchten 26 . Betrachtet werden Aspekte wie das Heiratsalter, die Wahl des Ehepartners, die wirtschaftliche Stellung und die Bildungssituation der Frauen, ihre Rolle im religiösen Leben, Gewalt gegen Frauen und die Frage der Scheidung. Zur Analyse der Stellung der jüdischen Frau arbeitet Grossman drei Faktoren heraus, die bei der Untersuchung eines jeden Teilbereichs berücksichtigt werden: 1. das biblische und talmudische Erbe, 2. die Gegebenheiten in der die jüdische Bevölkerung umgebenden nichtjüdischen Gesellschaft und 3. die wirtschaftliche Situation der Juden sowie die Rolle der Frau bei der Erhaltung der Familie, wobei dem dritten Faktor ein außerordentlich großer Stellenwert zukommt, da die bedeutenden wirtschaftlichen Veränderungen innerhalb der mittelalterlichen jüdischen Gesellschaft einen stärkeren positiven Einfluss auf die Stellung der jüdischen Frau hatten als jeder andere Faktor 27 . Seinem Untersuchungsgegenstand nähert sich Grossman in manchen Fragen aus einer geographisch übergreifenden Perspektive 28 , andere Aspekte werden für verschiedene Räume separat untersucht, wobei Grossman zeigt, dass die Trennlinien weniger zwischen einzelnen Regionen, als vielmehr zwischen Aschkenas und Spanien sowie zwischen den muslimischen und christlichen Gesellschaften bzw. Ländern verlaufen 29 . Die zweite hier zu erwähnende Monographie aus dem Bereich der mittelalterlichen Geschichte ist die Studie von Ivan G. Marcus 30 , die sich zwar auf einen Aspekt der aschkenasischen Kulturgeschichte - das mittelalterliche Initiationsritual, mit dem aschkenasische Jungen im Alter von fünf oder sechs Jahren an Schawuot zur religiösen Ausbildung zugelassen wurden - konzentriert, diesen aber in einem breiteren Kontext untersucht. Ist die westeuropäisch-jüdische Geschichte lange Zeit weitgehend isoliert von ihrem nichtjüdischen Umfeld betrachtet worden, so bemüht sich diese Studie um eine Sichtweise, die die Einflüsse der christlichen Gesellschaft mit berücksichtigt und in die Untersuchung einbezieht. Marcus arbeitet mit einem kulturanthropologischen Zugang, der die antiken jüdischen und heidnischen griechisch-römischen Wurzeln des Rituals freilegt und es in seiner Gesamtheit vor dem Hintergrund der zeitgenössischen christlichen und weiterer jüdischer Initiationsrituale wie der im Spätmittelalter neu entstehenden Zeremonie der Bar Mitzwa 26

Ebd., S. 6. Ebd., S. 1-3. 28 So in den Kapiteln „Woman as Wife and Mother and Her Economic Status" (ebd., S. 123-153), und „Women's Role in Jewish Martyrdom in Europe in the Eleventh to Thirteenth Centuries" (ebd., S. 198-211). 29 Diese Differenzierung findet sich etwa im Kapitel „Feminine Modesty and Women's Role in Supporting the Family" (ebd., S. 102-122). 30 Ivan G. MARCUS, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, N e w Haven/London 1996. 27

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

analysiert. Auf diese Weise erreicht der Autor sein gestecktes Ziel „to uncover fundamental values and ways of looking at the world that are at work in the culture of Ashkenaz in its European Christian setting"31 und weist den Weg für eine Forschung, die den lokalgeschichtlichen Zugriff und die isoliert auf die jüdische Geschichte bezogene Betrachtung hinter sich lässt und sich vielmehr der Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden im christlichen Europa zuwendet, wobei nicht die häufig thematisierten Fragen des Antijudaismus und der christlich-jüdischen Auseinandersetzung dominieren32, sondern eine Analyse der wechselseitigen Beeinflussung im Vordergrund steht. Ähnliche Tendenzen lassen sich auch in neueren Arbeiten zum Bereich der frühen Neuzeit finden. Zu nennen ist hier etwa die Studie von Hiltrud Wallenborn33, die eine vergleichende Betrachtung der Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts von Converses gegründeten jüdischen Gemeinden in Amsterdam, Hamburg und London unternimmt34. Die Arbeit versteht sich nicht in erster Linie als ein Beitrag zur kulturgeschichtlichen Sephardenforschung, sondern vielmehr „als ein Beitrag zur Erforschung der Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden im christlichen Europa und damit auch als ein Beitrag zur historischen Minderheitenforschung im allgemeinen"35. Im Gegensatz zu der häufig in der Forschung verbreiteten, aber meist wenig hinterfragten und begründeten Interpretation der Geschichte dieser Gemeinden als „Erfolgsgeschichte" untersucht Wallenborn, ob und inwieweit sich die sephardischen Gemeinden in Amsterdam, Hamburg und London - also in drei Städten, die im späten 16. Jahrhundert noch keine jüdische Bevölkerung aufwiesen - im 17. Jahrhundert tatsächlich erfolgreich entwickelten, worin 31

Ebd., S. 14. Vgl. dazu etwa die wegweisenden Arbeiten von Heinz SCHRECKENBERG: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld ( l . - l 1. Jahrhundert), Frankfurt a. M./Bern 1982; Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.-13. Jahrhundert). Mit einer Ikonographie des Judenthemas bis zum 4. Laterankonzil, Frankfurt a. M. [u. a.] 1988; Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13.-20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. [u. a.] 1994; Die Juden in der Kunst Europas. Ein historischer Bildatlas, Göttingen [u. a.] 1996. 33 Hiltrud WALLENBORN, Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefardischer Migration im 17. Jahrhundert, Hildesheim/ Zürich/New York 2003. 34 Auf die Sozial- und Kulturgeschichte der sephardischen Gemeinden in Westeuropa, vor allem auf jene in Amsterdam, konzentriert sich auch der Großteil der Aufsätze von Yosef KAPLAN, die dieser in einem Sammelband mit dem Titel „An Alternative Path to Modernity. The Sephardi Diaspora in Western Europe" (Leiden/Boston/Köln 2000) herausgebracht hat. Der Geschichte der aus Spanien vertriebenen Juden, die sich in Südosteuropa niederließen, wendet sich eine Studie von Ester BENBASSA und Aron RODRIGUE zu (Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th—20th Centuries, Berkeley, Calif. 2000). Mit dieser geographischen Schwerpunktsetzung untersuchen Benbassa und Rodrigue Bevölkerungsgruppen, die bislang vor allem in der mitteleuropäischen Forschung nur wenig Beachtung gefunden haben. 32

35

Ebd., S. 40.

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen Kontext

187

dieser „Erfolg" gegebenenfalls bestand und welche Rolle das christliche Umfeld in dieser Entwicklung spielte. Indem sie nach den in den einzelnen Städten herrschenden Vorstellungen vom Judentum und von dem Platz der Juden in einer christlichen Gesellschaft sowie nach den durch die Judenpolitik geschaffenen Bedingungen fragt, diese mit den Erwartungen der sephardischen Gemeinden und ihren Möglichkeiten in wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht in Beziehung setzt und die Ergebnisse schließlich vergleichend betrachtet, zeichnet sie ein differenziertes Bild der untersuchten Gemeinden. Diese komparative Studie, die nicht nur die sephardischen Gemeinden dreier bedeutender westeuropäischer Fernhandelsstädte gegenüberstellt, sondern auch die christlich-jüdischen Beziehungen innerhalb der einzelnen Städte mit einbezieht, lässt erahnen, welche Ergebnisse von einer konsequent betriebenen Untersuchung der Wechselbeziehungen der jüdischen Lebenswelten mit ihrer nichtjüdischen Umwelt bereits für die frühe Neuzeit zu erwarten sind. Einen anderen Aspekt der Beziehungsgeschichte greift David Ruderman 36 heraus, indem er sich drei „subcommunities" im frühneuzeitlichen Judentum zuwendet, denen ein Interesse an Naturphilosophie und Medizin gemeinsam war 37 . Seine Studie analysiert die Interaktion von jüdischer Kultur, den Naturwissenschaften und der Medizin innerhalb und außerhalb dieser über ganz Europa verbreiteten „subcommunities", wobei in die Untersuchung auch weitere, in der jüdischen Gemeinschaft dieser Zeit bedeutsame Fragen wie die Herausforderung der rabbinischen Autorität, die Debatte über den Platz des Magischen und Mystischen in der jüdischen Kultur, der Konversionsdruck durch die gegenreformatorische Kirche und die jüdischen Antworten darauf, aber auch Äußerungen des Antisemitismus hineinspielen. Auf diese Weise untersucht Ruderman erstmals das Wechselspiel zwischen der jüdischen und der wissenschaftlichen Kultur in der Zeit der „wissenschaftlichen Revolution", und es gelingt ihm - im Verbund mit seinen früheren Arbeiten 38 - „to begin 36

David B. RUDERMAN, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Häven/London 1995. 37 Ebd., S . I I . Diese drei Gruppen charakterisiert Ruderman folgendermaßen: 1. ConversoÄrzte und andere universitär gebildete Intellektuelle, die im 17. Jh. aus Spanien und Portugal geflohen waren, sich in Holland, Italien, Deutschland, England und in Osteuropa niedergelassen hatten und oft über eine stark ausgeprägte Gruppenidentität verfügten - sie arbeiteten häufig als Ärzte, dienten als Übermittler von wissenschaftlichen Kenntnissen in den jüdischen Gemeinden in Europa und stellten einen einflussreichen politischen und wirtschaftlichen Faktor dar; 2. Kreise jüdischer Gelehrter in Mittel- und Osteuropa, die wissenschaftliche Studien (besonders Astronomie) auf informellere Art und Weise als Ergänzung zu den rabbinischen Studien betrieben; 3. die für die Geschichte der jüdischen Kultur in dieser Periode sehr bedeutsame Gruppe jener Juden, die vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert die italienischen medizinischen Ausbildungsstätten - vor allem die Universität Padua-besuchten; diese Institutionen boten die intensivste und systematischste Bildung in weltlicher Kultur, die jüdischen Intellektuellen vor der Emanzipation zugänglich war (ebd.). 38

S. etwa David B. RUDERMAN, Kabbalah, Magic, and Science: The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, Cambridge, Mass. 1988; DERS., Science, Medicine,

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to lay the groundwork for a comparative history of Jewish and Christian attitudes towards and participation in the ,new sciences'" 39 . Einen direkten Weg in Richtung einer Auflösung der lange Zeit in der Forschung verankerten Trennlinie zwischen der „allgemeinen" und der Jüdischen" Geschichte möchte das erstmals 2002 erschienene „Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts" beschreiten40. In der jüdischen Geschichte selbst sei eine allgemeine historische Perspektive bereits angelegt, argumentiert der Herausgeber Dan Diner: „Allein der vornehmlich transnationale, transterritoriale, urbane, mobile und textuelle Charakter der jüdischen Lebenswelten, der ihnen eigene und ungewöhnlich hohe Grad an Ubiquität in Zeit und Raum, zieht gleichsam epistemisch eine sich aus der Natur der Sache ergebende umfassende Sichtweise auf Geschichte nach sich" 41 . Ein solcher integrativer Ansatz ist zumindest in der deutschsprachigen Forschung nicht neu und wird etwa, wie oben bereits angedeutet, von dem Mediävisten Alfred Haverkamp, aber auch von dem Basler Osteuropahistoriker Heiko Haumann verfolgt. Jedoch ergänzt Diner diesen Ansatz durch den Anspruch, der jüdischen Geschichte die Bedeutung einer „erkenntnisleitenden Warte" für die „allgemeine" Historie zuzuerkennen und ihre initiative Beteiligung an einer Neuorientierung in der Geschichtswissenschaft zu verlangen, die einerseits eine Tendenz in Richtung einer „integrierten europäischen Geschichte" im Unterschied zu den eher „additiven" Konzepten der entangled histories oder der histoires croisees verfolge und andererseits einen Paradigmenwechsel von eher sozialgeschichtlich orientierten Zugriffen hin zu stärker kulturwissenschaftlichen Zugängen erkennen lasse42. Seine Auffassung von der jüdischen Geschichte als „Seismograph für die Verwerfungen der europäischen Geschichte" der Neuzeit hat Diner auch an anderer Stelle43 dargelegt und durch grundlegende Fragenkomplexe für eine europäisch angelegte Agenda der Geschichte der Juden vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Katastrophe und ihrer Nachgeschichte ergänzt: zu berücksichtigen sei erstens zum einen die „Verwandlung" des vormodernen jüdischen religiösen Selbstverständnisses in „internalisierbare Konand Jewish Culture in Early Modern Europe, Tel Aviv 1987. 39 Noah J. EFRON, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, in: Journal of the History of Ideas 58/4 (1997), S. 719-732, hier: S. 720. 40 Die einzelnen Bände widmen sich unterschiedlichen Schwerpunkten, so etwa den Themen „Polnische Judenheit der Zwischenkriegszeit" (Bd. 1), „Zwischen Triest, Saloniki und Odessa - über balkanische und angrenzende Judenheiten" (Bd. 2), der Frage der Konversionen in unterschiedlichen jüdischen Gemeinschaften (Bd. 3) oder der Institution des Shtadlanut, der traditionellen Fürsprache von Juden für Juden (Bd. 4). 41 Dan DINER, Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002), hrsg. von Dan Diner, Stuttgart/München 2002, S. 9-14, hier: S. 9. 42 Ebd., S. 10. 43 Dan DINER, Geschichte der Juden - Paradigma einer europäischen Historie, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, hrsg. von Gerald Stourzh, Wien 2002, S. 85-103.

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fession" sowie die nationalstaatliche Staatsbürgerlichkeit im Westen und zum anderen die kollektive „Säkularisierung der Juden als ethnisch verstandener Nationalität im europäischen Osten", zweitens sei nach der „Praxis diplomatischer Einwirkung jüdischer Persönlichkeiten und Organisationen aus den etablierten westlichen Gemeinwesen Europas mit dem Ziel der Gleichstellung ihrer Glaubensbrüder im Osten" zu fragen sowie drittens der migrationsgeschichtliche Zugriff zu verfolgen 44 . Der hier gesteckte Rahmen ist in den vergangenen Jahren durch einige teilweise neue Richtungen einschlagende Arbeiten gefüllt, aber auch erheblich erweitert worden. Auf verschiedenen Gebieten der Forschung zur Geschichte der europäischen Juden in der Moderne sind Anstrengungen unternommen worden, die nationalstaatlichen Klammern aufzubrechen und sozial-, wirtschafts- oder kulturgeschichtlich bedeutsame Linien freizulegen. Dennoch lassen sich diese Arbeiten freilich erst als Ansätze hinsichtlich einer umfassenderen europäischen Geschichtsschreibung der Juden bezeichnen. Victor Karady zeigt in seiner in der von Wolfgang Benz herausgegebenen Reihe „Europäische Geschichte" erschienenen sozialgeschichtlichen Studie „Gewalterfahrung und Utopie" 45 einige der Langzeitprozesse und strukturellen Transformationen auf, die für die großen Veränderungen innerhalb der europäisch-jüdischen Bevölkerung der vergangenen zwei Jahrhunderte bedeutsam waren. Ausgehend von grundlegenden Paradigmen der jüdischen Sozialgeschichte Europas, die die zerstreuten jüdischen Gemeinden bis zur Aufklärung kennzeichneten - dazu zählt Karady die einheitliche Natur der Diaspora, den strukturellen Pazifismus, die relative Verstädterung und die frühe wirtschaftliche Spezialisierung auf ökonomische Mittlerpositionen und intellektuelle Dienstleistungen - , diskutiert Karady die Auswirkungen des jüdischen Eintritts in die moderne Welt sowohl aus jüdischer als auch aus nichtjüdischer Perspektive im europäischen Kontext. David Penslar hat sich mit seiner 2001 erschienenen Arbeit „Shylock's Children" 46 der Frage zugewandt, wie Juden im modernen Europa ihre ökonomische Andersartigkeit wahrnahmen und auf die Kritik der Nichtjuden an ihren ökonomischen Verhaltensweisen reagierten. Ausgehend von den in Europa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts unter den Nichtjuden vorherrschenden Bildern vom jüdischen Wirtschaftsleben untersucht Penslar die Antworten jüdischer Intellektueller auf die wirtschaftliche Komponente des Antisemitismus. Dabei zeigt er, dass sich die wirtschaftliche Sonderstellung der Juden 44

Ebd., S. 89. Victor KARADY, Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. 1999. S. auch die weiter ausgearbeitete englischsprachige Fassung dieser Arbeit (DERS., The Jews of Europe in the Modern Era, A Socio-historical Outline, Budapest/New York 2004). 46 David PENSLAR, Shylock's Children. Economics and Jewish Identity in Modern Europe, Berkeley/Los Angeles [u. a.] 2001. 45

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wesentlich auf das intellektuelle und institutionelle Leben der jüdischen Bevölkerung vor allem in West- und Mitteleuropa, aber auch im Zarenreich ausgewirkt hat und die Entwicklung eines Netzwerks der jüdischen Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert beförderte, aus dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine jüdische Sozialpolitik entstand. Penslar setzt sich besonders mit den Entwicklungen im deutschsprachigen Raum auseinander, da hier der wirtschaftliche Diskurs vor dem Hintergrund von Emanzipation und erstarkendem Antisemitismus besonders heftig gefuhrt wurde, und er zeigt, dass die jüdische politische Ökonomie, die in Deutschland entstand und sich über ganz Europa ausbreitete, die jüdische Sozialpolitik katalysierte und lenkte. Auf diese Weise gelingt es ihm, die jüdische Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts eindeutig auf die Erfahrungen des Emanzipationsprozesses in Westeuropa zurückzufuhren. In die Debatte um die vieldiskutierte Frage der Modernisierung innerhalb des Judentums in Europa haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt Forscher eingeschaltet, die von der bisher stark verbreiteten germanozentrischen Sichtweise der jüdischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert abrücken und sich stärker auch Einflüssen aus anderen Regionen zuwenden 47 . Konzentrierte sich die Forschung für die Zeit seit der Aufklärung lange vor allem auf die aschkenasischen Juden und erkannte sie in diesem Zusammenhang besonders zwei Gruppen - die „Hofjuden" und die Maskilim - als treibende Kräfte für die Modernisierung, so knüpfen die neueren Arbeiten zu den „Hafenjuden" an eine Feststellung Salo Wittmayer Barons aus den 1930er Jahren an: Baron hatte darauf hingewiesen, dass ein ähnliches Phänomen wie die Förderung der Haskala durch einflussreiche „Hofjuden" auch in den Hafenstädten an der atlantischen Küste, in denen sich aus Spanien und Portugal geflohene Juden niedergelassen hatten, existiert habe 48 . Seit Ende der 1990er Jahre sind verschiedene Arbeiten erschienen, die sich mit den „Hafenjuden" einer Gruppe zuwenden, die bis dahin von der Forschung noch kaum als eigenständige sozio-kulturelle Formation in der europäisch-jüdischen Geschichte beachtet worden war 49 . Dass die „Hafenjuden" aber einen im euro47

Unter den frühen Arbeiten, die in den vergangenen Jahrzehnten die in der Forschung zur europäisch-jüdischen Geschichte des 18. Jahrhunderts lange verbreitete germanozentrische Sichtweise herausgefordert haben, ist etwa die Studie von Todd M. ENDELMAN, The Jews of Georgian England, 1714-1830. Tradition and Change in a Liberal Society, Philadelphia 1979 zu nennen. Endelman zufolge lässt sich die englisch-jüdische Geschichte nicht ohne weiteres unter der allgemeinen Kategorie der westeuropäisch-jüdischen Geschichte behandeln, daher formuliert er für seine Arbeit folgende Ziele: „This study is, then, an attempt to correct the Continental bias of modern Jewish historiography; it seeks to view AngloJewish history within the context of English history - without, however, losing sight of the experiences common to Western European Jewry as a whole" (ebd., S. X). 48

Salo W. BARON, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 2, New York 1937, S. 164-190. 49 S. etwa Lois C. DUBIN, The Port Jews of Habsburg Trieste. Absolutist Policy and En-

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päischen Kontext sehr bedeutsamen Faktor der jüdischen frühneuzeitlichen und modernen Geschichte darstellten, beweist der von David Cesarani herausgegebene Sammelband 50 , dessen Beiträge sich hauptsächlich auf jüdische Gemeinschaften in europäischen Hafenstädten konzentrieren. Den von David Sorkin als „sozialer Typus" bezeichneten, hauptsächlich sephardischen „Hafenjuden" wird eine führende Rolle im Transformationsprozess der Juden zuerkannt, denn - wie Cesarani die von Sorkin erarbeiteten Merkmale zusammenfasst - „Port Jews were associated with migration and commerce; they lived and operated in milieux that valued commerce; they eschewed the traditional autonomous Jewish community and enjoyed improved legal status which permitted voluntary affiliation to the Jewish collectivity; they were enthusiastic about Jewish education, or re-education, and engaged in vigorous intellectual debate among themselves and with Christians; they questioned Jewish religious tradition, having been estranged from it for so long, and displayed a form of ethnic Jewish identity" 51 . Über die Thematik der „Hafenjuden" hinausgehende Arbeiten, die sich mit der jüdischen Beteiligung an der Seefahrt und dem Seehandel beschäftigen 52 , zeigen, dass in dieser Hinsicht für die Geschichte der Juden in Europa ebenfalls noch wichtige Ergebnisse zu erwarten sind 53 . Auch die jüdische Aufklärung hat in den vergangenen Jahren starke Beachtung in der Forschungslandschaft erfahren 54 . Während deutsche Studien sich häufig noch im Wesentlichen auf die Haskala in Deutschland konzentrieren 55 , sind im hebräisch- und englischsprachigen Raum mittlerweile bedeutende Arbeiten entstanden, die einen breiteren Kontext im Blick haben. Shmuel Feiners zunächst auf Hebräisch, dann in englischer Übersetzung erschienene umfangreiche Monographie 56 stellt die Frage nach dem Verhältnis lightenment Culture, Stanford, Cal. 1999; David SORKIN, The Port Jew: Notes Towards a Social Type, in: Journal of Jewish Studies 50/1 (1999), S. 87-97; Matthias Β. LEHMANN, A Livornese „Port Jew" and the Sephardim of the Ottoman Empire, in: Jewish Social Studi e s 1 1 / 2 ( 2 0 0 5 ) , S. 5 1 - 7 6 . 50 Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550-1950, hrsg. von David Cesarani, London/Portland, Or. 2002. 51 David CESARANI, Port Jews: Concepts, Cases and Questions, in: Port Jews (Anm. 50), S. 1-11, hier: S. 2 f. 52 Vgl. die unterschiedlichen Epochen und geographischen Regionen gewidmeten Beiträge in: Seafaring and the Jews, hrsg. von Nadav Kashtan, London/Portland, Or. 2001. 53 S. etwa den Aufsatz von Benjamin ARBEL, Shipping and Toleration: The Emergence of Jewish Shipowners in the Early Modern Period, in: Seafaring and the Jews (Anm. 52), S. 56-71. 54 S. dazu auch Christoph SCHULTE, Die Haskala in der neueren Forschung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 27/1 (2003), S. 143-147. 55 Etwa die Studie von Christoph SCHULTE, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002. 56 Shmuel FEINER, Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Historical Consciousness, Oxford/Portland, Or. 2002 (hebr.: Haskalah ve-historiah, Jerusalem 1995).

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von Haskala und Geschichte in den Vordergrund, das er als „Vorschule einer modernen nationalen jüdischen Historiographie" 57 betrachtet. Dabei zeigt er, wie sich das Zentrum der Haskala zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Preußen über Galizien bis nach Russland verlagert hat. Indem er auch die Werke vieler wenig bekannter Maskilim in seine Untersuchung einbezieht, gelingt es ihm, die Entwicklung und Verbreitung der maskilischen Geschichtskonzeptionen als einen europäischen Transformationsprozess darzustellen. Wie Feiner in einer neueren Publikation 58 anhand zahlreicher bislang unberücksichtigter Quellen zeigt, darf die Haskala als die jüdische Version der europäischen Aufklärung nicht isoliert von den geistigen Traditionen und den allgemeingeschichtlichen Entwicklungen im Europa des 18. Jahrhunderts betrachten werden. Dass die Haskala ein im europäischen Rahmen zu bearbeitendes, diskussionsreiches Forschungsfeld darstellt, verdeutlichen auch die Beiträge in dem von Shmuel Feiner und David Sorkin herausgegebenen Sammelband 59 , die sich mit den dort behandelten Personen und Fragestellungen unterschiedlichen geographischen Zentren zuwenden und bemüht sind, Kontinuitäten aufzuzeigen, um auf diese Weise ein Gegenkonzept zu den vereinfachenden Dichotomien wie Haskala und Orthodoxie, Modernisierer und Traditionalisten zu präsentieren. Wie die unterschiedlichen in jüngerer Zeit formulierten Anforderungen an eine europäisch-jüdische Geschichtsschreibung berücksichtigt und zu einem neuen Konzept zur Erforschung von Aufklärung und Emanzipationsprozessen verwoben werden können, zeigt Ulrich Wyrwa mit seiner vergleichenden Geschichte der Juden in der Toskana und in Preußen im Zeitalter von Aufklärung und Emanzipation 60 . Ausgehend von der Prämisse, dass sich eine Antwort auf die Fragen, „inwiefern, woran und warum die Emanzipation der Juden in Deutschland scheiterte", nur durch europäisch-vergleichende Untersuchungen finden lässt, konzipiert er seine Studie im Sinn der neueren historischen Komparatistik als systematischen, gleichgewichtigen Vergleich zweier Einzelstaaten, für die er eine nahezu analoge wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung ihrer jüdischen Bevölkerung erkennt 61 . Die vor allem aus einem beziehungsgeschichtlichen Blickwinkel heraus gewonnenen Aussagen hinsichtlich der spezifischen Errungenschaften der Juden im Zeitalter der Emanzipation sowie der besonderen Behinderungen und Hemmnisse in beiden Ländern ordnet Wyrwa schließlich in den europäischen Zusammenhang ein und 57

Verena DOHRN, Rezension zu Feiner, Haskalah and History (Anm. 56), in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52/3 (2003), S. 467. 58 Shmuel FEINER, The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2004. 59 New Perspectives on the Haskalah, hrsg. von Shmuel Feiner und David Sorkin, Oxford/ Portland, Or. 2001. 60 Ulrich WYRWA, Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., London 2003. 61 Ebd., S. 4-7.

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kommt zu dem Schluss, dass die Emanzipation der Juden - wie auch die Aufklärungsbewegung ein europäischer Prozess - insofern misslang, „als das Projekt der Nation als einer an den Menschenrechten orientierten zivilen und liberalen Bürgergesellschaft scheiterte" 62 . Im europäischen Kontext zeigt der preußisch-toskanische Vergleich, dass am Ende des Zeitalters der Emanzipation jedoch einiges für dessen Gelingen sprach, „dass die jüdischen Zeitgenossen mit guten Gründen auf einen Durchbruch der Emanzipation und ein Umsetzen der Idee der Bürgergesellschaft, an der die jüdische Bevölkerung als gleichberechtigte Gruppe Anteil hatte, hoffen konnten" 63 . Innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung zur Neuzeit sind in den vergangenen Jahren von mehreren Sammelbänden komparative Perspektiven aufgegriffen worden. Einen vergleichenden Zugang mit einem mehrdimensionalen Ansatz verfolgen Rainer Liedtke und Stephan Wendehorst mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband zur Frage der Emanzipation von Katholiken, Juden und Protestanten in Europa 64 . Die Publikation vergleicht nicht nur die jüdischen Minderheiten einzelner europäischer Staaten miteinander, sondern bezieht auch andere religiöse Minderheiten in ihrem Verhältnis zu den hier untersuchten Nationalstaaten Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien in den Vergleich ein, der durch die den einzelnen Beiträgen zu Grunde liegenden gemeinsamen Fragestellungen ermöglicht wird. Wie der resümierende Aufsatz am Schluss des Bandes 65 darlegt, konnten sich die Homogenisierungsbestrebungen der liberalen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert auf zweifache Weise für die religiösen Minderheiten auswirken: einerseits durch Ausgrenzung dieser Gruppen, andererseits aber auch durch Integration religiöser Minderheiten, wie das Beispiel der italienischen Juden zeigt. Als für die Untersuchung des Verhältnisses der Nationalstaaten zu ihren religiösen Minderheiten bedeutsame Faktoren werden unter anderem die Fragen der politischen Partizipation, der staatlichen Intervention und das Verhältnis von Staat und Kirche behandelt, wobei die vergleichende Betrachtung ein differenziertes Bild entstehen lässt und hinsichtlich der einzelnen Minderheiten neue Bewertungsmaßstäbe aufzeigt 66 . Indem der Band die beziehungsgeschichtliche Komponente aufnimmt und fiir die jüdische Geschichte einen bedeutenden Schritt in Richtung einer Einbettung in einen größeren, allgemeingeschichtlichen, aber auch minderheitsgeschichtlichen Kontext tut, erfüllt er ein äußerst weitgreifendes Konzept, dessen Umsetzung 62

Ebd., S. 4 3 1 . Ebd. The emancipation o f Catholics, Jews and Protestants: Minorities and the nation state in nineteenth-century Europe, hrsg. von Rainer Liedtke und Stephan Wendehorst, Manchester/New York 1999. 63

64

65

Stephan WENDEHORST, Emancipation as path to national integration, in: The emancipation o f Catholics, J e w s and Protestants (Anm. 64), S. 1 8 8 - 2 0 6 . 66 Ebd., S. 198 ff.

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wohl nur im Rahmen eines Sammelbandes denkbar ist, an dem Experten zu den einzelnen religiösen Minderheiten und verschiedenen geographischen Regionen mitarbeiten. Wie für die europäisch-jüdische Geschichte des Mittelalters, so stellt sich auch für die Erforschung der frühneuzeitlichen und der modernen Geschichte der europäischen Juden die Frage nach dem geographischen Rahmen. Dabei geht es vor allem darum, eine Betrachtungsperspektive zu wählen, die einerseits die jüdischen Westwanderungen und andererseits auch die Migration in Richtung Palästina/Israel mitberücksichtigen kann. Hier ist der Forderung Gerald Stourzh' zu folgen, dass eine „sich mit Europa befassende Geschichtsschreibung [...] stets weitere Dimensionen im Auge haben [sollte] als den jeweiligen Umfang einer auch noch so bedeutenden Institution innerhalb Europas" 67 . Eine europäische Geschichtsschreibung müsse vielmehr auch „Faktoren sozialgeschichtlicher, wirtschafts- und politikgeschichtlicher sowie rechts- und verfassungsgeschichtlicher Art, die über das geographische Europa hinausweisen" in die Interpretation einer gesamteuropäischen Geschichte einbeziehen, wobei er die „europäische Überseemigration" als einen dieser Faktoren benennt 68 . In diesem Sinn muss die Forschung zur Geschichte der europäischen Juden auch Themen berücksichtigen, wie sie der von Paolo Bernardini und Norman Fiering herausgegebene Konferenzband „The Jews and the Expansion of Europe to the West, 1450 to 1800" 69 aufgreift und der damit ein Terrain betritt, das von der europäisch-jüdischen Geschichtsforschung im Gegensatz zur Amerikaauswanderung des 19. und 20. Jahrhunderts bislang sehr vernachlässigt wurde. Die in diesem Band versammelten Beiträge beschäftigen sich sowohl mit den Vorstellungen und Ideen, die unter den europäischen Juden hinsichtlich der Neuen Welt in der frühen Neuzeit verbreitet waren, als auch mit einzelnen jüdischen Kolonistengruppen in den spanischen, portugiesischen, französischen, dänischen und britischen Besitzungen in Amerika. Eine derartige Erweiterung des Blickwinkels, wie sie die Gesamtheit der Beiträge für die europäisch-jüdische Geschichte liefert, beweist, dass eines der Grundprinzipien des Buches - bei der Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte Amerikas in der frühen Neuzeit dürften die europäische und amerikanische Geschichte nicht getrennt werden - auch in der Umkehrung seine Berechtigung zeigt: dass also auch für die frühneuzeitliche jüdische Geschichte in Europa eine Abtrennung von der amerikanischen Geschichte wenig zielführend ist.

67

Gerald STOURZH, Statt eines Vorworts: Europa, aber wo liegt es?, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung (Anm. 43), S. IX-XX, hier: S. XI. 68 Ebd., S. XII f. 69 The Jews and the Expansion of Europe to the West, 1450 to 1800, hrsg. von Paolo Bernardini und Norman Fiering, New York/Oxford 2001.

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Obwohl sich die Geschichte der Juden in den vergangenen zehn Jahren zu einem zentralen Thema in der historischen Forschung herausgebildet hat, findet die Entstehung und Entwicklung der jüdischen Geschichtswissenschaft in der Neuzeit erst seit kurzem stärkere Beachtung, wobei die Untersuchungen allerdings meist dem nationalstaatlichen Paradigma verhaftet bleiben. In jüngster Zeit ist jedoch auch in der Historiographiegeschichte die Bedeutung der europäischen Komponente hervorgehoben worden, denn einerseits hielt - wie Ulrich Wyrwa betont - die jüdische Historiographie auch im 19. Jahrhundert an den „weltgeschichtlichen und europäischen Dimensionen" als einem Prinzip der Darstellung jüdischer Vergangenheit fest 70 , und andererseits lässt die vergleichende Betrachtung der Entwicklung jüdischer Geschichtswissenschaft in einzelnen europäischen Ländern viele Parallelen und Verknüpfungen zu Tage treten, wie der von Wyrwa herausgegebene Band zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa erahnen lässt 71 . Weitere Ansätze zu einer im europäischen Kontext vergleichenden Betrachtung sind ebenfalls auf dem Gebiet der Kultur- und Geistesgeschichte festzustellen, wobei sich zeigt, dass das Interesse an der Betrachtung von spezifischen Fragestellungen der jüdischen Geschichte aus einem europäischen Blickwinkel heraus weit über die Historikerzunft hinausgeht. 1999 etwa beschäftigte sich eine interdisziplinär besetzte Tagung in Heidelberg mit dem Thema „Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit". Der aus dieser Konferenz hervorgegangene Sammelband 72 enthält unter anderem auch kunsthistorische, literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge, die anhand spezifischer Themenstellungen mit Bezug zu den Städten Amsterdam, Frankfurt, Venedig, Prag und Krakau vor allem zwei Problemkomplexe untersuchen: einmal die Frage nach der Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit in der Geschichte des jüdischen Volkes, die bislang in einer „germanozentrischen Sicht" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesetzt wurde und über deren Vorverlegung auf Grund bedeutender Umbrüche in der Kultur und Gesellschaft des Judentums im 16. und 17. Jahrhundert nachzudenken ist, andererseits die Frage, „ob der Prozeß der Umorientierung zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nicht doch ein europaweites Phänomen war und die Impulse für eine schöpferische Erneuerung nicht allein in Westeuropa, sondern von den Niederlanden im Westen, von Deutschland und 70

Ulrich WYRWA, Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung. Eine Einfuhrung, in: Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, hrsg. von Ulrich Wyrwa, Frankfurt a. M. 2003. 71 Judentum und Historismus (Anm. 70). Leider verzichtet der Sammelband darauf, die Ergebnisse der Einzelstudien in einer Synthese zusammenzufuhren. Zur jüdischen Geschichtsschreibung in Europa s. auch Ecriture de l'histoire et identite juive. L'Europe Ashkenaze, X I X - X X e m e siecle, hrsg. von Delphine Bechtel [u. a.], Paris 2003. 72 Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, hrsg. von Michael Graetz, Heidelberg 2000.

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Italien bis Polen im Osten spürbar waren" 73 . Des Weiteren wollen die Beiträge prüfen, ob nicht der allgemeine, grenzüberschreitende kultur- und geistesgeschichtliche Wandel einen Prozess der Säkularisierung und Modernisierung im Judentum angestoßen habe und ob nicht zwischen dem Umbruch der allgemeinen und der jüdischen Geschichte Europas eine Gleichzeitigkeit festzustellen sei, die die Voraussetzungen für einen „schöpferischen Moment" in der jüdischen Geschichte geschaffen habe 74 . Die Komplexität der Antworten, die in den einzelnen Beiträgen präsentiert werden, veranschaulicht nicht nur den Facettenreichtum des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, sondern deutet einmal mehr auf die Schwierigkeiten einer interdisziplinär vergleichenden Betrachtung im europäischen Zusammenhang hin und offenbart, dass die komparative Forschung in dieser Hinsicht noch relativ am Anfang steht. Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle die Bemühungen um einen europäischen Blickwinkel im Bereich der jüdischen Philosophiegeschichte: Die von Eveline Goodman-Thau herausgegebenen drei Bände zum Rahmenthema „Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte" greifen jeweils einzelne Fragestellungen heraus, anhand derer sie versuchen, sich dem Oberthema zu nähern: es sind dies „Messianismus zwischen Mythos und Macht" 75 , „Bruch und Kontinuität" 76 und „Vom Jenseits" 77 . Durch den weiten geographischen Horizont lässt das Projekt sowohl die „herausragende Sonderentwicklung des jüdischen Denkens im deutschen Mitteleuropa seit Moses Mendelssohn" 78 zu Tage treten als auch die großen Zentren jüdischen Denkens in Spanien, Portugal, den Niederlanden und auf dem Balkan ebenso wie in Polen, Russland und den östlichen Provinzen der Donaumonarchie Beachtung finden. Das Jüdische Denken" - ein Begriff, der sowohl die Mystik als auch die Aufklärung einschließt - wird hier als ein elementarer Bereich innerhalb der europäischen Geistesgeschichte verstanden, denn es ist „nicht erst in die europäische Geistesgeschichte eingetreten, sondern von Anbeginn an deren Bestandteil und Ferment, jedoch mit Wurzeln und Öffnungen zu außereuropäischen Quellen" 79 .

73

Michael GRAETZ, Einleitung, in: Schöpferische Momente (Anm. 72), S. VII-XV, hier: S. VII. 74 Ebd., S. VIII. 75 Messianismus zwischen Mythos und Macht. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. von Eveline Goodman-Thau und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Berlin 1994. 76 Bruch und Kontinuität. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. von Eveline Goodman-Thau und Michael Daxner, Berlin 1995. 77 Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, hrsg. von Eveline Goodman-Thau, Berlin 1997. 78 Wolfdietrich SCHMIED-KOWARZIK, Einfuhrende Bemerkungen, in: Messianismus zwischen Mythos und Macht (Anm. 75), S. 13-18, hier: S. 13. 79 Ebd.

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Der Holocausts „Gesamteuropa betreffendes Zentralereignis" 80 wird in der Forschung bereits seit längerem auch im europäischen Kontext untersucht. Allerdings konzentrierten sich die Arbeiten meist auf die Tätergeschichte, auf den deutschen Staat, die Apparate und Institutionen, die an der Judenverfolgung und -Vernichtung beteiligt waren sowie auf die Täter selbst 81 . Doch einige neuere Publikationen betrachten nun darüber hinaus auch die Frage nach der Kooperation und Kollaboration innerhalb der Bevölkerungen der besetzten Gebiete in einem europäischen Zusammenhang und schaffen damit eine Grundlage fur eine umfassendere Erforschung der Judenverfolgung und -Vernichtung in Europa. So setzt sich der von David Bankier und Israel Gutman herausgegebene Konferenzband 82 mit der Reaktion der Gesellschaft auf den Massenmord an den Juden im europäischen Kontext auseinander - die Beiträge untersuchen die Rolle von Berufsorganisationen und Kommunalverwaltungen, analysieren die Volksmeinung und betrachten die Einstellungen der Untergrundbewegungen und Exilregierungen. Diese unterschiedlichen Ansätze tragen vor allem der Tatsache Rechnung, dass die Rahmenbedingungen innerhalb Europas stark differierten. Allerdings lassen die Beiträge auch den bezüglich der einzelnen Länder sehr ungleich entwickelten Forschungsstand deutlich zu Tage treten, sodass für tiefer gehende europäische Vergleiche in vielen Aspekten noch eine Ausgangsbasis fehlt. Doch die Bedeutung des Bandes liegt, so Dieter Pohl, vor allem darin, dass er eine Bestandsaufnahme liefert und als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen zu diesem Themenkomplex dienen kann, vor allem für Mikrostudien zu den Beziehungen von Juden und Nichtjuden vor Ort sowie für vergleichende Untersuchun-

80

DINER, Geschichte der Juden (Anm. 43), S. 89. S. etwa Christopher R. BROWNING, Die Entfesselung der „Endlösung". Nationalsozialistische Judenpolitik 1939-1942, Berlin 2003; Götz ALY, „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995 und Raul HLLBERG, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961. Die Arbeit von Hilberg, die erst 1982 ins Deutsche übersetzt wurde (Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982), erschien 2003 in einer dritten überarbeiteten Auflage (The Destruction of the European Jews, New Haven/London 2003). Yehuda Bauer monierte 1997, dass die überwiegende Zahl der bis dahin erschienenen Arbeiten zum Holocaust die europäischen Juden lediglich als „Objekte" behandele, ihre Geschichte in den einzelnen Ländern jedoch unberücksichtigt lasse. Ebenso werde die Gruppe der „bystanders" nahezu ignoriert. Als grundlegendes, bis in die 1990er Jahre in der Holocaustforschung jedoch meist fehlendes Element nannte Bauer darüber hinaus den Vergleich: „One cannot argue for the uniqueness of German antisemitism without a serious effort to compare it with, for example, its French, Russian or Romanian parallels". (Yehuda BAUER, Some Introductory Comments, in: The fate of the European Jews, 1939-1945. Continuity or Contingency, hrsg. von Jonathan Frankel, New York [u. a.] 1997, S. 3-8, hier: S. 4). 81

82

Nazi Europe and the Final Solution, hrsg. von David Bankier und Israel Gutmein, Jerusalem 2003.

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gen, „in denen die jeweils regional und sektoral spezifischen Eigenheiten dieser Beziehungen" sichtbar werden 83 . Der von Constantin Goschler und Philipp Ther verantwortete Tagungsband zur wirtschaftlichen Ausgrenzung und Enteignung der europäischen Juden sowie zur Rückerstattung jüdischen Eigentums84 wendet sich mit diesen Schwerpunkten einem Themenkomplex zu, der bislang vor allem für die osteuropäischen Juden noch kaum untersucht ist. Für den europäischen Vergleich der „Arisierung" benennen die Herausgeber drei miteinander verbundene Gesichtspunkte, die es zu unterscheiden gilt: 1. den Aspekt der Enteignung der Juden als politischem Prozess, der die Frage nach der politischen Verantwortung und den jeweiligen Handlungsspielräumen der besetzten Gebiete stellt85; 2. den Aspekt der „Arisierung" als gesellschaftlichem Prozess, der die „Vielfalt der Mitwirkenden und die Prozesse der dynamischen Selbstradikalisierung staatlicher und parteilicher Institutionen auf lokaler Ebene im Kontrast zur Reichspolitik"86 analysiert und 3. den Aspekt der Möglichkeiten einer Typologie der „Arisierung" und ihrer Folgen in Europa 87 . Die vergleichende Betrachtung offenbart die Vielschichtigkeit dieser Vorgänge, die Vielfalt der Methoden des Plünderns, aber auch die Existenz von „Netzwerken der Verfolgung", in denen deutsche und nicht-deutsche Beamte, Dienststellen und Banken an der Erfassung und Requirierung jüdischen Eigentums beteiligt waren, das schließlich in die Hände von Regierungsstellen, Institutionen und Privatpersonen gelangte88. Vor allem hinsichtlich der Restitution wirft der Band eine Reihe von Fragen auf. Zwar lassen sich die sich ergebenden prinzipiellen Gegensätze hinsichtlich des Verlaufs und der Form der Restitution mit dem qualitativen Unterschied zwischen der deutschen Schuld an dem Raub und der Schuld anderer europäischer Länder begründen, jedoch spielen auch Faktoren wie die Existenz bzw. das Fehlen einer Zivilgesellschaft für den Restitutionsprozess eine wesentliche Rolle89.

83

Dieter POHL, Rezension von: Nazi Europe (Anm. 82), in: sehepunkte 4/1 (2004), URL: http://www.sehepunkte.historicum.net/2004/01/4033.html (Zugriff am 22.12.2005). Zur Frage der Kollaboration in Osteuropa s. auch: Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, hrsg. von Christoph Dieckmann [u. a.], Göttingen 2003. 84 Raub und Restitution. „Arisierung" und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, hrsg. von Constantin Goschler und Philipp Ther, Frankfurt a. M. 2003. 85 Constantin GOSCHLER/Philipp THER, Eine entgrenzte Geschichte. Raub und Rückerstattungjüdischen Eigentums in Europa, in: Raub und Restitution (Anm. 84), S. 9 - 2 5 , hier: S. 15. 86 Ebd., S. 16. 87 Ebd., S. 18. 88 Gerald D. FELDMAN, Der Holocaust und der Raub an den Juden. Eine Zwischenbilanz der Restitution und Entschädigung, in: Raub und Rückerstattung (Anm. 84), S. 2 2 5 - 2 3 7 , hier: S. 230 f. 89 GOSCHLER/THER, Eine entgrenzte Geschichte (Anm. 85), S. 19 ff.

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen Kontext

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Nur wenige Pulikationen beschäftigen sich bisher mit der Sicht der Opfer, mit der Lebenswirklichkeit, den Erfahrungen und Reaktionen der Juden in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in einem vergleichenden europäischen Kontext. Während es bereits bedeutende Arbeiten zu einzelnen Ghettos, etwa zu Lodz und Warschau, gibt, hat der weiter gefasste Ansatz, den die Studie von Gustavo Corni 90 verfolgt, noch vergleichsweise wenig Beachtung gefunden: Corni nimmt die Vielzahl größerer und kleinerer nationalsozialistischer Ghettos in Osteuropa in den Blick und analysiert anhand von Tagebüchern und Erinnerungen das dortige komplizierte Gefiige. Indem er die soziale, kulturelle und ökonomische Verschiedenartigkeit der Ghettoerfahrungen aufzeigt und sich etwa den Lebensbedingungen im Ghetto sowie den Reaktionen der Betroffenen auf die Ghettoisierung widmet, zeigt er einerseits, dass die Auffassung von den Ghettos über das Verständnis vom „Vorzimmer" auf dem Weg zur Vernichtung in den Konzentrationslagern hinausgehen muss; andererseits widerlegen seine Ausführungen das Bild von einer homogenen Opfergruppe, die passiv ihr Schicksal erwartet. Obwohl er sich auf veröffentlichte Quellen beschränkt und auf polnische, jiddische und hebräische Materialien und Literatur vollständig verzichtet, weist seine Arbeit darauf hin, dass ein Weiterfuhren der Forschungen in diese Richtung durchaus lohnenswert wäre. Allerdings offenbart Cornis Studie auch die Schwierigkeiten eines solchen Zugangs, dessen Untersuchungsgegenstand stark differierende Rahmenbedingungen und Strukturen aufweist. Die Forschung zur jüdischen Geschichte in Europa nach 1945 hat sich mit einer vollständig veränderten Ausgangsbasis auseinanderzusetzen: einmal sind die Folgen der Zerstörung und Vernichtung allgegenwärtig, andererseits muss aber auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass sich das europäische Judentum nicht losgelöst von der Geschichte Israels und des amerikanischen Judentums begreifen lässt. Im Zentrum der Forschungen zur europäisch-jüdischen Nachkriegsgeschichte stehen vor allem die Fragen nach den Möglichkeiten für einen Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Europa 91 und der Zukunft des jüdischen Lebens in der europäischen Diaspora. Mit diesen Themen setzt sich Bernard Wasserstein auseinander, der als einer der ersten den Versuch unternommen hat, eine umfassende Geschichte des europäischen Judentums nach 1945 zu schreiben 92 , wobei er sich vor allem gesellschaftlichen und politischen Themen zuwendet. Unter anderem untersucht 90

Gustavo CORNI, 1 ghetti di Hitler. Voci da una societä sotto assedio 1939—1944, Bologna 2001 (engl.: Hitler's Ghettos. Voices from a Beleaguered Society, 1939-1944, London 2002). 91 Siehe etwa: The Jews are coming back. The Return of the Jews in their Countries of Origin after WW II, hrsg. von David Bankier, Jerusalem/New York 2005, sowie die zahlreichen Publikationen zur Wiederbegründung und Entwicklung jüdischer Gemeinden in einzelnen Ländern nach 1945. 92 Bernard WASSERSTEIN, Europa ohne Juden. Das europäische Judentum seit 1945, Köln 1999 (engl.: Vanishing Diaspora. The Jews in Europe since 1945, Cambridge, Mass. 1996).

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

er „die sich entwickelnde Gestalt des Judenproblems in verschiedenen nationalen oder ideologischen Zusammenhängen" und den sich „rasch wandelnde[n] gesellschaftliche[n] Charakter der wichtigsten jüdischen Gemeinden", betrachtet die „von Grund auf neuen kollektiven Einschätzungen des Juden, die sich aus der Schaffung und dem Wachstum des Staates Israel ergeben" und fragt nach dem „Einfluss der neuen christlichen Betrachtungsweise der Juden und des Judaismus" sowie nach den Reaktionen der europäischen Juden auf all diese Entwicklungen 93 . In seine chronologische, in geographische Bereiche unterteilte Analyse fugt Wasserstein zeitlich und geographisch Ubergreifende Kapitel ein, die Faktoren wie den Einfluss Israels auf das Leben in der europäischen Diaspora und die Konfrontation mit der Vergangenheit untersuchen. Während Wasserstein die Existenz Israels fur die europäischen Juden nicht nur als Alternative, sondern auch als möglichen Auslöser eines Dilemmas erkennt und die Beziehung zwischen Israel und der Diaspora als „kränkelnd" beschreibt 94 , stellt er fest, dass sich der Holocaust „zu einem zentralen Merkmal der jüdischen Identität in der Diaspora" entwickelt habe - diese zentrale Rolle, die der Holocaust für das zeitgenössisch-jüdische Selbstverständnis spiele, drohe sich jedoch zu einer fast „nekrophilen Faszination" auszuwachsen: „Wie in ihrer Beziehung zu Israel sind die europäischen Juden auch in diesem Bereich einer potentiell zerstörerischen Krankheit erlegen" 95 . Wassersteins Studie gipfelt in der pessimistischen These, dass am Ende der sich abzeichnenden Entwicklung des demographischen Rückgangs, des Verlustes der kulturellen Eigenart und des immer schwächer werdenden Bekenntnisses zur jüdischen Herkunft nur die Selbstauflösung und das Verschwinden des Judentums in den europäischen Ländern stehen könne 96 . Zu einem vollkommen anderen Ergebnis kommt Diana Pinto in ihrer Untersuchung zur jüdischen Identität in Europa 97 . Sie betrachtet die vom Druck der Wahl zwischen Assimilierung und Ghettoisierung befreiten Juden in vielerlei Hinsicht als „prototype of the new European" 98 und erkennt verschiedene Faktoren, die vorteilhafte Vorbedingungen fur die Entwicklung des Judentums in Europa und die Entstehung einer europäisch-jüdischen Identität darstellen: Die Behandlung des Holocaust als wichtiger Bestandteil der europäischen Geschichte habe bewirkt, dass jüdische Belange in die historischen Reflexionen einer jeden europäischen Nation einbezogen würden. Ferner seien die Juden im heutigen Europa „freiwillige" Juden, die ihr Judentum 93

Ebd., S. 15. Ebd., S. 138 f., S. 154. 95 Ebd., S. 191 f. 96 Ebd., S. 386-399. 97 Diana PINTO, A new Jewish identity for post-1989 Europe, Institute for Jewish Policy Research, Policy Paper 1 (Juni 1996). 98 Ebd., S. 1. 94

Armborst, Jüdische Geschichte im europäischen

Kontext

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nach eigenen Wünschen definieren, aber auch vollständig ablegen könnten und denen es ebenso freistehe zu emigrieren. Seit dem Holocaust könnten Juden in Europa jedoch nur noch eine dialektische, manchmal auch argwöhnische Beziehung zu ihrem Heimatland und dessen Vergangenheit haben. Daraus folgert Pinto: „In today's post-1989 Europe any positive Jewish identity can only be European. Such a European identity may add a layer of complexity, but complexity is what being Jewish is all about. [...] Because of their post-war experiences, Jews in Europe can look beyond the Holocaust and help reshape Europe as committed Europeans" 99 . Pinto betrachtet eine jüdische Identität im europäischen Rahmen als realistische Zukunftsperspektive und sieht eine Möglichkeit für das europäische Judentum, sich zu einem gleichberechtigten Partner, einer „dritten Säule" neben Israel und den jüdischen Gemeinden in den USA zu entwickeln. Mit diesen Thesen hat sie bedeutende Impulse für die Debatte über die jüdische Identität im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust gegeben, die in den vergangenen Jahren mehr und mehr an Interesse gewonnen hat 100 . Auch setzen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen seit einigen Jahren intensiv mit der Frage nach dem Jüdischen Ort" und der Existenz jüdischer Kultur im Nachkriegseuropa bzw. im Europa nach 1989 auseinander 101 . Vor dem Hintergrund der Entwicklungen seit 1989, der jüdischen Emigration aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des neuen Wachstums der jüdischen Gemeinden in Deutschland wird dieser Themenkomplex, der in einem engen Zusammenhang mit dem Problem des Umgangs mit der Vergangenheit und der Erinnerung steht, in der historischen, kulturwissenschaftlichen und soziologischen Forschung ebenso wie die Fraugen nach der Identität und der neuen Rolle des europäischen Judentums in den kommenden Jahren noch ausführlich zu diskutieren sein.

99

Ebd., S. 13. Siehe dazu N e w Jewish Identities. Contemporary Europe and beyond, hrsg. von Zvi Gitelman [u. a.], Budapest 2003; L'Europe et les juifs, hrsg. von Esther Benbassa und Pierre Gisel, Geneve 2002; Jewish Survival. The Identity Problem at the Close o f the Twentieth Century, hrsg. von Ernest Krausz und Gitta Tulea, N e w Brunswick/New Jersey 1998; Jewish Identities in the new Europe, hrsg. von Jonathan Webber, London [u. a.] 1994. 101 Siehe dazu etwa Joachim SCHLÖR, From Remnants to Realities: Is There Something Beyond a „Jewish Disneyland" in Eastern Europe?, in: Journal of Modern Jewish Studies 2/2 (2003), S. 148-158; die Studie von Ruth Ellen GRUBER, Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe, Berkeley 2002, die das Phänomen einer weitgehend von Nichtjuden für Nichtjuden „erfundenen jüdischen Kultur" im Europa der vergangenen zwei Jahrzehnte untersucht; den Bericht von Stanley WATERMAN, Cultural politics and European Jewry, Institute for Jewish Policy Research, Policy Paper 1 (1999) und die Projektbeschreibung von Rebecca SCHISCHA, Mapping Jewish Culture in Europe today. A Pilot Project, Institute for Jewish Policy Research, Report 3 (2002). 100

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

Summary The article discusses recent publications on Jewish history that show a European perspective. Examining recently published surveys, monographs and collections of articles with a comparative or trans-national historical approach, this article assesses their contribution to a European-Jewish historiography. Not only do the works under consideration show a wide thematic and methodological variety, but also do they range in focus from the medieval to modern time periods. The analysis concentrates on the subjects analysed within the European context, on the geographical and chronological frames, on the various caesura noted in the respective publications, and on the methodological approaches used by the different authors to examine their subjects within a European perspective.

EUROPA-INSTITUTE U N D EUROPA-PROJEKTE Das Institut für Europäische Geschichte in Mainz Ein Laboratorium der historischen Europaforschung Von

Joachim Berger Im Jahr 2000 zog das Institut für Europäische Geschichte in Mainz eine Bilanz seines fünfzigjährigen Wirkens 1 . Seit der Gründung im Jahr 1950 hatte es über 820 Nachwuchswissenschaftler aus fast 50 Staaten gefordert, ca. 225 Monographien und Sammelbände in seiner Schriftenreih veröffentlicht, Hunderte von Vorträgen und Dutzende von Konferenzen veranstaltet, vielfach mit internationalen Partnern, sowie eine Reihe gemeinschaftlicher Forschungsprojekte durchgeführt, die zum Teil von namhaften Förderorganisationen unterstützt wurden. Die Gründungszeit des Instituts war selbst Gegenstand historischer Forschungen geworden. Als außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die das Land Rheinland-Pfalz institutionell seit 1953 fördert, kann das Mainzer Institut auf diese Leistungsbilanz verweisen und seine historisch gewachsene Einzigartigkeit mit einer kirchen- und religions- sowie einer allgemeinhistorischen Abteilung unter einem Dach hervorheben. Legitimieren und für die Zukunft festigen muss es sich durch seine laufenden Aktivitäten und ein kohärentes Forschungsprogramm, das innerwissenschaftliche, wissenschaftspolitische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse aufgreift und antizipiert. In den letzten zwanzig Jahren haben sich mit dem rasanten europäischen Einigungsprozess nicht nur das vorwissenschaftliche Erkenntnisinteresse (der europäische Blick'), sondern auch die Methoden und inhaltlichen Schwerpunkte des Forschungsfelds ,Europa' wesentlich gewandelt. Ein Institut für Europäische Geschichte steht daher nicht nur wie alle Forschungseinrichtungen vor der Herausforderung, auf radikal veränderte wissenschaftspolitische Rahmenbedingungen zu reagieren. Es bietet sich ihm auch eine besondere Chance - die sich seit den 1990er Jahren entwickelnde historische Europaforschung entscheidend mitzugestalten. Im Folgenden sollen deswegen auch die im Institut entwickelten Perspektiven für die nächsten Jahre vorgestellt werden. 1

Institut für Europäische Geschichte Mainz 1950-2000. Eine Dokumentation, Mainz 2000.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006) I. Forschungen zu den Grundlagen Europas

Das Institut für Europäische Gesichte wurde auf Initiative der französischen Militärregierung gegründet 2 . Die neue Einrichtung sollte die historisch gewachsenen nationalen und konfessionellen Gräben zwischen den europäischen Staaten und deren Bevölkerungen durch vorurteilsfreie' historische Forschung überwinden helfen und dadurch insbesondere die deutsch-französische Verständigung unterstützen. Im speziellen sollten die am Institut betriebenen Forschungen einer Revision („Entgiftung") der (Schul-) Geschichtsbücher dienen, mit dem Fernziel, ein „Europäisches Geschichtsbuch" zu etablieren. Diese Idee war Ende der 1940er Jahre auf mehreren deutsch-französischen Historikergesprächen in Speyer aufgekommen. Französischerseits sollte das Institut also dem übergeordneten Besatzungsziel der ,Umerziehung' dienen. Diese emanzipatorische Zielrichtung vermischte sich mit christlich,abendländischen' Geschichtskonzeptionen einer Gruppe deutscher Historiker, welche die bis 1945 dominierende kleindeutsch-borussische Schule ablehnten. Diesem Kreis, der sich ebenfalls in Speyer getroffen hatte, entstammte der erste Institutsdirektor Fritz Kern (1884-1950). Er hoffte, mit einem Forschungsinstitut im Rücken seine religiös grundierte, anthropologisch-kulturmorphologische Konzeption einer vielbändigen universellen Menschheitsgeschichte zu verwirklichen. Als Mitdirektor wurde der katholische Theologe und Kirchenhistoriker Joseph Lortz (1887-1975) gewonnen. Aus dieser mehrschichtigen Gründungsintention erklärt sich die Gliederung des Instituts in eine Abteilung fur „Universalgeschichte" und eine Abteilung für „Abendländische Religionsgeschichte". Die Einrichtung weiterer Abteilungen (für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie für Kulturgeschichte) scheiterte in einem frühen Stadium. Die beiden bestehenden Abteilungen füllten ihre programmatischen Abteilungsbezeichnungen in der konkreten Forschungsarbeit der folgenden Jahrzehnte pragmatisch: Sie betrieben ökumenische Luther- und Reformationsgeschichtsschreibung sowie politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Forschungen zur deutschen und europäischen Geschichte seit dem 17. Jahrhundert.

2

Zum folgenden: Winfried SCHULZE und Corine DEFRANCE, Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Mainz 1992; Emst SCHULIN, Universalgeschichte und abendländische Entwürfe, in: Geschichtswissenschaft um 1950, hrsg. von Heinz Duchhardt und Gerhard May, Mainz 2002, S. 49-64; Claus SCHARF, Das Institut für Europäische Geschichte, in: Institut (Anm. 1), S. 3-11; Rolf DECOT, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, in: ebd., S. 12-22; Claus SCHARF, Abteilung für Universalgeschichte, in: ebd., S. 23-34; DERS., Martin Göhrings Emanzipationen von den Gründervätern des Mainzer Instituts, in: Martin Göhring (1903-1968): Stationen eines Historikerlebens, hrsg. von Heinz Duchhardt, Mainz 2005, S. 23^17; Martin VOGT, Zielsetzungen und Realitäten. Martin Göhring und der frühe Ausbau des Instituts fur Europäische Geschichte, in: ebd., S. 4 9 - 7 8 .

Berger, Das Institut für Europäische Geschichte

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Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen haben beide Abteilungen immer wieder Europa als ganzes in den Blick genommen, sei es in Konferenzen und Vorträgen, sei es durch eigene Forschungsprojekte oder durch Förderung beziehungsgeschichtlicher, vergleichender oder - avant la lettre - transnationaler Studien. Schon 1953 hatte das Institut einen internationalen Kongress zum 800. Todestag Bernhards von Clairvaux und seines europaweit ausstrahlenden Zisterzienserordens durchgeführt. 1955 folgte ein Kongress mit über 300 Gelehrten unter dem Rahmenthema Europa - Erbe und Auftrag. Die Vortragsreihen der 1950er Jahre kennzeichnen zeitbedingt eine ähnliche, legitimatorische Europa-Metaphorik. Große Europäer - so das Thema eines Zyklus - wie Augustinus, Grotius, Montesquieu oder Goethe wurden zu positiv konnotierten .Wegbereitern europäischen Denkens' aufgebaut, während die Vorträge der Reihe Europa und das Christentum eine Besinnung auf „christlich-abendländische Wurzeln" der europäischen Kultur einforderten, die - wie die „Abendland"-Ideologie der Nachkriegszeit generell - in erster Linie anti-kommunistisch und - teilweise - antimodernistisch motiviert war. Seit den 1960er und 1970er Jahren internationalisierten sich die Perspektiven durch eine Reihe von Fachkonferenzen, die das Institut mit Partnerinstitutionen aus West- und Südeuropa, aber auch aus der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder Ungarn durchführte. Zugleich wurde die (normativ aufgeladene) gesamteuropäische Perspektive des Gründungsjahrzehnts verlassen „Abendland" konnte spätestens nach 1968 nicht mehr als eine (Gegensätze verdeckende) Chiffre für „Europa" dienen. Dazu trug nicht nur generell die fortschreitende fachwissenschaftliche Spezialisierung innerhalb der national ausgerichteten Historiographien bei, sondern auch die disziplinare Gliederung des Instituts in eine theologisch fundierte Kirchengeschichte (bzw. historische Theologie) und eine politik-, verfassungs-, sozial- und wirtschaftshistorisch orientierte Geschichtswissenschaft. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, als beide Abteilungen interdisziplinär in dem gemeinsamen Forschungsprojekt Union, Konversion, Toleranz zusammenarbeiteten, revidierte das Institut seine Satzung. Sie definiert seither zwei Hauptaufgaben des Instituts für Europäische Geschichte wie folgt: (1.) „Forschungen zu den religiösen und geistigen Traditionen Europas, ihren Wandlungen und Krisen, speziell zu den kirchlichen Spaltungen, ihren Wirkungen und den Möglichkeiten ihrer Überwindung, mit Blick auf die europäische Identität", sowie (2.) „europabezogene Grundlagenforschung, die geeignet ist, den Prozess des Zusammenwachsens Europas zu begleiten und abzustützen, und die Analyse der je individuellen geschichtlichen Wege der europäischen Staaten und Völker". Da konfessionelle und nationale Partikularidentitäten in der Geschichte Europas aufs Engste miteinander verwoben sind, beziehen sich diese beiden Teilaspekte auf ein übergreifendes Aufgabengebiet des gesamten Instituts. Im Zuge eines umfassenden inhaltlichen

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

Konzentrations- und Erneuerungsprozesses bündelt das Institut für Europäische Geschichte derzeit seine Kräfte, um ein kohärentes Forschungsprogramm mit klaren Schwerpunktsetzungen zu entwickeln. Dieses soll die satzungsgemäßen Aufgaben in eine der entstehenden historischen Europaforschung bzw. „Europäistik" methodisch und thematisch angemessene Arbeitsagenda überführen. Dazu gehört auch, möglichen Erwartungshaltungen aus Politik und Gesellschaft an eine identifikatorisch-legitimarorische .historische Untermauerung' des europäischen Einigungsprozesses reflektiert zu begegnen. Das Institut für Europäische Geschichte will sich künftig noch stärker als die Forschungseinrichtung profilieren, welche die historischen Grundlagen des modernen Europa in der Neuzeit in den Blick nimmt. Zum einen fragen diese „Forschungen zu den Grundlagen Europas" nach den integrierenden und antagonistischen Bewegungen und Kräften, die dem (geographischen) Kontinent und (kulturellen) Bedeutungszusammenhang ,Europa' ein sich über die Jahrhunderte wandelndes, doch gegenüber den anderen Kontinenten distinktes Gepräge gaben. Jede Teleologie bleibt außen vor - das Signum Europas sind nicht nur integrative Kräfte und bewusst geschaffene Verklammerungen, sondern Europa war (und ist) gerade durch die zeitlich-räumliche Dichte kleinerer Konflikte und menschheitsbedrohender Kriege geprägt. Die Forschungen zielen also auf die gesamt- und teileuropäischen Kommunikationsverbindungen, die sich durch bi- und multilaterale Transferprozesse ergeben, wobei deren Protagonisten nicht notwendig bewusst sein musste, dass sie in „europäische" Zusammenhänge eingebunden waren. Den religiösen und konfessionellen Prägungen dieser Transferprozesse schenkt das Institut dank seiner theologischen Kernkompetenzen besondere Beachtung. Zum Zweiten zeichnen diese „Forschungen zu den Grundlagen Europas" die Geschichte des bewussten Nachdenkens über Europa nach, analysieren die politischen Einigungsversuche, die konkreten Europa-Pläne, die idealen EuropaVorstellungen und die utopischen Europa-Visionen; deren „Nachtseite", das anti-europäische Denken, immer mit eingeschlossen. Integraler Bestandteil dieses Ansatzes ist die Historiographiegeschichte, also die Geschichte der Europahistorie. Drittens umfasst diese historische Europaforschung eine permanente Theorie- und Methodenreflexion zur historischen Europaforschung, für die ein außeruniversitäres Forschungsinstitut prädestiniert ist: Das Institut für Europäische Geschichte versteht sich als Institution, die hinterfragt, ob und wie ideologiebefrachtet .europäische' Ansätze in den historischen Wissenschaften sind, und wie diese Standortgebundenheit der Europaforschung methodisch reflektiert und kontrolliert werden kann. Folglich sieht sich das Institut innerwissenschaftlich als Einrichtung, die die Methodendiskussionen weiter vorantreibt, die von der 1997 dokumentierten Konferenz zu „Europäische" Geschichte als historiographische Herausforderung wesentlich angestoßen

Berger, Das Institut für Europäische Geschichte

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wurden 3 . Das Institut fiir Europäische Geschichte will sich auch außerwissenschaftlich noch stärker als die Autorität für die historische Dimension gesamteuropäischer Fragen profilieren und sich als solche in den öffentlichen Diskurs einbringen - nicht im Sinne eines regierungsnahen, legitimatorischen Stichwortgebers für die Politik, sondern als eine Art Prüf- und Kontrollinstanz für auf Europa bezogene Traditionserfindungen und Identitätskonstruktionen. Der epochenübergreifende Zuschnitt und die besonderen Kompetenzen für die Frühmoderne ermöglichen dem Institut, frühneuzeitliche Entwicklungen in die häufig verkürzenden öffentlichen Diskussionen einzubringen. Der emanzipatorische Gründungsimpetus des Instituts für Europäische Geschichte historisch gewachsene Vorurteile und Hindernisse fur ein friedliches Zusammenleben der europäischen Völker und Konfessionen durch genauere Kenntnisse historischer Entwicklungen zu überwinden - soll mit einem nüchternen, kritisch-distanzierten Blick weiterentwickelt werden. Das mittelfristige Forschungsprogramm des Instituts wird dem Rechnung tragen.

II. Europäische Nachwuchsförderung Seit das Institut 1953 in die aus dem frühen 17. Jahrhundert stammende „Alte Universität" im Zentrum von Mainz eingezogen ist, setzt es einen wesentlichen Schwerpunkt in der Förderung von deutschen und ausländischen Nachwuchswissenschaftlern, die als Stipendiaten im Institutsgebäude wohnen und arbeiten. Aus etatisierten Mitteln des Landes Rheinland-Pfalz und des Auswärtigen Amtes stehen dem Institut derzeit etwa fünfzehn Jahresstipendien zur Verfügung, die überregional ausgeschrieben und für sechs- bis zwölfmonatige Forschungsaufenthalte in Mainz vergeben werden. Damit wurden und werden vor allem Doktoranden in der Endphase ihrer Dissertation gefördert. Bislang ist prinzipiell jedes kirchen-, religions-, geistes-, sozial-, politik-, wirtschafts- oder kulturhistorische Phänomen in Europa seit etwa 1500 fiir einen Antrag geeignet. Das zentrale Vergabekriterium ist die wissenschaftliche Qualität der Projekte und die fachliche Eignung der Bewerber. Die Stipendiaten werden von den Wissenschaftlern des Hauses fachlich beraten. In das wissenschaftliche Leben des Instituts sind sie vor allem dadurch eingebunden, dass sie ihre Vorhaben im (wöchentlichen) Forschungskolloquium vorstellen und diskutieren. Die Möglichkeit, ihre eigenen Thesen und Methoden für Wissenschaftler, die in der Regel keine Spezialisten sind, (auf deutsch) konzise zusammenzufassen und auf kritische Fragen zu reagieren, ist gerade 3

„Europäische" Geschichte als historiographisches Problem, hrsg. von Heinz Duchhardt und Andreas Kunz, Mainz 1997. Vgl. seitdem ζ. B. Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, hrsg. von Gerald Stourzh, Wien 2002; Problem und Perspektiven der Europa-Historiographie, hrsg. von Hannes Siegrist und Rolf Petri, Leipzig 2004.

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für die ausländischen Stipendiaten von Bedeutung. In dieser Hinsicht bietet das Institut für Europäische Geschichte ein internationales Graduiertenforum mit ständig wechselnder Besetzung. Zukünftig werden die geförderten Stipendiaten in unterschiedlichem Ausmaß in das Arbeitsprogramm des Forschungsinstituts integriert. Daraus erhofft sich das Institut nicht nur Synergieeffekte für seine wissenschaftliche Arbeit. Es nimmt zugleich ein umfassendes Verständnis wissenschaftlicher Nachwuchsarbeit auf, das Forschung, Ausbildung (Methoden, Vermittlung und Organisation von Wissen) und internationale Vernetzung (strukturierte Austauschprogramme zwischen Institutionen) als Einheit sieht. Diese Umorientierung auf einen erweiterten, integrativen Förderbegriff reagiert auf veränderte Karrierewege und Bedürfhisse des wissenschaftlichen Nachwuchses. Das Institut für Europäische Geschichte entwickelt damit Modelle, die die Marie Curie Networks der Europäischen Kommission und die von der DFG geförderten Internationalen Graduiertenkollegs auszeichnen, eigenständig weiter. Auch in Zukunft wird das Institut die Einzelförderung zum Abschluss einer Dissertation oder zum Beginn eines Post-Doc-Projekts weiterführen. Diese thematisch ungebundenen Einzelprojekte werden sich jedoch in den Rahmen einpassen, den das übergreifende Forschungsprofil setzt. In Mainz sollen vor allem vergleichende und/oder transnationale bzw. transkulturelle Studien entstehen, die sich mit europäischen Transfer- und Kommunikationsprozessen sowie bewussten Europa-Vorstellungen und -konzeptionen befassen. Neben der Einzelförderung wird ein beträchtlicher Teil der Stipendien programmgebunden, das heißt nach den Schwerpunkten der Forschungsbereiche vergeben werden. Im Mittelpunkt der Förderung aller Stipendiaten steht die Forschung für die individuellen Qualifizierungsarbeiten. Der Aspekt der Ausbildung bedeutet zunächst in fachwissenschaftlicher Hinsicht, dass die Stipendiaten am Institut ihre Fähigkeiten bei der Entwicklung und Durchführung spezifischer Fragestellungen der historischen Europaforschung schärfen können. Sie diskutieren besonders die methodischen Ansätze des Vergleichs, der Transferanalyse, der Beziehungs- und der transnationalen Geschichte sowie der Histoire croisee. Außerdem wird das Institut den Stipendiaten anbieten, sie stärker und gezielter beim Entwickeln eigener beruflicher Perspektiven zu unterstützen. Die Nachwuchsförderung kann praxisorientiert auf das Berufsfeld vorbereiten, für das eine Promotion in den historischen Wissenschaften bzw. der historischen Europaforschung notwendig bzw. hilfreich ist. An einem Forschungsinstitut mit seinen vielfältigen wissenschaftsorganisatorischen Aktivitäten können die Stipendiaten Kompetenzen einüben, die sie auf eine Tätigkeit in Verlagen, in Museen, der Erwachsenenbildung und der Forschungsförderung sowie in Verbänden, der Politik und im Kulturmanagement vorbereiten. Diejenigen Stipendiaten, die länger am Institut arbeiten, können bei der Planung und Durchführung wissenschaftlicher Veranstaltungen mit-

Berger, Das Institut für Europäische Geschichte

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wirken, sich an Projektanträgen beteiligen, kürzere Publikationen redigieren und bei der Steuerung von Projekten assistieren. Sie erhalten die Gelegenheit, Erfahrungen in der Organisation von Forschungsdaten und deren multimedialer Präsentation zu gewinnen. Schließlich können sie an der Außendarstellung des Instituts mitwirken, je nach Interesse stärker im gestalterisch-grafischen oder inhaltlichen Bereich. Vernetzung im Sinn europäischer ResearchTrainingGroups bedeutet schließlich, dass sich die Stipendiaten während ihres Förderungszeitraums weitere Kenntnisse und Fähigkeiten durch die Kooperation und den Austausch mit anderen Einrichtungen der historischen Europaforschung aneignen können. Es geht sowohl um vertiefte wissenschaftliche Perspektiven, Methoden und Fachkenntnisse der Europaforschung, als auch um die Einübung von Sprachkompetenzen sowie kollegialer, arbeitsteiliger und ergebnisorientierter Arbeitsformen.

III. Historische Europaforschung als gesellschaftliche Dienstleistung? Jede Forschungseinrichtung, die sich einem internationalen Wettbewerb um Fördermittel behaupten muss, hat in immer stärkeren Maß nachzuweisen, ob sie einen ,bedarfsorientierten' Auftrag zu erfüllen vermag - Wissenschaft als Dienstleistung für die Gesellschaft'. Dieses funktionale Selbstverständnis, das nicht nur die Förderpolitik der Europäischen Kommission kennzeichnet, ist für geistes- und kulturwissenschaftliche Einrichtungen nicht unproblematisch. Gerade im Zuge des europäischen Einigungsprozesses, dessen mangelnde ,kulturelle' Fundierung allseits beklagt wird, könnten die in einem Institut für Europäische Geschichte erarbeiteten, differenzierten Forschungsergebnisse auch ungewollt Stichworte für gegenwartsbezogene, außerwissenschaftliche Zielsetzungen geben. Das Institut fur Europäische Geschichte vermag freilich den gesellschaftlichen ,Bedarf, dem es als Forschungseinrichtung nachkommen kann, aktiv zu definieren. Dafür lassen sich drei unterschiedliche Dimensionen des Wissenstransfers umreißen. Erstens verbreitet das Institut fiir Europäische Geschichte natürlich seine eigenen Forschungsergebnisse in der Scientific Community. Die Neuen Medien haben die wissenschaftlichen Publikationsformen (CD-/DVD-ROM, Internet), die Arbeitsweisen („e-research") und die Rezeptionsgewohnheiten der Leser („user") grundlegend verändert. Dennoch wird ,das gedruckte Buch' seinen Wert dauerhaft behalten; vor allem, um die Ergebnisse umfangreicher Monographien für die Leser handhabbar und dauerhaft zu sichern. Die vom Institut herausgegebenen Veröffentlichungen sind zweigleisig konzipiert: traditionelle Druckmedien und Online-Publikationen sollen sich komplementär ergänzen. In der Schriftenreihe wird ein wichtiger Teil der im Institut entstandenen Forschungsergebnisse veröffentlicht. Auch seinen On-

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line-Publikationen verleiht das Institut das Gütesiegel der gedruckten Schriftenreihe: die strenge Begutachtung durch die Herausgeber (Direktoren), das kritische Lektorat durch die wissenschaftlichen Mitarbeiter, die gründliche Endredaktion durch einen Redakteur, die ansprechende und dauerhafte Präsentation. Hinzu kommen die Möglichkeiten der laufenden Aktualisierung und multimedialen Gestaltung. Ein Teil der Forschungsergebnisse wird also in den Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Online publiziert. Derzeit werden bereits digitale Grundkarten zur deutschen und europäischen Geschichte (Kartenserver IEG-maps) sowie Digitalisate und Transkriptionen europäischer Friedensverträge der frühen Neuzeit online zur Verfügung gestellt. Die Website www.ieg-mainz.de ist somit nicht nur die zentrale Kommunikationsplattform des Instituts, die über seine Strukturen, Veranstaltungen und laufenden Projekte informiert, sondern bietet darüber hinaus wichtige Serviceleistungen für die historische Europaforschung. Das Institut für Europäische Geschichte nimmt aufgrund seiner Forschungen, Konferenzen und des internationalen Stipendiatenprogramms eine ,Brückenfunktion' zwischen West- und Osteuropa ein. Das Institut will sich zudem - darin besteht die zweite Dimension des Wissenstransfers - als Zentrum der historischen Europaforschung profilieren, das die Diskussion von Streitfragen zur europäischen Geschichte anstößt, organisiert und institutionalisiert. Die räumlich-zeitliche ,Brückenfunktion' des Instituts für die Geschichte Europas wird also um eine inhaltlich-methodische ergänzt. Dieses Ziel wird wesentlich durch das Jahrbuch für Europäische Geschichte unterstützt. Es schließt eine wichtige Lücke bei den deutschsprachigen Zeitschriften und behandelt zentrale Themen der historischen Europaforschung, vor allem vergleichender oder beziehungsgeschichtlicher Provenienz. Auch künftig wird das Jahrbuch der Ort sein, wo internationale Fachleute strittige und brennende Fragen der Europäischen Geschichte diskutieren, die auch vom das Institut angeregt wurden. Die wissenschaftlichen Serviceleistungen des Instituts werden (im Internet) häufig unentgeltlich bereitgestellt und wenden sich deshalb zunehmend an einen größeren, nicht auf die akademische Forschung beschränkten Nutzerkreis. Sie können von Wissenschaftlern, aber auch Politikern, Lehrern oder Museumspädagogen als works in progress abgerufen werden. Die dritte Dimension des Wissenstransfers besteht also in der Vermittlung eigener Forschungsergebnisse an eine interessierte außerwissenschaftliche Öffentlichkeit über ausgewählte Multiplikatoren. Denn diese Vermittlung kann ein Forschungsinstitut nicht selbst leisten; sie ist Aufgabe historischer Ausstellungen, der Publizistik und der Medien. Das Institut möchte und wird jedoch seine Außendarstellung so verstärken, dass es die , Macher' dieser Vermittlungsformen immer dann konsultieren, wenn sie Beratung bei der historischen Dimension europarelevanter Fragen suchen. Das Institut für Europäische Geschichte

Berger, Das Institut für Europäische Geschichte

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will sich somit auch aktiv in aktuelle Debatten über politisch-nationale und religiös-konfessionelle Partikular- und Gesamtidentitäten in Europa einschalten - etwa zu den christlichen Wurzeln Europas', der europäischen' Prägung der Türkei, den Nationalismen auf dem ,Balkan' oder dem ideologischen Kampfbegriff des , Abendlandes'.

Summary The article introduces the Institute of European History in Mainz (Germany) as a laboratory of European historical research. Founded in 1950 to reconcile confessional and national frictions in Europe, the Institute conducts and promotes research into the historical foundations of Europe - comparative or transnational/transcultural projects dealing with European communication and transfer processes, as well as projects on concepts and perceptions of „Europe" and „Europeaness" in the period since c. 1450. Its fellowship programme combines research, training and international networking. Fellows pursue their individual research projects while discussing historiographical problems in an interdisciplinary and international surrounding. According to their special fields and interests, they are invited to participate in the research groups as well as the manifold academic activities of the Institute, including cooperation with international partners. The Institute also provides a variety of publications and resources - in print and online - for a wider audience, and organizes debates on controversial issues concerning the religious, social and political dimensions of European history.

Von den deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien zum Deutschen Historischen Institut Moskau Von

Heinz Duchhardt In Band 3 dieses Jahrbuchs hat Karl Otmar Frhr. von Aretin einen persönlich gefärbten, aus der Erinnerung und den Akten geschöpften Bericht über die (vier) deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien in den 1970er und frühen 1980er Jahren veröffentlicht 1 . Diese Treffen fanden nach 1981, auch vor dem Hintergrund erheblicher organisatorischer und inhaltlicher Schwierigkeiten, lediglich noch eine holprige, aber keine der Aufbruchstimmung entsprechende Fortsetzung mehr. Was seinerzeit, im Moment der Publikation des Aretinschen Aufsatzes im Frühjahr 2002, noch nicht absehbar oder allenfalls eine noch sehr unsichere Perspektive war, war, dass wenig später die bilateralen Wissenschaftsbeziehungen im Bereich der Geschichte durch die Gründung eines Deutschen Historischen Instituts in Moskau eine neue organisatorische Stufe und eine neue Qualität erreichen würden. Da die damit einhergehende Intensivierung der deutsch-russischen Zusammenarbeit auf dem Feld der Geschichtswissenschaft auch eine europäische Komponente aufweist und zumindest die raschere Integration der russischen Historie in ein europäisches Umfeld befördern wird, soll hier in aller Kürze die Linie von den noch tief in den Fallstricken der ideologischen Auseinandersetzungen der Vor-WendeZeit gefangenen Historikertreffen zu der neuen Einrichtung gezogen werden, die im September 2005 eröffnet wurde und mit ihrer Arbeit beginnen konnte. Standen am Beginn der deutsch-sowjetischen Kolloquien auf deutscher Seite Repräsentanten des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD) und Bemühungen des Instituts für Europäische Geschichte, auch für russische Nachwuchswissenschaftler Chancen für eine Förderung zu entwickeln, so stellte sich das nach der Wende anders dar. Aretin hat in dem oben genannten Beitrag im einzelnen dargelegt, wie in der relativen Tauwetterphase der sowjetischen Deutschlandpolitik sich nach dem Internationalen Historikertag in Moskau 1970 plötzlich Chancen fur eine Zusammenarbeit der beiden Geschichtswissenschaften zu ergeben schienen, auf die man lange nicht zu hoffen gewagt hatte. Die erste Verabredung zwischen dem Sowjetischen Nationalkomitee und dem VHD über ein Kolloquium konnte im Sommer 1972 in 1 Karl Otmar Frhr. von ARETIN, Die deutsch-sowjetischen Historikerkolloquien in den Jahren 1972-1981. Ein Erfahrungsbericht, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 185-204.

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Jahrbuch für Europäische Geschichte 7 (2006)

Moskau getroffen werden, wobei der deutsche Verband durch Aretin, der wenig später zum Schriftführer des VHD gewählt werden sollte, und dem Vizepräsidenten des Weltverbandes (CISH), Karl Dietrich Erdmann, vertreten wurde. Diesem „Durchbruch" schlossen sich dann insgesamt vier bilaterale Treffen an (Mainz 1973, Leningrad 1975, München 1978, Moskau 1981), von denen freilich nicht alle - ein erstes schweres Gravamen - dokumentiert werden konnten. Diese Aktivitäten fanden dann jedoch zumindest keine regelmäßige Fortsetzung mehr, u. a. weil maßgebliche Repräsentanten des VHD vor dem Hintergrund inhaltlicher Auseinandersetzungen und organisatorischen Kleinkriegs die Sinnhaftigkeit einer Weiterführung zunehmend skeptisch beurteilten. Immerhin fand 1989, schon unter den Vorzeichen von glasnost, eine letzte Konferenz im Rahmen dieses Zyklus statt. Nach der sog. Wende von 1989/90 waren es folgerichtig dann auch eher Einzelpersonen, die dem bilateralen Wissenschaftsdialog neue Anstöße zu geben versuchten, die aber dann auch von der „großen Politik" aufgegriffen wurden. Schon 1993/94 haben der damalige Bundeskanzler Kohl und der russische Präsident Jelzin sich über eine bilaterale Historikerkommission verständigt, die sich 1998 in Bonn endgültig konstituierte, sich seitdem regelmäßig trifft und sich ihrem präzisen Auftrag entsprechend vor allem der Erhebung und Aufarbeitung zeitgeschichtlicher Quellen widmete und widmet2. Aber schon vorher, im Umfeld der Gründung eines neuen Deutschen Historischen Instituts in Warschau, die dann 1992 erfolgte, wurde der alternative Gedanke ventiliert, statt dessen ein Institut in Moskau ins Leben zu rufen; gegen den dezidierten Willen der damaligen Bundesregierung, der Normalisierung der Beziehungen zu Polen und der Aufarbeitung dieser besonders schwierigen und problembeladenen Nachbarschaft Vorrang zu geben, konnte sich dieses Vorhaben der Errichtung eines DHI in Moskau aber noch nicht durchsetzen. Der Entscheidung für Warschau verdankte aber indirekt, wenn man es politisch sieht, die Gemeinsame deutsch-russische Kommission ihr Entstehen. Warschau war nach Rom (gegründet 1888), Paris (1958), London (1975) und Washington (1987) das fünfte Historische Auslandsinstitut - in dieser Hinsicht war Deutschland schon damals weltweit führend aber angesichts der zunehmenden finanziellen Zwänge, die auch mit dem Prozeß der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zu tun hatten, war es völlig klar, dass die Bundesregierung auf absehbare Zeit keine Initiative mehr ergreifen würde, auf das Moskau-Projekt nochmals zurückzukommen. Es waren dann vor dem Hintergrund zahlreicher Aktivitäten deutscher Stiftungen, die (Geschichts-) Wissenschaft in der neuen Staatenwelt Ost- und Ostmittel2

Zu den Projekten der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen vgl. Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission [...], Bd. 1 (o. J.), S. 19-55; dort werden auch wichtige Dokumente sowie die Namen der Mitglieder der Kommission mitgeteilt.

Duchhardt, Von den deutsch-sowjetischen

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europas zu stützen und die Verflechtungen mit der deutschen Historie zu verstärken, zwei große deutsche Stiftungen, die das Projekt eines DHI Moskau erneut ins Rollen brachten: die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und die Krupp-Stiftung. Die erstgenannte Einrichtung hatte im Jahr 2000 ein großrahmiges Förderprogramm fur den (geschichts-) wissenschaftlichen Nachwuchs Russlands und der GUS-Staaten aufgelegt („Deutschland und seine östlichen Nachbarn - Beiträge zur europäischen Geschichte"), die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung hatte über die Person des Kuratoriumsvorsitzenden Prof. Dr. Berthold Beitz Russland schon seit Jahrzehnten ein besonderes Interesse entgegengebracht, und dies nicht nur im ökonomischen Bereich. Beide waren im Blick auf eine auf Russland zielende Initiative sozusagen „geborene" Partner. Freilich hat es auch für diese Initiative einer Initialzündung bedurft, und sie ging auf den Göttinger Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier zurück, einen Russland-Fachmann, der seit den späten 1990er Jahren für die Hamburger Stiftung beratend tätig war. Sein im März 2002 datiertes Memorandum („Konzept für den Aufbau eines Deutschen Historischen Instituts in Russland") wurde gewissermaßen die Geburtsurkunde der neuen Einrichtung. Wie die beiden Stiftungen letztlich zueinander fanden und das Projekt entwickelten, in Art einer Stiftungsprofessur ein Deutsches Historisches Institut in Moskau zu begründen und für fünf Jahre zu finanzieren („Anschubfinanzierung"), unter der Voraussetzung, dass dann der Bund in alle Verpflichtungen eintrat - all das wird auf der Grundlage der Akten der beiden Einrichtungen zu gegebener Zeit von kompetenter Seite nachzuzeichnen sein. Dabei wird auch das gesamte politische Umfeld noch einmal zu würdigen sein, das mit dem sog. Petersburger Dialog und Präsident Putins Rede im Deutschen Bundestag im November 2001 hier nur angedeutet werden kann. Jedenfalls konnte im Frühherbst 2002 eine Einigung mit dem zuständigen deutschen Fachministerium und der Stiftung Geisteswissenschaftlicher Institute im Ausland, dem Dachverband der Deutschen Historischen Institute, erzielt werden, die es schließlich erlaubte, die Stelle des Direktors auszuschreiben und nach dem üblichen Auswahl verfahren mit dem Bochumer Osteuropahistoriker Bernd Bonwetsch zu besetzen. Aber wer geglaubt hatte, dass sich das Projekt nun rasch endgültig realisieren ließe, sah sich getäuscht bzw. hatte nicht mit den bürokratischen Hindernissen gerechnet, die sich auf russischer Seite noch auftaten. Sie können sich zentrierend auf die Frage nach der juristischen Stellung einer solchen Einrichtung und ihrer Akkreditierung - hier ebensowenig thematisiert werden wie das Problem der Unterbringung des Instituts, das am Ende in der Nähe der Lomonosov-Universität, im stattlichen Funktionsbau des Instituts für wissenschaftliche Information auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften, ein Domizil fand. Wegen dieser unvorhersehbaren Verzögerungen ließ sich

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der Plan, es 2003 im Jahr des Deutsch-Russischen Kulturdialogs zu eröffnen, bei weitem nicht verwirklichen. Das DHI Moskau konnte schließlich am 12. September 2005 förmlich eröffnet werden: in Anwesenheit der zuständigen deutschen Ministerin für Bildung und Forschung und des zuständigen russischen Ministers für Bildung und Wissenschaft und unter starker Beachtung der Öffentlichkeit 3 . Das DHI Moskau, dem ein aus fünf deutschen und drei russischen Historikern und Historikerinnen bestehender und von Manfred Hildermeier geleiteter Wissenschaftlicher Beirat zur Seite steht und das mit vier Wissenschaftlern (neben dem Direktor) seine personelle Sollstärke bereits erreicht hat, wird nicht nur externen (also deutschen und westlichen) Wissenschaftlern durch den Dschungel des russischen Archivwesens einen Weg zu bahnen versuchen 4 , sondern auch eine Reihe von Forschungsprojekten beziehungsgeschichtlicher Art in Angriff nehmen, die den Zeitraum vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Nachkriegszeit umfassen. In verschiedenen Referaten anlässlich der Eröffnung der Einrichtung ist dabei immer wieder betont worden, wie wichtig es sei, bei den Forschungsvorhaben das gesamte staatliche und gesellschaftliche Beziehungsgeflecht zwischen Rhein und Ural mit im Auge zu behalten, also insbesondere auch Polen und die baltischen Länder als Brücken, Resonanzböden und Kontaktzonen und in ihrer spezifischen Funktion für die deutsch-russischen Beziehungen zu würdigen. Klaus Zernack hat das schon vor geraumer Zeit angemahnt 5 . Wenn dies in angemessener Weise gelingt, könnte von Moskau ein beträchtlicher Ausschnitt der europäischen Geschichte eine neue Beleuchtung erfahren. Nicht zuletzt darin - auch das oben erwähnte Hildermeier-Memorandum hatte dieses Thema angesprochen - scheint die europäische Bedeutung der Gründung des DHI Moskau zu liegen.

Summary This short essay discusses the process of establishing formal relations between the German and the Russian historical sciences and their organizations. The process began in the 1970's with a series of bilateral conferences, and reached its first climax in the establishment of a joint commission of Russian 3 Vgl. ζ. Β. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 214 vom 14. September 2005, S. 35 („Das Jahrhundert der Geisteswissenschaften"). 4 Vgl. den Beitrag von Kerstin HOLM in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 220 vom 21. September 2005, S. 44 („Die Akten sind im Aufzug verlorengegangen"). 5 Klaus ZERNACK, Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin

1994.

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and German historians in 1998. It ultimately led to the foundation of a German Historical Institute in Moscow in September 2005. One of the aims of this new Institute is to further historical research of Germans and other NonRussians in Russia and to improve the interactions between both historical sciences.

AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE Europa-Schrifttum 2005 Zusammengestellt

von

Malgorzata Morawiec/Matthias

Schnettger

Allgemeines. S. 219 - Epochenübergreifend. S. 220 - Mittelalter (500-1500). S. 222 Frühe Neuzeit (1500-1789). S.223 - Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (1789-1815). S. 225 - 19. Jahrhundert (1815-1918). S. 225 - 20. Jahrhundert 1: Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg (1918-1945). S. 2 2 6 - 2 0 . Jahrhundert II: Zeit nach 1945. S. 228 - Beziehungen zu Außereuropa, Kolonialismus, Entkolonialisierung. S. 229 - Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte. S. 230 - Frauen- und Geschlechtergeschichte. S. 232 - Europäisches Judentum. S. 233 - Kirchengeschichte. S. 233 - Militärgeschichte. S. 234 Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. S. 235 - Sozialgeschichte. S. 235 Wirtschaftsgeschichte. S. 236 - Mitteleuropa. S. 237 - Osteuropa. S. 238 - Skandinavien. S. 240 - Südeuropa. S. 240 - Südosteuropa. S. 241 - Westeuropa. S. 242.

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Die vorliegende Bibliographie versteht sich ausdrücklich als Auswahlbibliographie. Erfasst wurden ausschließlich Monographien und Sammelbände. Übersetzungen sind nur dann berücksichtigt worden, wenn es sich um Übertragungen ins Deutsche handelt. Die Gliederung der Bibliographie kann unverändert diskutiert werden; der eine oder andere Titel hätte ohne weiteres auch in eine andere Rubrik eingeordnet werden können. Auf Querverweise wurde verzichtet. Dem Benutzer wird daher empfohlen, gegebenenfalls auch thematisch verwandte Rubriken einzusehen.

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La societa dei principi nell'Europa modema: secoli XVI-XVII, hrsg. von Christof Dipper und Mario Rosa, Bologna: II mulino, 2005 (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento 66). Staatsbildung als kultureller Prozess: Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ronald G. Asch und Dagmar Freist, Köln [u. a.]: Böhlau, 2005. Themenschwerpunkt: Frühaufklärung, hrsg. von Karl Eibl, Hamburg: Meiner, 2005. Warfare in Europe, 1650-1792, hrsg. von Jeremy Black, Aldershot: Ashgate, 2005 (The International Library of Essays in Military History). Obergang vom 18. zum 19. Jahrhundert

(1789-1815):

Owen CONNELLY, The Wars of the French Revolution and Napoleon, 1792-1815, London [u. a.]: Routledge, 2005 (Warfare and History). Brigitte MAZOHL-WALLNIG/Andreas BÖSCHE, Zeitenwende 1806. Das Ende des Alten Reichs und die Geburt des modernen Europa, Wien: Böhlau, 2005. Russia in the European context, 1789-1914: a member of the family, hrsg. von Susan P. McCaffray, New York [u. a.]: Palgrave Macmillan, 2005. Torsten RLOTTE, Hannover in der Britischen Politik (1792-1815). Dynastische Verbindung als Element außenpolitischer Entscheidungsprozesse, Münster: Lit, 2005 (Historia profana et ecclesiastica 13). Johannes Willms, Napoleon: eine Biographie, München: Beck, 2005. 19. Jahrhundert

(1815-1918):

Akten zur Geschichte des Krimkriegs, Serie III: Englische Akten zur Geschichte des Krimkriegs, Bd.l: 20. November 1852 bis 10. Dezember 1853, bearb. von Winfried Baumgart, München: Oldenbourg, 2005. Daniel BERTSCH, Anton Prokesch von Osten (1795-1876). Ein Diplomat Österreichs in Athen und an der Heiligen Pforte. Beiträge zur Wahrnehmung des Orients im Europa des 19. Jahrhunderts, München: Oldenbourg, 2005 (Südosteuropäische Arbeiten 123). Nicole BILLETER, „Worte machen gegen die Schändung des Geistes!" Kriegsansichten von Literaten in der Schweizer Emigration 1914/18, Bern [u. a.]: Lang, 2005 (Geist und Werk der Zeiten. Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich 99). Edward M. BRETT, The British Auxiliary Legion in the First Carlist War, 1835-1838: a forgotten army, Dublin [u. a.]: Four Corts Press, 2005. F. R. BRIDGE; Roger BULLEN, The great powers and the European states system: 1814 1914, Harlow [u. a.]: Longman, 2 2005. Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von Dagmar Herrmann, Paderborn: Fink (West-östliche Spiegelungen, Reihe B, 4). Ireland and Europe in the nineteenth century, hrsg. von Colin Graham und Leon Litvack, Dublin : Four Courts, 2005 (Nineteenth-Century Ireland). Dieter LANGEWIESCHE. Europa zwischen Restauration und Revolution München: Oldenbourg, 4 2005 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 13).

1815-1849,

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Julia MAHNKE-DEVLIN, Britische Migration nach Russland im 19. Jahrhundert. Integration - Kultur - Alltagsleben, Wiesbaden: Harrassowitz, 2005 (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München 69). Michael E. NOLAN, The Inverted Mirror. Mythologizing the Enemy in France and German 1898-1914, Oxford/New York: Berghahn, 2005. Heike RAUSCH, Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848-1914, München: Oldenbourg, 2005 (Pariser Historische Studien 70). Stephan SCHOLZ, Der deutsche Katholizismus und Polen (1830-1849). Identitätsbildung zwischen konfessioneller Solidarität und antirevolutionärer Abgrenzung, Osnabrück: fibre, 2005 (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 13). Hasan UNAL, Ottoman Foreign Policy during the Bosnian Annexation Crisis, 19081909, London: Frank Cass, 2005. Thomas BRENDEL, Zukunft Europa?: Das Europabild und die Idee der internationalen Solidarität bei den deutschen Liberalen und Demokraten im Vormärz (1815-1848); mit 4 Tabellen, Bochum: Winkler, 2005.

20. Jahrhundert I: Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg

(1918-1945):

Roswitha BRECKNER, Migrationserfahrung - Fremdheit - Biografie: zum Umgang mit polarisierten Welten in Ost-West-Europa, Wiesbaden: Verl. für Sozialwiss. 2005. Britta BLEY, Wieviel Schuld verträgt ein Land? Die Kriegsschuldfrage im Spannungsfeld der deutsch-belgischen Beziehungen während der Weimarer Republik, Online-Ressource Bielefeld: Bestebooks, 2005. Stefan BREUER, Nationalismus und Faschismus. Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Dietrich ELCHHOLTZ, Deutsche Politik und rumänisches Öl (1938-1941), Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag, 2005. Das Erbe des Kommunismus - Vergangenheitsbewältigung in Polen und Deutschland nach 1989; hrsg. von Harald Wydra und Pawel Kuglarz, Münster: LIT, 2005 (Regensburger Schriften aus Philosophie, Politik, Gesellschaft und Geschichte 4). Europa vor dem Abgrund. Das Jahr 1935 - eine nicht genutzte Chance, hrsg. von Kurt Pätzold und Erika Schwarz, Köln: Papyrossa, 2005 (Papyrossa Hochschulschriften 57). Das Europa des „Dritten Reichs". Recht, Wirtschaft, Besatzung, hrsg. von Johannes Bähr und Ralf Bankens, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2005 (Das Europa der Diktatur 5; Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 181). Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Heinz Duchhardt und Istvän Nemeth, Mainz: von Zabern, 2005 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 66: Abteilung für Universalgeschichte). Facing Illness in Troubled Times. Health in Europe in the Interwar Years, 1918-1939, hrsg. von Iris Borowy und Wolf D. Gruner, Frankfurt a. M.: Lang, 2005. Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, hrsg. von Hans M. Bock, Tübingen: Narr, 2005. Peter GEIGER [U. a.], Fragen zu Liechtenstein in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg: Flüchtlinge, Vermögenswerte, Kunst, Rüstungsproduktion. Schlussbericht der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Zürich: Chronos, 2005.

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Marianne GYGER, Im Spannungsfeld zwischen Großmächten und Untergrundbewegung. Die Polnische Exilregierung in London während des Zweiten Weltkrieges. Bemühungen der Polnischen Exilregierung um die Erhaltung demokratischer Strukturen im NachkriegsPolen. Vom Abbruch polnisch-sowjetischer Beziehungen im Sommer 1943 bis zu den Folgen der Jaltakonferenz 1945, Nordhausen: Bautz, 2005 (Berner Forschungen zur Neuesten Allgemeinen und Schweizer Geschichte 2). Ursina JUD, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Zürich: Chronos, 2005 (UHK-Studie 1). Ulrich KAISER, Realpolitik oder antibolschewistischer Kreuzzug? Zum Zusammenhang von Rußlandbild und Rußlandpolitik der deutschen Zentrumspartei 1917-1933, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Kieler Werkstücke, Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte 7). Michael KELLOGG, The Russian Roots of Nazism. White Emigres and the Making of National Socialism, 1917-1945, Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press, 2005 (New Studies in European History). Eberhard KOLB, Der Frieden von Versailles, München: Beck, 2005. Anna-Monika LAUTER, Sicherheit und Reparationen. Die französische Öffentlichkeit, der Rhein und die Ruhr 1918-1923, Essen: Klartext, 2005 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens 72). Miklos LOJK0, Meddling in Middle Europe. Britain and the ,Lands between' 1919— 1925, Budapest: Central European Press, 2005. Karl G. Mix, Deutsche Flüchtlinge in Dänemark, Stuttgart: Steiner, 2005 (Historische Mitteilungen 59). Guido MÜLLER, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München: Oldenbourg, 2005 (Studien zur Internationalen Geschichte 15). Michael Alfred PESZKE, The Polish Underground Army, the Western Allies, and the Failure of Strategic Unity in World War II, Jefferson, N.C.: McFarland, 2005. Rosemarie PF1RSCHKE, Unterwegs mit Koffer und Teddybär: Europas Kinder und der Zweite Weltkrieg, hrsg. von Claudine Landgraf; Rheinbach: CMZ, 2005. Thomas RAITHEL, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Deputes in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München: Oldenbourg, 2005 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 62). Zara STEINER, The lights that failed: European international history 1919-1933, Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press, 2005 (Oxford history of modern Europe). Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Karl Eimermacher und Astrid Volpert, Paderborn: Fink, 2005 (West-östliche Spiegelungen Neue Folge 2). Verfuhrungen der Gewalt. Russen und Deutsche in den beiden Weltkriegen, hrsg. von Karl Eimermacher und Astrid Volpert, Paderborn: Fink, 2005 (West-östliche Spiegelungen Neue Folge 1). Jutta VINZENT, Identity and Image. Refugee Artists from Nazi Germany in Britain, 1933-1945, Kromsdorf: VDG Weimar, 2005 (Schriften der Guernica-Gesellschaft 16). Michael WEIGL, Das Bayernbild der Repräsentanten Österreichs in München 1918-1938. Die diplomatische und konsularische Berichterstattung vor dem Hintergrund der bayerisch-

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österreichischen Beziehungen, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und Historische Hilfswissenschaften 1013). Steffen WERTHER, Dänische Freiwillige in der Waffen-SS, Berlin: Wissenschafts-Verlag, 2005. Joachim WINTZER, Deutschland und der Völkerbund 1918-1926, Paderborn: Schöningh, 2005 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart). Thomas WITTEK, Auf ewig Feind? Das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg, München: Oldenbourg, 2005 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 59). 20. Jahrhundert II: Zeit nach 1945: „Arbeit am nationalen Raum": deutsche und polnische Rand- und Grenzregionen im Nationalisierungsprozess, hrsg. von Peter Haslinger, Leipzig: Leipziger Univ.-Verl., 2005. Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im besetzten Europa, hrsg. von Klaus Tenfelde, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005 (Geschichte und Gesellschaft Jg. 31, Η. 1). Stefan BERGER, The British Left and the GDR, Augsburg: Wißner, 2005 (Beiträge zur England-Forschung 52). Alasdair BLAIR, The European Union since 1945, London: Longman [u. a.], 2005 (Seminar studies in history). Gerad BOSSUAT, Faire l'Europe sans defaire la France. 60 ans de politique d'unite europeenne des gouvernements et des presidents de la Republique Frangaise (1943-2003), Bruxelles [u. a.]: Lang, 2005 (Euroclio 30). Roswitha BRECKNER, Migrationserfahrung, Fremdheit, Biografie: zum Umgang mit polarisierten Welten in Ost-West-Europa, Wiesbaden: Verl. für Sozialwiss., 2005 (Forschung Gesellschaft). Consolidated Intelligence Reports. Psychological Warfare Branch, Military Government Kärnten Mai 1945 bis April 1946. Eine Quellenedition zur Geschichte der britischen Besatzungszeit in Kärnten, hrsg. von Gabriela Stieber, Klagenfurt: Kärntner Landesarchiv, 2005 (Das Kärntner Landesarchiv 32). Der Elysee-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945-1963-2003, hrsg. von Corine Defrance und Ulrich Pfeil, München: Oldenbourg, 2005 (Pariser Historische Studien 71). Thomas ETZEMÜLLER, Ein Riss in der Gesellschaft? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegung in Westdeutschland und Schweden, Konstanz: UVK, 2005. Ein europäisches Modell? Nationale Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland 1945-2005, hrsg. von Jorgen Kühl und Robert Bohn, Gütersloh: Verlag für Regionalgeschichte, 2005 (IZRG-Schriftenreihe 11). Sebastian HEINDRICHS, Die Europapolitik Großbritanniens unter besonderer Berücksichtigung der britischen Position zur Osterweiterung der Europäischen Union und der Regierung Blair, Berlin: Logos, 2005. Wolfram HILZ, Europas verhindertes Führungstrio. Die Sicherheitspolitik Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens in den Neunzigern, Paderborn: Schöningh, 2005. International Relations and the European Union, hrsg. von Christopher Hill und Michael Smith, Oxford: Oxford University Press, 2005 (The New European Union).

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„Der kölsche Europäer". Friedrich Carl von Oppenheim und die europäische Einigung, hrsg. von Jürgen Mittag und Wolfgang Wessels, Münster: Aschendorf, 2005. Geert MAK, In Europa: eine Reise durch das 20. Jahrhundert, München: Siedler, 2005. Peter MANGOLD, The almost impossible ally. Harold Macmillan and Charles de Gaulle, London: Tauris, 2005. Member States and the European Union, hrsg. von Simon Bulmer und Christian Lequesne, Oxford: Oxford University Press, 2005 (The New European Union). Wolfgang MUELLER, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945-1955 und ihre politische Mission, Wien: Böhlau, 2005. Burkhard OLSCHOWSKY, Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1908-1989, Osnabrück: fibre, 2005 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e. V. 7). Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Beiträge, hrsg. von Stefan Karner [u. a] München: Oldenbourg-Wissenschaftsverl. [u. a], 2005( Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 4). Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955. Dokumente, hrsg. von Stefan Karner [u. a] München: Oldenbourg-Wissenschaftsverl. [u. a], 2005 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 5). Manfred SCHEICH, Tabubruch. Österreichs Entscheidung fur die Europäische Union, Wien: Böhlau, 2005 (Schriftenreihe des Herbert Batliner-Europainstitutes/Forschungsinstitut für Europäische Politik und Geschichte 9). Gabriela STIEBER, Die Briten als Besatzungsmacht in Körnten 1945-1955, Klagenfurt: Kärntner Landesarchiv, 2005 (Das Kärntner Landesarchiv 31). Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche vor, während und nach dem Kalten Krieg, hrsg. von Karl Eimermacher und Astrid Volpert, Paderborn: Fink, 2005 (West-östliche Spiegelungen Neue Folge 3). Vie parallele. Italia e Germania 1944-2004 / Parallele Wege. Italien und Deutschland 1944-2004, hrsg. von Renato Cristin, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Italien in Geschichte und Gegenwart 23). Wandel und Integration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre, hrsg. von Helene Miard-Delacroix und Rainer Hudemann, München: Oldenbourg, 2005.

Beziehungen zu Außereuropa, Kolonialismus,

Entkolonialisierung:

The Americanization of Europe. Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, hrsg. von Alexander Stephan, Oxford/New York: Berghahn, 2005. Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert: Studien zu Ost- und Westeuropa, hrsg. von Jan C. Behrends, Bonn: Dietz, 2005. Miguel de AsÜA/Roger FRENCH, A New World of Animals. Early Modem Europeans on the Creatures of Iberian America, Aldershot: Ashgate, 2005. Gwyn CAMPBELL, An economic history of Imperial Madagascar: 1750-1895; the rise and fall of an island empire, Cambridge [u. a.]: Cambridge Univ. Press, 2005 (African studies series 106). Cosmopolitismes, patriotismes: Europe et Ameriques 1773-1802, hrsg. von Marc Belissa, Rennes: Ed. des Perseides, 2005 (Le monde atlantique).

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Martina EGLAUER, Wahrnehmung des Fremden: die Rolle des Westens beim Modernisierungsprozeß in China, Stuttgart: Breuninger-Stiftung, 2005 (Der europäische Sonderweg 13). European Aristocracies and Colonial Elites. Patrimonial Management Strategies and Economic Development, 15th- 18th Centuries, hrsg. von Paul Janssens und Bartolome Yun Casalilla, Aldershot: Ashgate, 2005. Peter FELDBAUER, Die Portugiesen in Asien: 1498-1620, Überarb. Neuaufl. Essen: Magnus, 2005. Daniel GOFFMAN, The Ottoman Empire and early modern Europe, 4. Aufl. Cambridge [u. a.]: Cambridge Univ. Press, 2005 (New approaches to European history 24). Tilma LÜDKE, Jihad made in Germany. Ottoman and German Propaganda and Intelligence Operations in the First World War, Münster: Lit, 2005 (Studien zur Zeitgeschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas 12). Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945, hrsg. von Holger Stoecker und Ulrich van der Heyden, Stuttgart: Steiner, 2005 (Missionsgeschichtliches Archiv 10). Wolfgang REINHARD, La vieille Europe et les nouveaux mondes. Pour une histoire des relations atlantiques, Ostfildern: Thorbecke, 2005 (Conferences de l'Institut Historique Allemand 11). Winfried SPEITKAMP, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart: Reclam, 2005(Reclams Universal-Bibliothek 17047). Ines G. ZUPANOV, Missionary Tropics. The Catholic Frontier in India (16th—17th Centuries), Ann Arbor: The University of Michigan Press, 2005 (History, Languages, and Cultures of the Spanish and Portuguese Worlds). Ideen-, Kultur-, Wissenschafts- und

Mentalitätsgeschichte:

Die Anfänge der europäischen Druckgraphik: Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, hrsg. von Peter Parshall und Rainer Schoch, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum [u. a.], 2005. Florence BANCAUD-MAENEN, Le roman de formation au XVllle siecle en Europe, Paris: Armand Colin, 2005 (Collection 128; 222: Litterature). Hans M. BOCK, Kulturelle Wegbegleiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen: Narr, 2005. Sebastian BOCK, Ova struthionis: die Straußeneiobjekte in den Schatz-, Silber- und Kunstkammern Europas, Freiburg i. Br. [u. a.]: Selbstverl., 2005. Peter BURKE, Die europäische Renaissance: Zentren und Peripherien, München: Beck, 2005 (Beck'sche Reihe 1626). Vanessa CONZE, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München: Oldenbourg, 2005 (Studien zur Zeitgeschichte 69). Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik, hrsg. Von Holger Böning [u. a.], Bremen: edition lumidre, 2005 (Presse und Geschichte 16). Deutsche Kunst - Französische Perspektiven 1870-1945. Quellen und Kommentare zur Kunstkritik, hrsg. von Friederike Kitschen und Knut Helms, Berlin: Akademie Verlag, 2005 (Passagen/Passages 9).

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Deutschland, Italien und die slavische Kultur an der Jahrhundertwende. Phänomene europäischer Identität und Alterität, hrsg. von Gerhard Ressel, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Trierer Abhandlungen zur Slavistik 6). Deutschland und Italien 1860-1960: politische und kulturelle Aspekte im Vergleich, hrsg. von Christof Dipper, München: Oldenbourg, 2005 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 52). Paul Esterhäzy 1901-1989: ein Leben im Zeitalter der Extreme, hrsg. von Stefan August Lütgenau, Innsbruck [u. a.]: Studien, 2005. Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte, hrsg. von Silvio Vietta [u. a.], Tübingen: Niemeyer, 2005 (Reihe der Villa Vigoni 17). Europäische Landschaftsarchitektur: ausgewählte Projekte von 2000 bis heute / European landscape architecture, hrsg. von Peter Zöch, München: Callwey, 2005 (Edition Topos). Karl R. H. FRICK, Die Erleuchteten: gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden: Marix, 2005. Peter GAY, Une culture bourgeoise: Londres, Paris, Berlin, biographie d'une classe sociale, 1815-1914, Paris: Ed. Autrement, 2005 (Collection memoires 113). Georg Ullrich GROSSMANN, Burgen in Europa, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Gunther HIRSCHFELDER, Europäische Esskultur: eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt am Main [u. a.]: Campus-Verl., 2005. International Exposure. Perspectives on Modern European Pornography, 1800-2000, hrsg. von Lisa Z. Sigel, New Brunswick, NJ [u. a.]: Rutgers University Press, 2005. Italien und Preußen. Dialog der Historiographien, hrsg. von Christiane Liermann [u. a.], Tübingen: Niemeyer, 2005 (Reihe der Villa Vigoni 18). Georg KREMNITZ, Die Durchsetzung von Nationalsprachen in Europa, 6 Hagen: Fernuniv., 2005. Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit" / Cultural consequences of the „Little Ice Age": mit 13 Tabellen, hrsg. von Wolfgang Behringer, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212) Kunst im Aufbruch? Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945, hrsg. von Martin Schieder und Isabelle Ewig, Berlin: Akademie Verlag, 2005 (Passagen/ Passages 13). Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, hrsg. von Wolfram Ax, Köln [u. a.]: Böhlau, 2005. Alexander LOSKANT, Der neue europäische Großfilm : Ökonomie und Ästhetik europäischer Kinogroßproduktionen der 90er Jahre, Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 2005 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 30, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften 88). Robert MILLS, Suspended animation: pain, pleasure and punishment in Medieval culture, London: Reaktion Books, 2005. Dietlinde MUNZEL-EVERLING, Rolande: die europäischen Rolanddarstellungen und Rolandfiguren, Dößel: Stekovics, 2005.

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Musik und Migration in Ostmitteleuropa, hrsg. von Heike Müns, München: Oldenbourg, 2004 (Schriften des Bundesinstituts fur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 23). Andrea PENZ, Inseln der Seligen. Fremdenverkehr in Österreich und Irland von 1900 bis 1938, Köln: Böhlau, 2005 (Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 13). Philhellenismes et transferts culturels dans l'Europe du XIXe siecle, hrsg. von Michel Espagne, Paris: CNRS Ed., 2005 (Revue germanique internationale ; 2005,1/2). Hans G. POTT, Kurze Geschichte der europäischen Kultur, Stuttgart: UTB, 2005 (UTB S 2684).

Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, hrsg. von Peter Blickle und Rudolf Schlögl, Epfendorf: bibliotheca academica, 2005 (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 13). Martin SCHIEDER, Im Blick des anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945-1959, Berlin: Akademie Verlag, 2005 (Passagen/Passages 12). Jerrold SEIGEL, The idea of the self: thought and experience in Western Europe since the seventeenth century, New York: Cambridge University Press, 2005. Sexuality and culture in medieval and Renaissance Europe, hrsg. von Philip M. Soergel, New York: AMS Press, 2005 (Studies in medieval and Renaissance history 3,2;). Technik des Backsteinbaus: im Europa des Mittelalters, hrsg. von Johannes Cramer, bearb. von Barbara Perlich, Petersberg: Imhof, 2005 (Berliner Beiträge zur Bauforschung und Denkmalpflege 2). Überall ist der Ball rund. Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, hrsg. von Dittmar Dahlmann, Essen: Klartext, 2005. Unravelling Civilisation. European Travel and Travel Writing, hrsg. von Hagen SchulzeForberg, Bruxelles [u. a.]: Lang, 2005 (Multiple Europes 30). Silvio VIETTA, Europäische Kulturgeschichte: eine Einfuhrung, München: Fink, 2005. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin: Duncker & Humblot, 2005 (Zeitschrift für historische Forschung: Beiheft 35). Conrad WIEDEMANN, Grenzgänge: Studien zur europäischen Literatur und Kultur, Heidelberg: Winter, 2005 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte [Folge 3], Bd. 221). Hernie L. WUERMELING, Auf der Suche nach Europa: Zeitreise durch die Geschichte, München: Langen Müller, 2005. Frauen- und Geschlechtergeschichte: Gisela BOCK, Frauen in der europäischen Geschichte: vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München : Beck, 2005 (Europa bauen). Emilia FLANDRA, Desiderio e tradimento: l'adulterio nella narrativa dell'Ottocento europeo, Roma: Carocci, 2005 (Lingue e letterature Carocci 48). The Marital Economy in Scandinavia and Britain 1400-1900, hrsg. von Maria Agren und Amy Louise Erickson, Aldershot: Ashgate, 2005 (Women and Gender in the Early Modern World). Ruth Mazo KARRAS, Sexuality in Medieval Europa. Doing Unto Others, New York [u. a.]: Routledge, 2005.

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Men, women, and the birthing of modern science, hrsg. von Judith P. Zinsser, DeKalb, 111.: Northern Illinois Univ. Press, 2005. Rosemary Radford RUETHER, Goddesses and the divine feminine: a Western religious history, Berkeley [u. a.]: Univ. of California Press, 2005. Studies on medieval and early modern women: victims or viragos?, hrsg. von Christine Meek und Catherine Lawless, Dublin: Four Courts Press, 2005.

Europäisches

Judentum:

Israel BARTAL, The Jews of Eastern Europe, 1772-1881, Philadelphia, Pa.: Univ. Pennsylvania Press, 2005 (Jewish culture and contexts). Eliseva BAUMGARTEN, Immähöt wi-yelädim: .hayye mispä.hä be-Askenäz bi-yeme habbenayim, Jerusalem: Zalman Shazar Center, 2005. Philip V. BOHLMAN, Jüdische Volksmusik: eine mitteleuropäische Geistesgeschichte, Wien [u. a.]: Böhlau, 2005 (Schriften zur Volksmusik 21). Mark R. COHEN, Unter Kreuz und Halbmond: die Juden im Mittelalter, München: Beck, 2005. Wolfgang CURILLA, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941-1944, Paderborn: Schöningh, 2005. Carole FINK, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews and International Minority Protection, 1878-1938, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press, 2004. Peter HABER/Erik PETRY/Daniel WILDMANN, Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa, Köln: Böhlau, 2005 (Jüdische Moderne 3). Das jüdische Erbe Europas: Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität, hrsg. von Eveline Goodman-Thau, Berlin [u. a.]: Philo, 2005. Jüdische Welten in Osteuropa, hrsg. von Annelore Engel-Braunschmidt, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Kieler Werkstücke: Reihe F, Beiträge zur osteuropäischen Geschichte 8). Stefan MÄCHLER, Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945, Zürich: Chronos, 2005. Yuri SLEZKINE, Paradoxe Moderne: jüdische Alternativen zum fin de siecle, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2005 (Toldot 2).

Kirchengeschichte: Gerhard BESIER/Francesca PLOMBO, Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München: DVA, 2004. Colin MORRIS, The sepulchre of Christ and the medieval West: from the beginning to 1600, Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press, 2005. Kirchliche Reformimpulse des 14./16. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa, hrsg. von Winfried Eberhard und Franz Machilek, Köln: Böhlau, 2005 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 36). Kommunikationsstrukturen im europäischen Luthertum der Frühen Neuzeit, hrsg. von Wolfgang Sommer, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2005 (Die Lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten 23). Methodios und Kyrillos in ihrer europäischen Dimension, hrsg. von Evangelos Konstantinou, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Philhellenische Studien 10).

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Moderate Voices in the European Reformation, hrsg. von Alec Ryrie und Luc Racault, Aldershot: Ashgate, 2005 (St Andrews Studies in Reformation History). Piety and Family in Early Modern Europe, hrsg. von Marc R. Forster und Benjamin Kaplan, Aldershot: Ashgate, 2005 (St Andrews Studies in Reformation History). Martin GRESCHAT, Protestantismus in Europa. Geschichte - Gegenwart - Zukunft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Ultramontanismus: Tendenzen der Forschung, hrsg. von Gisela Fleckenstein, Paderborn: Bonifatius, 2005 (Einblicke 8). Anthony D. WRIGHT, The Counter-Reformation. Catholic Europe and the Non-Christian World, Aldershot: Ashgate, 2 2005 (Catholic Christendom, 1300-1700).

Militärgeschichte: Jochen BÖHLER, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2005 (Fischer Geschichte 16307). The European Armed Forces in transition: a comparative analysis, hrsg. von Franz Kernic , Frankfurt a. Main [u. a]: Lang, 2005. 3

Karl H. FRIESER, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München: Oldenbourg, 2005 (Ausgewählte Operationen des Zweiten Weltkrieges 2).

Guy HALSALL, Warfare and society in the barbarian West, 450-900, Repr. Ausgabe London [u. a.]: Routledge, 2005. Die Italiener an der Ostfront 1942/43. Dokumente zu Mussolinis Krieg gegen die Sowjetunion, hrsg. von Thomas Schlemmer, München: Oldenbourg, 2005 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte 91). Anja JOHANSEN, Soldiers as Police. The French and Prussian Armies and the Policing of Popular Protest, 1889-1914, Aldershot [u. a.]: Ashgate, 2005. Norbert KUNZ, Die Krim unter deutscher Herrschaft 1941-1944. Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität, Darmstadt: Primus, 2005. Bernd LEMKE, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939. Zivile Kriegsvorbereitungen als Ausdruck der staats- und gesellschaftspolitischen Grundlagen von Demokratie und Diktatur, München: Oldenbourg, 2005 (Militärgeschichtliche Studien 39). Jean-Denis G. G. LEPAGE, Medieval Armies and Weapons in Western Europe, Jefferson, NC [u. a.]: McFarland, 2005. Brigitte MAZOHL-WALLNIG/Gunda BARTH-SCALMANI/Hermann J. KUPRIAN, Ein Krieg zwei Schützengräben. Österreich - ltaien und der Erste Weltkrieg in den Dolomiten 19151918, Bozen: Athesia, 2005. Rainer PÖPPINGHEGE, Kriegsgefangenenzeitungen des Ersten Weltkriegs, Essen: Klartext, 2005. Kunst und Propaganda in der Wehrmacht: Gemälde und Grafiken aus dem Russlandkrieg, hrsg. von Veit Veltzke, Bielefeld: Kerber, 2005. Georg WURZER, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vanhenhoeck & Ruprecht, 2005.

Morawiec/Schnettger, Rechts-, Verfassungs- und

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Verwaltungsgeschichte:

Les administrations nationales et la construction europeenne. Une rapproche historique, hrsg. von Laurence Badel [u. a.], Bruxelles: [u. a.]: Lang, 2005 (Euroclio 3). Manlio BELLOMO, Europäische Rechtseinheit: Grundlagen und System des Ius Commune, München: Beck, 2005. Bittschriften und Gravamina: Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), hrsg. von Cecilia Nubola und Andreas Würgler. [Übers, von Anja Brug], Berlin: Duncker & Humblot, 2005 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19). Boundaries of the Law. Geography, Gender and Jurisdiction in Medieval and Early Modem Europe, hrsg. von Anthony Musson, Aldershot: Ashgate, 2005. Klemens Η. FISCHER, Die Entwicklung des europäischen Vertragsrechts. Von den Römischen Verträgen bis zur EU-Verfassung, Baden-Baden: Nomos, 2005. Wolfgang INGENHAEFF, Ältere Rechtsgeschichte: von den Anfangen bis zum Beginn der Neuzeit; ein Überblick, [Innsbruck]: Berenkamp, 2005. Herbert KÜPPER, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Studien des Instituts für Ostrecht München 54). Mondialisation: l'Europe federale une reponse pour la France? Non; Actes du colloque de Paris, 22 novembre 2004, hrsg. von Jacques Myard, Paris: de Guibert, 2005. Oser dire non: ä la politique du mensonge, hrsg. von Marie-France Garaud, Monaco: Ed. du Rocher, 2005. Mathias SCHMOECKEL, Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung: 2000 Jahre Recht in Europa; ein Überblick, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Sozialgeschichte: Walter DEMEL, Der europäische Adel: vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München : Beck, 2005 (Beck'sehe Reihe 2379). Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung - Entwicklung - Erosion, hrsg. von Friedrich Lenger und Klaus Tenfelde, Köln: Böhlau, 2005 (Industrielle Welt 67). European Cities, Youth and the Public Sphere in the Twentieth Century, hrsg. von Axel Schildt und Detlef Siegfried, Aldershot: Ashgate, 2005 (Historical Urban Studies). A European Social Citizenship? Preconditions for Future Policies from a Historical Perspective, hrsg. von Lars Magnussen und Bo Sträth, Bruxelles [u. a.]: Lang, 2005 (Work and Society 47). Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Southern Europe, hrsg. von Ole Peter Grell [u. a.], Aldershot: Ashgate, 2005 (The History of Medicine in Context). Tanja Anette GLOOTZ, Alterssicherung im europäischen Wohlfahrtsstaat: Etappen ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert, Frankfurt [u. a.]: Campus, 2005 (Campus: Forschung 885). Kay Peter JANKRIFT, Mit Gott und schwarzer Magie: Medizin im Mittelalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. Walter LORENZ, Towards a European paradigm of social work: studies in the history of modes of social work and social policy in Europe, Online-Ressource 2005 (Hochschulschrift Dresden, Techn. Univ., Fak. Erziehungswissenschaften, Diss., 2005).

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Carlos WATZKA, Vom Hospital zum Krankenhaus: zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa, Köln [u. a.]: Böhlau, 2005 (Menschen und Kulturen 1). Wirtschaftsgeschichte: Europas Finanzzentren: Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Christoph Maria Merki, Frankfurt a. M.: Campus, 2005. Domestic Service and the Formation of European Identity: Understanding the Globalization of Domestic Work 16th—21 st Centuries, hrsg. von Antoinette Fauve-Chamoux, Bern [u. a.]: Lang, 2005. Eisenbahnen und Motoren - Zucker und Schokolade. Deutsche im russischen Wirtschaftsleben vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Dittmar Dahlmann [u. a.], Berlin: Duncker & Humblot, 2005 (Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 224). Rudolf HARTOG, Europe's ageing cities, Wuppertal: Müller & Busmann, 2005. The Industrial Revolution in Iron. The Impact of British Coal Technology in NineteenthCentury Europe, hrsg. von Chris Evans und Göran Ryden, Aldershot: Ashgate, 2005. Harold JAMES, Familienunternehmen in Europa: Haniel, Wendel und Falck, München: Beck, 2005. L'Industrie du gaz en Europe, XIXe-Xxe siecles. Entre marches prives et regulation publique, hrsg. von Jean P. Williot und Serge Paquier, Bruxelles [u. a.]: PIE Lang, 2005 (Euroclio: Etudes et documents 20). Volker KOOP, Das schmutzige Vermögen. Das Dritte Reich, die IG Farben und die Schweiz, München: Siedler, 2005. Christoph KREUTZMÜLLER, Händler und Handlungsgehilfen. Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Großbanken 1918-1945, Stuttgart: Steiner, 2005. John LANDERS, The field and the forge: population, production, and power in the pre-industrial West, Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press, 2005. Friederike LITTMANN, Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939-1945, Ebenhausen: Dölling und Galitz, 2005 (Forum Zeitgeschichte 16). Hanspeter LUSSY, Finanzbeziehungen Liechtensteins zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Zürich: Chronos, 2005 (UHK-Studie 3). Veronika MARXER, Liechtensteinische Industriebetriebe und die Frage nach der Produktion für den deutschen Kriegesbedarf 1939-1945. Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission Liechtenstein Zweiter Weltkrieg, Zürich: Chronos, 2005 (UHKStudie 2). Thierry NADAU, Itineraires marchands du goüt moderne: produits alimentaires et modernisation rurale en France et en Allemagne (1870-1940), hrsg. von Marie-Emmanuelle Chessel, Paris: Ed. de la Maison des Sciences de l'Homme, 2005. Toni PIERENKEMPER, Wirtschaftsgeschichte: eine Einführung - oder: Wie wir reich wurden, München [u. a.]: Oldenbourg, 2005 (Internationale Standardlehrbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften).

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Karl RAWE, „...wir werden sie schon zur Arbeit bringen!" Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkriegs, Essen: Klartext, 2005 (Institut für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Zwangsarbeit im Bergwerk 3). Reguliertes Land: Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930-1960; Emst Bruckmüller zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ernst Langthaler, Josef Redl, Innsbruck [u. a.]: Studien, 2005 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2005). Resources of the City. Contributions to an Environmental History of Modern Europe, hrsg. von Dieter Schott [u. a.], Aldershot: Ashgate, 2005 (Historical Urban Studies). Bernhard RIEGER, Technology and the culture of modernity in Britain and Germany, 1890-1945, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2005 (New studies in European history). Frank SAMMETH, Der Wiederaufbau und die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands (BRD) und Frankreichs im Vergleich, 1944/45 bis 1963, Hamburg: Kovaö, 2005 (Wirtschaftspolitik in Forschung und Praxis 15). Gisela SCHWARZE, Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Rußland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung, Essen: Klartext, 2005. Dieter ZIEGLER, Die industrielle Revolution, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005 (Geschichte kompakt). Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, hrsg. von Hans-Christoph Seidel und Klaus Tenfelde, 2 Bde., Essen: Klartext, 2005 (Institut für soziale Bewegungen, Schriftenreihe C: Zwangsarbeit im Bergwerk 1-2).

Mitteleuropa: Die Benes-Dekrete. Nachkriegsordnung oder ethnische Säuberung. Kann Europa eine Antwort geben?, hrsg. von Heiner Timmermann [u. a.], Münster: Lit, 2005 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 108). Detlef BRANDES, Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München: Oldenbourg, 2 2005 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 94). A cardboard castle?: an inside history of the Warsaw Pact, 1955-1991, hrsg. von Vojtech Mastny, Budapest [u. a.]: CEU Press, 2005 (National Security Archive Cold War readers). Constructing nationalities in East Central Europe, hrsg. von Pieter M. Judson, New York [u. a.]: Berghahn, 2005 (Austrian history, culture, and society 6). Diktatur - Krieg - Vertreibung: Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Für die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission hrsg. von Christoph Cornelissen[u. a.], Essen: Klartext, 2005 (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 13). Gyula CSURGAI, La nation et ses territoires en Europe centrale. Une approche geopolitique, Bern [u. a.] : Lang, 2005 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 965). Dialoge der Bürger. Die gesellschaftliche Ebene der deutsch-polnischen Beziehungen, hrsg. von Albrecht Riechers [u. a.], Osnabrück: fibre, 2005 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft 6).

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Gestern und heute gemeinsam in Europa. Deutsch-slowakische Geschichte und Gegenwart, Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2005 (Potsdamer Bibliothek östliches Europa - Potsdamer Forum 9). Mare Balticum. Begegnungen zu Heimat, Geschichte, Kultur an der Ostsee, hrsg. von Dietmar Albrecht und Martin Thoemmes, München: Martin Meidenbauer, 2005 (Colloquia Baltica 1). Jan MIKRUT, Die christlichen Märtyrer des Nationalsozialismus und Totalitarismus in Mitteleuropa 1938-1945, Wien: Dom-Verl., 2005. Neue Staaten - neue Bilder?: Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, hrsg. von Arnold Bartetzky, Köln [u. a.]: Böhlau, 2005 (Visuelle Geschichtskultur 1). Thomas PETERSEN, Flucht und Vertreibung aus Sicht der deutschen, polnischen und tschechischen Bevölkerung, Bonn: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2005. Jan M. PLSKORSKI, Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Aus dem Polnischen von Andreas Warnecke, Osnabrück: fibre, 2005 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft 8). Propaganda, (Selbst-)Zensur, Sensation. Grenzen von Presse- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland und Tschechien seit 1871, hrsg. von Michael Andel [u. a.], Essen: Klartext, 2005 (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 27). Quellen zu den deutsch-tschechischen Beziehungen 1848 bis heute, hrsg. von Manfred Alexander, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005 (Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe D 12). Krzysztof RUCHNIEWICZ, Zögernde Annäherung: Studien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Dresden: Thelem, 2005 (Mitteleuropa-Studien 7). Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948-1968, hrsg. von Christiane Brenner und Peter Heumos, München: Oldenbourg, 2005 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 27). Thomas SERRIER, Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschland und Polen 1848-1914, Marburg: Herder-Institut, 2005. Norbert SPANNENBERGER, Der Volksbund der Deutschen in Ungarn 1938-1945 unter Horthy und Hitler, München: Oldenbourg 2 2005 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 22). Martin Mattäus STAWOWIAK, Der Weg Polens in die EU und die Auswirkungen des EU-Beitritts mit besonderer Berücksichtiung der Integrationsbereiche „Landwirtschaft", „Umwelt" und „Umsetzung der Freizügigkeit", Online Ressource, Münster, 2005. Eugenie TRÜTZSCHLER VON FALKENSTEIN, Mittelosteuropa - Nationen, Staaten, Regionen. Die Erweiterung der Europäischen Union aus der historischen Perspektive, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Schriften zum Staats- und Völkerrecht 113). Ralph TUCHTENHAGEN, Geschichte der baltischen Länder, München: Beck, 2005 (Beck'sche Reihe 2355). Osteuropa: Jan C. BEHRENDS, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und der DDR 1944-1957, Köln: Böhlau, 2005 (Zeithistorische Studien 32).

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Bürgerbewusstsein und Demokratie in Mittel- und Osteuropa: zum Zustand der politischen Kultur in den postsozialistischen Staaten, hrsg. von Hartmut Rosa, Jena: Glaux, 2005 (Schriften des Collegium Europaeum Jenense 33). Deutschland, Russland und das Baltikum. Beiträge zu einer Geschichte wechselvoller Beziehungen. Festschrift zum 85. Geburtstag von Peter Krupnikov, hrsg. von Florian Anton und Leonid Luks, Köln/Weimar: Böhlau, 2005 (Schriften des Zentralinstituts fur Mittel- und Osteuropastudien 7). Deutschsprachige Zeitungen in Mittel- und Osteuropa : sprachliche Gestalt, historische Einbettung und kulturelle Traditionen, hrsg. von Jörg Riecke, Berlin: Weidler, 2005 (Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte 3). Sabine DUMSCHAT, Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland, Stuttgart: Steiner, 2005 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 67). Emerging identities - East! : Berlin - Bratislava - Budapest - Ljubljana - Prague - Riga Tallinn - Vilnius - Warsaw, [Katalog der Ausstellung: Emerging Identities East! Berlin Bratislava - Budapest - Ljubljana - Prague - Riga - Tallinn - Vilnius - Warsaw, 24.11.200520.02.2006, Deutsches Architektur-Zentrum DAZ], hrsg. von Kristien Ring, Berlin : Jovis, 2005. Estland und Russland. Aspekte der Beziehungen beider Länder, hrsg. von Olaf Mertelsmann, Hamburg: Kovaö, 2005 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa 11). Europa, Polen und Deutschland: Willy-Brandt-Vorlesungen 2003-2005, hrsg. von HansJoachim Gießmann, Baden-Baden: Nomos, 2005. Gegenansichten: Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956-1989, hrsg. von Heidrun Hamersky. Mit einem Essay von Wolfgang Eichwede, Berlin: Links, 2005. A handbook of the communist security apparatus in East Central Europe: 1944—1989, hrsg. von Krzysztof Persak, Warsaw: Inst, of National Remembrance, 2005. Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, hrsg. von Dittmar Dahlmann, Stuttgart: Steiner, 2005 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 68). Kooperation und Verbrechen: Formen der „Kollaboration" im östlichen Europa 1939 1945, hrsg. von Christoph Dieckmann, 2. Aufl. Göttingen: Wallstein-Verl., 2005 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 19). Leonid LUKS, Der russische „Sonderweg"? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext, Stuttgart: ibidem, 2005 (Soviet and Post-Soviet Politics and Society 16). Bernd MARTIN, Deutschland, Europa und Polen: historische Hypotheken und zukunftsweisende Perspektiven, Online-Ressource [Freiburg i. Br.]: [Univ.], 2005 (Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg). „Mein Polen...": deutsche Polenfreunde in Porträts, hrsg. von Krzysztof Ruchniewicz und Marek Zybura, Dresden: Thelem, 2005 (Mitteleuropa, Geschichte und Landschaft). Need and care: glimpses into the beginnings of Eastern Europe's professional welfare, hrsg. von Kurt Schilde, Opladen [u. a.]: Budrich, 2005. Swiad NIKOLELSCHWILI, Die Transformation der Außenhandelspolitik in den postsozialistischen Staaten Osteuropas am Beispiel Georgiens, Frankfurt am Main [u. a.]: Lang, 2005 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 5, Volks- und Betriebswirtschaft).

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Peer PASTERNACK, Wissenschaft und Hochschule in Osteuropa: Geschichte und Transformation; bibliografische Dokumentation 1990-2005, Wittenberg: HoF, [20]05 (Arbeitsberichte/Institut für Hochschulforschung Wittenberg an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg [20]05,2). Polen und Europa: deutschsprachiges Theater in Polen und deutsches Minderheitentheater in Europa, hrsg. von Horst Fassel, Lodz: Thalia Germanica [u. a.], 2005 (Thalia germanica 6). Polen und der Osten: Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis, hrsg. von Andrzej Chwalba, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005 (Denken und Wissen). Der Raum als Wille und Vorstellung. Erkundungen über den Osten Europas, hrsg. von Manfred Sapper und Manfred Weichsel, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2005 (Edition Osteuropa 55, 3). Karl SCHLÖGEL, Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte, München [u. a.]: Hanser, 2005. Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gert von Pistohlkors und Matthias Weber, München: Oldenbourg, 2005 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 26). Städte im östlichen Europa. Fallstudien zur Problematik von Modernisierung und Raum (vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert), hrsg. von Carsten Goehrke und Bianka Pietrow-Ennker, Zürich: Chronos, 2005. Siegfried TORNOW, Was ist Osteuropa? Handbuch der osteuropäischen Text- und Sozialgeschichte von der Spätantike bis zum Nationalstaat, Wiesbaden: Harrassowitz, 2005 (Slavistische Studienbücher Neue Folge 16).

Skandinavien: Torsten CAPELLE, Heidenchristen im Norden, Oldenburg: Isensee, 2005, (Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch Oldenburg 38). Agilolf KESSELRING, Des Kaisers „finnische Legion". Die finnische Jägerbewegung im Ersten Weltkrieg im Kontext der deutschen Finnlandpolitik, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2005 (Schriftenreihe der Deutsch-Finnischen Gesellschaft 5). Hendriette KLIEMANN, Koordination des Nordens. Wissenschaftliche Konstruktionen einer europäischen Region 1770-1850, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2005 (Nordeuropäische Studien 19). Northern European elites in historical perspectives, hrsg. von Jouko Nurmiainen, Oslo: Taylor & Francis, 2005. Südeuropa: Health care and poor relief in 18th and 19th century southern Europe, hrsg. von Ole Peter Grell, Aldershot [u. a.]: Ashgate, 2005 (The history of medicine in context). Brigitta THOMAS, Die Europa-Politik Italiens. Der Beitrag Italiens zur europäischen Einigung zwischen EVG und EG, Baden-Baden: Nomos, 2005.

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Südosteuropa: Akten um die deutsche Volksgruppe in Rumänien 1937-1945. Eine Auswahl, hrsg. von Klaus Popa, Frankfurt a. M.: Lang, 2005. Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Markus Krzoska und Hans-Christian Maner, Münster: Lit, 2005 (Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 4). Bilanz Balkan, hrsg. von Michael Daxner [u. a.], München [u. a.]: Oldenbourg, 2005 (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 30). Richard CAPLAN, Europe and the Recognition of New States in Yugoslavia, Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press, 2005. Cyprus and the EU. The Road to Accession, hrsg. von Constantin Stefanou, Aldershot: Ashgate, 2005. Tom GALLAGHER, Outcast Europe. Teil 2.: The Balkans after the Cold War: from tyranny to tragedy, London: Routledge, 2005. Alois KERNBAUER, Die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich, Innsbruck: Studien Verlag, 2005 (Paradigma: Zentraleuropa 5). Hans L. KLESER, Vorkämpfer der „Neuen Türkei". Revolutionäre Bildungseliten am Genfersee (1868-1938), Zürich: Chronos, 2005. Christine von KOHL, Balkan - Europäischer Kulturraum, Wien: Picus, 2005 (Wiener Vorlesungen 115). Bernard LORY, Les Balkans: de la transition post-ottomane Ä la transition post-communiste, Istanbul: Isis Press, 2005 (Analecta Isisiana 80). Dietmar MÜLLER, Staatsbürger auf Widerruf: Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode; ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878-1941, Wiesbaden: Harrassowitz, 2005 (Balkanologische Veröffentlichungen 41). Ralf C. MÜLLER, Franken im Osten: Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das Osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten, Leipzig: Eudora, 2005. Björn OPFER, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss - Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915-1918 und 1941-1944, Münster: LIT, 2004 (Studien zur Geschichte, Kultur und Gesellschaft Südosteuropas 3). Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Neuzeit. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts fur Österreichische Geschichtsforschung, Wien, 22.-25. September 2004, hrsg. von Marlene Kurz [u. a.], München [u. a.]: Oldenbourg, 2005 (Mitteilungen des Instituts fiir Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 48). Sabine RIEDEL, Die Erfindung der Balkanvölker : Indentitätspolitik zwischen Konflikt und Integration, Wiesbaden, Verl. fur Sozialwiss., 2005. Das Schicksal der Deutschen in Jugoslawien, München: dtv, 2005 (dtv Kultur & Geschichte 34189). Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, München: dtv, 2005 (dtv Kultur & Geschichte 34187). Das Schicksal der Deutschen in Ungarn, München: dtv, 2005 (dtv Kultur & Geschichte 34186).

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Social movements in Southeast Europe: reassessment of historiography and perspectives for future research / Soziale Bewegungen in Südosteuropa, hrsg. von Fikret Adanir, Essen: Klartext-Verl., 2005 (Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen 33). Südost-Institut München: 1930 - 2005; Edgar Hösch zum siebzigsten Geburtstag, hrsg. von Karl Nehring, München: Oldenbourg, 2005 (Südosteuropa-Bibliographie: Ergänzungsband 5). Iva WELSCHER, Mitteleuropa und Südosteuropa im Kontext der Alteuropäischen Toponymie, München, 2005. Westeuropa: Jürgen ALBERS, Der Hochschulzugang in Westeuropa und seine politischen Grundlagen. Mit einem Geleitw. von Winfried Schlaffke, Taunusstein: Driesen, 2005. Gerhard ALTMANN, Abschied vom Empire: die innere Dekolonisation Großbritanniens 1945-1985, Göttingen: Wallstein, 2005 (Moderne Zeit 8). Stefan BREUER, Nationalismus und Faschismus: Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. The decline of Christendom in Western Europe, 1750-2000, hrsg. von Hugh McLeod, Cambridge [u. a.]: Cambridge Univ. Press, 2005. Simon ERLANGER, „Nur ein Durchgangsland". Arbeitslager und Internierungsheime für Flüchtlinge und Emigranten in der Schweiz 1940-1949, Zürich: Chronos, 2005. Karsten GRABOW, Die westeuropäische Sozialdemokratie in der Regierung: sozialdemokratische Beschäftigungspolitik im Vergleich, Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl., 2005. Anna HOLLMANN, Die Schweizer und Europa. Wilhelm Teil zwischen Bern und Brüssel, Baden-Baden: Nomos, 2005. Christoph HOLTHUSEN, Der Nordirlandkonflikt. Geschichte, zentrale Aspekte und Lösungsmodelle unter völkerrechtlicher Betrachtung, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Schriften zum Staats- und Völkerrecht 116). Allan MITCHELL, A Stranger in Paris. Germany's Role in Republican France, 1870— 1940, Oxford/New York: Berghahn, 2005. Michael E. NOLAN, The inverted mirror: mythologizing the enemy in France and Germany, 1898-1914, New York [u. a.]: Berghahn Books, 2005 (Studies in contemporary European history). Jennifer PITTS, A Turn to Empire. The Rise of Imperial Liberalism in Britain and France, Princeton: Princeton University Press, 2005. Politische Memoiren in deutscher und britischer Perspektive/Political Memoirs in Anglo-German Perspective, hrsg. von Franz Bosbach und Magnus Brechtken, München [u. a.]: Saur, 2005 (Prinz-Albert-Studien 23). Christian Wagenfeld, Die Kultureuropäer. Europäisches Bewusstsein und Intellektuelle in Irland, Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang, 2005 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3,1014). Willy Brandt und Frankreich, hrsg. von Horst Möller, München: Oldenbourg, 2005 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte).

Autorenverzeichnis Dr. Kerstin ARMBORST, Institut für Europäische Geschichte Mainz, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz. Dr. Hans Ulrich BÄCHTOLD, Universität Zürich, Institut für schweizerische Reformationsgeschichte, Kirchgasse 9, 8001 Zürich, Schweiz. Dr. Joachim BERGER, Institut für Europäische Geschichte Mainz, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz. Professor Dr. Heinz DUCHHARDT, Institut für Europäische Geschichte Mainz, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz. Professor Dr. Georg KREIS, Universität Basel, Europainstitut, Gellertstr. 27, 4052 Basel, Schweiz. Professor Dr. Märta FONT, Közepkori es Koraujkori Törteneti Tanszek, 7624 Pees Rokus u., Ungarn. Professor em. Dr. Carsten GOEHRKE, Hans-Rölli-Strasse 2 2 , 8 1 2 7 Förch (ZH), Schweiz. Dr. Tamas KANYO, MTA Etnikai-nemzeti Kisebbsegkutatö Intezet, 1014 Budapest, Orszäghäz utca 30, Ungarn. Dr. Malgorzata MORAWIEC, Institut für Europäische Geschichte Mainz, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz. Dr. Ashley NULL, Humboldt-Universität zu Berlin, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Mittlere und neure Kirchengeschichte/Reformationsgeschichte, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. Dr. Thomas RATKA, Technische Universität Wien, Fachbereich Rechtswissenschaften, Argentinierstraße 8, 1040 Wien, Österreich. PD Dr. Mathias SCHNETTGER, Institut für Europäische Geschichte Mainz, Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz. Dr. Kristina SCHULZ, Universite de Lausanne, Institut d'Histoire Economique et Sociale, BFSH2, 1015 Lausanne, Schweiz.