Jahrbuch des Vereins für Wissenschaftliche Pädagogik: 17/1885 [Reprint 2022 ed.] 9783112670385, 9783112670378

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Jahrbuch des Vereins für Wissenschaftliche Pädagogik: 17/1885 [Reprint 2022 ed.]
 9783112670385, 9783112670378

Table of contents :
I. Vorversammlung
II. Wissenschaftliche Verhandlungen
1. Schöl, das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit
2. Hendewörk, Zur christlichen Ethik und Dogmatik
3. Rein, Zur Synthese im historischen Unterricht
4. Friedrich, der Philoktet des Sophokles im erziehenden Unterricht.
5. Bliedner, Zum litteraturkundlichen Unterricht auf höheren Schulen
6. Thrändorf, Das Leben Jesu nach Matthäus
7. Zillig, Nachträge zum Geschichtsunterricht
8. Conrad, Der Zweck des naturkundlichen Unterrichts in der Volksschule
9. Werneburg, Der Steinpilz, Hexenpilz, Feldblätterpilz und Knollenblätterpilz
III. Nachtrag zu den Verhandlungen der Annaberger Generalversammlung
a) Ziller, Bemerkungen zum sächsischen Volksschulgesetz
b) v. Rohden, Darstellung und Beurteilung der Pädagogik Schleiermachers
c) Vogt, Einleitung in die praktische Philosophie
IV. Mitteilungen. 1. das evangelische Monatsblatt. 2. v. Sallwürk. 3. Frick. 4. Bergner und Kolatschek
V. Geschäftliches
Inhaltsverzeichnis.

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Erläuterungen zum

Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik (XVII. Jahrgang, 1885) nebst

Mitteilungen an seine Mitglieder.

Begründet von Prof. Dr. T. Ziller. Herausgegeben von

Univ.-Prof. Dr. Theodor Vogt in Wien.

Leipzig, Verlag von Veit & Comp. 1886.

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Generalversammlung in Halle a. S., Pfingsten 1885. Präsenzliste: Ehrengäste: Universitätsprofessor Dr. Cornelius, Gymnasialdirektor Dr. Fries, Prof. Dr. Richter, Real Schuldirektor a. D. Schrader, Prof. Dr. Uphues, sämmt­ lich in Halle, Seminardirektor Schöppa, Delitzsch, Provinzialschulrat Dr. Todt, Magdeburg.

Ferner waren folgende Mitglieder und Gäste anwesend: Altenburg: Dr. Just. — Annaberg: Grohmann, Dr. Hartmann, Klinkhardt, Scheiter. — Apolda: Wagner. — Armenien: Kanajanz, Ter-Mirakjanz. — Auerbach: Popp, Dr. Thrändorf. — Baßlitz b. Gr.: Rost. — Berlin: Dr. Kehrbach. — Chemnitz: Arnold, Gerhardt. — Göthen: Schulze. — Delitzsch: Kropf, Pfannenschmidt, M. Schöppa, Schürmann. — Dresden: Israel, Peßler, Thibault. — Eisenach: Acker­ mann, Böttcher, Conrad, Dr. Göpfert, Pickel, Dr. Rein, Dr. Schneider, Werneburg. — Elberfeld: Ufer, Wendt. — Ermsleben: Kahnt. — Eubigheim in Baden: Ziller. Frankenberg in Sachsen: Schmidt. — Frauenbreitungen: Freund. — Gera: Kühnike. — G1 ogau: Grabs, Prüfer. — Goh 1 isjb.Leipzig: Henschel. — Griechenland: Dr. Georganta, Michalopulos.— Grimma: Rosenberg. — Hallea. 8.: Büke, Fischer, Franke, Frenzei, Freye, Dr. Frick, Gentsch, Güle, Goersch, Graefe, Grebel, Große, Haberkorn, Frl. Kleemann, Frl. Kluge, Köhler, Leban, Lebe, Lehmann, Lenzer, Löffler, Maennel, Mehrstedt, Mund, Niemöller, Frl. Olbricht, Ostwald, Pein, Portius, Rödiger, Rosenbaum, Rudolph, Scharlach, Schaufuß, Schimpfs, Schleichers, Schönfeld, Schöps, O. Schulze, W. Schulze, Schumann, Schwabe, Sommer I, Sommer H, Stock, Tangermann, Thiele, Tießler, Trebst, Wagner, Wisotzky, Dr. Wohlrabe, Wülknitz, Zweigier. — Heiligen­ kreuz in S.-M.: Schmidt. — Hol tau in Sbnbgn.: Eitel. — Hoheneiche: Rolle. — Hoym: Käthe. — Hundisburg: Glöckner. — Jena: Beyer, Haruthanjanz, Müller. — Jeßnitz in Anh.: Schultze. — Kirchberg in 8.: Rüger. — Leipzig: Dr. Barth, Dörr, Fischer, Franke, Friedemann, Hanschmann, Herricht, Hoffmann, Hupfer, Krusche, Michalopulos, Pönitz, Sonntag, Teupser, Dr. Wilk. — Leisnig: Hanschmann. — Magdeburg: Vorbrodt. — Normal 111 s. U. 8. A.: de Garmo. — Oschatz: Hart­ mann. — Peres b. Kieritzsch: Klähr. — Plauen i. V.: Krauß. — Raguhn: Hoyme. Schafstädt: Dietlein. — Schodewitz b. Zwickau: Henschel. — Schreiersgrün b. Treuen: Köhler. — Stendal: Dr. Friedel, Hasse, Dr. Sauer. — Udestedt b. Viesel­ bach: Kramer. — Wansleben: Flügel. — Weimar: Dietz, Reich. — Weißenfels: Hausse, Winckler. — Wernigerode: Dr. Schwartzkopff, Stier. — Wettin: Bartmuß. Wien: Dr. Vogt.

I. Vorversammlung* im Hotel zum Kronprinzen am 2. Feiertag, abends 7 Uhr. Lehrer Grosse bewillkommt zunächst die Versammelten in der alten Stadt der Schulen, die jedoch nicht ausruhen wolle auf den alten Lorbeeren, sondern bemüht sei, der wissenschaftlichen Pädagogik eine Stätte zu bereiten und in dieser Stunde keinen anderen Wunsch hege, als den: die gemeinsame Arbeit, die uns hier zusammengeführt, möge eine gesegnete und auch nach außen hin erfolgreiche sein.

4 Vorsitzender. Gewiß sind wir alle der Überzeugung, daß Halle eine ehrwürdige pädagogische Stätte sei. Denn von Halle aus ging durch Francke an die Menschheit die Mahnung, sich abzuwenden von didaktischem Luxus und Sprechfertigkeit und rhetorischen Künsten und zu der höheren Aufgabe der Schule zurückzukehren, welche schon die Reformatoren in der Gesinnung erblickt hatten. Das ist eine Quelle dauernder Schöpfungen und die Wurzel des Glaubens, es bedürfe nicht großer Mittel, um ein großes Werk zu beginnen, sowie die Sonne ja auch nur einer Wolkenritze bedarf, um eine große Fläche zu beleuchten. Von Halle ging durch Niethammer die Mahnung an die Menschheit, nicht blos von gelehrtem Eifer sich leiten zu lassen, ohne auf das Vor­ stellungsleben des Einzelnen Rücksicht zu nehmen, sondern durch den Unterricht einzugreifen in dieses Vorstellungsleben, damit die Selb­ ständigkeit der Denkkraft erwache und der Einzelne nicht gleich der Schlingpflanze an fremdem Stamme einen Halt suche, statt seine eigene Stütze zu sein. Von Halle ging erst jüngst wieder die Mahnung aus, für die methodische Arbeit nicht mit fachwissenschaftlicher Vorberei­ tung sich zu begnügen, alles andere aber den Einfällen des Augen­ blicks und bloßem Extemporieren zu überlassen, sondern auf zusammen­ hängende und wissenschaftlich geregelte Überlegungen sich zu stützen, welche das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit nähren und die Berufsfreudigkeit in das Herz des Lehrers tragen. Es folgen hierauf Berichte über Lokalthätigkeiten im Sinne un­ seres Vereins, welche in erfreulicher Weise von der wachsenden An­ erkennung und Verbreitung der Herbart-Zillerschen Pädagogik Kunde geben, und zwar von Ufer über das Herbartkränzchen in Elberfeld, von Thibault über den Lokalverein in Dresden, von Friedemann über die pädagogische Union, ein neben dem Lokalverein bestehender, im Großen und Ganzen auf Herbartschen Boden stehender Verein in Leipzig, von Arnold über den Lokalverein in Chemnitz, von Thrändorf über den' Lokalverein in Auerbach, von Hartmann über die Thätigkeit der Vereinsmitglieder in den Bezirkslehrerversamm­ lungen in Annaberg, von Rein über den Herbartverein in Eisenach, von Prüfer über die Vorträge der Vereinsmitglieder in zwei Lehrer­ vereinen in Glogau, von Große über den Zweigverein in Halle, von 0. Ziller über den pädagogischen Verein im Odenwald, von Kramer über seine und seiner Kollegen gemeinschaftliche Thätigkeit in Udestedt bei Vieselbach, von Müller über das Herbartkränzchen in Rorschach und die Verbreitung der Herbartschen Ideen in der Schweiz, endlich von Rolle über das Herbartkränzchen in Saalfeld. Diese Thätigkeit erstreckte sich, wie in Elberfeld und Chemnitz, auch auf das Abhalten von Probelektionen in öffentlichen Schulen. In bezug auf die litterarische Thätigkeit wird der Erfahrung gedacht, daß diejenigen, welche kein längeres und tapferes Studium der HerbartZillerschen Pädagogik widmeten, sondern nur die äußere Schale er­ faßten, aber nicht den Kern, — nur ein paar Jahre Freunde derselben blieben, aber auch die Äußerung eines Schulrats in einer Lehrer­ konferenz erwähnt: „Wir waren soweit gekommen, daß keiner dem Anderen auf pädagogischem Gebiete etwas Neues sagen konnte: alles war eine abgemachte Sache; seitdem aber die Herbart-Zillerschen Be­ strebungen aufgekommen sind, geht ein frischer Zug durch unser ganzes Denken." Endlich wird hervorgehoben, daß die Regierung des

Merseburger Kreises sich freundlich zur Herbartschen Pädagogik stelle, vor allem aber, daß das sächsische Kultusministerium in einer Ver­ ordnung darauf hingewiesen, die jungen Lehrer sollten das Studium der Herbartschen Pädagogik sich angelegen sein lassen, und daß in den Vorbemerkungen zu dem seit Ostern 1885 gütigen Lehrplan unter Anderem gesagt wird: „Oberster Grundsatz des Unterrichts muß sein, nicht nur die Erkenntnis der Kinder zu bereichern, sondern auch auf ihr Gefühl und ihren Willen kräftig einzuwirken, damit dieselben nicht blos klüger, sondern vor allem besser werden. — — Ebenso notwendig ist es, die Kinder möglichst bald zu selbständigem und dauerndem Besitz der ihnen vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten zu bringen, und sie immermehr von der Unterstützung der Lehrer und des Elternhauses unabhängig zu machen; denn das Kind, welches selbständig denken, sprechen und schreiben gelernt hat, ist selbst bei geringerem Wissensumfang für das Leben brauchbarer, als dasjenige, welches zwar viel gelernt hat, aber bei Darlegung seiner Kenntnisse fortwährend der Unterstützung bedarf. — — In allen Unterrichts­ stunden ist das Ziel voranzustellen, die Vorbereitung und Darbietung so einfach und übersichtlich als möglich zu gestalten, das Erreichte durch Vergleichung und Verknüpfung mit dem bereits Gelernten zu sichern." Vorsitzender. Es liegt mir noch ob, über die Schicksale des Vereins im Ganzen zu berichten. Ich will nicht auf den Inhalt der verschiedenen, Ihnen wahrscheinlich bekannten Angriffe, die wir im verflossenen Jahre erfahren haben, eingehen. Mein Gefühl verhindert mich, erwidern zu können. Den gefährlichsten Feind unserer Bestre­ bungen erblicke ich übrigens nicht in Ausbrüchen der Gehässigkeit, die ohne alles sachliche Interesse sind und nur persönlichen Zwecken dienen, sondern in dem Eklektizismus, wie er neuerdings in recht auf­ fälliger Weise in der Broschüre von Bartels zu Tage tritt; denn diese philosophische Entartung bildet die Essenz der genannten Schrift. (Daher Herbartsche Anschauungen mittelbar gebilligt werden, z. B. dessen deterministische Psychologie mittels der Forderung eines er­ ziehenden Unterrichts, und Nicht - Herbartsche Anschauungen, z. B. die indeterministische Wendung des „großen Philosophen" Lotze eben­ falls ihre' Billigung finden; daher positiv-christliche Sittenlehre und wissenschaftliche Ethik oder gleichschwebend vielseitiges Interesse und harmonische Bildung aller Kräfte identifiziert werden, als ob sie nur einen Unterschied in den Worten, nur einen Wortstreit ankündigten; daher philosophische und pädagogische Sätze bis zur Unkenntlichkeit verflacht werden; daher endlich die auf litterarischen Spaziergängen gesammelten Sätze von Ziffer und seiner Schule, aber auch Sätze der Gegner in kritikloser und willkürlicher Weise zitiert werden). Hier wird der Grundsatz: Wähle und das Beste behalte! ins Werk gesetzt, ohne daß ein Standpunkt der Beurteilung zum Vorschein tritt. Was aber, auf Geheiß der Tradition und Gewohnheit, zum Vorschein tritt, ist Verwirrung begrifflicher Unterschiede und die Anerkennung auch entgegengesetzter Sätze. Der Eklektizismus, welcher auf pädagogischem Gebiete eines so großen Spielraums sich erfreut und heutzutage viel­ leicht nicht weniger aus den Nachwehen übelgeratener Verordnungen als aus dem Bestreben entsprungen ist, die beliebige Verfügung über die Kinderwelt als ein willkommenes Plätzchen der menschlichen

6 Willkür sich zu erhalten, schmeichelt der Eitelkeit und nährt das Gefühl, daß der Mensch sich freier fühle. Aber logische Freiheit be­ deutet Gebundenheit der Intelligenz und Befreitsein von den Ein­ fällen und Wünschen der Subjektivität wie von den Fesseln der Tra­ dition. Wer also dem Eklektizismus ergeben, vielleicht auch stolz darauf ist, ein „besonnener" Eklektiker genannt zu werden, kennt nicht die Sitten der Universität und die Anforderungen der echten Wissenschaft; er kennt nur den Schein der Wissenschaft. Wer aber den Schein für das Wesen nimmt, wird von selbst zum gefährlichsten Gegner echter Wissenschaft. Er stellt strenge Anforderungnn weder an sich noch an andere; er ist ein Sprachrohr für seine subjektiven Wünsche, nicht für die Sache, und er sorgt in blinder Selbstvergessen­ heit dafür, daß die Lehrer in Abhängigkeit von methodischen Be­ fehlen erhalten werden, da nur die Wissenschaft den Menschen frei macht. Was den Personalstand betrifft, so weist das Mitgliederverzeichnis erfreulicher Weise eine Zunahme von 120 Mitgliedern auf, nämlich 722. Hiervon kommt jedoch, da die Anzahl bis zur Drucklegung sich nicht vollständig richtig stellen ließ, eine für jetzt noch nicht genau anzugebende Zahl in Abrechnung. Durch den Tod ist dem Verein entrissen worden: erstens der Professor der Philosophie an der Uni­ versität Graz Dr. Nahlowsky, welcher zwar erst seit kurzem dem Verein angehörte, aber, wie ich aus brieflicher Mitteilung weiß, unsere Bestrebungen von Anfang an mit Teilnahme verfolgte und durch seine mit Gründlichkeit und Wärme geschriebenen und verhältnismäßig leicht verständlichen psychologischen und ethischen Schriften den Herbartschen Anschauungen in weiteren Kreisen Freunde zuführte, und zweitens Prof. Stoy in Jena, welcher siebzehn Jahre lang dem Verein als Vorstandsmitglied angehörte, im zweiten Jahrbuche auch eine Abhandlung veröffentlichte und in seinem Wirkungskreise in Heidelberg, zumal aber in Jena zahlreiche und warme Anhänger sich verschaffte. Auf Grund dieser Mitteilungen glaube ich Sie auffordern zu können, zum ehrenden Andenken an diese beiden Männer sich von den Sitzen zu erheben. (Geschieht). Rücksichtlich der Tagesordnung erlaube ich mir die Reihenfolge der Abhandlungen in dem Inhaltsverzeichnisse, welche einer alten Gepflogenheit gemäss in diesem Jahre von oben nach unten d. h. von den fundamentalen Disziplinen bis zur speziellen Pädagogik der Volks­ schule fortgeht, für unsere Verhandlungen vorzuschlagen (wird an­ genommen). Die Entscheidung über die von Beyer in Barths „Erziehungs­ schule" angeregte Frage bezüglich der Errichtung von pädagogischen Seminaren wird der vorgerückten Stunde halber auf Mittwoch vertagt.

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II. Wissenschaftliche Verhandlungen. Dienstag, früh 8 Uhr.

1. Schöl, das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit. Vor Eintritt in die Verhandlungen wird auf die Nachricht von dessen vor einigen Tagen erfolgtem Tode — Allihns gedacht, der Jahre lang mit Ziller gemeinsam gestrebt, und in Halle gewirkt und gelitten hat. Zum Andenken an den Verstorbenen erhebt sich die Versammlung von den Sitzen. Vorsitzender. Zur Orientierung bemerke ich, daß in der Schölschen Abhandlung, worüber der Titel nicht bestimmte Auskunft gibt, es sich nach dem 8. 50 Bemerkten um den praktisch notwen­ digen Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit handelt. Durch diese These wird mittelbar behauptet, daß Sittlichkeit ohne Religion unmöglich sei. Glöckner. Der Verfasser will die theoretische Frage nach den Prinzipien der Ethik als „rein formaler, exakter Wissenschaft“ un­ berührt lassen und sich vielmehr ausschließlich auf den praktischen Zusammenhang beziehen, welcher zwischen Religion und Sittlichkeit besteht, und stellt den Satz auf, daß dieser Zusammenhang praktisch notwendig sei. Dieser Satz enthält die doppelte Behauptung: 1. daß Religiosität notwendig verbunden ist mit Sittlichkeit und 2. daß Sittlichkeit notwendig verbunden ist mit Religiosität, demnach jedes der beiden ohne das andere unmöglich ist. Ich sage übrigens Reli­ giosität, nicht Religion, weil ich hiermit den Sinn des Verfassers genauer auszudrücken glaube, da es sich in der That nicht um das Verhältniß der objektiven, sondern der subjektiven Religion d. h. der Religiosität zur Sittlichkeit handelt. Der Beweis für den praktisch notwendigen Zusammenhang zwischen Religiosität und Sittlichkeit muß nun, um vollständig zu sein, von beiden Seiten geführt werden. Es ist also 1. zu zeigen, daß Religiosität notwendig Sittlichkeit mit sich führe, und 2. daß Sittlichkeit nicht existiere ohne Religiosität. Der Verfasser sieht nun ausdrücklich von philosophischer und religions­ geschichtlicher Untersuchung ab; er will vielmehr jenen notwendigen Zusammenhang nach einem „klassischen Denkmal der Religions­ geschichte“, nämlich nach der Bergpredigt, darstellen. Dieser Versuch kann gewagt erscheinen. Da Jesus keine Veranlassung hatte, über philosophische Fragen allgemeine Lehrsätze aufzustellen, so wird man kaum erwarten dürfen, aus der Bergpredigt zeigen zu können, daß Jesus Sittlichkeit ohne Religiosität für unmöglich erklärt. Selbst­ verständlich wird in der Bergpredigt Sittlichkeit und Religiosität innig verknüpft erscheinen. Denn Jesus will das Reich Gottes, des heiligen Gottes, auf Erden aufrichten; darin liegt eo ipso, daß das Programm dieses Reiches, wie man die Bergpredigt nicht unpassend bezeichnet hat, nicht von einer Sittlichkeit für sich redet, unabhängig von Reli­ giosität. Denn der Bürger des Reiches Gottes kann natürlich nicht als ein blos sittlicher Mensch ohne Bezogenheit auf Gott, also ohne Religiosität, gedacht werden. Was den Beweis für die in Rede stehende These betrifft, so werden unter I und II zunächst Voraussetzungen der Untersuchung

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besprochen, nämlich daß der Mensch eine sittliche Anlage besitze und daß diese Anlage durch die „überwiegende Entscheidung für das Böse in Sünde nnd Scheingerechtigkeit verkehrt worden.“ Die sittliche Anlage, welche schon daraus folgt, daß überhaupt sittliche Anforde­ rungen an die Menschen gestellt werden, wird etwas mühsam aus Matth. 7, 9 —11 abgeleitet, wo Jesus davon redet, daß selbst die Menschen, die doch arg sind, ihren Kindern gute Gaben geben. Denn daß die Menschen dies thun, beweist doch im Grunde nichts für eine sittliche Anlage. Darüber aber, daß Jesus die allgemeine Sündhaftig­ keit einfach voraussetzte, kann kein Streit sein. Dies erhellt ganz deutlich aus der vom Verfasser nicht erwähnten fünften Bitte des Vaterunsers „Vergib uns unsre Schuld“; nur ist es etwas schief aus­ gedrückt, wenn Schöl sagt: „Diese sogenannte sittliche Anlage ist durch die überwiegende Entscheidung für das Böse in Sünde und Scheingerechtigkeit verkehrt worden;“ denn die „Anlage“ ist doch nicht zur Sünde geworden. Das Resultat der bisherigen Erörterung, daß die „Gerechtigkeit, die man auf Erden findet, durchgehends, in höherem und geringerem Grade, Scheingerechtigkeit ist, nicht wahre, sondern falsche Sittlich­ keit“, — führt nun auf den Punkt, wo der Verfasser nachweisen mußte, daß Jesus diese falsche Sittlichkeit als eine notwendige Folge entweder der nicht vorhandenen oder einer falschen Frömmigkeit an­ sieht. Er sagt: „Sind nun aber die Früchte böse, so kann offenbar der sie tragende Baum nicht gut sein, denn ein guter Baum kann nicht böse Früchte tragen (7, 18). Der Baum ist also faul, d. h. mit anderen Worten: die falsche Sittlichkeit ist die natürliche, notwendige Folge der falschen Frömmigkeit.“ Das ist eine petitio principii, denn es wird vorausgesetzt, was zu beweisen war, daß die Früchte so viel als Sittlichkeit, und der sie tragende Baum s. v. a. Frömmigkeit sei. Daß diese Auslegung von 7, 18 notwendig sei, hat Schöl nicht bewiesen. Sind aber auch andere Auslegungen zulässig oder gar geboten, wie die, daß die Früchte als die einzelnen in die Erscheinung tretenden Äußerungen der Gesinnung und der Baum als die Gesinnung selbst angesehen wird, dann folgt aus dem Bild nicht, wie Schöl will, daß falsche Sittlichkeit die Folge falscher Frömmigkeit sei, sondern daß böse Werke das Kriterium der bösen Persönlichkeit seien; der Gedankengang bewegt sich also lediglich in der sittlichen Sphäre. Und als Kriterium will doch Schöl diese Früchte hier angesehen wissen, denn er spricht: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Im IV. und V. Abschnitt weist Schöl im Allgemeinen zwar zu­ treffend nach, daß in der Bergpredigt die für das Gottesreich erfor­ derten Zustände religiöser und sittlicher Art in einem innerlich not­ wendigen Zusammenhänge stehen, jedoch nicht so, daß die Religiosität schlechthin das Grundlegende, die Sittlichkeit schlechthin die Folge der Religiosität wäre, sondern beide erscheinen in Wechselwirkung; denn wie echte Religiosität sittlichen Wandel erzeugt, so ist anderseits religiöse Erkenntnis sittlich bedingt. Es ist aber auf dem Boden des Christentums ein selbstverständlicher Satz, daß die richtige religiöse Herzensstellung einen entsprechenden sittlichen Wandel erzeugt. Der christliche Gott ist eben ein solcher, daß ein rechtes Verhältnis zu ihm gar nicht gedacht werden könne, ohne die notwendig damit ver-

9 bundene Sittlichkeit. Gewonnen aber wird mit der Feststellung dieses Satzes, daß Religiosität nur als eine, nicht als die einzige Quelle der Sittlichkeit erscheint. Letzteres sucht Schöl aus der Bergpredigt da zu erweisen, wo er die Aufgabe der Jünger, nach 5, 13 entwickelt, welche das Salz der Erde sein sollen und, indem sie der Erde gegen­ übergestellt werden, als „Menschen für sich, zwar in der Welt, aber nicht von der Welt" erscheinen. „Die Kraft aber, die böse Welt zu verleugnen und zu überwinden, so fahrt Schöl fort, liegt in der ihnen mitgeteilten religiösen, objektiv empfangenen (d. h. dargebotenen) und subjektiv möglichst vollkommen zu apperzipierenden Wahrheit, in der himmlischen Gesinnung" (S. 60). Dieser Satz stammt zunächst nicht aus der Bergpredigt, welche keine Aussage über die Quelle enthält, aus welcher die Jünger die Kraft für ihre Aufgabe zu schöpfen haben. Man sieht ferner nicht, ob die Kraft in zwei Quellen liegt, in der empfangenen und treu zu apperzipierenden religiösen Wahrheit und in der himmlischen Gesinnung, oder ob beides für identisch genommen werden soll. Offenbar aber läge in einer objektiv empfangenen und möglichst vollkommen apperzipierten Wahrheit an sich selbst noch keine Kraft, wie es ja grade den dogmatischen Perioden der Kirche an sittlicher Lebenskraft gebrach, — es sei denn, daß die Apperzeption der religiösen Wahrheit selber schon als sittlich bedingt aufgefaßt wird. Sofern dann aus einer solchen sittlich bedingten Apperzeption der religiösen Wahrheit der Glaube erwächst, gilt von ihm in der That das Wort, das aber wiederum nicht in der Bergpredigt, sondern im I. Johannes-Brief steht, daß er der Sieg ist, der die Welt überwindet. Wenn nun Christus auf die Gefahr aufmerksam macht, daß das Salz dumm werden könne, so wird damit erklärt, daß die Christen ihre innere Kraft, ihren Glauben, ihre subjektive Religion verlieren können. Hierbei halten wir immer fest, daß diese subjektive Religion innig mit Sittlichkeit verwachsen ist, daß sie Sittlichkeit zwar zur Folge hat, aber selber auch sittlich bedingt ist. Letzteres scheint Schöl an dem Punkte zu vergessen, wo der Beweis erbracht werden soll, daß es keine Sittlichkeit ohne Religiosität geben kann. Er schließt nämlich so: „Da nun allein der Glaube, also die" (sittlich bedingte) „Religio­ sität dazu befähigt, die Welt zu überwinden, so verlieren die Christen mit ihm eben diese Befähigung und fallen derselben religiös-sittlichen Verderbnis anheim, womit die Welt behaftet ist . . . An der wahren Frömmigkeit hängt also alles andere, also auch die Sittlichkeit" (S. 61). Hier liegt ein Sprung im Gedankenfortschritt vor. Der Satz: „Die Christen fallen mit dem Verlust der Religiosität, d. h. genauer ihrer religiös-sittlichen Bestimmtheit, dem religiös-sittlichen Verderben der Welt anheim" — läßt doch ganz unbestimmt, was bei dem Verlust der religiös - sittlichen Bestimmtheit das Prius ist, das Verlorengehen der Frömmigkeit oder das der Sittlichkeit. Sobald nur als eine Möglich­ keit zugegeben werden muß, daß hierbei das ursächliche Prius der Verlust der Sittlichkeit sein kann, und das ist zugegeben, so wird der Beweis hinfällig, da man nicht ohne Grund auch den entgegengesetzten Schluß würde ziehen können, daß an der wahren Sittlichkeit auch die wahre Frömmigkeit hange. Der Schein des Beweises entsteht bei Schöl daraus, daß er sich des nicht in der Bergpredigt stehenden Wortes „Glaube" bedient und diesen Glauben dann lediglich als Reli­ giosität ohne Rücksicht auf ihre sittliche Bedingtheit auffaßt.

10 Auch die weiteren zürn Belege für die These aus der Bergpredigt angeführten Worte halte ich nicht für stichhaltig. Zunächst wird ge­ sprochen von dem Zweck des Kommens Jesu und dabei gezeigt, wie er den „praktisch notwendigen Zusammenhang zwischen Religion und Sittlichkeit verwirklicht hat" (S. 62). Die thatsächliche Vereini­ gung von Religiosität und Sittlichkeit in Jesu Person ist aber kein Beweis für den praktisch notwendigen Zusammenhang beider. — Dann geht der Vers, über zu der von Jesus geforderten Sinnesände­ rung, welche sich auf Totschlag, Ehebruch, Schwören', Wiedervergel­ tung und Nächstenliebe bezieht, und konstatiert ohne Ausführung und Beweis: „Diese geforderte Sinnesänderung zeigt wieder recht deutlich den Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit." Nur über die Nächstenliebe sagt er: „Besonders ergibt sich die Notwendigkeit wahr­ haft religiöser und sittlicher Gesinnung bei dem Gebote allgemeiner Nächstenliebe. Denn woher soll der Mensch die Kraft gewinnen, seine Selbstsucht zu überwinden? Nur die Religion kann diese Kraft geben. ... Und Humanität ohne Divinität hat auf die Dauer noch stets zur Bestialität geführt" (S. 62). Diese Reflexion über die Kraft zur Erfüllung des Gebotes ist jedoch nicht der Bergpredigt entnommen, sondern eine selbständige philosophisch-psychologische Betrachtung, zu deren Bekräftigung eine Begründung durch historische Thatsachen versucht wird. Das ist aber wider die Abrede. Der Verfasser wollte uns blos die Bergpredigt auslegen. Wenn Jesus sagt: Liebet eure Feinde u. s. w., so sagt er doch damit wahrlich nichts über den Zu­ sammenhang von Religiosität und Sittlichkeit aus. Man würde mit gleichem Rechte ausführen können, daß die Herbartsche Ethik mit der Aufstellung der sittlichen Idee des Wohlwollens eo ipso den praktisch notwendigen Zusammenhang von Religiosität und Sittlichkeit kon­ statiere. Der Vers, fährt fort: „So zieht sich denn wie ein roter Faden der Gedanke durch die ganze Rede hindurch, daß wahre Sittlichkeit ohne wahre Frömmigkeit überall unmöglich ist" (S. 63). Aber der Vers, zeigt diesen Faden nicht auf, vielmehr wird sogleich gesagt: „Darum gilt es vor allem, nach dem Reiche Gottes zu trachten, um ein Glied desselben zu werden." Der Spruch heißt aber: Trachtet vor allem nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit; Jesus hebt also hier die sittliche Aufgabe noch besonders neben der religiösen hervor. End­ lich redet der Vers, noch von der Wiedergeburt als Erfordernis zum Eintritt in das Reich Gottes^ Aber der Begriff der Wiedergeburt findet sich nicht in der Bergpredigt, und noch weniger steht darin, daß dieselbe durch Vergebung der Schulden bewirkt werde. Den fünften Abschnitt der Abhandlung widmet der Vers, den drei ersten Bitten des Vaterunsers, aus welchen der notwendige Zusammenhang beider Momente des inneren Lebens klar hervorgehen soll. Es geht in Wahrheit aus diesen drei Bitten wiederum nur hervor, daß auf dem christlichen Standpunkte Religiosität und Sittlichkeit verbunden sind, nicht aber, daß Sittlichkeit ohne Religiosität überall unmöglich ist. Fassen wir das Ergebnis unserer Kritik zusammen, so ist zu kon­ statieren, daß der Vers, den Zusammenhang von Religion und Sittlich­ keit für den christlichen Standpunkt aufgezeigt hat, d. h. daß ein Bürger des Reiches Gottes weder blos religiös noch blos sittlich sein kann oder sein wollen kann; blos religiös darum nicht, weil sein Gott

11 ein heiliger Gott ist, und blos sittlich darum nicht, weil der blos sitt­ liche Mensch, gesetzt es gäbe einen solchen, offenbar nicht ein Glied im Reiche Gottes wäre, weil er die Beziehung zu Gott ablehnen wollte. Hingegen ist nicht nachgewiesen, was zur Vollständigkeit des Beweises nötig war, daß Sittlichkeit ohne Religiosität überall unmöglich sei. Und die Befürchtung, daß sich dieses Resultat ergeben würde, habe ich schon Eingangs ausgesprochen. Denn da Christus in der Berg­ predigt von den Zuständen im Gottesreich redet, so ließ sich a priori annehmen, daß er hier nur von Sittlichkeit im engsten Verein mit Religiosität reden kann. Will man prüfen, ob und wie weit Jesus Sittlichkeit ohne Religiosität anerkenne, so würden grade seine Urteile über diejenigen in Betracht kommen, welche nicht im Reiche Gottes sind. Selbstverständlich ist mit der Ablehnung der Beweisführung des Vers, kein Urteil abgegeben über den Satz selber, daß Sittlichkeit ohne Religiosität überall unmöglich sei. Vorsitzender. Allerdings folgt aus der Thatsächlichkeit des Zusammenhangs zwischen Religion und Sittlichkeit in der Berg­ predigt nicht dessen Notwendigkeit. Schöl bemerkt selbst, daß eine positive Religion nicht blos einen heilsamen, sondern auch einen schädlichen Einfluß auf die Sittenlehre und die Sittlichkeit ausüben könne (S. 50), daher der Zusatz gemacht wird: aus der wahren Religion gehe die Sittlichkeit notwendig hervor (S. 59), sowie an der wahren Frömmigkeit alles andere hänge, auch die Sittlichkeit (S. 61); und es geht aus der Abhandlung hervor, daß die in Rede stehende These ohne philosophische und religionsgeschichtliche Gründe nicht zu beweisen ist. Dr. Just. Mit dem Hauptsatze, der sich durch die ganze Ab­ handlung hindurchzieht, daß Religion und Sittlichkeit zusammengehen, werden wir uns alle einverstanden erklären; zweifelhaft aber erschien mir und vielleicht auch Anderen, ob das Verhältnis zwischen Religion und Sittlichkeit sich immer so gestaltet, daß, wie Schöl es darstellt, Religion der Baum sei und Sittlichkeit die Frucht, die auf demselben wächst. Will man das Verhältnis zwischen beiden bestimmen, so muß man, wie ich glaube, von dem Wesen beider ausgehen. Sittlichkeit ist ein Streben, den Idealen des Willens, die wir vermöge unserer Vernunft erkennen, gemäß zu leben. Die Religion hingegen ist die Gemütsverfassung, in der wir uns Eins fühlen mit Gott dem Allmäch­ tigen und Allgütigen, und in dem wir Eins sein wollen mit ihm dem Heiligen in allen unseren Bestrebungen und Handlungen. Beide sind also Gemütsrichtungen, die auf das Ideale gerichtet sind und sich in ihren Zielen nähern, aber sie entspringen verschiedenen Quellen. Die Religion ist offenbar das umfassendere Verhältnis, weil sie in sich be­ greift die praktischen idealen Verhältnisse und zugleich Beruhigung gewährt in den wichtigsten metaphysischen Fragen; sie ist diejenige Form des auf das Ideale gerichteten Willens, welche der Lage des Menschen die entsprechendste und natürlichste ist. Die Sittlichkeit aber muß hinzugewünscht werden als notwendige und treffliche Er­ gänzung, die das Ziel und den Weg zum Reiche Gottes in klarer Weise darstellt und so vor mancherlei Abwegen schützt, in die reli­ giöses Streben ohne Erleuchtung durch die Ethik geraten kann. Für theoretische Untersuchungen wird cs aber immßr das Richtige sein, wenn man von der Ethik ausgeht und die religiöse Form des sittlichen

12 Willens erst nachträglich hinzu tritt. Denn die Ethik gewährt wissen­ schaftliche Erkenntnis, und um diese handelt es sich bei den theo­ retischen Untersuchungen. Mit der Unterwerfung unter eine Autorität, sei es auch die höchste und würdigste, kann aber die Wissenschaft nicht beginnen, sie kann nur mit ihr schließen. Die Erziehung sucht beides, die Religion und die Sittlichkeit zu pflegen. Die Sittlichkeit wird geweckt durch ethische Auffassung und Darstellung der Welt d. i. des menschlichen Lebens, die Geschichte der Menschheit, und die Religion wird geweckt durch den idealen Umgang mit Gott, der dem Kinde zunächst als Vater und Freund erscheinen soll, und später als der Heilige, Gerechte und Barmherzige, zuletzt aber als das reale Zentrum aller sittlichen Ideen d. h. als das höchste Musterbild, als Träger der Vollkommenheit und zugleich als Urgrund aller Dinge. Israel. Es ist mir nicht ganz klar geworden, weshalb Dr. Just Sittlichkeit und Religion aus zwei verschiedenen Quellen ableitet. Denn Sittlichkeit ist für mich auch nichts weiter als die Offenbarung der Religiosität des Menschen. Bedeutet Religiosität des Menschen die innige Lebensgemeinschaft des Menschen mit Gott, dann ist es nach meiner Meinung nicht anders möglich, als daß Sittlichkeit die Äußerung dieser einheitlich gestalteten Persönlichkeit ist. In Bezug auf die Be­ handlung der Bergpredigt in der Volksschule möchte ich mir bei dieser Gelegenheit erlauben, auf die gediegene Art aufmerksam zu machen, wie Dörpfeld insbesondere die Seligpreisungen in seinem Encheiridion darstellt; desgleichen möchte ich noch darauf hinweisen, daß im vorigen Jahre in Dörpfelds Zeitschrift eine Abhandlung eines Straßburger Pfarrers erschienen ist, welche die interessante Theorie aufstellt, daß die Bergpredigt nach dem Dekalog disponiert sei d. h. nach den zehn jüdischen Gesetzen, wie sie ursprünglich gezählt wurden. Dr. Just. Mit den zwei verschiedenen Quellen meine ich die ethische Beurteilung, wie sie in unserm Innern beim Anblicke z. B. von Handlungen sich regt, und die Offenbarung, aus der das Muster­ bild stammt, dem wir nachstreben sollen. Ich bin allerdings auch der Meinung, daß diese beiden Quellen zuletzt einen einzigen Urgrund haben, denn das sittliche Urteil ist nichts anderes als ein göttliches Gesetz, das in unser Herz gelegt ist und das wir nicht von uns selbst haben. So berühren sich im letzten Urgrund beide Quellen und nur das, was uns vor Augen liegt, weist auf verschiedene Quellen hin. Auf diese Weise fallt die angedeutete Differenz weg. Glöckner. Die philosophischen Reflexionen von Just sind durch die Schölsche Abhandlung eigentlich ausgeschlossen. Was Schöl dar­ legt, ist eine Exegese, wie er die Bergpredigt etwa mit seinen Prima­ nern durchnehmen würde, und wir haben uns daran zu halten, was aus der Exegese der Bergpredigt für den Zusammenhang von Religion und Sittlichkeit zu folgern ist. Worin diese Folgerung besteht, habe ich schon gesagt: wir erkennen, daß eine solche Vereinigung besteht. Die philosophische Frage hingegen nach dem praktisch notwendigen Zusammenhänge kann nach meiner Meinung aus der Bergpredigt gar nicht dargethan werden, dazu sind philosophische und religionsgeschicht­ liche Erörterungen nötig. Diese sind es aber grade, welche Schöl aus­ geschlossen hat. Das Einzige, worauf uns die Abhandlung hinweist, sind exegetische Erörterungen einzelner Stellen; diese bilden aber, wie

13 ich glaube, nicht die Aufgabe unseres Vereins; sie müssen anderen Kreisen vorbehalten bleiben. Hinzufügen möchte ich nur noch, daß in Schöls Abhandlung jede Andeutung darüber fehlt, was man sich unter Sittlichkeit zu denken habe. Der Verfasser definiert diesen Be­ griff niemals und identifiziert denselben mit dem biblischen Begriff der Gerechtigkeit. Aber diese zwei Begriffe sind keineswegs identisch. Vorsitzender. Ich glaube auch, daß die Erwägungen von Just über den Inhalt der Schölschen Abhandlung hinausgehen, daß sie aber an unsere Erörterungen in der Leipziger und Coburger General­ versammlung (s. Erläuterungen zum 14. Jahrbuch S. 55—56 und Er­ läuterungen zum 15. Jahrbuch S. 36—38, vgl. S. 5—6) sich anschließen. Die Sittlichkeit definierte Ziller als ein beharrliches persönliches Streben nach Tugend (Ethik S. 450); das Sittliche verhält sich also im Menschen zum rein Ethischen, wie psychisch-Wirkliches zu blos Gedachtem. 2. Hendewörk, Zur christlichen Ethik und Dogmatik.

Flügel stellt den Antrag, über Hendewerks Abhandlung zur Tagesordnung überzugehen, da die Differenz zwischen Hendewcrk und Herbart, welche hier in Frage kommt, bereits ziemlich ausführlich im 9. Bande der Zeitschrift für exakte Philosophie erörtert worden sei. Vorsitzender. Dieser Antrag steht mit unserem Usus und auch mit der Geschäftsordnung in Widerspruch. Nach dem Inhalte der Abhandlung werden unsere Erwägungen teils theologischer, teils meta­ physischer Art sein. Israel. In theologischer Beziehung ist mir ein Widerspruch aus­ gefallen, der sich durch Vergleichung des zweiten mit dem vierten Beitrag ergibt. 8. 283 wird gesagt: „Überdies ist Jehova im A. T. nicht reiner Geist, sondern auch Materie, sodaß er wie ein Mensch nach größerem Maßstabe erscheint.“ Hierbei wird unter anderem 1. Mos. 1, 26 zitiert. 8. 294 hingegen wird mit Berufung auf 1. Mos. 1, 27 vom Geiste des Menschen gesagt, daß er durch den immateriellen Geist göttlichen Geschlechts sei und Gottes Bild darstelle. Vielleicht sind die Abhandlungen zu verschiedenen Zeiten entstanden. Vorsitzender. Nach dem Wortlaute geht Hendewerks Meinung 8. 283 dahin, daß Gott im N. T. als ein Geist ohne alle materielle Beimischung dargestellt wird, während er nach dem A. T. teils mate­ riell , teils immateriell aufgefaßt werde. In jener Vergeistigung des Gottesbegriffs erblickt Hendewcrk einen Fortschritt vom A. T. zum N. T. (8. 283 A. 2). Israel. In bezug auf die „verklärte Leiblichkeit“, welche nach der Auferstehung des Leibes einträte und welche ebenso wie die ge­ wöhnliche irdische ihren realen Grund in den einfachen Wesen habe, sagt Hendewcrk: „Kant freilich will von einer Auferstehung des Leibes nichts wissen, aber wenn er hierbei von einem gewissen Klumpen Materie in gewisser Form und von Kalkerde redet, so zeigt er hier­ durch schon hinlänglich, daß er das wahre Wesen der Materie noch gar nicht gekannt, während schon aus v. Liebigs chemischen Briefen zu ersehen ist, daß der ganze Leib des Menschen nur aus mehr oder weniger kondensierter Luft besteht.“ (8. 279). Diese Erinnerung an die Kalkerde und die kondensierte Luft erscheint überflüssig, wenn man den Wortlaut der Bibel und die Auslegung ins Auge faßt, welche

14 derselbe von naturwissenschaftlicher Seite erfahren hat. Mit Beziehung auf den richtig übersetzten Satz: Gott schuf den Menschen aus Staub von der Erde (im Gegensatze zu der Übersetzung der Vulgata und auch der Lutherschen) sagt ein neuerer Naturforscher: „Setzt man bei dem ersten Auftreten des Menschen das Wort „Staub" um in „irdischen Stoffs, so würde es heißen, daß der Mensch aus belebtem irdischen Stoff aufgebaut ist, und über diese Wahrheit ist die Naturwissenschaft nicht hinausgekommen. — Erwähnen möchte ich noch bei dieser Gelegen­ heit, daß Ziller in Konferenzen und anderwärts den Versuch machte, nach Hendewerkscher Art die Herbartsche Metaphysik auf das Christen­ tum und die Bibel anzuwenden. Vorsitzender. Zunächst möchte ich bemerken, daß Ausdrücke wie „idealistische Spielerei mit abstrakten Begriffen" und „Hegeische Afterweisheit" (S. 255) vom Standpunkte der Gedankenfreiheit, wie ich glaube, nicht erlaubt sind. Denn auch angenommen, daß der „wahrhaft gefährliche Feind des Glaubens die falsche Metaphysik sei" (S. 253), so hat ja die Bibel keine metaphysische Abzweckung und ihre „populäre Bezeichnungsweise", wie Hendewerk selbst sagt (S. 261), läßt bald eine realistische Auslegung zu, z. B. in dem Ausdruck vaivöptva, bald eine idealistische, z.B. in dem nicht im ethischen Sinne genommenen Worte der Apostelgeschichte „Leben, Weben und Sein in Gott," daher Fichte in seiner Staatslehre (s. dessen Werke, 4. Bd.) von seinem Standpunkte aus den Anfang des Johannes - Evangeliums beleuchten konnte. Ferner ist es fraglich, ja von Herbartscher Seite selbst in Frage gestellt worden, ob es überall Herbartsche metaphy­ sische Anschauungen sind, die Hendewerk, trotzdem er die Herbartsche Metaphysik die biblische nennt, in Anwendung bringt. Jedenfalls glaube ich, daß die Anwendung der Herbartschen Metaphysik auf die Bibel zwar zulässig ist, man aber nicht sagen kann, daß die Anwen­ dung jeder anderen unzulässig sei.1 Indessen verraten die Hendewerkschen Schriften das sehr ernste Streben: die Anschauungen über göttliche Dinge, wie sie in den Lehren des Christentums enthalten sind, mit unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen und dadurch zu einer einheit­ lichen und zusammenstimmenden, also charaktervollen Anschauung zu gelangen. Drohen ja unvereinbare und einander widersprechende Ge­ danken dem Charakter die Haltung zu rauben. Bei diesem Streben kann das Denken zwei verschiedene Rich­ tungen einschlagen. Entweder bildet die Gewißheit, welche an den Gegenständen des Glaubens haftet, den Ausgangspunkt und die Gegen­ stände des Wissens werden hiernach gestaltet oder modifiziert, oder umgekehrt: es bildet die durch menschliche Forschung gewonnene Überzeugung den Ausgangspunkt und die Vorstellungen von den Gegenständen des Glaubens werden hiernach abgeändert, — mit kurzen Worten: es richtet sich gleichsam das Menschliche nach dem Göttlichen in dem einen Falle, und in dem andern das Göttliche nach dem Mensch­ lichen. Philosophisch betrachtet haben diese Denkrichtungen den Sinn, daß Metaphysik und Ethik, als die diesfälligen Repräsentanten menschlicher Forschung, entweder das Bestimmte oder das Bestim­ mende sind. 1 Das Folgende ist Zusatz.

15 Die Verwirklichung dieses Strebens ist nach Herbart mit Gefahren verbunden, wenn der Glaube das Bestimmende ist, und mit Schwierig­ keiten, wenn es das Wissen ist. Denn die Annahme eines fortwäh­ renden Eingreifens Gottes, welche dem Glauben nahe liegt und von H endewerk in Herbarts Einleitung in die Philosophie vermißt wird, würde alles sichere Wissen unmöglich machen (Jahrb. XVII. 8. 285), und wenn auch die Teleologie zwar niemals entbehrlich werden wird, da das unmittelbar gültige ästhetische Urteil mit Notwendigkeit zur Annahme zweckmäßiger Einrichtungen führt, so wird sie doch auch niemals feste Grenzen erlangen (Werke IV. S. 618), d. h. wir werden außer Stande sein, Gottes zweckmäßige Wirksamkeit in bestimmter Weise anzugeben und zu beschreiben. Die Schwierigkeiten aber, welche aus dem menschlichen Wissen erwachsen, beziehen sich nach Herbart auf die Metaphysik, nicht auf die Ethik. Denn nach praktischen Ideen soll das höchste Wesen bestimmt werden (a. a. 0. 8. 616); aber die grübelnde Neugier, welche sich des höchsten Wesens theoretisch be­ mächtigen will, ist Herbart nach seinem eigenen Geständnisse von jeher so fremd gewesen, daß in demselben Augenblicke, wo er seine eigene Metaphysik versuchsweise einem solchen Mißbrauche unterwerfe, sie sich ihm unwillkürlich entfremde. Für ihn bleibt es dahin gestellt, ob der Mensch zu dem Systeme von Relationen das Absolute finden könne und ob es ein menschliches Gemüt ertragen würde, eine theo­ retische Auffassung an der Stelle der ästhetischen zu erhalten (a. a. O. 8. 617), ja er nennt es eine unerträglich widerliche Künstelei, solchen Theorien, die nur für Gegenstände unserer menschlichen Nachforschung erfunden waren, eine Ausdehnung zu geben, bei der sie auch im Un­ endlichen noch passen sollen. Indessen trotz der Scheu vor der An­ wendung seiner Metaphysik auf göttliche Dinge will er nach der zweiten Unterhaltung Hendewerks mit Herbart es Niemandem, am wenigsten einem Theologen, verwehren, wenn er seiner Metaphysik so viel als möglich religiöse Beziehungen zu geben sucht, so daß, nachdem das Reich der Wesen einmal aufgeschlossen, in dasselbe auch sogleich das höchste Wesen selber eingeführt und seine Wirksamkeit geltend gemacht, dadurch aber auch die ganze Metaphysik in eine vollere Übereinstimmung mit dem Christentum gebracht wird (Jahrb. XVII. 8. 286). Hiernach ist Gott, wenn Wissen und menschliche Forschung das Bestimmende ist, zwar ethisch, aber nicht metaphysisch erfaßbar, und sicherlich ist die Vorstellung von Gott, welche wir auf ethischem Er­ kenntniswege — das Wort Ethik im Sinne des praktischen Idealismus genommen — erwerben, eine würdige, somit der durch ein richtiges ethisches Wissen bestimmte Glaube ein reiner. Gott ist der Allgütige und zugleich väterlich für uns Sorgende, woraus sich forderungsweise, obschon nicht erwiesenermaßen ergiebt, daß er „in der Sprache der Metaphysiker ein ens extramundanum sei" (Herbarts Werke IV. S. 614), denn diese Erweise sowie überhaupt alle metaphysischen Vorstellungen sind unzureichend, um Gott und sein Verhältnis zur Welt zu erfassen und wenn Herbart grundsätzlich Glauben und Wissen auseinander­ hält und vor der Vermengung beider warnt, so bezieht sich nach dem Gesagten jener Grundsatz und diese Warnung auf die Metaphysik. Wenn nun Hendewerk, der im Übrigen in Übereinstimmung mit Herbart erklärt, daß die Gottheit oder „das höchste Reale" durch die

16 sittlichen Ideen bestimmt werden müsse (Jahrb. XVII. S. 271), den­ noch versuchte, metaphysische Begriffe auf Gott und seine Wirksam­ keit anzuwenden, so fühlte er sich als Theolog offenbar durch exege tische Bedürfnisse dazu aufgefordert. Der Gebrauch metaphysischer Begriffe bei Auslegung und Erklärung der Bibel ist nun einmal un­ umgänglich, da das „neue Testament mehrfache Stellen von meta­ physischem Gepräge enthält" (a. a. O. S. 252) und dann entsteht die Frage, welche von den Begriffen, die sich zum Gebrauche anbieten, die richtigen seien, und ob man nicht verpflichtet sei, Begriffe, durch deren Anwendung das Tröstliche der religiösen Lehren verkümmert wird, zu bekämpfen, im Allgemeinen aber philosophische Kategorien nicht unbesehen zu gebrauchen. Indessen wenn auch Hendewerk die „exakte Metaphysik Herbarts als die eigentlich biblische" betrachtet (S. 254), so ist darum doch nicht an eine Übertragung in dem Sinne zu denken, daß die meta­ physischen Begriffe wie bei einer Übersetzung ins Latein ihrem Sinne nach unverändert blieben. Dies ist schon darum nicht zu erwarten, weil Hendewerk das „unvollendete Werk der Metaphysik und Natur­ philosophie zu einem mehr befriedigenden Abschluß bringen" (S. 273), d. h. auch Entstehungsfragen in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen will, während nach Herbart die Metaphysik nicht die Aufgabe hat, zu erklären, wie und zu welchem Zwecke etwas entstanden sei (S. 285). So nimmt Hendewerk, um das Wesentlichste hervorzuheben, an, daß die Realen ursprünglich in Ruhe und im starren Aneinander sich be­ finden und daß die Bewegung an sich einer Ursache bedürfe, — im Gegensatze zu Herbart, nach dessen Auffassung Ruhe und starres Aneinander die unwahrscheinlicheren Fälle von den Lagenverhält­ nissen der Realen sind und nur die qualitative, aber nicht die räum­ liche Veränderung auf eine Ursache hin weise (cf. Flügel in d. Zeitschr. f. exakte Philosophie IX. S. 157 f.). Aber Hendewerk brauchte jene Annahme, damit die Wirksamkeit eines „außerweltlichen und über­ natürlichen Wesens, welches in das Reich der Wesen die erforder­ lichen Bewegungen erst hineinbringt" (Jahrb. XVII. S. 275. 289) er­ sichtlich werde. So kommt ferner eine „reelle Verbindung" zwischen den Realen und hiermit alles wirkliche Geschehen erst durch ein höheres Wesen zu Stande, indem die Realen wegen des Gegensatzes ihrer Qualitäten eine reelle Verbindung vermeiden und selbst bei er­ zwungener Verbindung und Störung nichts weiter thun, als sich in ihrer eigenen Qualität erhalten (S. 274), — im Gegensatz zu Herbart, nach dessen Auffassung zum Verständnisse der kausalen Verbindung, die nach Hendewerk mit der teleologischen zusammen zu fallen scheint (s. Erläuterungen zum 15. Jahrbuch S. 6 f.), das Zusammentreffen be­ wegter und qualitativ entgegengesetzter Realen genügt (Flügel a.a.O. S. 165). Aber Hendewerk brauchte, und zwar aus theologischen Gründen, die Annahme einer „Vervollständigung der Selbsterhaltung zum wirklichen Geschehen durch das göttliche Handeln," um die un­ mittelbare Wirksamkeit Gottes, an welche der Theolog glaubt (Jahrb. XVII. S. 308), auch' metaphysisch begreiflich zu machen und zu zeigen, daß „alles natürliche und allgemein menschliche Leben, Bewegen und Dasein," worauf die Bibel hinweist (vgl. z. B. Apostelgesch. 17, 28), „seinen letzten Grund in Gottes Kraft, Geist und Leben habe" (S.282). Denn „Überwindung alles Deismus und Wiederherstellung des reinen

17 Theismus des Christentums," und „Vereinigung von Philosophie und Christentum" betrachtete er als seine Lebensaufgabe (8. 286. 290). Wenn nun Hendewerk bei den vorgenommenen Änderungen wesentlicher metaphysischer Lehren auf den Vorhalt, die Bewegung der Realen sei wahrscheinlicher, in charakteristischer Weise erwidert: „Und wenn dem Einen die Bewegung wahrscheinlich ist, dem Andern aber die Ruhe als wahr erscheint: wer ist denn bei so entgegen­ gesetzten Ansichten und Annahmen der kompetente Richter, der da sagen darf, Du hast Unrecht?" (citiert von Flügel a. a. 0. 8. 160) — so ergiebt sich nach dem Gesagten, daß für Hendewerk zwar nicht ethisch, wobt aber metaphysisch und zwar in Ansehung wesentlicher Lehren der Glaube das Bestimmende war, und das Wissen das Be­ stimmte. Die Bedeutung jedoch, als ob die Herbartsche Metaphysik keine wissenschaftliche Basis für die Religion darbiete, haben die Hendewerkschen Abweichungen darum nicht, weil, wie gesagt, die Herbartsche Metaphysik nach ihm die biblische ist.

3. Rein, Zur Synthese im historischen Unterricht. Dr. Rein. Ich schrieb diese Abhandlung in der Absicht, um auf die vortreffliche Arbeit Dörpfelds aufmerksam zu machen und zugleich zur erneuten Prüfung in unseren Kreisen anzuregen. Dörpfeld hat eine scharfe Kritik geübt an der Memorirweise der Zillerschen Schule, weshalb wir uns die Frage vorlegen müssen, ob wir bei unserer bis­ herigen Weise stehen bleiben oder eine Revision vornehmen sollen. Vorsitzender. Auf Grund der Reinschen Disposition liegender Erörterung zwei Fragepunkte vor: 1. ob das Neue im historischen Unterrichte auf allen Stufen nur durch die Erzählung des Lehrers oder ob es auch (auf den oberen Stufen) durch klassische Texte zu ge­ winnen sei; 2. in welcher Weise das Einprägen erfolgen solle. Ufer. Die beiden Fragen stehen mit einander in so nahem Zu­ sammenhänge, daß sie vom Dörpfeldschen Standpunkte aus nicht für sich erörtert werden können. Denn da Dörpfeld von der Vermittlung einer Totalauffassung nichts wissen will, so fließt bei ihm Vortrag und (an Lektüre sich anlehnende) Totalauffassung in einen Akt, die Erzählung des Lehrers, zusammen. Vorsitzender. Als Gedanke von besonderem Inhalte kann die erste Frage ja für sich besprochen werden und ist die Lektüre klassischer Texte gerechtfertigt, so ist es auch jene Trennung in zwei Akte. Dr. Thrändorf. Ich kann mich allerdings auch nicht damit ein­ verstanden erklären, daß jene Trennung vorgenommen werde, aber aus dem Grunde, weil der Differenzpunkt viel tiefer liegt. Ich hätte überhaupt gewünscht, daß eine umfassendere Vorlage für unsere Dis­ kussion uns im Jahrbuch dargeboten worden wäre; denn so gewinnt es den Eindruck, als ob die Differenzen zwischen Dörpfeld und Ziller sich blos auf die zwei Punkte bezögen, die Rein anführt. Thatsäch­ lich aber ziehen sich die Differenzpunkte durch das ganze Buch von Anfang bis zu Ende wie ein roter Faden hindurch und es gewinnt den Anschein, als sei das ganze Buch eine Tendenzschrift und die Polemik gegen das mechanische Memorieren durch die gegen Ziller gerichtete Tendenz beeinflußt. Erläuterungen zum Jahrbuch. XVII.

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18 Vorsitzender. Eine Tendenzschrift ist Dörpfelds Buch, wie ich glaube, gewiß nicht. (Auch nach wiederholtem Durchlesen habe ich nicht im mindesten, worin ja das Tendenziöse besteht, das Be­ streben entdecken können, Consequenzen zu ziehen, deren Inhalt ge­ hässiger Art ist. Denn wenn auch Dörpfeld gegen die Anhänger Herbart-Zillers Vorwürfe erhebt [S. 131. 126. 145 f.), so geschieht es bei der wiederholt ausgesprochenen löblichen Absicht, dem harten Druck des Memorirmaterialismus, der übrigens eine Art des Verbalismus ist, entgegenzuwirken — unter der Voraussetzung, daß die Anhänger Herbart-Zillers das Prinzip der Selbstthätigkeit nicht konsequent fest­ halten und nicht nur im dritten Memorierstadium [vgl. S. 145 mit 127] die mechanische Repetition, welche dem Memoriermaterialismus geläufig ist, anwenden, sondern schon in der ersten TotalaufFassung. Letzteres wird zwar nicht ausdrücklich bemerkt, aber, wenn ich recht vermute, gemeint, und da die Widerlegung jener Totalauffassung einer in Aussicht gestellten zweiten Monographie vorbehalten ist [S. 181], so sind wir jetzt noch gar nicht im Stande, Dörpfelds Argumente vollständig zu übersehen und ein cndgiltiges Urteil zu bilden. Aber schon das Dargebotene ruht auf einer so ausführlichen und zusammen­ hängenden sachlichen Erörterung, daß jede persönliche Abzweckung ausgeschlossen ist. — Gegen den erhobenen Vorwurf des Tendenziösen wendet sich später auch Ufer.) Dr. Rein. Ich habe, ohne auf weitere Erörterungen einzugehen, nur die zwei angegebenen Fragepunkte in getrennter Aufeinander­ folge behandelt, weil Dörpfeld selbst am Schlüsse diese beiden Punkte, und zwar in der angegebenen Sonderung, als die vorhandenen Differenz­ punkte ausdrücklich bezeichnet hat. Dr. Hartmann. Was den ersten Differenzpunkt betrifft, so sind zwar die Ansichten Dörpfelds und der Zillerschen Schule einander scharf gegenübergestellt, aber diese Schärfe ist in den begleitenden Angaben Reins nicht bemerklich. Nach S. 1 nämlich muß man an­ nehmen, daß beim Geschichtsunterricht äuf der Oberstufe der Volks­ schule nur Zweierlei zulässig sei: ein klassischer Text oder der dar­ stellende Unterricht, daß ein Drittes mithin ausgeschlossen sei. Nach S. 2 aber gewinnt es den Anschein, als ob ein Drittes — und das ist die Erzählung — doch nötig sei, weil klassische Texte nicht zu häufig und gute historische Gedichte auch nicht immer als Ausgangspunkte vorhanden sind. Das ist ein Widerspruch. Einen solchen Widerspruch finde ich auch in folgendem Punkte. S. 2 wird bezweifelt, daß durch das Lesen klassischer Stoffe ein ge­ ringerer Eindruck auf das Gemüt des Kindes ausgeübt wird als durch den Vortrag; S. 4 hingegen wird zugegeben, daß der Vortrag einen tieferen Eindruck hervorbringt als bloßes Lesen. Dörpfelds Auffas­ sung ist hier jedenfalls auch von Wichtigkeit. Ich habe hierbei ge­ funden, daß an zwei Stellen von nicht ganz zutreffenden Voraussetz­ ungen ausgegangen wird. S. 4 wird geltend gemacht, daß es ein Fehler sei, wenn der tiefste Eindruck gleich am Anfang erzeugt wird, während die Vorstellungen in allmählichem Fortschritt bis zu völliger Klarheit geführt werden sollten. Es ist aber doch nicht ausgeschlossen, daß auch auf dem Wege des Vortrags ein allmählicher Fortschritt bis zur völligen Klarheit stattfinden kann. Ebenso rechne ich zu den nicht ganz zutreffenden Voraussetzungen das Wort Zillers, auf welches

19 sich Rein beruft: Man solle es nicht versäumen, den Zögling in der Kunst zu üben, daß er aus den Quellen schöpfen lerne. Das setzt einen Normalzögling voraus, während Dörpfeld meiner Ansicht nach den Durchschnittsschüler der Volksschule voraussetzt, für welchen das W ort Zillers zu weit geht. Vielleicht hat aber auch Ziller das Wort, das ich für die höheren Schulen und in besonders günstigen Fällen gerechtfertigt finde, gar nicht so gemeint, daß es auch für den Durch­ schnittsschüler gelten sollte. Das Wort Herbarts vollends, welches Rein S. 3 citiert: „Wir müssen den Zögling lesen lehren, indem wir ihm das Gute und Schöne zuführen, damit ihm künftig das Ge­ schmacklose und Unsittliche durch sich selbst abstoßen“ — bezieht sich auf den Leseunterricht im Allgemeinen, nicht auf die vorliegende Frage. Endlich möchte ich noch auf zwei Folgerungen hinweisen, die nicht in der Allgemeinheit gelten, in welcher sie auftreten. So heißt es S. 2, daß, wenn das Lesen einen geringeren Eindruck auf das Ge­ müt erziele, dann überhaupt nichts gelesen werden dürfte, auch von Erwachsenen nicht, während doch Erwachsene nicht blos des Gemüts­ eindrucks wegen lesen, sondern vorzugsweise deshalb, weil sie fürs Erste augenblicklich kein anderes Mittel haben, um sich mit einer Sache bekannt zu machen, und zweitens des Studiums einer Sache wegen, welches ein längeres Verweilen an einzelnen Stellen voraus­ setzt, als der Vortrag gestattet. So wird ferner aus der richtigen Voraussetzung: „Was die Kinder selbst thun können, soll ihnen vom Lehrer nicht vorgethan werden“, — gefolgert, daß das Lesen als eine die Selbstthätigkeit mehr in Anspruch nehmende Unterrichtsweise dem Erzählen, wodurch die Gedanken dem Schüler gleich mundgerecht gemacht werden, vorzuziehen sei. Indessen sind der freien Selbst­ thätigkeit des Volksschülers Grenzen gesteckt, die unter allen Um­ ständen respektiert werden müssen, und man kann über das Maß geistiger Kraft, über welches der Durchschnittsschüler der Volksschule verfügt, nicht hinausgehen, — ein Maß, welches durch die Forderung, klassische Texte auf der Stufe der Synthese in der Volksschule lesen zu lassen, wenigstens im allgemeinen überschritten wird. Wenn ich das Ganze überblicke, so müssen Zweifel entstehen, ob es Rein gelungen ist, zu überzeugen, daß die Ansicht der Zillerschen Schule gegenüber der Ansicht Dörpfelds eine wohlbegründete genannt werden kann. Ich meine vielmehr, daß Dörpfelds erste Forderung weder als eine falsche noch als eine überflüssige, noch als eine minder­ wertige durch Reins Ausführungen erwiesen worden ist. Ist dem aber so, dann würde die Frage noch immer offen sein, welche Forderung für die Synthese des Geschichtsunterrichts auf der Oberstufe die rich­ tige sei: Lesen klassischer Texte oder Erzählen? Nach meiner aus praktischer Thätigkeit gewonnener Ansicht sind beide Forderungen als richtig anzuerkennen. Eine jede hat ihre Vorzüge und keine schließt die andere aus, vielmehr wird die eine durch die andere ergänzt. Die praktische Ausführung würde sich etwa so gestalten. Da die biblischen Stoffe im Religionsunterricht von unten her schon tüchtig vorbereitet sind, so weise man der Synthese des biblischen Geschichtsunterrichts auf der Oberstufe das Lesen des klassischen Textes zu, d. h. also das Bibellesen; im weltgeschichtlichen Unterricht hingegen, dem nur wenig klassische Texte zur Verfügung stehen werden, bleibe man in der 2*

20 Hauptsache bei Dörpfelds Forderung stehen, d. h. man lasse die Er­ zählung des Lehrers in den Vordergrund treten. Vorsitzender. Damit würde, wie ich glaube, auch der Dörpfeldschen Meinung, Erzählung und nicht Lektüre darzubieten, ent­ gegengetreten, und sowohl das eine als das andere für berechtigt erklärt. Dr. Kein. Ich will den Einwendungen Hartmanns gegenüber zunächst zugeben, daß der Satz: „Dann dürfte überhaupt nichts gelesen werden“, in dieser Allgemeinheit allerdings mißverstanden werden kann. Wenn ich jedoch S. 2 auch sage, daß im Geschichtsunterricht der Ober­ stufe klassische Prosadarstellungen nicht zu häufig sind und daß der darstellende Unterricht Verwendung finde, so ist doch die Erzählung ausgeschlossen und es darf sich nicht, worauf die Ausführungen Hart­ manns hinauslaufen, darum handeln, hier ein Kompromiß zu schließen und zu sagen: sowohl Lesung als Erzählung. Denn unter allen Umständen kann nur Eines das Bessere und Richtige sein. Was die Worte von Ziller und Herbart betrifft, so glaube ich, daß sie doch mit einem gewissen Rechte hier angeführt worden sind. Denn man darf das Wort „aus den Quellen schöpfen“ nicht zu eng fassen und dabei wie Hartmann nicht etwa blos an das Bibellesen denken, während die Synthese sowohl des biblischen Geschichtsunterrichts wie des profan­ geschichtlichen Unterrichts darauf angewiesen ist. Schulinspektor Trebst. Ich stimme Hartmann in allen Punkten zu und bin der Meinung, daß beide Methoden berechtigt sind. Diese Berechtigung hängt von der Entwickelung des Schülers und von dem Stoffe ab. Es ist immer die Frage, ob man zuerst eine Totalauffassung zu vermitteln nötig hat oder nicht; und wo das nicht nötig ist, da braucht man sie nicht zu geben. Ich habe beide Arten in der Schule angewendet und die besten Erfahrungen dabei gemacht. Die Zillersche Art ist entschieden dann zu befürworten, wenn es durch den Stoff des Unterrichts geboten erscheint. Ich kann das aber nicht als Kompro­ miß bezeichnen. Vorsitzender. Der Sinn des Gesagten ist wohl der, daß man sich vor die Alternative: Erzählung oder Lektüre, nicht im Allgemeinen, sondern im Speziellen gestellt sieht. Dr. Rein. Ich glaube, daß das Wort Vogts scharf im Auge be­ halten werden muß. Wenn es richtig ist, daß wir die Zöglinge an­ leiten sollen, aus den Quellen selbst zu schöpfen, in der Volksschule aus Bibel und Profangeschichte, so ist hiermit das Ziel bezeichnet, das wir verfolgen sollen. Sobald also die Zöglinge Lesefertigkeit besitzen, muß Lektüre auftreten, und es darf nicht der freien Wahl anheim­ gegeben werden, ob man lesen lasse oder erzähle. Schulinsp. Trebst. Wir haben schon seit langer Zeit die Bibel als klassischen Text auf der Oberstufe von dem Moment an verwendet, wo das Kind imstande ist, das Gelesene aufzufassen und nur da und dort der Führung des Lehrers zu bedürfen. Nicht in dieser Lage sind wir bezüglich der Profangeschichte: da fehlen uns klassische Texte. Das Erzählen durch das Lesen zu verdrängen, ist ein Ding der Un­ möglichkeit, schon aus äußeren Gründen. Klassische Texte, natur­ getreue Schilderungen von Augenzeugen geschrieben, sind selten, in der Volksschule sehr selten zu verwerten. Aber selbst dann, wenn wir eine solche klassische Lektüre hätten, ist für gewisse Partien, je

21 nach der Beschaffenheit des Stoffes und der Schüler, doch nötig, daß der Lehrer mit seiner Persönlichkeit eintrete. Daß Gemüt und Wille im Kinde lediglich durch Vorstellungen erregt und in dieser Beziehung um so mehr erzielt werde, je klarer und fester die Vorstellungen durch den Intelllekt gefaßt werden, — das ist ein Grundsatz, dem ich nicht in seiner ganzen Ausdehnung beistimmen kann. Iqh glaube, daß die Persönlichkeit des Lehrers, die Einwirkung von Geist auf Geist, auf den Willen des Zöglings in ganz anderer Weise wirkt, als wenn zwischen seiner Seele und den Thatsachen, die auf ihn wirken sollen, das geschriebene Wort, der tote Buchstabe steht. Der Volksschüler ist nicht in unserer Lage, daß, wenn wir etwas überfliegen, auch sofort der Geist des Inhalts uns anweht. Haben wir den Volksschüler dahin gebracht, daß ihm das möglich ist, so werde ich sagen, es möge ge­ lesen statt erzählt werden, eher aber nicht. Dir. Wohlrabe. Hartmann und Trebst gegenüber möchte ich bemerken, daß die Quellen (z. B. die Schilderung eines Augenzeugen über den Ablaßhandel, oder Beckers Darstellung des Kriegs- und Soldatenlebens Friedrich Wilhelm I.), welche nach Hartmann blos für die Normalschüler passen sollen, wegen ihrer epischen Breite und Klarheit anschaulicher sind als Überarbeitungen, und daß sie auch leichter zu verstehen sind und einen tieferen Eindruck machen als letztere. Ob ferner die Persönlichkeit des Lehrers, auf welche Trebst so hohen Wert legt, dem Geiste des Zöglings näher stehe, als die Quelle, z. B. die Schilderung der Zerstörung Magdeburgs durch den Geheimschreiber oder Züge aus dem 30jährigen Kriege nach der Dar­ stellung des Meininger Pfarrers Götzinger, — ist zu bezweifeln. Die Lehrer sind Geister erst in zweiter und dritter Reihe im Vergleich mit dem Schriftsteller. Für die Jugend ist das Beste gerade gut genug: eben darum sind die Quellen vorzuziehen. Besonders in bezug auf Biographien, wie sie in der Litteraturperiode vorkommen. Ein dürf­ tiges, reizloses Exzerpt, welches der Lehrer gibt, kann nicht Interesse erwecken, wohl aber klassische Darstellungen, z. B. ein Brief eines Zeitgenossen oder Hebels Auslassung über seine Verhältnisse im Eltern­ haus etc. Dir. Hartmann. Wohlrabe scheint, wenn er die Quellen an­ schaulicher nennt, schlechte Erzählungen und vorzügliche Texte vor­ auszusetzen; aber das Umgekehrte ist auch möglich. Daß klassische Texte leichter seien, ist nicht einzusehen. Leichter ist es für den Zög­ ling, den durch die Erzählung umgeprägten Gedankeninhalt aufzu­ fassen, als das in den Quellen Dargebotene in seine Sprache und Vor­ stellungsweise umzusetzen. Wenn es das letztere wäre: warum lassen wir dann die leichten klassischen Texte nicht schon auf der Unterstufe lesen? Und was für klassische Texte setzen wir voraus? Dr. Rein. Warum wir nicht auf der Unterstufe lesen lassen? Weil die Lesefertigkeit noch nicht vorhanden ist. Und was die letzte Frage betrifft, so sind Vorarbeiten bereits vorhanden, wie die Samm­ lungen von Heinze und Blume und aus neuerer Zeit das Quellenbuch zur Geschichte von Albert Richter in Leipzig, welches namentlich auch die Volksschule im Auge hat. Dir. Wohlrabe. Das Wort „leicht" nehme ich gern zurück, da unser Prinzip fordert, so viel als möglich die Selbstthätigkeit zu pro­ vozieren. Wenn aber klassischen Darstellungen vermöge ihrer Form

22 ein individueller Reiz anhaftet, sei es durch ein veraltetes Wort . oder sonst eine Wendung von eigentümlicher Prägung, die bei der Über­ arbeitung gewöhnlich verloren geht, so ist das ein Beweis für die größere Anschaulichkeit der Quellen. Teupser. Die wiederholt und in zweifelnder Weise aufgeworfene Frage: ob wir denn klassische Texte in hinreichendem Maße besitzen ? läßt eine andere Antwort im biblischen als im profangeschichtlichen Unterrichte zu. In erster Beziehung stehen uns die Quellen vollständig zu Gebote; es kann also gelesen werden, wenn nicht der Weg des darstellenden Unterrichts eingeschlagen werden muß, wie es z. B. dann der Fall ist, wenn dem Schüler etwas vorenthalten werden muß oder wenn die Darstellung zu umständlich ist. Nicht so vollständig sind die profangeschichtlichen Quellen. Dann ist aber das Wort Zillers zu beachten, daß dasjenige, was in der Litteratur gar keinen Niederschlag gefunden hat, auch im historischen Unterricht nicht auftreten soll. Unter die historischen Quellen aber gehören erstens Berichte von Augenzeugen und zweitens historische Gedichte, mit deren Hilfe der darstellende Unterricht ergänzen mag, was ergänzungsbedürftig ist. Beyer. In der angegebenen Beschränkung faßte Ziller den Be­ griff Quelle nicht auf. Er verstand darunter nicht allein schriftliche Darstellungen, sondern alles, was unmittelbar in die Sache hineinver­ setzt. Also wäre beispielsweise aus der neuesten Geschichte auch das Wort eines Lehrers, der selbst an den Feldzügen von 1866 und 1870 mit teilgenommen, als Quelle anzusehen, ferner Denkmäler, Standbilder und deren Inschriften oder sonstige Altertümer; für die Urgeschichte Steine, welche Spuren von Bearbeitung erkennen lassen; ferner Volks­ lieder , wie z. B. das Lied von Prinz Eugen. Faßt man die Quellen in diesem Umfange, dann wird man nie um eine Quelle in Verlegen­ heit kommen. Dr. Gopfert. In ihrem Zusammenhänge mit dem Lehrplansystem möchte ich in bezug auf diese Frage Folgendes hinzufügen. Die aus­ zuwählenden Stoffe müssen der jeweiligen Apperzeptionsstufe des Kin­ des angepaßt sein. Wer nun annehmen möchte, es gebe keine Lek­ türe, welche dem kindlichen Verständnis nahe läge, der würde die Idee der kulturhistorischen Stufen, welche ja Apperzeptionsstufen ankündigen, verkennen. Es ist freilich möglich, daß auf Anregung des kulturhisto­ rischen Stoffes ein Gedicht zur Behandlung im Geschichtsunterricht sich empfiehlt, das zwar durchaus den Geist der Zeit atmet, in die wir das Kind hineinversetzen wollen, aber wegen seiner Darstellungsweise dem kindlichen Horizont ferne liegt und darum, so klassisch auch im Übrigen die Darstellung sein mag, dessen Verwertung für den historischen Unterricht ausgeschlossen wäre. Es entsteht also die Frage, welche von den vorliegenden Stoffen ausgewählt werden sollen, die zugleich der entsprechenden Apperzeptionsstufe angepaßt seien. Wenn der Nachweis geliefert wird, daß solche Stoffe sich nicht finden, müßte ein anderer Ausweg gesucht werden. Angenommen, es eigne sich ein Stoff (ich denke an das Nibelungenlied) in der Form, in der er gegeben ist, nicht für den Unterricht, so müßte er mit feinem Takte und päda­ gogischem Verständnis in einer anderen Form dem Kinde näher ge­ bracht werden. Wäre auch dieser Ausweg verschlossen, dann müßte der Dörpfeldsche Weg eingeschlagen werden. Rolle. In unseren kirchlichen Einrichtungen ist die Gepflogenheit,

23 zuerst die Quelle ins Auge zu fassen, eine einheimische. Die evan­ gelische Kirche verpflichtet den Geistlichen auf die Schrift ; er soll die alte Wahrheit predigen, und die muß er zuerst vortragen. Es wird also zuerst die Quelle dargeboten, und dann das sittlich-religiöse Gefühl geweckt; nicht aber soll umgekehrt der Geistliche seine subjektiven Erfahrungen zum Besten geben und durch einen Schriftsteller belegen. Das sind öffentliche ehrwürdige Einrichtungen, die sich bewährt haben und an die Ziller vielleicht auch gedacht hat, wenn er sagt, daß wir nicht versäumen sollen, den Zögling in der Kunst zu üben, daß er aus den Quellen schöpfen lerne. Vorsitzender. Vielleicht gibt Dörpfeld manche von den ge­ machten Bemerkungen zu, ohne deshalb die Möglichkeit einer lebhaften und vollständigen Vergegenwärtigung durch die Lektüre zuzugeben. Jene Vergegenwärtigung, welche seine Stufe der „Anschauung" ver­ mittelt, wäre eben auf die Erzählung des Lesens angewiesen. Dr. Thrändorf. Eine vollkommene Anschauung wollte auch Ziller vermitteln, aber nicht plötzlich, sondern allmählich. Der Zögling sollte zuerst den Stoff durchdringen und zu klarer Anschauung ge­ langen, und auf diesem Grunde sollten die sittlich religiösen Gefühle ruhen. Dörpfeld erreicht den Gefühlseindruck schneller, aber ich fürchte, daß derselbe ein flüchtiger sein werde; denn abhängig von der Darstellungskunst des Lehrers wird er mit dem Eindrücke des darstellenden Lehrers auch wieder verschwinden, während die durch Zillers Methode erzeugten Gefühle, welche an dem Vorstellungsinhalt des Stoffes haften, dauernd sein werden. Dr. Just. Für mich ist der Gesichtspunkt maßgebend, daß der Geschichtsunterricht als ein idealer Umgang mit den großen Gestalten der Vorzeit aufgefaßt werden muß. In diesen Umgang würde sich der Lehrer mit seiner Erzählung störend dazwischen schieben, wenn das Dörpfeldsche Verfahren richtig wäre. Pickel. Daß der Lehrer das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Wagschale lege; wer möchte das nicht wünschen? Es fragt sich nur: an welcher Stelle? Gewiß nicht am Anfang der Synthese, wenn wir das Interesse allmählich und nicht jählings entstehen lassen wollen. Grabs. Ich kann das letztere aus meiner Erfahrung bestätigen. Bemüht, einen tiefen Eindruck in sittlich-religiöser Beziehung bei dem Zögling hervorzubringen, habe ich zuerst Jahre lang an der Hand des Dörpfeldschen Enchiridions in der einfachen Landschule gearbeitet und gesehen, daß die Kinder zwar bei der ersten ausführlichen Darlegung sich lebhaft vertieften, daß aber bei der nachfolgenden Einprägung das Interesse erlahmte und schließlich Abspannung eintrat. Seit sechs Jahren habe ich das Zillersche Verfahren geprüft und praktisch ver­ sucht, und habe gefunden, daß ein nachhaltigerer Eindruck in den Kindern zurückblieb. Dr. Gopfert. Bei dem Gewicht, welches der Persönlichkeit des Lehrers zugeschrieben wird, dürfte es gut sein, zu einem Hartmannschen Wort eine Ergänzung hinzuzufügen: man kann außer vom Durch­ schnittsschüler auch vom Durchschnittslehrer sprechen und die Erinne­ rung an den letzteren wird davor bewahren, die Lehrerpersönlichkeit zu überschätzen. Trebst scheint sie allerdings zu überschätzen, wenn er glaubt, der Vortrag des Lehrers sei leichter aufzufassen als die Lektüre, — es müßte denn sein, daß er in seinem Kreise eine ganze

24 Anzahl von Lehrern von Gottes Gnaden habe, deren Wirksamkeit die Verwirklichung der rechten Methode darstellt. Im Allgemeinen aber wird man fragen müssen: welche Gewähr gibt es, daß die von der Persönlichkeit des Lehrers erhoffte Wirksamkeit immer, d. h. auch dann, wenn der Lehrer ein Durchschnittslehrer ist, erfolg- und segensreich sei? Diese Gewähr bietet die Anordnung Zillers, welche das Interesse an dem Stoffe zu entzünden und in gemeinsamer Arbeit zwischen Lehrer und Zögling eine wachsende Vertiefung herbeizuführen sucht. Vorsitzender. Bei dieser Frage nach dem Einflüsse des ge­ sprochenen Wortes des Lehrers auf die Weckung von Gefühlen im Gegensatze zu dem Einflüsse, welchen die Lektüre ausübt, handelt es sich zunächst nicht etwa um eine Wirkung bloßer Empfindungen des Gehörs und Gefühls ohne Reproduktionen. Denn bei dem Wort des Lehrers sowohl als bei der Lektüre ist die Reproduktion (und Apper­ zeption) die Hauptthätigkeit des Zöglings. (Auf bloße Empfindungen bezieht sich der Satz Dörpfelds: es sei nicht abzusehen, warum der Gesichtssinn selbstthätiger sein solle als der Gehörssinn, während Volkmann, I, 256. 264 im Gegenteil sagt, dem Sehen hafte ein Zug der Aktivität an, dem Hören ein Zug der Passivität, daher man bei dem Blinden Passivität beobachte). Sondern es handelt sich bei dieser Frage darum, ob die Gefühle dauerhafter sein werden, wenn der Ge­ dankeninhalt, aus welchem sie hervorgehen, auch gelesen oder nur vom Lehrer besprochen wird. Da nun das Denken seine eigenen ihm im­ manenten Gesetze hat und ein Unterschied zu machen ist zwischen Gefühlen, welche integrierende Bestandteile des Gedachten sind oder welche das Denken in sich schließt und Gefühlen, welche das Denken mit sich führt (Volkmann II. 226); da ferner die innige Verknüpfung der Gefühle mit der Qualität des Gedachten eine längere Vertiefung in den Inhalt desselben voraussetzt; da endlich die mündliche Rede wegen der erhöhten Stärke, mit der sie auf Kinder wirkt (Volkmann I. 265) und sie auch in Affekt versetzen kann (denn das Gehör ist der Sinn des Schreckens), — schneller Gefühle erzeugt und der längeren Vertiefung nicht bedarf, so wird sie wenigstens nicht die regelmäßige Quelle der Gefühle bilden dürfen, wenn anders die letzteren nachhaltig und nicht eine momentane Erregung bedeuten sollen. Möglich, ja that­ sächlich ist freilich der Fall auch, daß die Ergriffenheit eines Zuhörers nachhaltige Folgen habe: aber dann ist immer noch die Frage, ob dies ohne eine längere Vertiefung erklärbar sei. (Uber den Unterschied und die Entwickelung der Extensitätsgrade des Interesse, welche Ziller, und die Intensitätsgrade, welche Dörpfeld in erster Linie im Sinne hat, erlaube ich mir auf Jahrb. XII. 135—137 zu verweisen). Für die Lektüre auf der Stufe der Synthese traten auch die im Herbartkränzchen zu Rorschach versammelten Männer ein. Der Gewinn ist größer, sagt G. Wiget in dem mir übersandten Bericht über jene Verhandlungen, wenn z. B. ein Abschnitt über Goethes Leben von Lewes gelesen, als wenn er vorgetragen wird. Wer vermöchte auch wie Lewes lebendig darzustellen? Zuträglicher ist es den Schülern, wenn ich diese Abschnitte lese und wieder lese, als wenn ich es ihnen einmal vortrage. Zwar werden es wenige Züge sein, die ich Ihnen mitteile, aber sie stammen aus einer Fülle. Und wenn die Schüler dann, wie zu hoffen, zu solchen Büchern greifen, um sie zu lesen, so ist solche Lust wahrlich erwünscht. Freilich sollen die Darstellungen

25 nicht knapp sein, sondern sie sollen epische Breite haben. Dies wird auch für den Lehrer die Folge haben, daß er mehr aus der Tiefe schöpfe, die ethischen Urteile genauer prüfe und die Vertiefung des Zöglings besser besorge, als wenn er seine Sache auf einen kurzen Text stelle und schablonenhaft zu verfahren sich gewöhne. In der Geschichte ists freilich schwieriger, den Unterricht auf breite Be­ arbeitungen zu stützen, nicht auf skizzenartige Leitfäden, aber un­ möglich ists nicht, ihn auf zeitgenössische Zeugnisse und Urkunden, auf Quellen und Darstellungen ersten Ranges aufzubauen. Geschichte ist, wie Prof. Hilty in Bern sagt, eine Komposition, nicht eine fer­ tige Photographie. Aber an Mitteln, innere Bilder zu erzeugen und in anderen zu erwecken, fehlt es oft, — Mittel, wie Thierrys merowingische Geschichten oder Cromwells Briefe und Reden, welche einen unvergänglichen Eindruck hinterlassen und ein positives Bild der da­ maligen Zeit vor Augen stellen. Eine Geschiehtstunde, in der solche Quellenbücher gelesen würden, würde einen dauernderen Erfolg haben als Bücher und Geschichtsstunden, in welchen die Hauptsache die Mitteilung von Resultaten ist. Zeitgenössische Darstellungen und Urkunden haben auch eine merkwürdige überzeugende Kraft und haften unauslöschlich in der Erinnerung. Das Bewußtsein der That­ sache, daß so etwas, wie Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, von der die Schüler gehört und gelesen haben, wirklich ge­ schehen sei, wirkt eben überzeugend und unauslöschlich. Allerdings sind nicht alle Urkunden Geschichte und es ist nicht immer so leicht, vorhandene Urkunden richtig zu beurteilen oder aus ihrer Nicht­ existenz über gewisse Dinge die richtigen Schlüsse zu ziehen. Für den größeren Teil der Schweizergeschichte bestehen aber diese Schwierig­ keiten nicht. (Vgl. Bündner Seminarblätter II. S. 74 f.). Zum zweiten, auf die Einprägung des dargebotenen Stoffes be­ züglichen Erörterungspunktes spricht zuerst Dr. Just. Wenn ich diesen zweiten Punkt im Zusammenhänge mit dem ersten betrachte, so ist das Lehrverfahren Dörpfelds ziemlich einfach. Es besteht im Geschichtsunterricht in der Vorerzählung des Lehrers und in der darauf folgenden Klarlegung und Einprägung. Bei Ziller und seinen Anhängern folgt, unter konsequenterer Festhal­ tung psychologischer Gesetze, auf das Lesen in der Mittel- und Oberklasse das anschauliche Hineinversetzen des Zöglings in die thatsäch­ lichen Verhältnisse durch eine an das Lesen sich anschließende Unterredung. Dazu kommt die Vertiefung in die ethisch - religiösen Verhältnisse mit Hilfe der sog. Konzentrationsfragen. Hierauf wird auf dem Wege eines geregelten Abstraktionsprozesses die allgemeine Lehre gebildet, und endlich folgen noch methodische Übungen, durch welche der Zögling zur freien Herrschaft über den Stoff geführt werden soll. Meines Erachtens kann nun Dörpfeld auf die Erzählung gar nicht verzichten; der Unterricht würde zu dürftig sein, wenn die ethisch­ religiöse Würdigung, worauf er so großes Gewicht legt, fehlte. Ziller sorgt durch einen besonderen Akt für diese Würdigung, und zwar in der Weise, daß die Schüler selbst angehalten werden, das sittliche Urteil zu fällen, während Dörpfeld, entgegen der Forderung, daß der Unterricht die Selbstthätigkeit wecke, jene Würdigung zugleich mit der Erzählung gibt. Sein Verfahren läßt sich meines Erachtens aus der Bedrängnis der Praxis heraus erklären; denn es fehlt uns im

26 profangeschichtlichen Unterricht an den rechten Lehrbüchern und an psychologisch geschulten Lehrern, denen man ein so kunstvolles Ver­ fahren, wie Ziller es fordert, zumuten könnte; aber es läßt sich nicht theoretisch rechtfertigen. Was den zweiten Erörterungspunkt insbesondere betrifft, so möchte ich einen Vorwurf Dörpfelds ablehnen, der sich immer und immer bei ihm wiederholt, daß es nämlich bei Ziller und seinen Anhängern an der rechten Sorge für das Einprägen fehle. ! Der Unterschied ist näm­ lich der, daß Dörpfeld fortwährend die willkürliche oder absichtliche Repetition, die auf die Dauer wie ein geistiger Druck auf dem Zög­ ling lastet, Ziller dagegen die immanente Repetition, d. i. diejenige, die durch den Fortschritt des Unterrichts gefordert wird, anwendet. Für letztere haben wir auf jeder Stufe der methodischen Behandlung Raum und Veranlassung: so bei der Analyse durch Anknüpfung an das Alte, auf der zweiten und dritten Stufe durch Zusammen- und Aneinanderstellung, auf der vierten durch Bildung der Begriffe, bei welchen man zurückgreifen muß auf schon früher Erarbeitetes, endlich auf der fünften durch Übungen, die sich nicht blos auf das jetzt ge­ wonnene, sondern auch auf frühere Systeme beziehen sollen. Daß wir übrigens auch die willkürliche Repetition nicht vergessen, beweist schon die Einrichtung und Verwendung des Ausgabenbuches, worauf auch Ziller im Seminarbuch (Jahrb. VI. 253 f.) und Hartung in der Abhandlung über das Üben (8. Jahrb.) hingewiesen haben. Aus dem Seminarbuch geht hervor, daß wir weder das judiziöse, noch das mechanische Memorieren versäumen, daß beide notwendig zusammen­ gehören und daß man ohne Schaden weder auf das eine, noch auf das andere verzichten kann. Ufer. So einfach, wie Dr. Just das Verfahren Dörpfelds dar­ gestellt hat, ist es nicht. Es wäre auch auffallend, wenn ein Mann, der gründlich zu verfahren gewohnt ist, im Geschichtsunterricht sich darauf beschränken sollte, daß er erläuternd vorerzähle und dann für das nötige Einprägen sorgte. Ich kann aus meinem persönlichen Ver­ kehr mit Dörpfeld behaupten, daß das Gegenteil der Fall ist. Dörpfeld thut alles, was die Zillerianer auch thun; nur war es mir zweifelhaft, ob er auf die Stufe der Vorbereitung dasselbe Gewicht lege, wie Ziller. Daß die Anhänger des letzteren darum psychologisch konsequenter seien als Dörpfeld, darüber wage ich mich nicht zu äußern. Ganz undienlich wird es jedenfalls nicht sein, wenn ich daran erinnere, daß es auch ein psychologischer Grund ist, welcher Dörpfeld zum Vor­ erzählen historischer Stoffe führte. Er sagte sich nämlich aus der Bedrängnis der Praxis heraus: Wir haben zunächst auf die Apper­ zeptionsfähigkeit des Schülers zu achten, und da ist es ganz zweck­ mäßig, wenn wir Einschiebsel und Fragen stellen, denn dadurch ist dem kindlichen Gedankenkreise viel näher zu kommen. Auch kann das Interesse des Kindes ebenso angeregt werden, wenn man die bei­ den Akte der zweiten Stufe (Lesen und Unterredung) verbindet. Es soll damit nicht gesagt sein, daß das immer unbedingt notwendig sei, aber unter zehn Fällen wird cs vielleicht achtmal nötig sein, daß wir den Lehrstoff auch dem Prinzip der Anschauung gemäß dem Kinde vorführen. Denn ebenso wie wir bei einem Naturobjekt, also bei einem Objekt der äußeren Anschauung, uns nicht begnügen zu sagen: hier ist eine Pflanze, betrachte sie! — sondern Fragen und erläuternde

27 Bemerkungen hinzufügen, so werden wir auch bei einem historischen Gegenstände, welcher nur vor das geistige Auge hingestellt werden kann, durch Fragen und Erläuterungen die Apperzeption in den Gang bringen. Vorsitzender. Indem Sie sich auf persönliche Erfahrungen, die Sie im Umgang mit Dörpfeld gewonnen, berufen, gehen Sie über das uns Vorliegende hinaus. Auch bildet die Apperzeption keinen Er­ örterungspunkt des Dörpfeldschen Buches. Dr. Just. Ich habe mich zunächst an die gedruckten Vorlagen Reins und Dörpfelds gehalten, habe aber auch aus Ufers Darlegung nicht entnommen, daß Dörpfeld noch etwas anderes hinzugefügt habe, außer Erzählung und Einprägung. Denn alle einzelnen Operationen, die angeführt werden, dienen dem Einprägen, und daß durch die Er­ zählung zugleich die ethisch - religiöse Auffassung dem Schüler/ mit gegeben werden soll, geht aus den auch von Rein angeführten Worten Dörpfelds hervor: „An der Vorerzählung muß sich zeigen, ob der Lehrer es versteht, in die volle Anschauung der Geschichte einzu­ führen und ferner wird die Erzählung „offenbar machen, ob die biblische Geschichte im Gemüte des Lehrers lebt und er dadurch aus­ gerüstet ist, sie auch dem Herzen und Gewissen der Kinder nahe zu bringen." (S. 5). Diese ethisch - religiöse Vertiefung und Veranschau­ lichung der thatsächlichen Verhältnisse fallt bei Dörpfeld in den einen Akt der Erzählung zusammen, während wir beide trennen und in dem auf anschaulichem Grunde ruhenden und aus ihm selbständig ent­ wickelten sittlichen Urteile den Hauptpunkt des gesamten Geschichts­ unterrichts erblicken, während wir bei Dörpfeld jene selbständige Ent­ wickelung vermissen. Dir. Rein. Die Einführung in den tieferen Gedankeninhalt, welche ich bei der Abfassung der Abhandlung durch einen leerstehenden Raum bezeichnete, weil sie in der That eine Lücke in der Dörpfeldschen Methodik darstellt, — schiebt sich nach dem Enchiridion in die Er­ läuterungen hinein. Es ist da von verschiedenen Fragen, wie Abwickelungs-, Konzentrations-, Kernfragen die Rede, aber jene reinliche Sonderung fehlt, daß zuerst das Thatsächliche festgestellt und sodann die Schüler auf Grund klar angeschauter Thatsachen in den tieferen Gedankengehalt eingeführt werden. Ein zweiter sehr wichtiger Differenzpunkt ist die Totalauffassung, welche Dörpfeld rundweg bestreitet, ohne freilich eine Motivierung anzugeben. Wir fordern sie aus dem Grunde, um zu erfahren, wo ein Bedürfnis für Erklärungen vorhanden ist; bei Dörpfeld ist die Erklärung, und zwar in den Erläuterungen der Erzählung, in die Hand des Lehrers gelegt und wird vielfach auch dann vorkommen, wenn kein Bedürfnis vorliegt. Dies ist auch nicht anders möglich, wiebald die Anregung nur vom Lehrer ausgeht. Lassen wir dagegen eine Totalauffassung geben, so tritt eine Erklärung nirgends anders und nur soweit ein, als die Auffassung des Schülers eine unklare Stelle zeigt. Nun kann nicht blos das Bedürfnis, diese Unklarheit zu beseitigen, sondern auch das Interesse für die Besprechung und Gefühl des Fortschreitens in dem Bewußtsein des Kindes sich entwickeln, — ein Gefühl, welches in der erweiterten Totalauffassung und in der Auffassung des tieferen Gedankengehalts an Lebendigkeit zunimmt. — Endlich möchte ich noch bemerken, daß das Memorieren bei Dörpfeld

28 trotzalledem im Vordergrund zu stehen scheint, da nicht blos das Gedächtnis dem Denken, sondern auch umgekehrt das Denken dem Gedächtnis dienen soll (S. 86). Schulinsp. Trebst macht, obwohl ihm die feine psychologische Ausmeißelung in der methodischen Behandlung anerkennenswert er­ scheint, doch in Ansehung der Wiederholung überhaupt geltend, daß das positive Wissen doch auch gepflegt werden müsse und daß wir die Kinder für das praktische Leben vorzubereiten haben, verwahrt sich jedoch gegen eine Bemerkung des Vorsitzenden, als ob deshalb der Wert der Methode von äußeren Leistungen abhänge. Vorsitzender. In bezug auf die Totalauffassung schreibt Hr. Wiget, daß, wenn man es unterlasse,1 sie von den Schülern zu ver­ langen, man leicht Gefahr laufe, dem Schüler seine eigene Form der Reproduktion des Gelesenen und Gehörten aufzudrängen, besonders wenn man gleich nach dem Vorerzählen die logische Disposition her­ ausarbeite. Ehe der Schüler die Überschrift angeben könne, müsse er den Inhalt der Hauptsache nach erfaßt haben; nur dann erweise sich die Überschrift in der Folge als eine Reproduktionshilfe. Er habe auch schon, um schneller vorwärts zu kommen, die rohe Totalauffassung übersprungen, aber stets zum Nachteil; was er an Zeit zu gewinnen glaubte, habe er bei der Einprägung wieder zulegen müssen.1 Ein endgiltiges Urteil, wie gesagt, über Dörpfelds methodische Bestrebungen zu fällen, ist darum nicht möglich, weil alle Gründe pro und contra erst in einer zweiten Monographie zur Sprache kommen sollen; ich kann daher auch nur vermutungsweise sagen, daß die Totalauffassung von Dörpfeld darum zurückgewiesen wird, weil sie eine mechanische Memorierübung sei; denn diese ists ja, welche nach ihm durch die „starke Betonung des zusammenhängenden Wiedergebens der biblischen Geschichte“ (Denken u. Ged. S. 145) und durch die „Abweisung des judiziösabfragenden Zergliederns“ (a. a. 0. S. 148) in Anspruch genommen wird. Was sich in der vorliegenden Schrift, deren Verdienstlichkeit übrigens, zumal im Hinblicke auf die S. 133 ins Licht gestellte Prüfungsforderung und im Hinblicke auf unbegrün­ dete staatliche Anforderungen über allem Zweifel steht, als Grund der Differenz klar erkennen läßt, ist nicht ein anderer ethischer Gedanken­ gang, den Dörpfeld etwa eingeschlagen — denn auch er betont die Gesinnungsbildung und den selbständigen Wert der intellektuellen Bildung (S. 134. 135) —, sondern ein anderer psychologischer Gedanken­ gang, auf welchem seine methodischen Maßregeln ruhen. Dörpfeld folgt, wenn man nur die Gründe der in Frage kommenden Differenzen ins Auge faßt, also von sinnlichen Wahrnehmungen u. a. absieht, den Weisungen der Lehre von der Reproduktion; Ziller nicht blos der Lehre von der Reproduktion, worauf z. B. der Satz hinweist, die mechanischen Gedächtnißübungen sollen niemals das Erste sein (Allg. Päd. 2. A. S. 390), sondern auch, ja vornehmlich der Lehre von der Apperzeption, d. h. nicht ausschließlich der Wechselwirkung ein­ zelner von außen stammender Vorstellungen, sondern vorzugsweise der Wirksamkeit erworbener innerer oder psychischer Totalkräfte, möchten dieselben auch, wie die Töne der Tonleiter, in Apperzeptionspunkten bestehen (Volkmann, Psych. II. S. 321). 1 Das Folgende ist Zusatz.

29 Daher Dörpfeld die formalen Operationen des Lehrverfahrens ab­ getrennt vom Lehrplan, welcher wiederum für sich ein abgetrenntes Stück der Erörterung bildet, betrachtet (vgl. Denken u. Ged. S. 171. 166), während Ziller bei Erörterung der Formalstufen auf den Lehr­ plan sich bezieht und diese Beziehung eine Beziehung auf die Apper­ zeptionsstufen des Zöglings bedeutet. Daher bei dem analytischen Unterricht, welcher „Vorbereitung“ genannt wird (a. a. 0. S. 104) nur an eine judiziöse Verknüpfung verwandter Vorstellungen, also an einen Reproduktionsakt gedacht wird, während bei Ziller es sich um eine Vergleichung des neuen Gegenstandes mit seinen älteren Gedanken­ massen handelt, damit die Apperzeption des Neuen sicher und rasch vor sich gehen kann (Allg. Päd. S. 265). Daher bei dem immanenten Memorieren an ein „so gut wie ganz" judiziöses Verknüpfen gedacht wird (Denken u. Ged. 8. 164), nicht an synchronistische Gedanken­ bewegungen (Zillers Allg. Päd. 8. 316) innerhalb bestimmter Kulturund Apperzeptionsstufen (a. a. 0. 8. 218). Daher endlich die Total­ auffassung als eine wahrscheinlich blos mechanische Gedächtnisübung verworfen wirdj obwohl das Kind in der Art, wie es eine Sache auf­ gefaßt hat, zeigt, wie es sie apperzipiert hat, demnach von jenem Geistesakt Kunde gibt, welcher im Vergleich mit der Reproduktion eine Selbstthätigkeit zweiter Potenz ist. Diese ausschließliche Beachtung der Reproduktion ist auch im psychologischen Teile konstatierbar. Denn nach Dörpfeld ist das Ge­ setz des Denkens (daß es auf Verschmelzung gleichartiger Vorstellungen ruhe) zugleich eines der beiden, und zwar diesfalls die unmittelbare Reproduktion ankündigenden Gesetze des Gedächtnisses (8. 86), wäh­ rend das analytische Urteil sich auf die Apperzeption zurückführen läßt (Volkm. Ps. II. 8. 256), das synthetische Urteil aber, welches doch auch ein Denkakt ist, wiederum nicht das Gesetz der Gleichartigkeit, sondern nur erkennen läßt, daß der Gegensatz des analytischen und synthetischen Urteils für die Psychologie auf den Gegensatz der un­ mittelbaren zur mittelbaren Reproduktion zurückweist (Volkm. Ps. II. 8. 254). Auch Dörpfeld spricht in bezug auf das bejahende Urteil von Merkmalen, die mit älteren Vorstellungen nur „verträglich" sind (8. 84), also wie bei Wahrnehmungen, die wir machen, nicht notwendig gleich­ artig sein müssen, ohne jedoch später (8. 85) zu sagen: das Grund­ gesetz des Urteilens und der Begriffsbildung beruhe auf dem Ver­ schmelzen gleichartiger und verträglicher, obwohl nicht gleichartiger Elemente zweier Vorstellungen, sondern nur: jenes Grundgesetz beruhe auf dem Verschmelzen gleichartiger Vorstellungen. Auf den hindern­ den oder doch schwächenden Einfluß, welchen die Verbindung un­ gleichartiger Vorstellungen in der mittelbaren Reproduktion nach Dörpfeld auf das Denken ausübt, scheint die Meinung von Einfluß gewesen zu sein, daß auch die Gesamtvorstellung eines Gegenstandes (8. 117), also die Komplexe disparater Merkmale, die wir Dinge nen­ nen, eine mechanische, also „zufällige" und „subjektive" Verknüpfung sind (8. 112), während die psychische Verbindung ebenso notwendig ist wie die ihr vorausgesetzte reale; und ferner die Meinung, daß das Vorstellen auch disparater gleichzeitiger Elemente durch ein gleichsam apriorisch vorhandenes Maß der Vorstellungskraft der Seele begrenzt sei und zur Verdunkelung geführt werde, — eine Kraft, welche sich als „Enge des Bewußtseins" manifestiere (8. 53. 58) und auch zu Ratichs

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Forderung des „stücklichen“ Behandelns der Unterrichtsmaterien führe (S. 110), während die Enge des Bewußtseins gar keine Kraft, d. h. kein realer Grund ist, sondern ein psychisches Phänomen, d. h. eine Wir­ kung der Gegensatz- und Stärkegrade der Vorstellungen. 4. Friedrich, der Philoktet des Sophokles im erziehenden Unterricht.

Vorsitzender. Friedrich hat zu der Analyse und Darstellung der Charaktere des Philoktet, welche er im vorigen Jahre gegeben, in dem vorliegenden Jahrbuche die religionsphilosophischen Betrachtungen hinzugefügt, zu denen der Philoktet führt. Beide Abhandlungen be­ ziehen sich auf die erste der von Friedrich im Eingänge aufgestellten Frage: ob der Philoktet gelesen werden solle? nicht auf die zweite: wann er zu lesen sei? Da nun beide Fragen auch in ihrem Zusammen­ hänge behandelt werden können und vom Standpunkte des Lehrplan­ systems eine zusammenhängende Behandlung beider Fragen sich em­ pfiehlt, so möchte ich in der Meinung, daß die Beantwortung der zweiten Frage eine Beantwortung der ersten in sich schließt, mir die Frage erlauben, ob nicht die Frage der Stellung des Philoktet im Lehrplansystem zum Gegenstände unserer Diskussion gemacht wer­ den solle ? Dir. Frick. Ich würde Vorschlägen, die Debatte an die ganze vorliegende Arbeit zu knüpfen. Vorsitzender. Ich wollte nicht die Möglichkeit leugnen, daß die erste Frage eine gesonderte Behandlung zuläßt; ich glaube nur, daß dann auch die Berufung auf die ganz subjektive Meinung, der Philoktet sei eine interessante Lektüre, oder auf zu allgemeine Sätze, z. B. jene Lektüre empfehle sich aus ethischen Gründen, möglich sei. Solche Instanzen wären ausgeschlossen, wenn auf die Idee der Kultur­ stufen als die objektive Grundlage für die Betrachtung beider Fragen Rücksicht genommen würde. Dir. Frick. Ich glaube, daß man, ohne diesen Standpunkt zum Ausgangspunkt zu machen, mit Rücksicht auf die Vereinigung des Praktischen mit dem Theoretischen einen anderen Weg einschlagen kann, ohne deshalb der verwerflichen Instanz zu huldigen, es empfehle sich eine Lektüre, weil sie interessant sei. Der Begriff der kultur­ historischen Stufen ist in unseren höheren Schulen kaum bekannt und innerhalb der Herbartschen Schule noch nicht so weit durchgebildet, daß eine in den Gymnasien anwendbare deutliche Feststellung zu er­ kennen wäre. Darum kann man auch einen anderen Weg einschlagen und von dem Kardinalpunkt der Friedrichschen Abhandlung aus in der Weise in das Zentrum der Theorie des Lehrplans für höhere Schulen vorzudringen suchen, daß man mit Friedrich sagt: wir müssen zufrieden sein, von irgend einem Gesichtspunkt aus die Lösung der sehr schwierigen Theorie des Lehrplans für die höheren Schulen wenig­ stens anzufangen, in der Hoffnung, es werde sich ein Kristallisations­ prozeß entwickeln. Darum möchte ich auch, ohne den kulturhistorischen Gesichtspunkt zu verwerfen, von diesem, sowie von anderen Gesichts­ punkten aus, aber mit Rücksicht auf die Praxis der Gymnasien, den Weg zur Theorie des Lehrplans einschlagen.

31 Vorsitzender. Contraria Inter se elucescunt; es ist also erwünscht, daß auch der entgegengesetzte Standpunkt geltend gemacht werde. Dir. Frick. Dann erkläre ich zunächst, daß ich die Arbeit mit großer Freude gelesen habe. Der Verfasser hat uns darin den auf den höheren Schulen im Ganzen noch unbekannten Weg gezeigt, wie eine Tragödie zur Fundgrube für praktische Psychologie werden könne. Die Arbeit ist aber auch eine Bereicherung vom Standpunkte der Aus­ legung aus, und wenn ich auch bei einzelnen Punkten das Gefühl hatte, daß der Sache hier und da ein wenig Gewalt angethan worden sei, so hat doch durch Friedrichs Abhandlung das Verständnis des Philoktet nach allen Seiten hin gewonnen. Um zunächst Einzelnes hervorzuheben, so ist der Satz: „Wenn auch in Sophokles die Idee der Ergebung in das von den Göttern verhängte Leiden sich noch nicht findet, — wie nahe kommt nicht der Philoktet!“ (S. 203) thatsächlich nicht richtig, denn es findet sich in Sophokles jene Ergebung in den göttlichen Willen. So wird in der Antigone Kreon, der den Tod wünscht, auf alle Weise darauf hingewiesen, er solle aufhören zu wünschen und sich vielmehr dem Willen der Götter ergeben und weiter leben, und in diesem Hinweis liegt der eigentlich versöhnende Schluß der Antigone. Ebenso wenn in Ajax die Göttin Athene den Helden beständig begleitet und ihm eine Prüfung auferlegt, damit er vor dem Selbstmord geschützt und ihm eine andere Lösung gezeigt werden könne, so ist diese von An­ fang bis zu Ende offenbar werdende Gnade der Gottheit auch eine Erinnerung an die Ergebung in den göttlichen Willen, und ich finde, daß auch im Philoktet die Hingabe an den göttlichen Willen gepredigt werde. Die Sache hängt übrigens mit der Auffassung des Tragischen zusammen, welche mir in dieser Abhandlung nicht tief genug zu sein scheint. Der Verfasser kommt auf die Aristotelische, nicht ganz voll erfaßte Bedeutung zurück, auf die Weckung von Mitleid und Furcht. Das Tragische ist, wie ich glaube, etwas tiefer zu fassen. Es ist nach meiner Auffassung die höchste Form des Erhabenen, die sich da zeigt, wenn auch der idealste menschliche Wille, mit Schuld behaftet, zu Falle kommt, wenn sein Untergang dem Sturze einer Lawine gleich sich vollzieht und über dem allem die göttliche Gerechtigkeit oder die Erhabenheit des göttlichen Willens in die Erscheinung tritt. Dieser, nicht auf theoretischem Wege, sondern aus dem vorhandenen griechi­ schen und sonstigen Tragödien gewonnene Begriff des Tragischen bildet den ersten Differenzpunkt zwischen meiner und Friedrichs Auf­ fassung. Der zweite bezieht sich auf die Erscheinung des Herakles. In dem früheren Aufsatze wurde gesagt, diese Erscheinung sei als eine Art von Vision aufzufassen. Etwas Richtiges ist nun zwar darin ent­ halten, sofern ein Dichter, wie Sophokles, nicht einen deus ex machina einführen wird, der nicht zugleich sein Gegenbild hat in den psychi­ schen Zuständen dessen, dem die Erscheinung gilt. Aber in dem zweiten Teile des Aufsatzes — und das bezeichnet einen Fortschritt — wird neben dem Momente des Visionären, eine nicht ganz glücklich gewählte Bezeichnung, auch die göttliche Führung hervorgehoben, worin der innere Vorgang und die übernatürliche Einwirkung koinzidieren. Was nun die große Frage betrifft, welche Stellung der Philoktet im Lehrplan habe, so zerfällt sie mit Rücksicht auf die Praxis in zwei:

32 welche Stellung soll der Philoktet in der Reihe der Sophokleischen Dramen einnehmen, welche heutzutage gelesen werden, und zweitens: welche Stellung kommt ihm zu in dem ganzen Komplex der Lektüre? Bezüglich der ersten Frage ist für mich kein Zweifel, daß, wenn der Schüler zu einem Verständnis des Begriffs des Tragischen kommen soll, in geordneter Stufenfolge zuerst Philoktet, dann Antigone und zuletzt Ajas gelesen werden müsse, da wir mehr als drei Tragödien nicht werden bewältigen können. Das Verständnis des Tragischen aber ist vom Standpunkt des erziehenden Unterrichts, der die Kräfti­ gung des sittlichen Willens zur Aufgabe hat, zu fordern, da das Tra­ gische die höchste Erscheinungsform der Erhabenheit des Willens ist, somit die Lektüre der Tragödie dem Zweck des erziehenden Unter­ richts entgegenkommt. Der Philoktet nun ist die beste Vorschule für das Verständnis des Tragischen: hier erscheint die Erhabenheit auf der einen Seite in der Energie und dem Trotz des Philoktet, auf der an­ deren Seite in der energischen Intelligenz des Odysseus und dem an­ geborenen Seelenadel des Neoptolemos, allen dreien aber gegenüber, deren Handeln mit einer gewissen Verwirrung endet, in der notwendig hereintretenden Regung des göttlichen Willens. Aber eine so hohe Ausgestaltung des Tragischen, wie in der Antigone, in welcher ein großer Konflikt mit dem Untergange der Handelnden endet, kommt im Philoktet nicht zum Ausdruck, da ja Herakles als Mittler zwischen Zeus und Philoktet auftritt, freilich nicht visionär, was weder der Anschauung des Altertums, noch der des Sophokles entsprechen würde, sondern realistisch, d. h. als Spiegelbild der inneren Zustände. In der Antigone handelt es sich nicht mehr blos um den Willen einer ein­ zelnen Person, sondern um einen Konflikt zwischen göttlichem und menschlichem Recht. Darin liegt eine Steigerung der Form der Er­ habenheit. Statt um Personen handelt es sich um Prinzipien. Die höchste Form aber kommt in Ajas zur Darstellung, in welchem die siegende Erhabenheit des göttlichen Willens in solcher Klarheit, wie in keinem der voraufgehenden Dramen sich offenbart. Auf diese Weise wäre die Stellung des Philoktet in der Reihe der Sophokleischen Dramen bestimmt, und ich komme nun zu der Frage, welche Stellung der Philoktet zu der sonstigen Lektüre habe? Wenn Bildung des sittlichen Charakters das letzte Ziel des erziehenden Unter­ richts ist und ich mich frage, wie diesem Ziele gemäß die Lektüre auf der höchsten Stufe des Gymnasiums, in der Prima, einzurichten sei, so hat sich nach meinen Erfahrungen und meinem allerdings nur vor­ läufigen Nachdenken ergeben, daß man eigentlich nichts Besseres thun könne, als eine Skala von gewissen sittlichen Grundbegriffen, welche Bestandteile des sittlich vollendeten Charakters sind, zur Richtschnur zu machen. Solche Begriffe sind: Freiheit im Volksleben, Freiheit im Einzelleben, Treue, Ehre, Glaube. Das ist schon eine gewisse Skala von Begriffen, welche insgesamt auf den Begriff der ytvvouteiis hin­ weisen, d. h. des angeborenen und durch Lebenserfahrungen und Prü­ fungen des Schicksals gereiften Seelenadels. Diese Begriffe mache ich zum Ausgangspunkt und richte die Lektüre darnach ein. So sind Herodot, Ilias, Thukydides, die Perikleische Leichenrede, welche ein Bild von einer vollendeten Demokratie gibt, und Demosthenes Quellen für den Begriff der Freiheit im Volksleben; für die sittliche Freiheit ist typisch Lessings Phiiotas, Platons Apologie und Phädon; der Begriff

33 der Treue ist in jeder Dichtung zu finden, ebenso der der Ehre. Dabei hat man zur Herstellung einer Skala an die Frage sich zu halten: welchen genetischen Prozeß macht der junge Mensch in sich selbst durch und wie kann ich diesem Entwickelungsprozeß durch die Auswahl der Stoffe entgegenkommen. Eine solche Skala der Lektüre stellt Sophokles Philoktet, Platons Phädon und Goethes Iphigenie dar; denn im Philoktet erscheint die eines ideal gerichteten Jüng­ lings, im Phädon das Bild des Sokrates, der zu der Erkenntnis ge­ langt ist, daß die Naturwissenschaften den Menschen nicht ganz be­ friedigen, und daß es noch höhere Wissenschaften gebe, im Parcival den Entwickelungsgang eines Mannes, der aus der Naivität zum Zweifel gelangt, um nach ernstlichem Suchen des Heils bis zum Finden sich hindurchzuringen, endlich in der Iphigenie ein innerer Kampf, der mit dem Siege der Wahrheit endet und durch Anrufung göttlicher Hilfe den einzigen Weg der Lösung glücklich zu finden weiß. Dies sind zwar nur einzelne Gesichtspunkte, die einer weiteren Ausgestaltung bedürfen, aber man sieht die Verbindungsfäden zwischen den Stoffen, d. h. diejenigen Begriffe, welche bald in dem einen, bald in dem anderen Autor präponderieren. Wenn nun eine solche Aus­ wahl der Stoffe auf der obersten Stufe durchgearbeitet wird, die der Entwickelungsgeschichte des Schülers entgegenkommt und dem kultur­ historischen Moment auch einigermaßen gerecht wird, so daß die ver­ schiedenen Seiten des vollendeten Charakterbildes in ihren Gedanken durchleben, — dann meine ich doch auch ein do? nov orct gefunden zu haben, welches über die bei Aufstellung eines Kanons gebrauchte wohlfeile Instanz: dies ist interessant! hinweghebt. Vorsitzender. Mit diesem 56^ nov