Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart. Neue Folge (German Edition) 9783161544729, 3161544722

Das Schwerpunktthema des Bandes 64 (2016) betrifft das Verhaltnis von Amt und Person: Wie werden Amter durch Individuen

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German Pages 837 [844] Year 2016

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Jahrbuch Des Offentlichen Rechts Der Gegenwart. Neue Folge (German Edition)
 9783161544729, 3161544722

Table of contents :
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Titel
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunktthema: Amt und Person
Klaus Ferdinand Gärditz: Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen
Albert Ingold: Das „Amt“ der Abgeordneten. Zum Nutzen eines Relationsbegriffs im Spannungsfeld von Mandat und Person
Sophie Lenski: Die Frau hinter der Person hinter dem Amt. Die First Lady zwischen Geschlechterrollen, monarchischem Erbe und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private
Oliver Lepsius: La Cour, c’est moi. Zur Personalisierung der (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit im Vergleich Deutschland – England – USA
Julian Krüper: Charisma der Aufklärung. Amt, Person und Institution am Beispiel von Joachim Gauck als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde
Jan Muszyński: Die polnische Bürgerrechtsbeauftragte. Wie das Amt seine Bedeutung erhielt
Andreas Thier: Charisma, Sakramentalität und Amtskirche. Person, Institution und Amt in der Geschichte des kanonischen Rechts
Anette Baumann: Die Reichsvizekanzler im 16. Jahrhundert – eine erste Annäherung
Aufsätze und Abhandlungen
Uwe Volkmann: Was ist Recht? Und andere Fragen, die Juristen bis heute in Verlegenheit setzen
Bernd Rüthers: Rechtsdogmatik als Schranke des Richterrechts?
Margrit Seckelmann: Polyzentrismus im deutschen Kaiserreich? Das Verhältnis zwischen Reichs- und Landesverwaltung unter der Verfassung von 1871
Everhard Holtmann: Dehnungen der Gewaltenteilung. Politische Grenzüberschreitungen im modernen Staat. Überlegungen aus Sicht der politikwissenschaftlichen Institutionenlehre
Christoph Gusy, Johannes Eichenhofer und Laura Schulte: e-privacy. Von der Digitalisierung der Kommunikation zur Digitalisierung der Privatsphäre
Johannes Saurer: Rechtsvergleichende Betrachtungen zur Energiewende
Brun-Otto Bryde: Warum Verfassungsvergleichung?
Debatte: Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts?
Andreas Musil: Steuerrecht und Verfassungsrecht
Ulrich Palm: Das Steuerverfassungsrecht als dogmatisches Referenzgebiet des allgemeinen Verfassungsrechts
Simon Kempny: Steuerverfassungsrechtliche Sonderdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung. Betrachtet anhand der Beispiele der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und des Gebots der Folgerichtigkeit
Markus Heintzen: Das Steuerrecht zwischen Autarkie und Vernetzung
Joachim Wieland: Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts?
Wolfgang Schön: Grundrechtsschutz gegen den demokratischen Steuerstaat. Das Steuerverfassungsrecht zwischen Staatsrechtslehre und public economics
Michael Droege: Der Beitrag des Steuerrechts und der Fortschritt der Verfassung
Paul Kirchhof: Das Steuerrecht als Verfassungsproblem
Porträts und Erinnerungen
Bernhard Müllenbach: Walter Simons und das Reichsgericht. Aspekte zu einer Richterbiographie zwischen Politik und Justiz
Helmut Goerlich: Die deutsche „Staatsrechtslehre“, ihre „Festschrift“ und ihre Zukunft
Ignacio Gutiérrez Gutiérrez: Zur Entstehung, Rezeption und Fortgeltung von Konrad Hesses Verfassungslehre
Ulrich Becker: Hans F. Zacher und die rechtliche Ordnung des Sozialen
Michael Stolleis: Hans F. Zacher und die Begründung des Sozialrechts
Stephan Rixen: Staatsrecht des Sozialen: Hans F. Zachers wissenschaftliches Lebensthema. Eine Würdigung anhand der Diskussionsbeiträge auf den Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung
Hans D. Jarass: Mein wissenschaftliches Leben – Wichtige Personen und Institutionen
Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum
Ulrich Karpen: Relationship between the Constitutional Court and Ordinary Courts in Kosovo. An Outside Perspective
Şükrü Uslucan: Ursachen und Probleme ethnokratischer Staats- und Bürgerschaftsmodelle – am Beispiel der Levante
Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum
I. Amerika
Nora Markard: Unausweichliche Gleichheit. Obergefell und die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
II. Asien
Toru Mori: Die Rolle von Verfassungsrecht – bei Rawls, Habermas und in Japan
Hiroshi Nishihara: Zwischen Staatsabhängigkeit und Repräsentationsdefizit. Warum akzeptieren viele Japaner die anti-freiheitliche Verfassungsreform der LDP?

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DA S ÖF F EN T LICH E R ECHT DE R GEGEN WA RT

JAHRBUCH DES ÖFFENTLICHEN RECHTS DER GEGENWART NEUE FOLGE / BAND 64

herausgegeben von

Susanne Baer, Oliver Lepsius, Christoph Schönberger, Christian Waldhoff und Christian Walter

Mohr Siebeck

Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer, LL.M., Humboldt Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Oliver Lepsius, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth Prof. Dr. Christoph Schönberger, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Vergleichende Staatslehre und Verfassungsgeschichte, D-78457 Konstanz Prof. Dr. Christian Waldhoff, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin Prof. Dr. Christian Walter, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht, Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München

ISBN 978-3-16-154472-9 / eISBN 978-3-16-159059-7 ISSN 0075–2517 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt schriftlich und unter dem Vorbehalt, dass das Manuskript nicht anderweitig zur Veröffentlichung angeboten wurde. Mit der Annahme zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag das ausschließende Verlagsrecht. Das Verlagsrecht endet mit dem Ablauf der gesetzlichen Urheberschutzfrist. Der Autor behält das Recht, ein Jahr nach der Veröffentlichung einem anderen Verlag eine einfache Abdruckgenehmigung zu erteilen. Bestandteil des Verlagsrechts ist das Recht, den Beitrag fotomechanisch zu vervielfältigen und zu verbreiten und das Recht, die Daten des Beitrags zu speichern und auf Datenträger oder im Online-Verfahren zu verbreiten. Dieses Jahrbuch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua belichtet, auf alterungsbeständiges Papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema: Amt und Person Klaus Ferdinand Gärditz: Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Albert Ingold: Das „Amt“ der Abgeordneten. Zum Nutzen eines Relationsbegriffs im Spannungsfeld von Mandat und Person . . . . . . . . . . . . . 43 Sophie Lenski: Die Frau hinter der Person hinter dem Amt. Die First Lady zwischen Geschlechterrollen, monarchischem Erbe und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Oliver Lepsius: La Cour, c’est moi. Zur Personalisierung der (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit im Vergleich Deutschland – England – USA . . . . . . . . . . . . . 123 Julian Krüper: Charisma der Auf klärung. Amt, Person und Institution am Beispiel von Joachim Gauck als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde . . . . . 183 Jan Muszyn´ski: Die polnische Bürgerrechtsbeauftragte. Wie das Amt seine Bedeutung erhielt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Andreas Thier: Charisma, Sakramentalität und Amtskirche. Person, Institution und Amt in der Geschichte des kanonischen Rechts . . . . . . . . . . . 243 Anette Baumann: Die Reichsvizekanzler im 16. Jahrhundert – eine erste Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Aufsätze und Abhandlungen Uwe Volkmann: Was ist Recht? Und andere Fragen, die Juristen bis heute in Verlegenheit setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Bernd Rüthers: Rechtsdogmatik als Schranke des Richterrechts? . . . . . . . . . . 309

IV

Inhaltsverzeichnis

Margrit Seckelmann: Polyzentrismus im deutschen Kaiserreich? Das Verhältnis zwischen Reichs- und Landesverwaltung unter der Verfassung von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Everhard Holtmann: Dehnungen der Gewaltenteilung. Politische Grenzüberschreitungen im modernen Staat. Überlegungen aus Sicht der politikwissenschaftlichen Institutionenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Christoph Gusy, Johannes Eichenhofer und Laura Schulte: e-privacy. Von der Digitalisierung der Kommunikation zur Digitalisierung der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Johannes Saurer: Rechtsvergleichende Betrachtungen zur Energiewende . . . . . 411 Brun-Otto Bryde: Warum Verfassungsvergleichung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Debatte: Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts? Andreas Musil: Steuerrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Ulrich Palm: Das Steuerverfassungsrecht als dogmatisches Referenzgebiet des allgemeinen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Simon Kempny: Steuerverfassungsrechtliche Sonderdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung. Betrachtet anhand der Beispiele der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und des Gebots der Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Markus Heintzen: Das Steuerrecht zwischen Autarkie und Vernetzung . . . . . . 493 Joachim Wieland: Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts? . 505 Wolfgang Schön: Grundrechtsschutz gegen den demokratischen Steuerstaat. Das Steuerverfassungsrecht zwischen Staatsrechtslehre und public economics . . . 515 Michael Droege: Der Beitrag des Steuerrechts und der Fortschritt der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 Paul Kirchhof: Das Steuerrecht als Verfassungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

Porträts und Erinnerungen Bernhard Müllenbach: Walter Simons und das Reichsgericht. Aspekte zu einer Richterbiographie zwischen Politik und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . 567

Inhaltsverzeichnis

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Helmut Goerlich: Die deutsche „Staatsrechtslehre“, ihre „Festschrift“ und ihre Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Ignacio Gutiérrez Gutiérrez: Zur Entstehung, Rezeption und Fortgeltung von Konrad Hesses Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Ulrich Becker: Hans F. Zacher und die rechtliche Ordnung des Sozialen . . . . . 663 Michael Stolleis: Hans F. Zacher und die Begründung des Sozialrechts . . . . . 673 Stephan Rixen: Staatsrecht des Sozialen: Hans F. Zachers wissenschaftliches Lebensthema. Eine Würdigung anhand der Diskussionsbeiträge auf den Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Hans D. Jarass: Mein wissenschaftliches Leben – Wichtige Personen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum Ulrich Karpen: Relationship between the Constitutional Court and Ordinary Courts in Kosovo. An Outside Perspective . . . . . . . . . . . . . . . 705 S¸ükrü Uslucan: Ursachen und Probleme ethnokratischer Staats- und Bürgerschaftsmodelle – am Beispiel der Levante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika Nora Markard: Unausweichliche Gleichheit. Obergefell und die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767

II. Asien Toru Mori: Die Rolle von Verfassungsrecht – bei Rawls, Habermas und in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Hiroshi Nishihara: Zwischen Staatsabhängigkeit und Repräsentationsdefizit. Warum akzeptieren viele Japaner die anti-freiheitliche Verfassungsreform der LDP? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815

Schwerpunktthema: Amt und Person

Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen von

Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz, Universität Bonn Inhalt I. Amtsprinzip und politische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Die Bedeutung des Amtsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 a) Sicherung einer freiheitlichen Herrschaftsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 b) Gemeinwohl durch formale Gesetzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Die Auffächerung des Amtsprinzips in der Gewaltengliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 a) Keine Neutralisierung von Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 b) Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 c) Gubernative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 d) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Instrumente der Sicherung des Amtsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Kollegialität und Pluralismus als Stabilisatoren des Amtsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Inkompatibilitäten und Berufsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Regulierung der Annahme von Vorteilen und Korruptionsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 a) Ausklammerung von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Reformbestrebungen: Korruptionsstrafrecht für Abgeordnete? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 4. Verhaltensregelungen für Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Das geltende Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Bewertung im Lichte der Freiheit des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 5. Amtseide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 6. Sicherung des Amtsprinzips durch Begrenzung der nachamtlichen Tätigkeit? . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Resümee: Amtsprinzip zwischen rechtsstaatlicher Sicherung der Rechtsbindung und demokratischem Voluntarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

I.  Amtsprinzip und politische Verantwortung Das Amtsprinzip ist als tragender Pfeiler institutionalisierter moderner Herrschaft ebenso unbestritten wie in seiner konkreten Bedeutung undeutlich geblieben. Es bündelt nicht nur bestimmte rechtliche Regeln der Amtsausübung, sondern bringt

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Klaus Ferdinand Gärditz

auch Erwartungen an ein bestimmtes Amtsethos zum Ausdruck,1 die nicht durchweg rechtsnormativ abgesichert sind. Mit der Verpflichtung auf das Gemeinwohl, die Proprium des Amtsprinzips sein soll,2 wird zudem auf ein Abstraktum verwiesen, das in einem demokratischen Rechtsstaat mit offen-pluralistischen Verfahren der Recht­ setzung weder stabile noch vorrechtliche Koordinate sein kann3. Geläufige Verknüpfungen mit dem Republikprinzip4 sind eher schillernd geblieben,5 was vor allem daran liegt, dass der normative Regelungsgehalt des Republikprinzips – als Speicher für Verfassungstraditionen, die nicht von Demokratie und Rechtsstaat absorbiert wurden6 – bislang für praktische staatsrechtliche Fragen gleichermaßen bedeutungslos wie konturenlos geblieben ist.7 Verschiebt man den Fokus zudem von dem das Leitbild für das Amtsprinzip bildenden Berufsbeamtentum hin zu den mit politischen Funktionen betrauten Verfassungsorganen, verschwimmen die Konturen zusätzlich, weil noch weniger klar ist, auf welches Gemeinwohl diejenigen qua Amtlichkeit verpflichtet werden sollen, deren Auftrag gerade funktionsspezifisch in der politischen Gemeinwohlerzeugung besteht. Bürokratische Amtlichkeit tritt hier in Konkurrenz zur Politizität. Auch dies ist freilich weniger ein kategorial-grundlegendes Problem, wenn man die Eigenanteile der Rechtsanwender an der Rechtserzeugung ernst nimmt,8 als ein funktionelles, weil eben der Grad der Determination durch höherrangiges Recht und damit komplementär der Grad der politischen Gestaltungsfreiheit innerhalb der Staatsorganisation sehr unterschiedlich ausfällt. Die Stellung als Verfassungsorgan des Bundes bezeichnet wiederum einen bestimmten Zurechnungsmodus, nämlich die unmittelbare Zurechnung von Amtshandlungen zur Bundesrepublik Deutschland als Zurechnungsendsubjekt, beruhend auf Kompetenzen, die dem jeweiligen Organ verfassungsunmittelbar zugewiesen sind und das Verhältnis zu den anderen Verfassungsorganen bestimmen.9 Dahinter   Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt: Vordemokratische Fundamente des Verfassungsstaates, 2013, S.  66, 114, 139 f. 2   Michael Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, S.  493 ff.; Otto Depenheuer, Das öffentliche Amt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, 3.  Aufl. (2005), §  36 Rn.  6 ; Joachim Detjen, Die Werteordnung des Grundgesetzes, 2009, S.  153; Birgit Enzmann, Der demokratische Verfassungsstaat: Zwischen Legitimationskonflikt und Deutungsoffenheit, 2009, S.  297. 3   Dieter Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2.  Aufl. (1994), S.  159 f.; Uwe Volkmann, in: Karl Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Stand: 2015, Art.  20 (Demokratieprinzip) Art.  20 Rn.  28. 4   Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  4 ; Isensee (Fn.  1), S.  66 f., 142; Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S.  272; Karl Albrecht Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 2006, S.  310; Karsten Nowrot, Das Republikprinzip in der Rechtsordnungengemeinschaft, 2014, S.  4 03 ff.; eingehend, aber funktionsbezogen auf Berufsbeamte begrenzt Ralph Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009. 5   Anderheiden (Fn.  2 ), S.  501. 6   Josef Isensee, Republik – Sinnpotential eines Begriffs, JZ 1981, S.  1 (8). Stark materialisierend Hans-Detlef Horn, Demokratie, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungs­ theorie, 2010, §  22 Rn.  24. 7   Jüngster Versuch einer Nachkonturierung Nowrot (Fn.  4 ), S.  89 ff., 179 ff. 8   In jüngerer Zeit mit Recht wieder betont Horst Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S.  537 (539); Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein … – Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, 2006, S.  33; Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, in: Der Staat 52 (2013), S.  157 (177 ff.). 9   Siehe im Einzelnen mit Hinweisen auf die einfachgesetzliche Begriffsverwendung (z.B. in §  31 1

Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen

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stehen sehr unterschiedliche Funktionen, die als Konsequenz der Gewaltengliederung verschiedene Grade der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts abbilden,10 hierdurch aber zugleich auch auf unterschiedliche Mechaniken der Legitimationsgenerierung verweisen,11 was nicht ohne Folgen für die adäquate Bestimmung und Sicherung von Amtspflichten bleiben kann. Als Verfassungsorgane, deren Mitglieder Adressaten von Amtspflichten sind, kommen hiernach in Betracht: Deutscher Bundestag, Bundesregierung, Bundespräsident, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht12.

1.  Die Bedeutung des Amtsprinzips Amtlichkeit erfüllt eine formale Vertretungsfunktion, weil Ämter den Staat erst handlungsfähig machen.13 Insoweit ist das Amt also eine Organisationseinheit14 und Zurechnungskategorie15: Das Handeln des Amtswalters16 wird dem Staat qua Stellvertretung zugerechnet und damit überhaupt erst öffentliche Funktionserfüllung. Das Amtsprinzip knüpft wiederum unmittelbar an die – moderne, institutionell differenzierte und bürokratisierte Herrschaft erst ermöglichende – Entpersonalisierungsfunktion des Amtes17 an. Das Amt abstrahiert nämlich von der Person, der ein Amt übertragen wird;18 es ist organisationsrechtliche Hülle, die zwar durch eine konkrete Person ausgefüllt werden muss, um praktisch operabel zu sein, aber nicht Abs.  1 BVerfGG, §§  9 0b, 105 ff. StGB, §  3 Abs.  1 Nr.  1 BVerfSchG) Klaus Joachim Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S.  134 ff. Vgl. auch Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.  Aufl. (Neudruck) 1921, S.  544. 10   Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S.  230, 233 ff. 11  Eingehend Christoph Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S.  4 0 ff. 12   Zu dessen anfänglich umkämpfter Stellung als Verfassungsorgan siehe §  1 Abs.  1 BVerfGG; §  9 0b StGB; Christian Burkiczak, in: ders./Franz-Wilhelm Dollinger/Frank Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, §  1 Rn.  49 ff.; Christian Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozeß, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S.  1 (4 ff.). 13   Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  1. 14   Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  14 f.; Steffen Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13.  Aufl. (2015), Rn.  205; Thomas Groß, Die Verwaltungsorganisation als Teil organisierter Staatlichkeit, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2.  Aufl. (2012), §  13 Rn.  85; Josef Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2.  Aufl. (1994), §  32 Rn.  16. 15   Rainer Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, S.  72. 16   Zum Begriff Groß (Fn.  14), §  13 Rn.  85; Wahl (Fn.  15), S.  78 f., 258 f. 17  Allgemein Chris Thornhill, A Sociology of Constitutions: Constitutional and State Legitimacy in Historical-Sociological Perspective, 2011, S.  120 f.; Andreas Voßkuhle, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/ Eberhard Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2.  Aufl. (2013), §  43 Rn.  2 f. Zu der hintergründigen Vorbildfunktion der kirchlichen Ämterordnung für den modernen Staat siehe Harold J. Berman, Recht und Revolution, 2.  Aufl. (1991), S.  327 ff.; Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung, JZ 2002, S.  1 (2 ff.); Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 2.  Aufl. (2000), S.  285 ff. 18  Siehe Friedrich E. Schnapp, Zu Dogmatik und Funktion des staatlichen Organisationsrechts, Rechtstheorie 9 (1978), S.  275 (281); Robert Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S.  47 ff.; Hans J. Wolff, Organschaft und juristische Person, Bd. II, 1934, S.  236.

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Klaus Ferdinand Gärditz

im Amtswalter aufgeht. Das amtliche Handeln wird insoweit von den handelnden Personen abgelöst, die Person „wird vertretbar und ersetzbar“19. Diese erhebliche Abstraktionsleistung des Amtes macht es erst möglich, aber auch nötig, persönliche Interessen von Amtswaltern und amtlichem Auftrag zu scheiden. „Wer ein Amt in der staatlichen Organisation innehat, muß zwischen amtlichem und privatem Handeln trennen und die unterschiedlichen Bedingungen beider Sphären anerkennen“.20 Zurechnung qua Amtlichkeit folgt also keinem bedingungslosen Automatismus, sondern kontextbezogen nach spezifischen Rollenfunktionen, an die dann wiederum normative Verhaltenserwartungen anknüpfen. Sichern Grundrechte vor allem individuelle Freiheit zur Beliebigkeit,21 fungiert das Amtsprinzip kontrastierend hierzu als Verpflichtung, sich individueller Willkür zu enthalten.22 Gefährdungen des Amtsprinzips entstehen, wenn individuelle Interessen und Gemeinwohlbelange nicht getrennt werden,23 also der Amtswalter als ‚Mensch‘ nach Eigennutzen agiert24. Das Kernproblem, das das Amtsprinzip bewältigen soll, ist das Risiko einer Konfu­ sion von zur amtlichen Wahrnehmung übertragenen Kompetenzen einerseits und privaten Freiheitsinteressen andererseits, also der Amtsmissbrauch.25

a)  Sicherung einer freiheitlichen Herrschaftsstruktur Amtlichkeit gründet zwar auf vorverfassungsrechtlichen Besitzständen,26 deren Übertragung auf demokratische Organisationsstrukturen keineswegs von Anfang an selbstverständlich war.27 Der Amtsgedanke als solcher ist – als Sicherungsmechanismus einer uneigennützigen Umsetzung eines verbindlichen Mandats – staatsformneutral 28. Von der Überhöhung des Berufsbeamtentums – einer schlichten Rechtstechnik, Staatsfunktionen praktisch zu organisieren 29 – zum Eidolon einer

  Josef Isensee, Salus publica – suprema lex?, 2006, S.  61. Zur Substituierbarkeit auch Franz-Xaver Kaufmann, Steuerung wohlfahrtstaatlicher Abläufe durch Recht, in: Dieter Grimm/Werner Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S.  65 (84); Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlich-rechtlichen Sonderbindung, 1982, S.  237. 20   Thomas Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S.  253 f. Vgl. in diesem Sinne auch Isensee (Fn.  19), S.  15: Selbstlosigkeit des Amtes. 21   So die Funktion der Abwehrgrundrechte Hans Hugo Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1974, S.  10. Zum dahinter stehenden (egalitären) Freiheitsverständnis Wolfgang Kahl, Die Schutz­ ergänzungsfunktion von Art.  2 Abs.  1 Grundgesetz, 2000, S.  34 ff. 22   Andreas Musil, Wettbewerb in der staatlichen Verwaltung, 2005, S.  439. 23   Musil (Fn.  22), S.  393. 24   Anderheiden (Fn.  2 ), S.  494 f. 25  Vgl. Nowrot (Fn.  4 ), S.  4 04 ff. 26  Eingehend Isensee (Fn.  1), S.  104 ff. 27  Vgl. Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S.  143. 28   So für das Berufsbeamtentum Hans Gerber, Entwicklung und Reform des Beamtenrechts, VVDStRL 7 (1932), S.  2 (4). Vgl. auch für die Übertragbarkeit des Amtsprinzips auf überstaatliche Verbände Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  3. 29   Adolf Merkl, Entwicklung und Reform des Beamtenrechts, VVDStRL 7 (1931), S.  55 (72). 19

Das Amtsprinzip und seine Sicherung bei Verfassungsorganen

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apokryphen ‚Staatsidee‘30 befreit,31 erbringt Amtlichkeit aber gerade in einem demokratischen Rechtsstaat spezifische Leistungen, die freiheitlichen Basisstrukturen von Herrschaft zu sichern. Ein Amt wird im demokratischen Rechtsstaat nur durch ein Legitimationssubjekt – als Bezugsgröße jedweder Herrschaft – in dessen Interesse anvertraut (vgl. auch Art.  38 Abs.  1 Satz  2 Halbs. 1 GG), nicht zur eigennützigen Verwendung verliehen.32 Amtlichkeit wird daher entlang des Legitimationsbedarfs staatlicher Herrschaft ausgeformt: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Art.  20 Abs.  2 Satz  1 GG), legitimiert sich also nur durch einen formalen demokratischen Ableitungszusammenhang,33 der auf das Volk verweist, nicht auf die Person, die Herrschaft ausübt. Repräsentativ-demokratische Verfassungen sind daher immer Ämterordnungen.34 Macht wird auf ein rechtlich definiertes Mandat beschränkt, das in Verantwortung gegenüber dem Volk auszuüben ist.35 Demokratische Herrschaft wird vor allem über Rechtsetzung ausgeübt. Rechtsstaatlich sichert das Amtsprinzip insoweit die allgemeine Rechtsbindung (Art.  20 Abs.  3 GG),36 und zwar vor allem gegen die Risiken einer Fehlanwendung auf Grund eigennütziger Motive der Rechtsanwender. Durch die Sicherung der Rechtlichkeit qua Amtlichkeit wird zugleich die praktische Wirksamkeit demokratischer Recht­ setzung unterstützt,37 nämlich gegen Inanspruchnahme durch gruppenspezifische Sonderinteressen vorbei an der demokratischen Legitimationsmechanik geschützt. Amtlichkeit ist damit letztlich eine Praktik demokratischer Gleichheitssicherung. Damit nimmt das Amtsprinzip einen realistischen Standpunkt ein, indem es die  Etwa Carl Heyland, Das Berufsbeamtentum im neuen demokratischen Staat, 1949, S.  29 ff.; Arnold Köttgen, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staat der Gegenwart, in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S.  1 (6, 8), mit larmoyanter Verlustbeschreibung, wonach diese Repräsentation der Staatsidee den Abgeordneten abhandengekommen sei, weil sich zwischen diese und das Volk die Parteien „geschoben“ hätten (S.  8 ); Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S.  253 ff. 31  Zutreffend Wilhelm Grewe, Inwieweit lässt Art.  33 Abs.  5 des Grundgesetzes eine Reform des Beamtenrechts zu?, 39. Deutscher Juristentag (1950), D 3 (8); Gerd Sturm, Die Inkompatibilität, 1967, S.  64 f. 32  Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Josef Isensee/Paul Kirchhhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, 3.  Aufl. (2005), §  34 Rn.  30; Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  71; Isensee (Fn.  19), S.  60; Werner von Simson, Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes, VVDStRL 29 (1971), S.  4 (33). 33   BVerfGE 93, 37 (67); 119, 331 (366); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3.  Aufl. (2004), §  24 Rn.  14 ff. 34   Hubertus Buchstein, Politikwissenschaft und Demokratie, 1992, S.  104; ähnlich Joachim Detjen, Gemeinwohl, Repräsentation, Gewaltenteilung – Kernkonzepte des demokratischen Verfassungsstaates und ihre Verankerung im politischen Bewusstsein, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hrsg.), Demokratiebewusstsein, 2007, S.  101 (109); Dirk Tänzler, Repräsentation als Performanz: Die symbolisch-rituellen Ursprünge des Politischen im Leviathan des Thomas Hobbes, in: Jan Andres/Alexa Geisthövel/Matthias Schwengelbeck, Die Sinnlichkeit der Macht: Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, 2005, S.  19 (41). Aus diesem Grund wurde das Amt vereinzelt sogar als Schlüsselbegriff der repräsentativen Demokratie qualifiziert: Wilhelm Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: FG Rudolf Smend, 1962, S.  51 (55, 60, 65); im Anschluss Peter Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit: Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, 1988, S.  58. 35   Enzmann (Fn.  2 ), S.  297. 36   Schachtschneider (Fn.  4 ), S.  310; ferner Detjen (Fn.  2 ), S.  153. Entsprechend für die Unparteilichkeit Michael Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, S.  47 ff., 143 ff. 37   Isensee (Fn.  1), S.  142 f. 30

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Fehlbarkeit der Menschen einkalkuliert 38 und Risiken durch konkrete Regeln, die einer gemeinwohlschädlichen Privatisierung von Herrschaft entgegenwirken, eindämmt. Zugleich ist das Amtsprinzip in seiner repräsentativ-distanzierenden ­Zurechnungsfunktion eine Konsequenz der Nichtidentität von Regierenden und ­Regierten39:40 Amtlichkeit begründet eine Verantwortung, die – als Funktion von Repräsentation – auf einen hypothetischen ‚Volkswillen‘ gänzlich verzichten kann,41 also die eigenständige Willensbildung in den hierfür legitimierten Organen fokussiert.42 Hierin liegt im Übrigen auch ein substantieller Unterschied zur direkten ­Demokratie, deren anders institutionalisierte Gemeinwohlfindung auch dadurch gekennzeichnet ist, dass Amtspflichten der Abstimmenden fehlen, was – bedingt durch die damit einhergehende voluntative Unmittelbarkeit und Volatilität des Distanz­ losen – eigene Freiheitsrisiken begründet.43 Gemeinwohlfindung ist in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft auch kein Proprium staatlicher Institutionen.44 Auch die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit ist Teil eines umfassenden Gemeinwohlkonzepts,45 das die Einzelnen und ihre Selbstbestimmung als Ausgangspunkt der Rechtsordnung nimmt (Art.  1 Abs.  1 GG). Die nicht determinierte – im positiven Sinne: willkürliche46 – Wahrnehmung von Freiheitsrechten ist ein Eigenwert, ein konstitutionalisiertes Gemeinwohl, das in sich selbst ruht und nicht von (wie auch immer zu bemessenden) praktischen Erträgen abhängt. Auch summierte Individualinteressen können ein adäquates Interesse der Allgemeinheit konstituieren bzw. sich mit anderweitig generierten Gemeinwohlbelangen decken.47 Von privater – freiheitsrechtlicher – Willkür soll amtliche Tätigkeit indes gerade freigehalten werden. Die Gemeinwohlformel, auf die das Amtsprinzip verweist, ist damit letztlich eine Frage der rechtlichen Kompetenzabgrenzung.48   Vgl. auch Anderheiden (Fn.  2 ), S.  495.   Hierzu allgemein etwa Christoph Gusy, Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S.  329 (331); Oliver Lepsius, Zwischen Volkssouveränität und Selbstbestimmung, in: Hauke Brunkhorst/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat, 2008, S.  15 (23). 40   Hennis (Fn.  34), S.  65. Hierin liegt auch eine historische Wurzel des freien Mandats, vgl. Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 2015, Art.  38 Rn.  189. 41   Albert Janssen, Die gefährdete Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, 2014, S.  550; unter Berufung auf Peter Graf Kielmansegg, „Die Quadratur des Zirkels“: Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie, in: Ulrich Matz (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 1985, S.  9 (35); ähnlich Detjen (Fn.  2 ), S.  153. 42   Vgl. auch Michael Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S.  63 (67). 43   Diese müssten eigentlich durch eine rationalisierende und balancierende verfassungsgerichtliche Kontrolle ausgeglichen werden, was aber bislang kaum gesichert ist. Vgl. hierzu Bernd Hartmann, Volksgesetzgebung und Grundrechte, 2005; Fabian Wittreck, Direkte Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit, JöR 51 (2005), S.  173 ff. 44   Arno Scherzberg, Verwaltung in der Demokratie - Grund und Grenzen des Öffentlichkeitsgebots, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Deutsch-Türkisches Forum für Staatsrechtslehre I, 2004, S.  97 (106). Entsprechend für den „Gemeinsinn“ Peter Häberle, „Gemeinwohl“ und „Gemeinsinn“ im national-­ verfassungsstaatlichen und europarechtlichen Kontext, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002, S.  99 (110 f.). 45  Vgl. Isensee (Fn.  19), S.  54 f. 46  Vgl. Horst Dreier, Recht und Willkür, in: Christian Starck (Hrsg.), Recht und Willkür, 2012, S.  1 ff. 47   Anderheiden (Fn.  2 ), S.  494. 48  Vgl. Peter Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2.  Aufl. (2006), S.  468; ferner 38 39

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Die Gewaltunterworfenen werden durch die qua Amtsprinzip gesicherte Gesetzlichkeit der Herrschaft gegen Willkür geschützt,49 also vor einer inhaltlichen Privati­ sierung von Hoheitsmacht im Eigeninteresse der Amtswalter.50 Amtlichkeit ist daher zugleich ein notwendiges Korrelat grundrechtlicher Freiheit.51 Verfassungsrechtlich bildet sich dies in der reziproken Verteilung von Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung ab: Die Grundrechtsbindung (Art.  1 Abs.  3 GG) schließt grundsätzlich die Grundrechtsberechtigung aus, weil anderenfalls amtliche Gemeinwohlbindung privatisiert, der Willkür des Amtswalters überantwortet und grundrechtliche Freiheit immanent gefährdet würde.52 Partikularität des Regelungszugriffs ist notwendige Bedingung jeder freiheitlichen Ordnung: Die Verfassung neutralisiert die Amts­ walter nicht, sondern belässt ihnen ‚als Menschen‘ die grundrechtlichen Freiheiten,53 fordert dafür aber die strikte Trennung von Amtlichkeit und Privatem.54

b)  Gemeinwohl durch formale Gesetzlichkeit Aus der Erwartung, ein Amt werde nicht eigennützig im Interesse des Trägers, sondern in Ausrichtung auf Interessen der Allgemeinheit wahrgenommen, erklärt sich der Verweis auf das Gemeinwohl. Das Gemeinwohl fungiert hier zunächst nur als Bündelungsbegriff für öffentliche Interessen, die rechtlich von partikularen, privaten Interessen abzugrenzen sind.55

Dieter Grimm, Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Münkler/Fischer (Fn.  4 4), S.  125 (128); Klaus Ferdinand Gärditz, Grundrechte im Rahmen der Kompetenzordnung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 2011, §  189 Rn.  13; Walther Schmitt Glaeser, Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung, in: Peter Lerche/ ders./Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S.  35 (61). 49   Dieter Fuchs, Modelle der Demokratie: Partizipatorische, Liberale und Elektronische Demokratie, in: André Kaiser/Thomas Zittel (Hrsg.), Demokratietheorie und Demokratieentwicklung, 2004, S.  19 (31); Graf Kielmansegg (Fn.  34), S.  59; Christine Steinhoff, Demokratie und Verfassung an den Grenzen des Wachstums, 1998, S.  124. 50   Gerade eine Vermengung von Amtlichkeit und Wettbewerb werden daher als Gefahr korruptiver Verformung gesehen, vgl. Josef Isensee, Transformation von Macht in Recht – das Amt, ZBR 2004, S.  3 (11); Musil (Fn.  22), S.  394. Ulrich Battis, Hergebrachte Grundsätze versus Ökonomismus: Das deutsche Beamtenrecht in der Modernisierungsfalle?, DÖV 2001, S.  309 (311 ff.), betont die Bedeutung des Amtsprinzips gerade bei stärkerer Ökonomisierung als ethisches Gegengewicht. 51   Isensee (Fn.  19), S.  63; ders. (Fn.  1), S.  155 f. 52  Dies ist die Ratio des traditionellen Konfusionsarguments. Vgl. BVerfGE 15, 256 (262); Peter Michael Huber, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, 6.  Aufl. (2010), Art.  19 Rn.  245; Michael Kloepfer, Verfassungsrecht II: Grundrechte, 2010, §  49 Rn.  57; Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 7.  Aufl. (2014), Art.  19 Rn.  9 0. 53   Sturm (Fn.  31), S.  61. 54   Dies schließt es nicht aus, dass es zu Grenzkonflikten kommt, weil auch ein Amtswalter während der Amtsausübung nicht ‚entmenschlicht‘ wird und Amtspflichten mit latent fortbestehenden grundrechtlichen Freiheitsansprüchen konfligieren können. Vgl. zum Problem stellvertretend Uwe Volkmann, Dimensionen des Kopftuchstreits, Jura 2015, S.  1083 (1085); ferner Isensee (Fn.  1), S.  149 f.; Johannes Rux, Anmerkung, DVBl. 2001, S.  1542 f.; Jürgen Schwabe, Literaturecho, DVBl. 2004, S.  616. 55   Isensee (Fn.  19), S.  14.

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aa)  Kein substantialistisches Gemeinwohl qua Amtsprinzip Das Amtsprinzip lässt sich freilich auch nicht zur Projektionsfläche für diffuse substan­tialistische Gemeinwohlerwartungen überhöhen und damit überlasten. Das Amts­prinzip ist weder exklusive noch eigenständige Quelle eines materialisierten Gemeinwohls; es ist in die Regeln demokratischer Rechtserzeugung – von der ­abstrakt-generellen über die konkret-individuelle Normsetzung bis zum schlichten Vollzug im Verwaltungszwang – mit dienender Funktion zu integrieren. Würde ein – wie auch immer definiertes – Gemeinwohl von der Gesetzlichkeit gelöst, blieben dessen Bezugspunkte undeutlich. Im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat ist Gemeinwohl als zeitlich stets nur vorläufig56 und inhaltlich kontingent gesetzt. Die Verfassung mag materiale Gemeinwohlkonzeptionen festschreiben,57 deren normativer Gehalt dann Gegenstand von Interpretationen ist – und Norminterpretation ist ebenfalls ein (legitimationsbedürftiger) Gemeinwohlbeitrag im Rahmen der Rechtsanwendung.58 Innerhalb dieses offenen konstitutionellen Bezugsrahmens ist Gemeinwohl allerdings nicht vorgegeben, sondern muss fortwährend in Verfahren, die begriffsimmanent ergebnisoffen sind,59 erzeugt werden.60 Im Kern geht es dann um die funktionale Rollenverteilung in den gemeinwohlerzeugenden Verfahren,61 insoweit aber auch um Legitimation und Gewaltengliederung. Maßstabslosigkeit von Gemeinwohl ist insoweit kein Defizit,62 sondern selbst normatives Programm, das innerhalb der Bindungen der Verfassung individuelle wie demokratische Selbstbestimmung ermöglicht – und hierbei nicht zuletzt vor expertokratischen Auguren der Gemeinwohlfindung abschirmt. Begrifflich missverständlich ist es daher, das Resultat von politisch-voluntativen Entscheidungen, die ja gerade ein Gemeinwohl erst generieren sollen, auf ihre Gemeinwohlorientierung zu   Zur Herrschaft auf Zeit siehe BVerfGE 119, 247 (261); Böckenförde (Fn.  33), §  24 Rn.  50; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. II, 2.  Aufl. (2006), Art.  20 (Demokratie) Rn.  79. 57  Vgl. Rolf Grawert, Gemeinwohl, Der Staat 43 (2004), S.  434 (448); Grimm (Fn.  48), S.  127; Fritz Ossenbühl, Umweltschutz und Gemeinwohl in der Rechtsordnung, Verwaltungsrundschau 1983, S.  301 (302); Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2.  Aufl. (2004), S.  152; Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998, S.  4 05; ders. (Fn.  3 ), Art.  20 Rn.  28; problemspezifisch ferner Christian Calliess, Die umweltrechtliche Verbandsklage nach der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes: Tendenzen zu einer „Privatisierung des Gemeinwohls” im Verwaltungsrecht?, NJW 2003, S.  97 (100); politisch-theoretisch Robert A. Dahl, Democracy and its Critics, 1989, S.  306 ff. 58   Für das BVerfG Grimm (Fn.  48), S.  130 f. 59   Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 4.  Aufl. (1997), S.  38 f. 60  Hierzu Horst Dreier, Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille, AöR 113 (1988), S.  450 (457, 460, 466 f.); Christoph Engel, Offene Gemeinwohldefinitionen, Rechtstheorie 32 (2001), S.  23 (25 ff.); Häberle (Fn.  48), S.  60, 208 ff., 499 ff., 709 f., 771; Sebastian Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S.  278 f. Für eine Gegenbewegung, das Gemeinwohl auch rechtlich stärker zu materialisieren, etwa Nowrot (Fn.  4 ), S.  398. 61   Gunnar Folke Schuppert, Gemeinwohl im kooperativen Staat, in: Münkler/Fischer (Fn.  4 4), S.  67 (75, 79, 81 ff.). 62  So aber Nowrot (Fn.  4), S.  398; ferner Bernd J. Hartmann, Eigeninteresse und Gemeinwohl bei Wahlen und Abstimmungen, AöR 124 (2009), S.  1 (14 f.); durch Konstitutionalisierung ethischer ­Werte zu einem materiellen Gemeinwohlprogramm tendenziell auch Udo Di Fabio, in: Morlok/von Alemann/Merten (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, 2008, S.  38 (45), freilich unter Anerkennung der materiellen Wertstiftung der von Parteien katalysierten Volkswillensbildung. 56

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überprüfen; 63 dies setzt dann jedenfalls ein – möglicherweise rational diskutierbares64 – rechtsexogenes Gemeinwohlkonzept als Maßstab voraus, das aber weder rechtliche Bindungen zu erzeugen vermag noch innerhalb einer vollpositiven Rechtsordnung 65 operabel ist. Damit ist Gemeinwohl weder eine dem Recht vorgelagerte oder gar übergeordnete noch eine substanzhaft-materielle Größe, die sich gegen politischdemo­k ratische Entscheidungen ausspielen lässt. Gemeinwohl wird politisch erzeugt und ist parteilich.66 Parteilichkeit ist nicht per se ein Makel; 67 sie wird nur amtsspezifisch in sehr unterschiedlichem Grad zugelassen.

bb)  Schutz der Rechtlichkeit durch Formalisierung Ist das Amtsprinzip insoweit ein Transformationssicherungsmechanismus, der die Rechtsanwendung gegen einen eigennützigen Missbrauch von Macht schützen soll, dient es gerade auch der Sicherung der Formalität des Rechts gegen politische Einflüsse. Demokratische Politik ist unvermeidbar parteilich und darf es auch (funk­ tionsnotwendig) sein, wird aber verbindlich nur in den formalen Bahnen des Rechts. Auch demokratisch legitimierte Organe müssen sich, um ihren demokratischen Gestaltungswillen zu verwirklichen, auf die rechtsstaatlichen Mechanismen der Rechtserzeugung verweisen lassen. In Bezug auf die Politik sichert das Amtsprinzip insoweit, dass das Recht Macht durch Formalisierung begrenzt. „Long live formalism. It is what makes a government a government of laws and not of men“.68

cc)  Schutz der Rechtlichkeit durch Entpolitisierung Hiervon geht auch das BVerfG aus, wenn es den modernen Sinn einer Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art.  33 Abs.  5 GG) als institu­ tionelle Flankierung der Gesetzlichkeit der Verwaltung (Art.  20 Abs.  3 GG) und – in Tradition des Art.  130 Abs.  1 WRV („Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.“) sowie früherer Deutungen69 – als ein rechtsstaatlich balancierender Faktor gegenüber den wechselnden politischen Mehrheiten70 beschreibt, damit 63  Etwa Niels Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S.  31. Elaboriert von der Warte eines substantiell-kommunitären Demokratieverständnisses Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S.  248 ff. 64  Hierfür Jan Henrik Klement, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl, in: Wolfgang Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 2008, S.  99 (104 ff.); ähnlich Engel (Fn.  60), S.  34 ff. 65   Zur Vollpositivität Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 292; ders., Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer/Grabenwarter (Fn.  6 ), §  1 Rn.  82. 66   Michael Stolleis, Parteienstaatlichkeit – Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats?, VVDStRL 44 (1986), S.  7 (24 f.). 67   Zur Parteilichkeit von Verfassungsgebung Christoph Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, VVDStRL 68 (2009), S.  47 (56 f.). 68   Antonin Scalia, A Matter of Interpretation, 1998, S.  25. 69   Vor allem Merkl (Fn.  29), S.  73, 75. 70   BVerfGE 39, 196 (201); 99, 300 (315); 107, 218 (237); 114, 258 (288); 119, 247 (261 f.); Udo Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, 2012, S.  54 ff.; Josef Isensee, Amt in der Republik, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke (Hrsg.), Freistaatlichkeit, 2011, S.  163 (168 ff.); Markus Kenntner, Sinn

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aber zugleich implizit die verfassungsrechtlichen Koordinaten des Amtsprinzips fixiert:71 „Seine Aufgabe kann das Berufsbeamtentum nur erfüllen, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist […]. Nur wenn die innere und äußere Unabhängigkeit gewährleistet ist und Widerspruch nicht das Risiko einer Bedrohung der Lebensgrundlagen des Amtsträgers und seiner Familie in sich birgt, kann realistischerweise erwartet werden, dass ein Beamter auch dann auf rechtsstaatlicher Amtsführung beharrt, wenn sie (partei-)politisch unerwünscht sein sollte. Die hergebrachten Grundsätze und mithin die Institution des deutschen Berufsbeamtentums werden durch Art.  33 Abs.  5 GG demnach nicht um ihrer selbst willen geschützt. Die Verfassungsbestimmung konserviert nicht ‚das Gestrige‘, sondern übernimmt nur die tradierten und funktionswesentlichen Grundstrukturen des Berufsbeamtentums. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes verstanden das Berufsbeamtentum insoweit als ein Instrument zur Sicherung von Rechtsstaat und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Hierfür erschien ihnen ein auf Sachwissen gegründeter, unabhängiger Beamtenapparat unerlässlich“.72

dd)  Funktion und Grenzen des Amtsprinzips zur Gemeinwohlsicherung Damit geht aber die republikanische Gemeinwohlerwartung letztlich weitgehend in der Gesetzlichkeit auf.73 Ein vorläufiges Gemeinwohl wird demokratisch durch formalisierte Rechtsetzung erzeugt, das Amtsprinzip sichert dessen Durchsetzung, indem es die praktische Wirksamkeit der Rechtlichkeit vor einer feindlichen Übernahme durch gesetzlich nicht sanktionierte Sonderinteressen der Amtswalter schützt: Sedes materiae der Gemeinwohlbindung des Amts sind insoweit das Rechtsstaatsprinzip und die in ihm liegenden – für eine Demokratie essentiellen74 – Formalisierungsleistungen75.76 Die Amtlichkeit staatlichen Handelns wird der Transmissionsriemen, der politische Macht in Recht übersetzt.77 Amtlichkeit sichert insoweit vor allem die Unparteilichkeit der Rechtsanwendung.78 Politische Parteilichkeit ist demokratisch unverzichtbar und erwünscht, wird aber, soll sie Verbindlichkeit erlangen, in die Formen des Rechts gezwängt. Amtlichkeit verlangt dann, dass die politischen – insoweit und Zweck des hergebrachten Berufsbeamtentums, DVBl. 2007, S.  1321 (1326 ff.); Herbert Landau/ Martin Steinkühler, Zur Zukunft des Berufsbeamtentums in Deutschland, DVBl. 2007, S.  133 (135); Walter Leisner, Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1971, S.  15 ff. 71   Vgl. auch Emanuel V. Towfigh, Das Parteien-Paradox, 2015, S.  47. 72   BVerfGE 119, 247 (261 f.). 73  Vgl. Depenheuer (Fn.  2 ), §  36 Rn.  3 : „Rechtsstaatlich steht das Amt im Dienste der Gesetze, denen es seine rechtliche Existenz verdankt“. Vgl. auch Graf Kielmansegg (Fn.  34), S.  58 f. 74   Klaus Ferdinand Gärditz, in: Friauf/Höfling (Fn.  3 ), Art.  20 Abs.  3 (Rechtsstaat) Rn.  216; Wilhelm Henke, Demokratie als Rechtsbegriff, Der Staat 25 (1986), S.  157 (163 f.); Christoph Möllers, Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, AöR 132 (2007), S.  493 (503); Schmidt-Aßmann (Fn.  57), S.  45. 75   Zu diesen nur Schmidt-Aßmann (Fn.  57), S.  4 4. 76   Peter Graf Kielmansegg, Demokratische Legitimation, in: Hanno Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 1, 2013, §  59 Rn.  22; Towfigh (Fn.  71), S.  45. 77   Isensee (Fn.  50), S.  3 ff.; im Anschluss Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  2 . 78   Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck 20.  Aufl. (1995), Rn.  196; Merkl (Fn.  29), S.  75, 77; Stolleis (Fn.  66), S.  25.

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nicht neutralen – Entscheidungen im Rahmen der Bindung an das Recht möglichst nicht durch abweichende, parteiliche bzw. private Interessen überlagert werden, die geeignet sein können, die Rechtsbindung zu unterlaufen. Und zugleich wird deutlich, dass sich diese Grundsätze, die überzeugend für die institutionelle Sicherung der Gesetzlichkeit der Verwaltung durch den – bisweilen zum Idealtypus verklärten79 – Berufsbeamten herausgeschält wurden, nicht bruchlos in das Amtsrecht anderer Amtsträger übersetzen lassen, denen politische Funktionen übertragen werden. Damit sind aber zugleich auch Leistungsgrenzen des Amtsprinzips aufgezeigt. Wo keine konkreten rechtlichen Regeln der Sicherung gemeinwohlorientierter Amtlichkeit bestehen, ist das Amtsprinzip als Argument nicht mehr als politische Gemeinwohlrhetorik. Eine Ethik des Gemeinsinns ist rechtlich nicht garantierbar80 und bleibt ebenso folgenlos wie die Beschwörung einer „moralischen oder ethischen Dimension der Verfassung“81, die als Provenienz der Verfassungstheorie hinter der Verfassung liegen mag,82 aber keine präskriptive Funktion hat. Die Ethik des Amtsprinzips mag Vertrauen in die Neutralität und Sachlichkeit von Herrschaft stabilisieren.83 Entscheidend ist aber vor allem, welche Mechanismen das Recht institutionalisiert, Misstrauen zu artikulieren bzw. zu sanktionieren.84 Und ein abstraktes Gemeinwohl als regulative Idee85 mag verfassungstheoretischen Erklärungswert haben, bleibt aber ohne positiv-rechtliche Ausformung innerhalb der Rechtsordnung inoperabel. Das „Ethos des öffentlichen Amtes“ wird daher vorausgesetzt,86 zur rechtlichen Kategorie aber nur im Rahmen konkret normierter Pflichten, also der (demokratischen) Verrechtlichung von Amtsethik87. Die formale Rechtlichkeit der Herrschaftsausübung leistet zwar in einem institutionell ausdifferenzierten Rechtsstaat ein hohes Maß an Rationalität, Berechenbarkeit, Orientierung und damit Freiheitsschutz. Auch rechtliche Argumentation ist hierbei indes nicht notwendigerweise unparteilich. Die sozialen Kontexte der Rechtsstäbe beeinflussen unvermeidbar auch die Praktiken der Rechtsanwendung.88 Und die Komplexität rechtlicher Entscheidungsfindung enthält immer Kontingenzrisiken. Das Amtsprinzip ändert hieran nichts, sondern muss sich im Wesentlichen darauf beschränken, von vornherein unzulässige, rechtlich im jeweiligen Funktionskontext diskreditierte Erwägungen und Motive auszusondern bzw. ihrer Entstehung vorzubeugen. Aus rechtlicher Sicht geht es daher nicht in erster Linie um eine posi  Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  23.   Towfigh (Fn.  71), S.  46; ferner Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  46. 81   Volkmann (Fn.  63), S.  310. 82   Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009. 83   In diesem Sinne Isensee (Fn.  1), S.  154. 84  Vgl. Fehling (Fn.  36), S.  47 ff., 143 ff. Auch hiermit sind keine Aussagen verbunden, welche Regelungsstruktur und welche Legitimation verrechtlichtes Misstrauen haben soll. Demokratietheoretisch für einen prozeduralen Ansatz der Verfassungskontrolle durch Gerichte namentlich John Hart Ely, ­Democracy and Distrust, 1980, S.  73 ff., 105 ff. Schutz des Vertrauens in die Integrität des Verwaltungshandelns ist aber z.B. auch ein traditioneller Zweck des Beamtendisziplinarrechts, vgl. Klaus Hermann, Beamtendisziplinarrecht, in: ders./Heide Sandkuhl (Hrsg.), Beamtendisziplinarrecht – Beamtenstrafrecht, 2014, Rn.  149. 85   Isensee (Fn.  19), S.  49. 86   Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  46. 87  Vgl. Isensee (Fn.  19), S.  62. 88   Hierzu nur Susanne Baer, Rechtssoziologie, 2011, S.  157 ff. 79

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tive Ethik gemeinwohlorientierter Amtlichkeit, sondern um negative Tatbestände, die bestimmte Verhaltensweisen untersagen, die eine abstrakte oder konkrete Gefahr begründen, ein Amt eigennützig zu missbrauchen (paradigmatisch: Korruptionsstrafrecht).89

2.  Die Auffächerung des Amtsprinzips in der Gewaltengliederung Das allgemeine Amtsverständnis wirkt zwar auch auf Verfassungsorgane fort.90 Amtlichkeit als rechtlicher Maßstab – nicht nur als Affirmative eines Amtsethos der Uneigennützigkeit – bedarf aber konkreter funktionsadäquater Differenzierung.91 Es gibt mithin kein einheitliches, inhaltlich homogenes Amtsprinzip.92 Die staatliche Ämterordnung ist stark funktional differenziert.93 Funktionsbezug bedeutet dann auch, die spezifischen legitimatorischen Eigenleistungen des jeweiligen Amtsträgers innerhalb konkreter Verfahren zur Erzeugung eines Gemeinwohls zu identifizieren.94 Die jeweilige Mechanik markiert wiederum den Reaktionsbedarf auf spezifische Risiken der Gemeinwohlkonkretisierung. Es nimmt insoweit nicht wunder, dass gerade Ansätze, die das Amtsprinzip zum gewaltenübergreifenden, einheitlichen Maßstab überhöhen wollen,95 zugleich einem – hier abgelehnten – substantialistischen Gemeinwohlbegriff anhängen, das Republikprinzip zu einer rechtsverbind­ lichen Quelle materialer Staatstugenden hypostasieren und insoweit die freiheits­ immanente Kontingenz, Gestaltungsoffenheit und Prozeduralität des demokratischen Rechtsstaats96 übergehen.97 Willensbildung in den demokratisch kreierten Organen ist zwar amtlicher Wille, insofern Bezugspunkt der Pflichtenbindung nicht die individuelle Willkür, sondern die Allgemeinheit qua Amtlichkeit ist.98 Was dieser Bezug aber konkret bedeutet, hängt davon ab, für welche Funktionen das jeweilige Organ legitimiert ist. Nicht überall ist Neutralität funktionsadäquat; politische Gestaltung erfordert, Partei zu ergreifen, ist also notwendigerweise parteiisch, indem Prioritäten und Posterioritäten gesetzt, bestimmte – kontingente – Lösungen anderen vorgezogen werden. Der Inhalt politischer Entscheidungen wird oftmals durch Programme prädeterminiert, die zum Gegenstand eines Wahlkampfes gemacht wurden, eine bestimmte Wählerschaft  Vgl. Towfigh (Fn.  71), S.  48 f.   Uerpmann (Fn.  18), S.  49. 91   Isensee (Fn.  1), S.  143. 92   In diesem Sinne auch Josef Isensee, Fraktionsdisziplin und Amtsgewissen: Verfassungsrechtliche Garantie der Freiheit des Mandats im politischen Prozess, in: Werner J. Patzelt/Martin Sebaldt/Uwe Kranenpohl (Hrsg.), Res publica semper reformanda: Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des Gemeinwohls, 2007, S.  254 (262). 93   Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  22. 94  Vgl. Towfigh (Fn.  71), S.  4 4 f.; auch Fehling (Fn.  36), S.  143. 95   So namentlich Schachtschneider (Fn.  4 ), S.  310. 96   Im vorliegenden Kontext zutreffend Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  24. 97   Deutlich etwa Karl Albrecht Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S.  612, 628, 1159, mit teils abstrusen Konsequenzen; ähnlich Rolf Gröschner, Res Publica Thuringorum, ThürVBl. 1997, S.  25 (26). 98   Böckenförde (Fn.  33), §  34 Rn.  30. 89

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angesprochen haben und deren Interessen abbilden. Dies verbietet es auch, Politik mit moralischen Erwartungen zu überfrachten, die dysfunktional oder nicht zu erfüllen sind.99

a)  Keine Neutralisierung von Politik Politische Entscheidungen, auch der Gesetzgebung, kennen notwendigerweise Gewinner und Verlierer. Dies ist konfliktreich; und der jeweilige politische Konflikt­ ausgleich kann seinerseits zum Gegenstand politischer Sanktionierung gemacht werden. Insoweit fordert die Amtlichkeit politischer Entscheidungen gerade nicht Neutralität und Unvoreingenommenheit, sondern öffentliche Politisierbarkeit und damit Transparenz. Politischer Wettbewerb gründet auf Interessengegensätzen und produziert ein eigenständiges Gemeinwohl, das vor allem die Zeitlichkeit, Vorläufigkeit und damit inhaltliche Revidierbarkeit von demokratischer Herrschaft sichert, was in einem Kontrast zu den rechtsstaatlichen Stabilisierungs- und Kontinuitätsinteressen des Verwaltungsvollzugs steht. An die Stelle der inhaltlichen Bindung an das Gesetz treten die politische Verantwortlichkeit und die damit einhergehenden politischen Sanktionsinstrumente (etwa Wahlen, aber auch politische Freiheitsrechte zum Protest). Die Apersonalität des Amtes wird überlagert durch die Personalität der politischen Wahl100 als Mechanismus der Legitimationserzeugung. Schließlich lassen auch die Gegenstände und Funktionen der verschiedenen Ämter in sehr unterschiedlichem Maße interessengeleitetes Agieren zu. Politische Gestaltung durch Gesetzgebung und Regierungshandeln ist eben kein bloßer Verfassungsvollzug, der ein konstitutionell eingeschriebenes Gemeinwohlprogramm entfaltet. Soweit eine Entscheidung politischen Charakter hat, „kommt es darauf an, die getroffene Entscheidung selbst sowie Zuständigkeiten und Verfahren so transparent […] zu gestalten, daß politische Verantwortung sichtbar wird“.101 Insgesamt folgt hieraus, dass die Bedeutung von Amtlichkeit und Amtsprinzip entlang der funktionalen Gewaltengliederung und der hier erbrachten Legitimationsleistungen auszudifferenzieren ist.

b) Legislative Der Amtscharakter des Bundestagsmandats ist inzwischen anerkannt102 und kommt semantisch in Art.  48 Abs.  2 Satz  1 GG zum Ausdruck.103 Mit der Wahl in den Deut Vgl. Ute Frevert, Vertrauensfragen: Eine Obsession der Moderne, 2013, S.  207.   Typisierend §  1 Abs.  1 Satz  2 i. V. mit §§  5, 45 ff. BWahlG. 101   Fehling (Fn.  36), S.  144. 102   BVerfGE 56, 396 (405); 76, 256 (341); Hermann Butzer, in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), GG, 2.  Aufl. (2013), Art.  38 Rn.  88; Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  5 ; Klein (Fn.  4 0), Art.  38 Rn.  191; Hans Herbert von Arnim, Der gekaufte Abgeordnete – Nebeneinkünfte und Korruptionsproblematik, NVwZ 2006, 249. Er wurde ursprünglich in Frage gestellt, vgl. Arnold Köttgen, Das anvertraute öffentliche Amt, in: FG Rudolf Smend, 1962, S.  119 (124). Eingehend zur Diskussion, auch unter der WRV, Schröder (Fn.  27), S.  147 ff. Heute noch anderer Ansicht Norbert Achterberg/Martin Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn.  52), Art.  38 Rn.  72. 103   Früher wurde dies teilweise aus – für den Bundestag nicht vorgesehenen – Amtseiden der Abge99

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schen Bundestag wird den Abgeordneten ein konkreter Repräsentationsauftrag erteilt, der für das repräsentierte Legitimationssubjekt (das Volk) und in dessen Interesse wahrzunehmen ist. Die Gemeinwohlbindung der Abgeordneten des Deutschen Bundestags wird von der Verfassung selbst aufgegriffen. Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG). Insoweit wird das Spezifikum der Amtlichkeit des Mandatsträgers umschrieben:104 „Der zweite Satz des Art.  38 Abs.  1 GG zieht mit dem Repräsentationsprinzip deshalb aus den Wahlrechtsgrundsätzen die Konsequenzen für die Ausübung eines in der Gesellschaft verwurzelten, aber innerhalb der Staatsorganisation wahrgenommenen Amtes, des freien Mandats. Die Vorschrift gewährleistet für jeden der nach Art.  38 Abs.  1 Satz  1 GG gewählten Abgeordneten sowohl die Freiheit in der Ausübung seines Mandats als auch die Gleichheit im Status der Vertreter des ganzen Volkes“.105 Dahinter steht ein Amtsverständnis, das auf Vertrauen gründet: Die Abgeordneten werden von Verpflichtungen frei und formal gleich gestellt, weil sie nur so ihrem Auftrag nachkommen können, das gesamte Volk zu vertreten. Ein Mandat wird anvertraut, wie die Abgeordneten diesem Vertrauen gerecht werden, müssen sie aber funktionsnotwendig grundsätzlich selbst entscheiden. Anders gewendet, ist es gerade den einzelnen Abgeordneten und deren subjektiven Wertungen überlassen, was sie im Interesse des gesamten Volkes für sinnvoll erachten.

aa)  Kontingenz und Parteilichkeit des politischen Mandats Die Amtspflichten der Abgeordneten sind vor allem – obgleich nicht ausschließlich106 – ausgerichtet auf die Gesetzgebung und damit in Abhängigkeit von dem „parlamentarischen Gesetz als dem zentralen Gestaltungsmittel und Herrschaftsinstrument der repräsentativen Demokratie“,107 sind also Projektion einer entsprechenden Herrschaftsform. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren dient gerade dazu, die Kontingenz von Gemeinwohl durch abstrahierende und generalisierende Gesetzgebung zu bewältigen, die verbindliche Maßstäbe durch Recht erzeugt, das allein auf seiner Geltung qua positiver Setzung gründet, nicht auf höheren Richtigkeitsannahmen, Gerechtigkeiten oder Gemeinwohlbildern.108 Eine Materialisierung der Gemeinwohlbindung über den Hebel des Amtsprinzips würde gerade diejenigen Leistungen gefährden, die politischer Meinungskampf und freie Wahlen erbringen, um ordneten abgeleitet. Siehe Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, 1928, S.  65; Krüger (Fn.  30), S.  314; Winfried Steffani, Ein Verfassungseid für Abgeordnete in Bund und Ländern, ZParl 1976, S.  86 (95 ff.). Hierzu Schröder (Fn.  27), S.  143 f. Hierbei geht es freilich um Staatssymbolik, deren soziale Bedeutung zwar nicht unterschätzt werden darf, die aber kaum Aussagen auf materielle Statusrechte und -pflichten zulässt. 104  Vgl. Jakob Julius Nolte, Das freie Mandat der Gemeindevertretungsmitglieder, DVBl. 2005, S.  870 (875): „Loslösung von fixierten Einzelinteressen“; auch Dietrich Rauschnig, Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, 1969, S.  274 f. 105   BVerfGE 112, 118 (134). 106   Zu anderen Funktionen des Deutschen Bundestags Klein (Fn.  4 0), Art.  38 Rn.  48 ff. 107   Oliver Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S.  72. 108  Vgl. Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S.  288.

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Herrschaft zu legitimieren. Daher lassen sich die aus Art.  33 Abs.  5 GG resultierenden Organisationsprinzipien der Amtlichkeit nicht auf das Abgeordnetenmandat übertragen.109 Wenn eine Partei einen offensiven Wahlkampf betrieben, ggf. auch mit der Verwirklichung bestimmter Klientelinteressen geworben hat, und diesen Interessen nunmehr innerhalb des Parlaments zu Mehrheiten verhilft, ist dies nicht nur legitim, sondern sogar Ausdruck der Fairness und Transparenz politischen Agierens. Auch Sonderinteressen sind im Ausgangspunkt legitime Interessen,110 das Ringen um Einfluss zur Durchsetzung von Interessen in einem pluralistischen Gemeinwesen ubiquitär111, oder treffend: „Die Freiheit der Abgeordneten sichert […] ihre allseitige Beeinflussbarkeit“.112 Gesetzgebung ist politisch und damit Parteinahme. Dies schließt es im Ausgangspunkt auch ein, bestimmte Interessen vertreten zu dürfen, zu denen eine persönliche – etwa biografische, berufsgruppen- oder persönlichkeitsbezogene – Nähe besteht, nicht zuletzt besondere Wahlkreisinteressen. Gerade für die Abbildung typischer Minderheiteninteressen ist dies besonders wichtig, weil diese durch eine authentische Interessenrepräsentanz durch ‚Betroffene‘ besser artikulationsfähig und damit gegen eine Marginalisierung geschützt sein können.113 Das inhärente Wiederwahlinteresse der Abgeordneten, das über die Periodizität von Wahlen und die Verzeitlichung von Herrschaft überhaupt erst demokratische Responsivität herstellt, ist in besonderem Maße eigennützig und zugleich legitim, weil es Verantwortlichkeit institutionalisiert und den Mandatscharakter stabilisiert. Sonderinteressen lassen sich politisieren, also – positiv oder negativ – zum Thema des politischen Gesetzgebungsverfahrens machen, wodurch die Öffentlichkeit (mediatisiert) an der Auseinandersetzung potentiell teilhaben und insoweit politische Kontrolle ausüben kann. Im Mittelpunkt steht hier also die rechtliche Strukturierung und Sicherung von Öffentlichkeit und Diskursräumen.114 Die Grenzen der Verwirklichung von Sonderinteressen im Rahmen der Gesetzgebung markieren die Grundrechte – nicht zuletzt die Gleichheitssätze (Art.  3 Abs.  1–3, Art.  33 Abs.  2 GG) –, nicht das Amtsprinzip. Anders gewendet: Wer sein politisches Programm umsetzt, das notwendigerweise bestimmten Interessen mehr und anderen weniger entgegenkommt, verwirklicht eine bestimmte Fasson von Gemeinwohl und dient gerade   Anderer Ansicht Schachtschneider (Fn.  4 ), S.  310.   Christian Waldhoff, Das missverstandene Mandat: Verfassungsrechtliche Maßstäbe zur Normierung der erweiterten Offenlegungspflichten der Abgeordneten des Deutschen Bundestags, ZParl 2006, S.  251 (253). Zu den Konsequenzen zutreffend Oliver Lepsius, Standardsetzung und Legitimation, in: Christoph Möllers/Andreas Voßkuhle/Christian Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S.  345 (354 f.). Kritisch aber Schmidt-Aßmann (Fn.  57), S.  45: Demokratisches „Distanzgebot […] gegenüber Sonderinteressen“. 111  Grundsätzlich Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 4.  Aufl. (2000), S.  369 ff.; ferner etwa Benedikt Olberding, Rechtliche Möglichkeiten der Steuerung von Interessenpolitik, 2013, S.  31. 112   Martin Morlok/Julian Krüper, Ministertätigkeit im Spannungsfeld von Privatinteresse und Gemeinwohl, NVwZ 2003, S.  573 (574). 113   Wenn sich beispielsweise innerhalb der Bundestagsabgeordneten Menschen mit Behinderung in der Inklusionspolitik engagieren, sich Apotheker und Rechtsanwälte für Interessen freier Berufe stark machen, Soldaten als Abgeordnete für Bundeswehrstandorte kämpfen oder Schwule und Lesben für Gleichstellungsinteressen Eingetragener Lebenspartner eintreten, ist dies nicht nur offensichtlich legitim, sondern für die Pluralität des parlamentarischen Verfahrens auch ein Gewinn. 114   Towfigh (Fn.  71), S.  51 f. 109 110

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hierdurch dem ganzen Volk im Sinne des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG. Die Leistungsfähigkeit parlamentarischer Kompromissfindung kann sich hierbei gerade auch in der Verknüpfung an sich inkommensurabler Themen zu politischen Paketen manifestieren.115 Koalitionsverträge zeigen dies ebenso wie das Taktieren im Bundesrat bei disparaten Mehrheitsverhältnissen. Solche Koppelungsgeschäfte sähen sich bei isolierter Betrachtung dem Verdacht der Willkür oder gar der moralischen Korruption ausgesetzt und wären im Verwaltungsvollzug unzulässig (§  56 Abs.  1 Satz  2 VwVfG), sind aber für ein sozialverträgliches Funktionieren politischer Institutionen unverzichtbar.116

bb)  Distanzierung durch die Form des abstrakt-generellen Gesetzes Korrespondierend zur Politizität des Parlaments bleibt der spezifische Entscheidungsgegenstand zudem abstrakt und generell. Gesetzgebung ist abstrakt-generelle Begriffsbildung, die Reduktion von Komplexität, Kompromissfindung und Abstrak­ tion von Partikularinteressen117 bzw. Partikularperspektiven voraussetzt.118 Die Form des abstrakt-generellen Gesetzes schafft daher Distanz zum Regelungsgegenstand,119 vor allem aber auch zum Einzelfall120. Eigeninteressen sind zwar nicht ausgeschlossen. Die Nähe der Abgeordneten zum Regelungsgegenstand hängt auch vom Grad der Allgemeinheit des Gesetzes ab, der sehr unterschiedlich sein kann und mit höherer Detaillierung näher an individuelle Betroffene heranrückt. Gerade die – nicht zuletzt vom BVerfG sektoral elaborierten – Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit befördern eine graduelle Individualisierung des Gesetzes durch (Über-)Differenzierung.121 Auch wenn man von dem Sonderproblem der Gesetzgebung in eigener Sache im Wahl- und Abgeordneten(entschädigungs)recht absieht,122 entscheiden 115   Etwa Mindestlohn gegen Autobahnmaut, Ehe für alle gegen Transitzone für Flüchtlinge oder Erbschaftssteuerreform gegen Klimaschutz erscheinen willkürliche Verknüpfungen, können aber Gegenstand eines vernünftigen politischen Aushandlungsprozesses sein, der nicht nur innerhalb eines Themenfeldes relationieren, sondern auch Paketlösungen schnüren kann. 116  In diesem Sinne auch Stephan Barton, Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung (§  108e StGB), NJW 1994, S.  1098. 117   Vgl. auch BVerfGE 33, 125 (158 f.); Kirchhof (Fn.  4 ), S.  253. 118  Eingehend Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Martin Bertschi u.a. (Hrsg.): Demokratie und Freiheit, 1999, S.  123 ff. 119   Fehling (Fn.  36), S.  45 ff.; Kirchhof (Fn.  4 ), S.  204 f., 272, 623; Kloepfer (Fn.  42), S.  67; Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S.  167. 120   Kirchhof (Fn.  4 ), S.  12 f., 524. 121   Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Christian Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S.  9 (40). 122   Hierzu stellvertretend BVerfGE 120, 82 (105); 129, 300 (322 f.); 130, 212 (229); 135, 259 (289); BVerfG, Beschl. v. 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, Rn.  82; Hans Herbert von Arnim, Politikfinanzierung, Wahlrecht und legislative Manipulation - Strenge Gerichtskontrolle bei Entschädigung der Politik in eigener Sache, in: Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S.  627 ff.; ders., Wahlgesetze: Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, JZ 2009, S.  813 ff.; ders., Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache: Das Problem ihrer gerichtlichen Kontrolle, DÖV 2015, S.  537 ff.; Thilo Streit, Entscheidung in eigener Sache, 2006; polemisch (und mit der Voreingenommenheit des Prozessverlierers ebenfalls in sua causa) Hans Herbert von Arnim, Die Angst der Richter vor der Macht, 2015, S.  80 f., 110 f. Mit Recht sehr differenziert Heinrich Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, 2007.

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Abgeordnete beispielsweise über Regelungen der Einkommensbesteuerung123, des Familienrechts oder des Verkehrsrechts, die die meisten Parlamentarier auch persönlich berühren.124 Diese Betroffenheit wird aber durch die Politisierung des Verfahrens und die Distanzierungswirkung der abstrakt-generellen Form aufgefangen. Über Angelegenheiten, die alle etwas angehen, muss zwingend demokratisch entschieden werden (Art.  20 Abs.  2 Satz  1 GG), aber nicht notwendigerweise unvoreingenommen. Faktische Distanzverluste – nicht selten diagnostiziert125 – stellen daher nicht die normative Funktion des Gesetzgebungsverfahrens in Frage. Anders als etwa in kommunalen Vertretungsorganen bei der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben (und anders als teils in anderen parlamentarischen Systemen126) bestehen auch keine Mitwirkungsverbote für Parlamentarier.127 An die Stelle von Mitwirkungsverboten und Befangenheitsregelungen tritt die mäßigende Wirkung des Gesetz­ gebungsverfahrens128 und die damit einhergehende – vom BVerfG mit Recht stets betonte129 – Öffentlichkeit.130 Namentlich das Produkt der Gesetzgebung – das zu veröffentlichende (Art.  82 Abs.  1 Satz  1 GG) abstrakt-generelle Gesetz – ist öffentlicher Gegenstand par excellence. Da Gesetzgebung abstrakt-generelle Maßstäbe schafft, die jedenfalls im Grundsatz erst des Vollzugs bedürfen, begründet die Parteilichkeit des politischen Verfahrens im Vergleich zum Vollzug auch deutlich reduzierte Freiheitsrisiken. Die Unvoll­ ständigkeit des Gesetzes131 – seine Angewiesenheit auf Konkretisierung und Individualisierung – distanziert nicht nur,132 sondern dezentralisiert auch Entscheidungsmacht und eröffnet Raum für Verfahren, in denen den individuellen Interessen ­konkret Betroffener Rechnung getragen wird. Der Vollzug des Gesetzes im Ver­ waltungsverfahren hat eine freiheitsschützende Funktion, die durch Verfahrensrechte gesichert ist und sich materiell in Entscheidungsfreiräumen der Verwaltung (Ausnahmebestimmungen, Ermessen, Beurteilungsspielraum) ventiliert. Der Vollzug des 123  Vgl. James Madison, Federalist No. 10, zit. nach Charles R. Kesler (Hrsg.), The Federalist Papers, 1999, S.  45 (48). 124  Es ist nicht einmal sicher, ob in der öffentlichen Wahrnehmung eine persönliche Nähe zum Entscheidungsgegenstand nachgerade gefordert wird, weil diese erst eine hinreichende Empathie suggeriert. Kühle Distanz ist demgegenüber eher kein vote-winner. 125  Bereits Kloepfer (Fn.  42), S.  67 f. 126  Rechtsvergleichend Carmen Thiele, Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen, 2008, S.  454 f. 127   Fehling (Fn.  36), S.  45 (Fn.  22); Hermann Hill, Zur Dogmatik der Heilungsvorschriften im Kommunalverfassungsrecht, DVBl. 1983, S.  1 (3); Anne Käßner, Nebentätigkeiten und Nebeneinkünfte der Mitglieder des Deutschen Bundestages, 2010, S.  54; eingehend Michael Glage, Mitwirkungsverbote in den Gemeindeordnungen, 1995, S.  28 ff., der mit Recht den Vorrang der Freiheit des Mandats gegenüber den Gefahren einer Voreingenommenheit betont (S.  31). Explizit kontrastierend für die Besonderheiten des Parlaments eines Stadtstaates, dessen Regeln insoweit denen einer Gemeindevertretung angenähert sind BremStGH, NJW 1977, 2307 (2308). 128   Schmidt-Aßmann (Fn.  57), S.  88 f. Traditionell Madison (Fn.  123), S.  45 ff. 129   BVerfGE 85, 386 (403 f.); 95, 267 (307 f.); 108, 282 (312); 130, 318 (344); BVerfG, NVwZ 2015, 1370 (1372). 130   Teils werden freilich Mitwirkungsverbote für Abgeordnete gefordert, die von Interessenvertretern unzulässig beeinflusst wurden, so Olberding (Fn.  111), S.  111. 131   Gerhard Otto, Das allgemeine Gesetz und sein Regelungsgegenstand, in: Christian Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S.  80 (90 f.). 132   Betont bei Kirchhof (Fn.  4 ), S.  524.

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Gesetzes ist nicht nur unmittelbare Aktualisierung von Zwangsgewalt,133 sondern eben auch der Prellbock, weil das abstrakt-generelle Gesetz nicht alle Details seiner Anwendung programmieren und Raum für die fallbezogene Anwendung belassen muss.134 In der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts werden daher, ergänzend zur demokratischen Legitimation des Entscheidungsmaßstabs, auch individuelle Legitimationsleistungen erbracht, die auf den Freiheitsrechten Einzelner gründen.135 Der Freiheitsschutz, den das Verwaltungsverfahren bieten muss, stellt strenge An­forderungen an die Amtlichkeit und damit Neutralität der Entscheidungsfindung (konsequent §§  20 f. VwVfG); das immer noch distanzierte Gesetzgebungsverfahren muss eine solche Neutralisierungswirkung nicht entfalten. Dementsprechend sind auch hier die Amtspflichten primär an der politischen Gesetzgebungsfunktion auszurichten. Dies schließt es nicht aus, Amtspflichten von Abgeordneten gegen konkrete Gefährdungen zu sichern, die über die allgemeine – strukturell funktionsimmanente – Parteilichkeit hinausgehen. Die besondere, verfassungsrechtlich armierte (Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG) Freiheit der Abgeordneten macht es aber erforderlich, auf die spezifisch politische Funktion eines Parlaments als Forum zur parteiischen Konfliktaustragung Rücksicht zu nehmen und sowohl gegen eine Überrationalisierung136 als auch eine dysfunktionale Verrechtlichung politischer Moral zu schützen. Ethische Erwartungen an politische Deliberation137 sind oft überzeichnet und führen zu Enttäuschungen, wenn sie in der praktischen Politik nicht erfüllt werden können. Bislang wurden daher weniger die Amtspflichten der Parlamentsabgeordneten als das demokratische Verfahren gegen Einflussnahmen gesichert, die mittelbar die amtliche Willensbildung beeinträchtigen können. Das geltende Recht hat hier etwa mit der Deckelung der Privilegierung von Parteispenden (§  18 Abs.  3 Satz  1 Nr.  3 Halbs. 2 PartG138 ) und der staatlichen Parteienfinanzierung (§§  18 ff. PartG), insbesondere Wahlkampf kostenerstattung (§  18 Abs.  1 Satz  2 Halbs. 1, Abs.  3 Satz  1 Nr.  1–2 PartG), flankierende Regelungen geschaffen, die Abhängigkeiten und damit einer Privatisierung des Gemeinwohls entgegenwirken.139 Im Bereich der Wahlrechtsgesetzgebung sieht das BVerfG die Gefahr, dass Legislativkompetenzen im eigennützigen Interesse 133   Zur freiheitsschützenden Trennung von Sach- und Vollstreckungsrecht im Verwaltungszwang Christian Waldhoff, Staat und Zwang, 2008, S.  26. 134  Klassisch Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835 [1985], S.  161: „Würde das Gesetz Unterdrückung üben, so könnte doch die Freiheit in der Art, wie man es vollzieht, noch eine Zuflucht finden; die Mehrheit kann nicht in die Einzelheiten und die […] Kindereien der Verwaltungstyrannei hinabsteigen“. 135  Siehe Möllers (Fn.  11), S.  4 0 ff. 136   Ein Problem übersteigerten Systemdenkens. Siehe Peter Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, 2014, S.  251 ff., 554 ff. und passim; Michael Droege, Steuergerechtigkeit – eine Demokratiefrage?, RW 2013, S.  374 ff.; Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, Der Staat 52 (2013), 157 (177 ff.); Christian Waldhoff, Steuerrecht und Verfassungsrecht, Die Verwaltung 48 (2015), S.  85 (93, 106). 137   Conrado Hübner Mendes, Constitutional Courts and Deliberative Democracy, 2013, S.  19 ff. 138  Parteiengesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 31.1.1994 (BGBl. I S.  149), das zuletzt durch Art.  1 des Gesetzes v. 23.8.2011 (BGBl. I S.  1748) geändert worden ist. 139   Siehe hierzu BVerfGE 8, 51 (68); 85, 264 (313); Jörn Ipsen, Steuerbegünstigung und Chancenausgleich, JZ 1984, S.  1060 (1062 ff.); Thorsten Koch, in: Jörn Ipsen (Hrsg.), PartG, 2008, Vor §§  18 ff. Rn.  66 ff.; Uwe Volkmann, Politische Parteien und öffentliche Leistungen, 1993.

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der Mandatsträger amtsvergessen genutzt werden könnten. „Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“.140 Reagiert wird also nicht mit einer Ausdifferenzierung abgeordnetenspezifischer Amtspflichten, sondern mit strikten Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit, was wiederum den Kontrollzugriff des BVerfG verstärkt.141 Nicht übersehen werden darf, dass auch die Mitglieder des Deutschen Bundestags über ihre dominante Funktion als Akteure der abstrakt-generellen Gesetzgebung hinaus vereinzelt andere, eher administrative Aufgaben wahrnehmen, deren Amtspflichten dann auch engerer, an der Gesetzlichkeit orientierter Sicherung bedürfen. Soweit die Präsidentin oder der Präsident des Deutschen Bundestags als Polizeibehörde oder Dienstbehörde gegenüber der Bundestagsverwaltung oder in Vollzug des Parteiengesetzes (§§  23–23b PartG) handelt, ist dies materielle Verwaltungstätigkeit (§  1 Abs.  1, 4 VwVfG),142 für die keine im Vergleich zu anderen Verwaltungsbehörden abweichenden Amtspflichten bestehen. Entsprechendes gilt für Parlamentarische Untersuchungsausschüsse (Art.  44 GG), die zwar keine Verwaltungsbehörden sind,143 aber dennoch im Rahmen der hoheitlichen Beweisaufnahme formalisierte Entscheidungsbefugnisse sowie Zwangsinstrumente haben, die die Bürgerinnen und Bürger konkret und individuell betreffen können. Administrativen Aufsichtsfunktionen, namentlich etwa im Rahmen von §  2 Abs.  1 PKGrG,144 korrespondieren ebenfalls administrative Amtspflichten.145

c) Gubernative Auch Regierungshandeln ist Amtshandeln, also Entscheiden im öffentlichen Auftrag und Interesse der Allgemeinheit unter Ausschluss eigennützig-privater Interessen. Der Amtscharakter der Regierungsämter146 ist unbestritten. Die Mitglieder der Bun  BVerfGE 135, 259 (289); ferner etwa BVerfG, Beschl. v. 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, Rn.  82.   Siehe etwa BVerfGE 129, 300 (317 ff.); 131, 316 (360 ff.). Kritisch dazu etwa Bernd Grzeszick/ Heinrich Lang, Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht: Der Wahlgesetzgeber zwischen verfassungsrechtlicher Bindung und politischer Gestaltungsfreiheit, 2012; Christoph Möllers, Wahlrecht: Das missverstandene Systemargument im Streit um die Überhangmandate, RuP 2012, S.  1 ff. 142  Vgl. Michael Ronellenfitsch, in: Johann Bader/ders. (Hrsg.), VwVfG, 2010, §  1 Rn.  39; Heribert Schmitz, in: Paul Stelkens/Heinz Joachim Bonk/Michael Sachs (Hrsg.), VwVfG, 8.  Aufl. (2014), §  1 Rn.  183 f. 143   Klaus Ferdinand Gärditz, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse als informationspflichtige Stellen?, NVwZ 2015, S.  1161 (1162 ff.). 144  Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes v. 29.7.2009 (BGBl. I S.  2346). 145   Aus diesem Grund wird bisweilen bezweifelt, ob die Besetzung mit Abgeordneten, die funktional dem Kontrollauftrag gegenüber der Regierung entspricht, aufgabenadäquat sei. Vgl. Jens Singer, Praxiskommentar zum Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes, 2015, §  2 Rn.  5 ff. 146   Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  5. 140 141

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desregierung stehen nach §  1 BMinG147 zum Bund in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis, was sich im Übrigen implizit auch aus Art.  64 Abs.  2 GG ergibt („Amtsübernahme“). Dieses öffentlich-rechtliche Amtsverhältnis wird im BMinG exklusiv ausgestaltet und unterscheidet sich von einem Beamtenverhältnis,148 was gerade Konsequenz des besonderen politischen Status als Mitglied eines Verfassungsorgans (Art.  62 GG) ist.149 Mit dem Amt gehen Amtspflichten einher, deren gewissenhafte Wahrnehmung durch Amtseid (Art.  64 Abs.  2 i. V. mit Art.  56 GG) bekräftigt wird.150 Zutreffend wird hervorgehoben, dass die Bindung an Amtspflichten innerhalb der Bundesregierung im Vergleich zum Parlament auch deshalb intensiver sein muss, weil die Regierung nur von einem Teil der gewählten Volksvertreter getragen wird, was die balancierende Organisationsmechanik pluralistischer Repräsentation jedenfalls hemmt.151 Der Inhalt der Amtspflichten der Regierungsmitglieder ist freilich geprägt durch die politische Leitungsfunktion, die nicht in erster Linie im Vollzug bindenden Rechts, sondern in der Formulierung von Ressortpolitik – unter der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin (Art.  65 Satz  2 GG) –, der Leitung des Ressorts (Art.  65 Satz  2 GG), in der Verordnungsgebung (Art.  80 Abs.  1 Satz  1 GG) als ambivalenter Zwischenstufe zwischen Gesetzgebung und Verwaltungsinstrument152 sowie schließlich der Vorbereitung von Gesetzesinitiativen (Art.  76 Abs.  1 GG) besteht. Die legitimationsrelevante Funktion der Exekutive, das abstrakt-generelle Gesetz gestuft-arbeitsteilig zu konkretisieren und zu individualisieren,153 kennt sehr unterschiedliche Stufen der Politizität, denen in der Regel auch eine arbeitsteilig differenzierte und hierarchische Behördenorganisation korrespondiert. Die Bundesregierung wird hierdurch zwar nicht vollständig, aber doch in großem Umfang von operativ-­ fallbezogenen Verwaltungsaufgaben entlastet und auf ihre politische Rollenfunktion beschränkt. Der Politizität korrespondiert die Kollegialität der Bundesregierung, die als institutioneller Rahmen der Regierungsorganisation – zumal in Koalitionsregierungen – den politischen Prozess der Entscheidungsfindung strukturiert und eine intersubjektive (nochmals: nur begrenzt pluralistische) Willensbildung katalysiert,154 also auf politische Kontingenz mit (relativer) Perspektivenvielfalt antwortet155. Die politische Gestaltungsfunktion der Regierung,156 nicht zuletzt im Bereich der abstrakt-generellen Rechtsetzung, ist – wie dargelegt – legitimerweise interessenorien147   Bundesministergesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 27.7.1971 (BGBl. I S.  1166), das zuletzt durch Art.  1 des Gesetzes v. 17.7.2015 (BGBl. I S.  1322) geändert worden ist. 148   Peter Badura, Das politische Amt des Ministers, in: FS Helmut Quaritsch, 2000, S.  295 f.; Martin Oldiges, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 7.  Aufl. (2014), Art.  64 Rn.  17. 149  Vgl. Ute Mager, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6.  Aufl. (2012), Art.  64 Rn.  5. 150   Oldiges (Fn.  148), Art.  64 Rn.  17. 151   Isensee (Fn.  1), S.  145. 152   Johannes Saurer, Die Funktion der Rechtsverordnung, 2005, S.  435. 153   Möllers (Fn.  11), S.  112 ff. 154  Vgl. Oliver Lepsius, Das Luftsicherheitsgesetz und das Grundgesetz, in: Festgabe für Burkhard Hirsch, 2006, S.  47 (57); der Sache nach auch BVerfGE 115, 118 (149). 155   Zu diesem Mechanismus allgemein Susanne Baer, Vertrauen – Faire Urteile in Wissenschaft und Recht, 2013, S.  25 ff. 156   Depenheuer (Fn.  6 ), §  36 Rn.  24.

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tiert und ‚parteiisch‘, insofern ein politisches Programm verfolgt wird. Hiermit vertragen sich hohe Anforderungen an die Unvoreingenommenheit nicht.157 Dies gilt erst recht dort, wo Regierungsmitgliedschaft mit Legislativfunktionen verschränkt wird, nämlich im Bundesrat. Spezifische Amtspflichten der Mitglieder des Bundesrates hat das Grundgesetz freilich schon deshalb nicht ausdifferenziert, weil die Mitgliedschaft im Bundesrat aus der in einer Landesregierung folgt (Art.  51 Abs.  1 GG) und die Amtlichkeit jenseits der konkreten Abstimmungssituation insoweit über die Amtspflichten der Landesministergesetze abgesichert wird. Im Kontrast158 dazu stehen rechtsgebundene Einzelfallentscheidungen, sofern Mitgliedern der Regierung ausnahmsweise entsprechende Befugnisse übertragen werden, etwa als oberste Dienstbehörde159 oder bei Entscheidungen von besonderer Dignität.160 Hier handelt auch eine Ministerin oder ein Minister – obgleich Mitglied des Verfassungsorgans Bundesregierung – als Verwaltungsbehörde (§  1 Abs.  4 VwVfG), weshalb Abweichungen von den allgemeinen neutralitätssichernden Amtspflichten nicht geboten sind. Amtspflichten müssen hier zwangsläufig an denen eines Berufsbeamten ausgerichtet werden. Die Zuständigkeit eines Regierungsmitglieds ist hier in der Regel nicht Ausdruck politischen Gestaltungsanspruchs,161 sondern Konsequenz eines besonderen Bedarfs nach demokratischer Verantwortlichkeit für folgenreiche Verwaltungsentscheidungen. Eine unmittelbare Konfrontation der Einzelnen mit einem rechtlich kaum umhegten politischen Willen würde die individuellen Legitimationsleistungen, die ein Verwaltungsverfahren zu erbringen hat, in Frage stellen und die betroffenen Freiheits- wie Gleichheitsgrundrechte der Bürgerinnen und Bürger gefährden.

d) Judikative Funktional gesteigerte Neutralitätserwartungen greifen dort, wo die Distanzierung vom Entscheidungsgegenstand und damit eine Neutralisierung von Eigeninteressen das Proprium der Amtsausübung ausmacht, sprich: bei der Ausübung der richterlichen Gewalt.162 Die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter (Art.  97 Abs.  1   Fehling (Fn.  36), S.  143, 145.   Vgl. auch Ronellenfitsch (Fn.  142), §  1 Rn.  38; Schmitz (Fn.  142), §  1 Rn.  186. 159   §  3 Abs.  1 BBG. 160   Beispiele wären die Ministererlaubnis nach §  42 GWB, Abschiebungsanordnungen nach §  58a AufenthG, Vereinsverbote nach §  3 Abs.  2 VereinsG, Anträge auf Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses nach §  10 Abs.  1 G 10; außenwirtschaftsrechtliche Verwaltungsakte im Rahmen des §  13 Abs.  2 AWG oder §  11 KrWaff KontrollG. 161   Für die kartellrechtliche Ministererlaubnis wird dies teils anders gesehen und dieser eine Korrekturfunktion zugesprochen, um ordnungspolitische Vorstellungen der Regierung gegenüber der Kartellbürokratie durchzusetzen. So Thomas, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 2/ Teil 1, 5.  Aufl. (2013), §  42 Rn.  1, m. w. Nachw. Problemsensibel hierzu Georg Hermes/Joachim Wieland, Die Ministererlaubnis nach §  42 GWB – Europarechtliche Fragen und Probleme der gerichtlichen Kontrolle, ZNER 2002, S.  267 ff. 162   In justizstaatlicher Idealisierung wird dieses Bild geflissentlich auch auf die Staatsanwaltschaft übertragen. Vgl. zur historischen Entwicklung Ernst S. Carsten/Erardo C. Rautenberg, Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart, 2.  Aufl. (2012), S.  49 ff.; Claus Roxin, Rechtsstellung und Zukunftsaufgaben der Staatsanwaltschaft, DRiZ 1969, S.  985; Eberhard Schmidt, Einfüh157

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GG, §  25 DRiG)163 ist besondere Ausprägung gemeinwohlorientierter Amtlichkeit.164 Rechtsprechung (Art.  92 GG) ist Streitentscheidung durch eine unabhängige Instanz, die weder am unterbreiteten Streit beteiligt ist, noch in Abhängigkeit zu anderen Organen steht.165 Um die Distanz zum Entscheidungsgegenstand sicherzustellen, hat die rechtsprechende Gewalt keine Initiativbefugnis, sondern wird nur auf Antrag tätig.166 Daher ist Rechtsprechung besonders störungsempfindlich für ein Einsickern subjektiver Interessen und folglich gegen politische – sprich: sich jenseits der (selbstverständlich ihrerseits fortwährend selbstkritisch zu reflektierenden) juristischen Argumentation bewegende – Einflüsse bestmöglich abzuschirmen. Die Überzeugungskraft unabhängiger – also auch den Mechanismen demokratischer Verantwortlichkeit entzogener – Streitentscheidung würde erheblich leiden, wenn auch nur der Anschein entstünde, die verfassungsrechtlich privilegierte Macht würde eigennützig oder parteilich ausgeübt. Die Amtlichkeit der Rechtsprechung erfordert daher – auch mit Blick auf die potentielle Rechtskraftfähigkeit – den höchsten Grad an Sicherungen von Amtspflichten, was über das Prozessrecht als Amtsrecht sowie flankierend über das Dienstrecht näher ausgeformt wird.167

II.  Instrumente der Sicherung des Amtsprinzips Amtlichkeit kann Erwartungen an ein Ethos der Gemeinwohlorientierung stabilisieren, ist hierzu aber – soll es nicht bei einem Appell an eine innere, rechtsfreie Moralität bleiben – auf rechtliche Mechanismen wie Organisations- und Verfahrensregeln oder Verbotstatbestände angewiesen.168 Das geltende Recht kennt unterschiedliche Instrumente, das Amtsprinzip auch bei Amtsträgern von Verfassungsorganen sicherzustellen.

1.  Kollegialität und Pluralismus als Stabilisatoren des Amtsprinzips Ein wichtiger Beitrag, die Amtspflichtigkeit von Entscheidungen und damit das Gemeinwohl gegen eigennützige Amtsausübung zu sichern, wird verwaltungsorganisarung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3.  Aufl. (1965), S.  330 f.; skeptisch bereits Franz von Liszt, Stellung der Verteidigung in Strafsachen, DJZ 1901, S.  179 (180). Deren Amtlichkeit korrespondieren zwar in der Tat gesetzliche Neutralitätspflichten (§  160 Abs.  2 StPO). Diese gehen aber – unbeschadet ihrer strafrechtlichen Flankierung (§§  258a, 344 StGB) – tatsächlich nicht über das hinaus, was auch für andere Berufsbeamte gilt. Eine vermeintliche besondere Neutralität wird nicht institutionell abgesichert. 163   Entsprechend der Mitglieder des Bundesrechnungshofs (Art.  114 Abs.  2 GG). 164   Anderheiden (Fn.  2 ), S.  493. 165  Siehe im Einzelnen BVerfGE 103, 111 (137 f.); Christian Burkiczak, in: Friauf/Höfling (Fn.  3 ) Art.  92 Rn.  31; Bodo Pieroth, in: Hans D. Jarass/ders. (Hrsg.), GG, 13.  Aufl. (2014), Art.  92 Rn.  4 ; kritisch zur Begriffsbildung durch das BVerfG Dieter Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. V, §  112 Rn.  75 ff. 166   Pieroth (Fn.  165), Art.  92 Rn.  4 ; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2.  Aufl. (2008), Art.  92 Rn.  27. 167   Vgl. vor allem §§  39 ff. DRiG; §§  22 ff. StPO; §§  41 ff. ZPO. 168   In diesem Sinne auch Towfigh (Fn.  71), S.  47.

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tionsrechtlich durch das Kollegialitätsprinzip geleistet. Kollegialität dient der gegenseitigen Binnenkontrolle,169 die Amtsmissbrauch vorbeugt und die Rechtlichkeit schützt. Kontingenzrisiken, die durch eine einseitige Dominanz bestimmter Perspektiven drohen können,170 werden durch Pluralisierung171 der Entscheidenden verringert.172 Pluralität der Organisation ist insoweit ein Instrument, Entscheidungen zu balancieren, divergente Interessen prozedural zu integrieren173 und Vertrauen in eine (relative) Richtigkeit zu schaffen.174 Gerade der Pluralismusschutz durch Kollegialität wurde jüngst überzeugend vom BVerfG herausgearbeitet,175 ist aber auch hinsichtlich der Anforderungen an die diskursive Binnenkultur voraussetzungsvoll176. Gerade Verfassungsorgane mit realer Macht – Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht – sind daher durchweg kollegial organisiert; verzichtbar ist das Kollegialprinzip mangels realer politischer Entscheidungskompetenzen nur beim Amt des Bundespräsidenten. Balance und Vertrauensbildung durch perspektivische Pluralisierung setzt allerdings konzeptionell voraus, dass spezifische Interessenunterschiede bestehen können und in kollegialen Organen auch artikuliert werden dürfen bzw. sogar sollen. Eine einseitige Neutralisierung von Interessen würde insoweit dem verfahrensrechtlichen Gemeinwohlkonzept von Kollegialentscheidungen tendenziell zuwider laufen.177 Dies bedeutet zwar nicht, dass in Kollegialorganen beliebige Interessen oder Perspektiven vertreten werden dürfen, erfordert aber funktional differenzierte Lösungen. Bei einem Parlament ist die pluralistische und kollegiale Entscheidungsstruktur unmittelbar mit der politischen Entscheidungs- und Repräsentationsfunktion sowie dem Mehrheitsprinzip verknüpft. Kollegiale Mehrheitsentscheidungen prozeduralisieren politischen Konfliktausgleich, wirken aber schon insoweit einer Übernahme durch eigennützige Privatinteressen entgegen, was die in Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG normierten Amtspflichten der Abgeordneten absichert. Die kollegiale Organisation eines Gerichts dient vor allem dazu, inadäquate Interpretationsrisiken einzudämmen, setzt aber voraus, dass sich der jeweilige Interpretationsansatz innerhalb juristischer Rationalitäten bewegt. Bei allen Unsicherheiten bei der Bestimmung der jeweils adäquaten Methode, über die gerade rechts(wissenschafts)intern gestritten werden kann, lassen sich jedenfalls viele rechtsfremde (politisch-ideologische) Argumente herausfiltern und rechtsendogene Rationalisierungswirkungen erreichen, um die Risiken 169   Klaus Ferdinand Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S.  471 f.; Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S.  136 f.; Walter Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984, S.  115; Loewenstein (Fn.  111), S.  170 ff.; Helge Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, 1987, S.   61 f.; Andreas Voßkuhle, Rechts­schutz gegen den Richter, 1993, S.  294. 170  Vgl. Susanne Baer, Vertrauen – Faire Urteile in Wissenschaft und Recht, 2013, S.  27 f. 171  Zum Zusammenhang von Pluralismus und Kollegialprinzip Gärditz (Fn.  169), S.  468; Groß (Fn.  20), S.  61 f. 172   Gärditz (Fn.  169), S.  470. Als einen Aspekt der Intra-Organ-Kontrolle qualifiziert dies Loewenstein (Fn.  111) S.  178 f. 173   Groß (Fn.  20), S.  160 f. 174   Baer (Fn.  170), S.  26 ff. 175   BVerfGE 136, 338 Rn.  59–60 („Medizinische Hochschule Hannover“). 176   Hübner Mendes (Fn.  137), S.  129 ff. 177   In diesem Sinne auch Fehling (Fn.  36), S.  46.

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einzudämmen, dass subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen der Rechts­anwender vorbei am politischen Prozess förmlicher Willensbildung in die Auslegung einsickern und hierdurch demokratische Entscheidungen deformieren. Auch ein Verfassungsgericht (hier also das BVerfG), gleich wie pluralistisch es besetzt ist, kann weder legitimatorisch noch funktionell eine politische Forumsfunktion einnehmen, die ein Parlament und dessen politische Verfahren zu ersetzen vermag.178 Bezugspunkt bleibt das geltende (positive) Verfassungsrecht in seiner jeweiligen Unvollkommenheit. Dass ein Verfassungsgericht in seiner institutionellen Funktionsverschränkung auch eine politische Rolle als Verfassungsorgan (mit schwierigen legitimationstheoretischen Folgefragen) spielt,179 hat bemerkenswerterweise nicht dazu geführt, eigenständige Amtspflichten von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts gegenüber denen regulärer Berufsrichter auszudifferenzieren – auch dies eine Folge justizstaatlicher Traditionen und eines vorpolitischen Amtsverständnisses.

2.  Inkompatibilitäten und Berufsverbote Inkompatibilitäten sichern das Amtsprinzip in Bezug auf Mitglieder von Verfassungsorganen gegen Interessenkonflikte, die aus der spezifischen Funktion des jeweiligen Amtes resultieren. Inkompatibilitäten zwischen verschiedenen Ämtern sind Abbild funktionaler Gewaltengliederung180 und sollen sicherstellen, dass Amtspflichten des einen Amtes nicht mit denen eines anderen Amtes in Konflikt geraten (interfunktionelle Inkompatibilität181). Diese funktionale Amtsbindung wird abgesichert durch Regelungen der Inkompatibilität in Art.  53a Abs.  1 Satz  2 Halbsatz 2, Art.  55 Abs.  1, Art.  66, Art.  94 Abs.  1 Satz  3 GG und die fakultative182 Ermächtigung des Art.  137 Abs.  1 GG. Umgesetzt wird dies durch §§  5 ff. AbgG183, §§  23, 32 Abs.  1 Nr.  3, 40, 90 Abs.  3 –4 BBG184 ; §§  4 Abs.  1, 17a, 21 Abs.  2 Nr.  2, 36 Abs.  2 DRiG185 ; §§  4 Abs.  4, 25 Abs.  2–5, 28 Abs.  6, 46 Abs.  2 Nr.  5, 55 Abs.  1 Satz  1 SG186 ; §  7 EuAbgG187 i. V. mit §  22 Abs.  2 Nr.  7–9, 13 EuWG188.   Zur Differenz zutreffend Christoph Möllers, The Three Branches, 2013, S.  140.   Möllers (Fn.  178), S.  141 f. 180   Norbert Achterberg, Probleme der Inkompatibilität, ZgStW 126 (1970), S.  344 (349 f.); Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Fn.  165), Art.  66 Rn.  1. 181   Achterberg/Schulte (Fn.  102), Art.  38 Rn.  77; zurückgehend auf Achterberg (Fn.  180), S.  348. 182   Sieg fried Magiera, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 7.  Aufl. (2014), Art.  137 Rn.  19. 183   Abgeordnetengesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 21.2.1996 (BGBl. I S.  326), das zuletzt durch Art.  1 des Gesetzes v. 11.7.2014 (BGBl. I S.  9 06) geändert worden ist. 184  Bundesbeamtengesetz v. 5.2.2009 (BGBl. I S.  160), das zuletzt durch Art.  1 des Gesetzes v. 6.3.2015 (BGBl. I S.  250) geändert worden ist. 185   Deutsches Richtergesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 19.4.1972 (BGBl. I S.  713), das zuletzt durch Art.  132 der Verordnung v. 31.8.2015 (BGBl. I S.  1474) geändert worden ist. 186   Soldatengesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 30.5.2005 (BGBl. I S.  1482), das zuletzt durch Art.  5 des Gesetzes v. 13.5.2015 (BGBl. I S.  706) geändert worden ist. 187   Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland v. 6.4.1979 (BGBl. I S.  413), das zuletzt durch Art.  2 des Gesetzes v. 11.7.2014 (BGBl. I S.  9 06) geändert worden ist. 188   Europawahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v. 8.3.1994 (BGBl. I S.  423, 555), das zuletzt durch Art.  1 des Gesetzes v. 7.10.2013 (BGBl. I S.  3749) geändert worden ist. 178

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Über die bezeichneten Verfassungsbestimmungen hinaus normiert das Grundgesetz zwar keine unmittelbaren Inkompatibilitäten, sofern sich nicht ausnahmsweise unmittelbar aus der Gewaltengliederung (Art.  20 Abs.  2 Satz  2 GG) weitere funktionelle Inkompatibilitäten ergeben189. Es verbietet aber Unvereinbarkeitsregelungen auch nicht. Einfachgesetzliche Inkompatibilität berührt den Zugang zum Amt als Status und damit nicht nur Amtsfunktionen, sondern auch Grundrechte der von der Amtswaltung Ausgeschlossenen. Beschränkungen bedürfen daher hinreichender Sachgründe (Art.  3 Abs.  1 GG) und müssen die Verhältnismäßigkeit wahren. Eine einfachgesetzliche Kompatibilität ist hiernach mit Blick auf das verfassungsimmanente Amtsprinzip grundsätzlich zulässig, um die zuverlässige Erfüllung von Amtspflichten sicherzustellen, also funktionale Rollenkonflikte zu verhindern. Aus diesem Grund ist es namentlich verfassungskonform, dass §  4 BMinG – unabhängig von Art.  66 GG190 und verfassungsrechtlich nicht zwingend191 – Mitgliedern der Bundesregierung die Mitgliedschaft in einer Landesregierung verbietet, weil anderenfalls die föderale Differenzierung gubernativer Amtlichkeit in Fällen von Pflichtenkollisionen in Frage gestellt wäre.192 Aus diesem Grund dürfen auch Mitgliedschaft in der Bundesregierung und Landtagsmandat miteinander unvereinbar sein,193 mangels operativer Konfliktfelder nicht hingegen ein Doppelmandat im Bundestag und einem Landtag194.195 Für das Bundesverfassungsgericht enthält §  101 Abs.  1 BVerfGG (für Notare i. V. mit §  104 Abs.  2 BVerfGG) über Art.  94 Abs.  1 Satz  3 GG hinaus einen einfachgesetzlichen Ausschlusstatbestand in Bezug auf andere Ämter in Exekutive oder Judikative. Dass Regierungsmitgliedschaft und Abgeordnetenmandat miteinander nicht inkompatibel sind (weder Grundgesetz noch einfaches Recht verbieten eine Parallelmitgliedschaft), wird als Ausdruck des parlamentarischen Regierungssystems gewertet;196 es zeigt jedenfalls, dass die – durchaus möglichen197 – funktionsbezoge Extensiv Achterberg/Schulte (Fn.  102), Art.  38 Rn.  74. Achterberg (Fn.  180), S.  353, will unmittelbar aus Art.  20 Abs.  2 GG allgemeine Inkompatibilitäten ableiten, die eine personelle Verschränkung der dort genannten Funktionen verbieten sollen. 190  Vgl. Ute Mager, in: von Münch/Kunig (Fn.  149), Art.  66 Rn.  3. 191   Georg Hermes, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2.  Aufl. (2006), Art.  66 Rn.  17. 192   Oldiges (Fn.  148), Art.  66 Rn.  27, mit dem zutreffenden Hinweis, dass insoweit zugleich eine von der Mitgliedschaft in einer Landesregierung abhängige Mitgliedschaft im Bundesrat ausscheidet; ferner Hermes (Fn.  191), Art.  66 Rn.  17. Föderal argumentiert auch Martin Morlok, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 2.  Aufl. (2006), Art.  38 Rn.  140. 193  Vgl. Oldiges (Fn.  148), Art.  66 Rn.  26. 194   Achterberg/Schulte (Fn.  102), Art.  38 Rn.  82. Anders Morlok (Fn.  192), Art.  38 Rn.  140; Dimitris Th. Tsatsos, Unvereinbarkeiten zwischen Bundestagsmandat und anderen Funktionen, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, §  23 Rn.  64. 195   Ob Mitglieder des Bundesrechnungshofs allein auf Grund ihrer richterlichen Unabhängigkeit (Art.  114 Abs.  2 GG, §  3 Abs.  4 BRHG) kein Abgeordnetenmandat wahrnehmen dürfen – so Achterberg/ Schulte (Fn.  102), Art.  38 Rn.  82 –, erscheint eher zweifelhaft, weil ein freies Mandat als solches die Unabhängigkeit nicht tangiert; vielmehr dürfte sich die Inkompatibilität aus der besonderen Kontrollfunktion des Bundesrechnungshofes – Helmuth Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S.  231 (243 ff.) – ergeben, die eine hinreichende Distanz zu allen Organen voraussetzt. 196   Badura (Fn.  148), S.  303; Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Fn.  165), Art.  38 Rn.  38. Kritisch Volker Epping, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6.  Aufl. (2005), Art.  66 Rn.  18 ff. 197  Zutreffend Epping (Fn.  196), Art.  66 Rn.  24. 189

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nen Interessenkonflikte aus der Perspektive des mandatsspezifischen Amtsprinzips jedenfalls kein rechtliches Problem sind. Über funktionale Inkompatibilitäten hinaus wird das Amtsprinzip vereinzelt auch durch Verbote privater Berufstätigkeit gesichert, so für den Bundespräsidenten (Art.  55 Abs.  2 GG) und Mitglieder der Bundesregierung (Art.  66 GG, §  5 Abs.  1 BMinG).198 Für Abgeordnete gelten diese Verbote hingegen nicht.199 Der Unterschied erklärt sich richtigerweise damit, dass die mit einem Regierungsamt verbundene Exekutivgewalt erhebliche Entscheidungsmacht und Einfluss vermittelt, ohne – wie im Parlament – durch ein spezifisches Verfahren antagonistischer und pluralistischer Gemeinwohlfindung balanciert zu werden.200 In Bezug auf die Abgeordneten verweist das Grundgesetz hingegen auf einen anderen Weg, nämlich – insoweit durchaus in Tradition des Berufsbeamtentums (Alimentationsprinzip als Schutz der zur Amtsführung notwendigen finanziellen Unabhängigkeit201) – auf eine angemessene Alimentierung während der Wahrnehmung des Mandats. Die Entschädigungspflicht aus Art.  48 Abs.  3 Satz  1 GG soll gerade auch verhindern, dass Abgeordnete in Abhängigkeit von finanziellen Leistungen Dritter geraten und daher ihr Mandat nicht mehr den Anforderungen des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG entsprechend uneigennützig ausüben.202

3.  Regulierung der Annahme von Vorteilen und Korruptionsstrafrecht Korruption wird allgemein als schwerste Gefährdung des Amtsprinzips qualifiziert.203 Denn hier merkantilisiert der Amtsträger letztlich die mit dem Amt einhergehende Entscheidungsmacht zum individuellen Nutzen. Zentrales Instrument, Amtspflichten zu sichern, ist daher das Korruptionsstrafrecht (§§  331 ff. StGB), das für Richterinnen und Richter – die des BVerfG als Verfassungsorgan eingeschlossen – durch den Straftatbestand der Rechtsbeugung (§  339 StGB) flankiert wird, der wiederum den amtsspezifischen Neutralitätserwartungen an die richterliche Entscheidungsfindung Rechnung trägt.204 Der Amtsträgerbegriff nach §  11 Abs.  1 Nr.  2 StGB, auf den die Straftatbestände der §§  331 ff. StGB verweisen, schließt als sonstige Inhaber eines öffentlichen Amtes (§  11 Abs.  1 Nr.  2 lit.  b StGB) grundsätzlich auch Mitglieder der Bundesregierung sowie den Bundespräsidenten bzw. die Bundespräsidentin ein,205 weshalb Vorteilsannahme oder Bestechlichkeit in Bezug auf konkrete Amtspflichten auch für diese straf bar ist. 198  Hierzu Thomas Veen, Die Vereinbarkeit von Regierungsamt und Aufsichtsratsmandat in Wirtschaftsunternehmen, 1996. 199   von Arnim (Fn.  102), S.  250. 200   Morlok/Krüper (Fn.  112), S.  574. 201   BVerfGE 39, 196 (201); 44, 249 (265); 58, 68 (77); 65, 141 (148); 70, 69 (79 f.); 76, 256 (324); 99, 300 (314). 202   BVerfGE 40, 296 (319). 203   Musil (Fn.  22), S.  393. 204  Vgl. Lothar Kuhlen, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), NKStGB, Bd. 3, 4.  Aufl. (2013), §  339 Rn.  13. 205   Dominik Brodowski, Strafrechtliche Bekämpfung politischer Korruption, HRRS 2009, S.  277 (279); Matthias K. Kühn, Verhaltensregeln für Bundestagsabgeordnete, 2011, S.  280 f.; Markus Peek, Strafrecht als Mittel der Bekämpfung politischer Korruption, ZStW 120 (2008), S.  785 (791); Frank

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a)  Ausklammerung von Abgeordneten Die bisherige Rechtslage klammert Bundestagsabgeordnete aus dem allgemeinen Korruptionsstrafrecht aus. Die §§  331 ff. StGB verweisen auf den Begriff des Amtsträgers (§  11 Abs.  1 Nr.  2 lit.  b StGB), der aber nach etabliertem Verständnis – zumal in Ansehung der restriktiven Auslegung durch den BGH 206 – gerade keine Parlamentsabgeordneten einschließt207. Die dadurch entstehende Lücke wird nur partiell durch den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung (§  108e StGB) geschlossen. Die Bestimmung des §  108e Abs.  1 StGB stellt unter Strafe, wenn ein Mitglied einer Volksvertretung des Bundes oder der Länder einen ungerechtfertigten Vorteil für sich oder einen Dritten als Gegenleistung dafür fordert, sich versprechen lässt oder annimmt, dass er bei der Wahrnehmung seines Mandates eine Handlung im Auftrag oder auf Weisung vornehme oder unterlasse.208 Der Straftatbestand soll die Integrität und Funktionsfähigkeit des repräsentativ-demokratischen Verfahrens schützen.209 Aus diesem Grund wird lediglich das Abstimmungsverhalten als die wesentliche Amtshandlung, mit der öffentliche Gewalt ausgeübt wird, erfasst. Es ist offensichtlich, dass dieser Straftatbestand, der insoweit zugleich die Unabhängigkeit nach Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG mittelbar sichert, auf Grund seines engen und praktisch kaum relevanten Anwendungsbereichs auf eine weitgehend symbolische Bedeutung beschränkt bleibt.210 Ob dieser Symbolik freilich nicht doch eine sinnvolle Bedeutung zugesprochen werden kann, hängt entscheidend davon ab, welche gesellschaftliche Funktion das Strafrecht erfüllen soll 211 und ob man in diesem Zusammenhang auch anwendungsabstinenter Symbolik einen Eigenwert beimisst212.

Saliger, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, Bd. 1, 4.  Aufl. (2013), §  11 Rn.  24; von Arnim (Fn.  102), S.  253. 206   BGHSt 51, 44 (49 ff.), betreffend kommunale Mandatsträger. 207  BGHSt 51, 44 (51); Anne von Aaken, Genügt das deutsche Recht den Anforderungen der VN-Konvention gegen Korruption?, ZaöRV 65 (2005), S.  4 07 (423 ff.); Brodowski (Fn.  205), S.  279; Peek (Fn.  205), S.  791; Saliger (Fn.  205), §  11 Rn.  25. Nach Hans Dahs/Bernd Müssig, Straf barkeit kommunaler Mandatsträger als Amtsträger, NStZ 2006, S.  191 (194), soll dies schon daraus folgen, dass §  108e StGB in Bezug auf Mandatsträger eine abschließende Regelung enthalte; ähnlich Jörn Ipsen, Mandatsträger als Amtsträger?, NdsVBl. 2006, S.  321 (323). 208   §  108e Abs.  2 StGB stellt korrespondierend die Vorteilsgewährung unter Strafe. Bestandsaufnahme bei Michaela Becker, Korruptionsbekämpfung im parlamentarischen Bereich, 1998. 209   Wolfgang Wohlers/Walter Kargl, in: Urs Kindhäuser/Ulfrid Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, Bd. 2, 4.  Aufl. (2013), §  108e Rn.  3. 210   Barton (Fn.  116), S.  1100; Käßner (Fn.  127), S.  49; Kühn (Fn.  205), S.  275; Olberding (Fn.  111), S.  91; von Arnim (Fn.  102), S.  252. 211   Peek (Fn.  205), S.  790. 212   Überwiegend wird dies kritisch gesehen: Winfried Hassemer, Symbolisches Strafrecht und Rechtsgüterschutz, NStZ 1989, S.  553 ff.; Cornelius Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1992, S.  255 ff.; Kurt Seelmann, Risikostrafrecht, KritV 1992, S.  452 ff. Positiv hingegen Klaus Ferdinand Gärditz, Staat und Strafrechtspflege – Braucht die Verfassungstheorie einen Begriff von Strafe?, 2015, S.  52.

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b)  Reformbestrebungen: Korruptionsstrafrecht für Abgeordnete? In jüngerer Zeit sind (im Ergebnis erfolglose) Vorstöße unternommen worden, im Einklang mit internationalen Entwicklungen 213 ein verschärftes Korruptionsstrafrecht für Abgeordnete einzuführen.214 Namentlich wird auf völkerrechtlichen Novellierungsbedarf verwiesen,215 der durch Ratifikation der UN-Konvention gegen Korruption 216 entstanden sei; der dortige Amtsträgerbegriff (Art.  2 lit.  a) ist nämlich weit zu verstehen und erfasst explizit auch Wahlämter. Es sei zudem schwer verständlich, dass die Bestechung ausländischer Abgeordneter nach Art.  2 §  2 IntBestG217 in deutlich weiterem Umfang straf bar sei als die Bestechung von Abgeordneten des Deutschen Bundestags.218 Gerade eine strafrechtliche Sanktionierung ist jedoch nur rechtsstaatlich vertretbar, wenn die materiellen Verhaltensstandards sowohl parlamentsspezifisch austariert als auch hinreichend bestimmt sind. Die Amtsdelikte der §§  331 ff. StGB liefern hierfür kein passendes Anschauungsmaterial, das eine Strafrechtsanwendung vorhersehbar halten würde, schon weil die Situationen von freiem Mandat (Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG) einerseits und gesetzesgebundener Dienstpflichterfüllung durch Amtsträger andererseits nicht vergleichbar sind.219 Letztlich ist es daher notwendig, zunächst Verhaltensregeln für Abgeordnete unter Beachtung der sich aus Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG ergebenden Anforderungen festzulegen. Hinreichend schwere und klar umrissene Pflichtverletzungen könnten dann akzessorisch bei Bedarf unter Strafe gestellt werden. Insoweit würde sich freilich aus Gründen systematischer Kohärenz eine Regelung im Rahmen der §§  44a ff. AbgG empfehlen.220 Der Schutz der unbeeinflussten Willensbildung der politischen Entscheidungs­ gremien ist ein grundsätzlich legitimes Ziel, das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Namentlich das – auch dem Parteienfinanzierungsrecht zugrunde liegende – Motiv, dass eine qualifizierte Einflussnahme von finanziell potenten Interessengruppen auf die öffentliche Entscheidungsfindung zurückgedrängt werden soll, ist demokratieadäquat und entspricht dem Gesamtvertretungsauftrag nach Art.   38   Zur Diskussion eingehend von Aaken (Fn.  207), S.  4 07 ff.; Fabian Meyer, Abgeordnetenbestechung (§  108e a.F. StGB) – eine Vorschrift auf dem Prüfstand, 2014, S.  45 ff. 214   Entwurf der Fraktion Die Linke vom 24.4.2010 (BT-Drs. 17/1412); Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 25.5.2011 (BT-Drs. 17/5933); Entwurf der SPD-Fraktion vom 8.2.2012 (BTDrs. 17/8613); von Arnim (Fn.   102), S.   252. Hiergegen Regina Michalke, Abgeordnetenbestechung (§  108e StGB), in: FS Rainer Hamm, 2008, S.  459 ff. Eingehend Marcus Hartmann, Reformmodelle zur Abgeordnetenbestechung, 2013. 215   Kühn (Fn.  205), S.  279 f.; Meyer (Fn.  213), S.  80; Manfred Ernst Möhrenschlager, Die Struktur des Straf­ tatbestandes der Abgeordnetenbestechung auf dem Prüfstand, FS Ulrich Weber, 2004, S.  217 (230 ff.). 216  Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen v. 31.10.2003 gegen Korruption v. 27.10.2014 (BGBl. II S.  762). 217   Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung vom 10. September 1998 (BGBl. 1998 II S.  2327). 218   BT-Drs. 17/1412, S.  2 ; Kühn (Fn.  205), S.  278. 219   So auch Kühn (Fn.  205), S.  281; Meyer (Fn.  213), S.  82 f. Anders, nämlich für eine Annäherung des Abgeordneten- an das allgemeine Korruptionsstrafrecht Möhrenschlager (Fn.  215), S.  232. 220   Was die wünschenswerte Einbeziehung kommunaler Mandatsträger, die anders als Abgeordnete Funktionen in der öffentlichen Verwaltung ausüben, in den Anwendungsbereich der §§  331 ff. StGB betrifft, empfiehlt sich eine schlichte Anpassung des §  11 Abs.  1 Nr.  2 StGB. 213

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Abs.  1 Satz  2 Halbsatz 1 GG. Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG garantiert zwar eine freie Mandatsausübung, steht aber verhältnismäßigen Bestimmungen nicht entgegen, die Verhaltenspflichten formulieren, um eine unbeeinflusste Mandatsausübung zu sichern.221 Hierbei ist freilich zu gewärtigen, dass ein Abgeordneter nicht zur Unparteilichkeit verpflichtet ist (und auch nicht verpflichtet werden darf ) und zudem die Vertretung bestimmter (gruppenspezifischer) Interessen – wie dargelegt – in einem freiheitlich-pluralistischen Parlamentarismus eine gleichermaßen legitime wie notwendige Komponente der Gemeinwohlfindung in offenen Verfahren ist. Daher müssten konkrete Amtspflichten identifiziert werden, deren Verletzung strafrechtlich sanktionswürdig ist. Zudem muss der Verletzungshandlung ein hinreichend bestimmter Tatbestand gegeben werden (Art.  103 Abs.  2 GG).222 „Für den Gesetzgeber enthält Art.  103 Abs.  2 GG in seiner Funktion als Bestimmtheitsgebot dementsprechend die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Straf barkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen […]. Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, dass der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen […] und dass er Rechtsvorschriften so genau fassen muss, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist […], gelten danach für den besonders grundrechtssensiblen Bereich des materiellen Strafrechts besonders strikt. Das Bestimmtheitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten straf bar ist oder nicht“.223 Dies bedeutet nicht, dass es keine – auf Grund der Vielfalt der Lebenssachverhalte von vornherein unvermeidbare – Unschärfen in Randbereichen eines Tatbestandes geben dürfe.224 Solche ubiquitären Probleme sind grundsätzlich zunächst, soweit dies möglich ist, durch Auslegung zu bewältigen, wobei der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung ebenfalls eine tragende Funktion zukommt, Inhalt und Reichweite von Straftatbeständen vorhersehbar zu halten.225 Damit richtet sich die verfassungsrechtliche Prüfung auf die Auslegungsfähigkeit eines Straftatbestandes sowie die Vorhersehbarkeit von Auslegungsergebnissen. Eine Straf bestimmung ist jedenfalls dann nicht mehr hinreichend bestimmt, wenn bereits das zugrunde liegende Konzept der Pönalisierung nicht erkennbar oder mit Widersprüchen behaftet ist oder wenn auf außerhalb förmlicher Gesetze stehende (nicht kodifizierte) Sozialnormen verwiesen wird, deren Inhalt nicht in einer vorhersehbaren bzw. beherrschbaren Weise sichtbar wird. Die Erfüllung der Bestimmtheitsanforderungen ist hierbei im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Normenkomplexes festzustellen.226   Vgl. allgemein BVerfGE 118, 277 (324); Magiera (Fn.  182), Art.  38 Rn.  49.   Peek (Fn.  205), S.  787. 223   BVerfGE 126, 170 (195). 224   BVerfGE 126, 170 (196). 225   BVerfGE 126, 170 (197). 226  Siehe BVerfG-K, wistra 2010, S.  396 (402); Christoph Degenhart, in: Sachs (Fn.  52), Art.  103, Rn.  64; Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Fn.  4 0), Art.  103 II, Rn.  201. 221

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Gemessen hieran fehlt es bislang an klar konturierten Verhaltensnormen, an die ein Straftatbestand anknüpfen könnte. Für Abgeordnete besteht – anders als für Justiz- und Verwaltungspersonal, das konkrete Normenkomplexe fallbezogen anzuwenden hat – keine klare Pflichtenbindung,227 was einmal funktionsimmanent mit der dargestellten Rolle im Prozess abstrakt-genereller Rechtsetzung zusammenhängt, zum anderen aber auch Konsequenz der Freiheit des Mandats (Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG) ist.228 Erwartungen der politischen Öffentlichkeit an eine Berufsethik der Abgeordneten können politisch durch Skandalisierung und Abwahl stabilisiert werden, sind aber kaum taugliche Grundlage konkreter, pönalisierbarer Amtspflichten.229 Das geltende Abgeordnetenrecht enthält bislang keine – gemessen an strafrechtlichen Anforderungen – hinreichend klaren materiellen Verhaltensregelungen (vgl. §§  44a f. AbgG), die namentlich eine klare Abgrenzung zu legitimen politischen Aushandlungsprozessen und Koppelungsgeschäften bieten, bei denen Individual-, Partei- und Wiederwahlinteressen mit politischen Agenden unvermeidbar verschmelzen.230 Denkbar wäre es, die schon bisher mögliche Sanktionierung von Verstößen gegen Verhaltensregeln (§  44a Abs.  4 AbgG) durch einen Straftatbestand zu ersetzen. Es bliebe jedoch in der Sanktionsfolge unverhältnismäßig, die Verletzung rein formaler Anzeigepflichten ohne konkrete Gefährdung der Funktionalität des Parlaments zu kriminalisieren. Räume für ein spezifisches Abgeordnetenstrafrecht dürften daher sowohl aus praktischen als auch aus rechtlichen Gründen kaum bestehen.231 Nach alledem empfiehlt es sich eher, primär die außerstrafrechtlichen Mechanismen, die die politische Verantwortlichkeit flankieren,232 in den Blick zu nehmen und besser auf reale Konflikte auszutarieren.

4.  Verhaltensregelungen für Abgeordnete Die Verfassung fordert nicht positiv Verhaltensregelungen, Transparenzregeln oder Beschränkungen der Nebentätigkeit von Abgeordneten; es gibt keinen verfassungsrechtlichen Mindeststandard an Offenlegungspflichten. Sollten verfassungsrechtlich nicht fundierte öffentliche Transparenzinteressen zurückgestellt werden, wäre dies eine rein (demokratie-)politische und keine verfassungsrechtliche Frage.233 Das Ab227   Meyer (Fn.  213), S.  83; Ellen Schlüchter, Zur (Un-)Lauterkeit in den Volksvertretungen, in: FS Friedrich Geerds, 1995, S.  713 (728); ähnlich Waldhoff (Fn.  110), S.  255. 228   Dass auf Grund des umfassenden persönlichen Einsatzes Mandatsbezug und Privates verschwommen blieben – so Meyer (Fn.  213), S.  82 –, ist allerdings kein rechtlich tragfähiges Argument, weil es gerade gemeinwohlbezogene Pflicht eines Amtsträgers ist, beides auseinanderzuhalten. Wenn dies praktisch im Einzelfall nicht gelingt, muss ein Abgeordneter eben die Organisation seiner Mandatswahrnehmung anpassen und für hinreichende Entflechtung sorgen. 229   Vgl. auch Peek (Fn.  205), S.  786. Anders aber von Arnim (Fn.  102), S.  254, der auf „Anforderungen der allgemeinen Moral“ und ein „Gefühl von richtig und falsch“, das angeblich die „Bürger“ hätten, verweist, und das Recht dem anpassen will, um zu vermeiden, dass sich die „politische Klasse“ immer weiter von diesen „entfernt“. 230  Zutreffend Eric Schnell, Neuer Anlauf zur Bekämpfung der Abgeordnetenbestechung, ZRP 2011, S.  4 (6). 231   Ähnlich auch Kühn (Fn.  205), S.  283 f. 232   Peek (Fn.  205), S.  787 ff. 233   Das BVerfG hat zwar – in pathetischer und missglückter Formulierung – Folgendes formuliert

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geordnetenrecht kennt allerdings – durchaus traditionsreiche234 – mit den §§  44a–44b AbgG einfachgesetzliche Regeln zur Sicherung der Amtspflichten der Abgeordneten.235 Diese Regeln beruhen auf der (zutreffenden) Annahme, dass die Transparenz etwaiger Vorteile und Tätigkeiten eine öffentliche Politisierung und damit demokratische Sanktionierung bei der nächsten Wahl ermöglicht. Das Transparenzziel als solches ist unbestritten legitim, fraglich ist allein, ob die konkreten Regelungen die Freiheit des Mandats bzw. Grundrechte zulässig beschränken.236 Diese Regeln waren daher auch (jedenfalls zeitweise) vehement umkämpft. Dies liegt auch daran, dass die Debatte über das richtige Verständnis von Amtlichkeit mit idealisierten, in ihrer Relation zur gesellschaftlichen Dynamik prekär unterbelichteten und für rechtsexogene237 Determination anfälligen Leitbildern 238 – hier der Berufspolitiker mit „Vollzeitjob“,239 dort der aus einem aktiven Beruf heraus gewählte „Honoratiorenabgeordnete“240 – belastet wurde.241 Generell sollte davon Abstand genommen werden, über eine Art Berufsrecht der Abgeordneten bestimmte Abgeordneten-Leitbilder zu petrifizieren. Denn die Freiheit des Abgeordneten nach Art.  38 Abs.  2 Satz  2 GG richtet sich im Interesse materiellen Pluralismusschutzes gerade gegen die Ausrichtung des Abgeordnetenrechts nach exogenen Orientierungsmustern, welcher Provenienz auch immer. Die Freiheit des Mandats garantiert es mithin allen Abgeordneten, eigenen Leitbildern zu folgen. Hieran haben sich dann auch Sicherungen der Amtspflichten auszurichten. Vollzeit-Berufspolitiker, die neben den vielfältigen und anspruchsvollen Verpflichtungen aus dem Mandat keinen weiteren Nebentätigkeiten mehr nachgehen wollen oder können, sind selbstverständlich notwendig, werden immer die breite Mehrheit der Abgeordneten stellen und bringen ihre eigenen, für ein Parlament un(BVerfGE 118, 277 [354]): „Das Volk hat Anspruch darauf zu wissen, von wem – und in welcher Größenordnung – seine Vertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen.“ Damit ist aber kein Anspruch in einem Rechtssinne gemeint, schon weil das Volk als die Summe der Staatsangehörigen nicht sinnvoll Träger eines solchen „Anspruchs“ sein kann. Vielmehr wird dort eine ethisch-politische Forderung formuliert, die das BVerfG im konkreten Begründungskontext der Entscheidung als Rechtfertigungsgrund anerkennt. 234  Hierzu Werner Braun/Monika Jantsch/Elisabeth Klante, Abgeordnetengesetz des Bundes, 2002, §  4 4a Rn.  2 ff. 235   Eingehend dargestellt bei Stefan Heck, Mandat und Transparenz: Anzeige und Veröffentlichung der Nebentätigkeiten von Bundestagsabgeordneten, 2014; Kühn (Fn.  205), S.  58 ff.; Sebastian Roßner, Offenlegungspflichten für die Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten, MIP 2007, 55 ff.; Hans Herbert von Arnim, Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten, DÖV 2007, S.  897 ff. 236   Klein (Fn.  40), Art.  38 Rn.  223c. Mit Recht kritisch zur konkreten Ausgestaltung Waldhoff (Fn.  110), S.  257 ff. 237   Namentlich zu den hinter Leitbildern stehenden – konkurrierenden sowie präter-rechtlichen – demokratietheoretischen Modellen Anne van Aaken, Regulierung durch Transparenz: Verhaltensregeln für Parlamentarier und ihre Realfolgen, Der Staat 49 (2010), S.  369 (386 ff.). 238   Dies sind typische Risiken verfassungsrechtlicher Leitbildargumentation. Vgl. zutreffend Uwe Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S.  157 (184 f.). 239   Mit Recht kritisch Joachim Linck, Verfestigung des Leitbilds von Berufsabgeordneten durch das BVerfG, NJW 2008, S.  24 ff.; gegenläufig etwa Bariş Çalişkan, Neues vom Abgeordneten – Der Berufspolitiker als notwendiger Bestandteil des Parlaments?, Jura 2009, S.  9 00 (903). 240   Hiergegen BVerfGE 118, 277 (327). 241   Hierzu (und in der Sache kritisch) Philipp Austermann, Das Abgeordnetenbild des Bundesverfassungsgerichts, ZParl 2012, S.  719 ff.

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verzichtbaren Perspektiven und Erfahrungen ein, dürfen aber nicht zum Maßstab für die rechtliche Ausgestaltung des Abgeordnetenmandats insgesamt genommen werden. Ein ganz erheblicher Teil der Mandatsträger geht neben dem Mandat – obgleich notwendigerweise in begrenztem Umfang – einem Beruf nach.242 Parlamente können es sich auf Grund ihrer zentralen Verantwortung für die demokratische Staatswillensbildung schlechterdings nicht leisten, auf einen hinreichenden Anteil an Mandatsträgern zu verzichten, die auch in anderen Berufen (und außerhalb des öffentlichen Dienstes) erfolgreich verwurzelt sind und wertvolle Erfahrungen und – ja, auch: – Sonderinteressen in die Politik einbringen.243 Dies gilt natürlich auch für nichtberufliche Perspektiven, die ein Parlament sinnvoll bereichern können, die aber nur marginal vertreten sind.244 Statt einer Kultur des Misstrauens wären auch hier wechselseitige Offenheit und Vielfalt notwendig, weshalb sich Regelungen empfehlen, die den Personal- und Erfahrungsraum des Parlamentarismus in beide Richtungen permeabel halten.

a)  Das geltende Recht Ausgangspunkt geltender Verhaltensregelungen ist §  44a Abs.  1 Satz  1 AbgG, wonach die Ausübung des Mandats im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Mitglieds des Bundestages steht, berufliche oder andere Tätigkeiten neben dem Mandat aber nach §  44a Abs.  1 Satz  2 AbgG grundsätzlich zulässig bleiben. Schon diese Regelungstechnik ist fragwürdig, weil Satz  1 das – auch vom BVerfG propagierte245 – Leitbild eines Vollberufspolitikers normiert, ohne Rechtsfolgen zu bestimmen, und verfassungsrechtliche Zweifel über einen – gemessen an Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG deklaratorischen – Verweis in Satz  2 zu zerstreuen sucht, der ebenfalls ein subsumtionsfähiges Normprogramm vermissen lässt. Hier wird das Symbol ohne Regelungsfunktion zum Selbstzweck. Entscheidende Bedeutung kommt demgegenüber der Regelung des §  44a Abs.  1–3 AbgG zu, wonach ein Mitglied des Bundestages die Ausübung des   In einer empirischen Untersuchung zu einem anderen Landtag gab immerhin über die Hälfte der Abgeordneten an, neben ihrem Abgeordnetenmandat in einem weiteren (meist bisherigen) Beruf tätig zu sein. Breite Mehrheiten der Abgeordneten stufen nach dieser Erhebung ihre berufliche Ausbildung als sehr wichtig oder wichtig für ihre Parlamentsarbeit ein; in noch höherem Maße gilt dies für die Erfahrungen in einem zuvor ausgeübten Beruf. Hiernach bewerteten die Berufserfahrungen für die Arbeit im Plenum 51,6 % für sehr wichtig und 29,0 % für wichtig. Siehe Stefan Ewert/Joanna Bars/ Hubertus Buchstein, Zur Bedeutung von Ausbildung und Beruf bei Landtagsabgeordneten: Empirische Anstöße zum Nachdenken über parlamentarische Repräsentation, ZParl 2010, S.  749 (757 f., 760 f.). 243   Wie z.B. Arbeitslose, Hausmänner/-frauen oder religiöse Minderheiten. Siehe statistisch Ewert/ Bars/Buchstein (Fn.  242), S.  756; Melanie Kintz, Die Berufsstruktur der Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestages, ZParl 2010, S.  491 (494 f.). Deren Zugang zu Parlamenten wird indes von den hier in Rede stehenden Regeln nicht spezifisch berührt, wenn er nicht generell rechtlicher Regelung entzogen ist. 244   Reziprok würde im Übrigen politische Erfahrung außerhalb des Parlaments vielleicht auch einer populären bildungsbürgerlichen Herablassung akademischer Gefühlseliten gegenüber den Mühen politischer Kompromissfindung entgegenwirken. Dahinter steht eine verbreitete Überbewertung des eigenen – kraft Professionalität oder Bildung erworbenen – Standpunkts, die grundlegend die demo­ kratische Gleichheit und deren Unabhängigkeit von kognitiven Fähigkeiten verkennt. Siehe treffend Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2009, S.  80. 245   BVerfGE 118, 277 (326). 242

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Mandats keine anderen als die gesetzlich vorgesehenen Zuwendungen oder andere Vermögensvorteile annehmen darf, namentlich – mit Ausnahme von Spenden (§  44a Abs.  2 Satz  4 AbgG) – die Annahme von Geld oder von geldwerten Zuwendungen, wenn diese Leistung ohne angemessene Gegenleistung des Mitglieds des Bundestages gewährt wird. Hiernach unzulässige Vermögensvorteile unterliegen nach §  44a Abs.  2 AbgG der Einziehung. Diese Regelung ist verfassungskonform, weil sie die originären Amtspflichten der Abgeordneten aus Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG sichert, indem das unmittelbare „Kaufen“ von unzulässigem – die Gesamtrepräsentationsfunktion und die demokratische Gleichheit unterlaufendem – Einfluss für illegal erklärt wird.246 Im Übrigen sind nach §  44a Abs.  4 Satz  1 AbgG Tätigkeiten vor Übernahme des Mandats sowie Tätigkeiten und Einkünfte neben dem Mandat, die auf für die Ausübung des Mandats bedeutsame Interessenverknüpfungen hinweisen können, nach Maßgabe der Verhaltensregeln (§  44b AbgG) anzuzeigen und zu veröffentlichen. Zuwiderhandlungen können nach §  44a Abs.  4 Satz  2 AbgG vom Präsidium durch Verhängung eines Ordnungsgeldes sanktioniert werden. Soweit dies als unbefriedigend qualifiziert wurde, weil keine wirksame Kontrolle stattfinde,247 handelt es sich um ein praktisches Vollzugsproblem, das die Gegenstandsadäquanz des Regelungsansatzes als solches nicht in Frage stellt. Nähere Einzelheiten werden nach §  44b AbgG durch Verhaltensregeln festgelegt, die sich der Deutsche Bundestag – im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art.  40 Abs.  1 Satz  2 GG) 248 – gibt. Diese enthalten nach §  44b AbgG namentlich Bestimmungen über die Fälle einer Pflicht zur Anzeige von Tätigkeiten vor der Mitgliedschaft im Bundestag sowie von Tätigkeiten neben dem Mandat (Nr.  1); die Fälle einer Pflicht zur Anzeige der Art und Höhe der Einkünfte neben dem Mandat oberhalb festgelegter Mindestbeträge (Nr.  2); die Pflicht zur Rechnungsführung und zur Anzeige von Spenden oberhalb festgelegter Mindestbeträge sowie Annahmeverbote und Ablieferungspflichten in den in den Verhaltensregeln näher bestimmten Fällen (Nr.  3 ); die Veröffentlichung von Angaben im Amtlichen Handbuch und im Internet (Nr.  4 ). Auch wenn es hierbei nicht um Verbote geht, sondern zunächst einmal nur um Transparenzpflichten, können diese mitunter prohibitiv wirken,249 sind also als Eingriff in die Freiheit des Mandats jedenfalls rechtfertigungsbedürftig.

246   von Arnim (Fn.  102), S.  250; zu einer landesrechtlichen Parallelregelung NdsOVG, NdsVBl. 2008, 226 (229 ff.); eingehende und differenzierte Bewertung Robert Käß, Das Verbot gegenleistungsloser Zahlungen an Abgeordnete (§  44a Abs.  2 AbgG) nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch 2010, S.  457 ff. 247   Morlok/Krüper (Fn.  112), S.  574. 248   Verhaltensregeln könnten auch durch Geschäftsordnungsrecht geschaffen werden. Insoweit würde die Ermächtigung des §  4 4b AbgG nicht benötigt. Ihre Regelungsfunktion ergibt sich aber letztlich aus dem Zusammenspiel mit der Eingriffsermächtigung des §  4 4a Abs.  4 AbgG, die auf Grund des Zugriffs auf das persönliche Statusverhältnis formell-gesetzlich sein muss. §  4 4b AbgG stellt insoweit die im Interesse demokratischer Determination erforderliche Verzahnung her. Richtigerweise hat der Gesetzgeber ein Wahlrecht, ob er eine Frage durch Geschäftsordnung oder formelles Gesetz regelt. So Lars Brocker, in: Epping/Hillgruber (Fn.  102), Art.  4 0 Rn.  36. 249   Zutreffend BVerwGE 135, 77 (87).

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b)  Bewertung im Lichte der Freiheit des Mandats Solche Verhaltensregeln sind ihrerseits an die Freiheit des Mandats nach Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG rückanzubinden. Die Freiheit des Mandats ist zunächst nicht mit der subjektiven Freiheit eines Grundrechtsträgers gleichzusetzen, da die verfassungsrechtliche Garantie nicht Freiheitsentfaltung zur privaten Beliebigkeit, sondern einen Funktionsbereich innerhalb staatlicher Institutionen schützt, nämlich den Abgeordneten bei der Erfüllung ihrer amtlichen Aufgaben die zur Mandatsausübung notwendigen Freiräume sichern soll.250 Der Abgeordnetenstatus ist insoweit auf rechtliche Ausgestaltung angewiesen,251 was sich aus Art.  38 Abs.  3 GG ergibt, der sich auch auf den Abgeordnetenstatus bezieht252. Die Inanspruchnahme der darin enthaltenen Ermächtigung an den Bundesgesetzgeber, das Nähere zu regeln, hat hierbei allerdings die Grenzen des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG zu achten.253

aa)  Schutzrichtung der Abgeordnetenfreiheit Namentlich sind Abgeordnete keine Mitglieder des öffentlichen Dienstes.254 Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG verhindert insoweit, dass Mandatsträger in ein beamtenähnliches – sprich: auf Weisungsgebundenheit gründendes und auf die Erfüllung konkreter Dienstpflichten programmiertes – dienstrechtliches Korsett gezwängt werden. Gerade die Ausübung des Mandats ist freigestellt, was allgemein „Freiheit von Fremd­ bestimmung“ bedeutet.255 Die Abgeordneten schulden in Abgrenzung zum Beamten rechtlich nicht die Erfüllung konkreter Dienstpflichten. Sie nehmen vielmehr in Freiheit ein Mandat wahr und entscheiden in freier Eigenverantwortlichkeit über die Form der Wahrnehmung.256 Insbesondere ist der Abgeordnete frei, wie er sein Mandat ausübt, wie er sich die zur Mandatsausübung notwendigen Informationen verschafft, wie er seine Arbeitszeit einteilt und wie er Prioritäten und Posterioritäten innerhalb seiner vielfältigen Aufgaben setzt. Dahinter steht die positivierte Erwartung, dass die Repräsentationsfunktion gewählter Abgeordneter nur bei größtmöglicher Freiheit dem Gemeinwohl am besten dient. Die Verfassung geht mithin im Grundsatz auch um der Freiheit parlamentarischer Willensbildung willen und im Vertrauen auf eine Ethik des freiheitlichen Parlamentarismus das Risiko ein, dass ein Abgeordneter den ihm aus seinem Mandat erwachsenden Auftrag vernachlässigt oder kein Ethos der Amtlichkeit entwickelt.   Allgemeine Meinung, vgl. etwa Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Fn.  165), Art.  38 Rn.  36.   Entsprechend zu Art.  30 NWVerf Wolfgang Löwer, in: ders./Peter J. Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art.  30 Rn.  45. 252  BVerfGE 118, 277 (353); Hermann Butzer, in: Epping/Hillgruber (Fn.  102), Art.  38 Rn.  131; Kühn (Fn.  205), S.  75; Magiera (Fn.  182), Art.  38 Rn.  115; Waldhoff (Fn.  110), S.  252. 253   Kühn (Fn.  205), S.  75. 254   Vgl. BVerfGE 40, 296 (321); 76, 256 (341 ff.); Butzer (Fn.  252), Art.  38 Rn.  89; Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Fn.  165), Art.  40 Rn.  36. 255   Hans J. Thesling, in: Andreas Heusch/Klaus Schönenbroicher (Hrsg.), Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art.  30 Rn.  15. 256   BVerfGE 40, 296 (316); 76, 256 (341); 118, 277 (326). 250 251

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bb)  Zulässigkeit von Nebentätigkeiten Zur Abgeordnetenfreiheit zählt es auch, dass Abgeordnete neben dem Mandat andere Tätigkeiten ausüben dürfen,257 weil sie in ihrer Zeitgestaltung frei sind und daher auch die Zeit, die nicht für die Wahrnehmung des Mandats benötigt wird, für Nebentätigkeiten verwendet werden kann. Ein generelles Verbot von Nebentätigkeiten wäre von vornherein mit Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG unvereinbar. Es wäre nicht erforderlich, weil nicht jede Tätigkeit neben dem Mandat zu einer Gefährdung der Funktionen des Abgeordnetenmandats oder der hauptberuflichen Mandatsausübung führen muss. Ein absolutes Verbot würde zudem die Abgeordneten in eine weitere Abhängigkeit der Parteien drängen, die über die Aufstellung von Wahlkreiskandidaten und Listen letztlich maßgeblich über den Verbleib im Parlament über eine Legislaturperiode hinaus mitbestimmen. Damit würde aber die Schutzfunktion des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG unterlaufen. Ein absolutes Verbot würde zudem die betroffenen Grundrechte der Abgeordneten (Art.  12 Abs.  1 GG, jedenfalls Art.  2 Abs.  1 GG) 258 verletzen, da es allen Amtswaltern – auch Abgeordneten – frei steht, Arbeitskraft in der Freizeit zu verwerten, solange Funktionsinteressen des Amtes nicht beeinträchtigt werden.259 Auch Abgeordnete bleiben außerhalb der Mandatsausübung Grundrechtsträger.260 Die Ausübung von Nebentätigkeiten ist nicht Bestandteil der amtlichen Funktionen der Abgeordneten, sondern eine private Tätigkeit, die – wie auch bei Beamten in Bezug auf deren außerdienstliche Nebentätigkeiten – Grundrechtsschutz genießt. Wenn Offenlegungspflichten ungeachtet ihrer mittelbaren Relevanz für die berufliche Nebentätigkeit vom BVerfG nicht an Grundrechten, sondern ausschließlich an der funktionalstaats­organisationsrechtlichen Freiheit des Mandats gemessen werden,261 greift dies zu kurz. Insoweit würden die Abgeordneten, obschon sie qua Verfassung über eine weitergehende Freiheit bei der Ausübung ihres Mandats genießen, schlechter gestellt als weisungsabhängige Beamte. Nebentätigkeiten sind auch nicht per se mit der Amtlichkeit des Mandats unvereinbar.262 Sie können im Einzelfall sogar positive Auswirkungen auf die spezifische Amtswahrnehmung haben, namentlich der Verknüpfung von Abgeordnetentätigkeit einerseits und sozialem Umfeld des Parlaments andererseits dienen. Abgeordnete werden mit konkreten Befähigungen und ggf. beruflichen Erfahrungen als individu  BVerfGE 40, 296 (312 ff.).   Ausnahmeregelungen sind überdies insoweit erforderlich, als neben dem freien Mandat wahrgenommene Tätigkeiten besonderen Grundrechtsschutz genießen. So sollte etwa eine Freistellung von der Anzeigepflicht erfolgen, soweit wissenschaftliche Nebentätigkeiten oder Nebentätigkeiten, die im Zusammenhang mit der freien Religionsausübung stehen, im Hinblick auf Art.  5 Abs.  3 Satz  1, Art.  4 Abs.  1–2 GG von der Anzeigepflicht freigehalten werden. 259   Aus dem Beamtenrecht BVerfGE 33, 44 (48); 55, 207 (238); BVerfG-K, NVwZ-RR 2007, 185; BVerwGE 25, 210 (219 f.); 29, 304 (307); 31, 241 (248); 35, 201 (205); 40, 11 (15); 41, 316 (322); 60, 254 (255); Maximilian Baßlsperger, Nebentätigkeiten von Beamten: Rechtsprobleme – Lösungsansätze, ZBR 2004, S.  369 (372); Hans-Jürgen Papier, Versagung der Nebentätigkeitsgenehmigung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, DÖV 1984, S.  536 (537). 260   Zutreffend die Richter Hassemer/Di Fabio/Mellinghoff/Landau, BVerfGE 118, 277 (378). 261   BVerfGE 118, 277 (320). 262   Tendenziell kritisch aber Kühn (Fn.  205), S.  239. 257

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elle Persönlichkeiten in das Parlament gewählt und dürfen als Repräsentanten auch diese spezifischen, biografisch eingeprägten Erfahrungen in das Parlament transportieren.263 Um die Bezüge zum jeweiligen beruflichen Umfeld aufrecht zu erhalten, können sich Abgeordnete entschließen, neben dem Mandat weiteren (beruflichen) Tätigkeiten nachzugehen. Schließlich dienen berufliche Nebentätigkeiten auch dazu, durch berufliche Praxis einen späteren Wiedereinstieg in einen bürgerlichen Beruf offen zu halten und gerade hierdurch Abhängigkeiten (namentlich von der jeweiligen Partei) zu reduzieren.264 Abgeordnete, die auf ihr Mandat nicht angewiesen sind, weil sie bei Mandatsverlust jederzeit wieder in einem früheren bzw. erlernten Beruf ein Auskommen finden, sind besonders unabhängig. Man mag verfassungspolitisch darüber diskutieren, ob Unabhängigkeit überhaupt (noch) ein sinnvolles Leitbild repräsentiert oder ob der ‚abhängige‘, dafür aber berechenbare Abgeordnete den Wählerinteressen, namentlich der primär programmorientierten Wahlentscheidung, nicht sogar besser gerecht würde265. Jedenfalls das Grundgesetz hat sich in Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG für ein bestimmtes Modell der Amtlichkeit des Mandats entschieden, das nicht zur Disposition gesellschaftlicher Entwicklungen oder eines – immer leichter behaupteten als nachgewiesenen – sozialen Funktionswandels steht.

cc) Beschränkungen Einschränkungen der Freiheit des Mandats sind als Ausdruck des Selbstorganisa­t ions­ rechts des Parlaments zwar möglich.266 Hierbei sind im Anwendungsbereich des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG aber nur solche abgeordnetenspezifischen Regelungen zulässig, die die Besonderheiten des Abgeordnetenstatus, also seinen spezifischen Amts­ charakter, konkretisieren. Der Abgeordnete muss im Rahmen der Verhältnismäßigkeit solche Beschränkungen hinnehmen, die dazu dienen, die Repräsentationsfunktion des Mandats als solche sicherzustellen.267 Die Abgeordneten können im Rahmen 263   Vgl. Abweichende Meinung der Richter Hassemer/Di Fabio/Mellinghoff/Landau, BVerfGE 118, 277 (378); Klein (Fn.  4 0), Art.  38 Rn.  223c. 264   Mit Recht Abweichende Meinung der Richter Hassemer/Di Fabio/Mellinghoff/Landau, BVerfGE 118, 277 (378); Löwer (Fn.  251), Art.  30 Rn.  62. Die hiergegen von vier Richtern des BVerfG angeführten Argumente (BVerfGE 118, 277 [327 ff.]) überzeugen nicht, da sie rein empirisch mit der Berufswirklichkeit von Abgeordneten argumentieren, aber nicht normativ mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit, die es einem Abgeordneten eben auch erlaubt, sich nicht konform zu parlamentarischen Sozialnormen zu verhalten. 265   Die hohe öffentliche Wertschätzung für parlamentarische Renegades und beruflich Erfolgreiche, die sich in deren Wahlkreiserfolgen spiegelt, indiziert jedenfalls, dass sich einfache Antworten verbieten. 266   BVerfGE 80, 188 (219); 84, 304 (321); 96, 264 (279); 99, 19 (32); 118, 277 (324); Klein (Fn.  40), Art.  38 Rn.  218; Löwer (Fn.  251), Art.  30 Rn.  72; Magiera (Fn.  182), Art.  38 Rn.  68; Bodo Pieroth, in: Jarass/ders. (Fn.  165), Art.  38 Rn.  40. 267   BVerfGE 118, 277 (324): „Wird das Volk bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes, das heißt die Gesamtheit seiner Mitglieder, angemessen repräsentiert, so muss die Mitwirkung aller Abgeordneten bei derartigen Entscheidungen nach Möglichkeit und im Rahmen des im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes Vertretbaren sichergestellt sein. Es entspricht dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und liegt im konkreten Interesse des Wählers und der Bevölkerung insgesamt, dass der Abgeordnete sein ihm anvertrautes Amt auch tatsächlich ausübt.

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parlamentarischer Selbstorganisation insoweit aber auch nur in Anspruch genommen werden, als die Kompetenz des Deutschen Bundestags reicht, seine eigene Organisation und Geschäftstätigkeit zu regeln. Folglich lassen sich auch Einschränkungen ausschließlich mit parlamentarischen Belangen (Funktionstüchtigkeit des Parlaments) rechtfertigen.268 Regelungen, die nicht Parlamentsfunktionen sichern, sondern namentlich auf allgemeinen berufsethischen Erwägungen oder moralischen Erwartungen gründen, sind daher unzulässig, zumal es Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG jedem Abgeordneten selbst überlässt, nach freiem Gewissen eigenen berufsethischen oder moralischen Prinzipien zu folgen. Namentlich das Ansehen der Abgeordneten in der Öffentlichkeit ist – anders als bei Beamten 269 – kein zulässiger Belang, Eingriffe in die Freiheit des Mandats zu rechtfertigen. Etwaige Ansehensverluste sind allein durch Abwahl auf demokratischem Wege sanktionierbar, da der Wahlkampf auch der Ort ist, an dem der (Wieder-)Bewerber um ein Mandat seine Reputation einbringen und zur Abstimmung stellen kann. Richtigerweise sind auch rein fiskalpolitische Erwägungen (sprich: Alimentation) kein tragfähiger Rechtfertigungsgrund,270 weil dem Abgeordneten eben keine konkreten Berufspflichten übertragen sind, für deren Erfüllung er angemessen entlohnt wird 271. Auch wenn es sich bei der Freiheit des Mandats nach Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG nicht um ein Grundrecht handelt, ist doch – entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ein Eingriff nur zulässig, wenn er geeignet, erforderlich und ­angemessen bleibt.272 Auf der Stufe der Angemessenheit ist eine Interessenabwägung erforderlich, um die Grenzen des Zumutbaren zu bestimmen, wovon auch das ­BVerfG ausgeht273. Dies schließt insbesondere hinreichende rechtsstaatliche Sicherungen ein, mit denen sich ein pauschaler Veröffentlichungsautomatismus nicht verträgt.274 Eine Anzeigepflicht für sämtliche Tätigkeiten, die ein Mandatsträger neben seiner Mandatsausübung wahrnimmt, ist schon nicht erforderlich. So muss etwa gewährleistet sein, dass der Abgeordnete Nebeneinkommen nur insoweit offen legen muss, als hieraus eine besondere Risikostruktur für die sachlich unabhängige und hauptberufliche Mandatsausübung erkennbar wird. Hierzu ist die abstrakte Höhe eines außerhalb des Mandats erzielten Honorars nur begrenzt aussagekräftig,275 weil diese erst in Relation zur konkreten Gegenleistung oder der damit verbundenen zeitlichen InanspruchnahNur so kann das Parlament möglichst vollständig, das heißt unter aktiver Teilnahme aller Abgeordneten seine Aufgaben wahrnehmen“. 268   Undeutlich BVerfGE 118, 277 (324): 269   BVerwGE 124, 347 (354 f.); HessVGH, ESVGH 54, 117 (120). 270   Partiell anders BVerfGE 118, 277 (325); ebenfalls abweichend Kühn (Fn.  205), S.  239. 271   BVerfGE 76, 256 (341). 272   BVerwGE 135, 77 (86). 273   BVerfGE 118, 277 (353): „Über Gegenstand und Reichweite von Offenbarungspflichten hat der Gesetzgeber […] zu entscheiden und dabei die betroffenen Rechtsgüter einem angemessenen Ausgleich zuzuführen“. 274   Dies haben die Richter Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau eingehend dargelegt, siehe BVerfGE 118, 277 (377 ff.). 275   Wie hier Waldhoff (Fn.  110), S.  254. Das parallele Problem stellt sich auch im Beamtennebentätig­ keitsrecht. Wie hier Peter Badura, Die Anzeigepflicht für eine schriftstellerische oder wissenschaftliche Nebentätigkeit von Beamten, ZBR 2000, S.  109 (111); Baßlsperger (Fn.  259), S.  376; Helmut Lecheler, Die Selbstbestimmung der Dienstleistung eines Professors, PersV 1990, S.  299 (304); Fritz Ossenbühl/ Matthias Cornils, Nebentätigkeit und Grundrechtsschutz, 1999, S.  107.

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me mögliche Funktionsbeeinträchtigungen erkennen lassen (etwa hohes zeitliches Engagement neben dem Mandat oder hohe Vergütungen für geringe Gegenleistungen,276 was auf eine unzulässige Einflussnahme deuten kann). Die bloße Fortsetzung einer bisherigen Berufsausübung indiziert demgegenüber – bei notwendig typisierender Betrachtung – gerade keine unzulässige Verknüpfung des Mandats mit parlamentsexternen wirtschaftlichen Interessen, zumal sich auch Berufe und Berufspflichten deutlich unterscheiden, weshalb einheitliche und generelle Regelungen bestimmte Abgeordnete qualifiziert belasten.277 So macht es einen Unterschied, ob beispielsweise jemand Geld mit Vortrags- oder Beratungstätigkeiten verdient, die ihm erst im Zusammenhang mit seiner Rolle als Mandatsträger angetragen wurden, oder ob etwa ein Arzt in einem besonderen Vertrauensverhältnis Patienten behandelt bzw. ein Rechtsanwalt die Strafverteidigung eines Mandanten übernimmt. Verfassungsrechtlich ist daher schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine hinreichende Differenzierung geboten. Konsequenterweise unterwirft §  44a Abs.  4 AbgG nur solche Tätigkeiten der Anzeigepflicht, die „auf für die Ausübung des Mandats bedeutsame Interessenverknüpfungen hinweisen können“.278 Entgegen teils missverständlichen Aussagen von BVerwG279 und BVerfG280 lassen sich aus der formalen Gleichheit der Abgeordneten keine zwingenden Argumente gegen eine berufsspezifische Differenzierung ableiten. Alle Abgeordneten sind zwar selbstverständlich formell gleichgestellt. Jedoch können sich aus ihren unterschied­ lichen biografischen Hintergründen, insbesondere beruflichen Tätigkeiten vor Mandatserlangung, auch rechtlich relevante unterschiedliche Konfliktlagen ergeben. Eine Differenzierung von Anzeigepflichten nach Berufsgruppen dient insoweit gerade der Herstellung von materieller Gleichheit unter den Abgeordneten, weil Benachteiligungen – unabhängig von den (empirisch kaum gesicherten 281) Realfolgen – vermieden werden, die sich aus berufsbedingten Interessenskonflikten ergeben, die eben nur bei bestimmten Abgeordneten auftreten. Eine Ausdehnung von Transparenzpflichten auch auf Dritte (etwa Familienangehörige, Ehepartner, Eingetragene Lebenspartner) ist von vornherein unzulässig,282 da das Selbstorganisationsrecht des Parlaments – gleich ob über Art.  38 Abs.  3 oder über Art.  40 Abs.  1 Satz  2 GG – nur eine Regelung des Abgeordnetenstatus rechtfertigt, nicht aber die Auferlegung von Pflichten gegenüber Dritten,283 die weder dem Par-

  Eine Beschränkung rechtfertigt sich nur, soweit es um Sondereinflüsse geht, die dadurch entstehen, dass einem Mandatsträger Vorteile gewährt werden, die in einem auffälligen (Miss-)Verhältnis zur erbrachten Gegenleistung stehen, also indizieren, dass über den vertraglichen Leistungsaustausch hinaus ein besonderes Interesse an der Pflege „guter Beziehungen“ zu einem Abgeordneten besteht. Solche Fälle werden jedoch bereits von §  4 4a Abs.  2 AbgG erfasst und untersagt. Denn wer eine Vergütung annimmt, die außer Verhältnis zur Gegenleistung steht, erhält materiell eine Zuwendung, deren Annahme untersagt ist und nach §  4 4a AbgG sanktioniert werden kann. 277   Anders aber Käßner (Fn.  127), S.  171. 278   Für verfassungskonform befunden: BVerfGE 118, 277 (360 f.). 279   BVerwGE 135, 77 (92). 280   BVerfGE 118, 277 (364). 281  Hierzu van Aaken (Fn.  237), S.  390 ff. 282  Abweichend Käßner (Fn.  127), S.  176 ff. 283   Vgl. BVerfGE 1,144 (148); Brocker (Fn.  248), Art.  4 0 Rn.  29 f.; Magiera (Fn.  182), Art.  4 0 Rn.  22. 276

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lament zugehörig sind noch in rechtlich maßgeblicher Weise beeinflussen können, ob ein Angehöriger ein Mandat erwirbt bzw. annimmt.

5. Amtseide Eine besondere Sichtbarmachung erfährt die Amtlichkeit in den zu leistenden Amtseiden,284 die das Grundgesetz als besonderes Phänomen der Exekutivspitze kennt (Art.  56 Satz  2, Art.  64 Abs.  2 GG) und die einfach-gesetzlich für das Verfassungsor­ gan BVerfG in Form des Richtereides (§  11 BVerfGG) in Tradition des Beamtenund Richterdienstrechts (§  38 BeamtStG285, §  64 BBG, §  38 DRiG) nachgebildet ist. Meist wird dem Amtseid eine rechtliche Bedeutung abgesprochen.286 Und in der Tat: Die Bedeutung der Eidesleistung ist in einem säkular verfassten Staat nicht einfach zu verorten,287 weil sie ihrer Herkunft nach mit religiöser288 respektive magisch-mystischer Symbolik beladen ist,289 die sich weder vollständig abstreifen 290 noch in justiziable Gewährleistungen übersetzen 291 lässt. Im Prozessrecht behält der Eid allein durch die erhöhte Strafandrohung bei Falschaussagen (§  154 StGB) eine rationale Bedeutung,292 die aber den sanktionslosen Amtseiden völlig fehlt. Der Amtseid wird hier zu einem bloßen Ritual, das keine Regelungsfunktionen übernimmt, sondern die ­öffentliche Verantwortung des Amtes symbolisieren soll.293 Die dahinter stehende Erwartung an die integrative Kraft ritualisierter Staatssymbolik 294 mag sich verfassungstheoretisch vor dem Hintergrund der – freilich voraussetzungsvollen und auf dem Rückzug befindlichen – Integrationslehren 295 sinnvoll erklären.296 Die Überhö Vgl. Uerpmann (Fn.  18), S.  50.   Beamtenstatusgesetz v. 17.6.2008 (BGBl. I S.  1010), das durch Art.  15 Abs.  16 des Gesetzes v. 5.2.2009 (BGBl. I S.  160) geändert worden ist. 286   Vgl. etwa Anderheiden (Fn.  2 ), S.  501 f.; Martin Nettesheim, Der Bundespräsident, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. III, 3.  Aufl. (2005), §  61 Rn.  53. 287  Eingehend Marion G. Müller, Eid und Ehre: Politische Eidesleistungen zwischen christlicher Tradition und zivilreligiösem Bekenntnis, in: Matthias Hildebrandt/Manfred Brocker/Hartmut Behr (Hrsg.), Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften, 2001, S.  203 ff. 288   Die optionale religiöse Bekräftigung zeigt dies weiterhin. 289   Martin Honecker, Eid, in: Werner Heun/Martin Honecker/Martin Morlok/Joachim Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp.  4 02. 290   Kritisch etwa Horst Woesner, Der Gerichtseid als Fremdkörper in der verfassungsmäßigen Ordnung, NJW 1973, S.  169 ff.; eingehende Diskussion bei Thomas Vormbaum, Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils: Untersuchungen zum Strafrechtsschutz des strafprozessualen Verfahrenszieles, 1987. 291   Christian Waldhoff/Holger Grefrath, in: Friauf/Höfling (Fn.  3 ), Art.  56 Rn.  2 . Eingehend Andreas Wetzel, Eid und Gelöbnis im demokratischen, weltanschaulich neutralen Staat, 2001, S.  91 ff. 292  Skeptisch Thomas Vormbaum, in: Urs Kindhäuser/Ulfried Neumann/Hans-Ullrich Paeffgen (Hrsg.), Systematischer Kommentar StGB, Bd. 2, 4.  Aufl. (2013), §  154 StGB, Rn.  9. Vgl. auch die praktischen Erosionserscheinungen, die heute normativ durch die Ausnahme der Eidesleistung nach §  59 StPO abgebildet werden, vgl. Ulrich Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8.  Aufl. (2013), Rn.  1133 ff. 293   Klaus Ferdinand Gärditz, in: Lars Brocker/Michael Droege/Siegfried Jutzi (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz, 2014, Art.  100 Rn.  2 . 294   Waldhoff/Grefrath (Fn.  291), Art.  56 Rn.  2 ; entsprechend Wilfried Ebling, in: Christoph Grimm/ Peter Caesar (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art.  100 Rn.  3 ; Joachim Linck, in: ders,/ Siegfried Jutzi/Jörg Hopfe (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Thüringen, 1994, Art.  71 Rn.  1. 295   Vgl. im Kontext der Symbolik nur Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S.  260 ff. 296  So Waldhoff/Grefrath (Fn.  291), Art.  56 Rn.  2 . 284 285

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hung zu einem Element des materiellen Verfassungsschutzes297 verkennt die Begrenzung des Eides auf das Symbolisch-Kommunikative, das bewusst von Rechtsfolgen freigehalten wird. Letztlich geht es bei dem Amtseid um demokratische Ikonografie, die über die Rationalität von Tatbestand und Rechtsfolge hinausdeutet und einen Bedarf der Öffentlichkeit an politischer Symbolik zu befriedigen sucht,298 die auch Stabilisierungsfunktionen zeitigen kann. Etwa die Instrumentalisierung des Arguments Eidbruch im politischen Meinungskampf verdeutlicht dies.299 Der Amtseid ist hiernach weniger ein Instrument, Amtspflichten von Mitgliedern eines Verfassungsorgans zu sichern, als die Amtlichkeit sowie die daraus folgenden Verpflichtungen öffentlich sichtbar zu machen. Wenn man an dieser – nicht zwingend verblassenden – Symbolik festhalten möchte, erscheint es eher defizitär, gerade die – in der öffentlichen Wahrnehmung sowie in populärer Publizistik300 am meisten angegriffene – Amtlichkeit des Abgeordnetenmandats aus dieser Symbolik auszusparen.301

6.  Sicherung des Amtsprinzips durch Begrenzung der nachamtlichen Tätigkeit? Ob sich Amtspflichten von Mitgliedern eines Verfassungsorgans präventiv auch dadurch sichern lassen, dass berufliche Tätigkeiten nach dem Ausscheiden aus einem Amt gesetzlich beschränkt werden, ist bislang nicht geklärt. Anlass öffentlicher Debatte haben hierbei in jüngerer Zeit spektakuläre Wechsel aus Regierungsämtern in Berufe in der Wirtschaft geboten. Die öffentlich ventilierte Empörung ersetzt hierbei freilich keinen eingrenzbaren und rationalen Regelungszweck, solche – bislang unregulierten – Funktionswechsel durch nachgelagerte Inkompatibilitäten einzuschränken. Gefühlter Regelungsbedarf dürfte vor allem dadurch beflügelt werden, dass nach dem Ausscheiden aus einem Verfassungsorgan keine politische Sanktionierung mehr möglich ist. Wer ein Regierungsamt verliert oder für einen gut dotierten Posten aufgibt, bleibt der Mechanik demokratischer Verantwortlichkeit entzogen. Geht es darum, dienstlich erlangte Geheimnisse zu schützen, sind entsprechende – straf bewehrte – Geheimschutzvorschriften (§§  94 ff., 353b StGB) völlig ausreichend, ein (insoweit ohnehin wirkungsloses) Berufsverbot wäre also nicht erforderlich. Soll eine Vermarktung von rechtlich nicht geschütztem „Herrschaftswissen“ (Erfahrungen, Kontakten) und Reputation verhindert werden, fehlt es schon an einem legitimen Zweck, jedenfalls an der Zumutbarkeit eines Berufsverbots. Denn berufliche Erfahrungen in der Politik sind Bestandteil der persönlichen Biographie geworden, die auch eine vormalige Amtsträgerin oder ein Amtsträger – wie jeder andere Mensch – im Interesse beruflichen Fortkommens als Qualifikation nutzen   Schröder, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn.  52), Art.  64 Rn.  36.   Gärditz (Fn.  293), Art.  100 Rn.  2 . 299   Vgl. auch Nettesheim (Fn.  286), §  61 Rn.  51. 300  Etwa Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener: Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?, 1995; ders., Fetter Bauch regiert nicht gern: Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben, 1999; ders., Vom schönen Schein der Demokratie: Politik ohne Verantwortung – am Volk vorbei, 2002; ders., Korruption: Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft, 2003; ders., Der Verfassungsbruch: Verbotene Extra-Diäten – Gefräßige Fraktionen, 2011. 301   Vgl. für diese abgerissene Traditionslinie etwa den Amtseid der Landtagsmitglieder nach Titel VII, §  25 der Verfassung des Königreichs Bayern von 1818. 297

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kann. Öffentliche moralische Empörung ist ebenso wenig legitimer Regelungszweck wie das krampf hafte Bemühen, Neiddebatten zu unterdrücken. Damit verbleiben letztlich nur zwei legitime Regelungsansätze, die jeweils auf den präventiven Schutz des entpersonalisierten Amtes abstellen: Das Ansehen der jeweiligen Ämter in der Öffentlichkeit ist ein prinzipiell legi­ times Regelungsziel, weil die Funktionstüchtigkeit repräsentativ-demokratischer Institutionen auch davon abhängt, dass es gelingt, ein Mindestmaß an Vertrauen in die Amtlichkeit und damit die gemeinwohlorientierte Uneigennützigkeit der Amtsführung sicherzustellen, um die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen als allgemeinverbindlicher Maßstab zu stabilisieren. Solche aus dem Beamtenrecht bekannten Erwartungen, voreingenommene oder eigennützige Amtsführung schon präventiv zu vermeiden,302 haben freilich kaum das Gewicht, über das Amt hinaus einschneidende Folgen wie ein Berufsverbot zu begründen. Ein Verbot nachgelagerter Tätigkeiten könnte zudem dazu dienen, bereits im Vorfeld einem Missbrauch des aktiven Amtes entgegenzuwirken, um sich nachgelagerte Vorteile zu ‚erdienen‘, also etwa günstige Entscheidungen für eine konkrete Interessengruppe herbeizuführen oder eine bestimmte Politik durchzusetzen, weil man sich eine spätere Beschäftigung oder Vergünstigung erhofft. Ein Verbot, nach Beendigung des Amtes entsprechende berufliche Tätigkeiten zu übernehmen, erscheint jedoch lediglich unter qualifizierten Voraussetzungen zumutbar: Erstens lassen sich nur solche Berufstätigkeiten untersagen, die in einem konkreten Bezug zur vorherigen Amtstätigkeit stehen und daher die konkrete Gefahr gemeinwohlrelevanter Interessenkonflikte hervorrufen.303 Zweitens lassen sich solche Verbote nur für überschaubare Zeiträume aufrechterhalten, die notwendig sind, einer unmittelbaren Merkantilisierung des Amtes entgegenzuwirken. Drittens sind Verbote nur zumutbar, wenn es sich um ein exponiertes Amt handelt, das realen Einfluss eröffnet, was bei einem schlichten Abgeordnetenmandat schon auf Grund der Einbindung in ein pluralistisch-kollegiales Gesetzgebungsverfahren zu verneinen sein dürfte. Viertens korrespondiert der öffentlichen Erwartung an die Amtlichkeit eine öffentliche Alimentierungslast. Wer ehemalige Mitglieder von Verfassungsorganen daran hindern will, ihre Erfahrungen beruflich zu verwerten, muss für den relevanten Zeitraum auch die Last der Alimentierung – entsprechend dem Entschädigungsgedanken des Art.  48 Abs.  3 GG – tragen.

III.  Resümee: Amtsprinzip zwischen rechtsstaatlicher Sicherung der Rechtsbindung und demokratischem Voluntarismus Insgesamt hat der hiesige Überblick gezeigt, dass das Amtsprinzip erwartungsgemäß bei Mitgliedern von funktional entlang der Gewaltengliederung ausdifferenzierten Verfassungsorganen auf sehr unterschiedliche Weise gesichert wird. Beeinflusst wird dies sowohl von der jeweiligen Rollenfunktion eines Verfassungsorgans im Rahmen  Siehe §  99 Abs.  2 Satz  1 Nr.  4 BBG; Ulrich Battis, BBG, 4.  Aufl. (2009), §  99 Rn.  13; Helmut Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 8.  Aufl. (2013), §  7 Rn.  20. 303   Dies ist z.B. offensichtlich nicht der Fall, wenn eine ehemalige Bundesverfassungsrichterin in den Vorstand eines Automobilkonzerns wechselt. 302

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der Konkretisierung und Individualisierung des Rechts als auch von den jeweiligen Mechanismen der Legitimationssicherung. Öffentliche Gewalt, die der Verwaltungsbeamte – als solcher der Kristallisationspunkt der tradierten Dogmatik des Amtsprinzips – ausübt, wird vornehmlich über die Gesetzlichkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes) legitimiert, weshalb sich das Amtsprinzip hier im Wesentlichen auf eine flankierende Berufsethik gesetzmäßigen Verwaltens reduzieren lässt, was vor allem fallbezogene Sicherungen (wie Befangenheitsregelungen) erfordert. Entsprechendes gilt für die Gerichtsbarkeit, das BVerfG als Verfassungsorgan eingeschlossen. Auf Verfassungsorgane mit vornehmlich demokratisch-politischer Gestaltungsfunktion lassen sich diese an den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums entwickelten und vornehmlich der rechtstaatlichen Einhegung dienenden Prägungen des Amtsprinzips nur sehr begrenzt übertragen, weil sich die Entscheidungsräume bei der Verfassungsanwendung graduell zu stark von denen des administrativen Gesetzesvollzugs unterscheiden und die Legitimierungsbedürfnisse auf konkret-individueller und abstrakt-genereller Ebene korrespondierend zur Nähe bzw. Distanz zu den Einzelnen divergieren. Amtspflichten politischer Verfassungsorgane müssen daher auch funktionsadäquat anders gesichert werden, um die Eigenrationalität politischer Willensbildung nicht zu gefährden. Eine Überhöhung des Amtsprinzips läuft – wie alle materialen Gemeinwohlerwartungen – Gefahr, die Politizität von Entscheidungen und damit reale Interessenkonflikte entweder zu camouflieren oder durch Überrationalisierung dem politischen Prozess und damit dem selbstbestimmungsinhärenten Voluntarismus demokratischen Entscheidens zu entziehen. Eine politische Fortentwicklung, die auf strukturelle Defizite reagiert, bedarf daher differenzierter sowie problemsensibler Lösungen und keines moralischen Overkills unter dem Schirm eines dysfunktional idealisierten Amtsprinzips.304 Distanzschutz im demokratischen Verfassungsstaat 305 ist darauf angewiesen, ein Amtsethos zu erzeugen, das sich aber mit steigender Politizität der Entscheidungen vor allem durch institutionell geprägte Selbstverständnisse herstellen lassen muss, zu denen rechtliche Regelungen nur begrenzt beitragen können.

  In diesem Sinne auch Waldhoff (Fn.  110), S.  254.   Heinrich Lang, Gesetzgebung zwischen Objektivität und Befangenheit, in: Winfried Kluth/Günter Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, §  5 Rn.  23. 304 305

Das „Amt“ der Abgeordneten Zum Nutzen eines Relationsbegriffs im Spannungsfeld von Mandat und Person von

PD Dr. Albert Ingold, Universität München Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Die Bedeutung des Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Das Amt in Rechtssätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Das Amt in dogmatischen Sätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Heuristische Erwartungen an das Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Das Amt als Relation von Mandat und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Das Mandat der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Mandat und Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Normativer Rückkopplungsbedarf beim Mandatsrekurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Die Teilhabedimension des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Die Freiheitsdimension des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Die Abgeordneten als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Kein Grundrechtsschutz für die Abgeordnetentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Grundrechtsschutz neben der Abgeordnetentätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Spezielle persönliche Garantien für Mandatsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 IV. Konvergenzen und Wechselwirkungen von Mandat und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Einwirkungen wegen des Mandats auf die Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Einwirkungen wegen der Person auf das Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Verfassungsrechtsdogmatische Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Einleitung Die Rede vom Amt einer bzw. eines Abgeordneten ist nicht nur alltagssprachlich geläufig, sondern auch im juristischen Kontext wird der durch Wahlen begründete Tätigkeitsbereich von Abgeordneten sehr verbreitet als Amt verstanden. Besonders

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prominent rekurriert das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung zur Charakterisierung der Rechtsstellung aus Art.  38 Abs.  1 GG auf eine Trias, in der das Amt den erstgenannten Bezugspunkt bildet: Die Abgeordneten seien danach Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger eines freien Mandats und Vertreter des ganzen Volkes.1 Und auch die rechtswissenschaftliche Kommentarliteratur zu Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG gewinnt – insoweit fast einhellig – aus der Bezugnahme auf das Amt der Abgeordneten Grundaussagen über deren verfassungsrechtliche Funktionsbeschreibung.2 Diese begriffliche Anknüpfung verwundert. Nicht nur etymologisch liegt es fern, parlamentarische Abgeordnete in einem Amt zu verorten: Der Wortursprung des seit dem 8. Jahrhundert geläufigen althochdeutschen „ambahti“ bzw. mittelhochdeutschen „ambahte“ ist – zusammen mit dem „Reich“ – eine der wichtigsten frühen Entlehnungen aus dem Keltischen, im welchem „ambactos“ den Diener, den Hörigen, den Gefolgsmann bezeichnete.3 Ebenso ist unter Zugrundelegung des Amtsverständnisses in römisch-christlicher Tradition ein Amtscharakter eher fernliegend.4 Und auch der mittlerweile mit sprichwörtlichem Charakter versehene Amtsrekurs in Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ – der Fronvogt erwidert Protesten gegen das Abverlangen von Frondiensten durch den Verweis auf sein Amt – ist mit den Erwartungen an Abgeordnete kaum vereinbar, mutet doch die Vorstellung absurd an, dass eine Abgeordnete öffentlich ihr politisches Verhalten gegenüber Kritik mit den Worten rechtfertigte: „Sorgt ihr für euch, ich tu was meines Amts.“5 Wenn indes trotz der Abweichung von intuitiven oder herkömmlichen Wortbedeutungen im Kontext von Abgeordneten verbreitet deren „Amt“ herangezogen und betont wird, stellt sich die Frage nach den Gründen für eine solche begriffliche Erstreckung. Zwar ist eine abweichende Begriffsverwendung als solche nicht rechtfertigungsbedürftig, angesichts ihres Irritationspotentials liegt es aber nahe, dass sie durch implizite oder explizite Vorteile, durch einen spezifischen terminologischen oder argumentativen Nutzen getragen wird. Doch worin besteht dieser und wie ist er auszumachen? 1   Vgl. erstmals BVerfGE 40, 296 (314) – Abgeordnetendiäten (1975). Sodann aufgreifend und in der Folge auch geringfügig erweiternd BVerfGE 76, 256 (341) – Beamtenversorgung (1987); BVerfGE 118, 277 (324) – Abgeordnetengesetz (2007); BVerfGE 134, 141 (172) – Ramelow (2013): „Der Abgeordnete ist – vom Vertrauen der Wähler berufen – Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger eines freien Mandats und, gemeinsam mit der Gesamtheit der Mitglieder des Parlaments […], Vertreter des ganzen Volkes“. Exklusiv zum Amtsbezug ferner BVerfGE 112, 118 (134) – Vermittlungsausschuss (2004). 2  Vgl. P. Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 173. Lfg. 2015, Art.  38, Rn.  62 f.; H. H. von Arnim/T. Drysch, ebd., Art.  48, Rn.  50 ff.; M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band 2, 2.  Aufl. 2006, Art.  38, Rn.  139; S. Magiera, in: Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 7.  Aufl. 2014, Art.  38, Rn.  52 ff.; H.-H. Trute, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band 1, 6.  Aufl. 2012, Art.  38, Rn.  73; H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz. Kommentar, 74. Lfg. 2015, Art.  38, Rn.  191; H. Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar GG, 25. Edition 2015, Art.  38, Rn.  88 f. Ablehnend allerdings N. Achterberg/M. Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 6.  Aufl. 2010, Art.  38, Rn.  72. 3  Vgl. E. Seebold, Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25.  Aufl. 2011, S.  41. Ferner eingehend zur Begriffsgeschichte K. Stein, Die Verantwortlichkeit politischer Akteure, 2009, S.  52 f., m. w. N. 4   Stein (Fn.  3), S.  393 sowie eingehend zum Einfluss römisch-christlicher Vorstellungen auf den Amtsbegriff S.  51 ff., m. w. N. 5   F. Schiller, Wilhelm Tell, 1804, Erster Aufzug, Dritte Szene.

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Um erste Anknüpfungspunkte zu gewinnen und die Perspektiven für rechtsdogmatische Amtsrekurse zu erschließen, hilft eingangs der Blick auf drei exemplarische Konstellationen aus jüngerer Zeit, die unterschiedliche Rechtsfragen zum „Amt“ von Abgeordneten aufwerfen. Die erste Konstellation betrifft die Beobachtung von Mitgliedern des Bundestages durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Seit 1998 führte selbiges eine Personenakte über Bodo Ramelow, in der öffentlich verfügbare Informationen betreffend dessen Parteiarbeit für DIE LINKE bzw. zuvor für die PDS und die Linkspartei.PDS sowie zu seiner Abgeordnetentätigkeit als Mitglied des Thüringer Landtages und des Bundestages gesammelt wurden.6 Auf ein Rechtsschutzersuchen im Wege der Verfassungsbeschwerde entnimmt das Bundesverfassungsgericht Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG – i. V. m. Art.  28 Abs.  1 GG soweit es sich um Mitglieder von Landesparlamenten handelt – die „Freiheit des Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle“7, und unterwirft etwaige Eingriffe in diese Freiheitssphäre ­engen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten, die vornehmlich im Interesses des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung griffen8. In diesem Kontext erfolgen Amtszuschreibungen an den beobachteten Abgeordneten in zwei Formen.9 Zunächst wird die Rechtsstellung der Abgeordneten in der bekannten Trias unter anderem als Inhaberschaft eines öffentlichen Amtes charakterisiert.10 Spezifischer erfolgt sodann der Rekurs auf das Amt der Abgeordneten, sobald Rechtfertigungspotentiale für die Datenerhebung zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in den Blick genommen werden: „Missbraucht ein Abgeordneter sein Amt zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, bestehen – soweit die diesbezüglichen Voraussetzungen vorliegen – die Möglichkeiten eines Parteiverbotsverfahrens gemäß Art.  21 Abs.  2 GG […] oder eines Verfahrens gemäß Art.  18 GG.“11 Die Abgeordneten sind demnach im Lichte der Ramelow-Entscheidung nicht nur Inhaber eines öffentlichen Amtes, sondern sie können dieses auch missbrauchen. Der Amtsmissbrauch erwächst zu einer normativen Kategorie verfassungsgerichtlicher Urteilsfindung.12 Die zweite Konstellation betrifft den Bestand des Amtes. Im Verlauf des Ermittlungsverfahrens gegen den Abgeordneten Sebastian Edathy wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornografischen Materials erklärte dieser am 6. Februar 2014 seinen   Vgl. BVerfGE 134, 141 (143 f.) – Ramelow (2013).   BVerfGE 134, 141 (177) – Ramelow (2013). 8   Vgl. BVerfGE 134, 141 (179 ff.) – Ramelow (2013). 9   Neben der Fixierung auf das Amt des Abgeordneten findet sich noch eine beiläufige Kontrastierung, wenn im Hinblick auf „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ als nicht ausreichend erachtet wird, dass der Beschwerdeführer „wichtige Parteiämter“ ­innehatte, soweit er persönlich unverdächtig und keinen solchen Parteiströmungen zuzurechnen sei; BVerfGE 134, 141 (188) – Ramelow (2013), Hervorhebungen durch den Verfasser. 10   BVerfGE 134, 141 (172) – Ramelow (2013). 11   BVerfGE 134, 141 (180) – Ramelow (2013), Hervorhebungen durch den Verfasser. 12   Diese begriffliche Neukontextualisierung wird indes nicht konsequent durchgehalten, wenn in der Folge die identische Konstellation dahingehend beschrieben wird, „dass der Abgeordnete sein Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht oder diese aktiv und aggressiv bekämpft.“ (BVerfGE 134, 141 [182] – Ramelow [2013], Hervorhebungen durch den Verfasser). 6 7

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Verzicht auf die Mitgliedschaft im Bundestag. Der Bundestagspräsident bestätigte durch Schreiben vom 10. Februar 2014 den Verzicht und teilte mit, dass Edathy mit Ablauf des 6. Februars 2014 aus dem Bundestag ausgeschieden sei. Strafgerichtlich ergingen am 10. Februar 2014 Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, die infolge des erklärten Verzichts die – während einer Mitgliedschaft individuell unverzichtbare – Immunität als Verfahrenshindernis gem. Art.  46 Abs.  2 GG ignorierten. Das Bundesverfassungsgericht hat dem entgegentretend – auch wenn im Ergebnis die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde – darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt, zu dem der Abgeordnete aus dem Bundestag ausscheidet, gem. §  47 Abs.  3 S.  1 BWahlG „mit der Entscheidung des Bundestagspräsidenten“ eintrete, so dass der Abgeordnete erst mit dem Wirksamwerden der Entscheidung vom 10. Februar 2014 aus dem Bundestag ausgeschieden sei.13 Der Bestand des Amtes wird also einerseits nicht ausschließlich durch die private Verzichtsentscheidung determiniert, da für den Zeitpunkt des Wirksamwerdens ein Handeln des Bundestagspräsidenten erforderlich ist. Zugleich wird andererseits eine Befugnis des Bundes­ präsidenten, den Zeitpunkt des Ausscheidens abweichend festzusetzen, ausdrücklich negiert.14 Private Entscheidungen haben also entscheidenden Einfluss auf den Bestand des Amtes, können selbiges – ebenso wie unmittelbare Rechtsfolgen, die sich an den Bestand des Amtes als solches knüpfen – indes nicht autonom-unmittelbar auf heben. Das Verhältnis von Privatperson und Amtsinhaberschaft wird an diesem Punkt verschränkt, ohne dass allerdings generalisierbare Leitlinien für die Zuordnung erkennbar wären. In der dritten Konstellation wird das Amtsverständnis durch ein abweichendes Selbstverständnis und eine irritierende private Praxis herausgefordert: Nachdem der langjährige Europaabgeordnete Bernd Posselt infolge des CSU-Ergebnisses bei der Europawahl 2014 knapp den erneuten Einzug als Mitglied des Europäischen Parlaments verfehlte, veränderte dieser seine Lebensgewohnheiten nur geringfügig. Er verbringt nach wie vor jede Plenar-Sitzungswoche in Straßburg, nimmt an den ­Sitzungen der CSU-Parlamentariergruppe teil, ergreift dort das Wort, besucht interfraktionelle Arbeitsgruppen und bringt sich dort als Sachverständiger beispielsweise zur Außenpolitik ein.15 Er benutzt ein Büro für ehemalige Europaabgeordnete und beschäftigt seine bisherige Mitarbeiterin nunmehr privat. In München bietet er nach wie vor seine Bürgersprechstunde an. Bernd Posselt versteht sich explizit als „der erste ehrenamtliche Europaabgeordnete.“16 Anders als im historischen Fall des Honoratiorenparlaments steht nicht die private Finanzierung politischer Betätigung im Fokus – im Fall Posselt wird vielmehr die Wahrnehmung eines europapolitischen (Mit‑)   BVerfG, NJW 2014, S.  3085 (3086 f.).   BVerfG, NJW 2014, S.  3085 (3086). 15   Vgl. hierzu und zum Folgenden P. Maxwill, Spiegel-online v. 16.06.2015, http://www.spiegel. de/politik/ausland/bernd-posselt-wie-ein-abgewaehlter-csu-mann-im-eu-parlament-blieba-1038988.html; K. Strobel, Donaukurier v. 25.06.2015, http://www.donaukurier.de/nachrichten/ bayern/Strassburg-Ein-Helfer-ohne-Mandat;art155371,3069120; P. Issig, Welt v. 10.08.2015, http:// www.welt.de/regionales/bayern/article144884225/Bernd-Posselt-tut-so-als-waere-nichts-passiert.html. 16  Zitiert nach C. Deutschländer, Merkur v. 18.06.2015, abruf bar unter http://www.merkur.de/ politik/bernd-posselt-warum-trotz-abwahl-weiter-parlament-geht-5096560.html. Ähnlich die Inter view-Äußerung gegenüber P. Maxwill, Spiegel-online v. 16.06.2015, http://www.spiegel.de/politik/ ausland/bernd-posselt-wie-ein-abgewaehlter-csu-mann-im-eu-parlament-blieb-a-1038988.html. 13 14

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Gestaltungsanspruchs jenseits der Legitimation durch den demokratischen Wahlakt kraft eigener mimetischer Beharrlichkeit zu einem „Ehrenamt“ deklariert. Dies irritiert nicht nur im Hinblick auf das der „Amtsanmaßung“ zugrunde liegende Wahlund Demokratieverständnis, sondern auch durch die institutionell-organisatorische Anschlussfähigkeit und deren Grundlagen im Amtsverständnis der gewählten Parlamentsmitglieder. All diese Konstellationen eint ihr materiell weitgehend unbestimmter Rekurs auf das Amt der Abgeordneten: Um einen Amtsmissbrauch als negierenden Amtsbezug – sei es verstanden als Verletzung von amtlichen Pflichten oder als Zweckentfremdung amtlicher Befugnisse – ausmachen zu können, läge es nahe, zunächst den positiven Gehalt der Anforderungen aus dem Amt zu bestimmen. Um selbsternannten „Ehrenämtern“ begegnen zu können, müssten primär das Verleihungsverhältnis und seine Rechtsfolgen, aber auch die Verhaltensanforderungen, die aus dem Amt erwachsen, greif bar sein. Und um die Verschränkung von privat-individueller Disposition über den Bestand mit den objektiven Erwartungen an das und Rechtsfolgen aus dem Amt zu verkoppeln, sollte das generelle Verhältnis von Amtsträger und Privatperson geklärt sein. Als Annäherung an eine Bestimmung des Amtes der Abgeordneten soll deshalb in einem ersten Schritt die Bedeutung des Amtes der Abgeordneten erörtert werden (I.), um in der Folge die grundlegende verfassungsrechtliche Konfiguration durch das Mandat der Abgeordneten (II.) und die Person der Abgeordneten (III.) entwickeln zu können sowie Konvergenzen und Wechselwirkungen in der Amtsrelation (IV.) aufzuzeigen.

I.  Die Bedeutung des Amtes Die Frage nach der Bedeutung des Amtes einer bzw. eines Abgeordneten stellt sich rechtlich zugleich in zwei Dimensionen: Zum einen geht es darum, welche Bedeutung dem Amt funktional als Rechtsfigur im Rechtssystem zukommt. Zum anderen ist aber auch speziell der materielle Gehalt des Amtsbegriffs als solcher gemeint. Es liegt nahe, diese Dualität stets im Blick zu behalten, um etwaige wechselseitige Beeinflussungen ausmachen zu können. Weil sich im Fall einer eindeutigen begrifflichen Fundierung oder Konsentierung die Bedeutung des Amtes im Rechtssystem maßgeblich aus der begrifflichen Bedeutung im engeren Sinne speisen kann, soll im Ausgangspunkt der spezifisch rechtliche Gehalt des Amtsbegriffs, seine begriffliche Bedeutung im engeren Sinne, in den Blick genommen werden: Es geht mit anderen Worten um den Charakter des Amtes der Abgeordneten als Rechtsbegriff. Dabei würde das Anliegen verfehlt, wenn streng rechtstheoretisch und kantianisch angeleitet nur solche Begriffe als Rechtsbegriffe verstanden würden, die in Gestalt „reiner Rechtsbegriffe“ den notwendigen Grundbestand einer jeden Rechtsordnung darstellen.17 Ebenso verspricht es vorliegend keinen hinreichenden Ertrag, zwischen 17  Vgl. dazu R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Neudruck der 2.  Aufl. (1923), 1970, S.  184 ff.; P. Eltzbacher, Über Rechtsbegriffe, 1900, S.  37 ff. u. 62 ff. Genauso reserviert gegenüber einem

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originär rechtsgeschaffenen auf der einen und lediglich vom Recht vorgefundenen Begriffen auf der anderen Seite oder allein zwischen Gesetzesbegriffen und dogmatisch-systematischen Begriffen zu differenzieren.18 Stattdessen soll der Kontingenz und der Dynamik von rechtssetzenden, rechtspraktischen und rechtspolitischen Begriffsverwendungen durch die Einsicht Rechnung getragen werden, dass nicht unbedingt ein eindeutiger und als solcher vollständig diskursiv stabilisierter Rechtsbegriff gegeben sein muss bzw. zu etablieren ist.19 Darum lässt sich die Möglichkeit diverser, nur in ihrer rechtlichen Funktionalität je nach Kontext, nicht aber in ihrer Bezeichnung divergierender Rechtsbegriffe anerkennen: Beispielsweise können für den Rechtsbegriff „Verantwortung“ sowohl Verständnisse als Rechtsbegriff im engeren Sinne20 als auch im heuristischen Sinne21 nachgewiesen werden. Wenn dann allerdings auch eine Ko-Existenz unterschiedlicher Rechtsbegriffe vom „Amt einer bzw. eines Abgeordneten“ nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, sollte die Bedeutung der Rechtsbegrifflichkeit in den unterschiedlichen Funktionen als Rechtssatzbegriff, als rechtsdogmatischer oder als rechtswissenschaftlich-heuristischer Begriff in den Blick genommen werden.

1.  Das Amt in Rechtssätzen Der Zugriff auf die Bedeutung eines Rechtsbegriffs „Amt der Abgeordneten“ fällt leicht, soweit es sich um einen in Rechtsnormen positivierten Begriff handelt: Jede Normanwendung ist dann bereits sprachlich auf eine Auseinandersetzung mit der begrifflichen Inkorporation zur Bestimmung des Normgehalts angewiesen; jeder normativ eingebettete Begriff enthält bereits in dieser Hinsicht potentiell juristische Bedeutung.22 Qualitativ ist darüber hinaus für spezifische Rechtsbegriffe erforderlich, dass es sich jeweils um Begriffe handelt, „an deren Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit eine Rechtsnorm Rechtsfolgen knüpft, auf deren Erfülltsein in einem konkreten Fall es also für die Entscheidung mindestens eines denkbaren Falles ankommt.“23 Wesentlich für diese Verknüpfung von Voraussetzungen und Folgen ihrer Anwendbarkeit24 ist damit, dass die Rechtsbegriffe in mindestens einem Normsatz enthalten sind, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Rechtsordnung und relativ zu ihr gilt25. Insoweit geht nicht jede begriffliche Erwähnung innerhalb eines Normtextes automatisch mit der Qualität des Begriffs als spezifischer Rechtsbegriff solchen begrifflichen Ansatz J. H. Klement, Verantwortung. Funktion und Legitimation eines Begriffs im Öffentlichen Recht, 2006, S.  35. 18  Vgl. zu diesen Ansätzen im Einzelnen G. Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen. Welche Rolle können Folgenerwägungen in der juristischen Regel- und Begriffsbildung spielen?, 1981, S.  4 0, m. w. N. 19   Vgl. ähnlich im Hinblick auf den Rechtsbegriff „Opposition“ A. Ingold, Das Recht der Opposi­ tionen. Verfassungsbegriff – Verfassungsdogmatik – Verfassungstheorie, 2015, S.  156. 20  Vgl. Klement (Fn.  17), S.  35 ff. 21  Vgl. Klement (Fn.  17), S.  64 ff. 22   Ingold (Fn.  19), S.  156. 23   Lübbe-Wolff, (Fn.  18), S.  4 0. 24   Lübbe-Wolff, (Fn.  18), S.  41. 25   Vgl. dazu eingehend Klement (Fn.  17), S.  35 ff.

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einher – der Textbefund bildet aber den logischen Ausgangspunkt der Bestimmung von solchen Rechtssatzbegriffen. Bezogen auf das Abgeordnetenamt fällt dieser Textbefund sehr überschaubar aus: Im Grundgesetz findet sich nur eine ausdrückliche Erwähnung in Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG, wonach niemand gehindert werden darf, „das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben.“ Zwar lässt sich deshalb im Hinblick auf den Wortlaut formulieren, die Abgeordneten hätten „nach Art.  48 Abs.  2 Satz  1 GG ein öffentliches Amt inne“26, allerdings vermag dies nur als deklaratorisch-deskriptive Norm­ aussage überzeugen, in Ermangelung materieller Konturen hingegen nicht im Hinblick auf die normative Konstruktion oder Ausgestaltung eines Amtes durch diese Norm. Mit anderen Worten verleiht Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG kein Amt, sondern setzt die Existenz eines solchen wörtlich allenfalls voraus. Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser wörtlichen Konstruktion bestehen nicht nur insoweit, als eine explizite Rechtskonstruktion des Abgeordnetenamtes – im Gegensatz zum Abgeordnetenmandat durch Art.  38 Abs.  1 GG – verfassungsrechtlich auch in anderen Vorschriften unterbleibt. Der Amtsbegriff könnte vielmehr ohne erkennbaren Bedeutungswandel durch den Mandatsbegriff ersetzt werden, was für einen synonymen Gebrach spricht.27 Auch entstehungsgeschichtlich lassen sich keine Hinweise auf spezifische Intentionen ausmachen, die mit der Wortwahl verfolgt wurden: Im „Chiemseer Entwurf “ findet sich ebenso wie in den Entwürfen des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates und demjenigen nach der ersten Lesung des Haupausschusses desselben keine Bezugnahmen auf das Amt eines Abgeordneten; erst durch die Neuformulierung im Allgemeinen Redaktionsausschuss vom 13. Dezember 1948 kam es zu der gegenwärtigen Formulierung.28 Diese ist erkennbar an die Wortwahl einer Vorgängernorm, nämlich Art.  39 Abs.  1 WRV angelehnt, welche – ihrerseits als einzige Norm der Weimarer Reichsverfassung mit wörtlicher Bezugnahme auf das Abgeordnetenamt – für Beamte und Wehrmachtsangehörige die „Ausübung ihres Amtes als Mitglieder des Reichstags oder eines Landtags“ ohne Urlaub ermöglichte. In historischer Würdigung handelte es sich dabei vornehmlich um die An­ erkennung der „Vereinbarkeit von Amt und Mandat“29, nicht jedoch um die ei­ genständige Anerkennung eines Abgeordnetenamtes. Zudem wird betont, dass sich der Parlamentarische Rat bewusst an Art.  69 Abs.  1 der Verfassung von Baden vom 22. Mai 194730 angelehnt habe, welcher jedoch in seinem Wortlaut gerade explizit die „Übernahme oder Ausübung des Mandats“ behandelte.31 Sowohl dem historischen Textvorbild und der Entstehungsgeschichte als auch dem gegenwärtigen Normsatz können damit keine qualitativen Anhaltspunkte dafür entnommen werden, was das Amt einer bzw. eines Abgeordneten rechtsbegrifflich ausmachen soll. Es handelt sich beim „Amt eines Abgeordneten“ i. S. v. Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG insoweit   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007).  Ähnlich M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S.  284. 28   Vgl. von K.-B. von Doemming/R.W. Füsslein/W. Matz, JöR 1 N.F. (1951), S.  376. 29   H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, 74. Lfg. 2015, Art.  48, Rn.  12. 30   Die Norm lautete: „Niemand, insbesondere kein Beamter, Angestellter oder Arbeiter, darf an der Übernahme oder Ausübung des Mandats im Landtag gehindert oder deshalb entlassen, noch darf ihm hierwegen gekündigt werden.“ 31  Vgl. von Arnim/Drysch (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  30. 26 27

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zwar um einen Rechtsbegriff, da er als Bezugspunkt für die Behinderungen bei der Übernahme oder Ausübung fungiert und damit für die Rechtsfolgenanordnung der Norm subsumtionsrelevant ist. Der Begriff erfährt aber durch die Normgestaltung selbst keine näheren Konturen – geschweige denn eine Legaldefinition – und es bleibt im Hinblick auf seinen Selbststand angesichts der Option einer synonymen Verwendung des Begriffs „Mandat“ zweifelhaft, ob es sich um eine gelungene Formulierung handelt. Neben dieser einzigen verfassungstextlichen Erwähnung bezieht sich auch das Abgeordnetengesetz lediglich in einer Formulierung auf jenen Amtsbegriff, soweit nämlich durch §  12 AbgG „zur Abgeltung seiner durch das Mandat veranlaßten Aufwendungen eine Amtsausstattung als Aufwandsentschädigung“ (§   12 Abs.   1 S.   1 AbgG) in Gestalt von Geld- und Sachleistungen für jedes Mitglied des Bundestages gewährt wird. Auch dieser Bezugnahme kann indes kein spezifischer normativer Gehalt im Hinblick auf das Amt als solches entnommen werden – es handelt sich sogar in Ermangelung einer Voraussetzungs- oder Rechtsfolgenrelevanz normbezogen nicht einmal um einen Rechtssatzbegriff im o.g. Sinne. Der Normtextbefund zum „Amt eines Abgeordneten“ ist damit weder sehr ergiebig noch bringt er in seinem kleinen Anwendungsbereich einen Rechtssatzbegriff mit konkretisiert‑umrissenen Konturen zum Vorschein.

2.  Das Amt in dogmatischen Sätzen Etwaige Konkretisierungen des sehr weiten, unmittelbar verfassungstextbasierten Begriffs vom Amt einer bzw. eines Abgeordneten liegen damit nahe. Das klassische Medium solcher Konkretisierungen im Interesse der Anwendungssicherung stellen begriffliche Rekurse in und Präzisierungen durch rechtsdogmatische Sätze dar. Verfassungsrechtsdogmatik ist strukturell auf die anwendungsorientierte Hilfestellung für die Rechtspraxis konzipiert 32 – im vorliegenden Kontext geht es noch einmal spezifizierter um den Teilbereich der „Gebrauchsdogmatik“33, also diejenigen „Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln“34 die rechtstechnisch zur Ermögli32   Vgl. dazu sowie zum Komplementaritätsverhältnis zur Verfassungstheorie M. Jestaedt, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, §  1, Rn.  20 f.; ders., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S.  17 ff.; ders., Das mag in der Theorie richtig sein…, 2006, S.  16 ff.; ders., Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders./Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S.  77 (129 ff.); M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1989, S.  4 0 f.; O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S.  1 (4 ff.); ders., Kritik der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, S.  39 (40 ff.); C. Bumke, Rechtsdogmatik, JZ 2014, S.  641 ff. 33   A.-B. Kaiser, Die Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität. Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, DVBl 2014, S.  1102 (1105 ff.); ähnlich die Kategorie der rechtspraktischen in Abgrenzung von der rechtswissenschaftlichen Dogmatik durch R. Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, JZ 2012, S.  10 (11 f.); T. Würtenberger, Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S.  3 (7). 34   W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), S.  245 (246).

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chung konsistenter einzelfallbezogener Rechtsanwendungen formuliert werden. Dogmatische Sätze haben die Funktion, den jeweiligen Einzelfall entscheidbar zu machen bzw. zukünftige Rechtsanwendungen zu erleichtern, und formulieren zu diesem Zweck dogmatische Rechtsbegriffe.35 Zur praxisbezogenen Qualifikation als dogmatischer Rechtsbegriff ist für das „Amt einer bzw. eines Abgeordneten“ deshalb vor allem eine Analyse der begrifflichen Rekurse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – und dort verstärkt im sog. „Maßstäbeteil“36 der Entscheidungen – maßgeblich. Eine dogmatische Bedeutung wäre auszumachen, soweit mittels der Bezugnahme auf das Abgeordnetenamt die verfassungsgerichtliche Subsumtion unter Verfassungsnormen erleichtert oder sogar erst ermöglicht würde. Eine solche zentrale Stellung für die Verfassungsrechtsanwendung ist jedoch bislang nicht ersichtlich. Zwar greift das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als Ausgangspunkt verfassungsrechtlicher Erwägungen zur Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten äußerst prononciert auf den Amtsbegriff zurück: Seit dem Abgeordnetendiäten-Urteil aus dem Jahr 1972 werden die Abgeordneten durch eine Begriffs­ trias als „Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger des ‚freien Mandats‘ und ‚Vertreter des ganzen Volkes‘“37 charakterisiert.38 Die aktuelle Fortschreibung reformuliert diese Trias als generelle Formel zu Art.  38 GG, ergänzt um einen Einschub: „Der Abgeordnete ist – vom Vertrauen der Wähler berufen – Inhaber eines öffentlichen ­A mtes, Träger eines freien Mandats und, gemeinsam mit der Gesamtheit der Mitglieder des Parlaments […], Vertreter des ganzen Volkes“39. Damit erfolgt eine Bedeutungsverschiebung, weil die ursprüngliche Formulierung funktional zur Abgrenzung des Bundestagsmandats von einem Ehrenamt getroffen wurde.40 Im neuen Kontext – der rechtsnormbezogen-materiellen Charakterisierung der Rechtsstellung von Abgeordneten – ist demgegenüber das Verhältnis der drei Elemente, die in der Formulierung ohne Wirkungsrelation, Hierarchisierung oder normative Detailrückkoppelungen nebeneinander stehen, ungeklärt. Eine plausible Binnenabschichtung ließe sich zwar konstruieren, indem man die Inhaberschaft eines öffentlichen Amtes, welche maßgeblich auf die „Berufung“ durch den Wahlakt – das Medium des Wählervertrauens – zurückgeführt wird, als Gehalt von Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG verortet, während das freie Mandat sowie der Repräsentationsauftrag in ihrem Bezugspunkt auf Status und Tätigkeit der Abgeordneten als Strukturelemente von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG verstanden werden könnten. Für eine solche Abschichtung hinsichtlich der beiden Sätze von Art.  38 Abs.  1 GG finden sich aber keine diese Zuordnung bestäti  Klement (Fn.  17), S.  38.   Vgl. zu dieser Kategorisierung O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/ders./Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S.  159 (168 ff.). 37   BVerfGE 40, 296 (314) – Abgeordnetendiäten (1975). 38   Ebenso dann BVerfGE 76, 256 (341) – Beamtenversorgung (1987). 39   BVerfGE 134, 141 (172) – Ramelow (2013); identisch zuvor BVerfGE 118, 277 (324) – Abgeordnetengesetz (2007). 40   Im Satz zuvor formulierte BVerfGE 40, 296 (314) – Abgeordnetendiäten (1975): „Aus der Entschädigung des Inhabers eines Ehrenamtes ist die Bezahlung für die im Parlament geleistete Tätigkeit geworden.“ Eingehend zum Ehrenamt und diesbezüglichen Diskursen W. Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S.  548 (549 ff.), m. w. N. 35

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genden oder näher konturierenden Ausführungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Vielmehr wird stattdessen in einer – diesbezüglich allerdings vereinzelt gebliebenen – Entscheidung sogar die Kategorie des Abgeordnetenamtes ausdrücklich in Bezug auf Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG bemüht. Danach ziehe letztere Norm „mit dem Repräsentationsprinzip deshalb aus den Wahlrechtsgrundsätzen die Konsequenzen für die Ausübung eines in der Gesellschaft verwurzelten, aber innerhalb der Staatsorganisation wahrgenommenen Amtes, des freien Mandats.“41 Das Amt der Abgeordneten fungiert in dieser Argumentationsfigur also als Bindeglied von Staat und Gesellschaft, da es zwar in der Gesellschaft verwurzelt sei, aber in der staatlichen Sphäre wirke. Es handelt sich – soweit ersichtlich – um die bislang einzige eine positive Umschreibung des Amtscharakters leistende Konkretisierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Auch diese Formulierung ließe sich zwar durch die Bezugnahmen auf die Wahlrechtsgrundsätze sowie die gesellschaftliche Verortung des Amtes als eine implizite normative Rückbindung an Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG interpretieren. Allerdings enthält sie mit der abschließenden Bezugnahme auf das freie Mandat und die Vermittlung durch das Repräsentationsprinzip auch starke Anhaltspunkte für eine Gleichsetzung von Amt und Mandat.42 Der letztgenannte Gesichtspunkt einer synonymen Begriffsverwendung von Amt und Mandat der Abgeordneten findet zudem eine Entsprechung, soweit das Bundesverfassungsgericht Kom­ munalvertretungen terminologisch beurteilt: Konsequent rekurriert das Gericht angesichts der divergierenden, nicht parlamentarischen Grundierung für diesen Kontext nämlich exklusiv – also ohne eine Parallele zur Trias des Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG – auf den Amtsbegriff, wenn zur Charakterisierung der individuellen Rechtsstellung in Kommunalvertretungen von einem „Inhaber eines öffentlichen Amtes“ die Rede ist und letztere synonym im unmittelbaren Zusammenhang als Mandatsträger bzw. als Kommunalmandatare bezeichnet werden.43 Ungeachtet der systematisch vorzugswürdigen Ausdifferenzierung der Bezugspunkte in der Begriffstrias zu Art.  38 GG, für die sich bislang leider keine hinreichenden Anhaltspunkte in den dogmatischen Sätzen des Bundesverfassungsgerichts findet, muss festgehalten werden, dass gegenwärtig jedenfalls die begriffliche Unterscheidungskraft des Amtsrekurses für die Charakterisierung der Rechtsstellung der Abgeordneten gering ist. Dieser Eindruck wird ferner durch die nicht-tragenden Ausführungen der unterlegenen Richter in der Entscheidung zur Behandlung von Nebeneinkünften der Bundestagsabgeordneten verfestigt. Zwar haben in deren Verständnis die Abgeordneten „nach Art.  48 Abs.  2 Satz  1 GG ein öffentliches Amt inne“44, ohne dass allerdings aus dieser normativen Verortung divergierende Konsequenzen erwachsen: Dieses Abgeordnetenamt unterscheide sich vom Amt eines Beamten dadurch, dass 41  BVerfGE 112, 118 (134) – Vermittlungsausschuss (2004); letzterer Aussageteil bestätigt durch BVerfGE 118, 277 (328) – Abgeordnetengesetz (2007). 42   Noch deutlicher wird dies in BVerfGE 118, 277 (328) – Abgeordnetengesetz (2007): „Das freie Mandat ist ein zwar in der Gesellschaft verwurzeltes, aber innerhalb der Staatsorganisation wahrgenommenes Amt“. 43   Vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.08.2015, Az.: 2 BvR 1690/14, juris, Rn.  7; BVerfG, NVwZ-RR 2012, S.  2 ; BVerfG, NVwZ 1994, S.  56 (57). 44   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007).

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zwischen persönlicher und amtlicher Rechtssphäre nicht unterschieden werden könne – der Abgeordnete im Sinne des Grundgesetzes sei „Inhaber eines öffentlichen Amtes und nicht daneben, sondern zugleich, das heißt innerhalb seines Amtes, Staatsbürger; er kann die ihm vom Grundgesetz zugedachte Repräsentationsaufgabe umso besser erfüllen, je stärker er seine Verwurzelung in der gesellschaftlichen Sphäre in den parlamentarischen Prozess einbringt.“45 Insbesondere schütze ihn die Freiheit seines Mandats davor, weisungsgebunden in eine „Ämterhierarchie“46 eingegliedert zu werden. Die verfassungsrechtlich normierte Unabhängigkeit in der Ausübung öffentlicher Ämter sei aber stets eine gefährdete Freiheit, denn sowohl der Amtsträger selbst als auch generelle Verhaltensregeln vermöchten diese zu beeinträchtigen.47 Ungeachtet der inhaltlichen Konturierungsleistungen für das Amtsverständnis und dem prononcierten Appell an das Amtsethos sind diese Ausführungen nicht nur durch die mangelnde Bindungskraft in ihrer dogmatischen Relevanz relativiert. Es ist vielmehr auch hier ersichtlich, dass ein synonymer Gebrauch von öffentlichem Amt der Abgeordneten und deren Mandat zugrunde liegt. Eine spezifische Bedeutung des Amtsbegriffs als dogmatischer Rechtsbegriff kann auch dieser Argumentation damit nicht entnommen werden. Zuletzt hat auch die bereits eingangs thematisierte Entscheidung zur Überwachung von Bundestagsabgeordneten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zwar mit der Kategorie des Amtsmissbrauchs eine neue Facette von Amtsrekursen etabliert.48 Dies ist potentiell ein Faktor, der zum Erstarken des Amtsbegriffs im verfassungsrechtsdogmatischen Abgeordnetenkontext beitragen könnte. Allerdings ist diesbezüglich zu konstatieren, dass auch insoweit keine positive Bestimmung des Amtes bzw. von Anforderungen, die aus dem Amt folgen, geleistet wird. Stattdessen fokussiert die Entscheidung lediglich auf den Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als Missbrauchshandlung.49 Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung etabliert jedoch nur einen Negativmaßstab im Sinne einer Handlungsbegrenzung, aus dem keine Rückschlüsse auf positive Charakteristika eines Abgeordnetenamtes gezogen werden können, denn eine unmittelbare verfassungsrechtliche Positivkonstruktion als Wert oder als Wertordnung geht mit der Bezugnahme auf die freiheitliche demokratische Grundordnung in Rechtsnormen nicht einher.50 Damit bleiben auch im Hinblick auf den Amtsmissbrauch die positiv formulierten Erwartungen oder Anforderungen an das Abgeordnetenamt unbestimmt. 45   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). Hinsichtlich der Verortung ähnlich die tragenden Entscheidungsgründe, BVerfGE 118, 277 (328) – Abgeordnetengesetz (2007): „Das freie Mandat ist ein zwar in der Gesellschaft verwurzeltes, aber innerhalb der Staatsorganisation wahrgenommenes Amt“. 46   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 47   BVerfGE 118, 277 (380) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 48   Vgl. BVerfGE 134, 141 (180) – Ramelow (2013). 49   Vgl. BVerfGE 134, 141 (180) – Ramelow (2013), dies geschieht vermittels der Relevanz für ein Parteiverbotsverfahren gem. Art.  21 Abs.  2 GG oder eine Grundrechtsverwirkung gem. Art.  18 GG i. V. m. Art.  46 Abs.  3 GG. 50  Vgl. C. Gusy, Die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 105 (1980), S.  279 (310); Ingold (Fn.  19), S.  489 f.

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In der Gesamtschau lässt sich damit festhalten, dass ein dogmatischer Rekurs auf den Begriff des Amtes im Kontext von Bundestagsabgeordneten zwar in mehrfacher Hinsicht nachgewiesen werden kann. Jedoch bleiben diese Bezugnahmen in ihren konkreten Konturen unklar und entfalten keine „spürbaren“, das heißt greif baren rechtsdogmatischen Konsequenzen für die Rechtsanwendung. Der Status des Amtes einer bzw. eines Abgeordneten als dogmatischer Rechtsbegriff bleibt deshalb prekär.

3.  Heuristische Erwartungen an das Amt Geradezu diametral entgegengesetzt zum relativ dürftigen Bedeutungsgehalt des Amtsrekurses als Rechtsnormbegriff oder als rechtsdogmatischer Begriff verbinden eine Vielzahl rechtswissenschaftlicher Autoren mit dem Begriff normative Erwartungen. In Abgrenzung von (gebrauchs‑)dogmatischen Rechtsbegriffen handelt es sich dabei originär um rechtswissenschaftliche Konzeptionen, die sich begriffsbezogen als heuristisch charakterisieren lassen. Heuristische Begrifflichkeiten sind wissenschaftstheoretisch in Anlehnung an Immanuel Kant51 auszumachen, wenn ihre Funktion die eines Hilfsmittels zum Auffinden von Fragen und zur Annäherung an mögliche Lösungen ist.52 Übertragen auf die Rechtswissenschaft lässt sich deshalb mit Jan Henrik Klement formulieren: „Heuristische Rechtsbegriffe sind solche, die in darstellbarer und nachvollziehbarer Weise auf die Konstatierung dogmatischer Sätze Einfluß nehmen, ohne dabei Rechtsbegriffe im engeren Sinne zu sein. Heuristische Begriffe sind nicht-dogmatische Begriffe mit dogmatischem Wert.“53 Eine solche Bedeutung kommt dem Amtsbegriff in einigen Literaturdarstellungen bezogen auf die Rechtssphäre der Abgeordneten durchaus zu, wenngleich die an diesen Amtsbegriff geknüpften Erwartungen stark differieren. Verbreitet wird für Abgeordnete die Kategorie des öffentlichen Amtes bemüht, um mit ihrer Hilfe organisationsrechtliche Aspekte der Rechtsstellung von Abgeordneten zu behandeln. Die Abgeordneten besäßen in Form ihres öffentlichen Amtes eine eigenständige verfassungskräftige Rechtsstellung, „eine Wahrnehmungszuständigkeit für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und die Ausübung öffentlicher Gewalt.“54 Via der Inhaberschaft dieses öffentlichen Amtes habe ein Abgeordneter „aus eigenem Recht, d. i. kraft seines Mandats, Anteil an den Aufgaben des Bundes­ tages“55. In diesem Verständnis seien die Abgeordneten nicht selbst Organ oder Teil­ 51  Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Band 2, 1974, S.  584, wonach der Begriff der Idee in Abgrenzung zu ostensiven Begriffen heuristisch sei, weil es ihm darum ginge, anzuzeigen, „nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen“. 52  Vgl. K. Homann, Rationalität und Demokratie, 1988, S.  88 ff.; Klement (Fn.  17), S.  47, m. w. N. Zur Kritik, das Verständnis von Heuristik als „Suchhilfe“ setze bereits eine bestimmte wissenschaftliche Fragestellung voraus und könne sie nicht erst liefern, vgl. C. Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S.  22 (44); Ingold (Fn.  19), S.  163 f. 53   Klement (Fn.  17), S.  49. 54   Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  88. 55   Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  191.

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organ des Deutschen Bundestages, sondern Organwalter, weshalb das Amt der Abgeordneten schlicht als deren Mitgliedschaft im Parlament zu beschreiben sei.56 Einer solchen organisationsrechtlichen Fixierung des Amtsbegriffs kann jedoch entgegengehalten werden, dass eine mitgliedschaftsbasierte Organwalterschaft, die gerade nicht direkt dem Parlament als solchem zuzurechnen ist, terminologisch nicht als Amts­ verhältnis, sondern als Abgeordnetenverhältnis zu beschreiben ist und die Amtsbezeichnung für Abgeordnete deshalb irreführend wirkt.57 Der Ertrag einer organisationsrechtlichen Aufladung des Amtsbegriffs ist daher gering, zumal er allenfalls auf eine Gleichsetzung von Amt und Bundestagsmitgliedschaft hinaus liefe. Dem organisationsrechtlichen Verständnis ähnelt sodann eine Begriffsverwendung, die auf das Amt einer bzw. eines Abgeordneten rekurriert und damit einen Gegenbegriff zur Privatperson etablieren möchte. In diesem Sinne wird betont, dass durch das Amt ein verfassungsrechtlicher Status der Abgeordneten begründet werde, dessen Schutz auf die Amtstätigkeit bezogen sei und insoweit nicht die Privatperson umfasse.58 Dies bewirke unter anderem, dass sich Abgeordnete als Amtsinhaber nicht auf den Schutz der Grundrechte berufen könnten.59 Dieser Rekurs auf den Amtsbegriff weist starke Anleihen zur klassischen Abgrenzung des Amtes eines Beamten von dessen Status als Privatperson auf und darin wurzelt zugleich die Kritik an dieser Übertragung. Denn zu Recht wird darauf hingewiesen, dass anders als beim Beamten, dessen amtliche und persönliche Rechtssphäre funktional unterschieden werden könnten, beamtenrechtliche Kategorien nicht nur in Ermangelung von Ämterhierarchie und Weisungsgebundenheit kaum übertragbar sind: Der Abgeordnete ist vielmehr „Inhaber eines öffentlichen Amtes und nicht daneben, sondern zugleich, das heißt innerhalb seines Amtes, Staatsbürger“60. Deshalb ist eine strikte Trennung zwischen amtlicher und staatsbürgerlicher Stellung nicht durchzuhalten und würde die Funktion des Abgeordneten als Bindeglied zwischen Volk und parlamentarischem Prozess verkennen.61 Neben diesen organisatorischen bzw. sphärenbezogenen Begriffsverwendungen finden sich indes auch materielle Bezugnahmen auf das Amt der Abgeordneten, die letzteres stärker mit republikanischen Bedeutungen aufgeladen wissen wollen. Dazu wird der – primär politische – Verantwortlichkeits- und Rechtfertigungszusammenhang des öffentlichen Amtes betont62 sowie vor allem die repräsentationsbasierte Ge56   Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  30; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2.  Aufl. 1984, S.  1051 f.; Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  54. Vgl. auch die Charakterisierung des Organwalterstatus durch H. J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Band 2: Theorie der Vertretung, 1934, S.  235: Sie besorgen „die im Organ zusammengefassten Geschäfte der organisierten Vielheit“. 57   N. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S.  216; ders./Schulte (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  72. 58   Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  139; Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  53. 59   Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  52; Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  139. 60   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). Vgl. dazu eingehend im Folgenden unter III. und IV. 61   BVerfGE 118, 277 (380) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007); Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  89. Ferner im Ansatz auch bereits Schröder (Fn.  27), S.  291, Fn.  108; vgl. zudem eingehend zu weiteren Gesichtspunkten, die gegen Parallelen zu Amtswaltern sprechen ders., ebd., S.  293 ff., m. w. N. 62  Vgl. Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73. Ähnlich P. Badura, Die „Gemeinpflichtigkeit“ des freien Mandats des Abgeordneten und der „Status der Öffentlichkeit des Abgeordneten“, in: Festschrift für Hans-Peter Schneider, 2008, S.  153 (158); ders. (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  62: „Pflichtgebundenheit der Rechte

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meinwohlorientierung des Abgeordnetenamtes hervorgehoben63. Prononciert formuliert in diesem Sinne Hans Hugo Klein, das Amt verpflichte zum Dienst am Gemeinwohl, weil der Amtsträger seine Zuständigkeiten nicht im eigenen Namen, sondern im Namen derer wahrnehme, auf die er seine Amtsstellung zurückführe und die er durch sein Handeln verpflichte64: „Er, der wie kein anderer sein Amt dem Ganzen verdankt, ist wie kein anderer dem Ganzen verpflichtet.“65 Überwiegend wird die repräsentationsbasierte Pflichtenstellung zwar relativiert verstanden, als „unbenannt“66, als nicht sanktionsbewehrt67 oder als bezogen auf „das Ergebnis des offenen politischen Prozesses, in den der Abgeordnete – das ist Teil seines Pflichtenstatus – seine Vorstellungen einzubringen hat“68. Es handele sich um eine „immanente Pflichtbindung des organschaftlichen Amtes des Abgeordneten […], ohne sich im Einzelfall zu justiziablen Verpflichtungen inhaltlicher Art zu verdichten.“69 Diese Relativierung der Pflichtigkeit durch Repräsentationsbezüge bzw. die Prozeduralisierung der Gemeinwohlfindung kann indes auch geringer ausfallen: Besonders weitreichend wird diese Pflichtenstellung dann in „amtsrechtlichen“70 Ausrichtungen der Abgeordnetenstellung übersteigert, sobald eine wertbestimmte Gemeinwohlbindung oder die Verfestigung der Pflichtenstellung durch die Einführung von Sanktionen bei Pflichtverstößen propagiert wird.71 Ungeachtet der jeweils präferierten Gestalt und Reichweite einer aus dem Amt der Abgeordneten begründeten Pflichtenstellung ist jedenfalls festzustellen, dass eine solche konkret-normativ nur schwer im Verfassungstext auszumachen ist72 – dies dürfte ein wesentlicher Grund für die verbreiteten Relativierungen oder Prozeduralisierungen der Pflichtenstellung sein. Dies bedingt dann wiederum, dass auch ein republikanisch-gemeinwohlbezogenes Amtsverständnis für den eigentlichen Gegenstand, die materielle verfassungsrechtliche Gestalt eines Amtes der Abgeordneten, keine weitergehende Konturierungsleistung zu erbringen vermag. des Abgeordneten und die innere Rechtfertigung dieser Rechte durch das Prinzip der parlamentarischen Repräsentation“. 63  Vgl. von Arnim/Drysch (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  50; Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  191; Wiese (Fn.  4 0), S.  548 (552 ff.); Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  54: „Amt bedeutet Dienst an der Allgemeinheit“. 64   Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  31, in Anlehnung an W. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders., Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, 1968, S.  48 (51). 65   Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  32. 66   von Arnim/Drysch (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  50 [im Original hervorgehoben]; Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  32. 67   Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  35. 68   Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  191. 69   Badura (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  62. 70   Wiese (Fn.  4 0), S.  548 (575). 71  Vgl. A. Köttgen, Abgeordnete und Minister als Statusinhaber, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S.  195 (207 ff.); ders., Das anvertraute öffentliche Amt, in: Festgabe für Rudolf Smend, 1962, S.  119 (130 u. 142 f.); W. Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1964, S.  91; Wiese (Fn.  4 0), S.  548 (560 ff. u. 575); W. Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S.  51 ff. Zu Recht kritisch P. Badura, Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, §  15, Rn.  59; ders. (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  62; Stein (Fn.  3 ), S.  515 f. 72   Ähnlich bereits Schröder (Fn.  27), S.  156.

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Damit ist festzuhalten, dass rechtswissenschaftlich zwar mehrere heuristische Bedeutungszugriffe auf den Amtsbegriff bei Abgeordneten nachweisbar sind, diese jedoch weder eine breitere Konsentierung für sich beanspruchen können noch aus sich heraus konkreter qualitativ bestimmbar werden lassen, was das Amt einer bzw. eines Abgeordneten gegenständlich bzw. wesentlich ausmacht.

4.  Das Amt als Relation von Mandat und Person Für einen verfassungsrechtswissenschaftlichen Begriffszugang liegt es deshalb nahe, zunächst stärker auf den deskriptiven Gehalt des Amtsrekurses im Kontext von Abgeordneten zu fokussieren, um die spezifischen Amtscharakteristika erfassen zu können. Es sollen also in erster Linie jene Wirkungen beschrieben werden, die mit der Bezeichnung der Rechtsstellung von Abgeordneten als ein Amt rechtswissenschaftlich verbunden werden – es geht mit anderen Worten um den wissenschaftlichen Beschreibungsgehalt, die Funktionalität des Begriffs. Versteht man die Substanz eines Amtes mit Hans Julius Wolff organisatorisch, also durch „die Pflicht, aber auch das Recht, nämlich die Zuständigkeit […] eines Menschen, fremde Angelegenheiten verantwortlich wahrzunehmen“73, so lässt sich für Abgeordnete ein durch Rechtsvorschriften begründeter Aufgabenkreis infolge der Art.  38 ff. GG ausmachen, welcher angesichts der Repräsentationsfunktion und der Mitwirkung an der Gesetzgebung auch unschwer als öffentlich charakterisiert werden kann.74 Zu einer anderen Beurteilung gelangt, wer das Wesen des Amtes stärker in der Leistung von Dienst (ministerium) ausmacht,75 der strukturanalog zum Beamten in Hierarchien eingebunden und fremdnützig erbracht werden müsse, denn dann ist ein Amtscharakter der Abgeordnetenstellung angesichts des freien Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG kaum zu begründen.76 In diesem Lichte überzeugt die Terminologie der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, die als „Amtsträger“ funktional nur Präsidenten, Vizepräsidenten sowie Quästoren, nicht aber die einzelnen Abgeordneten kennzeichnet.77 Abstrahiert man indes die Kontroversen um Amtsverständnis und Amtsverhältnis und richtet den Blick verstärkt auf die Beschreibungsstrukturen hinter den Auseinandersetzungen, so tritt ein gemeinsames Grundmuster hervor: Öffentliche Ämter sind sowohl historisch als auch normativ Ausdruck einer Absonderung der öffentlichen Funktion von der privaten Person.78 Die reduzierte Definition von Peter Badura, wonach ein Amt den durch Rechtsvorschriften einer natürlichen Person zur pflicht73   H. J. Wolff, Artikel zu „Amt (im Staate)“, in: Kunst/Herzog/Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2.  Aufl. 1975, Sp.  31. 74  Vgl. Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  29; Stein (Fn.  3 ),S.  392 f. 75  Vgl. Stein (Fn.  3 ), S.  53; R. Dreier, Artikel zu „Amt, öffentlich-rechtlich“, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Band I, 7.  Aufl. 1985, Sp.  128 (128 u. 130 f.). 76   Stein (Fn.  3 ), S.  393. 77   Vgl. Titel 1, Kapitel 2, Art.  12 ff. der Geschäftsordnung Europäisches Parlament v. 01.03.2011, ABl. Nr. L 116 S.  1 ff.; dazu P. M. Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2.  Aufl. 2012, Art.  14 EUV, Rn.  71. 78  Vgl. Stein (Fn.  3 ), S.  52 ff. u. 298.

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gemäßen Wahrnehmung zugewiesenen Wirkungskreis bezeichne,79 weist in ihrer abstrakten Relationierung deutlich auf dieses Muster hin. Auf der Ebene des organisationsrechtlichen Amtes erfolgt die Verknüpfung zwischen organisatorischem Überbau und der handelnden natürlichen Person.80 Der Amtsbegriff betrifft gleicher­ maßen eine natürliche Person wie er einen Wirkungskreis in den Blick nimmt. Er erzwingt damit einerseits kategorial diese Differenzierung. Andererseits leistet das Amtsverhältnis zugleich die rechtliche Verklammerung zwischen den Amtsberechtigungen und ‑pflichten auf der einen und dem personenrechtlichen Status auf der anderen Seite.81 In deskriptiver Lesart trennt das Amt eines Abgeordneten, was es verbindet, und es verbindet, was es trennt – es handelt sich um einen Begriff, in dem zwei Sphären konvergieren. Ausgehend von dieser noch nicht normativen, sondern rein deskriptiven Verklammerung durch den Begriff des Amtes ist gerade für die Abgeordneten das zentrale verfassungsrechtliche Problem aufgeworfen. Es steht nämlich stark in Frage, inwieweit die strukturelle Leistung von Ämtern, nämlich die Ausdifferenzierung von Funktion und Person, für Abgeordnete gangbar und – noch wichtiger: – normativ vorgesehen ist. Zwar lassen sich selbst im Beamtenverhältnis als dem idealtypischen Bezugsmodell einer Differenzierung von dienstlicher und persönlicher Sphäre Anlässe für weitergehende Ausdifferenzierungen ebenso wie für Relativierungen der Unterscheidungskraft ausmachen. Beispielhaft für Ausdifferenzierungsnotwendigkeiten sei auf die geläufige beamtenrechtliche Unterscheidung des Amtes im statusrechtlichen, im abstrakt-funktionellen und im konkret-funktionellen Sinne verwiesen.82 Relativierungen betreffen gleichermaßen die Reichweite dienstlicher Pflichten aufgrund persönlicher Freiheitsrechte – wie beispielsweise im Kontext von Kopftuchverboten83 oder Haartrachtweisungen84 deutlich geworden ist – wie auch Übergriffe in persönliche Verhaltensanforderungen – beispielsweise in Gestalt von Verfassungstreuegeboten85 – durch dienstliche Interessen gefordert sein können. Das Konfliktpotential und die Frage nach der Differenzierungsmöglichkeit als solche stellen sich allerdings bei Abgeordneten um ein vielfaches virulenter dar. Denn wie bereits aufgezeigt ist der Abgeordnete im Sinne des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „Inhaber eines öffentlichen Amtes und nicht daneben, sondern zugleich, das heißt innerhalb seines Amtes, Staatsbürger“86 bzw. er verfügt über „ein zwar in der Gesellschaft verwurzeltes, aber innerhalb   Badura (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  62; ders. (Fn.  71), §  15, Rn.  59.   L. Münkler, Der Nichtakt. Eine dogmatische Rekonstruktion, 2015, S.  127, m. w. N. 81   Stein (Fn.  3 ), S.  299. 82   Vgl. dazu U. Battis, Beamtenrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 3, 3.  Aufl. 2013, §  87, Rn.  57 ff.; M. Wichmann/K.-U. Langer, Öffentliches Dienstrecht, 7.  Aufl. 2014, Rn.  48 ff.; R. Summer, Amt und Funktion, in: Festschrift für Franz Knöpfle, 1996, S.  369 (372 ff.). 83   Vgl. BVerfG, NJW 2015, S.  1359 ff.; BVerfGE 108, 282 ff. – Kopftuch I (2003). 84   Vgl. BVerwGE 125, 85 ff.; BayVGH, BayVBl 2003, 212 f. 85   Vgl. eingehend zu Konzeption und Fallgruppen U. Battis, Bundesbeamtengesetz, 4.  Aufl. 2009, §  7, Rn.  10 ff. sowie §  60, Rn.  13 f., jew. m. w. N. 86   BVerfGE 118, 277 (379) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 79

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der Staatsorganisation wahrgenommenes Amt“87. Bereits deshalb ist eine strikte Trennung zwischen amtlicher und staatsbürgerlicher Stellung nicht durchzuhalten und würde die Funktion der Abgeordneten als Bindeglied zwischen Volk und parlamentarischem Prozess verkennen.88 Dies erfordert jedoch keine normative Aufgabe der Unterscheidungskategorien als solche, nur muss ihr Verhältnis präziser bestimmt und müssen ihre Gehalte gradueller abgestuft oder flexibler zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Begriff des Amtes einer bzw. eines Abgeordneten veranlasst deshalb dazu, seinen deskriptiven Gehalt nunmehr normativ in Gestalt der beiden Relationspole (II. u. III.) sowie etwaige Wechselwirkungen zwischen denselben (IV.) zu rekonstruieren.

II.  Das Mandat der Abgeordneten Die öffentliche Funktion von Abgeordneten ist normativ durch ihr Mandat bestimmt. Es handelt sich dabei zwar um keinen wörtlich im Verfassungstext verwendeten Begriff, allerdings lässt sich die Funktionsstellung der Abgeordneten systematisch gerade deshalb durch ihn umfänglich bezeichnen – das Mandat ist ein verfassungsrechtsdogmatischer Begriff, dessen Gehalt im Folgenden entfaltet werden soll.

1.  Mandat und Mitgliedschaft Die Funktionsstellung der Abgeordneten wird durch diesen Begriff präziser umschrieben als durch den ebenfalls möglichen Rekurs auf die Mitgliedschaft im Bundestag. Zwar wählt das Grundgesetz textlich in einer Vielzahl von Bestimmungen die letztere begriffliche Anknüpfung89 und auch die offizielle Bezeichnung der Abgeordneten lautet „Mitglieder des Deutschen Bundestages“. Die Fokussierung auf eine Mitgliedschaft betont zutreffend die Kollegialstruktur des Bundestages, suggeriert dabei indes gerade durch diese mitgliedschaftliche Verortung eine stark vom Gesamtorgan abgeleitete Stellung. Auch wenn in Rechtsprechung und Literatur die Gesamtrepräsentation durch den Bundestag als Grundlage für dessen Ausübung von Staatsgewalt hervorgehoben wird,90 erschöpft sich die verfassungsrechtliche Funk­ tion der Abgeordneten nicht in der Teilhabe an dieser Gesamtrepräsentation – vielmehr werden sie durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG individuell als unabhängige Akteure figuriert. Dem entspricht eine originär-individuelle, also nicht ausschließlich deriva  BVerfGE 118, 277 (328) – Abgeordnetengesetz (2007).   BVerfGE 118, 277 (380) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007); Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  89. 89   Vgl. Art.  23 Abs.  1a S.  2 , 29 Abs.  7 S.  2 , 39 Abs.  3 S.  3, 41 Abs.  1 S.  2 , 42 Abs.  1 S.  1, 44 Abs.  1 S.  1, 45a, Abs.  2 S.  2 , 54 Abs.  3, 56 S.  1, 61 Abs.  1 S.  2 u. 3, 63 Abs.  2 –4, 67 Abs.  1 S.  1, 68 Abs.  1, 77 Abs.  2 S.  1, Abs.  4, 79 Abs.  2 , 80a Abs.  3 S.  2 , 87 Abs.  3 S.  2 , 93 Abs.  1 Nr.  2 , 115 Abs.  2 S.  6, 115a Abs.  1 S.  2 , Art.  121 GG. 90   Vgl. BVerfGE 44, 308 (316) – Beschlussfähigkeit BT (1977); BVerfGE 56, 396 (405) – Agententätigkeit (1981); BVerfGE 80, 188 (217 f.) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 130, 318 (342) – EFSF (2012); Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  129, m. w. N. 87

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tiv aus den Rechten des Gesamtorgans kraft Mitgliedschaft konstruierte Rechtsstellung, wie sie durch eine Vielzahl von verfassungsrechtlichen Gewährleistungen inner-, aber auch außerparlamentarisch konkretisiert wird. Diese eigenständige verfassungsrechtliche Funktionalität, in welcher die Abgeordneten mehr als bloße Parlamentsmitglieder sind, wurzelt in deren eigenständiger Legitimationsbasis: der individuellen Wahl jeder Abgeordneten und jedes Abgeordneten,91 welche in diesem Sinne dann auch normativ das Zentrum von Art.  38 GG ausmacht. Weil die Abgeordneten demokratisch gewählt sind (Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG) und eine Repräsenta­ tion in Unabhängigkeit bewirken (Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG), erscheint es verfassungsrechtsdogmatisch vorzugswürdig, ihre funktionale Rechtsstellung gerade im Lichte dieser repräsentativen Mandatierung zu betonen und sie folglich als ein Mandat zu bezeichnen.

2.  Normativer Rückkopplungsbedarf beim Mandatsrekurs Dieser Rückgriff auf den Mandatsbegriff sieht sich allerdings mit abweichenden Begriffsverwendungen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum konfrontiert. Rekurse auf den Mandatsbegriff lassen sich dabei auf vor- wie nachgelagerten Relationsebenen ausmachen. Zum einen wurde historisch das Mandat begrifflich verwendet, um die Grundlage der Amtsausübung zu bezeichnen und damit letztlich synonym zum Amtsbegriff die Verklammerung von funktionalen Berechtigungen und persönlichen Rechtsstellungen zu leisten.92 In dieser Traditionslinie sieht sich aktuell das Mandat in Abgrenzung zum Amt als durch eine geringere rechtliche Determination bzw. eine größere Entscheidungsfreiheit des Mandatierten gekennzeichnet, ohne dabei die grundlegende Verklammerung von Funktion und Person als amtsparallele Kernaussage in Frage zu stellen.93 Zum anderen wird indes auch eine Begriffsverwendung praktiziert, die auf einer nachgelagerten Ebene durch einen weitgehend synonymen Gebrauch von Mandat und Status der Abgeordneten – vornehmlich im Sinne der Freiheit oder Unabhängigkeit des Mandats – gekennzeichnet ist.94 Nicht zuletzt in Anbetracht dieser differierenden Bezugnahmen besteht Anlass dazu, den spezifisch verfassungsrechtsdogmatischen Bedeutungsgehalt des Mandats durch eine 91  Vgl. Badura (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  58: „Sein Mandat ist in dem Sinne originär, daß er es selbst und unmittelbar durch die Annahme der Wahl erwirbt und daß es, auch wenn über eine Landesliste gewonnen, nicht von der Partei, der der Abgeordnete angehört, oder der Fraktion, deren Mitglied er wird, abgeleitet ist.“ 92   Stein (Fn.  3 ), S.  299, m. w. N. 93  Vgl. Stein (Fn.  3 ), S.  299 f. 94   Vgl. exemplarisch BVerfGE 76, 256 (341 f.) – Beamtenversorgung (1987); Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73 f. u. 80 f.; Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  142 ff.; Badura (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  58; ders. (Fn.  62), S.  153 f. Das parlamentarische Mandat als Kernstück der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung der Abgeordneten bezeichnend ders. (Fn.  71), §  15, Rn.  2 . Generell wird die Bündelung aller Rechte und Pflichten, die an die Abgeordnetenposition adressiert sind, als Status der Abgeordneten bezeichnet und sodann als ein Status der Freiheit, der Gleichheit sowie der Öffentlichkeit gekennzeichnet; vgl. P. Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S.  537 (538 ff.); Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  132 ff.; ders./L. Michael, Staatsorganisationsrecht, 2.  Aufl. 2015, §  11, Rn.  67 ff.

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engere normative Rückkopplung in einem stärkeren Maße mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Art.  38 Abs.  1 GG zu konturieren. Es geht deshalb darum, das Mandat als funktionale Rechtsstellung im Hinblick auf dessen aktive Ausrichtung, auf die verfassungsrechtliche Rollenerwartung an das Abgeordnetenmandat, zu verstehen. Diese aktive Komponente kommt normativ primär in den spezifischen Berechtigungen, konkret vor allem durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG, zum Ausdruck.

3.  Die Teilhabedimension des Mandats Das funktional herausstechende Charakteristikum von Abgeordneten ist ihr exklusiv-eigenständiger Zugang zum parlamentarischen Raum: Infolge ihrer demokratischen und individuellen Wahl sind sie gem. Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG mandatiert; sie gewinnen also Legitimation – den sog. Wählerauftrag – und die Berechtigung zur parlamentarischen Betätigung. Mag ihr jeweiliges Engagement im Parlament organextern-outputbezogen zur Legitimationsgenerierung auch kollektiv auf eine Gesamtrepräsentation aller Abgeordneten ausgelegt sein, die deshalb nur in Gesamtheit als „Vertreter des ganzen Volkes“ i. S. v. Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG agieren,95 so ändert dies nichts an der individuellen Berechtigung der Abgeordneten aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG. Die kollektive Gesamtrepräsentation ist der Effekt einer demokratischen Praxis, die parlamentarisch-institutionell in einer koordinierenden Verfahrens­ dimension pluraler Betätigungen zum Ausdruck gebracht wird. Die Grundlage für eine solche Praxis bilden also neben institutionellen Verfahrensarrangements vor allem die – ggf. auch nur mittelbar, nämlich fraktions- oder gruppenassoziiert ausgeübten – Beiträge der individuellen Abgeordneten. Diese sind Ausdruck ihrer Teil­ habe an der parlamentarischen Praxis. Gerade für den binnenparlamentarischen Raum umfasst deshalb der durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG gewährleistete repräsentative Status der Abgeordneten vor allem das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung.96 Dieses verfassungsrechtliche Teilhaberecht verbürgt eine Reihe parlamentarischer Befugnisse der Abgeordneten, die sog. Statusrechte, um die von der Verfassung verbürgte Rechtsstellung der Abgeordneten in der parlamentarischen Arbeit verwirklichen zu können.97 Insbesondere beinhaltet der Status der Abgeordneten das Recht auf Teilnahme an den Plenar- und Ausschlusssitzungen,98 das Stimmrecht und das Recht, sich an den vom Parlament vorzunehmenden Wahlen zu beteiligen,99 sowie

 Vgl. Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  129, m. w. N.   Vgl. BVerfGE 84, 304 (321 f.) – PDS/Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 (278) – Fraktions-/ Gruppenstatus PDS (1997); BVerfGE 102, 224 (238) – Funktionszulagen (2000). 97  Vgl. Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  230; Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  149; G. Roth, in: Umbach/ Clemens (Hrsg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, Band 2, 2002, Art.  38, Rn.  114; A. Ingold/ S.‑C. Lenski, Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss als Ordnungsmaßnahmen gegen Bundestagsabgeordnete, JZ 2012, S.  120 (121). 98   Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  59; Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  149. 99   BVerfGE 10, 4 (12) – Redezeit (1959); BVerfGE 80, 188 (218) – Wüppesahl (1989). 95

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das Rederecht100.101 In der Ausformung als Statusrecht bietet Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG damit auch eine unmittelbare verfassungsrechtliche Grundlage für oppositionelle Betätigung im Parlament und gewährt insoweit ein bedeutsames Forum für parlamentarische Opposition.102 Die Statusrechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG sind allerdings in ihrer Struktur als mitgliedschaftliche Teilhaberechte auf eine – in der Parlamentsautonomie wurzelnde – Ausgestaltung angelegt und stehen in ihrer Ausübung unter dem Vorbehalt der gegenseitigen Zuordnung und Abstimmung103 : „Es ist daher Aufgabe des Parlaments, die Statusrechte aller Abgeordneten einander zuzuordnen und sie aufeinander abzustimmen, um eine sachgerechte Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen“104. Dies wird besonders deutlich im Hinblick auf die parlamentarische Redeordnung: Trotz der Anerkennung des individuellen Statusrechts auf selbstständige und selbstbestimmte Ausübung der parlamentarischen Rede im Plenum,105 um im Vorfeld von Abstimmungen an der parlamentarischen Willensbildung teilzunehmen und sie zu beeinflussen zu können,106 ist ein generelles Funktionsbedürfnis zugunsten zeitlich nacheinander und nicht parallel erfolgender Redebeiträge im Wege einer Rednerliste und der Festlegung einer Gesamtredezeit für die jeweilige Debatte nicht von der Hand zu weisen.107 Dementsprechend evoziert bereits die konsentierte Wahrnehmung der parlamentarischen Debatte als durch Rede und Gegenrede geprägt108 in grundsätzlicher Hinsicht die Frage nach der Debattengestaltung unter den Bedingungen parlamentarischer Pluralität bzw. politischer Gegnerschaft.109 Einschränkungen der individuellen Redebefugnis können kollisionsrechtlich im Interesse widerstreitender Statusrechte bzw. der Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des ­Par­laments gerechtfertigt sein und erfahren in diesem Sinne im Wege der Geschäftsordnungsautonomie (Art.  40 Abs.  1 S.  2 GG) selbstorganisatorische Ausgestaltungen.110 Diese Rechtfertigungslogik mit kollisionsrechtlicher Fundierung fordert den 100   BVerfGE 10, 4 (11 f.) – Redezeit (1959); BVerfGE 60, 374 (380) – Redefreiheit und Ordnungsrecht (1982); BVerfGE 70, 324 (355) – Haushaltskontrollausschuss Geheimdienste (1986); BVerfGE 96, 264 (284) – Fraktions-/Gruppenstatus PDS (1997). 101   Ingold/Lenski (Fn.  92), S.  120 (121). 102   Ingold (Fn.  19), S.  313. 103   BVerfGE 80, 188 (217 f.) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 84, 304 (321) – PDS/Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 (278) – Fraktions-/Gruppenstatus PDS (1997); Roth (Fn.  97), Art.  38, Rn.  114; Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  230 ff.; Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 (125); Ingold (Fn.  19), S.  430 f. 104   BVerfGE 130, 318 (348) – EFSF (2012). 105   Vgl. grundlegend BVerfGE 10, 4 (12) – Redezeit (1959). 106  Vgl. Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  230 f.; V. Karcher/J. M. V. Korn, Ist Schweigen tatsächlich Gold?, DÖV 2012, S.  725 (728). 107   Vgl. BVerfGE 10, 4 (13 f.) – Redezeit (1959); BVerfGE 96, 264 (284) – Fraktions-/Gruppenstatus PDS (1997); J. C. Besch, Rederecht und Redeordnung, in: Schneider/Zeh (Fn.  71), §  33, Rn.  11; leicht relativierend Demmler (Fn.  71), S.  475 ff. 108   Vgl. ausdrücklich §  28 Abs.  1 S.  2 GOBT sowie BVerfGE 10, 4 (12) – Redezeit (1959); BVerfGE 70, 324 (355) – Haushaltskontrollausschuss Geheimdienste (1986); BVerfGE 80, 188 (224) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 84, 304 (329) – PDS/Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 (284 f.) – Fraktions-/Gruppenstatus PDS (1997); H. J. Schreiner, Die Berliner Stunde – Funktionsweise und Erfahrungen, ZParl 36 (2005), S.  573; Besch (Fn.  107), §  33, Rn.  2 ; Karcher/Korn (Fn.  106), S.  725 (728). 109   Vgl. eingehend Ingold (Fn.  19), S.  396 ff. 110   Vgl. BVerfGE 10, 4 (13 ff.) – Redezeit (1959); BVerfGE 80, 188 (218 ff.) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 84, 304 (321 f.) – PDS/Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 (284 f.) – Fraktions-/Gruppen-

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Ausgleich durch wechselseitige Proportionalitätserwägungen.111 Konsequenterweise sind deshalb Beschränkungen durch die Redeordnung Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgeboten unterworfen.112 Ergänzend wird eine absolute Grenze der Parlamentsautonomie statuiert, wonach die Befugnis zur Selbstorganisation es nicht erlaube, den Abgeordneten Rechte vollständig zu entziehen.113 Diese Rechtfertigungsanforderungen stehen dann aber beispielsweise rechtspolitischen Bestrebungen entgegen, eine verstärkte Fraktionsprärogative in der parlamentarischen Redeordnung zu verankern: Im Hinblick sowohl auf fraktionslose Abgeordnete als auch auf konkret fraktionsabweichende Abgeordnete lassen sich verfassungsrechtlich keine durchgreifenden Interessen formulieren, die eine stärker fraktions- oder gruppenmediatisierte Worterteilung im Plenum rechtfertigen würden.114 Aufgrund des statusrechtlichen Teilhaberechts aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG kann sich die Redeordnung nicht darauf beschränken, den Ausgleich von Fraktions- und Gruppeninteressen einerseits sowie der Funktionsfähigkeit des Parlaments andererseits anzustreben, sondern hat ebenso dem eigenständigen Rederecht von konkret oder generell nicht assoziationsmediatisierten Abgeordneten Rechnung zu tragen.115 In gleicher Weise unterliegen auch jenseits des Rederechts etwaige Einschränkungen statusrechtlich gewährleisteter Teilhabeoptionen durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG einem Rechtfertigungserfordernis.116 Soweit also beispielsweise bezogen auf das Statusrecht zur Sitzungsteilnahme mittels §  44a Abs.  5 S.  3 AbgG ein Sitzungsausschluss für Abgeordnete „bei gröblicher Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages“ ermöglicht wird, ist nicht nur die tatbestandliche Anknüpfung an die Würde des Parlaments richtigerweise als verfassungswidrig zu qualifizieren.117 Ein auf status PDS (1997); BVerfGE 102, 224 (236) – Funktionszulagen (2000); BVerfGE 130, 318 (348 ff.) – EFSF (2012). 111   Vgl. beispielhaft BVerfGE 99, 19 (32) – Gysi III (1998): „Beide Rechte sind soweit wie möglich zur Geltung zu bringen. 112  Vgl. deutlich Achterberg (Fn.  57), S.  619, Fn.  90. In der Sache ebenfalls Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  218 ff. Explizit auf eine strikte Erforderlichkeitsprüfung bei Beeinträchtigungen von Statusrechten der Abgeordneten abstellend auch jüngst BVerfGE 130, 318 (353) – EFSF (2012). Zu weitreichend parallelisiert das Gericht dabei allerdings die Freiheits- und Gleichheitsrechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG in ihren konkreten Rechtfertigungsanforderungen sogar mit den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG und will insoweit „Differenzierungen in Bezug auf den Abgeordnetenstatus zu ihrer Rechtfertigung entsprechend den sich aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ergebenden Anforderungen“ unterwerfen; vgl. dazu BVerfGE 130, 318 (352) – EFSF (2012). 113   BVerfGE 130, 318 (350) – EFSF (2012), m. w. N. 114   Vgl. eingehend Ingold (Fn.  19), S.  396 ff., m. w. N. 115   Ingold (Fn.  19), S.  411. 116   Entgegen Ansätzen in der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist diesbezüglich kein Beurteilungsspielraum der Sitzungsleitungen anzuerkennen, da es sich um Verfassungsrechtsfragen „klassischer“ Subsumtion bzw. Rechtsanwendung handelt, die zudem in Bezug auf die Statusrechte der Abgeordneten besonders wesentliche demokratische Gewährleistungen des Verfassungsrechts betreffen. So aber tendenziell Sächsischer VerfGH, Beschl. v. 22.06.2012, Az.: Vf. 58-I-12 (e.A.), juris, Rn.  28; Sächsischer VerfGH, Urt. v. 3.12.2010, Az.: Vf. 77-I-10, juris. Rn.  39; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 23.01.2014, Az.: 3/13, juris, Rn.  32; besonders weitgehend VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 23.01.2014, Az.: 4/13, juris, Rn.  41 ff. 117   Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 ff.; a. A.: O. Borowy, Parlamentarisches Ordnungsgeld und Sitzungsausschluss: Verfassungsrechtliche Aspekte, ZParl 43 (2012), S.  635 (646 ff.); H.-J. Papier/C. Krönke,

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diese Bestimmung gestützter Sitzungsausschluss ist darüber hinaus im Hinblick auf die in der Praxis damit verbundene Verhinderung des Stimmrechts, welches anders als die Ausübung des Anwesenheits- und Rederechts keinen Konflikt mit den Statusrechten anderer Abgeordneter oder der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu begründen vermag und deshalb nicht „ordnungswidrig“ ausgeübt werden kann, verfassungswidrig.118 Des Weiteren richtet sich ein mehrtägiger Ausschluss von den Sitzungen nicht unmittelbar auf die Abwehr einer Störung des parlamentarischen Betriebes, sondern weist vornehmlich den Charakter repressiver Spezial- bzw. Generalprävention auf,119 so dass auch dieser Rechtsfolgenaspekt verfassungsrechtlich nicht zu recht­fertigen ist. Besonders deutlich kommt diese Teilhabelogik zudem im Hinblick auf das parlamentarische Ausschusswesen und die diesbezügliche Sitzverteilung zum Tragen.120 So anerkennt das Bundesverfassungsgericht, dass die Verlagerung von parlamentarischen Aufgaben in Ausschüsse und Gremien potentiell die Rechte von ihrerseits den jeweiligen Untergliederungen nicht angehörenden Abgeordneten auf Beratung, auf eigene Rederechte sowie auf Abstimmung zu den jeweiligen Themenkomplexen zu beschränken vermag.121 Es bedarf also zunächst eines besonderen Grundes, der von einem solchen verfassungsrechtlichen Gewicht ist, „das der Gleichheit der Abgeordneten die Waage halten kann.“122 Daneben wirkt vor der Folie des individuellen Abgeordnetenmandats und der Statusrechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG vornehmlich der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz als jene Grenzmarkierung, innerhalb derer eine Verlagerung parlamentarischer Tätigkeit in spezielle Ausschüsse verfassungsrechtlich durch Funktionsinteressen gerechtfertigt sein kann.123 Jeder Ausschuss müsse deshalb ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums in seiner politischen Gewichtung widerspiegeln.124 „Je kleiner das Untergremium ausfällt, desto mehr Abgeordnete werden allerdings an der Wahrnehmung ihrer Statusrechte gehindert, und umso weniger ist insofern auch der Repräsentationsfunktion entsprochen. Daher steigen die Anforderungen an eine sachliche Rechtfertigung der Delegation von Entscheidungsbefugnissen mit der abnehmenden Größe eines Untergremiums. In Ausnahmefällen kann dies trotz formaler Wahrung des Grundsatzes der Spiegelbildlichkeit zu einer Verletzung von Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG wegen der zu geringen Größe des Untergremiums führen.“125

Grundkurs Öffentliches Recht 1, 2012, Rn.  348; wohl auch VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 23.01.2014, Az.: 3/13, juris, Rn.  33. 118   Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 (123 f.); C. Dicke, in: Umbach/Clemens (Fn.  97), Art.  4 0, Rn.  39; a. A. VerfGH Sachsen, Urt. v. 3.12.2010, Az.: Vf. 77-I-10, juris, Rn.  31. 119   Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 (124). 120   Vgl. eingehend dazu Ingold (Fn.  19), S.  373 ff. 121   Vgl. BVerfGE 130, 318 (357) – EFSF (2012); BVerfGE 137, 185 (262) – Bundessicherheitsrat (2014). 122   BVerfGE 131, 230 (235) – Bundesverfassungsrichterwahl (2012). 123   Ingold (Fn.  19), S.  383. 124   Vgl. BVerfGE 80, 188 (222) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 84, 304 (323) – PDS/Linke Liste (1991); BVerfGE 96, 264 (282) – Fraktions-/Gruppenstatus PDS (1997); BVerfGE 112, 118 (133) – Vermittlungsausschuss (2004); BVerfGE 130, 318 (354) – EFSF (2012). 125   BVerfGE 130, 318 (354) – EFSF (2012).

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Das Mandat der Bundestagsabgeordneten beinhaltet also in Gestalt der Statusrechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG eine ausgeprägte und in eine Vielzahl von Einzelgewährleistungen aufgefächerte Teilhabedimension: das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung, dessen Beeinträchtigungen stets einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigungslogik genügen müssen.

4.  Die Freiheitsdimension des Mandats Der Gewährleistungsgehalt von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG erschöpft sich nicht in dessen Teilhabedimension, deren normative Bezugsebene ausschließlich der binnenparlamentarische Raum sein kann.126 Denn jenseits der staatlich-binnenparlamentarischen Willensbildung kommt Abgeordneten die Aufgabe einer „Transformationsfunk­ tion“127 im Wechselspiel zur gesellschaftlichen Willensbildung zu. Das Repräsenta­ tionserfordernis der beidseitigen Vermittlung von Informationsströmen werde durch Abgeordnete verwirklicht, die als Verbindungsglied zwischen Parlament und Bürgern fungierten und diesen Kontakt als eine der „Hauptaufgaben des Mandats“ aufrechterhielten.128 Die Abgeordneten befinden sich also in einer intermediären Posi­ tion zwischen dem Staat und der Gesellschaft, aus der sie stammen und in der sie „sich für die Dauer des Mandats und für dessen Erneuerung verantworten und erklären“129 müssen. Diese Funktionen erfahren verfassungstextliche Anerkennung und verfassungsrechtlichen Schutz durch eine Freiheitsdimension des Mandats: Ihre verfassungsrechtliche Freiheit soll sie in die Lage versetzen, selbstbestimmt, also vor allem unabhängig von bindenden Instruktionen, die Entscheidungs- und Kompromissfähigkeit parlamentarischer Willensbildung zu leisten.130 Verfassungstextlich kommt dies in Formulierungen einer Freiheit von äußeren, vor allem rechtlichen Bindungen („an Aufträge und Weisungen nicht gebunden“) sowie dem Appell zur inneren Freiheit im Sinne politisch-moralischer Selbstverpflichtung („nur ihrem Gewissen unterworfen“) zum Ausdruck. Die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Abgeordneten kann als Fortschreibung des freien Wahlakts und Umsetzung des Repräsentations­ 126   Eine andere Bewertung käme allenfalls in Betracht, soweit Statusrechte verfassungsprozessual die Grundlage für eine Prozessstandschaft im Organaußenverhältnis bildeten, wobei diese Konstruk­ tion allerdings für die Bundestagsabgeordneten bislang durch die Rechtsprechung des BVerfG keine Anerkennung erfährt; vgl. dazu eingehend Ingold (Fn.  19), S.  4 40 f., m. w. N. 127  BVerfGE 134, 141 (173) – Ramelow (2013); zuvor bereits wörtlich Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  136. 128   BVerfGE 134, 141 (173) – Ramelow (2013); unter Verweis auf W. Härth, Die Rede- und Abstimmungsfreiheit der Parlamentsabgeordneten in der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S.  142, E. Benda, Zukunftsfragen der Parlamentarischen Demokratie, ZParl 9 (1978), S.  510 (513), sowie H. Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33 (1975), S.  7 (95). 129   BVerfGE 118, 277 (340) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 130  Vgl. Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  46; ders., Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S.  137 ff.; Stern (Fn.  56), S.  1070 f. Ferner BVerfGE 134, 141 (172) – Ramelow (2013): „Das Gebot freier Willensbildung des Abgeordneten gemäß Art 38 Abs.  1 Satz  2 GG steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie gemäß Art.  20 Abs.  2 Satz  2 GG“.

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gedankens verstanden werden,131 zumal Distanznahme und Selbstdifferenz als wesentliche demokratische Repräsentationsvoraussetzungen zugunsten von Zukunfts­ offenheit fungieren132. Verfassungsrechtsdogmatisch ist damit durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG das freie Mandat der Abgeordneten normiert, welches nach herkömmlichem Verständnis die Unabhängigkeit der Abgeordneten und die prinzipielle Unentziehbarkeit ihres Mandats umfasst.133 Dabei ist die Freiheit des Mandats gleichermaßen gegen den Staat gerichtet wie sie gegenüber privaten Dritten relevant werden kann.134 Dementsprechend kann die Freiheit des Mandats sowohl im Verhältnis zu Wähler­ innen und Wählern, zu Interessensgruppen, zur eigenen Partei und auch zur eigenen Fraktion in Stellung gebracht werden.135 Es wird dabei nicht nur der Bestand, sondern auch die tatsächliche Mandatsausübung geschützt136. Ungeachtet der mangels tauglicher Maßstäbe sowie rechtlicher Sanktionsmechanismen allein theoretischen Kontroverse, ob oder bis zu welchem Maße die Abgeordneten auch eine Pflichtenstellung hinsichtlich der Repräsentationsaufgabe binde und eine gänzliche Vernachlässigung ohne Aufgabe des Mandats ausschlösse,137 besteht jedenfalls hinsichtlich der Art und Weise der Mandatswahrnehmung Einigkeit, dass umfassende Freiheit in der inhaltlichen Mandatsausübung besteht.138 Die Freiheit ihres Mandats ermöglicht den Abgeordneten offene Kommunikation, insbesondere eine unvoreingenommene Entgegennahme von Informationen sowie deren selbstverantwortliche Verarbeitung, und ermöglicht ihnen flexibles situationsgerechtes Handeln.139 Die Freiheit des Mandats schützt demnach umfassend die aktiven wie passiven Kommunikationsbeziehungen zu Bürgerinnen und Bürgern als Bedingung der freien Willensbildung, damit die Abgeordneten „Meinungen und Interessen unverzerrt und ohne staatliche Beeinflussung erreichen können.“140 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht sogar so weit, in der Behinderung der parlamentarischen Arbeit eines einzelnen Abgeordneten generell eine Veränderung der „vom Volke festgelegten Mehrheitsverhältnisse“ zu erblicken.141 So solle beispielsweise die Repräsentationsfunktion des Parlaments berührt sein, sobald die   L. Münkler, Mehr Transparenz!, JURA 2015, S.  292 (298).   Vgl. dazu demokratietheoretisch J. Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, 2.  Aufl. 2014, S.  20 ff. Ferner zu Distinktion und Distanz als klassischer funktionaler Repräsentationslogik P. Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, 2010, S.  230 u. 272. 133  Vgl. Roth (Fn.  97), Art.  38, Rn.  107 ff; B. Pieroth, in: Jarass/ders., Grundgesetz, 13.  Aufl. 2014, Art.  38, Rn.  4 0 f. 134  Vgl. M. Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, §  15, Rn.  109 ff., m. w. N. 135   Vgl. zu den Fallgruppen Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  97 ff. 136   Vgl. zuletzt BVerfGE 134, 141 (172) – Ramelow (2013), m. w. N. 137  Vgl. exemplarisch einerseits BVerfGE 118, 277 (325 f.) – Abgeordnetengesetz (2007); Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  222 ff.; ders., ebd., Art.  48, Rn.  31 ff.; von Arnim/Drysch (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  50; Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  78a; andererseits BVerfGE 40, 296 (312) – Abgeordnetendiäten (1975); wohl auch Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  157, der beispielsweise Präsenzpflichten als Beeinträchtigungen mit Rechtfertigungsnotwendigkeit behandelt. 138   Vgl. BVerfGE 118, 277 (326) – Abgeordnetengesetz (2007); Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  95; Badura (Fn.  71), §  15, Rn.  43. 139   Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  202; Morlok/Michael (Fn.  94), §  11, Rn.  70. 140   BVerfGE 134, 141 (174) – Ramelow (2013). 141   BVerfGE 134, 141 (175) – Ramelow (2013). 131

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Kommunikationsbeziehungen zwischen einem Abgeordneten und Bürgerinnen und Bürgern gestört würden.142 Dementsprechend könne schon die systematische Sammlung und Auswertung öffentlich zugänglicher Informationen über Abgeordnete einen Eingriff in deren freies Mandat darstellen; im Hinblick auf die Stigmatisierung durch verfassungsschutzbehördliche Überwachung könnten zudem Wählerinnen und Wähler von einer Kontaktaufnahme zu Abgeordneten absehen, so dass bereits in der „Möglichkeit eines Abschreckungseffekts“ ein Eingriff in Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG liege.143 Aufgrund der funktionalen Ausrichtung der Freiheit des Mandats, die Bedingungen repräsentativ-parlamentarischer Demokratie mittelbar zu sichern, ist die Unabhängigkeit der Abgeordneten deshalb im Grundsatz umfassend gewährleistet.144 Etwaige rechtliche Beschränkungen bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Ein Schutz vor politischen Sanktionen seitens der Wählerinnen und Wähler, aber auch der eigenen Partei – vor allem durch die versagte Wiederaufstellung bei künftigen Wahlen145 – ist demgegenüber vom Freiheitsrecht nicht erfasst, da dieses gerade die Grundlage für eine politische Verantwortlichkeit bereitet.146 Gegenüber imperativen Maßnahmen oder rechtlich-bindenden Vereinnahmungen besteht für Abgeordnete aber ein in Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG angelegter freiheitsrechtlicher Schutz durch das Mandat.

III.  Die Abgeordneten als Person Neben der spezifischen Funktionszuordnung, dem Mandat, steht als Anknüpfungspunkt die Person der jeweiligen Abgeordneten. Es geht also um die „private Person“, allerdings nicht im Hinblick auf ihre Personalität im Sinne der „Stellung als ‚Rechtsperson überhaupt‘“147, sondern um ihre subjektive Rechtsstellung, die zunächst unabhängig vom Mandat besteht und durch dieses ggf. rechtliche Erweiterungen oder Einschränkungen erfährt. Jene staatsbürgerlich-persönliche Rechtsstellung ist verfassungsrechtlich primär durch Grundrechte gesichert, deren Relevanz für Abgeordnete in zweierlei Hinsicht zu diskutieren ist (1./2.). Daneben muss reflektiert werden, inwieweit spezielle persönliche Garantien als Modifikationen der persönlichen Rechtsstellung mit dem Mandat einhergehen (3.).

  BVerfGE 134, 141 (175) – Ramelow (2013).   BVerfGE 134, 141 (178 f.) – Ramelow (2013). 144   Badura (Fn.  71), §  15, Rn.  9; Münkler (Fn.  131), S.  292 (296 f.). 145   Vgl. dazu Butzer (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  105 f. 146  Vgl. A. Käßner, Nebentätigkeit und Nebeneinkünfte der Mitglieder des Deutschen Bundestags, 2010, S.  164; Morlok/Michael (Fn.  94), §  11, Rn.  71; zu Sanktionen der Fraktion Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  51, m. w. N. 147   Wolff (Fn.  56), S.  230 [Hervorhebungen im Original]. 142 143

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1.  Kein Grundrechtsschutz für die Abgeordnetentätigkeit Auch wenn ein Parlament demokratietheoretisch als Kumulationspunkt gesellschaftlichen Inputs in der staatlichen Sphäre beschrieben werden kann,148 handelt es sich normativ bei der Tätigkeit von Gesetzgebungsorganen ausweislich Art.  20 Abs.  2 S.  2 GG um die Ausübung von Staatsgewalt.149 Die parlamentarische Betätigung ist also in der staatlichen Sphäre angesiedelt – mit Konsequenzen für die organinternen Rechtsverhältnisse: Unstreitig folgt die Redefreiheit der Abgeordneten im Parlament normativ aus deren Statusrecht gem. Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG und nicht aus der allgemeinen Meinungsfreiheit gem. Art.  5 Abs.  1 S.  1 GG.150 Dies findet seinen Grund rechtsstrukturell darin, dass dem Abgeordnetenmandat „keine grundrechtliche, um ihrer selbst willen gewährleistete Freiheit, sondern eine funktionale, der Repräsentationsaufgabe des Parlaments dienstbare, ‚organschaftliche‘ Freiheit“151 zugrunde liege. Das Bundesverfassungsgericht stellt organbezogen darauf ab, dass Mandatswahrnehmung und Repräsentation „eine staatsorganisatorische Regelung erfahren haben und sich der Beantwortung anhand grundrechtlicher Argumentationsfiguren entziehen“152. Im Rahmen ihrer parlamentarischen Mandatstätigkeit agieren Abgeordnete deshalb nicht als Privatpersonen, sie nehmen also ihren Mandatsstatus und keine privaten Rechte gegenüber dem Staat wahr; sie können dementsprechend auch keinen Grundrechtsschutz für ihre Mandatstätigkeit beanspruchen.153 Es gebe sogar einen „prinzipiellen Vorrang parlamentsrechtlich-funktioneller vor individual-recht­ lichen Gesichtspunkten“154. Kategorial ist deshalb eine Prägung der eigentlichen Mandatswahrnehmung durch grundrechtliche Maßstäbe ausgeschlossen.155

148   Vgl. dazu eingehend im Lichte holistisch-monistischer Demokratieverständnisse S. Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S.  62 ff., m. w. N. 149  Vgl. prägnant zur Kontroverse über die Verortung des Parlaments als gesellschaftliches oder staatliches Organ in der konstitutionellen Monarchie Achterberg (Fn.  57), S.  41 f., m. w. N. 150   Badura (Fn.  71), §  15, Rn.  39. 151   Klein (Fn.  2 ), Art.  48, Rn.  37. 152   BVerfGE 118, 277 (327) – Abgeordnetengesetz (2007). 153   Magiera (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  52; Butzer (Fn.  2), Art.  38, Rn.  89; zu weitgehend indes Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  1937: „amts-, nicht grundrechtlich begründeter Rechts- und Pflichtenstatus“. 154   BVerfGE 118, 277 (328) – Abgeordnetengesetz (2007). 155   Vgl. BVerfGE 118, 277 (327) – Abgeordnetengesetz (2007); Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73. Zu Recht wird deshalb auch eine Beschränkung der politischen Gewissensfreiheit gem. Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG analog zu den Fallgruppen der Gewissensfreiheit gem. Art.  4 Abs.  1 GG abgelehnt; vgl. Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  195. Soweit BVerfGE 134, 141 (191) – Ramelow (2013), offenlässt, ob ein wechselseitiges Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Abgeordnetenrechten und Grundrechten bereits tatbestandlich bestehe, bezieht sich diese Aussage nicht auf die Frage der Geltung von Grundrechten für die Mandatsausübung, sondern – ausweislich der in Bezug genommenen Entscheidungen – auf die sogleich zu erörternde Konstellation der parallelen privaten Grundrechtsbeeinträchtigung bzw. die prozessrechtliche Geltendmachung.

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2.  Grundrechtsschutz neben der Abgeordnetentätigkeit Jenseits der originären Mandatswahrnehmung entfalten Grundrechte als persönliche Rechtsgarantien jedoch auch für Abgeordnete Rechtswirkungen. Dies gilt nicht nur für den Grundrechtsschutz erwerbswirtschaftlichen Handelns oder im Hinblick auf ihr Persönlichkeitsrecht, deren private Fundierung außer Frage steht. Ähnlich eindeutig ist auch politische Betätigung grundrechtlich geschützt, soweit diese – wie beispielsweise die Anmeldung einer Versammlung – keinen spezifischen Bezug zu ihrer Rechtsstellung als Abgeordnete, ihrer gerade als Abgeordnete ausgeübten Betätigung im Parlament aufweist. Und auch gegenüber ihren jeweiligen politischen Parteien entfaltet die Freiheit des Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG nur im Hinblick auf explizite Mandatsbezüge Wirkungen, während die originär parteimitgliedschaftliche Betätigung potentiell grundrechtlich geschützt wäre.156 Ein Grundrechtsschutz neben dem Mandat im rechtskreisbezogenen Sinne ist also unproblematisch von der persönlichen Rechtsstellung umfasst. Als konstruktive Herausforderung für die Verfassungsrechtsdogmatik ungemein komplexer ist demgegenüber der Grundrechtsschutz neben dem Mandat im parallelen Sinne, also die Frage nach der Relevanz – regelmäßig mittelbarer – grundrechtlicher Auswirkungen von primär mandatsbezogenen Regelungen oder Maßnahmen: Mag auch die Abgeordnetentätigkeit als solche von grundrechtlichen Maßstäben gänzlich unberührt und allein durch Art.  38 Abs.  1 S.  2, 46 ff. GG geprägt sein, so kann dennoch nicht ausgeschlossen werden, dass Vorgaben zur Abgeordnetentätigkeit die Mandatsträger zugleich als Privatpersonen in Grundrechten unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigen.157 Soweit dennoch eine strikte tatbestandliche Ausschließlichkeit von Abgeordnetenrechten und Grundrechten diskutiert wird,158 leidet die Auseinandersetzung sichtlich unter einer unreflektierten Vermengung von materiellrechtlichen und prozessrechtlichen Erwägungen. Prozessrechtlich ist nämlich nach überkommener Lesart der Organstreit gem. Art.  93 Abs.  1 Nr.  1 GG ein spezieller Rechtsbehelf bei Beeinträchtigungen des Abgeordnetenmandats und zwar auch dann, wenn zusätzlich 156  In Ermangelung einer zwar kontrovers diskutierten, jedoch richtigerweise abzulehnenden Grundrechtverpflichtung politischer Parteien greift dieser Aspekt allerdings gegenüber parteiinternen Einwirkungen kaum. Die vorzugswürdige Auffassung lehnt mangels Einordnung der Parteien in den staatlichen Hoheitsapparat deren Grundrechtsadressatenstellung ab und diskutiert allenfalls Konstruktionen mittelbarer Drittwirkung von Grundrechten; vgl. R. Streinz, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  162; Morlok (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  131; W. Henke, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  268; Klein (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  368 u. 385; J. Kersten, in: ders./Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht, 2009, §  1, Rn.  73; S.‑C. Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidatenaufstellung, 2011, §  10 PartG, Rn.  4 0 f.; J. Ipsen, in: ders. (Hrsg.), Parteiengesetz, 2008, §  10, Rn.  14 ff.; jew. m. w. N. A.  A. jedoch zumindest partiell U. K. Preuß, in: Denninger/Ridder/ Simon/Stein (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2.  Aufl. 1989, Art.  21 Abs.  1, 3, Rn.  67; K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S.  11 (32 f.); Pieroth (Fn.  133), Art.  21, Rn.  25; P. Kunig, in: von Münch/ders. (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  58. 157  Vgl. Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73; Klein (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  223c. Die Möglichkeit offenlassend BVerfGE 99, 19 (29) – Gysi III (1998); BVerfGE 134, 141 (190 f.) – Ramelow (2013). 158   Vgl. BVerfGE 134, 141 (190 f.) – Ramelow (2013), unter Verweis auf BVerfGE 99, 19 (29) – Gysi III (1998); BVerfGE 118, 277 (320) – Abgeordnetengesetz (2007).

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eine Verletzung von Grundrechten gerügt wird.159 Diese Annahme erfährt zwar keine Relativierung durch die jüngst anerkannte Möglichkeit, eine Verletzung der Freiheit des Mandats im Wege der Verfassungsbeschwerde gem. Art.  93 Abs.  1 Nr.  4a GG geltend zu machen,160 da diese Konstruktion vornehmlich für die Sonderkonstella­ tion des Prozessverhältnisses zu einer Bundesoberbehörde und entsprechender verwaltungsgerichtlicher Urteile – und einem fehlenden Prozessverhältnis zu einem Verfassungsorgan – gelten dürfte. Allerdings kann aus dieser Präferenz zugunsten des Organstreits richtigerweise keine Ausklammerung von Grundrechten aus dem materiellen Prüfungsumfang abgeleitet werden. Mag auch der Organstreit auf die Rechtsverletzung im Verhältnis von Verfassungsorganen abzielen und deshalb eine Beschränkung der Kontrolle auf die Verletzung subjektiver Organrechte nahe liegen,161 so erfordert doch weder die kontradiktorische Verfahrensstruktur noch die Antragsgebundenheit eine kategoriale Beschränkung auf die Mandatsrechte.162 Vielmehr spricht Art.  93 Abs.  1 Nr.  1 GG davon, das Bundesverfassungsgericht entscheide „aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten“, und auch §  67 BVerfGG stellt unterschiedslos auf Bestimmungen des Grundgesetzes ab.163 Richtigerweise ist im Organstreit also vom organschaftlichen Recht ausgehend eine objektive Prüfung unter Einbeziehung solcher Verfassungsbestimmungen zu leisten, die – zumindest mittelbar – auch die subjektive Organstellung tangieren können.164 Damit vermag schon prozessrechtlich die Nicht-Berücksichtigung von Grundrechten im Organstreit nicht zu überzeugen. Maßgeblich ist vielmehr allein auf das materielle Rechtsverhältnis abzustellen: Handelt es sich um eine Konstellation der reklamierten Grundrechtsprüfung originär für Abgeordnetentätigkeit, so ist mit vorgenannten Gründen ein Grundrechtsschutz ausgeschlossen. Liegt jedoch eine potentielle Konstellation für parallel angelegten Grundrechtsschutz neben der Abgeordnetentätigkeit vor, kommt es für die rechtlichen Wirkungen primär darauf an, inwieweit materiell nach allgemeinen Grundsätzen ein unmittelbarer oder mittelbarer Grundrechtseingriff bzw. ein funktionales Äquivalent desselben subsumiert werden kann: Regelmäßig dürften Ausgestaltungen der Mandatstätigkeit auf keine Regelung der privaten Rechtsstellung abzielen, jedoch kann dies ausnahmsweise kraft Finalität oder Intensität der konkreten Regelung bzw. Maßnahme abweichend zu beurteilen sein. Nur von sekundärer Bedeutung ist daran anschließend die Frage, wie der Grundrechtsschutz konstruktiv zu gewährleisten ist: Das Bundesverfassungsgericht erwägt in tragenden Entscheidungsgründen vereinzelt die implizite Berücksichtigung der Grund159   Vgl. BVerfGE 43, 142 (148 f.) – Fraktionsverfassungsbeschwerde (1976); BVerfGE 64, 301 (312) – Abgeordnetenentschädigung (1983); BVerfGE 94, 351 (365) – Abgeordnetenüberprüfung (1996); BVerfGE 99, 19 (29) – Gysi III (1998). 160   BVerfGE 134, 141 (170) – Ramelow (2013). 161   Vgl. BVerfGE 73, 1 (29 f.) – Politische Stiftungen (1986); BVerfGE 80, 188 (212) – Wüppesahl (1989); BVerfGE 104, 151 (193 f.) – NATO-Konzept (2001); BVerfGE 118, 277 (318 f.) – Abgeordnetengesetz (2007); R. Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010, S.  397. 162   Münkler (Fn.  131), S.  292 (300). 163  Vgl. T. Barczak/C. Görisch, Das Organstreitverfahren als objektives Rechtsschutzverfahren, DVBl 2011, S.  332 (334 u. 337); I. Augsberg/S. Augsberg/T. Schwabenbauer, Klausurtraining im Verfassungsrecht, 2012, S.  50 f.; Münkler (Fn.  131), S.  292 (300). 164   Münkler (Fn.  131), S.  292 (300); ähnlich auch Barczak/Görisch (Fn.  163), S.  332 (337 f.).

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rechte als Abwägungsgesichtspunkt.165 Alternativ komme eine explizite Kombina­ tionslösung in Betracht, durch welche Grundrechte im Rahmen von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG ergänzend berücksichtigt würden, indem die Schutzgedanken und Wertungen der Grundrechte den Eingriff in die Freiheit des Mandats zu begründen vermöchten.166 Ebenso finden sich Stimmen, die eine prozessuale Trennungslösung favorisieren.167 Diese Kontroverse über die dogmatisch-konstruktive Bewältigung lässt indes den vorliegend für die persönliche Rechtsstellung der Abgeordneten entscheidenden Gesichtspunkt unverändert bestehen: Sollte eine gesetzliche Regelung der Abgeordnetentätigkeit zugleich Grundrechte der Person der Abgeordneten unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigen, ist dem ausgelösten Grundrechtsschutz verfassungsgerichtlich Rechnung zu tragen.168

3.  Spezielle persönliche Garantien für Mandatsträger Weitere Bausteine der persönlichen Rechtsstellung von Mandatsträgern bilden jene speziellen verfassungsrechtlichen Garantien, kraft derer die Abgeordneten als Privatpersonen persönliche Rechte und Berechtigungen – die also jenseits des unmittelbar parlamentarischen Rechtskreises angesiedelt sind – gewinnen. Es handelt sich um separate grundgesetzliche Rechte, die nicht an die Mandatsausübung, sondern an die Person der Abgeordneten anknüpfen, obwohl sie teleologisch die Mandatswahrnehmung ermöglichen, schützen oder erleichtern sollen.169 Im Einzelnen sind dies der Indemnitäts- (Art.  46 Abs.  1 GG) und Immunitätsschutz (Art.  46 Abs.  2 GG),170 das Zeugnisverweigerungsrecht nebst Beschlagnahmeverbot (Art.  47 GG), das Behinderungsverbot (Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG), der spezielle Kündigungs- und Entlassungsschutz (Art.  48 Abs.  2 S.  2 GG), das Recht auf Urlaub zur Wahlvorbereitung (Art.  48 Abs.  1 GG), das Recht auf angemessene Entschädigung (Art.  48 Abs.  3 S.  1 GG) so165   BVerfGE 118, 277 (320 u. 354 f.) – Abgeordnetengesetz (2007). Zuletzt hat das Gericht allerdings die Frage der Grundrechtsberücksichtigung mangels Ergebnisrelevanz offengelassen, was als Abkehr vom Abwägungsmodell interpretiert werden kann, da dieses im Rahmen von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG anderenfalls dogmatisch eine Berücksichtigung nahe gelegt hätte; vgl. BVerfGE 134, 141 (190 f.) – Ramelow (2013). 166   BVerfGE 118, 277 (340 u. 377 ff.) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 167   So wohl Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73. 168  Vgl. Trute (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  73. 169   Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  148; ders./Michael (Fn.  94), §  11, Rn.  74. 170   Der Kern des Art.  46 GG wird insoweit zu Recht dahingehend umschrieben, dass „um der parlamentarischen Rede- und Handlungsfreiheit willen [. . .] die Verfassung den Abgeordneten die Privilegien des Art.  46 GG“ (BVerfGE 60, 374 [380] – Redefreiheit und Ordnungsrecht [1982]) verleihe. Zwar wird überwiegend der Schutzzweck von Indemnität und Immunität zumindest vorrangig in der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages verortet; vgl. BVerfGE 104, 310 (325, 328) – Pofalla II (2001); BVerfGE 134, 141 (183) – Ramelow (2013); Klein (Fn.  2 ), Art.  46, Rn.  50, m. w. N. Desungeachtet vermittelt deren objektiv-institutionelle Bedeutung subjektiv-rechtlichen Schutz zugunsten der einzelnen Abgeordneten, der entsprechend auch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann; vgl. BVerfG, NJW 2014, S.  3085 (3068) – Edathy; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2.  Aufl. 1905, S.  170 f.; Trute (Fn.  2 ), Art.  46, Rn.  1; P. J. Glauben, Immunität der Parlamentarier - Relikt aus vordemokratischer Zeit?, DÖV 2012, S.  378 (380); Ingold (Fn.  19), S.  420 f.; a. A. hinsichtlich der rein objektiv-rechtlich verstandenen Immunität H. Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S.  86 ff.

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wie der Beförderungsanspruch (Art.  48 Abs.  3 S.  2 GG). Diese expliziten Garantien stabilisieren verfassungsrechtlich die Unterscheidung zwischen Person und Mandat der Abgeordneten, indem sie spezifisch an die Person der Abgeordneten anknüpfen. Dabei liefern sie jedoch rechtsdogmatisch kaum eigenständige Impulse für das Verständnis dieser Relation; sie setzen letztere vielmehr voraus. Dies kommt besonders deutlich in den Kontroversen um das Behinderungsverbot aus Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG zum Ausdruck, dessen Verhältnis zu Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG durch eine Unterscheidung von „Ob“ und „Wie“ der Mandatsausübung angesichts der Implementation von Umfeldbedingungen nur unzureichend beschrieben ist,171 weshalb vereinzelt sogar eine Aufgabe der Unterscheidung ihrer Gewährleistungsbereiche zugunsten einer Kombinationslösung präferiert wird172. Die für die grundlegende Relation von Mandat und Person entscheidende Weichenstellung wird desungeachtet in Bezug auf Art.  38 Abs.  1 GG vollzogen.173

IV.  Konvergenzen und Wechselwirkungen von Mandat und Person Die rechtsdogmatisch angeleitete Differenzierung von funktionalem Mandat und persönlicher Rechtsstellung der Abgeordneten beleuchtet und konturiert zwar die beiden Relationspole des Amtsbegriffs, der damit in seinem Gehalt präziser bestimmbar wird. Diese schematische Aufschlüsselung darf indes nicht suggerieren, dass Mandat und Person der Abgeordneten verfassungsrechtlich isoliert nebeneinander stünden. Vielmehr sind die beiden Bezugsebenen vielfach verwoben und gerade durch solche Konvergenzen und Wechselwirkungen geprägt sowie rechtsdogmatisch herausgefordert.

1.  Einwirkungen wegen des Mandats auf die Person Am deutlichsten treten Überschneidungen zutage, wenn durch rechtliche Zugriffe primär die funktionale Mandatsausübung adressiert wird, dies aber zugleich die privat-persönliche Rechtsstellung der Abgeordneten tangiert. Solche Konstellationen sind rechtsdogmatisch als Übergriffe des Mandats auf die Person zu kennzeichnen. Besonders anschaulich lassen sich die aus solchen Einwirkungen resultierenden rechtlichen Herausforderungen am Fall der Verhängung eines Ordnungsgeldes aufzeigen, das gegen einzelne Abgeordnete gem. §  44a Abs.  5 AbgG i. V. m. §  37 GOBT wegen „einer nicht nur geringfügigen Verletzung der Ordnung oder der Würde des Bundestages“ ergehen kann: Es wird im Fall der Verhängung eines Ordnungsgeldes zwar ein binnenparlamentarisches Verhalten im Plenum durch einen parlamentsrechtlichen Akteur sanktioniert, allerdings entfalten sich die Rechtsfolgen der Sank Vgl. Käßner (Fn.  146), S.  172; Münkler (Fn.  131), S.  292 (295 f.), m. w. N.  Vgl. M. K. Kühn, Verhaltensregeln für Bundestagsabgeordnete, 2010, S.  155, unter zweifelhaftem Rekurs auf BVerfGE 20, 56 (103) – Parteienfinanzierung I (1966); BVerfGE 80, 188 (217 f.) – Wüppesahl (1989). Dazu Münkler (Fn.  131), S.  292 (296). 173   Vgl. auch BVerfGE 118, 277 (334) – Abgeordnetengesetz (2007), im Hinblick auf negierte Maßgaben aus Art.  48 Abs.  2 S.  1 GG für die Ausübung des Mandats. 171

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tion gerade nicht mehr im Innenbereich des Parlaments, sondern es kommt zu einem Durchgriff auf den Rechtskreis der Abgeordneten als Privatpersonen, konkret in Gestalt ihres privaten Vermögens.174 Das Ordnungsgeld zielt damit in seiner unmittelbaren Rechtsfolgenausgestaltung nicht primär auf das – eigentlich im Hinblick auf den Tatbestand sowie die präventive und repressive Steuerungsintention im Mittelpunkt stehende – binnenparlamentarische Verhalten der Abgeordneten, sondern betrifft als außerparlamentarische Sanktion final intendiert auch die individuelle Unabhängigkeit der Abgeordneten als Person. Es steht dann in Frage, an welchem Maßstab solche Maßnahmen zu messen sind: der Teilhabedimension in Gestalt der Statusrechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG, der Freiheitsdimension in Gestalt der Freiheit des Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG und/oder den Grundrechten der Abgeordneten im Hinblick auf ihre persönliche Rechtsstellung? Ähnlich ist die normative Ausgangslage bei den Anzeige- und Veröffentlichungsvorschriften betreffend die Nebeneinkünfte von Abgeordneten. So enthalten die §§  44a Abs.  4, 44b AbgG nebst §§  1 ff. der „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages“ in ihrem Ursprung und in der Regelungstechnik parlamentsrechtliche, indes in ihrer Zielrichtung vornehmlich die privat-erwerbswirtschaft­ liche Rechtsstellung von Abgeordneten tangierende Verhaltensvorgaben. Diese Verwobenheit bildet dann auch den Ausgangspunkt der verfassungsgerichtlichen Urteilsfindung, indem die spezifische Verschränkung von Mandat und Person hervorgehoben und in die Freiheit des Mandats projiziert wird: „Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG fordert, bei der Gesetzgebung […] berechtigte Interessen des Abgeordneten als Privatperson angemessen zu berücksichtigen. Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG liegt der […] Doppelstatus des Abgeordneten als Mandatsträger und Privatperson zugrunde. Beide Sphären lassen sich nicht strikt trennen […]. Regelungen, die den Abgeordneten als Privatperson betreffen, müssen nicht nur – wie sonstige Beschränkungen des freien Mandats – überhaupt Rechtfertigung in anderen Rechtsgütern der Verfassung finden, sondern sie müssen darüber hinaus in spezifischer Weise dem Hineinwirken in den persönlichen Lebensbereich des Abgeordneten Rechnung tragen; gegenläufige Belange sind gegeneinander abzuwägen und in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.“175 Die Transparenzverpflichtungen stellen also wegen ihrer intendierten Auswirkungen auf die persönliche Rechtsstellung und damit die persönliche Unabhängigkeit des Abgeordneten trotz ihrer regelungstechnisch binnenparlamentarischen Prägung einen Eingriff in die Freiheit des Abgeordnetenmandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG dar, müssen vor diesem Maßstab aber gerade jene Wechselbezüglichkeit reflektieren. Besonders sichtbar sind die Konsequenzen der Verschleifung von Mandat und Person zudem im Hinblick auf den Anwendungsbereich des Gesetzesvorbehalts. Ein solcher ist für Beeinträchtigungen von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG nicht allgemein aner174   Hierzu und zum Folgenden bereits eingehend Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 (122); Ingold (Fn.  19), S.  429 f. 175   BVerfGE 118, 277 (354 f.) – Abgeordnetengesetz (2007). Hinsichtlich des Erfordernisses einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung vor der Freiheit des Mandats besteht insoweit kein Dissens zu den vier die Entscheidung nicht tragenden Richtern, welche allerdings darüber hinausgehend staatliche Eingriffe in die berufliche Betätigung von Abgeordneten als Eingriffe in die Freiheit des Mandats verstehen; vgl. BVerfGE 118, 277 (377 f.) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007).

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kannt: Mag auch Art.  38 Abs.  3 GG kompetenziell die Möglichkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung nahe legen, kann ein Vorbehalt aus der Norm nicht abgeleitet werden.176 Aus parlamentsrechtlicher Perspektive liegt es im Gegenteil sogar näher, jedenfalls für Ausgestaltungen der binnenparlamentarischen Statusrechte eine gesetzliche Regelung gänzlich auszuschließen: Rechtsfragen, die durch Art.  40 Abs.  1 S.  2 GG der Parlamentsautonomie überantwortet sind, würden im Gesetzgebungsverfahren der Beteiligung weiterer Verfassungsorgane ausgesetzt, so dass ein Widerspruch zur Selbstorganisationshoheit in diesem Bereich eher generelle Bedenken gegen die gesetzliche Handlungsform nährt.177 Letztere Zweifel werden noch unterstrichen durch prozessrechtliche Erwägungen, da gegen eine gesetzliche Regelung von vormals geschäftsordnungsbasierten Materien die verfassungsgerichtliche Geltendmachung der Statusrechten aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG im Wege des Organstreits infolge Verfristung für die Abgeordneten künftiger Legislaturperioden nicht mehr möglich sein dürfte. Diese orthodox parlamentsrechtliche Betrachtung wird aber verunmöglicht durch die Wechselwirkungen mit der persönlichen Rechtsstellung in Gestalt der Grundrechte: Soweit nämlich die Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG zugleich – wie beispielsweise Transparenzpflichten im Hinblick auf Angaben zu Einkünften und Vertragspartnern – in Grundrechte eingreifen, erzwingt der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt auch für regelungstechnisch parlamentsrechtliche Materien eine gesetzliche Grundlage.178 Ergänzend bemüht das Bundesverfassungsgericht die „Wesentlichkeitsdoktrin“179, um im Hinblick auf für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen auch bei Beschränkungen des freien Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG eine gesetzliche Rechtsgrundlage zu fordern. Dies verdeutlicht noch einmal, wie weitgehend eine Wechselwirkung von Mandat und Person verfassungsrechtsdogmatisch angelegt ist.

2.  Einwirkungen wegen der Person auf das Mandat Umgekehrt wird eine Grenzziehung zwischen Mandat und Person auch durch Beschränkungspraktiken herausgefordert, die in der politisch-privaten Person der Abgeordneten ihren Anknüpfungspunkt finden, sich jedoch intensiv auf die funktionale Mandatsstellung auswirken. Am deutlichsten lässt sich ein solcher Effekt anhand der gesetzlichen Konzeption des Mandatsverlusts für Abgeordnete infolge eines erfolgreich betriebenen Parteiverbotsverfahrens durch §  46 Abs.  1 S.  1 Nr.  5, Abs.  4 BWahlG bzw. die entsprechenden 176  Vgl. Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  61 u. 151; Pieroth (Fn.  133), Art.  38, Rn.  27. Dies indes explizit offenlassend BVerfGE 134, 141 (184) – Ramelow (2013). 177  Vgl. Morlok/Michael (Fn.  94), §  11, Rn.  132, m. w. N.; zur Bedeutung des Geschäftsordnungsrechts als autonomes Parlamentsrecht in Abgrenzung zum Parlamentsgesetz Achterberg (Fn.  57), S.  325 f.; Ingold/Lenski (Fn.  97), S.  120 (121). 178   So auch Münkler (Fn.  131), S.  292 (301); a. A. dem Grunde nach Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  151, der einen Eingriff in Grundrechte der Abgeordneten auch auf Grundlage der Geschäftsordnungsautonomie für verfassungsrechtskonform hält, dieses Ergebnis aber jedenfalls für den parallelen Grundrechtseingriff bei Dritten – im Transparenzfall also beispielsweise der Vertragspartner der Abgeordneten – kaum aufrechterhalten wird können. 179   BVerfGE 134, 141 (184) – Ramelow (2013).

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Vorschriften des Landesrechts180 nachvollziehen. Die Verfassungskonformität dieser Ausgestaltung sieht sich nämlich gerade deshalb durchgreifenden Bedenken ausgesetzt: Entgegen der damaligen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts181 kann ein automatischer Mandatsverlust infolge des Parteiverbots nach Art.  21 Abs.  2 GG nicht im Wege eines generellen Zurücktretens des freien Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG begründet werden.182 Denn die Abgeordneten nehmen in der verfassungsrechtlichen Konzeption ihr Mandat als individuell gewählte Volksvertreter und nicht als Parteivertreter wahr, zumal der Zweck des Parteiverbots nicht im Ausschluss verfassungsfeindlicher Ideen sondern in einem Organisationsverbot besteht.183 Eine Differenzierung zwischen dem Status als Abgeordnete und als Parteimitglieder ist insoweit verfassungsrechtlich geboten,184 weil zwar die politische Partei gem. Art.  21 Abs.  2 S.  1 GG verfassungswidrig sein kann, nicht aber die mandatsbegründende Wahl durch das Volk gem. Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG.185 Der „Durchgriff “ des Parteiverbots auf das Abgeordnetenmandat qua persönlicher Mitgliedschaft stellt eine Verschleifung von Person und Mandat dar, die jedoch in dieser Form verfassungsrechtlich keinen Bestand haben darf. In ähnlicher Weise erfolgt ein Zugriff im Kontext der Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz: Die Abgeordneten werden gerade nicht im Hinblick auf ihre spezifisch parlamentarische Betätigung beobachtet – diesbezüglich statuiert das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf Art.  46 Abs.  1 GG sogar generalisiert die Unverhältnismäßigkeit der Auswertung parlamentarischer Aktivitäten von Bundestagsabgeordneten durch den Verfassungsschutz186. Stattdessen wird die Überwachung durch Verfassungsschutzbehörden an der Freiheit des Mandats aus 180   Vgl. zu entsprechenden Regelungen im Landesrecht die Darstellung von J. Ipsen, in: Sachs (o. Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  196, Fn.  371. 181   Vgl. BVerfGE 2, 1 (2, 72 ff.) – SRP-Verbot (1952); BVerfGE 5, 85 (392) – KPD-Verbot (1956). 182  Vgl. ebenso K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20.  Aufl. 1999, Rn.  601; Morlok (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  153; S.-C. Lenski, Nach dem Verbot ist vor dem Verbot – Vollstreckung von Parteiverboten und Verbot von Ersatzorganisationen, MIP 19 (2013), S.  37 (43 ff.); P. Scholten, Parteiverbot, MIP 10 (2000), S.  85 (93); E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), S.  9 (23); tendenziell auch Streinz (Fn.  156), Art.  21, Rn.  249. A.A.: Ipsen (Fn.  180), Art.  21, Rn.  196 ff.; Achterberg (Fn.  57), S.  257 f.; Klein (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  566 ff.; J. Kersten, Parteienverbote in der Weimarer, der Bonner und in der Berliner Republik, NJ 2001, S.  1 (4); R. Steinberg, Aberkennung des Abgeordnetenmandats im Verfassungsstaat, Der Staat 39 (2000), S.  588 (594 ff.); Stein (Fn.  3 ), S.  4 06 f.; D. Mundil, Die Opposition, 2014, S.  214 ff.; wohl auch F. Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, S.  291 f. 183   Lenski (Fn.  182), S.  37 (44 f.); Ingold (Fn.  19), S.  506. 184   Vgl. dazu Morlok (Fn.  2 ), Art.  21, Rn.  153; Lenski (Fn.  182), S.  37 (45). Zusätzlich ist völkerrechtlich zu beachten, dass die automatische Aberkennung von Parlamentsmandaten einer verbotenen Partei vom EGMR als Verstoß gegen Art.  3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK subsumiert wurde, da der Mandatsverlust mit deren passivem Wahlrecht und der Volkssouveränität in Gestalt des ausgeübten Wahlrechts unvereinbar sei; vgl. EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Nr.  25144/94, Selim Sadak u. a. ./. Türkei, Rn.  29 ff.; dazu K. Pabel, Parteiverbote auf dem europäischen Prüfstand, ZaöRV 63 (2003), S.  921 (940 ff.); M. Morlok, Das Parteiverbot, JURA 2013, S.  317 (323). 185   Ingold (Fn.  19), S.  506. 186   Vgl. BVerfGE 134, 141 (183 f.) – Ramelow (2013). Abzuwarten bleibt, wie das Gericht seine Auslegung von Art.  46 Abs.  1 GG, wonach bereits die Informationserhebung und ‑sammlung von parlamentarischer Tätigkeit der Abgeordneten ein „zur Verantwortung gezogen werden“ darstelle, in künftigen Parteiverbotsverfahren handhaben wird.

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Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG gemessen, obwohl die beobachtbaren Betätigungen ausschließlich dem politisch-außerparlamentarischen Handeln als Privatpersonen bzw. als Parteimitglieder zuzurechnen sind.187 Insoweit konsequent lasse sich dann auch keine generelle Ausklammerung der Parteimitgliedschaft als relevantes Datum statuieren.188 Die Freiheit des Mandats erfährt konstruktiv also eine Aufladung, um die Reflexion nicht unmittelbar mandatsbezogener Sachverhalte zu ermöglichen, wobei zur Begründung explizit die Trennung von Mandat und Person stark relativiert, wenn nicht sogar nahezu völlig aufgegeben wird: „Die Sphären des Abgeordneten ‚als Mandatsträger‘, ‚als Parteimitglied‘ sowie als politisch handelnder ‚Privatperson‘, lassen sich nicht strikt trennen; die parlamentarische Demokratie fordert insoweit den Abgeordneten als ganzen Menschen“189. Auch aus dieser Richtung betrachtet sieht sich die Unterscheidung von Mandat und Person also verfassungsrechtsdogmatisch herausgefordert.

3.  Verfassungsrechtsdogmatische Lösungsansätze Die abschließende Herausforderung besteht darin, zu bestimmen, ob und ggf. in welcher Form die Unterscheidung von Mandat und Person bei den deutlich gewordenen Konvergenzen und Wechselwirkungen normativ Bedeutung gewinnen kann. Es geht also um ihre verfassungsrechtsdogmatische Aussagekraft unter diesen Bedingungen. Parallel zu den Verschleifungen von Mandat und Person ist dabei noch ein weiterer gewichtiger Erosionsfaktor zu berücksichtigen: die Multidimensionalität der potentiellen Einwirkungen auf die Abgeordneten.190 Deren Mandatswahrnehmung sieht sich nämlich nicht nur mit den bislang im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden Gefährdungen durch das Gesamtparlament oder durch die Exekutive konfrontiert, sondern auch die Fraktionen, die politischen Parteien, die Öffentlichkeit oder Privatpersonen sind als Gefährdungsfaktoren für Mandat und Person der Abgeordneten zu berücksichtigen. Dabei genügt es nicht, ausschließlich für die jeweiligen Schutzrichtungen zu sensibilisieren, da die Beeinträchtigungen multidimensional wirken: Zum einen kann – wie erörtert – nicht ausgeschlossen werden, dass etwaige Beeinträchtigungen zugleich Mandat und Person der Abgeordneten betreffen. Zum anderen lassen sich auch Kumulationen der jeweiligen Einwirkungsebenen ausmachen, beispielsweise wenn das Rederecht von fraktionsabweichenden Abgeordneten beschränkt wird und damit Mandatseinwirkungen sowohl innerfraktionell wie im Verhältnis zum Plenum oder zum Ausschuss relevant werden.191 Wie lassen sich unter

  Vgl. BVerfGE 134, 141 (172 ff.) – Ramelow (2013).   Vgl. BVerfGE 134, 141 (182 f.) – Ramelow (2013); M. Morlok/E. Sokolov, Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz – Eine Forderung nach strengen formalen Voraussetzungen, DÖV 2014, S.  4 05 (411 f.). 189   BVerfGE 134, 141 (174) – Ramelow (2013). 190   Vgl. dazu eingehend Ingold (Fn.  19), S.  416 ff., m. w. N. 191   Vgl. zur Kumulation Ingold (Fn.  19), S.  427, sowie eingehend zur Situation beim Rederecht ders., ebd., S.  4 07 ff. 187

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diesen Multidimensionalitätsbedingungen Mandat und Person verfassungsrechtlich adäquat schützen? In der Entscheidung zu Transparenzverpflichtungen von Abgeordneten im Hinblick auf ihre erwerbswirtschaftlichen Einkünfte neben dem Mandat hat das Bun­ desverfassungsgericht – ungeachtet der Differenzen in Begründung und Ergebnis zwischen den beiden Richterlagern der 4:4-Entscheidung – einen Lösungsweg aufgezeigt, der sich als Kombinationsmodell kennzeichnen lässt: Die tragenden Entscheidungsgründe votieren für ein implizites Kombinationsmodell, in dem die Grundrechte als Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG zu berücksichtigen seien.192 Die im Ergebnis unterlegenen Richter favorisieren eine explizite Kombinationslösung, in der Grundrechte im Rahmen von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG dergestalt eine Ergänzung bewirkten, dass Schutzgedanke und Wertungen der Grundrechte den Eingriff in die Freiheit des Mandats eigenständig zu begründen vermöchten.193 Versprechen solche Kombinationsmodelle auch flexible Problem­ lösungskapazitäten im Einzelfall, kann ihnen – ähnlich wie im Fall der Grundrechtskombinationen194 – eine strukturelle Entdifferenzierungstendenz im Hinblick auf staatliche und private Sphäre sowie ein „zumindest implizit antipositivistischer Habitus“195 nicht abgesprochen werden. Zudem finden sich verfassungsrechtlich kaum belastbare Kriterien, die einen „Ausgleich“ differierender Wertungen oder Anforderungen gewährleisten könnten; besonders anschaulich zeigt sich dies an den bereits aufgezeigten Verkoppelungen beim Gesetzesvorbehalt, der quer zur der Regelungsstruktur parlamentsrechtlicher Selbstorganisation liegt,196 sowie in den Irritationen für die Konzeption der verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten. Pragmatisch erscheint es deshalb gegenüber einer Kombinationslösung vorzugswürdig, die Freiheit des Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG weitreichender zu interpretieren und auf diesem Wege verfassungsrechtlich – ohne expliziten oder impliziten Rückgriff auf Grundrechte – einen umfassend-multidimensionalen Schutz der politischen Betätigung von Abgeordneten zu bewirken. Dies ist möglich, indem „der Gewährleistungsgehalt des Art.  38 Abs.  1 Satz  2 GG auf das gesamte politische Handeln des Abgeordneten bezogen“197 wird. Erstreckt man dessen Schutz auf die politische Unabhängigkeit in allen aufgezeigten Gefährdungsdimensionen gleichermaßen, so tritt ein den – verfassungsrechtlich unverändert daneben bestehenden – Grundrechtsschutz faktisch absorbierender Effekt ein, weil von den Grundrechten dann – soweit die persönliche politische Unabhängigkeit überhaupt vermittels Grundrechtsgaran­ tien gesichert ist – keine eigenständigen „Impulse“ mehr ausgehen, die für die Urteilsfindung eine gesonderte Prüfung erforderlich machten.198 Eine eigene praktische Relevanz erlangt der Grundrechtsschutz dann für Abgeordnete nur noch insoweit,   BVerfGE 118, 277 (320 u. 354 f.) – Abgeordnetengesetz (2007).   BVerfGE 118, 277 (340 u. 377 f.) – Sondervotum zu Abgeordnetengesetz (2007). 194   Vgl. zu dieser Kritik I. Augsberg/S. Augsberg, Kombinationsgrundrechte, AöR 132 (2007), S.  539 (575 ff.). 195   Augsberg/Augsberg (Fn.  194), S.  539 (577). 196   Siehe dazu unter IV. 1. 197   BVerfGE 134, 141 (174) – Ramelow (2013), Hervorhebungen durch den Verfasser. 198   Insofern konsequent erörtert BVerfGE 134, 141 (190 f.) – Ramelow (2013), keine zusätzliche Grundrechtsverletzung neben Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG. 192 193

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als die nicht in politischen Unabhängigkeitskategorien erfassbaren Schutzgehalte in Frage stehen; sodann besteht in der Folge allerdings – selbst in verfassungsprozessrechtlicher Perspektive – keine Kollision mit verfassungsrechtlichen Mandatsgehalten. Eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG ist ferner nicht systemfremd, da die persönliche Rechtsstellung der Bundestagsabgeordneten verfassungsrechtlich auch nach herkömmlichem Verständnis nicht ausschließlich durch Grundrechte gewährleistet, sondern zudem durch spezifische persönliche Garantien in den Art.  46 ff. GG ausgestaltet ist,199 die sich ihrerseits verbreitet als Konkretisierungen des freien Mandats darstellen. Ein umfassender persönlicher Schutz der politischen Betätigung und Unabhängigkeit von Abgeordneten durch die Freiheit des Mandats fügt sich als Ausdehnung dieser Sphäre auf allgemeinster Ebene insoweit nahtlos in die verfassungsrechtlichen Regelungsstrukturen ein. Anzustreben ist damit die Rekonstruktion der Freiheit des Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG als ein Abwehrrecht gegen Beeinträchtigungen der politischen Be­ tätigung und politischen Unabhängigkeit von Abgeordneten. Es handelt sich dabei um ein Abwehrrecht zugunsten eines staatlichen Akteurs – die Abgeordneten erfahren ihren spezifischen Schutz aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG im Hinblick auf ihre Mandatierung, also ihren politischen Gestaltungs- und Repräsentationsauftrag, der sich vornehmlich innerhalb der staatlich-parlamentarischen Sphäre realisiert. Dieses Abwehrrecht ist damit zwar jenseits des – unverändert bestehenden – Grundrechtsschutzes angesiedelt, aber dennoch als solches zu kennzeichnen. Relati­vierungs­ bedürftig ist durch diese Konstruktion einer umfassenden politischen Freiheit des Mandats allerdings ein Verständnis der Rechte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG als bloße „Funktionsfreiheiten des Parlaments – und nicht persönliche Freiheiten, die um der Person des Abgeordneten willens gegeben sind.“200 Es handelt sich vielmehr um eine zwar funktional begründete, aber nicht funktional limitierte Rechtsstellung, deren Gewährleistungsgehalt zur politischen Repräsentationsermöglichung ein subjektiv-persönliches Freiheitsmoment enthält. Der grundrechts-analoge Abwehrcharakter fußt also in der „Transformationsfunktion“201 der Abgeordneten, welche die Zuerkennung eines politischen Freiheitssubstrats in Parallele zu den politischen Parteien nahe legt: Für letztere als den „intermediären Gewalten zwischen Zivilgesellschaft und organisierter Staatlichkeit“202 ist mit Art.  21 GG gleichfalls einem originär privaten Akteur im Kontext der politischen Vereinnahmung in staatliche Willensbildungsprozesse unter anderem ein Abwehrrecht zugestanden, das zum einen politisches Handeln nach Maßgabe der sog. „Parteienfreiheit“ und zum anderen seinen Bestand besonders durch die restriktiven Vorgaben für ein Parteiverbot203 gegen staatliche Eingriffe schützt. In vergleichbarer Weise bewirkt die Freiheit des Mandats aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG einen abwehrrechtlichen Schutz zugunsten der politischen Betätigung von Abgeordneten und ihrer politischen Person.   Siehe dazu unter III. 3.   Morlok/Michael (Fn.  94), §  11, Rn.  67. 201   BVerfGE 134, 141 (173) – Ramelow (2013); Morlok (Fn.  2 ), Art.  38, Rn.  136. 202   M. Kotzur, Demokratie als Wettbewerbsordnung, VVDStRL 69 (2010), S.  173 (207). Vgl. ferner zur Charakterisierung durch ein „magisches Viereck“ C. Möllers, Staat als Argument, 2.  Aufl. 2011, S.  335 f. Für eine Verortung in der staatlichen Sphäre demgegenüber Unger (Fn.  148), S.  294. 203   Vgl. dazu Ingold (Fn.  19), S.  496 ff., m. w. N. 199

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Der verfassungsrechtsdogmatisch in Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG angelegte Dualismus von Freiheit des Mandats als auf die politische Sphäre bezogenes Abwehrrecht und den teilhabrechtlich strukturierten Statusrechten weist in diesem Verständnis dann unverändert eine hinreichende Strukturierungskraft auf, um auch unter den Bedingungen fortschreitender Multidimensionalität die Rechtssphäre der einzelnen Abgeordneten verfassungsrechtlich umfassend zu garantieren.204 Es bedarf dazu lediglich einer problemsensitiven Rekonfiguration der Schutzrichtungen, welche nicht mehr schematisch auf der einen Seite die Beschränkungen der Abgeordnetentätigkeit im Wege der Parlaments- bzw. Geschäftsautonomie als Fragen der Statusrechte und auf der anderen Seite Versuche der Einflussnahme auf die Mandatswahrnehmung als Fragen der parlamentsexternen Freiheit des Mandats erfassen kann. Stattdessen ist der Blick dafür zu schärfen, dass auch binnenparlamentarisch fundierte Maßnahmen auf die Freiheit des Mandats sowie auf die persönliche Rechtsstellung der Mandatsträger einwirken können. Mit der stärkeren Fokussierung auf die Freiheit des Mandats als Abwehrrecht für die „gesamte politische Tätigkeit“ des Abgeordneten steht eine verfassungsrechtsdogmatische Figur zur Verfügung, die es erlaubt, die genannten Herausforderungen verfassungsrechtlich adäquat zu erfassen und in der Rechtsanwendung im Einzelfall prozessual und materiell bewältigen zu können.

Fazit Der resümierende Blick auf das „Amt“ einer bzw. eines Abgeordneten offenbart eine Relation von Mandat und Person, die vornehmlich deskriptiv als Analysemaßstab Bedeutung behält. Gerade in der Sensibilisierung für seine Relationspole verweist das Amt in diesem Sinne auf grundlegende Reflexions- und Abstimmungserfordernisse im Verhältnis von Mandat und Person. Als wissenschaftlicher Analyseschlüssel vermag der Amtsbegriff eine Folie bereitzustellen, vor der verfassungsrechtsdogmatische Herausforderungen hervortreten und thematisierbar werden können. Als normative Kategorie stößt der Amtsbegriff bei Abgeordneten indes verfassungsrechtlich schnell an Grenzen: Es ist deutlich geworden, dass die verfassungsrechtsdogmatische Konstruktion und Koordination besser direkt über das Mandat anstelle des bestenfalls einrahmenden Amtsrekurses geleistet werden kann. Die normative Unergiebigkeit des auf Abgeordnete bezogenen Amtsbegriffs liegt darin begründet, dass durch Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG – insbesondere im Hinblick auf die Freiheit des Mandats – die Differenzierung einer funktionalen und einer persönlichen Sphäre sektoral unterminiert wird. Das Mandat absorbiert faktisch aufgrund seiner abwehrrechtlichen Freiheitsdimension, seiner statusrechtlichen Teilhabedimen­ sion sowie der mit ihm verknüpften speziellen verfassungsrechtlichen Garantien typische Regelungsgehalte grundrechtlich-persönlicher Freiheiten für den politischen Kontext. Deshalb kann der Amtsbegriff mit seiner spannungsvollen Relationsstruktur für parlamentarische Bezugsobjekte keine nennenswerte dogmatische Orientierungskraft entfalten. Mag der Amtsrekurs verfassungsrechtlich für Art.  33 GG gewichtige Einsichten zum Wesen des Berufsbeamtentums transportieren sowie im   Dazu und zum Folgenden bereits Ingold (Fn.  19), S.  429.

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Zuge seiner jüngsten Konjunktur im Zusammenhang mit den Äußerungsbefugnissen von Regierungsmitgliedern Unterscheidungskraft generieren – oder zumindest suggerieren –,205 lässt sich ein gleichartiger Effekt im Zusammenhang mit Abgeordneten nicht bewirken. Die Auseinandersetzung mit dem Amt der Abgeordneten verweist allerdings deskriptiv auf gewichtige verfassungsrechtsdogmatische Friktionen in der Be- und Abstimmung der Gehalte aus Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG. Diesen Problemen kann indes – so die These dieses Beitrags – verfassungsrechtsdogmatisch durch eine stärkere Betonung und Konturierung des Mandats begegnet werden. In dieser Interpretation gewährleistet Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG umfassend zum einen in Gestalt der Freiheit des Mandats die persönliche und mandatsrelevante Unabhängigkeit der Abgeordneten bei ihrer politischen Betätigung sowie zum anderen durch die Statusrechte ihre Mitwirkung und Teilhabe im binnenparlamentarischen Bereich.206 Die Ausdifferenzierungen von Mandatsfreiheit auf der einen und Statusrechten auf der anderen Seite erlauben es dann, die zuvor dargestellten verfassungsrechtlichen Herausforderungen infolge zunehmend multidimensionaler Einflüsse auf die einzelnen Abgeordneten zu bewältigen.

  Vgl. zu letzterem BVerfG, JZ 2015, S.  4 08 (411 f.) – Äußerungsbefugnis Regierungsmitglieder (2014); VerfGH Saarland, NVwZ-RR 2014, S.  905; VerfGH Rheinland-Pfalz, NVwZ-RR 2014, S.  665 ff. 206   Ingold (Fn.  19), S.  431. 205

Die Frau hinter der Person hinter dem Amt Die First Lady zwischen Geschlechterrollen, monarchischem Erbe und der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Private von

Prof. Dr. Sophie Lenski, Universität Konstanz Inhalt I. Einleitung: Von Haushaltsplänen und Staatsbanketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 II. First Lady, Première Dame und Prince Consort – eine Phänomenologie der Staats„begleiter“ . . . . . 84 1.  Die Bundespräsidentengattin: Von der Familienernährerin zur „First Freundin“ . . . . . . . . . . . 85 a)  Frauen jenseits der klassischen Rollen: Die 1950er bis 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b)  Klassische Hausfrauenehen: Die 1980er und 1990er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 c)  Die neue Öffentlichkeit des Privaten: Eva Luise Köhler, Bettina Wulff und Daniela Schadt . 86 d)  Die Praxis des Amtes: Repräsentation, Protokoll und soziales Engagement . . . . . . . . . . . . . 88 2.  USA: Die First Lady als verrechtlichtes und politisiertes Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a)  Die biographische Seite: Traditionelle weibliche Rollenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b)  Die institutionelle Seite: Büro und Mitarbeiterstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c)  Die politische Seite: Kommissionen und Kabinettssitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.  Frankreich: Von Aufstieg und Verschwinden der Première Dame . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a)  Die Anfangsjahre der V. Republik: Traditionelle Rollenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b)  Der Bruch im Amt: Öffentlichkeit und Fragilität des Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c)  Die Amtsausstattung: Büro, Mitarbeiter, Chauffeur und Kreditkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.  Italien: Der einsame Präsident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.  Allein unter Frauen: Der Prinzgemahl in den europäischen Monarchien . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a)  Verfassungsrechtliche Stellung: Legitimation und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b)  Prinz Heinrich: Privatmann an der Seite der Königin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 c)  Prinz Bernhard: Versuch männlicher Dominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 d)  Prinz Claus: Stilles Engagement in der Begleiterrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 e)  Prinz Henrik: Der leidende Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 f)  Prinz Philip: Der adelige Sportsmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Konstanten des Amtes: Geld, Macht, Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1.  Geld: Verwendung öffentlicher Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.  Macht: Teilhabe an den Ressourcen des Ehepartners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.  Geschlechterrollen: „Der ganze Präsident ist er nur mit ihr.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

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IV. Rechtliche Fragen: Geld, Macht, Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1.  Geld: Öffentliche Mittel und persönliche Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a)  Ausgaben zugunsten des nicht vorhandenen Amtes: Bundeshaushaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . 113 b)  Keine Ausgaben zugunsten der Person: Mindestlohn- und Tarifvertragsrecht . . . . . . . . . . . . 114 2.  Macht: Legitimation und Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.  Geschlechterrollen: Integration und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.  Der amerikanische Weg – ein verfassungsrechtliches Amt sui generis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.  Rechtliches Dilemma: Weder Amtsträger noch Privatperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 V. Ausblick: Amt und Person – Wie monarchistisch ist die Republik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

I.  Einleitung: Von Haushaltsplänen und Staatsbanketten Die Frau des Bundespräsidenten bekleidet ein Amt, das es nicht gibt. Die Verfassung schweigt über sie. Sie wird nicht gewählt und nicht demokratisch legitimiert. Der Bundespräsident bringt sie beim Amtsantritt im Schloss Bellevue einfach mit und macht sie fast zum Accessoire seiner Amtsführung. Dort ist sie allerdings weit davon entfernt, nur als Begleitung der Privatperson agieren zu können. Sie mag politisch inexistent sein, rein physisch ist sie überaus präsent.1 Die vielfältigen Rollenerwartungen, mit denen sie hier konfrontiert ist, betreffen dabei weit mehr als den privaten Bereich der Person, die das Amt des Bundespräsidenten ausübt. Sie reichen weit in seine Amtsführung hinein: Die Frau des Bundespräsidenten lacht uns aus den offi­ ziellen Broschüren des Bundespräsidialamts entgegen,2 auf der Seite der Bundesregierung lässt sich ihre Autogrammkarte bestellen3 und in der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten wünscht er ein frohes Weihnachtsfest auch im Namen seiner Frau. Als die Bundespräsidenten Köhler und Wulff von ihrem Amt zurücktraten, gaben sie ihre öffentlichen Erklärungen beide zusammen mit ihren Ehefrauen ab, die zwar selber schwiegen, durch ihre Positionierung unmittelbar an der Seite des Präsidenten aber wirkten, als träten auch sie zurück. Daneben wendet sich die Frau an der Seite des Bundespräsidenten auch ohne ihn an die Öffentlichkeit. Sie veranstaltet den Neujahrsempfang für die Partnerinnen und Partner des Diplomatischen Korps,4 besucht soziale und humanitäre Projekte im Ausland5 oder tauft im Park von Schloss Bellevue einen Rhododendronbusch6 – alles wohldokumentiert auf der Internetseite des Bundespräsidenten und von entsprechenden Pressemitteilungen des Hauses begleitet.   Vgl. allgemein für die „First Ladies“ Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  33.   S. etwa nur Bundespräsidialamt (Hrsg.), Schloss Bellevue. Der Berliner Amtssitz, 2013, S.  2 . 3  https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Service/Portraets-Und-Autogramme/_node. html. Zu Zeiten des Bundespräsidenten Wulff war zudem auch ein gemeinsames Portrait des Ehepaares erhältlich. 4   S. die Pressemitteilung vom 12.1.2015, abruf bar unter http://www.bundespraesident.de/Shared Docs/Berichte/DE/Daniela-Schadt/2015/140110-Neujahrsempfang.html. 5  Vgl. etwa nur für den Besuch eines Flüchtlingslagers in Jordanien die Pressemitteilung vom 28.2.2014, abruf bar unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Daniela-Schadt/ 2014/140228-Jordanien-Unicef.html. 6   S. die Pressemitteilung vom 27.5.2015, abruf bar unter http://www.bundespraesident.de/Shared Docs/Berichte/DE/Daniela-Schadt/2015/150527-Rhododendron-Taufe.htm. 1 2

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Rein rechtlich gesehen versteckt sich die Frau des Bundespräsidenten allerdings allein im Haushaltsplan. Seit dem Jahr 2010 bestimmt eine Erläuterung zum Haushaltsvermerk zu Titel 529 01-011 des Einzelplans 01 offiziell, dass auch Ausgaben für repräsentative Verpflichtungen des Ehegatten des Bundespräsidenten aus den entsprechenden Mitteln beglichen werden dürfen. Im Jahr 2013 wurde dieser Passus auch auf die „Partner“ der Bundespräsidenten erweitert. Diese wenig mondäne ju­ ristische Existenz teilt die deutsche Bundespräsidentengattin mit der amerikanischen First Lady. Auch deren rechtliche Stellung ist im geschriebenen Recht vor allen ­Dingen haushaltstechnisch definiert, die entsprechende Verankerung findet sich hier allerdings im einfachen Gesetzesrecht.7 Noch flüchtiger erscheint die rechtliche ­Existenz der französischen „première dame“, deren Erwähnung sich auf eine – im Jahr 2011 gestrichene – Vorschrift der französischen Strafprozessordnung beschränkt: Danach gehörte zum Personenkreis derjenigen Empfänger, an die Strafgefangene sich schriftlich wenden dürfen, ohne dass die Korrespondenz der unmittelbaren Überwachung unterliegt, auch die Ehefrau (nicht allerdings ein möglicher Ehemann) des Präsidenten.8 Ganz anders ist die rechtliche Position des Ehepartners des Staatsoberhaupts etwa in der spanischen parlamentarischen Monarchie. Hier ist die Stellung des königlichen Begleiters sogar ausdrücklich in der Verfassung verankert, wenn auch nur in kompetenzbeschränkender Weise: Art.  58 der Verfassung bestimmt hier, dass der Ehepartner des Königs oder der Königin keinerlei verfassungsrechtliche Funktionen jenseits der monarchischen Regentschaft übernehmen darf. Weniger rechtlich, aber vor allem gesellschaftlich prekär scheint die Situation schließ­lich dort zu sein, wo die traditionelle Rolle der (Ehe-)Partnerin von einem Mann ausgefüllt werden muss. Insbesondere die europäischen Monarchien des 20. und 21. Jahrhunderts geben hier reiches Anschauungsmaterial. So ist etwa für ein Staatsbankett anlässlich des 2500jährigen Bestehens der iranischen Monarchie im Jahre 1971 die Anekdote überliefert, dass aufgrund der ungeraden Anzahl anwesender Männer und Frauen Fürst Rainier III. von Monaco zwischen Prinz Bernhard der Niederlande, Ehemann der damaligen Königin Juliana, und Prinz Philip, Ehemann der britischen Königin, platziert werden musste. Auf die verwunderte Frage Bernhards, warum ein Mann und keine Frau den Platz zwischen den beiden Prinzen zugewiesen bekommen habe, soll Philip seinerzeit eine trockene Antwort gefunden haben: „Weil wir die einzigen männlichen Königinnen sind“.9 Man mag diese Geschichte als amüsanten Ausdruck eines ohnehin latent aus der Zeit gefallenen politischen und protokollarischen Systems begreifen. Tatsächlich liegen jedoch gerade auch hier wesentliche Wurzeln des politischen, rechtlichen und sozialen Rollenverständnisses des Staatsoberhauptes und seines oder ihres Partners. In keiner staatsrechtlichen Funktion ist die Unterscheidung zwischen Amt und Per7   Title 3 §  105 (e) U.S. Code: „Assistance and services authorized pursuant to this section to the President are authorized to be provided to the spouse of the President in connection with assistance provided by such spouse to the President in the discharge of the President’s duties and responsibilities.“ 8   Art. D 262, A 40 Code de procédure pénale, wo ausdrücklich nur „l’épouse du Président de la République“ genannt wird, nicht jedoch die männliche Form „l’époux“; vgl. dazu auch Lefebvre, La semaine juridique – édition générale 2011, 729 f. 9   S. die Wiedergabe bei Isaksen, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  241 (241).

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son, zwischen öffentlich und privat, derart porös wie beim Staatsoberhaupt. Gleichzeitig ist kein anderes staatsrechtliches Amt rein tatsächlich derart geprägt von klassischen Geschlechter- und Rollenmodellen: Unter allen Staaten der EU und Nordamerikas sind Finnland, Lettland, Litauen, Malta und Kroatien die einzigen Länder, in denen je eine Frau aufgrund demokratischer Wahl dieses Amt bekleidet hat. Ehegatten von Staatsoberhäuptern sind also klassischerweise First Ladies, Königinnen oder Prinzgemahle. Dieser Befund konturiert nicht nur das Amt, das keines ist. Er hat nicht zu unterschätzende Rückwirkungen auch auf das Amt des Staatsoberhaupts und das diesem zugrundeliegende Rollenverständnis. Blickt man ein Mal nicht auf die Person hinter dem Amt, sondern auf die Person, die ihr zur Seite steht und dabei selbst so etwas wie ein eigenes Amt formt, offenbaren sich tiefliegende Traditionswurzeln, die das Amt an der Spitze des Staates bis heute prägen, mit dessen recht­ lichen Anforderungen aber trotzdem nicht immer vereinbar sind.

II.  First Lady, Première Dame und Prince Consort – eine Phänomenologie der Staats„begleiter“ Wollte man in einer Gesamtschau die Ehepartner der gegenwärtigen Staatsoberhäupter westlicher Demokratien betrachten, so würde ein Inhaber dieses nicht vorhandenen Amtes unzweifelhaft hervorstechen: Prinz Philip, Herzog von Edinburgh, ist seit 1952 „prince consort“ an der Seite von Elisabeth II., Königin von Großbritannien. Mehr als 60 Jahre lang füllt er daher nun schon dieses persönlichste aller Ämter in der Verfassungsordnung aus und stellt sich damit auch in besonderer Weise der Aufgabe, einem eigentlich als klassisch weiblich wahrgenommenen Amt ein männliches Gesicht geben zu müssen. Als Prototyp des Staats„begleiters“ kann Prinz Philip gleichwohl genauso wenig dienen wie die Vielzahl von Amtskollegen, denen er in all den Jahren begegnet ist. Denn so vielfältig die Personen sind, die dieses nicht vorhandene Amt bekleiden, so unterschiedlich sind auch die Ämter der Männer und Frauen, als deren Begleiter sie auftreten. Und dennoch sind all diese unterschiedlichen Begleiter der Staatsoberhäupter verbunden durch eine ähnliche Vermischung von privatem und öffentlichem Bereich, durch ähnliche Schwierigkeiten in der Definition der eigenen Rolle an der Seite eines Staatsoberhauptes, durch ähnliche Fragen, die Medien und Öffentlichkeit an die Person stellen, und durch eine ähnliche Spiegelfunktion, die die Begleiter­rolle für die Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft erfüllt. Ihre Biographien, ihr Engagement und die Art ihrer öffentlichen Wahrnehmung verraten viel über die spezifischen Probleme des Amtes und die Unterschiede sowie die Übereinstimmungen in verschiedenen Ländern und politischen Systemen.

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1.  Die Bundespräsidentengattin: Von der Familienernährerin zur „First Freundin“ a)  Frauen jenseits der klassischen Rollen: Die 1950er bis 1970er Jahre Die Geschichte der Ehepartner des deutschen Bundespräsidenten beginnt über­ raschenderweise mit einer Politikerin. Elly Heuss-Knapp (1881–1952), die Ehefrau des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, hatte bereits im Jahr 1919 von dem ihr als Frau erstmals zustehenden passiven Wahlrecht Gebrauch gemacht und – wenn auch erfolglos – für den Reichstag kandidiert. Dreißig Jahre später war ihre nächste Kandidatur für ein Parlamentsmandat im damaligen Landtag von Württemberg-­ Baden hingegen erfolgreich. Bis 1949 hatte sie dieses Mandat inne und gab es erst auf, um ihrem Mann in die Villa Hammerschmidt zu folgen. Damit verwirklichte das Ehepaar Heuss im Alter von nahezu 70 Jahren fast zum ersten Mal in seiner Ehe das Modell klassischer Arbeitsteilung. Noch vier Jahre zuvor hatte Elly Heuss-Knapp die Familie mit ihrer Berufstätigkeit ernährt, weil ihr Mann in der gesamten Zeit des Nationalsozialismus einem Berufsverbot unterlag.10 Auch die der ersten Bundespräsidentengattin nachfolgenden Frauen waren starke, unabhängige Persönlichkeiten, deren Biographien durch die Erfahrung mindestens eines, oft zweier Weltkriege geprägt waren und dem Bild einer unselbständigen Begleiterin nur sehr eingeschränkt entsprachen.11 Wilhelmine Lübke (1885–1981) etwa, die 1959 ihren Mann in das Amt des Bundespräsidenten begleitete, hatte als Studienrätin einen für eine Frau ihrer Generation ungewöhnlich hohen Bildungsabschluss und durchbrach die soziale Norm auch dadurch, dass sie nicht nur vergleichsweise spät (im Alter von 44 Jahren), sondern auch einen Mann heiratete, der fast zehn Jahre jünger war als sie. Sie war es auch, die das Amt der Bundespräsidentengattin dadurch zu institutionalisieren begann, dass sie eine Ausstattung mit eigenen Mitarbeitern erwirkte. Bereits kurz nach der Amtsübernahme ihres Mannes erreichten sie in der Villa Hammerschmidt täglich so viele Briefe, dass sie diese nur mit der unentgeltlichen Hilfe von Verwandten und Freunden beantworten konnte. Drei Jahre in Folge wandte sie sich daher an den Haushaltsausschuss des Bundestages und bat darum, ihr eine Mitarbeiterin für diese Aufgabe zur Seite zu stellen. Erst im dritten Jahr, nachdem Wilhelmine Lübke gedroht haben soll, die erhaltene Post in Zukunft an den Ausschuss weiterzuleiten, wurde ihr eine solche Mitarbeiterstelle zur Verfügung gestellt.12 Erst mit Hilda Heinemann (1896–1979) zog im Jahr 1969 erstmals eine Bundespräsidentengattin in die Villa Hammerschmidt, die dem klassischen weiblichen Rollenbild ihrer Zeit entsprach. Auch sie verfügte zwar – für eine Frau ihrer Generation alles andere als selbstverständlich – über ein abgeschlossenes Studium, übte den angestrebten Beruf als Studienrätin aber nie aus, da sie noch im Jahr ihres Studien­ abschlusses Gustav Heinemann heiratete und sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich 10   Jüngling/Roßbeck, Elly Heuss-Knapp, 1994, S.  196 ff.; Winter, Ihre bürgerliche Hoheit, 1971, S.  49 ff. 11   Winter, Ihre bürgerliche Hoheit, 1971, S.  23, bezeichnet sie als „Avantgarde ihrer Generation“. 12   Winter, Ihre bürgerliche Hoheit, 1971, S.  69 f., die ihre Informationen aus persönlichen Gesprächen mit Wilhelmine Lübke bezog.

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dem Familienleben widmete. Trotz dieser Fokussierung auf den häuslichen Bereich war sie alles andere als unpolitisch: Während der Zeit des Nationalsozialismus setzte sie sich zusammen mit ihrem Mann aktiv in der Bekennenden Kirche ein.13 Mildred Scheel (1932–1985) war im Jahr 1974 somit nicht nur die erste Gattin eines Bundespräsidenten, die im 20. Jahrhundert geboren worden war, sondern verfügte als erste Frau in dieser Rolle nicht über eine Ausbildung als Lehrerin, sondern war als Ärztin tätig. Vom klassischen Frauenbild damaliger Zeit hob sie sich nicht nur durch diese hohe akademische Qualifikation ab, sondern auch durch die Tatsache, dass sie vor der Heirat mit Walter Scheel eine ledige alleinerziehende Mutter gewesen war. Auf Mildred Scheel folgte fünf Jahre später mit Veronica Carstens (1923–2012) eine weitere Ärztin in die Villa Hammerschmidt. Als erste und bisher einzige Frau an der Seite eines Bundespräsidenten war sie auch während der Amtszeit ihres Mannes berufstätig und lebte somit an der Seite des Staatsoberhauptes ein Partnerschaftsmodell vor, das seinerzeit keineswegs uneingeschränkt der Norm entsprach.

b)  Klassische Hausfrauenehen: Die 1980er und 1990er Jahre Erst mit den darauffolgenden Amtsinhabern ab dem Jahr 1984 entsprach das persönliche Arrangement in den Ehen der Bundespräsidenten wieder dem klassischen ­Mo­dell der Hausfrauenehe – und zwar interessanterweise unabhängig von der Generation, der die jeweilige Ehefrau angehörte. Sowohl Marianne von Weizsäcker (*1932) als auch Christiane Herzog (1936–2000), die demselben oder fast demselben Geburtsjahrgang wie Mildred Scheel angehörten, heirateten früh im Alter von 21 bzw. 22 Jahren und gaben ab diesem Zeitpunkt ihre Berufstätigkeit auf. Zuvor hatten beide Frauen das Abitur abgelegt, Marianne von Weizsäcker darüber hinaus eine kaufmännische Ausbildung an einer höheren Handelsschule, Christiane Herzog eine Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin absolviert. Auch die zwanzig Jahre jüngere Christina Rau (*1956), die im Jahr 1999 als nächste Bundespräsidentengattin nun in Schloss Bellevue einzog, setzte dieses Modell fort. Im Alter von 26 Jahren, unmittelbar nach ihrem Studienabschluss in Politikwissenschaft, heiratete sie den damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau und beschränkte ihre Tätigkeit fortan auf den häuslichen Bereich.

c)  Die neue Öffentlichkeit des Privaten: Eva Luise Köhler, Bettina Wulff und Daniela Schadt Erst nach zwanzig Jahren trat im Jahr 2004 mit Eva Luise Köhler (*1947) wieder eine Frau in das nicht vorhandene Amt, die ihre Berufstätigkeit auch während ihrer Ehe fortgesetzt hatte. Bis zum beruflichen Umzug ihres Mannes nach London im Jahr 1998 war sie als Grund- und Hauptschullehrerin tätig gewesen. Eine besondere Rolle in der Reihe ihrer Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen nimmt sie vor allem des­halb ein, weil wohl kaum ein Bundespräsident die emotionale Beziehung zu sei  Salentin, Sieben Wege in die Präsidentenvilla, 3.  Aufl. 1995, S.  92 ff.

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ner Frau derart in die Öffentlichkeit trug wie Horst Köhler. Die Ansprache nach seiner Wiederwahl im Jahr 2009 beendete er mit einer Liebeserklärung: „Dir, Eva, möchte ich danke sagen. Jede Stunde ist ein Geschenk mit dir.“14 Bei der Pressekonferenz, mit der er nur ein Jahr später seinen Rücktritt bekanntgab, stand seine Ehefrau direkt neben ihm am Rednerpult – eine bisher ungekannte präsidentielle Ikonographie, die sich auch beim Rücktritt seines Amtsnachfolgers in dieser Form der Nähe nicht wiederholte. Nach seiner Erklärung nahm Horst Köhler unmittelbar die Hand seiner neben ihm stehende Ehefrau und verließ den Raum.15 Mit Bettina Wulff (*1973), die im Jahr 2010 als nächste Ehefrau in Schloss Bellevue einzog, wiederholte sich – vierzig Jahre später – ein biographisches Detail von Mildred Scheel: Auch sie war vor der Heirat mit Christian Wulff ledige alleinerziehende Mutter gewesen, ihre Berufstätigkeit als PR-Referentin übte sie sogar bis zum Amtsantritt ihres Mannes als Bundespräsident aus. Allerdings war hier sowohl aufgrund des ausgeübten Berufs als auch aufgrund eines fehlenden akademischen Abschlusses das Sozialprestige ihrer Tätigkeit deutlich geringer als im Fall der Ärztin Dr. Scheel. Entsprechende Vorstellungen von bürgerlicher Erscheinung werden maßgeblich dafür mitverantwortlich gewesen sein, dass Bettina Wulff beim Amtsantritt ihres Mannes nicht nur überhaupt so viel Medienaufmerksamkeit erhielt wie kaum eine Bundespräsidentengattin vor ihr, sondern dass sich diese Aufmerksamkeit auch auf deutlich privatere Vorgänge bezog als bei ihren Vorgängerinnen. So wurde nicht nur die Biographie als ehemals alleinerziehender Mutter bei Bettina Wulff in ungleich stärkerer Weise in der Öffentlichkeit diskutiert als dreißig Jahre zuvor bei Mildred Scheel. Die öffentliche Aufmerksamkeit fokussierte sich zudem in intensiver Weise auf die Tätowierung auf ihrem Oberarm, d.h. auf ihren weiblichen Körper, der zum ausufernden Gegenstand medialer Berichterstattung gemacht wurde.16 Damit bezog sich die Berichterstattung nicht nur auf einen überaus privaten Bereich, sondern erstmals in dieser Form auf die Physis der Person. So transferierte die Presse das Weibliche in der Vorstellung von der Frau des Bundespräsidenten von der Ebene bürgerlicher Ideale auf eine Ebene elementarer Körperlichkeit – und damit auf den Bereich, der in klassischen Schemata von Männlichkeit und Weiblichkeit seit jeher in besonderer Weise Gegenstand männlicher Machtausübung – auch diskursiver Art – ist.17 14   Hoischen/Lohse/Wehner, Eine Wahl ist überstanden, die nächste schon im Sinn, FAS v. 24.5.2009, S.  2. Volltext dokumentiert unter http://www.welt.de/politik/article3790518/Und-Dir-Eva-moechteich-Danke-sagen.html. 15   „Horst Köhler tritt zurück“, Süddeutsche Zeitung v. 1.6.2010, S.  1; Gelinsky, „Persönliches gehört nicht auf den Markt“, FAZ online v. 26.2.2011, abruf bar unter http://www.faz.net/aktuell/gesell schaft/gesundheit/eva-luise-koehler-persoenliches-gehoert-nicht-auf-den-markt-1591258.html; s.a. Stroh­meyr, First Ladys, 2013, S.  168 ff. 16   Simon, First Tattoo, Artikel v. 1.7.2010, http://www.sueddeutsche.de/leben/bettina-wulff-firsttattoo-1.967871; Lemme, Die neue First Lady, taz v. 2.7.2010, S.  2 ; Hufnagel, Der Oberarm der Nation, Südkurier v. 6.7.2010, S.  4 ; Wager, Die perforierte Republik, FAS v. 4.7.2010, S.  8 ; Diener, Die Flammen der Frau Wulff, FAZ v. 30.6.2010, S.  7; Baum, Das Vorleben der Anderen, FAS v. 16.9.2012, S.  29; Illies, Über unsere First Lady in spe, Die Zeit Magazin v. 17.6.2010; Pohlmann, Botschafterin des guten Geschmacks, Der Tagesspiegel v. 9.7.2010, S.  30. Der erste offizielle Auftritt als Bundespräsidentengattin, bei dem Frau Wulff ihre Tätowierung durch Wahl eines ärmellosen Kleides öffentlich zeigte, war der Rheinischen Post v. 4.5.2011 sogar eine Meldung auf der ersten Seite wert. 17   Vgl. statt vieler nur Gehring, in: Krause/Rölli (Hrsg.), Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, 2008, S.  175 ff.

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Öffentliche Aufmerksamkeit für das Private erregte schließlich auch die aktuelle „Staatsbegleiterin“ des Bundespräsidenten, wenn auch in ganz anderer Hinsicht. Mit Daniela Schadt (*1960) übernahm im Jahr 2012 zum ersten Mal eine Frau die offizielle Rolle an der Seite des Bundespräsidenten, die mit dem Amtsinhaber nicht verheiratet war. Vielmehr noch: Der Bundespräsident ist bis heute mit einer anderen Frau verheiratet, von der er jedoch bei Amtsantritt bereits seit mehr als zwanzig Jahren getrennt lebte. Diese persönlichen Umstände waren sowohl Gegenstand medialer Berichterstattung als auch politischer Diskussion – bis hin zu öffentlich geäußerten Empfehlungen, „geordnete Verhältnisse“ durch Eheschließung herzustellen.18 Jenseits dieser personenstandsrechtlichen Fragen sticht Daniela Schadt auch deshalb aus der Reihe ihrer Vorgängerinnen hervor, weil sie als erfolgreiche Journalistin – bis zum Amtsantritt ihres Lebensgefährten war sie Ressortleiterin Innenpolitik bei der Nürnberger Zeitung – nach Elly Heuss-Knapp die erste Frau in dieser Position ist, die zwar keine aktiven politischen Ambitionen (mehr), aber doch einen intensiven beruflichen Bezug zur Politik aufweist. Nicht zuletzt aufgrund dieser Tatsache sah sie es im Übrigen auch als geboten an, ihre Berufstätigkeit bei Amtsantritt ihres Lebensgefährten aufzugeben.19

d)  Die Praxis des Amtes: Repräsentation, Protokoll und soziales Engagement So unterschiedlich somit die persönlichen Hintergründe der bisherigen Bundespräsidentengattinnen waren, in der Art ihrer Tätigkeit unterscheiden sie sich wenig. Ihr öffentlicher Tätigkeitsbereich konzentrierte sich in aller Regel auf solche Aufgaben, die mit traditionellen Frauenrollen verbunden sind, insbesondere die Schirmherrschaft über das Müttergenesungswerk 20 und diejenige über UNICEF Deutschland. Lediglich die von Christiane Herzog begründete Tradition der Kochsendungen aus dem Schloss Bellevue21 fand bei ihren Nachfolgerinnen keine Nachahmer. Daneben übernimmt die Bundespräsidentengattin seit jeher protokollarische Funktionen, etwa als Gastgeberin von Empfängen und Banketten,22 als öffentlichkeitswirksame Besucherin oder Schirmherrin verschiedenster Veranstaltungen zu sozialen oder Bil18   „Auch eine berufstätige Frau kann eine gute Mutter sein“, FAZ v. 9.6.2012, S.  57; CSU-Familien­ politiker rät Gauck zur Hochzeit, Welt online, Artikel v. 21.2.2012, http://www.welt.de/politik/ deutschland/article13878861/CSU-Familienpolitiker-raet-Gauck-zur-Hochzeit.html; „Ich will das ordentlich machen“, FAS v. 3.2.2013, S.  52; „In ‚wilder Ehe‘“, Süddeutsche Zeitung v. 22.2.2015, S.  5 ; v. Bullion, Die Frau an seiner Seite, Süddeutsche Zeitung v. 23.3.2012, S.  4 ; Frank, Gauck. Eine Biographie, 2012, S.  376 ff. 19   Strohmeyr, First Ladys, 2013, S.  216 ff. 20   Das Müttergenesungswerk wurde im Jahr 1950 als „Elly Heuss-Knapp-Stiftung, Deutsches Müttergenesungswerk“ von Elly Heuss-Knapp aus ihrem Privatvermögen gestiftet. Nach §  5 der Stiftungssatzung soll sie unter der Schirmherrschaft der Ehefrau des Bundespräsidenten oder unter der Schirmherrschaft der Bundespräsidentin stehen, Satzung abruf bar unter http://www.muettergenesungswerk. de/satzung-der-mgw.html. 21   Die Sendung wurde unter dem Titel „Zu Gast bei Christiane Herzog“ im Jahr 1997 in 24 Folgen in der ARD ausgestrahlt. Es erschienen zwei begleitende Kochbücher. 22   Für den ab 1952 verwitweten Theodor Heuss nahm diese Aufgabe später seine ebenfalls verwitwete Schwägerin, Hedwig Heuss, wahr, begleitete ihn aber nicht auf Auslandsreisen, vgl. de la Roi-Frey, Hedwig Heuss: Die vergessene First Lady, 2013.

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dungsthemen im Inland sowie als Begleiterin des Präsidenten bei Staatsbesuchen, in deren Rahmen sie auch selbständig soziale oder kulturelle Einrichtungen vor Ort besucht. Dass die Bundespräsidentengattin dabei nicht allein als private Begleitung des Bundespräsidenten auftritt, sondern ihre Arbeit jedenfalls teilweise auch als Er­f üllung öffentlicher Aufgaben angesehen wird, zeigt sich zum einen an der haushaltsrechtlichen Einordnung ihrer repräsentativen Tätigkeit. Die dadurch entstehenden Kosten sollen nämlich zu den sächlichen Verwaltungsaufgaben des Bundespräsidialamts gehören. Die konkrete Formulierung der haushaltsrechtlichen Regelung lässt dabei bereits die rechtliche Ambiguität dieser Praxis aufscheinen: Während es im verbindlichen Haushaltsvermerk heißt, dass aus dem Haushaltstitel neben den Aus­g aben des Bundespräsidenten auch „Ausgaben für repräsentative Verpflichtungen, die der Chef des Bundespräsidialamtes und im Einzelfall auch andere Angehörige des Bundes­ präsidialamtes für den Bundespräsidenten wahrnehmen, geleistet werden [dürfen]“, ergänzen die – durch den Vermerk überhaupt erst für verbindlich er­k lärten – Er­ läuterungen, dass „hierzu […] auch entsprechende Ausgaben für repräsentative Verpflichtungen des Ehegatten oder Partners des Bundespräsidenten [gehören], soweit diese Ausgaben nicht von Dritten übernommen werden.“23 Bei enger systematischer Betrachtung müsste man also fast davon ausgehen, dass die Frau des Bundespräsidenten hier als Angehörige des Bundespräsidialamtes behandelt werden soll. Anhaltspunkte für eine – rechtlich allerdings nicht weiter fundierte – entsprechende Einordnung ergeben sich auch daraus, dass die Frau des Bundespräsidenten seit Wilhelmine Lübke über ein eigenes Büro im Bundespräsidialamt sowie über einen kleinen Mitarbeiterstab von zur Zeit zwei Personen verfügt.24 Auf der offiziellen Homepage des Bundespräsidenten werden sowohl die aktuelle Amtsinhaberin als auch die Ehefrauen der ehemaligen Bundespräsidenten vorgestellt, das Bundespresseamt stellt offizielle Portraitfotos bereit, in die Öffentlichkeitsarbeit des Bundespräsidialamts sind sie eingebunden. Auch im Bundesarchiv werden die Unterlagen der persönlichen Büros der Ehefrauen als Teil der Akten des Bundespräsidialamts verwahrt.25 Unterhalb der Ebene des Gesetzesrechts gewinnt das Amt der Bundespräsidentengattin durch die Staatspraxis somit an deutlich selbständigen Konturen, die einerseits die Ebenen von Privatem und Öffentlichem durchbrechen, andererseits aber intensiv an klassische private Rollenerwartungen von (Ehe-)Frauen anknüpfen – und zwar seit den 1980er Jahren in deutlich stärkerem Maße als in den Anfangs­ jahren der Bundesrepublik. Gleichwohl – oder vielleicht gerade deshalb – bleibt es jedoch ein unpolitisches Amt: Jenseits karitativer und sozialer Themen, denen sich die meisten Bundespräsidentengattinnen bisher in ihrem öffentlichen, allerdings 23   Bundeshaushaltsplan 2015, Einzelplan 01, Erläuterung zu Titel 529 01-011. Die Reisekosten, die entstehen, wenn die Frau des Bundespräsidenten ihn zu Auslandsreisen begleitet, werden nach schriftlicher Auskunft des Bundespräsidialamts an die Verfasserin vom 24.8.2015 demgegenüber aus dem normalen Haushalt des Bundespräsidenten beglichen. 24   Haushaltsrechtliche Regelungen für diese Leistungen finden sich für diesen Bereich jedoch nicht. Auch im offiziellen Organigramm des Bundespräsidialamts findet sich das Büro der Partnerin des Bundespräsidenten nicht. Im Moment stehen Daniela Schadt eine Sekretärin sowie eine persönliche Referentin zur Seite. 25   Die entsprechenden Findbücher sind teilweise online abruf bar unter http://www.argus.bstu.bun desarchiv.de/B122-2288/.

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­ rivat organisierten 26 Wirken widmeten, hatte keine von ihnen eine eigenständige p poli­t ische Agenda.

2.  USA: Die First Lady als verrechtlichtes und politisiertes Amt Weitet man den Blick nun von der Bundespräsidentengattin auf ihre Kolleginnen im Ausland, fällt er geradezu natürlich zunächst auf die Frau des amerikanischen Präsidenten. Sie ist nicht nur die Person, für die der heute umfassend gebrauchte Titel der „First Lady“ erfunden wurde. Unter den republikanischen Staatsbegleitern kann sie auch auf eine vergleichsweise lange kontinuierliche Geschichte zurückblicken, die mit Martha Washington im Jahr 1789 begann.27

a)  Die biographische Seite: Traditionelle weibliche Rollenmodelle Vergleicht man die amerikanischen First Ladies mit den Frauen der deutschen ­Bundespräsidenten, so fallen zunächst die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen der beiden Länder ins Auge, die sich im Frauenbild insgesamt und damit auch in der Rolle der Ehefrau des Staatsoberhauptes niederschlagen.28 Angesichts der fehlenden Einschnitte, die insbesondere der Zweite Weltkrieg für die Frauen einer bestimmten Generation in Deutschland (und anderen Ländern Europas) hervorgebracht hat, spiegelt sich in den Biographien der amerikanischen First Ladies ein deutlich lineareres traditionelles Rollenverständnis, als dies in Deutschland der Fall ist. Anders als in der Bundesrepublik findet sich bis heute unter den Ehefrauen der Präsi­ denten weder eine ehemals ledige alleinerziehende Mutter noch eine kinderlose Frau.29 Auch hat bisher keine einzige First Lady ihre Berufstätigkeit während der Amtszeit ihres Mannes ausgeübt. Schließlich war Hillary Clinton (*1947) im Jahr 1993 die erste First Lady überhaupt, die über einen Universitätsabschluss verfügte.30 Mit Laura Bush (*1946) und Michelle Obama (*1964) fiel zwar keine ihrer Amtsnach26   Die Ehefrauen der Bundespräsidenten engagierten sich insofern stets in privaten Vereinen oder Stiftungen, die sie zum Teil selbst gründeten, und nutzten insofern zwar ihre Bekanntheit durch das Amt des Bundespräsidenten, nicht jedoch die Ressourcen des Bundespräsidialamts. Beispiele sind neben dem von Elly Heuss-Knapp gestifteten Müttergenesungswerk (Elly-Heuss-Knapp-Stiftung) etwa das „Kuratorium Deutsche Altershilfe, Wilhelmine-Lübke-Stiftung e.V.“, die „Hilda-Heinemann-Stiftung Wohnstättenwerk für geistig Behinderte“, der von Mildred Scheel gegründete Verein „Deutsche Krebshilfe e.V.“ (heute: Stiftung Deutsche Krebshilfe), die „Stiftung Integrationshilfe für ehemals Drogen­abhängige – Marianne von Weizsäcker Fonds“ oder die „Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“. 27   Für einen kurzen Gesamtüberblick vgl. nur Mayo, The Social Science Journal 37 (2000), 577 ff. 28   Zur Spiegelfunktion der First Lady für die Situation der Frauen insgesamt vgl. nur Watson, Presidential Studies Quarterly, 27 (1997), 805 (808); Troy, The Social Science Journal 37 (2000), 591 (598). 29   S. die Tabelle der biographischen Daten bei Borelli, The Politics of the President’s Wife, 2011, S.  33 f. 30   Gemeint ist ein „postbaccalaureate“ Abschluss, d.h. ein akademischer Grad, der über eine College-Ausbildung hinausgeht: Williams, Denver University Law Review 86 (2009), 833 (838); Watson, The Social Science Journal 37 (2000), 653 (657). Vgl. auch die Übersicht bei Borelli, The Politics of the President’s Wife, 2011, S.  33 f.

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folgerinnen hinter diesen akademischen Standard zurück. Auffällig ist gleichwohl, dass Michelle Obama sich trotz ihrer hohen akademischen Qualifikation und ihres vormaligen beruflichen Erfolgs unter anderem als Anwältin und in der Hochschulleitung der University of Chicago seit ihrem Einzug in das Weiße Haus sehr bewusst vor allem als „mom-in-chief “ definiert.31 Diese deutliche Inszenierung eines klassischen Rollenmodells kann entweder als defensive Reaktion auf die letzte demokratische First Lady, Hillary Clinton, gedeutet werden, die sich aufgrund ihrer eigenen politischen Ambitionen extremsten Anfeindungen ausgesetzt sah,32 oder aber für die erste afroamerikanische First Lady sogar insofern als progressiv angesehen werden, als sie klassische weiße bürgerliche Weiblichkeitsvorstellungen für sich erkämpft.33

b)  Die institutionelle Seite: Büro und Mitarbeiterstab Deutliche Ähnlichkeiten zur deutschen Bundespräsidentengattin bestehen insofern, als dass auch die amerikanische First Lady nicht nur umfassende Repräsentations­ aufgaben an der Seite ihres Mannes wahrnimmt, sondern auch auf der Homepage des Weißen Hauses zusammen mit ihren Amtsvorgängerinnen offiziell geführt wird und über ein eigenes Büro sowie einen Mitarbeiterstab verfügt. Diese organisatorisch verselbständigte Stellung ist dabei eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Ihre Ursprünge hat sie in der Amtszeit Theodore Roosevelts von 1901 bis 1909, dessen Frau Edith (1861–1948) als erste First Lady eine persönliche Assistentin im Weißen Haus für sich anstellen ließ.34 Offizielle Anerkennung erhielt diese Position erst fünfzig Jahre später, als das offizielle Organigramm des Kongresses im Jahr 1953 erstmals die persönliche Assistentin der damaligen Präsidentengattin Mamie Eisenhower (1896– 1979) aufführte – erst zwölf Jahre später fand erstmals auch die First Lady selbst darin ihren Platz.35 Seit 1978 ist diese Form der Mittelverwendung durch den White House Personnel Authorization Act einfachgesetzlich abgesichert und die institu­ tionalisierte Stellung der First Lady36 damit auch jedenfalls teilweise rechtlich konturiert: Title 3 des U.S. Codes, der die rechtliche Stellung des Präsidenten konkretisiert, bestimmt insofern in §  105 (e), dass der Präsident für seinen Ehepartner Mitarbeiter beschäftigen und ein Budget festsetzen darf, sofern beides im Zusammenhang mit den Unterstützungsleistungen steht, die der Ehepartner zugunsten des Präsidenten erbringt. Interessant ist dabei, dass im Rahmen dieser gesetzlichen Normierung die entsprechende Position tatsächlich zwingend vom Ehepartner des Präsidenten wahrgenommen werden muss, sofern er verheiratet ist. Ist dies nicht der Fall, kann er die entsprechenden Aufgaben auf ein anderes Familienmitglied, aber eben nur auf 31  S. die Selbstbeschreibung auf der Internetseite des Weißen Hauses, https://www.whitehouse. gov/1600/first-ladies/michelleobama. 32   Watson, The president’s wives, 2000, S.  39. 33   Williams, Denver University Law Review 86 (2009), 833 (842). 34   Mayo, The Social Science Journal 37 (2000), 577 (583 f.); Watson, The president’s wives, 2000, S.  110. 35   Burrell, in: Borrelli/Martin (Hrsg.), The Other Elites, 1997, S.  169 (171); Caroli, First Ladies, 4.  Aufl. 2010, S.  223. 36   Eine entsprechende Regelung für den Ehepartner des Vizepräsidenten existiert in §  106 (c) des Titels 3 des U.S. Code.

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ein solches, übertragen. Im Gegensatz zum Mitarbeiterstab der Bundespräsidenten­ gattin ist derjenige der First Lady dabei im Vergleich zu den Anfangszeiten deutlich angewachsen und umfasst seit Rosalynn Carter (*1927), die in den Jahren 1977–1981 ihre Rolle im Weißen Haus einnahm, regelmäßig etwa 20 Personen.37 Der Mitarbeiterstab von Hillary Clinton soll seinerzeit sogar größer gewesen sein als derjenige des Vizepräsidenten Al Gore.38

c)  Die politische Seite: Kommissionen und Kabinettssitzungen Jenseits dieser rein quantitativen Unterschiede zeichnet sich die amerikanische First Lady im Vergleich aber vor allem dadurch aus, dass sie seit der zweiten Hälfte des­ 20. Jahrhunderts – korrespondierend mit dem politischen Amt ihres Mannes – eine deutlich politischere Funktion erfüllt, als dies für die Bundespräsidentengattin je der Fall war. Seit dem Präsidentschaftswahlkampf 1960 sind die Ehefrauen der Präsidentschaftskandidaten bereits in der Wahlkampfphase wesentliche Erfolgsfaktoren für die Kandidatur.39 Darüber hinaus erfüllen die amerikanischen First Ladies spätestens seit dem Zeitpunkt, als Eleanor Roosevelt (1884–1962) im Jahr 1933 mit ihrem Ehemann Franklin D. in das Weiße Haus einzog, immer wieder auch eigenständige politische Aufgaben innerhalb der Administration ihrer Männer. Zuvor hatte zwar bereits Edith Wilson (1872–1961) nach dem Schlaganfall ihres Mannes Woodrow im Jahr 1919 wesentliche Aufgaben des Amtes in den verbleibenden fast 1 ½ Jahren seiner Präsidentschaft übernommen, war dabei aber offiziell immer nur als die Gehilfin ihres Mannes aufgetreten, derer er sich aus gesundheitlichen Gründen bedienen musste.40 Demgegenüber war Eleanor Roosevelt nicht nur die erste First Lady, die regelmäßige eigene Pressekonferenzen im Weißen Haus abhielt.41 Im Jahr 1941 wurde sie zudem von ihrem Mann zur Co-Direktorin des „Office of Civilian Defense“ ernannt, einer Bundesagentur, die Aufgaben des Zivilschutzes im Zweiten Weltkrieg wahrnahm. Aufgrund anhaltender Kritik in der Öffentlichkeit gab sie dieses erste offizielle Amt einer First Lady jedoch schon wenige Monate später wieder auf, da sie befürchtete, in dieser Position dem ihr wichtigen Anliegen mehr zu schaden als ­nutzen zu können.42

  Watson, The president’s wives, 2000, S.  111 f. Die Anzahl der Mitarbeiter im Weißen Haus, die Michelle Obama unterstellt sind, beträgt – genau wie zuvor bei Laura Bush – zur Zeit 18. Eine Übersicht für die Jahre ab 1995 ist abruf bar unter https://www.whitehouse.gov/briefing-room/disclosures/ annual-records. 38   Broyde/Schapiro, Constitutional Commentary 15 (1998), 479 (482). Dies entspricht in gewisser Weise der Beobachtung von O‘Connor/Nye/Van Assendelft, Presidential Studies Quarterly 26 (1996), 835 (841), nach der Hillary Clinton im Jahr ihres Amtsantritts fast doppelt so oft in der New York Times erwähnt wurde wie Vizepräsident Gore. Zur Entwicklung des Mitarbeiterstabs ausführlich ­Eksterowicz/Paynter, The Social Science Journal 37 (2000), 547 ff. 39   Eksterowiz/Roberts, Politics & Policy 32 (2004), 412 (424). 40   Caroli, First Ladies, 4.  Aufl. 2010, S.  119, 149 f. 41   Eksterowicz/Paynter, The Social Science Journal 37 (2000), 547 (549 f.); ausführlich dazu Beasly, The Social Science Journal, 37 (2000), 517 ff. 42   Borelli, Women & Politics 24 (2002), 25 (34 f.). 37

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Mehr als dreißig Jahre später strebte die nächste First Lady nach einer ähnlichen offiziellen Rolle: Rosalynn Carter, die sich bereits in der Amtszeit ihres Mannes als Gouverneur von Georgia intensiv für die Belange psychisch Kranker eingesetzt hatte, war die treibende Kraft hinter der Einsetzung einer Kommission zu Fragen geistiger Gesundheit43 durch den Präsidenten unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Jahr 1977. Konsequenterweise sahen die Pläne des Ehepaars Carter ursprünglich auch vor, dass Rosalynn deren Vorsitz übernehmen sollte. In Hinblick auf die im Jahr 1967 verabschiedete Gesetzgebung zur Verhinderung von Nepotismus in der Bundesverwaltung44 sah man jedoch im letzten Augenblick davon ab, ihr diese förmliche Stellung zu übertragen. Stattdessen ernannte der Präsident sie (nur) zur Ehrenvorsitzenden. Obwohl der First Lady damit offiziell keine Aufgaben und Befugnisse innerhalb der Kommission zustanden, wurde die Arbeit des Gremiums maßgeblich von ihr bestimmt und beeinflusst.45 Die Geschichte wiederholte sich teilweise, als im Jahr 1993 der gerade gewählte Präsident Bill Clinton seine Frau Hillary zur Vorsitzenden seiner Task Force zur Reform des Gesundheitssystems46 machte. Ähnlich wie Rosalynn Carter verfügte auch Hillary Clinton über nicht unerhebliche politische Erfahrung in diesem Bereich aus ihrer Zeit als „First Lady“ von Arkansas. Allerdings war die Stellung von Hillary Clinton vergleichsweise machtvoll ausgestaltet. Zum einen verzichtete der Präsident hier auf die formale Begrenzung auf den Ehrenvorsitz und übertrug seiner Frau uneingeschränkt die förmliche Stellung als Vorsitzende mit allen korrespondierenden Rechten und Pflichten. Zum anderen betraf die Gesundheitsreform als Gegenstand der Task Force im Gegensatz zu der von Rosalynn Carter faktisch geleiteten Kommission eines der umstrittensten Themen US-amerikanischer Innenpolitik überhaupt.47 Korrespondierend mit dieser erheblichen politischen Brisanz des Sachthemas war es daher auch die Task Force zur Reform des Gesundheitssystems, durch die die amerikanische First Lady und ihre rechtliche Stellung erstmals zum Gegenstand gerichtlicher Klärung wurden. Juristischer Ausgangspunkt dieses Prozesses war die gesetzliche Regelung zur Transparenz der Arbeit von Beratungsgremien der Bundesregierung, der Federal Advisory Committee Act (FACA) aus dem Jahr 1972. Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle beratenden Gremien, die nicht ausschließlich mit hauptberuflichen Amtsinhabern oder Mitarbeitern der Bundesregierung besetzt sind. Es bestimmt in §  10, dass alle Sitzungen dieser Gremien für die Öffentlichkeit zugänglich sein müssen. Da die Task Force, der neben Hillary Clinton nur Regierungsmitarbeiter angehörten, jedenfalls teilweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte, reichten verschiedene Interessengruppen aus dem Gesundheitsbereich eine Klage ein, mit der sie Zutritt zu den entsprechenden Sitzungen verlangten: Da die First   President’s Commission on Mental Health.   Der Postal Rates and Federal Salaries Act, Title 5 U.S. Code §  3110 (b) verbietet es insofern, dass ein Amtsträger einen Verwandten in einer Behörde anstellt oder anstellen lässt, in der er selbst tätig ist oder über die er Kontrolle ausübt. Ob dieses Gesetz tatsächlich auf entsprechende Ernennungen Anwendung findet, war seinerzeit noch nicht gerichtlich geklärt, vgl. insgesamt Krausert, University of Chicago Law School Roundtable 5 (1998), 243 (247 f.); Wassermann, Vanderbilt Law Review 48 (1995), 1215 (1239 ff.). 45   Borelli, Women & Politics 24 (2002), 25 (36 ff.). 46   Task Force on National Health Care Reform. 47   Borelli, Women & Politics 24 (2002), 25 (38 f.). 43

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Lady weder ein Amt ausübe noch für die Bundesregierung arbeite, sondern die Stellung als Vorsitzende der Task Force allein als Privatperson innehabe, seien die Anforderungen des FACA zu beachten. Die Regierung wies demgegenüber auf die besondere Stellung der First Lady hin, die aufgrund der langen Tradition jedenfalls derjenigen eines Amtsträgers oder Regierungsmitarbeiters entsprechen müsse. Während die Kläger in erster Instanz noch mit ihrem Anliegen durchdrangen, wies das Berufungsgericht die Klage ab, weil es im konkreten Fall das FACA nicht für anwendbar hielt: Gerade aufgrund der gesetzlichen Regelung, die der Frau des Präsidenten ein eigenes Budget und eigene Mitarbeiter im Weißen Haus zubilligt, sei sie jedenfalls im konkreten Fall zumindest als funktionale Äquivalent zu einem Mitarbeiter des Präsidenten anzusehen. Andernfalls entstünde das widersinnige Ergebnis, dass die Mitarbeiter der First Lady Mitglieder der Task Force sein könnten, ohne dass deren Sitzungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssten, die First Lady selbst aber nicht.48 Neben dieser mehr oder weniger formalisierten und rechtlich jedenfalls adressierbaren selbständigen Stellung innerhalb offizieller Regierungsgremien übt die First Lady in den USA über die Verbindung zu ihrem Mann auch noch anderen, zum Teil sogar deutlich größeren Einfluss auf die Regierungspolitik aus. Seit Rosalynn Carter ist es etwa üblich, wenn nicht gar erwünscht, dass die First Lady offizielle Auslandsreisen für ihren Mann unternimmt.49 Sie war auch die erste First Lady, die an Kabinettssitzungen ihres Mannes teilnahm – eine Tradition, die jedenfalls zum Teil auch von ihren Amtsnachfolgerinnen fortgesetzt wurde.50 Seit dem 20. Jahrhundert ist die amerikanische First Lady daher nicht nur biographisches Detail des Präsidenten und Gastgeberin im Weißen Haus, sondern, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße, ein nicht zu unterschätzender politischer Akteur geworden. Völlig anders als in Deutschland hat diese politische Rolle jedenfalls im Fall der ehemaligen First Lady Hillary Clinton auch zu einer überaus beacht­ lichen eigenen politischen Karriere geführt, die sie im Jahr 2017 sogar zurück ins Weiße Haus führen könnte – dieses Mal in die Präsidentenbüros.

3.  Frankreich: Von Aufstieg und Verschwinden der Première Dame Die Ehefrauen des französischen Staatspräsidenten in der V. Republik teilen mit den amerikanischen First Ladies ihre Existenz an der Seite eines mächtigen Mannes, dessen politische Handlungskompetenzen diejenigen des Bundespräsidenten deutlich übersteigen. Was sie von ihnen unterscheidet, ist nicht nur ihre ursprünglich vergleichsweise geringe Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, die sich erst in den letzten Jahren geradezu in ihr Gegenteil verkehrt hat, sondern auch die tiefe Krise, in der 48   Association of American Physicians and Surgeons, Inc. v. Hillary Rodham Clinton, 997 F.2d 898 (D.C. Cir. 1993); vgl. dazu etwa Eksterowisz/Roberts, Politics & Policy 32 (2004), 412 (421 ff.); Patel, Hastings Constitutional Law Quarterly 25 (1998), 585 (598 ff.). 49   O’Connor/Nye/Van Assendelft, Presidential Studies Quarterly 26 (1996), 835 (845). 50   Patel, Hastings Constitutional Law Quarterly 25 (1998), 585 (597). Eine tabellarische Übersicht über die quantitativen Dimensionen dieses politischen Einflusses findet sich bei O’Connor/Nye/Van Assendelft, Presidential Studies Quarterly 26 (1996), 835 (846).

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sich die nicht amtliche Rolle der Staatspräsidentengattin seit nunmehr fast zwei Jahren befindet. Der Amtsantritt Nicolas Sarkozys im Jahr 2007 markiert insofern in der öffentlichen Rolle der französischen Première Dame einen zentralen Bruch vor allem in der öffentlichen Inszenierung. Zum ersten Mal zogen sowohl mit dem Präsidenten als auch mit seiner Ehefrau Vertreter einer deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generation in den Elysée-Palast ein. Mit diesem Generationswechsel ­waren auch biographische Veränderungen verbunden: Cécilia Sarkozy (*1957) war nicht nur die erste geschiedene und wiederverheiratete Première Dame. Das bisher vorherrschende Modell klassischer Hausfrauenehen erfüllte sie auch in anderer Hinsicht nicht. Zwar verfügt auch sie, wie fast alle ihrer Vorgängerinnen und ihre unmittelbare Nachfolgerin, nicht über einen akademischen Abschluss – Bernadette Chirac (*1933) und Valérie Trierweiler (*1965) waren insofern die bisher einzigen Frauen im Elysée-Palast mit abgeschlossenem Hochschulstudium. Anders als die Premières Dames vor ihr stand Cécilia Sarkozy jedoch bereits Jahre vor dem Antritt ihrer öffentlichen Funktion durch ihre berufliche Tätigkeit als Mannequin in der medialen Öffentlichkeit – eine Erfahrung, die sie mit ihrer unmittelbaren Nachfolgerin, Carla Bruni-Sarkozy (*1967), teilt. Insofern mag es auch kein Zufall sein, dass die Boulevardisierung der medialen Aufmerksamkeit für die Première Dame zeitlich mit der Wahl ihres Mannes zum Präsidenten zusammenfiel.51

a)  Die Anfangsjahre der V. Republik: Traditionelle Rollenmodelle Vor der Wahl Nicolas Sarkozys erfüllten die Frauen der französischen Präsidenten der V. Republik demgegenüber überaus klassische soziale Erwartungen an gedie­ gene, bürgerliche weibliche Biographien und traten oft auch entsprechend in ihrer öffentlichen Rolle auf.52 Yvonne de Gaulle, von 1959–1969 Frau des französischen Staatspräsidenten, heiratete ihren Mann im Alter von 20 Jahren und widmete sich ab diesem Zeitpunkt ausschließlich ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter. Zuvor hatte sie neben einer allgemeinen Schulbildung vor allem eine religiöse Erziehung genossen. Von den Franzosen seinerzeit liebevoll als „Tante Yvonne“ bezeichnet, hielt sie sich in ihrer Zeit als Ehefrau des Präsidenten stets sehr diskret im Hintergrund.53 Auch ihre Nachfolgerin, Claude Pompidou (1912–2007), heiratete früh im Alter von 22 Jahren, brach ihr Jurastudium ab und widmete sich fortan dem Familienleben. Ihr Auftreten war öffentlichkeitswirksamer und mondäner als das ihrer Vorgängerin; die Wahrnehmung ihrer Person über Themen wie Mode, moderne Kunst oder Innen­ einrichtung des Elysée-Palastes beschränkte sich jedoch auf solche Bereiche, die klassischerweise als weiblich betrachtet werden. Auch die nächste Première Dame, Anne-Aymone Giscard d’Estaing (*1933), die ab 1974 ihren Mann in den Elysée-­Palast begleitete, heiratete bereits im Alter von 19 Jahren und nahm niemals eine eigenständige Berufstätigkeit auf. Mit ihr begannen allerdings vorsichtige Schritte, die Frau des französischen Staatspräsidenten stärker in das politische Amt zu integrieren. Sie  Vgl. Fradin, Contemporary French and Francophone Studies 12 (2008), 213 (219).  Vgl. Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  39. 53   Fradin, Contemporary French and Francophone Studies 12 (2008), 213 (213). 51

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war die erste Frau in ihrer Position, die für ihren Ehemann eigenständig Termine im Ausland wahrnahm, noch bevor Rosalynn Carter für die USA eine solche Tradition begründete. Eine eigenständige politische Agenda verfolgte sie jedoch in ihrer Zeit als Première Dame nie. Erst zwei Jahre nach dem Auszug aus dem Elysée-Palast im Jahr 1981 bewarb sie sich erfolgreich um ein Mandat im Gemeinderat einer Stadt in der Auvergne und behielt diese Position zwölf Jahre lang inne. Erst mit ihrer Nachfolgerin, Danielle Mitterrand (1924–2011), wurde die Première Dame im Jahr 1981 für vierzehn Jahre erstmals politisch. Bereits als junge Frau hatte sie sich in der Résistance engagiert. Wie ihre Vorgängerin heiratete auch sie im Alter von 19 Jahren und übte nie einen eigenständigen Beruf aus, war aber Zeit ihres Lebens politisch aktiv und äußerte sich auch während ihrer Zeit im Elysée-­Palast zu aktuellen politischen Themen – nicht immer in völliger Übereinstimmung zu den politischen Ansichten ihres Mannes.54 Eine selbständige politische Funktion außerhalb des Elysée-Palastes übte allerdings das erste (und bisher einzige) Mal ihre Nachfolgerin, Bernadette Chirac, aus. Auch sie heiratete zunächst im Alter von 22 Jahren, brach ihr Studium an der renommierten Sciences Po ab und widmete sich zunächst ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter. Fünfzehn Jahre später, als ihr Ehemann bereits Minister war, nahm sie jedoch an der Pariser Sorbonne ein Archäologie­studium auf, das sie mit der maîtrise abschloss. Parallel dazu war und ist sie eigenständig kommunalpolitisch aktiv: Seit 1971 hat sie ein kommunales Mandat inne – zunächst als Mitglied des Gemeinderats und stellvertretende Bürgermeisterin, seit 1979 in der kommunalen Vertretungskörperschaft des Départements Corrèze.

b)  Der Bruch im Amt: Öffentlichkeit und Fragilität des Privaten Der Bruch in der Wahrnehmung der Première Dame, der bei Amtsantritt Nicolas Sarkozys im Jahr 2007 entstand, war vor diesem Hintergrund nicht allein durch die Biographie seiner damaligen Ehefrau bedingt. Viel tiefer noch lag er im privaten Bereich und vor allem auch dessen Diskussion in der Öffentlichkeit begründet. Bereits bei Amtsantritt befand sich die Ehe des Präsidenten öffentlich wahrnehmbar in einer Krise. Schon im Sommer 2005, zwei Jahre vor dem Amtsantritt ihres Mannes als Präsident, waren Fotos von Cécilia Sarkozy in der Presse aufgetaucht, die eine außereheliche Affäre belegten. Zwar führten beide zunächst sowohl die Ehe als auch die Zusammenarbeit auf politischer Ebene fort: So war Cécilia Sarkozy seit 2004 als „Kabinettschefin“ ihres Mannes in seiner Partei tätig und trat auch im von ihm geführten Innenministerium in quasi offizieller Funktion auf.55 Nur fünf Monate nach dem Amtsantritt Sarkozys ließ sich das Paar allerdings einvernehmlich scheiden. Zum ersten Mal in der Geschichte der V. Republik war der Staatspräsident kein verheirateter Mann. Die wenigen Monate, die Cécilia Sarkozy im Elysée-Palast verbrachte, genügten jedoch, um einen völlig neuen Fall des politischen Engagements einer Première 54   Fradin, Contemporary French and Francophone Studies 12 (2008), 213 (220); Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  9 0 f. 55   Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  87.

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Dame zu generieren. Nur wenige Wochen nach der Amtsübernahme ihres Mannes flog sie nach Libyen, um mit dem damaligen Staatschef Gaddafi über die Freilassung von fünf bulgarischen Krankenschwestern und eines palästinensischen Arztes zu verhandeln, die dort wegen der angeblichen Infizierung von 400 libyschen Kindern mit dem HI-Virus zum Tode verurteilt worden waren. Als Ergebnis der auch mit der damaligen EU-Außenkommissarin geführten Verhandlungen wurden die Gefangenen freigelassen und – unter Begleitung beider Frauen – in ihre Heimat ausgeflogen. Die Mission geriet im europäischen Ausland zum Teil in erhebliche Kritik, weil umfassende Verhandlungen der EU vorausgegangen waren, die sich Sarkozy – so der Vorwurf – mit seinem spontanen Alleingang sowohl medial als auch wirtschaftspolitisch habe zunutze machen wollen.56 Auch innenpolitisch sahen sich der Präsident und seine Frau intensiver Kritik der Opposition ausgesetzt, die sich insbesondere über die fehlende Einbindung des französischen Außenministers sowie die unklaren Zusagen von Gegenleistungen durch die Ehefrau des Präsidenten an den libyschen Diktator empörte.57 In einem zu dem Vorgang eingesetzten Untersuchungsausschuss des französischen Parlaments sollte Cécilia Sarkozy als Zeugin vernommen werden, berief sich aber auf ein von ihrem Mann als Präsident abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht, das dadurch gestützt werden sollte, dass er sie nachträglich zu seiner persönlichen Gesandten58 erklärte.59 In einem Interview, das die Première Dame später gab, wählte sie gleichwohl eine andere Beschreibung ihrer Mission: Es habe sich nicht um eine offizielle Reise gehandelt, ihr Mann habe sie vielmehr als Frau und Mutter entsandt.60 Zu weiteren Einsätzen von Cécilia Sarkozy im Grenzbereich von privatem Engagement und offizieller Vertretung des Präsidenten kam es nicht mehr, da sie nach der Scheidung im Oktober 2007 den Elysée-Palast verließ. Erstmals verfügte das Frankreich der V. Republik über keine Première Dame. Dieser Zustand währte allerdings nicht lange. Weniger als vier Monate später heiratete Nicolas Sarkozy Carla Bruni. Als ehemaliges Supermodel und international erfolgreiche Sängerin war sie die erste Frau, die bereits vor ihrer Zeit als Première Dame massiv im Licht der internationalen Öffentlichkeit gestanden hatte. Ihre politischen Aktivitäten erreichten jedoch bei Weitem nicht das Niveau ihrer Vorgängerin. Eher als bescheidene Reminiszenz an die Verhandlungen ihrer Vorgängerin in Libyen kann insofern etwa ihr Engagement um die Freilassung zweier junger Französinnen gelten, die in der Dominikanischen Republik wegen Drogenschmuggels zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Die beiden jungen Frauen hatten sich mit einem Brief aus dem Gefängnis an die Première Dame gewandt. Bei einem Staatsbesuch des dominikanischen Präsidenten in Paris thematisierte Carla Bruni-Sarkozy das Schicksal der beiden und leistete damit wohl einen wesentlichen Beitrag zur späteren Entscheidung   Vgl. etwa nur „Ärger und Verwunderung über Sarkozy“, FAZ v. 28.7.2007, S.  1.   Vgl. nur Schubert, „Frankreich streitet über Aufgaben der Präsidentengattin“, FAZ v. 15.8.2007,

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S.  2 .   Im Original: „envoyée personnelle“.   S. ‚Rapport fait au nom de la commission d’enquête sur les conditions de libération des infirmières et du médecin bulgares détenus en Libye et sur les récents accords franco-libyens‘ v. 22.1.2008, Assemblée Nationale, constitution du 4 octobre 1958, treizième législature, N° 622. 60   „Cécilia Sarkozy rend visite aux infirmières bulgares à Tripoli“, Le Monde v. 14.7.2007, S.  4. 58 59

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des dominikanischen Präsidenten, die beiden Frauen zu begnadigen.61 Dieses besondere Engagement für Strafgefangene im Ausland lässt sich in gewisser Weise mit der – allerdings im Jahr 2011 ersatzlos gestrichenen – Regelung in der französischen Strafprozessordnung parallelisieren, die die Korrespondenz von Strafgefangenen mit der Première Dame unter besondere Vertraulichkeit stellte. Als Valérie Trierweiler, die vorerst letzte Première Dame, im Jahr 2012 an der Seite von François Hollande in den Elysée-Palast einzog, war sie – ähnlich wie ein Jahr später Daniela Schadt in Deutschland – die erste Frau, die an der Seite des Präsidenten diese Funktion erfüllte, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Sie war darüber hinaus die erste Frau in dieser Funktion, die unmittelbar vor ihrer neuen Funk­tion einen traditionellen Beruf ausgeübt hatte – wie Daniela Schadt war sie als Journa­li­ stin tätig. Damit stellte sich für Valérie Trierweiler als erste Première Dame die Frage, ob sie ihre Berufstätigkeit an der Seite des Präsidenten weiter ausüben wollte. Wie Daniela Schadt auch entschied sie sich – nicht zuletzt aufgrund der Art der Tätigkeit – gegen ihren Beruf. Dass sie sich durch diese Entscheidung in besonderer und rechtlich nicht abgesicherter Form wirtschaftlich von ihrem Lebensgefährten abhängig machte, zeigte sich im Januar 2014, als ein französisches Boulevard-Magazin eine Affäre des Staatspräsidenten mit der Schauspielerin Julie Gayet enthüllte.62 Wenige Tage später erklärte François Hollande gegenüber der Presse, dass er sich entschieden habe, das gemeinsame Leben mit Valérie Trierweiler zu beenden.63 Seitdem ist die Position der Première Dame in Frankreich vakant.

c)  Die Amtsausstattung: Büro, Mitarbeiter, Chauffeur und Kreditkarte Wie ihren Amtskolleginnen in Deutschland und den USA stand auch der Première Dame im Frankreich der V. Republik stets ein Büro im Elysée-Palast und – in ­zunehmender Intensität – auch ein Mitarbeiterstab zur Verfügung, dessen Größe im Einzelnen jedoch sehr unterschiedlich war. Er soll unter Bernadette Chirac etwa 20 Personen umfasst haben,64 für Carla Bruni-Sarkozy waren acht, für Valérie Trierweiler fünf Mitarbeiter im Elysée-Palast beschäftigt.65 Darüber hinaus benutzen die Premières Dames auch den Chauffeur-Dienst des Präsidenten.66 Auf der Internet­seite des Elysée-Palastes waren die jeweils aktuellen Partnerinnen des Präsidenten unter Jacques Chirac sowie – zu Beginn seiner Amtszeit – unter François Hollande aufgeführt, eine Auflistung der Ehefrauen der Amtsvorgänger, wie sie etwa in Deutschland und den USA zu finden ist, fehlt jedoch. Während der Zeit von Carla Bruni-Sarkozy als Première Dame wurden zudem in den Jahren 2011 und 2012 aus   Daviatte, Céline et Sarah graciées, L’Est Républicain v. 26.12.2009, S.  17.   Closer, L’Amour Secret du Président, Edition Spéciale v. 10.1.2014. 63   Rovan, Hollande-Trierweiler: la page est tournée, Le Figaro v. 27.1.2014, S.  1. 64   Bouilhaguet/Jakubyszyn, La Frondeuse, 2012, S.  81, unter Verweis auf Aussagen des sozialistischen Abgeordneten René Dosière. 65   Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr.  20735 des Abgeordneten Guillaume Larrivé v. 12.3.2013, Journal Officiel v. 30.4.2013, S.  4710. 66   Antwort auf die schriftliche Anfrage Nr.  99563 des Abgeordneten René Dosière v. 11.7.2006, Journal Officiel v. 20.2.2007, S.  1754. 61

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Mitteln des Elysée-Palastes Erstellung und Pflege ihrer privaten Homepage zu einem Preis von über 400.000 Euro finanziert.67 Der französische Rechnungshof rügte diese Ausgaben später, ohne dass daraus jedoch rechtliche Konsequenzen gezogen wurden. Gerade dieses Detail illustriert die im Vergleich zu Deutschland und den USA deutlich unklarere haushaltsrechtliche Situation in Frankreich. Weder im Haushaltsplan noch im einfachen Recht findet sich eine Grundlage für eine Verwendung ­öffentlicher Mittel für oder durch die Première Dame. Die Ausgaben sind darüber hinaus – wie weite Teile des Haushalts des Staatspräsidenten – für die Öffentlichkeit intransparent und werden nur gelegentlich über parlamentarische Anfragen politisch thematisiert. Dass dabei keinesfalls stets eine nachvollziehbare Auf klärung durch den Präsidenten erfolgt, zeigt sich etwa an der Anfrage eines sozialistischen Abgeordneten zur privaten Nutzung einer Kreditkarte des Elysée-Palastes durch Cécilia Sarkozy – die Frage vom Juli 2007 blieb bis Ende der Legislaturperiode im Sommer 2012 schlicht unbeantwortet und fiel dann dem Diskontinuitätsgrundsatz zum Opfer.68

4.  Italien: Der einsame Präsident So ähnlich sich nach alledem jedenfalls die ganz groben Linien der offiziellen Rolle der Frau des Staatspräsidenten in Deutschland, den USA und Frankreich sind, so sehr unterscheidet sich dazu die Entwicklung in der Italienischen Republik. Das Amt der Staatspräsidentengattin ist dort bis heute praktisch nicht institutionalisiert. Der italie­ ni­sche Staatspräsident ist – in seiner offiziellen Rolle – ein einsamer Mann. Historisch lässt sich diese Entwicklung maßgeblich durch die Tatsache erklären, dass die Rolle der Ehefrau des Staatspräsidenten in Italien vergleichsweise lange unbesetzt geblieben ist. Der erste Staatspräsident, Enrico de Nicola, der das Amt von 1946–1948 innehatte, war unverheiratet. Mit Giuseppe Saragat und Oscar Luigi Scalfaro übten in den Jahren 1964–1971 und 1992–1999 Witwer das höchste Amt des Staates aus. Gleiches gilt seit 2015 für Sergio Mattarella. In den 69 Jahren des Bestehens der Italienischen Republik war eine „prima donna“ somit 17 Jahre lang und damit ein Viertel der Zeit physisch inexistent. Hinzu kommt, dass sich sowohl Carla Voltolina, Ehefrau von Sandro Pertini, Präsident in den Jahren 1978–1985, als auch Giuseppa Sigurani, Ehefrau von Francesco Cossiga, Präsident in den darauffolgenden Jahren 1985–1992, bewusst gegen eine offizielle Rolle an der Seite ihres Mannes entschieden und für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar blieben.69 Mit einer Unterbrechung von 1971–1978, als Vittoria Michitto, die Ehefrau von Giovanni Leone, im Rahmen repräsentativer Anlässe eine gewisse mediale, keinesfalls aber eine politische Präsenz entwickelte, war das Amt der „prima donna“ daher von 1964–1999 inexistent – und damit in einer die Republik wesentlichen prägenden Zeit. 67   Cour des comptes, Les comptes et la gestion des services de la Présidence de la République – comptes 2012 – gestion du 15 mai 2012 au 31 décembre 2012, Bericht v. 15.7.2013, S.  5. 68   Schriftliche Anfrage 144 des Abgeordneten René Dosière, Journal Officiel v. 3.7.2007, S.  4759. 69   Pinna, Giuseppina, La nuova „First Lady“ segue l’esempio di Carla Voltolina, La Repubblica v. 26.6.1985.

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Erst danach zog mit Franca Pilla, der Ehefrau von Carlo Azeglio Ciampi, wieder eine Begleiterin in den Quirinalspalast ein.70 Mit einem abgeschlossenen Studium der Literaturwissenschaften verfügte die im Jahr 1920 Geborene über einen für eine Frau ihrer Generation überdurchschnittlich hohen Bildungsabschluss. An der Seite des Präsidenten äußerte sie sich vereinzelt auch zu öffentlichen Themen, ohne jedoch politischen Einfluss auszuüben. Selbst dieses bescheidene Engagement in öffentlichen Angelegenheiten reduzierte Clio Bittoni, die Frau von Giorgio Napolitano, die als bislang einzige Ehefrau von 2006 bis 2015 mehr als eine Wahlperiode im Quirinalspalast verbringen konnte, wieder und trat öffentlich nur wenig in Erscheinung.71 Noch stärker als bei ihren Vorgängerinnen fällt ihr eigenständiger Bildungs- und Berufsweg auf. Geboren im Jahr 1934, schloss sie in den 50er Jahren ein Jurastudium ab und arbeitete – trotz der zwischenzeitlichen Geburt zweier Kinder – bis zur Wahl ihres Mannes zum Parla­ mentspräsidenten im Jahr 1992 als Anwältin und Unternehmensjuristin.72 Insgesamt ähnelt die öffentliche Erscheinung der Ehefrau des italienischen Staats­ präsidenten – so es denn eine solche gegeben hat – eher der wenig politischen Tradi­ tion des nicht vorhandenen Amtes in Deutschland. Nicht zuletzt aufgrund der langen fehlenden Besetzung der Position ist sie allerdings noch in deutlich geringerem Maße institutionalisiert: Auf der Homepage des Quirinalspalast findet sich keine Rubrik für die Ehefrau des amtierenden bzw. der vergangenen Präsidenten, lediglich im ­Lebenslauf des ehemaligen Präsidenten Napolitano ist ein Lebenslauf seiner Frau verlinkt. Über ein eigenes Büro im Präsidentenpalast verfügt sie genauso wenig wie über eigene Mitarbeiter. Sie bleibt also im Wesentlichen das, was sie ist: eine Privatperson, die mit dem Amtsträger verheiratet ist.

5.  Allein unter Frauen: Der Prinzgemahl in den europäischen Monarchien Die Art und Weise, wie an der Spitze republikanischer Staaten erstaunlich oft die familiären Bindungen des Amtsinhabers in sein Amt integriert werden, ist nicht ohne Vorbild. So wie die republikanischen Staatsoberhäupter der westlichen Welt ihr historisches und kulturelles Vorbild in den westlichen Monarchen finden,73 so wurde auch die Einbindung von Familienmitgliedern in die Rolle des Staatsoberhauptes ursprünglich als Modell westlicher Königshäuser etabliert. Monarchien sind ihrer Natur nach Familienbetriebe. Sie bilden den Prototyp eines Herrschaftssystems, in dem öffentliche Funktionen an der Spitze des Staates durch Familienzugehörigkeit und nicht durch Wahl vergeben werden. Die entfernte Kopie dieser Form von Macht­übertragung kraft Eheschließung, die sich in republikanischen Staatswesen findet, erklärt sich daher besser, wenn vergleichend das royale Original in den Blick 70   Severini, Le mogli della Repubblica, 2008, S.  20 f., bezeichnet sie als erste „prima donna“ Italiens, die allerdings eher eine „prima nonna“, eine „erste Großmutter“ gewesen sei. 71   Vitali, Clio Napolitano, la first lady cresciuta a pane e politica, La Repubblica v. 14.1.2015. 72   Offizieller Lebenslauf auf der Internetseite des italienischen Staatspräsidenten: http://presidenti. quirinale.it/Napolitano/ClioBittoni.pdf. 73  Dazu für das Beispiel Deutschlands Schönberger, in: Biskup/Kohlrausch (Hrsg.), Das Erbe der Monarchie, 2008, S.  284 ff.

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genommen wird. In der Monarchie ist insofern nicht nur eine deutlich längere Erfahrung mit der Einbindung von Ehepartnern in die Machtausübung gespeichert. Durch die besondere institutionelle Stellung der familiären Beziehungen ist hier auch der Blick auf die entsprechenden Strukturen geschärft, die die Grenze zwischen Amt und P ­ erson auf der Ebene von Familie und Partnerschaft teilweise verwischen. Dieser geschärfte Blick spiegelt sich auch in einer stärkeren rechtlichen Aufmerksamkeit für die zugrundeliegenden Fragen. Darüber hinaus waren die westlichen Monarchien auch deutlich früher und intensiver mit der Situation konfrontiert, dass eine Frau die Rolle an der Spitze des Staates ausfüllte und die Aufgabe eines Ehepartners des Staatsoberhauptes von einem Mann übernommen wurde. Klassische Rollenerwartungen an den Mann als dominanten, Macht ausübenden Teil einer Paarbeziehung und die Frau als zurückgenommene, unterstützende Begleiterin wurden hier früher als bei gewählten Staatsoberhäuptern und aufgrund der fehlenden Periodizität des Amtes auch deutlich langfristiger in der Praxis des Amtes in ihr Gegenteil verkehrt. Stellvertretend für die Vielzahl europäischer Monarchien sollen hier daher diejenigen Beispiele des 20. und 21. Jahrhunderts in den Blick genommen werden, in denen die Begleiterrolle an der Seite eines royalen Staatsoberhauptes durch einen Mann, den Prinzgemahl, wahrgenommen wurde. Die besondere monarchische Erfahrung verbindet sich hier mit einer spezifischen Problematik von Geschlechterrollen. Seit dem 20. Jahrhundert haben in drei der sieben großen europäischen Monar­ chien74 Frauen den Thron bestiegen und damit ihren Mann zum Ehepartner des Staatsoberhauptes gemacht. In den Niederlanden war das ganze 20. Jahrhundert über stets eine Frau an der Spitze des Staats, drei Prinzgemahle haben in dieser Zeit ihren – wenig definierten – Dienst erfüllt. In Großbritannien hat Prinz Philip seit 1952 die Rolle des „prince consort“ inne. Seit 1972 ist zudem Prinz Henrik Prinzgemahl des Königreichs Dänemark.

a)  Verfassungsrechtliche Stellung: Legitimation und Diskriminierung In keinem dieser Länder – und insofern ähneln sie den bisher in den Blick genommenen Republiken – existiert jedoch eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die den Status der Prinzgemahle definieren würde. Indirekt adressiert das Verfassungsrecht diese Position allerdings insofern, als es deren Entstehungsbedingungen in den Blick nimmt und die Eheschließung des Monarchen und Thronfolgers reglementiert. Nach Art.  28 der niederländischen Verfassung bedarf die Eheschließung des Königs oder eines potentiellen Thronfolgers der Zustimmung des Parlaments. Andernfalls verliert der Betroffene die Königswürde bzw. seine Position in der Thronfolge. Entsprechendes gilt gem. §  5 des dänischen Thronfolgegesetzes auch für Dänemark. In Großbritannien wurde die eher komplizierte entsprechende Regelung aus dem Jahr 1772 im März 2015 geändert und vereinfacht.75 Nach dem Succession to the Crown   Das Großherzogtum Luxemburg soll hier außer Betracht bleiben, obwohl es mit Felix Prinz von Bourbon-Parma von 1919 bis 1965 einen Prinzgemahl der Großherzogin gab. 75   Zur Entwicklung dieser Änderung und den rechtstechnischen Schwierigkeiten seiner Durchsetzung vgl. nur Twomey, Sidney Law School Legal Studies Research Paper No. 11/71, Oktober 2011. 74

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Act bedürfen die in der britischen Thronfolge an den ersten sechs Stellen Stehenden der Zustimmung der Königin zu ihrer Heirat. Stimmt die Königin nicht zu, erlischt mit der Eheschließung der Thronfolgeanspruch. Anders als in republikanischen ­Systemen gibt es somit einen staatlichen Einfluss jedenfalls auf die Personenauswahl bei der Besetzung des Amtes an der Seite des (zukünftigen) Staatsoberhauptes. Jenseits entsprechender Regelungen über die Eheschließung verfügt unter den euro­päischen Monarchien allein Spanien über eine weitere Regelung des Verfassungsrechts, die die institutionelle Stellung des Ehepartners des Monarchen betrifft.76 Nach Art.  58 der spanischen Verfassung dürfen die Ehegatten der spanischen Monarchen keine anderen verfassungsrechtlichen Ämter übernehmen als diejenigen, die für die Regentschaft vorgesehen sind. Diese Bestimmung geht zurück auf Vorgänger­ regelungen, die in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts verankert waren, sich dabei aber interessanterweise ausdrücklich nur auf den Prinzgemahl bezogen und für diesen ausdrücklich eine Mitwirkung in der Regierung ausschlossen.77 Hintergrund dieser nicht geschlechtsneutralen Regelung wird dabei die Tatsache gewesen sein, dass in diesen Verfassungen zwar grundsätzlich eine weibliche Thronfolge vorgesehen war, nach herrschenden sozialen Anschauungen der Zeit jedoch die Übernahme einer politisch einflussreichen offiziellen Stellung der Ehefrau des Königs nicht realistisch erschien.78 Diese Erwartung spiegelt sich auch in einer anderen, in den europäischen Monarchien79 spätestens des 19. Jahrhunderts80 jedenfalls gewohnheitsrechtlich anerkannten81 offenen Diskriminierung wider, denen die Ehemänner der Königinnen unterworfen sind: Als König wird nämlich nach allgemeinem Begriffsverständnis nur der regierende König bezeichnet. Seine Frau trägt zwar selbstverständlich den Titel der Königin. Umgekehrt wird jedoch der Ehemann der regierenden Königin niemals zum König, sondern stets nur zum Prinzgemahl gemacht. Von vorneherein scheint es daher schon auf begrifflicher Ebene strukturell vorteilhafter, erwünschter und angesehener zu sein, als Frau die nach klassischem Rollenverständnis eher männlich 76   In Art.  98 der belgischen Verfassung findet sich eine ähnliche Regelung, die jedoch die gesamte königliche Familie, nicht ausschließlich den Ehepartner des Königs erfasst. Nach dieser Vorschrift darf kein Mitglied der königlichen Familie Minister sein. 77   Abgedruckt bei Cuesta, in: Falla (Hrsg.), Commentarios a la Constitucion, 2001, S.  1050. 78   Cuesta, in: Falla (Hrsg.), Commentarios a la Constitucion, 2001, S.  1051. Dies bedeutet nicht, dass nach damaligen Vorstellungen ein politischer Einfluss der Frau des Königs undenkbar gewesen wäre. Er wurde jedoch indirekt über den König ausgeübt. 79   Eine Ausnahme bildet hier Portugal. In Art.  145 der Verfassung von 1822, Art.  9 0 der Verfassung von 1826 sowie Art.  99 der Verfassung von 1838 war gleichlautend bestimmt, dass der Ehemann der Königin nicht an der Regierung teilhat, den Titel des Königs aber führen darf, sobald er mit der Königin gemeinsame Nachkommen hat. 80   Zur davor mitunter üblichen Position des „Titularkönigs“ umfassend v. Hentig, Titularkönig und Prinzgemahl, 1962, S.  20 ff., Lehwess, AöR 12 (1897), 509 (510 ff.); sowie die Einzelbeiträge in: Beem/ Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014. 81   Die spanische Verfassung nimmt diese Unterscheidung selbst vor, indem sie in Art.  58 für die Ehefrau des Königs den Begriff „Reina consorte“, für den Ehemann der Königin jedoch den Begriff „consorte de la Reina“ verwendet. Für die Niederlande sieht das von 2002 stammende Gesetz über die Mitgliedschaft im Königshaus in Art.  8 Nr.  2 zwar für die Ehegatten des Monarchen einheitlich vor, dass sie den Titel Prinz bzw. Prinzessin tragen, abweichend davon wird jedoch die Ehefrau des niederländischen Königs auch offiziell tatsächlich als Königin bezeichnet. Zur deutschen Tradition s. etwa nur Rehm, Modernes Fürstenrecht, 1904, S.  223.

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besetzte Position des Herrschers einzunehmen als umgekehrt als Mann die nach klassischem Rollenverständnis eher weiblich besetzte Position des begleitenden Ehe­ partners mit einer lediglich abgeleiteten Stellung zu besetzen.82 Diese Beobachtung ließe sich unter dem Aspekt der Rollenerwartungen ohne Weiteres auf die Situation in Republiken übertragen, auch wenn hier die geschlechtsbezogene Rollenerwartung sich noch nicht in einem entsprechenden Begriff für den Ehemann des republikanischen Staatsoberhauptes niedergeschlagen hat. Das auf diese Weise schon in dieser Bezeichnung zum Ausdruck kommende und in der Monarchie historisch tief verwurzelte Verständnis von Geschlechterrollen stellte gerade im 20. Jahrhundert die Männer, die sich ihm in der Rolle des Prinz­ gemahls fügen mussten, vor nicht unerhebliche persönliche Herausforderungen.83 Es entstand – und entsteht heute noch – ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen weiblich konnotiertem Amt und als Mann definierter Person,84 für dessen Lösung die Individuen sehr unterschiedliche Bewältigungsstrategien entwickelten.

b)  Prinz Heinrich: Privatmann an der Seite der Königin Prinz Heinrich der Niederlande (1876–1934), von 1901–1934 Prinzgemahl an der Seite Königin Wilhelminas, aus deutschem Adel stammend und mit militärischer Ausbildung, hatte sich bereits vor seiner Eheschließung aus dem öffentlichen Leben weitestgehend zurückgezogen und im Stile eines Landedelmanns vor allem der Jagd und dem Angeln gewidmet.85 Auch nach seiner Eheschließung behielt er einen ähnlichen Lebensstil bei. Dass er neben seiner Frau, die sich gerne als „Soldatenkönigin“ inszenierte, kaum öffentliche Funktionen ausübte, sondern auf kleinere Funktionen innerhalb des Hofes beschränkt blieb, stand zu den zu dieser Zeit auch schon in den Adel übergegangenen bürgerlichen Vorstellungen von Geschlechterrollen in starkem Widerspruch. Dieser Konflikt spiegelte sich zum einen in der privaten Situation der Ehepartner wider: Die in ihm liegende Demütigung in der männlichen Rolle wird insofern maßgeblich mitverantwortlich gemacht für die erheblichen Konflikte innerhalb der Ehe und die zahlreichen außerehelichen Affären des Prinzgemahls, die insofern jedenfalls auch als ein Mittel zur Wiedereroberung der Männlichkeit gedeutet werden können.86 Zum anderen warf der Rollenkonflikt aber auch grundlegende rechtliche Fragen auf. Bereits vor der Thronbesteigung Wilhelminas war insofern diskutiert worden, wie die im damaligen Zivilrecht verankerte eheliche Gewalt des 82   Cannadine, The Pleasures of the Past, 1997, S.  12; Bemm/Taylor, in: dies. (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  1 (3); vgl. auch Bogdanor, The monarchy and the constitution, 1995, S.  52. 83   S. schon die Beschreibung des Prinzgemahls Albert über sein eigenes Amts: „This position is a most peculiar and delicate one. […] [It] requires that the husband should entirely sink his own individual existence in that of his wife – that he should aim at no power by himself or for himself – should shun all ostentation – assume no separate responsibility before the public, but make his position entirely a part of hers“, Prince Albert, Brief v. 8.4.1850 an den Duke of Wellington, abgedruckt bei Helps (Hrsg.), The Principal Speeches and Addresses of His Royal Highness the Prince Consort, 2013, S.  72 f. 84   Vgl. auch Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (206). 85   Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (208). 86   Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (209 f.).

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Mannes über die Ehefrau in der Ehe der regierenden Königin mit der staatsrecht­ lichen Stellung des Prinzgemahls als ihr Untertan in Einklang gebracht werden könne.87 Zeitgenössischen Vorschlägen, durch Änderung des Familienrechts die Königin in ihrer Ehe auch zum zivilrechtlichen Familienoberhaupt zu machen, folgte der Gesetzgeber jedoch nicht, sondern ließ die zivilrechtliche Situation bewusst offen und vertraute so vor allem auf eine einvernehmliche vernünftige Lösung unter den Ehegatten.88 Allerdings wurde zur Klarstellung hinsichtlich des elterlichen Erziehungsrechts eine Bestimmung in die Eheverträge aufgenommen, nach der das Recht zur Erziehung der Kinder in Übereinstimmung mit dem niederländischen Zivilrecht beim Ehemann lag.89 Jedenfalls die männliche Rolle des Vaters sollte Prinz Heinrich somit rechtlich gesichert sein. Ein letzter Punkt, der die Stellung des Prinzgemahls für Prinz Heinrich unter dem Aspekt überkommener Geschlechterrollen prekär machte, war schließlich die Tat­ sache, dass er Zeit seines Lebens keinerlei Apanage in den Niederlanden erhielt. Maßgeblicher Grund für diese fehlende finanzielle Anerkennung war die Tatsache, dass die niederländische Verfassung eine Abänderung der Zivilliste, also des durch das Parlament festgelegten Betrages, den die Mitglieder des Königshauses aus der Staatskasse erhalten, in der Zeit der Regentschaft seiner Frau zu seinen Gunsten nicht erlaubte.90 Während ein solches Fehlen der materiellen Anerkennung für die eigene Tätigkeit im häuslichen, familiären und repräsentativen Bereich für Frauen selbstverständlich war und zum Teil immer noch ist, musste sie für einen Mann als erhebliche Demütigung erlebt werden, die nur dadurch abgemildert werden konnte, dass Prinz Heinrich nicht nur über ein Privatvermögen verfügte, sondern auch aus dem Privatvermögen seiner Frau eine jährliche Zuwendung erhielt und schließlich – bis zum Jahr 1918 – seine Apanage aus dem Haus Mecklenburg weiter bezog.91

c)  Prinz Bernhard: Versuch männlicher Dominanz Vor diesem Hintergrund war es sowohl der mittlerweile verwitweten Königin Wilhelmina als auch der damaligen Kronprinzessin Juliana ein wichtiges Anliegen, jedenfalls die finanzielle Seite der Stellung als Prinzgemahl für den Schwiegersohn Prinz Heinrichs zu verbessern: Im Jahr 1936, unmittelbar vor der Heirat Kronprinzessin Julianas mit dem deutschen Juristen Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld 87   Lehwess, AöR 12 (1897), 509 (524); Kaatzer, Die rechtliche Stellung des Prinzgemahls der Niederlande, 1909, S.  36. 88   Lohman, in: de Bas (Hrsg.), Gedenkboek Oranje-Nassau-Mecklenburg-Lippe-Biesterfeld, 1937, S.  219. Dementsprechend setzt das entsprechende Gesetz über die Eheschließung (Staatsblad van het Koninkrijk der Nederlanden 1901, No. 35), anders als v. Hentig, Titularkönig und Prinzgemahl, 1962, S.  126, behauptet, nur die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches außer Kraft, die die Zuständigkeit des Standesbeamten für die Eheschließung betrafen. 89   Lohman, in: de Bas (Hrsg.), Gedenkboek Oranje-Nassau-Mecklenburg-Lippe-Biesterfeld, 1937, S.  219 f.; Lang feld, Mein Leben, 2.  Aufl. 1939, S.  187. 90   v. Hentig, Titularkönig und Prinzgemahl, 1962, S.  130. 91   Vgl. zu Ersterem Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (208), die die Höhe der Zuwendung allerdings als äußerst dürftig beschreiben; insgesamt dazu Lang feld, Mein Leben, 2.  Aufl. 1939, S.  186.

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(1911–2004), wurde die Verfassung so geändert, dass ihm bereits vor der Thronbesteigung seiner Frau, die zwölf Jahre später im Jahr 1948 erfolgte, eine Apanage aus dem Staatshaushalt zustand.92 Den grundsätzlichen Konflikt der Position des Prinzgemahls mit traditionellen Vorstellungen von Geschlechterrollen konnte jedoch auch diese Maßnahme nicht entschärfen. Wie bereits sein Schwiegervater so versuchte auch Prinz Bernhard daher einem traditionellen Männlichkeitsideal durch außereheliche ­A ffären zu entsprechen,93 zudem inszenierte er sich als Mann des Militärs, einer klassisch männ­l ichen Domäne, und übernahm hier verschiedene offizielle Aufgaben, unter anderem als Generalsinspekteur des niederländischen Heeres. 1976 musste er diese Auf­g a­ben jedoch aufgeben, nachdem bekannt geworden war, dass er von einem US-amerikanischen Hersteller von Kampfflugzeugen Bestechungsgelder angenommen hatte.94 Nur wenige Wochen später wurde seine Apanage um über 15% erhöht.95 Schließlich offenbarte sich – wenn auch auf deutlich dramatischere Weise – auch bei Bernhard und Juliana die besondere Bedeutung der väterlichen Gewalt im Familienrecht der Monarchie. Auch bei der Hochzeit von Kronprinzessin Juliana hatte man – entsprechend der Praxis bei ihrer Mutter – auf eine ausdrückliche Änderung des nach wie vor patriarchalen Familienrechts verzichtet und auf den guten Willen der Eheleute gesetzt. Diese konsensuale Taktik geriet in den 1950er Jahren, zum Höhepunkt einer Ehekrise des königlichen Paares, beinahe an den Rand des Scheiterns, als Prinz Bernhard in seiner Rolle als Familienvater drohte, der Königin das Sorgerecht für die vier gemeinsamen Töchter entziehen zu lassen.96 Erst das Ein­ greifen des Ministerpräsidenten konnte eine Eskalation der privaten Auseinandersetzung verhindern.

d)  Prinz Claus: Stilles Engagement in der Begleiterrolle Einen deutlich anderen Weg des Umgangs mit dem Amt wählte schließlich der dritte Prinzgemahl im niederländischen 20. Jahrhundert, der deutsche Diplomat Claus von Amsberg (1926–2002), der im Jahr 1966 Kronprinzessin Beatrix heiratete. Ganz anders als seine beiden Vorgänger – und beeinflusst durch seinen erlernten Beruf – füllte er die Rolle des Begleiters nahezu vorbildhaft aus, engagierte sich stark in der Erziehung der Kinder und unterstützte seine Frau in ihrer offiziellen Tätigkeit, ohne auf einen Ausgleich angewiesen zu sein, der an anderer Stelle seine Männlichkeit besonders herauf beschworen hätte. Den immanenten Rollenkonflikt des Amtes konnte jedoch auch er nicht lösen: Ab Anfang der 1980er Jahre, direkt nach der Be-

  Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (211).   S. nur Stabenow, Noch eine Dirn, FAZ v. 15.12.2004, S.  11. 94   Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (214); Kafsack, Mit weißer Nelke am Revers, FAZ v. 3.12.2004, S.  7; „Prinz Bernhard verabschiedet sich“, FAZ v. 11.9.1976, S.  4. 95   „Mehr Geld für Prinz Bernhard“, FAZ v. 27.9.1976, S.  4. 96   Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (213); Fasseur, Juliana & Bernhard, 2008, S.  394. 92 93

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steigung des Throns durch seine Frau, litt er zunehmend unter Depressionen und reduzierte sein Auftreten in der Öffentlichkeit deutlich.97

e)  Prinz Henrik: Der leidende Künstler Schließlich kann ein weiteres Modell des Umgangs mit der Rolle bei Henri de Laborde de Monpezat (*1934) beobachtet werden, seit seiner Heirat mit der damaligen Kronprinzessin Margarethe im Jahr 1967 Prinz Henrik von Dänemark. Dabei hatte der französische Diplomat, der fünf Jahre nach seiner Eheschließung zum Prinz­ gemahl wurde, zunächst mit ähnlichen Umständen zu kämpfen wie seine nieder­ ländischen Kollegen. Erst ab dem Jahre 1984 stand die Regierung ihm ein eigenes Einkommen aus dem Staatshaushalt zu und beendete damit einen für ihn persönlich – gerade unter Aspekten der Geschlechterrollen – schwer zu ertragenden Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit.98 Der Schwierigkeit, als Mann eine weiblich besetzte Rolle als unterstützender Ehepartner spielen zu müssen, begegnete und begegnet Henrik dadurch, dass er sich als Künstler inszeniert, Gedichtbände veröffentlicht und als Bildhauer tätig ist.99 Damit nimmt er für sich eine Rolle in Anspruch, die einerseits größere Überschneidungsbereiche mit traditionell weiblich konnotierten Aspekten von Sensibilität und Emotionalität hat, andererseits aber dennoch nach herkömmlichen gesellschaftlichen Vorstellungen auch als spezifisch männliches Lebensmodell anerkannt ist. Die Schwierigkeit, seinen eigenen Platz zu finden angesichts der fehlenden rechtlichen Konturen seines royalen Amtes, sowie die offene Benachteiligung der männlichen Ehepartner royaler Staatsoberhäupter hat er jedoch immer wieder, teilweise sehr dezidiert, in der Öffentlichkeit thematisiert.100

f)  Prinz Philip: Der adelige Sportsmann Am Wenigsten von allen europäischen Prinzgemahlen des 20. und 21. Jahrhunderts scheint insofern Prinz Philip (*1921) an seiner Rolle als royaler Begleiter gelitten zu haben. Als Prinz Philip von Griechenland und Dänemark begann er zunächst eine Karriere in der britischen Marine, bevor er im Jahr 1947 die britische Kronprinzessin Elisabeth heiratete. Seinen kontinentalen Prinzentitel gab er dafür auf, wurde aber am Tag vor der Hochzeit zum Herzog von Edinburgh, Earl of Merioneth und Baron Greenwich ernannt.101 Erst im Jahr 1957, also fünf Jahre nach der Thronbesteigung durch seine Frau, erhielt er (wieder) den Titel eines Prinzen.102 Seine militärische Berufstätigkeit behielt Prinz Philip nach der Eheschließung zunächst bei, erst zur Thronbesteigung seiner Frau schied er aus der Marine aus. Gleichzeitig wurde ihm eine Apanage aus dem Staatshaushalt zugebilligt.   Grever/van Zanten, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  205 (216).   Isaksen, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  241 (248 f.). 99   Isaksen, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  241 (246). 100   Isaksen, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  241 (248 ff.). 101   „The Duke Of Edinburgh“, The Times v. 20.11.1947, S.  4. 102   The London Gazette Nr.  41009 v. 22.2.1957, S.  1209. 97

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Neben seinen protokollarischen Verpflichtungen als Ehemann widmet Prinz Philip sich vor allen Dingen seiner Tätigkeit in der „National Playing Fields Asso­ciation“, dem nationalen Verband für Sportstätten, dessen Präsident er seit 1948 ist.103 Damit hat er – ähnlich wie Henrik von Dänemark – eine anerkannte Form männlicher Selbstinszenierung gewählt, die mit seiner Rolle als persönlich zurückgenommener, unterstützender Ehepartner der Königin uneingeschränkt vereinbar ist. Darüber ­h inaus mag auch seine stärkere selbständige Einbindung in den nationalen Adel die individuelle Rollenfindung erleichtert haben.104 Schließlich wird es vermutlich auch schlicht die große innere persönliche Freiheit des Individuums sein, die durch seinen schwarzen Humor auch in der Öffentlichkeit immer wieder auf blitzt, die es ihm erlaubt hat, auch jenseits traditioneller Geschlechterrollen seine Position in der Monarchie zu finden und auszufüllen.

III.  Konstanten des Amtes: Geld, Macht, Geschlechterrollen Ob in der Republik oder in der Monarchie: Es scheinen am Ende immer dieselben Fragen zu sein, die die Rolle des Ehepartners des Staatsoberhauptes bestimmen und in Frage stellen. Es geht um Geld, Macht, Geschlechterrollen und die politische wie verfassungsrechtliche Position eines öffentlichen Akteurs, der seine Stellung allein aufgrund seiner Eheschließung erreicht hat.

1.  Geld: Verwendung öffentlicher Mittel Am Deutlichsten wird die offizielle – und auch prekäre – Seite der Rolle des Ehepartners im Bereich des Geldes. Gleichzeitig tritt hier auch die schwer zu ziehende Grenze zwischen öffentlich und privat, zwischen Amt und Person, besonders deutlich zutage. In allen untersuchten Beispielen – jenseits des Gegenbilds Italien – werden für die (Ehe-)Partner der Staatsoberhäupter öffentliche Gelder verwandt. Bisher fließen diese jedoch nur in den Monarchien unmittelbar in ein persönliches Einkommen. In den Republiken werden Mitarbeiter, Büroräume, Auslandsreisen und im Beispiel Frankreichs auch noch andere Kosten, wie die für den Betrieb einer privaten Homepage, aus den öffentlichen Haushalten bestritten. Sowohl die Transparenz als auch die rechtliche Absicherung dieser Ausgaben werden dabei in den einzelnen Ländern allerdings sehr unterschiedlich gehandhabt. In der Monarchie sind die Zuweisungen aus der Staatskasse an die Königshäuser durch die Tradition der durch das Parlament bestimmten Zivillisten verrechtlicht. Ihre Etablierung in der konstitu­ tionellen Monarchie war unmittelbarer Ausdruck der Trennung von Amt und ­Person.105 Interessanterweise findet sich eine solche gesetzliche Vollregelung in der Republik, für die die grundsätzliche Trennung von Amt und Person viel klarer, aber vielleicht gerade deshalb auch weniger aufmerksamkeitsträchtig ist, gerade nicht. Am   Zweiniger-Bargielowska, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  223 ff.   Darauf stellt v. Hentig, Titularkönig und Prinzgemahl, 1962, S.  120 ff., ab. 105   Dollinger, in: Werner (Hrsg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, 1985, S.  325 (335). 103

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Klarsten ist diesbezüglich noch die Regelung in den USA: Hier findet sich jedenfalls für den Mitarbeiterstab der First Lady seit den 1970er Jahren eine ausdrückliche legiti­m ierende gesetzliche Grundlage, zudem ist mittlerweile auch die Größe des Mitarbeiterstabs öffentlich einsehbar. Frankreich stellt sich demgegenüber als genaues Gegenbild dar: Der Pauschalhaushalt des Elysée-Palastes ist für Parlament und Öffentlichkeit intransparent, gesetzliche Vorgaben existieren nicht, die Vergabe der Mittel vollzieht sich allein auf der Ebene der rechtlich kaum determinierten Haushaltsführung des Präsidenten. Deutschland nimmt zwischen diesen beiden Polen eine Zwischenstellung ein. Eine gesetzliche Regelung über die Mittelverwendung existiert nicht, seit dem Jahr 2010 bestimmt aber immerhin eine Erläuterung zum Haushaltsvermerk, dass Ausgaben für repräsentative Verpflichtungen des Partners des Bundespräsidenten aus den Haushaltsmitteln des Bundespräsidialamts beglichen werden dürfen, und gibt der Mittelverwendung somit jedenfalls eine Spur parlamentarischer Legitimation. Gesonderte Formen zur Herstellung der Transparenz für die aufgewendeten Mittel existieren allerdings nicht, insbesondere wird das Büro der Partnerin des Bundespräsidenten nicht im Organigramm des Bundespräsidialamts offiziell aufgeführt. Anders als in den USA und den europäischen Monarchien erfolgt die Mittelvergabe in Deutschland und Frankreich somit deutlich unterhalb der öffentlichen und zum größten Teil auch der parlamentarischen Aufmerksamkeitsund Kontrollschwelle.106

2.  Macht: Teilhabe an den Ressourcen des Ehepartners So ähnlich damit die grundsätzlichen Umstände der Mittelvergabe jedenfalls in den Republiken sind, so unterschiedlich sind die Verhältnisse doch in Hinblick auf die politische Macht des Ehepartners des Staatsoberhaupts. Sie wird naheliegenderweise dort am stärksten problematisiert, wo das politische System dem Staatsoberhaupt, von dem der Ehepartner seine Position ableitet, tatsächlich politische Macht zuweist. Besonders in den USA mit ihrem klassischen Präsidialsystem ist die politische Macht der First Lady somit sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch im Selbstverständnis der Ehefrauen ein zentrales Thema. Die Teilnahme der First Ladies an Kabinetts­ sitzungen, die eigenständigen Auslandsreisen oder – besonders prominent – der Vorsitz von Hillary Clinton über die Health Care Reform Task Force sind wesentliche Bausteine dieser Diskussion. Spiegelbildlich zu dieser Machtstellung existieren in den USA auch erste Schritte zur verfassungsrechtlichen Einhegung des Amtes, die insbesondere an der teilweisen Anerkennung der First Lady als verfassungsrechtlicher Quasi-Position durch den United States Court of Appeals in Washington107 sichtbar werden. Trotz politischer Ähnlichkeiten im semipräsidentiellen System Frankreichs, das dem Staatsoberhaupt erhebliche politische Macht zuordnet, fehlt es dort hingegen   Auch der Bundesrechnungshof beschäftigt sich erst seit dem Jahr 2011 (für das Jahr 2010) überhaupt näher mit dem Einzelplan 01 des Bundespräsidialamtes. Über die Ausgaben für die (Ehe)Partnerin finden sich in seinen Veröffentlichungen keine Aussagen. 107   S. o. Fn.  47. 106

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völlig an einer entsprechenden Verrechtlichung – und das, obwohl auch hier die Ehefrau durchaus an der Machtausübung partizipiert. Besonders deutlich wurde diese machtpolitische Rolle am außenpolitischen Engagement Cécila Sarkozys bei den Verhandlungen um die Befreiung der bulgarischen Krankenschwestern aus Libyen. Anders als in den USA wurde hier jedoch in der nachträglichen Begründung der Mission keine eigenständige politische Stellung der Première Dame ins Feld geführt. Vielmehr versuchte der Präsident, die Position seiner Frau allein akzessorisch über seine eigene Stellung zu begründen, indem er sie nachträglich zu seiner persönlichen Gesandten ernannte. Wie schon im Bereich der Finanzen ist die Stellung der Ehefrau hier somit tatsächlich deutlich erkennbar, in ihrer Zuordnung aber uneingeschränkt vom Präsidenten abhängig und nicht verselbständigt. Eine gerichtliche Klärung – gerade auch des Einsatzes in Libyen – ist bisher aufgrund des Fehlens entsprechender prozessualer Möglichkeiten in Frankreich ausgeblieben. Ähnlich wie in den europäischen Monarchien, in denen die politische Macht­ stellung des Staatsoberhauptes sorgsam eingehegt wurde, ist auch in Deutschland die Machtausübung durch die Frau des Bundespräsidenten kaum wahrnehmbar. Auch hier partizipiert sie allerdings jedenfalls an der Machtressource, die dem Bundes­ präsidenten nach dem heutigen politischen und rechtlichen Amtsverständnis zusteht: den Ressourcen öffentlicher Kommunikation. In der Art und Weise, wie sie diese Kommunikationsressourcen – den Internetauftritt und die Presseabteilung des Bundespräsidenten, öffentliche Veranstaltungen und Besuche im Ausland – nutzt, kommt ihr eine gewisse öffentliche Funktion zu, die über eine private, persönliche Darstellung weit hinausgeht. Auch die im Bundespräsidialamt zur Verfügung gestellten Mitarbeiterstellen – eine Sekretariatskraft, eine persönliche Referentin – sind auf diese Außendarstellung ausgerichtet, sei es in der persönlicher Bürgerkorrespondenz, sei es durch Reden und Vorträge vor größerem Publikum. Diese Teilhabe der Partnerin an der kommunikativen Macht des Bundespräsidenten mag einen deutlich geringeren politischen Einfluss begründen, als ihn ihre Kolleginnen in Frankreich und den USA ausüben. Im Verhältnis zu den in Deutschland ebenfalls deutlich reduzierten Kompetenzen des Mannes, den sie an die Spitze des Staates begleitet, wirkt diese Form der Einflussnahme jedoch in der Proportion keinesfalls nachgeordnet.

3.  Geschlechterrollen: „Der ganze Präsident ist er nur mit ihr.“ Bei allen Unterschieden im Einzelfall ist eines den beschriebenen Formen, in denen die Rolle des Ehepartners des Staatsoberhauptes ausgefüllt wird, uneingeschränkt gemein: In allen Fällen ist diese Funktion in hohem Maße geprägt durch traditionelle Vorstellung weiblichen Verhaltens.108 Die wesentlichen Elemente der – auch öffentlichen Funktion – sind insofern geprägt durch Ideen von Häuslichkeit, Fürsorge

108   Zur Widerspiegelung dieser weiblichen Stereotype der amerikanischen First Lady in der Populärkultur s. nur Uscinski, in: Vaughn/Goren (Hrsg.), Women and the White House, 2012, S.  121 ff.; Hoffmann, ebda., S.  269 ff.

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und Unterstützung,109 Gastlichkeit und sozialem Engagement.110 Nicht zufällig ist es in Deutschland gerade das Müttergenesungswerk, das seit Elly Heuss-Knapp unter der Schirmherrschaft aller Bundespräsidentenfrauen steht. Selbst dort, wo in der Vergangenheit Präsidentenfrauen hoch politische Aufgaben übernommen haben, wie bei Hillary Clinton und der Health Care Reform Task Force oder Cécilia Sarkozy und der Mission in Libyen, bedienen diese Aufgaben inhaltlich doch wiederum klassische Vorstellungen von weiblicher Fürsorge – und wurden jedenfalls von Cécilia Sarkozy in der Öffentlichkeit auch ausdrücklich als solche benannt. Wenn die öffentliche Funktion einer Person – in aller Regel einer Frau – derart am Amtsinhaber – in aller Regel einem Mann – hängt, wie über Jahrhunderte hinweg die soziale Funktion einer Frau ebenfalls über einen Mann definiert wurde, ist es vermutlich schwer zu vermeiden, dass entsprechende Vorstellungen klassischer Geschlechterrollen aktiviert werden. Wie man an den Beispielen von Daniela Schadt, Valérie Trierweiler und Michelle Obama beobachten kann, gilt dies selbst dort, wo die betreffenden Frauen vor dem Amtsantritt ihres Mannes derartigen Stereotypen gerade nicht entsprochen haben, sondern vielmehr als eigenständige, gut ausgebildete Frauen beruflich erfolgreich waren. Wenn sich vor diesem Hintergrund gerade Deutschland und Italien als die Länder herausstellen, in denen sich in der Vergangenheit auch andere Beispiele zeigen, in denen Frauen an der Seite des Präsidenten die klassischen Erwartungen an die untergeordnete, unterstützende Ehefrau jedenfalls nicht uneingeschränkt erfüllt haben, etwa, indem sie die Rolle als Staatsbegleiterin bewusst ausschlugen oder ihre Berufstätigkeit auch während der Amtszeit ihres Mannes ausübten, so mag dies seine Ursache in zahlreichen in der Gesellschaft wurzelnden Unterschieden haben. Ein entscheidender Faktor wird jedoch auch die geringere politische Macht sein, mit der in beiden Ländern der Präsident ausgestattet ist.111 Der eingeschränkte Einfluss des Amtsinhabers lässt so grundsätzlich mehr Raum für unterschiedliche Weisen, die Rolle an seiner Seite auszufüllen. Denn je stärker ein Amt als machtvolles politisches Amt wahrgenommen wird, desto stärker werden klassische Männlichkeitsbilder von Macht bedient und mit diesem Amt assoziiert – durch den Amtsinhaber, seinen Partner und die Öffentlichkeit. Solche Männlichkeitsbilder sind zwar nicht zwingend auf ein weibliches Gegenbild in der unmittelbaren Gegenüberstellung angewiesen,112 lassen sich aber mit einem solchen weiblichen Gegenpart in jedem Fall deutlich besser inszenieren.113 Dass sich in der Entwicklung der Biographien sowie der Amtsausübung der Partnerinnen der deutschen Bundespräsidenten das klassische Rollenverständnis der Ge109  Vgl. zur besonderen Bedeutung dieser Funktion in der Monarchie Isaksen, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  241 (248). 110  S. für die USA Lemish/Drob, Parliamentary Affairs 55, 2002, 129 (129); für Frankreich Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  77 ff. 111   Zur entsprechenden Parallele in der Monarchie s. Cannadine, Historical Research 77 (2004), 289 (303), der die konstitutionelle Monarchie als „entmännlicht“, da in ihrer Macht beschränkt, beschreibt und gerade deshalb als offen für weibliche Herrscherinnen. S. dazu auch Campbell Orr, in: Olechnovicz (Hrsg.), The monarchy and the British Nation, 2007, S.  76 ff. 112   Vgl. nur Zweiniger-Bargielowska, in: Beem/Taylor (Hrsg.), The Man behind the Queen, 2014, S.  223 (224 f.). Tendenziell enger Uscinski, in: Vaughn/Goren (Hrsg.), Women and the White House, 2012, S.  121 ff.; Hoffmann, ebda., S.  269 ff. 113   Vgl. etwa nur Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  35 ff.

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schlechter dabei spätestens seit den 1980er Jahren deutlich traditionalisiert hat und so in gewisser Weise sogar genau gegenläufig zur allgemeinen gesellschaftlichen ­Entwicklung ist, hat dabei allerdings nichts mit einer – so nicht feststellbaren – gesteigerten machtpolitischen Bedeutung des Bundespräsidentenamtes zu tun. Diese Entwicklung wird sich zum Teil auf die besonderen persönlichen Erfahrungen der frühen Bundespräsidentengattinen zurückführen lassen: Sie waren Vertreterinnen einer Frauengeneration, die durch das Miterleben und Bewältigen zweier Weltkriege in besonderer Weise jenseits klassischer Rollenmodelle herausgefordert worden war.114 Ein wesentlicher Aspekt wird aber auch in der veränderten medialen Präsenta­ tion und Wahrnehmung der Politik überhaupt und eben auch des Amtes des Bundespräsidenten begründet liegen. Insbesondere durch die Tendenz zur stärkeren Personalisierung und Boulevardisierung der Politikberichterstattung,115 rückt zum einen auch die Partnerin des Bundespräsidenten stärker in die mediale Öffentlichkeit, was eine eigenständige, medial unbeobachtete Berufstätigkeit heute vermutlich schwieriger gestalten würde als etwa in den Zeiten von Veronica Carstens. Dass eine solche Tätigkeit auch als Ehepartner eines Spitzenpolitikers gleichwohl nicht ausgeschlossen sein muss, zeigt eindrucksvoll das Beispiel des Chemieprofessors Joachim Sauer – wenngleich auch unter umgekehrten Vorzeichen traditioneller Geschlechterrollen. Zum anderen führt die Boulevardisierung der Berichterstattung aber auch zu einer verstärkten Wahrnehmung des Privaten und damit wiederum auch zu einer deut­ lichen Widerspiegelung überkommener Rollenvorstellungen, die mit einem mächtigen oder jedenfalls repräsentativen Amt verbunden sind. Die Art der personalisierten Berichterstattung, die für die Königshäuser und im Unterhaltungsbereich eingeübt ist, wird so zunehmend auch auf Politiker, vor allem auf diejenigen an der Staatsspitze, übertragen.116 Insbesondere, aber nicht nur, in den USA und in Frankreich, also in Ländern mit einer politisch starken Stellung des Präsidenten, macht sie so die First Ladies oft zu Anziehpüppchen der Nation.117 Das nicht vorhandene Amt der Frau des Staatsoberhauptes wird so gerade auch entgegen der gesellschaftlichen Entwicklung zu einem Verstärker für auf Ungleichheit beruhenden Geschlechter­ stereotypen. „Der ganze Präsident ist er nur mit ihr.“ So beschrieb das Nachrichtenmagazin stern einst den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, um die als symbiotisch erlebte emotionale Beziehung zu seiner Ehefrau zu charakterisieren.118 Vielleicht steckt hinter dieser etwas gefühligen Beschreibung aber viel mehr als die Darstellung eines Einzelfalls. Denn wenn sich in einer bipolar gedachten Geschlechterstruktur der männliche Teil gerade dadurch besonders betonen und herausheben lässt, dass 114   Zu diesem Erklärungsmuster in Hinblick auf die „weibliche“ britische Monarchie s. Campbell Orr, in: Olechnovicz (Hrsg.), The monarchy and the British Nation, 2007, S.  76 (105). 115   Vgl. dazu statt vieler etwa nur Friedrich/Jandura, Publizistik 57 (2012), 403 ff.; Donsbach/Büttner, Publizistik 50 (2005), 21 ff.; Vowe/Dohle, PVS 48 (2007), 338 ff. 116   Zur – mit Deutschland nicht ganz vergleichbaren – Berichterstattung in den französischen Medien s. Restier-Melleray, questions de communication 2005, 87 ff. 117  Vgl. Eksterowiz/Roberts, Politics & Policy 32 (2004), 412 (415); Spillers, Communication and Critical/Cultural Studies, 6 (2009), 307 (309 f.); Le Bras-Chopard, Première Dame – Second Rôle, 2009, S.  47 ff.; auf der Ebene der Selbstwahrnehmung für Deutschland Wulff, Jenseits des Protokolls, 2012, S.  103 ff. 118   Reich, Köhlers scheue Königin, Stern v. 24.2.2005, S.  179.

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man ihn mit seinem weiblichen Gegenpart konfrontiert, dann wird gerade durch die Gegenüberstellung, gerade durch die Begleitung durch die Partnerin die als männ­ lich definierte und mit einer Vorstellung von Macht und Bedeutung konnotierte Seite des Bundespräsidenten zur Geltung gebracht. Die First Lady – oder eben auch die Bundespräsidentengattin – dient so letztlich der symbolischen Bedeutungsaufwertung des Amtes, indem durch ihr Bild in der Öffentlichkeit klassische Geschlech­ terrollen hervorgehoben werden. Die Aufwertung des Amtes über die Person der Partnerin wird allerdings erkauft durch eine soziale Zugangshürde von Frauen zu dem Amt. Sollte es in absehbarer Zeit einer Frau gelingen, in das Amt des Bundespräsidenten gewählt zu werden,119 müsste sie dafür nicht nur die erforderliche parteipolitische Zustimmung und die Mehrheit in der Bundesversammlung gewinnen, sondern auch die für das Amt besonders eingespielten Erwartungen an Geschlech­ terrollen überwinden. Wie man am Beispiel der Prinzgemahle in den europäischen Monarchien sieht, ist dies keine einfache Aufgabe – für den Amtsinhaber vielleicht sogar noch weniger als für seinen Ehepartner. Auch in Hinblick auf die politische Macht sanktioniert die Gesellschaft insofern die Feminisierung des Mannes scharf, die Maskulinisierung der Frau hingegen vergleichsweise schwach.120

IV.  Rechtliche Fragen: Geld, Macht, Geschlechterrollen Die Konstanten des Amtes an der Seite des Staatsoberhauptes, die Fragen nach Geld, Macht und Geschlechterrollen, scheinen nur auf den ersten Blick auf die politische und gesellschaftliche Sphäre beschränkt zu sein. In gleicher Weise adressieren sie auch das Recht, das sich auf vielfältigen Ebenen – und in den verschiedenen Ländern nach jeweils eigenständigen Rechtsordnungen – mit genau diesen Aspekten der Gesellschaft befasst. Gespiegelt auf die deutsche Rechtsordnung und das Amt der Partnerin des Bundespräsidenten stellen sich so Fragen nach der Verwendung öffentlicher Mittel durch eine Person ohne Amt, nach der persönlichen finanziellen Absicherung, nach Legitimation und Verantwortlichkeit der nicht offizialisierten Position sowie schließlich nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Demonstration tradi­ tioneller Geschlechterrollen im Rahmen der Repräsentationsaufgabe des Staatsoberhauptes.

1.  Geld: Öffentliche Mittel und persönliche Absicherung Die Frage nach dem Geld stellt sich in Bezug auf das nicht vorhandene Amt der Bundespräsidentengattin aus rechtlicher Sicht von zwei Seiten: Zum einen von der Seite öffentlicher Ausgaben, die zugunsten der Partnerin des Bundespräsidenten geleistet werden, zum anderen von der Seite der unterbliebenen Ausgaben, da die Tätigkeit   Gleiches gilt selbstverständlich etwa auch für das Amt des amerikanischen Präsidenten. Insofern werden sich an der Kandidatur Hillary Clintons in Kürze die entsprechenden Mechanismen verdeutlichen. 120   Grundlegend an der Mode herausgearbeitet bei Barthes, Système de la mode, 1967, S.  260. 119

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nicht vergütet wird. Diese Gleichzeitigkeit von Finanzierung und Nichtfinanzierung führt zu einem schwer aufzulösenden rechtlichen Widerspruch.

a)  Ausgaben zugunsten des nicht vorhandenen Amtes: Bundeshaushaltsrecht Geht man davon aus, dass die Partnerin des Bundespräsidenten im formalen juristischen Sinne keine öffentliche Funktion bekleidet, stellen die Überlassung von Mitarbeitern des Bundespräsidialamtes, die Bereitstellung eines Büros im Schloss Bellevue sowie die Übernahme der Kosten für selbständige Reisen Leistungen an eine Privatperson dar, oder – wie es die Bundeshaushaltsordnung formuliert – an eine Stelle außerhalb der Bundesverwaltung. Insbesondere für die Bereitstellung von Mitarbeitern und die Übernahme von Reisekosten müssen daher §§  23 und 44 BHO Anwendung finden, die derartige Zuwendungen einschränkenden Regeln unterwerfen.121 Nach diesen Vorschriften dürfen entsprechende Zuwendungen an Private nur vergeben werden, wenn der Bund an der Aufgabenerfüllung gerade durch Private ein erhebliches Interesse hat, das ohne die Zuwendung nicht oder nicht im notwendigen Umfang befriedigt werden kann. Eine entsprechende Regelung trifft §  63 BHO für die unentgeltliche Überlassung der Büroräume im Schloss Bellevue, fordert hier jedoch sogar ein dringendes Bundesinteresse. Damit diese Ausgaben im Einklang mit dem Haushaltsrecht stehen, muss also ein besonderes öffentliches Interesse daran begründbar sein, dass die von der Partnerin des Bundespräsidenten erfüllten Aufgaben – also etwa die Bürgerkorrespondenz, die öffentlichen Auftritte, die Auslandsreisen – gerade durch sie, nicht jedoch etwa durch den Bundespräsidenten selbst wahrgenommen werden. Da jede der von ihr vorgenommenen Tätigkeiten, insbesondere die verschiedenen Arten der Außendarstellung, der Form nach auch vom Amtsinhaber selbst ausgeführt werden, stellt sich die Frage, woraus ein solches öffentliches Interesse überhaupt resultieren soll. Tatsächlich sind es allein traditionelle Modelle von Geschlechterrollen, angereichert durch eine entsprechende – auch im Ausland zum Teil etablierte – Verfassungspraxis, die ein solches Interesse begründen könnten. Dass ein offizialisiertes Amt des Ehepartners dabei keineswegs notwendig für die Staatsleitung ist, zeigt insofern das italienische Beispiel. Dass es gleichzeitig in der anderweitigen Verfassungspraxis gerade nicht auf die Stellung des Amtsträgers, sondern auf soziale Erwartungen an Geschlechterrollen ankommt, zeigt umgekehrt eindrucksvoll das Müttergenesungswerk, dessen Schirmherrschaft seit Elly Heuss-Knapp zu den klassischen Aufgaben der Ehepartnerin des Bundespräsidenten gehört. Nach §  5 der Stiftungssatzung soll diese Schirmherrschaft der Ehefrau des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin zukommen. Den ei121   Nebel, in: Piduch (Hrsg.), BHO, §  23 Rn.  1, Loseblatt-Sammlung, Stand: 06/2007, geht implizit davon aus, dass es sich bei Zuwendungen i.d.S. nur um direkte Geldleistungen handelt. Dabei hat er die Abgrenzung zu Sachleistungen nach §  63 BHO bzw. zur Nutzungsüberlassung von Vermögensgegenständen im Blick, die auch Nr.  1.2.1 VV-BHO zu §  23 in Bezug nimmt. Bei der – in der Praxis völlig unüblichen – Bereitstellung geldwerter Vorteile, die nicht in der Nutzung von Vermögensgegenständen liegen, muss dann jedoch trotzdem §  23 BHO gelten, da sonst eine teleologisch nicht zu erklärende Regelungslücke entstünde.

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gentlichen Amtsträger hält man also durchaus für geeignet, diese Funktion zu erfüllen – sofern es sich dabei eben um eine Frau handelt.

b)  Keine Ausgaben zugunsten der Person: Mindestlohn- und Tarifvertragsrecht Eine andere haushaltsrechtliche Beurteilung ließe sich nur dann begründen, wenn man die Frau des Bundespräsidenten gerade nicht als „Stelle außerhalb der Bundesverwaltung“ begreifen würde, sondern als in die Verwaltung eingegliederte Funk­ tionsträgerin. Mangels eines auf gesetzlicher Grundlage verliehenen Amtes wäre insofern zu überlegen, ob sie nicht tatsächlich in einem Beschäftigungsverhältnis zum Bundespräsidialamt steht. Bereits der Haushaltsvermerk, der die Ausgaben zu ihren Gunsten ermöglicht, legt eine Interpretation, nach der sie als Angehörige des Bundespräsidialamts eingestuft wird, durchaus nahe. Auch ist bei genauerer Prüfung des arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriffs diese Annahme keineswegs fernliegend, wenn man davon ausgeht, dass Arbeitsverträge auch ohne ausdrückliche schriftliche Vereinbarung zustande kommen können. Grundsätzlich ist als Arbeitnehmer nämlich jeder zu qualifizieren, der aufgrund eines privatrechtlichen Vertrags in persönlicher Abhängigkeit zur Arbeit im Dienste eines anderen verpflichtet ist.122 Der Begriff der Arbeit ist dabei im wirtschaftlichen Sinne zu verstehen und umfasst jede Betätigung oder jedes Verhalten, das zur Befriedigung des Bedürfnisses eines anderen dient und im Wirtschaftsleben als Arbeit qualifiziert wird.123 Da es bei den Aufgaben der Frau des Bundespräsidenten um weit mehr geht als um die klassische unbezahlte Hausarbeit von Ehefrauen, sondern vielmehr umfassende Aufgaben auch der Außendarstellung der Bundesrepublik erfasst sind, liegt eine Arbeit in diesem Sinne vor. Ob darüber hinaus auch – gerade bei Fehlen eines ausdrücklichen Arbeitsvertrags – ein tatsächliches Arbeitsverhältnis vorliegt, wird im Arbeitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt, wobei unter anderem eine Rolle spielt, ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellt und der Arbeitnehmer dieser Tätigkeit seine ganze Arbeitskraft widmet.124 Beides trifft auf die Bundes­ präsidentengattin zu. Problematischstes Merkmal in diesem Fall ist daher die persönliche Abhängigkeit zum Arbeitgeber, hier also zur Bundesrepublik Deutschland. Diese kann sich aber – gerade in atypischen Fällen – nicht allein über das Vorliegen eines Weisungsrechts definieren. Entscheidend ist vielmehr die Frage, inwieweit dem Beschäftigten Arbeitszeit, Arbeitsart und Arbeitsort durch den Arbeitsvertrag oder durch einseitige Leistungsbestimmung des Arbeitgebers vorgegeben werden125 und inwiefern der Arbeitnehmer in die fremde Arbeitsorganisation eingegliedert ist.126 Genau eine solche Eingliederung in das Bundespräsidialamt ist aber bei der Frau des Bundespräsidenten jedenfalls teilweise erfolgt. In Hinblick auf die konkrete Ausübung ihrer Tätigkeit ist   Vogelsang, in: Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 16.  Aufl. 2015, §  8 Rn.  6.   Vogelsang, in: Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 16.  Aufl. 2015, §  8 Rn.  9. 124   Hilgenstock, Mindestlohngesetz, 2015, Rn.  15. 125   Vogelsang, in: Schaub (Hrsg.), Arbeitsrechts-Handbuch, 16.  Aufl. 2015, §  8 Rn.  23. 126   Preis, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 15.  Aufl. 2015, §  611 BGB Rn.  51; Hilgenstock, Mindestlohngesetz, 2015, Rn.  16. 122

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sie zwar in vielerlei Hinsicht äußerst frei. Auf der anderen Seite ist sie an zahlreichen Stelle, etwa bei der Begleitung des Staatsoberhauptes zu Auslandsreisen oder aber bei traditionell fest verankerten Anlässen wie dem von ihr veranstalteten Neujahrs­ empfang, in ein äußerst enges (Erwartungs-)Korsett eingespannt. Auch in die Arbeitsorganisation des Bundespräsidialamtes ist sie nicht zuletzt durch ihre Mitarbeiter eng eingegliedert, die ihr zwar unmittelbar zugeordnet sind, dienstrechtlich aber dem Leiter des Persönlichen Büros des Bundespräsidenten unterstehen.127 Vor diesem Hintergrund ließen sich gegen die Arbeitnehmereigenschaft der Bundespräsidentengattin allein noch Aspekte rein familiärer Mitarbeit oder einer ehrenamtlichen Tätigkeit anführen. Im ersteren Fall bestünde eine Ausnahme von der Arbeitnehmereigenschaft, wenn die Arbeit der Partnerin als Leistung zum gemeinsamen Familienbetrieb oder Familienunterhalt angesehen werden könnte.128 Dies würde aber das Bundespräsidialamt zu einer Familienangelegenheit machen und damit jegliche Trennung von Amt und Person auf heben. Naheliegender erschiene es insofern eher, die Funktion als reines Ehrenamt zu begreifen.129 Eine feststehende Definition für diesen Begriff hat sich bisher noch nicht herausgebildet, die Abgrenzung allein nach Fragen der sozialen Anschauung erweist sich – wie gerade dieser Fall zeigt – als äußerst schwierig. Insofern erscheint es einerseits nicht unvertretbar, in Hinblick auf die entsprechende Praxis die Tätigkeit der Frau des Bundespräsidenten als ein solches Ehrenamt einzuordnen. Angesichts der Tatsache, dass die Partnerin zum einen in aller Regel ihre ganze zur Verfügung stehende Arbeitskraft in diese Tätigkeit investiert, eine andere Berufstätigkeit sogar größtenteils als problematisch und sozial inadäquat angesehen wird, und zum andern die Tätigkeit jedenfalls bedeutend genug ist, um sie organisatorisch in das Bundespräsidialamt einzugliedern und aus dessen Mitteln Mitarbeiter, Büros und Sachmittel zur Verfügung zu stellen, würde eine derartige Einordnung aber letztlich nur wieder auf der Übertragung überkommener Rollenvorstellungen der unterstützenden und begleitenden Ehefrau basieren. Will man diesen Rollenvorstellungen nicht folgen und die Frau des Bundespräsidenten als Arbeitnehmerin einordnen, hätte dies jedoch zur Folge, dass ihre Tätigkeit vergütet werden müsste – sei es nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, sei es nach dem Mindestlohngesetz. Und tatsächlich wäre eine solche Rechtsfolge auch alles andere als unbillig: Begreift man die Rolle der Frau des Bundes­ präsidenten eben nicht als rein persönliche Angelegenheit – und dies tut die deutsche Staatspraxis ganz augenscheinlich nicht – dann ist es nicht zu erklären, warum die Mitarbeiter, die die Partnerin bei ihrer Arbeit unterstützen, ein Gehalt für diese Zuarbeit beziehen, die Partnerin selbst für die Hauptarbeit jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund erscheint die mittlerweile fest etablierte Praxis in den europäischen Königshäusern, dem Ehepartner des Monarchen eine eigene Apanage zuzugestehen, aus republikanischer Sicht in ganz neuem Licht.   Schriftliche Auskunft des Bundespräsidialamtes an die Verfasserin vom 24.8.2015.  Vgl. Hilgenstock, Mindestlohngesetz, 2015, Rn.  62 f.; Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2015, §  22 Rn.  15. 129   Zur schwierigen Definition des Begriffs im Rahmen privater Dienstverhältnisse s. Riechert/Nimmerjahn, MiLoG, 2015, §  22 Rn.  120 ff. 127

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2.  Macht: Legitimation und Verantwortlichkeit Die Frage nach rechtlichen Gründen und Grenzen der akzessorischen Macht, die der Frau des Bundespräsidenten zusteht, aktiviert neben finanziellen Aspekten auch klassische Themen staatsrechtlicher Legitimationsanforderungen. Es geht um weit mehr als Geld. „Who elected her anyway?“, ist eine Frage, die in den USA in Bezug auf die auch politisch besonders einflussreiche First Lady Hillary Clinton häufig gestellt wurde.130 Rechtswissenschaftliche Überlegungen gingen sogar so weit, danach zu fragen, ob man sie – analog der Regelungen für den Präsidenten – einem eigenen Amtsenthebungsverfahren unterwerfen könnte.131 In Deutschland ist diese Frage zweifelsohne deutlich weniger dringlich, schon weil sich die potentiellen Macht­ ressourcen der Frau des Bundespräsidenten auf die Teilhabe an der kommunikativen Einflussnahme des Amtsinhabers beschränken. Dass es jedoch auch bei derartigen kommunikativen Einflüssen um Formen der Machtausübung geht, die demokratischen, nicht lediglich haushaltsrechtlichen, Grundsätzen unterliegen, ist spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung132 zum staatsrechtlichen Allgemeingut geworden, das speziell für den Bundespräsidenten jüngst noch ein Mal vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.133 Dabei zeigt die Frage nach der eigenständigen Legitimation des Quasi-Amtes zunächst ein gewisses Spannungsverhältnis zu den Überlegungen über die finanzielle Stellung der Frau des Bundespräsidenten auf: Wollte man sie – mangels entsprechender geschriebener Voraussetzungen – gerade nicht als eigenständige Amtsträgerin, sondern als Arbeitnehmerin im Dienste des Bundespräsidialamts begreifen, müsste man konsequenterweise davon ausgehen, dass sie keine eigenständige politische Macht ausübt, sondern allein in Abhängigkeit vom Bundespräsidenten vorgegebene Aufgaben erfüllt. Auf diese Weise wäre ihre Tätigkeit aber jedenfalls nicht abschließend beschrieben. Neben den zahlreichen abhängigen Aufgaben verbleibt ihr eben auch ein eigener, auch politischer Handlungsspielraum, der vor allem ihre selbständige Öffentlichkeitsarbeit betrifft und für den die Ressourcen des Bundespräsidialamts eine geldwerte Unterstützung (eben eine Zuwendung im haushaltsrechtlichen Sinne) darstellen, nicht jedoch Ausdruck einer Eingliederung in die Arbeitsstruktur sind. So wie der Bundespräsident vor allem durch die Macht des Wortes und der Taten wirkt und seine Aufgaben als Staatsorgan maßgeblich auch durch Besuche im In- und Ausland, Teilnahme an Veranstaltungen, Reden und Gespräche wahrnimmt,134 sind es auch quasi öffentliche Aufgaben, die die Frau des Bundespräsidenten für sich in Anspruch nimmt, wenn sie sich gerade in ihrer Rolle als Frau des Amtsinhabers derselben Instrumente bedient. Die facettenreiche Position zwischen abhängiger Unterstützung des Bundespräsidenten und eigenständiger öffentlicher Aufgabenerfüllung   Burrell, Public Opinion, the First Ladyship, and Hillary Rodham Clinton, 2001, S.  117.   Broyde/Schapiro, Constitutional Commentary 15 (1998), 479 ff. 132   BVerfGE 44, 125 – Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung (1976). 133   BVerfGE 136, 323 – „Spinner“ (2014). 134   Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 01/2009, Art.  54 Rn.  94; Maurer, in: FS Carstens, Bd. 3, 1984, S.  701 (713). 130 131

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lässt sich in klassischen rechtlichen Kategorien daher jedenfalls nicht ganz eindeutig fassen. Soweit die Frau des Bundespräsidenten jedoch selbständige Aufgaben aus dem Amt heraus in offizieller Funktion wahrnimmt – und ihre eigene Öffentlichkeits­ arbeit muss als eine solche Tätigkeit begriffen werden –, muss sie auch grundsätzlich jedenfalls einem Mindestmaß an demokratischen Legitimationsanforderungen ge­ nügen. Dass sie diese Voraussetzungen tatsächlich nicht erfüllt, liegt auf der Hand: Es gibt keine demokratische Entscheidung, die die Einsetzung der Bundespräsidenten­ gattin in ihr Amt begründen würde. Eine Legitimationskette im Sinne Böckenfördes ist nicht erkennbar. Die Auswahlentscheidung des Bundespräsidenten zugunsten seiner Frau als Lebenspartnerin hat er in aller Regel vor der Wahl und darüber hinaus in seiner privaten, nicht seiner amtlichen Stellung getroffen. Wollte man seine Entscheidung, seine Lebenspartnerin tatsächlich auch mit dem Amt der Bundespräsidentengattin zu betrauen,135 als weitere, legitimierende Auswahlentscheidung begreifen, fehlte es jedenfalls an einem entsprechenden gesetzlichen Rahmen für eine solche Ent­scheidung. Anders als in Frankreich, wo die formlose nachträgliche Ernennung der Ehefrau zur „persönlichen Gesandten“ des Präsidenten jedenfalls in der Verfassungspraxis als hinreichend legitimierend akzeptiert wurde, genügt ein solcher Maßstab den demokratischen Vorstellungen in der deutschen Staatsrechtstradition jedenfalls nicht. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Entwicklungs­ offenheit des Demokratieprinzips betont und insbesondere für den Bereich kom­mu­naler Selbstverwaltung auch ergänzende Elemente der output-Legitimation für zulässig erachtet – allerdings allein auf Grundlage eines Parlamentsgesetzes.136 Eine Legitimation kraft privater Lebensgemeinschaft kann diesen sehr vorsichtig gelockerten Ansprüchen daher nicht genügen. Paradoxerweise erscheinen daher an diesem Punkt gerade die europäischen Monarchien klassischen Vorstellungen von demokratischer Legitimation an der Spitze des Staates noch am Nächsten zu kommen. Aufgrund ihrer jahrhundertealten Erfahrung mit einer Praxis, in der Familienangelegenheiten zu Staatsangelegenheiten gemacht werden, sichert sich hier in den meisten Fällen das Parlament jedenfalls ein Mindestmaß an Einfluss auf den Ehepartner, indem es Mitglieder des Königshauses, die ohne Zustimmung der Legislative heiraten, von der Thronfolge ausschließt. So wenig demokratisch legitimiert nach republikanischem Verständnis somit hier das Staatsoberhaupt selbst ist – der Ehepartner ist es dafür umso mehr.

3.  Geschlechterrollen: Integration und Repräsentation Eng verwandt mit der Frage nach der kommunikativen Macht des Bundespräsidenten, an der seine Frau – in sehr bescheidenem Rahmen – partizipiert, ist schließlich die Frage nach dem Zusammenhang, in dem diese Tätigkeit mit der Aufgabe des Bundespräsidenten steht, die ihm diese kommunikative Macht verleiht. Denn wenn 135   Dass eine solche Entscheidung keineswegs zwingend getroffen werden muss, zeigt das Beispiel Italiens. 136   BVerfGE 107, 59 (91 f.) – Lippeverband (2002).

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die Frau des Bundespräsidenten im Rahmen eigenständiger Aufgabenerfüllung an seiner Machtstellung partizipiert, dann muss sich diese Partizipation letztlich auch auf die Aufgaben des Präsidenten rückbeziehen lassen. Neben den in der Verfassung genannten Pflichten, an denen seine Partnerin zweifelsohne nicht teilhat, wird die wesentliche Funktion des Bundespräsidenten in der Wahrnehmung seiner Integrations- und Repräsentationsaufgaben gesehen. Aufgabe sei es, „im Sinne der Integration des Gemeinwesens zu wirken,“137 „Staat und Volk der Bundesrepublik Deutschland nach außen und innen [zu repräsentieren] und […] die Einheit des Staates [zu] verkörpern.“138 Dass im Rahmen dieser individuellen kommunikativen Aufgabe mitunter darauf abgestellt wird, dass der Bundespräsident „im Unterschied zu allen anderen Verfassungsorganen des GG ein Ein-Mann-Organ und damit besonders geeignet [ist], „Einheit“ zu repräsentieren,“139 entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie angesichts der Tatsache, dass er der einzige Amtsträger im Staatsgefüge ist, der sein Amt gerade nicht allein, sondern mit seiner Frau zusammen bzw. durch diese unterstützt ausübt. Darüber hinaus kann aber nicht außer Acht gelassen werden, dass genau durch die Integrations- und Repräsentationsfunktion, die ausschließlich auf kommunikativer Ebene erfüllt werden kann, die symbolische Bedeutung des öffentlichen Auftritts mit seiner Ehefrau noch deutlich schwerer wiegt als bei Inhabern anderer demokratischer Ämter. Gliedert der Bundespräsident seine Partnerin als unbezahlte Unterstützerin in das Bundespräsidialamt und in seine Amtsgeschäfte ein, so macht er damit ihre halboffizielle Rolle zu einem Teil seiner Integrations- und Repräsentationspolitik. Auf diese Weise übernimmt er somit in gewisser Weise auch das von ihm gelebte traditionelle Rollenmodell in die durch ihn ausgeübte Staatssymbolik. Inwiefern solche interpretationsoffenen kommunikativen Formen der Staatssymbolik inhaltlich an der Verfassung zu messen sind – und hier möglicherweise in einen Konflikt mit dem verbindlichen Verfassungsauftrag des Staates zur Durchsetzung der Gleichberechtigung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus Art.  3 Abs.  2 GG140 gelangen könnten –, ist bis heute in der verfassungsrechtlichen Dogmatik noch wenig untersucht. Eines der ganz wenigen Beispiele, anhand derer sich eine entsprechende verfassungsrechtliche Debatte entspann, ist das Kunstprojekt „Der Bevölkerung“, das der Künstler Hans Haacke im Jahr 2000 im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes realisierte. Weiße Leuchtbuchstaben strahlen hier die Worte DER BEVÖLKERUNG nach oben und stellen so einen kontrastierenden Bezug her zu der 1916 am Westportal des Reichstagsgebäudes angebrachte Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE.141 Aufgrund dieses bewussten Gegensatzes wurde namentlich von Dietrich Murswiek die Ansicht vertreten, die Beauftragung des Kunstwerks durch den Deutschen Bundestag verstoße gegen die Verfassung: Das Kunstwerk   BVerfGE 136, 323 (331) – „Spinner“ (2014).   BVerfGE 136, 323 (332) – „Spinner“ (2014). 139   Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 01/2009, Art.  54 Rn.  7. 140  Zur Natur dieser Bestimmung als Staatsziel s. nur Bericht der GVK v. 5.11.1993, BT-Drs. 12/6000, S.  50. 141   So die Beschreibung des Kunstwerks durch den Künstler, abruf bar auf der zum Kunstprojekt gehörenden Internetseite unter http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/kunst/kuenstler/ haacke/derbevoelkerung/projekt/index.html. 137

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selbst enthalte einen verfassungswidrigen Inhalt, indem es das deutsche Volk als maßgebliche Bezugsgröße für parlamentarische Repräsentation und Verantwortlichkeit sowie für die Konkretisierung des Gemeinwohls durch die „Bevölkerung“ ersetzt sehen wolle und damit einen Widerspruch zum Demokratieprinzip des Art.  20 Abs.  2 GG herstelle, der allein eine Repräsentation des Deutschen Volkes und damit auch eine Verantwortung diesem gegenüber vorsehe.142 Würde man diese Argumentation übertragen, müsste man in der öffentlichen Stellung der Bundespräsidentengattin, die durch die Mittel des Bundespräsidialamts unterstützt und finanziert wird, einen Verstoß gegen Art.  3 Abs.  2 GG sehen, weil sie gerade nicht der Durchsetzung der Gleichberechtigung dient, sondern umgekehrt traditionelle Rollenbilder verfestigt, bei denen die Frau in Abhängigkeit zum Mann steht. Allerdings kann diese juristische Engführung des politischen und kommunika­ tiven Spielraums der Staatsorgane hier im Ergebnis genauso wenig überzeugen wie im Beispiel der Reichstagskunst.143 Neben der Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten, die für derartige indirekte kommunikative Maßnahmen bestehen – die Unterstützung eines traditionellen Rollenmodells erfolgt eben nicht unmissverständlich verbal, sondern indirekt –, spricht gegen einen solchen strengen materiellen Übergriff der Verfassung auch die eigene Stellung des Bundespräsidenten. Wie das Bundes­ verfassungsgericht hinsichtlich der Äußerungen des Staatsoberhauptes jüngst herausgehoben hat, entscheidet der Bundespräsident grundsätzlich selbst, wie er seine Repräsentations- und Integrationsaufgaben mit Leben erfüllt. Da er diese Aufgaben vor allem durch sein Auftreten, angereichert durch die Autorität seines Amtes, erfüllen kann, muss ihm insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zukommen.144 Die aktuelle faktische Rolle der Frau des Bundespräsidenten gerät zwar insofern in ein akutes Spannungsverhältnis zum verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrag. Angesichts der besonderen staatsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten überschreitet es diese Schwelle zur Verfassungswidrigkeit aber nicht.

4.  Der amerikanische Weg – ein verfassungsrechtliches Amt sui generis? Vor dem Hintergrund der verschiedenen rechtlichen Probleme einerseits und dem weitgehenden Fehlen gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Problematisierung andererseits stellt sich abschließend die Frage, inwiefern die Stellung der Bundespräsidentengattin – ähnlich wie in den USA – nicht als gewohnheitsrechtlich konstituiert angesehen und daher den beschriebenen rechtlichen Maßstäben entzogen werden kann. So wie der Bundespräsident nach herrschender Lehre zur Bundesrepublik in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis steht, ohne dass dies ausdrücklich gesetzlich geregelt ist,145 ließe sich möglicherweise auch ein solches Amtsverhältnis seiner Frau konstruieren.   Murswiek, in: FS Schiedermair, 2001, S.  211 (223 ff.).   Vgl. dazu Lenski, Öffentliches Kulturrecht, 2013, S.  75 ff. 144   BVerfGE 136, 323 (332) – „Spinner“ (2014). 145   Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Stand: 01/2009, Art.  54 Rn.  61; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S.  216. 142 143

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Gerade im Vergleich zu den USA spricht jedoch gegen eine solche Anerkennung zum einen die Tatsache, dass es in Deutschland vollständig an einer gesetzgeberischen Entscheidung fehlt, welche die Funktion der Bundespräsidentengattin anerkennen würde. Allein eine wenige Jahre alte Erläuterung im Haushaltsplan vermag eine solche gewohnheitsrechtliche Stellung jedenfalls kaum zu begründen. Anders als in den USA verfügt die Funktion der Frau des Bundespräsidenten auch in keiner Weise über eine vergleichbare Institutionalisierung, die eine solche gewohnheitsrechtliche Anerkennung nahelegen würde. Selbst im Vergleich mit Frankreich stellen sich insofern die Ressourcen, die ihr durch das Bundespräsidialamt zur Verfügung gestellt werden, als vergleichsweise bescheiden dar. Vor allem aber spricht gegen die Anerkennung eines verfassungsgewohnheitsrechtlichen Amtes sui generis, dass der einzige Ansatzpunkt für eine solche rechtliche Institutionalisierung letztlich wiederum nur die P ­ erpetuierung überkommener, auf Unselbständigkeit und Ungleichheit basierender Geschlechterrollen wäre, deren Überwindung Art.  3 Abs.  2 GG sogar als Staatszielbestimmung normiert.

5.  Rechtliches Dilemma: Weder Amtsträger noch Privatperson In der rechtlichen Betrachtung der deutschen First Lady spiegelt sich nach alledem ein strukturelles Dilemma des Nicht-Amtes, das auch in den vergleichend herangezogenen Beispielen anderer Republiken anklingt: Der Ehepartner des Staatsoberhauptes ist weder ganz privat noch ganz offiziell, weder Amtsträger noch Privatperson. Weder die rechtlichen Maßstäbe der amtlichen noch der privaten Stellung passen auf ihn. Auf welcher Seite man den Ehepartner daher auch einordnen will, für die jetzige Praxis offenbart sich immer ein Rechtsverstoß. Gerade dieser Rechtsverstoß zeigt an, wie grundlegend der Konflikt ist, in dem die derzeitige Praxis zu einfachgesetzlich, aber auch verfassungsrechtlich verankerten Grundsätzen der Trennung von Amt und Person, der Verleihung öffentlicher Funktionen nicht allein aufgrund von Familienzugehörigkeit und der Gleichberechtigung der Geschlechter steht. Eine Auflösung dieses Konflikts wäre auf zwei Wegen möglich. Die halboffizielle Funktion des (Ehe-)Partners des Bundespräsidenten könnte entweder wieder privatisiert, also schlicht gestrichen, oder aber institutionalisiert werden. Für eine solche Institutionalisierung wäre jedoch ein Mindestmaß an gesetzgeberischer Entscheidung notwendig. Möglich wäre es insofern, eine bezahlte Amtsstellung besonderer Art zu schaffen, die nur an den Lebenspartner des Bundespräsidenten verliehen werden, ähnlich wie bei politischen Beamten aber auch jederzeit durch das Staatsoberhaupt beendet werden könnte. In der praktischen Ausgestaltung erschiene ein solches Gesetz bestenfalls ungewohnt, im schlechtesten Fall absurd. Selbst diese Absurdität wäre jedoch nur Konsequenz der tatsächlich seit Jahrzehnten gelebten Situation. Zugleich würde ein solches Gesetz aber ein Mindestmaß an öffentlicher Diskussion über die Stellung des Partners des Bundespräsidenten und ihre Implikationen für das Fortschreiben traditioneller Geschlechterrollen im Parlament ermöglichen. Allein die historische Erfahrung von Wäschekörben voller Briefe für Wilhelmine Lübke und ein unveröffentlichter Briefwechsel mit dem Haushaltsausschuss sind im Vergleich

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dazu eine wenig überzeugende Grundlage, auf der eine halboffizielle Funktion an der Spitze des Staates begründet wird.

V. Ausblick: Amt und Person – Wie monarchistisch ist die Republik? Die Frau des Bundespräsidenten mag ein Amt ausüben, das es nicht gibt. Die Wirkungen ihres Amtes sind dadurch nicht weniger existent. Mit den auch im Recht verankerten Wertvorstellungen der Trennung von Amt und Person, aber auch der Gleichberechtigung der Geschlechter stehen diese Wirkungen an vielen Stellen nicht in Einklang. Es geht um Geld, Macht, Geschlechterrollen und die politische wie verfassungsrechtliche Position eines öffentlichen Akteurs, der seine Stellung allein aufgrund seiner Eheschließung erreicht hat. Eine solche unmittelbare Verbindung zwischen privater Stellung und staatsrechtlicher Position ist in die Idee der Monarchie fest eingeschrieben und konnte auch durch ihre parlamentarische und konstitutionelle Überformung nicht grundlegend beseitigt werden,146 als problematisch wird sie hier heute daher vor allem dort empfunden, wo sie mit traditionellen Bildern von Geschlechterrollen in Konflikt gerät. In republikanisch organisierten Verfassungsstaaten, die ihrer Konzeption nach auch beim Amt des Staatsoberhauptes die dem liberalen Staatsverständnis grundlegende Trennung von privat und öffentlich realisieren wollen,147 muss eine solche Position, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wird und zum Teil nicht unerheblichen politischen Einfluss ausübt, notwendigerweise zu Brüchen und Widersprüchen führen. Die Rolle des Ehegatten des Staatsoberhaupts scheint so das größte monarchische Erbe moderner Republiken zu sein:148 eine öffentliche Funktion ohne demokratische Legitimation, ohne rechtliche und politische Verantwortlichkeit, vergeben allein aufgrund familiärer Beziehungen. Wollte man den Widerspruch, in dem das derzeitige Amt der Frau des Bundes­ präsidenten steht, auflösen, könnte man entweder das Amt rechtlich verselbständigen. Dafür wäre eine parlamentsgesetzliche Grundlage erforderlich. Oder aber man könnte es einfach abschaffen. Ein Blick nach Italien zeigt, wie wenig kühn dieser Vorschlag ist. Büro in Bellevue, Mitarbeiter und sonstige Haushaltsmittel würden gestrichen. Die Frau des Bundespräsidenten – oder der Mann der Bundespräsidentin – würde wie jeder andere Partner eines Politikers auch im privaten Rahmen diejenigen Unterstützungsleistungen erbringen, die er oder sie persönlich für angemessen hielte. Und Deutschland würde etwas mehr Republik wagen.

  Damit soll keineswegs verkannt werden, dass die Trennung von Amt und Person Grundlage der modernen Monarchien ist, wie Dollinger, in: Werner (Hrsg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, 1985, S.  325 (334 ff.), herausarbeitet. 147  Vgl. zur Bedeutung dieser Unterscheidung gerade für traditionelle Geschlechterrollen nur Sacksofsky, ZRP 2001, 412 (415). 148   Schönberger, in: Biskup/Kohlrausch (Hrsg.), Das Erbe der Monarchie, 2008, S.  284 ff., arbeitet demgegenüber das monarchische Erbe im Amt des deutschen Bundespräsidenten heraus, nimmt dessen Ehefrau jedoch – aufgrund fehlender rechtlicher Institutionalisierung in Deutschland – nicht in den Blick. 146

La Cour, c’est moi Zur Personalisierung der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit im Vergleich Deutschland – England – USA* von

Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago), Universität Bayreuth Inhalt I. Gerichtsforschung zwischen Person und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Das Beispiel des U.S. Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Die Personalisierung einer Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) John Marshall und die Erfindung von judicial review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Der Taney Court und die Sklavenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Richterpersönlichkeiten im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 d) Eine Institution der Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 e) Personalisierung im politischen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Verfassungsinterpretation und Akteurszentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Rechtsprechen in der Tradition des Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Rechtserkenntnis zwischen Pragmatismus und checks and balances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Das Amt macht die Person, aber erst Personen machen die Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 III. Das Beispiel englischer Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Lord Denning als Schlüsselfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Rechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Präjudizienbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 d) Stand, Status und Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 e) Eine ambivalente Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Denning und der Wandel des englischen Richterbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Die richterliche Konstruktion einer „Verfassungssouveränität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Lord Bingham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Sir John Laws . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Das Beispiel des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Ein institutionenbezogenes Richterbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157   Zum Gedenken an Dr. Ulrike Bumke (1958–2016), Richterin am Bundesverwaltungsgericht.

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a) Zurücktreten der Person hinter das Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Zurücktreten der Person hinter die Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Zurücktreten der Person hinter das System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2. Richter als Teile eines Kollegialorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Konsensorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Juridifizierung der Beratungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 d) Richter in der Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 e) Ein Seitenblick auf Bundesgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 f) Die Ignoranz der jüngeren deutschen Justizgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Erklärungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Gerichtsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Gerichtsautorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Materielles Verfassungsverständnis und Maßstabsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 V. Amt und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 1. Relationen in unterschiedlichen Rechtskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Demokratische und rechtsstaatliche Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Medien und Öffentlichkeitswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Ist die Personalisierung des BVerfG zu vermeiden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5. Erkenntnisinteressen und Fragestellungen einer Personalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

I.  Gerichtsforschung zwischen Person und Institution In der Wissenschaftsgeschichte des Rechts ist „Personalisierung“ eine gängiger Gegenstand. Man forscht zu einzelnen Wissenschaftlern und diese sind nicht als Individuen ein plausibler Erkenntnisgegenstand, sondern stehen auch pars pro toto für die Wissenschaftsgeschichte oder für die Geschichte der Rechtsentwicklung.1 Recht als gelehrtes Recht kann auf den Beitrag von Individuen nicht verzichten. In der Institutionengeschichte hingegen ist – wenn ich recht sehe – eine Personalisierung weit weniger üblich. Es ist immer die Institution, die handelt, nicht der Amtsinhaber, zumal wenn es um Gerichte geht. Rechtsschöpfung ist eine Gemeinschaftsleistung. Daher sind viele große Richter unbekannt geblieben.2 Im Müller-Arnold-Prozess entschied am Ende das Kammergericht, aber wer kennt schon die Namen der Richter? 3 Vielleicht kennt man noch Eduard v. Simson,4 den ersten Präsidenten des   Zu Stärken und Schwächen personalistischer Wissenschaftsgeschichte vgl. Oliver Lepsius, Personengebundene oder strukturorientierte Bewertungskriterien für juristisches Verhalten im Nationalsozialismus, in: H. Nehlsen/G. Brun (Hrsg.), Münchener rechtshistorische Studien zum Nationalsozialismus, 1996, 63–102. 2   So auch Albrecht Wagner, Der Richter, 1959, 21. 3  Vgl. Malte Dießelhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, 1984; Joachim Pohl, Sechs preußische Kammergerichts- und Regierungsräte in Festungshaft auf der Zitadelle Spandau, in: K.-C. Clavée (Hrsg.), Justiz in Stadt und Land Brandenburg im Wandel der Jahrhunderte, 1998, 95–105; Tilman Repgen, Der Müller Arnold und die Unabhängigkeit des Richters im friderizianischen Preußen, in: U. Falk/M. Luminati/M. Schmoeckel (Hrsg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte, 2008, 223–253. 4   Ernst Wolff, Eduard von Simson, 1929; Bernd-Rüdiger Kern u.a. (Hrsg.), Eduard von Simson (1810– 1899), 2001; Elmar Wadle, Eduard v. Simson: erster Präsident des Reichsgerichts, in: B.-R. Kern/A. Schmidt-Recla (Hrsg.), 125 Jahre Reichsgericht, 2006, 77–85. 1

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Reichs­gerichts, Bill Drews,5 den Präsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichts oder Walter Simons,6 den Präsidenten des Reichsgerichts in der Weimarer Republik. Roland Freisler,7 Präsident des NS-Volksgerichtshofs, steht für die dunkle Seite des Amtes. Wenn ich recht sehe, haben es aber erst die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Stellen wir das Thema aber in eine vergleichende Perspektive, stellt sich die Sache anders dar.8 Besonders im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern fällt der dort höhere Grad der Personalisierung und Akteurszentrierung auf. Man lese eine beliebige Geschichte des U.S. Supreme Court, dem wahrscheinlich am intensivsten erforschten Rechtsorgan überhaupt, und wird feststellen, dass die Institutionengeschichte zugleich die Geschichte von Personen und ihrem Einfluss ist9 – fast wie die in Deutschland stark personalisierte Wissenschaftsgeschichte. In den USA jedenfalls dominiert eine akteurszentrierte Aufarbeitung von Gerichten die Entwicklungsgeschichte des Rechts. Man vergleiche in der US-amerikanischen Literatur nur die Zahl der Richterbiographien mit jener der Wissenschaftlerbiographien. Nahezu jeder Supreme Court Richter ist biographisch aufgearbeitet10 und auch Richter an anderen Bundesgerichten sowie an den Gerichten der Staaten (die für die Entwicklung des Common Law zuständig sind) genießen die Aufmerksamkeit von Biographen.11 Aber wer wäre in den USA an einer Professorenbiographie interessiert?12   Carl Hermann Ule, Bill Drews, in: Männer der deutschen Verwaltung, 1963, 261–283.   Bernhard Müllenbach, Walter Simons und das Reichsgericht, JöR 64 (2016), unten S.  567  f f. 7   Helmut Ortner, Der Hinrichter, 1995; Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1987. 8   Verschiedene Erscheinungsformen des Richters vergleichend schon Wagner (Fn.  2 ), 81–122, der resümiert: Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte böten wertvolle Einblicke in das Wesen des Richteramtes (81). 9   Schon die zeitlichen Zäsuren werden anhand der Amtsperioden der Chief Justices vorgenommen. Man spricht vom „Warren Court“ oder vom „Rehnquist Court“. Dabei hat der Chief Justice auch nur eine von neun Stimmen, weshalb sein Wechsel nicht eine Zäsur in der Rechtsprechung darstellen muss. 10   Vgl. ausgewählte Angaben unten in Fn.  26–34. 11   Prominente Beispiele: Leonard W. Levy, The Law of the Commonwealth and Chief Justice Lemuel Shaw, 1957; Gerald Gunther, Learned Hand: The Man and the Judge, 1994; David Dorsen, Henry Friendly, Greatest Judge of His Era, 2012. 12   Nur wenige US-amerikanische Rechtsprofessoren sind überhaupt mit einer Wissenschaftsbiographie bedacht worden und dies in der Regel auch nur, weil sie entweder Richter wurden oder ein anderes Amt versahen. Ersteres gilt etwa für Felix Frankfurter (siehe Fn.  28) oder Richard Posner: Douglas Baird (Hrsg.), Commemorating 25 Years of Judge Richard A. Posner, Univ. of Chicago L. Rev. 74 (2007), 1641–1931; Elena Kagan (Hrsg.), Commentating 25 Years of Richard A. Posner, the Judge, Harvard L. Rev. 120 (2007), 1121–1277. Eine Biographie erhielt James Landis, freilich nicht als Dean der Harvard Law School, sondern weil er erster Commissioner der amerikanischen Finanzmarktaufsichtsbehörde SEC war, vgl. Donald A. Ritchie, James M. Landis: Dean of the Regulators, 1980. Karl Llewellyn, der fast den Typus des amerikanischen Rechtswissenschaftlers verkörpert und als einer der wenigen Professoren eine große Biographie erhielt, wirkte am Modellgesetz des Uniform Commercial Code mit, was seinen Ruhm entscheidend mitbegründete, vgl. William Twining, Karl Llewellyn and the Realist Movement, 1973; Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Band II, 1975, 284–290. Eine Sonderstellung nimmt Roscoe Pound ein, weil er nur universitäre Positionen bekleidete und trotzdem Biographie-würdig wurde, vgl. David Wigdor, Roscoe Pound: Philosopher of Law, 1974; Edward B. MacLean, Law and Civilization: The Legal Thought of Roscoe Pound, 1992; Nathalie E. H. Hull, Roscoe Pound and Karl Llewellyn: Searching for an American Jurisprudence, 1997; Fikentscher, op.cit., 225–239. Vgl. auch George W. Liebmann, The Common Law Tradition. A Collective Portrait of Five Legal Scholars: Edward H. Levi, Harry Kalven, Jr., Karl Llewellyn, Philip Kurland, Kenneth Culp Davis, 2005 (alle Professoren an der University of Chicago Law School). 5 6

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Wissenschaftler sind dort weder besonders angesehene noch für die Rechtsentwicklung besonders wichtige Persönlichkeiten, Richter hingegen schon. Das Thema – Personalisierung oder Institutionalisierung von Gerichten, Akteurszentrierung oder Systemorientierung – wird erst durch die vergleichende Perspektive interessant; aus einem rein deutschen Kontext erschließt es sich noch nicht. Daher bediene ich mich im Folgenden einer Vorgehensweise, die historische Verlaufsanalysen mit einem rechtsvergleichenden und rechtsmethodischen Erkenntnisinteresse verbindet. Personalisierung tritt als Fremdpersonalisierung wie als Selbstpersonalisierung auf. Rechtsprechung wird einerseits als individuell zurechenbarer Prozess beschrieben, andererseits agieren Richter selbst innerhalb dieses Prozesses als Individuen. Das Verhältnis von Amt und Person des Richters hat eine doppelte Bedeutung. Personalisierung ist Ausdruck einer objektiven Funktionsbeschreibung und eines subjektiven Amtsverständnisses. Lassen sich beide klar trennen? Wann überwiegt dieses über jenes? Was lernen wir über Verfassungsgerichte, wenn wir eine personalisierte, akteurszentrierte Perspektive einnehmen? Was lernen wir über die jeweiligen Rechtssysteme, in denen diese Verfassungsorgane wirken? Was lernen wir über juristisches Denken als solches, über Begründungs- und Entscheidungstechniken? Diese Fragestellung soll am Beispiel der USA, Englands und der Bundesrepublik erläutert und begründet werden. Die Auswahl dieser drei Länder ist durch den Grad der Personalisierung bestimmt: Gerade in der angelsächsischen Rechtskultur ist diese traditionell hoch. Es empfiehlt sich daher, sich auf zwei Rechtsordnungen aus diesem Rechtskreis zu beziehen, und deren richterliches Amtsverständnis dann mit dem deutschen zu kontrastieren. Natürlich wäre es aufschlussreich, auch europäische oder französische Gerichte in den Vergleich einzubeziehen.13 Doch mag eine Begrenzung für die prinzipielle Behandlung der Fragestellung erst einmal genügend Vergleichsmaterial erbringen.

II.  Das Beispiel des U.S. Supreme Court Beim U.S. Supreme Court sticht die Personalisierung sogleich ins Auge. Seine Richter sind, zumal im 20. Jahrhundert, namentlich allgemein bekannt. Die Geschichte des Gerichts wird überwiegend als eine Geschichte von Personen geschrieben, von ihren Sozialisationserfahrungen, von den Gruppenprozessen im Gericht.14

13   Gerade zu französischen Gerichten sind in letzter Zeit interessante Untersuchungen zu den gruppeninternen Prozessen und Abläufen erschienen, vgl. Bruno Latour, La fabrique du droit: une ethnographie du Conseil d’État, 2002 (engl. Übers. 2010); Dominique Schnapper, Une sociologue au Conseil constitutionnel, 2010; dies., Der französische Verfassungsrat: ein Blick von Innen, in. D. Grimm/A. Kemmerer/C. Möllers (Hrsg.), Gerüchte vom Recht, 2015, 137–148. 14   Vgl. etwa Peter Irons, A People’s History of the Supreme Court. The Men and Women Whose Cases and Decisions Have Shaped Our Constitution, 1999; ders., The Courage of Their Convictions: Sixteen Americans Who Fought Their Way to the Supreme Court, 1988.

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1.  Die Personalisierung einer Institution a)  John Marshall und die Erfindung von judicial review Am Beginn der Personalisierung des U.S. Supreme Court steht John Marshall. Er gilt als der Begründer, wenn nicht gar Erfinder der Verfassungsgerichtsbarkeit.15 Marshall machte aus dem Obersten Gerichtshof der USA ein Verfassungsgericht: Seine Erfindung des richterlichen Prüfungsrechts mit Normverwerfungsmonopol (Marbury v. Madison, 1803) ist das scheinbar beiläufige Produkt einer kunstvollen Begründung in einer verzwickten Kompetenzfrage, deren Entscheidung politisch niemandem wehtat.16 In der Sache ging es um die Frage, ob der neu gewählte Präsident Thomas Jefferson noch Ernennungen seines Amtsvorgängers John Adams vollziehen musste, bei denen die Ernennungsurkunden im Trubel des Wahlkampfs und der Übergangszeit liegen geblieben waren. Ernennungen mit denen der alte Präsident schnell noch seine Männer auf Posten hieven wollte, waren daher förmlich nicht vollzogen worden. Prekär an dem Fall war auch, dass Marshall selbst als Secretary of State in Adams’ Kabinett für die Ernennungsvorgänge zuständig gewesen war und selbst zu den Beförderten zählte, weil er von Adams noch kurz vor der Amtsübergabe an Jefferson zum Chief Justice ernannt worden war.17 Marshall musste also in einer Sache entscheiden, für die er zuvor zuständig gewesen war. Wie kann man einen solchen Fall gewinnen ohne in einen Konflikt mit dem neuen Präsidenten zu geraten? Marshall entscheidet janusköpfig. Seine Partei (die Federalists) und seine Institution (der U.S. Supreme Court) gewinnen den Fall juristisch, der Präsident aber behält politisch Recht: Es besteht zwar ein Anspruch, die Ernennungsurkunde auszuhändigen, jedoch keine Zuständigkeit des Gerichts, diesen Anspruch durchzusetzen, weil die Rechtswegregelung, die der Kongress im Judiciary Act vorgenommen hatte, in der Auslegung, die Marshall dem Gesetz gab, verfassungswidrig war. Damit unterbleibt die Ernennung, obwohl der Titel materiell bestand. Der alte Präsident behält Recht,   Vgl. aus der umfangreichen Literatur Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Der Staat 42 (2003), 267 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, JZ 2003, 269–275; Winfried Brugger, Der Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Marbury v. Madison, in: FS Detlef Junker, 2004, 115–136; Rainer Wahl, Große Entscheidungen: Marbury v. Madison, Lüth, Costa/E.N.E.L. in: A. Anter (Hrsg.), Wilhelm Hennis‘ Politische Wissenschaft, 2013, 181–206; Earl Warren, Chief Justice Marshall: Expounder of the Constitution, in: J. Choper (Hrsg.), The Supreme Court and its Justices, 1987 (1955), 48–52. 16   Marbury v. Madison gehört zu den am intensivsten diskutierten Entscheidungen überhaupt; vgl. aus der neueren Literatur etwa Stephen Breyer, Making Our Democracy Work, 2010, 12–21; Martin Loughlin, Foundations of Public Law, 2010, 289–296; Philip Hamburger, Law and Judicial Duty, 2008; Mark Tushnet (Hrsg.), Arguing Marbury v. Madison, 2005; Julien Henninger, Marbury v. Madison: un arrêt fondateur, mal fondé, 2005; William E. Nelson, Marbury v Madison: The Origins and Legacy of Judicial Review, 2000; Paul W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997; Jesse Choper, Judicial Review and the National Political Process: A Functional Reconsideration of the Role of the Supreme Court, 1980; Harold H. Burton, Marbury v. Madison: The Cornerstone of Constitutional Law, in: Choper (Fn.  15), 14–28 (1950). 17   Zu den Details Heun (Fn.  15), 267–269; Brugger (Fn.  15), 116–118; Irons, People’s History (Fn.  14), 96–107. 15

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aber der neue Präsident gewinnt den Prozess. Eine andere Entscheidung wäre in der politischen Konstellation auch gar nicht durchsetzbar gewesen: Wie hätte der Supreme Court den neuen Präsidenten zwingen können, die Ernennungen noch durch Aushändigen der Urkunden zu vollziehen? Der neue Präsident gewinnt den Prozess freilich nur, weil Marshall das Gesetz, das den Rechtsweg zum Supreme Court eröffnet hatte, für verfassungswidrig erklärte. Marshall entscheidet politisch und juristisch äußerst trickreich:18 Materiellrechtlich gibt er Adams (und damit sich selbst in seiner früheren Position als Secretary of State) Recht. Die Erfindung von judicial review ist praktisch also Nebenprodukt einer politisch janusköpfigen Entscheidung. Um einen Konflikt zwischen materiellem Recht und Prozessrecht lösen zu können, begründet Marshall die Notwendigkeit, Gesetze am Maßstab der Verfassung zu messen und zu verwerfen. Politisch spielte das Entscheidungsergebnis den Machthabern in die Hände. Marshall wusste, dass sie nicht gegen den Supreme Court vorgehen würden, weil die Entscheidung ihnen entgegenkam, damit jedoch die Inanspruchnahme von judicial review stillschweigend billigten. Aus dem Obersten Gerichtshof war ein Verfassungsgericht mit Normenkontrollbefugnis geworden. Winfried Brugger nennt das Vorgehen Marshalls einen coup de cour, eine strategische Meisterleistung in resultathafter Rechtskonkretisierung und Verfassungspolitik.19 Marbury v. Madison kann man auch als die Geburtsstunde des U.S.-amerikanischen Verfassungsrechts bezeichnen. Die Entscheidung ist in mehrfacher Weise symbolträchtig. Sie begründet die institutionelle Stellung und Kompetenz des Gerichtshofs aus einer hochgradig politischen Konstellation heraus, in die alle Beteiligten, sogar der Richter, persönlich involviert waren. Personalisierter kann ein Rechtsstreit nicht sein. Und dieser Fall steht am Anfang des amerikanischen Verfassungsrechts, prägt Institutionen und Kompetenzen. Von Anbeginn ist für die amerikanische Entwicklung klar: Die Kontexte und die Akteure bestimmen die strukturellen Entscheidungen. Einem personalisierten Institutionenverständnis ist der Boden bereitet. Marshalls Wohnsitz in Richmond/Virginia ist heute übrigens ein Museum.20 Man wird durch die Einrichtung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt und darf Devotionalien bestaunen. Die Fischmesser pflegen besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Ergriffen schreiten die Besucher durch die Räume wie hierzulande im Weimarer Frauenplan. Wer aber würde in Europa das Fischbesteck eines Richters bestaunen? Marshall ist eben „the original judicial hero“.21 Nur: Welches Land außer den USA würde einen Richter zu seinen Nationalhelden zählen?

18   Brugger (Fn.  15), 122, spricht von einer bewussten Manipulation der Argumente durch Marshall, um mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. 19   Brugger (Fn.  15), 132. 20   Das Gebäude, Baujahr 1790, blieb bis 1911 in Familienbesitz. Vgl. www.preservationvirginia.org/ visit/historic-properties/the-john-marshall-house. 21  So Cass Sunstein, Constitutional Personae, 2015, 7.

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b)  Der Taney Court und die Sklavenfrage Die Personalisierung des Supreme Court nahm im Verlauf seiner Entwicklung eher zu als ab. Als der Gerichtshof 1857 auf seine erste Existenzkrise zusteuerte, im Fall Dred Scott v. Sandford entweder die Sklaverei zu billigen und damit die Südstaaten zu beruhigen oder die Sklaverei zu verwerfen und dadurch eine Sezession auszulösen, wurde die Personalisierung erneut deutlich. Der Supreme Court entschied 1857 mit 7:2, dass dem Kongress 1820 die Gesetzgebungskompetenz für den „Missouri Compromise“ gefehlt hatte, also das Verbot der Sklaverei nördlich eines bestimmten Breitengrades nichtig war. Zum zweiten Mal hob der Supreme Court ein Bundesgesetz auf.22 Chief Justice Roger Taney dachte, er könne die angespannte Lage durch eine Zuständigkeitsregelung beruhigen, ähnlich wie einst Marshall, indem er dem Bund die Kompetenz verwehrte und damit den Staaten die Entscheidung über die Zulässigkeit der Sklaverei übertrug. Der Status eines Bürgers war damit aber zum Spielball der politischen Mehrheiten in den jeweiligen Staaten geworden. In der Folge wurde der Abolitionismus gestärkt, die Demokratische Partei spaltete sich, und die Südstaaten wähnten sich im Recht, was ihre Forderungen verschärfte. Das Land steuerte auf den Bürgerkrieg zu.23 Pikant an der Entscheidung war auch der Umstand, dass innerhalb des Gerichts das Abstimmungsverhalten mit der Herkunft der Richter aus Sklavenstaaten konvergierte.24 Jetzt zeigen sich die negativen Seiten der Personalisierung. Es herrscht zwar ein government of laws and not of men,25 aber es kommt darauf an, wer entscheidet.

22   Dred Scott v. Sandford, 60 U.S.  393 (1857). Vgl. etwa Walter Ehrlich, They Have No Rights: Dred Scott’s Struggle for Freedom, 1979; ders., in: K. Hall (Hrsg.), The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States, 2.  Aufl. 2005, 887–889; Don Fehrenbacher, The Dred Scott Case: Its Significance in American Law and Politics, 1978; Irons, People’s History (Fn.  14), 157–178; Breyer, Democracy (Fn.  16), 32–48, der aus der Entscheidung auch die Lehre zieht, in Urteilen besonders auf sensiblen Sprachstil zu achten. Eine gute Begründung sei überdies „principled, reasoned, transparent, and informative“ sowie „persuasive“ (43). Mit diesen eher allgemeinen Empfehlungen will Breyer den Einfluss individueller Vorverständnisse der Richter aushebeln, die in der Dred Scott-Entscheidung offenbar relevant waren. 23   Zur Bedeutung der Entscheidung für den Ausbruch des Sezessionskrieges Irons, People’s History (Fn.  14), 177–185; Breyer, Democracy (Fn.  16), 44 f. 24   Taney selbst stammte aus einer Sklaven haltenden Familie. Irons, People’s History (Fn.  14), 177, bescheinigt ihm „proslavery extremism“. Vgl. zur regionalen und sozialen Zusammensetzung des Taney Court ebd., 163–166: „Judicial politics is not always simple, but five out of nine justices who decided his [Dred Scott’s] case were southerners, whose personal views and sectional ties made it virtually certain that Dred Scott would remain a slave.“ (164 f.). Siehe aber auch Charles Evans Hughes, Roger Brooke Taney: A Great Chief Justice, in: Choper (Fn.  15), 53–63 (1931). 25   Diese viel zitierte Formel geht auf John Adams zurück, vgl. Massachusetts Constitution, Bill of Rights, Article 30 (1780), in: The Works of John Adams 4 (1851) 230 sowie „Novanglus Papers“ No. 7 (1774), ebd., 106. Adams berief sich auf James Harrington, The Commonwealth of Oceana (1656), 1771, 35 „the empire of laws and not of men“.

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c)  Richterpersönlichkeiten im 20. Jahrhundert Im 20. Jahrhundert werden Richter vollends zu den prägenden Figuren der Rechtsentwicklung. Oliver Wendell Holmes26 und Louis Brandeis27 bilden ein Gegensatzpaar: der darwinistische Pragmatiker und der folgenorientierte Sozialreformer. Felix Frankfurter28 und William O. Douglas29 stehen für eine andere Haltungsfrage. Beide von Roosevelt im New Deal ernannt, entwickeln sie sich unterschiedlich: Frankfurter wird der große Anhänger des judicial self-restraint,30 Douglas hingegen der freihändige Gestalter. Hugo Black31 und Earl Warren32 markieren ein weiteres Gegensatzpaar: der Altliberale Black mit seinem wortgetreuen Verfassungsverständnis und der aktivistische Warren, der die Civil Rights ausdehnte („the iconic heroic judge“33). Besondere historiographische Zuwendung erfahren auch diejenigen Richter, die als erste eine Personengruppe im Gericht vertreten haben: Thurgood Mar26   Fikentscher, Methoden (Fn.  12), 161–220; Felix Frankfurter (Hrsg.), Mr. Justice Holmes and the Supreme Court, 1938 (dt. Übers. 1949); Liva Baker, The Justice from Beacon Hill, 1991; Catherine J. Brown, Yankee from Olympus, 1995; Samuel Konefsky, The Legacy of Holmes and Brandeis: A Study in the Influence of Ideas, 1956; Albert Alschuler, Law without Values, 2000; Harold R. McKinnon, The Secret of Mr. Justice Holmes, in: Choper (Fn.  15), 72–88 (1950); Jerome Frank, Law and the Modern Mind, 1936, 253–261. 27   Leonard Baker, Brandeis and Frankfurter: A Dual Biography, 1975; Melvin Urofksy, Louis D. Brandeis and the Progressive Tradition, 1981; ders., Louis D. Brandeis, 2009; Philippa Strum, Louis D. Brandeis: Justice for the People, 1984; Nelson L. Dawson, Brandeis and America, 1989; Edward A. Purcell, Brandeis and the Progressive Constitution, 2000. 28   Melvin Urofsky, Felix Frankfurter: Judicial Restraint and Individual Liberties, 1991; James F. Simon, The Antagonists: Hugo Black, Felix Frankfurter and Civil Liberties in Modern America, 1989; Jeffrey D. Hockett, New Deal Justices: The Constitutional Jurisprudence of Hugo L. Black, Felix Frankfurter, and Robert H. Jackson, 1996. Felix Frankfurter war selbst ein fleißiger Autor, vgl. seine Werke: The Public and Its Government, 1964; Of Law and Men, 1956; From the Diaries of Felix Frankfurter, 1975. Zu seinen verwaltungsrechtlichen Schriften siehe Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, 277–293. 29   James F. Simon, Independent Journey: The Life of William O. Douglas, 1980; Edwin P. Hoyt, William O. Douglas: A Biography, 1979; James C. Duram: Justice William O. Douglas, 1981. Douglas war mit fast 37 Jahren der am längsten amtierende Richter des Supreme Court. Er hielt mehr Reden und schrieb mehr Bücher als jeder andere. Als Auswahl unter den rund 30 Monographien von William O. Douglas: Stare decisis, 1949; Beyond the High Himalayas, 1952 (dt. Übers. 1955); We the Judges: studies in American and Indian constitutional law from Marshall to Mukherjea, 1956; The Right of the People, 1958; America Challenged, 1960; Of Men and Mountains, 1962; The Anatomy of Liberty, 1963; Freedom of the Mind, 1964; Points of Rebellion, 1970; The Court Years: The Autobiography, 1980. 30   Jüngst in dieser Rolle als Vorbild gepriesen durch Sunstein (Fn.  21), 18, 70–72. 31   James J. Magee, Mr. Justice Black: absolutist on the court, 1980; Tony Allan Freyer, Justice Hugo Black and Modern America, 1990; Howard Ball/Phillip J. Cooper, Of Power and Right: Hugo Black, William O. Douglas, and America’s constitutional revolution, 1992; Howard Ball, Hugo L. Black: cold steel warrior, 1996; John P. Frank, Hugo Black: He Has Joined the Giants, in: Choper (Fn.  15), 115–124 (1972). 32   Alexander Bickel, Politics and the Warren Court, 1965; Leo Katcher, Earl Warren: A Political Biography, 1967; Leonard W. Levy (Hrsg.), The Supreme Court under Earl Warren, 1972; G. Edward White, Earl Warren: A Public Life, 1982; ders., Earl Warren: Justice for All, 2001; Bernard Schwartz, Super Chief: Earl Warren and His Supreme Court, 1983; ders., The Warren Court, 1996; Ed Cray, Chief Justice: A Biography of Earl Warren, 1997; Irons, People’s History (Fn.  14), 413 ff.; Harry N. Scheiber, Earl Warren and the Warren Court, 2007; Jim Newton, Justice for All. Earl Warren and the Nation He Made, 2007. 33   Sunstein (Fn.  21), 7.

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shall als erster Schwarzer, Sandra Day O’Connor als erste Frau.34 Bemerkenswert mag überdies sein, dass viele Richter nicht nur eine, sondern regelmäßig mehrere Biographien erhalten, zur Deutung und Wieder-Deutung ihrer Handlungen und Entscheidungen.

d)  Eine Institution der Individuen Der hohe Grad der gleichermaßen populären wie wissenschaftlichen Personalisierung eines Kollegialorgans ist trotz allem überraschend. Jedenfalls verhindert die Organisationsstruktur des Gerichtshofs nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die Personalisierung der Institution. Eher das Gegenteil scheint richtig: Der Supreme Court wird weniger als ein Kollegialorgan begriffen sondern als eine Versammlung von neun Individualisten. Ihr Verhältnis wird nicht primär durch die rationalisierenden Verfahrensweisen einer institutionellen Ordnung geregelt, sondern ist Ausdruck individueller Präferenzen und Koalitionen. Es sind und bleiben die Individuen, die die Institution ausmachen. Wie das Gericht entschieden hat und warum es in einer bestimmten Weise entschieden hat, ist das Ergebnis von richterlichen Überzeugungen, nicht das Ergebnis einer pfadabhängigen Dogmatik. Dass die politischen Überzeugungen der Richter Auswirkungen aufs öffentliche Leben haben, ist in der Entscheidungskultur des U.S. Supreme Court angelegt. Die Relevanz jedes Einzelnen wird überdies durch die Häufung von 5:4-Entscheidungen verstärkt.35 Heute kennt jeder politisch Interessierte in den USA die Namen und Lebenshintergründe der neun Richterinnen und Richter; oft sind jene Hintergründe auch wesentliche Qualifikationsmerkmale. An die Stelle der Rekrutierung von Süd- und Nordstaatlern, zu Taneys Zeit noch maßgebliche Erwägungsgründe, sind inzwischen andere Kriterien getreten, insbesondere Geschlecht oder (ethnische) Herkunft. Dem Proporz der Religionsgemeinschaften wird hingegen kaum Beachtung geschenkt, denn gegenwärtig sind zwei Drittel der Richter Katholiken, ein Drittel Juden. Zwar förderlich aber letztlich unwichtig ist auch, ob man bereits Erfahrung in der rechtsprechenden Gewalt gesammelt hat.36 Die Eignung als Richter bemisst sich nicht nur 34   Vgl. z.B. Roger Goldman/David Gallen, Thurgood Marshall: Justice for All, 1992; Carl T. Rowan, Dream Makers, Dream Breakers: The World of Justice Thurgood Marshall, 1993; Mark Tushnet, Making Constitutional Law: Thurgood Marshall and the Supreme Court, 1961–1991, 1997; Juan Williams, Thurgood Marshall: American Revolutionary, 1999; Joan Biskupic, Sandra Day O’Connor: How the First Woman on the Supreme Court Became its Most Influential Justice, 2005; Linda Hirshman, Sisters in Law: How Sandra Day O’Connor and Ruth Bader Ginsburg Went to the Supreme Court and Changed the World, 2015. 35   Vgl. etwa Laurence H. Tribe, What Difference Can a Justice or Two Make? (1985), in: Choper (Fn.  15), 236 (244): „That complexity makes all the more crucial a sensitive inquiry into the full range of views each justice will bring to the Court – unless, of course, one still believes that substantive views can somehow be excluded from a justice’s role.“ 36   Felix Frankfurter, The Supreme Court in the Mirror of Justices, in: Choper (Fn.  15), 138–153 (1958) diskutiert die Annahme, richterliche Erfahrung sei eine unverzichtbare Qualifikation. Er verweist darauf, dass viele große Richter des Supreme Court zuvor keine Richterämter inne gehabt haben und diejenigen mit Erfahrung bekannten, sie habe ihnen am Supreme Court wenig geholfen. Frank­ furter hebt hervor, dass weder die Rechtsfragen noch die Verfahren mit der Tätigkeit von Appellationsrichtern vergleichbar seien, weshalb diesbezügliche Erfahrung unerheblich sei (146 ff.).

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nach professioneller Leistung, sondern aus einem Bündel von Kriterien, von denen nicht wenige in der persönlichen Sozialisationserfahrung, in Überzeugungen und im Charakter gründen. Dementsprechend interessiert sich auch die breitere Öffentlichkeit für die Herkunft und die Meinungen der Richterinnen und Richter. Schon das Nominierungsverfahren mit den „confirmation hearings“ im Judiciary Committee des Senats bietet dazu reichlich Gelegenheit.37 Wenn Bücher über den U.S. Supreme Court sich als Bücher über seine Richter entpuppen38 und nicht selten ihre internen Konflikte aufzudecken versprechen,39 ist das nichts Besonderes (in der Bundesrepublik hingegen würde man sich über eine konsequente Personalisierung eines Gerichts doch sehr wundern). Die individualisierende Perspektive wird zusätzlich noch durch die Richter selbst befördert. Sie schreiben populäre Autobiographien,40 erläutern ihre verfassungsrechtliche Haltung,41 geben Überblicksdarstellungen über das Gericht42 oder verfassen Anleitungsbücher, wie man erfolgreich plädiert und Richter überzeugt.43 Richter schreiben für die breite Öffentlichkeit, um zu vermitteln, „was das Gericht macht und wie es arbeitet“.44

37  Vgl. Paul M. Collings, Supreme Court Confirmations and Constitutional Change, 2013; Robert Bork, The Tempting of America, 1990. Zur Skandalisierung einer Nominierung: John Danforth, Resurrection. The Confirmation of Clarence Thomas, 1994; Jane Mayer/Jill Abramson, Strange Justice. The Selling of Clarence Thomas, 1994; Christopher E. Smith/Joyce A. Baugh, The Real Clarence Thomas: Confirmation Veracity Meets Performance Reality, 2000; Anita Faye Hill/Emma Coleman Jordan (Hrsg.), Race, Gender, and Power in America: The Legacy of the Hill-Thomas Hearings, 1995; Anita Faye Hill, Speaking Truth to Power, 1998. 38   Vgl. etwa Laurence Tribe/Joshua Matz, Uncertain Justice: The Roberts Court and the Constitution, 2015 (auf dem Titel dieses Buches prangen neun Porträtfotos – kein Gruppenfoto); Marcia Coyle, The Roberts Court, 2013. 39   Jeffrey Rosen, The Supreme Court. The Personalities and Rivalries That Defined America, 2007; Jan Crawford Greenburg, Supreme Conflict: The Inside Story of the Struggle for Control of the U.S. Supreme Court, 2008; Jeffrey Toobin, The Nine. Inside the Secret World of the Supreme Court, 2007; Edward Lazarus, Closed Chambers: The First Eyewitness Account of the Epic Struggles Inside the Supreme Court, 1998; Irons (Fn.  14). 40   Sonia Sotomayor, My Beloved World, 2013 (dt. Übers. 2014); Sandra Day O’Connor, The Mystery of the Law: Reflections of a Supreme Court Justice, 2003; dies., Out of Order. Stories from the History of the Supreme Court, 2013. 41   Antonin Scalia/Amy Gutman, A Matter of Interpretation. Federal Courts and the Law, 1997; Stephen Breyer, Active Liberty: interpreting our democratic constitution, 2005; ders., Making Our Democracy Work: A Judge’s View, 2010; ders., The Court and the World. American Law and the New Global Realities, 2015. 42   William Rehnquist, The Supreme Court: How it Was, How it Is, 1987; ders., The Supreme Court, 2002. 43   Robert H. Jackson, Some Suggestions for Effective Case Presentations, in: Choper (Fn.  15), 254– 269 (1951); Antonin Scalia/Bryan Garner, Making Your Case: The Art of Persuading Judges, 2008; Antonin Scalia, Reading Law: The Interpretation of Legal Texts, 2012. Harte Kritik an Scalia durch Richard Posner, Reflections on Judging, 2013, 182–219. 44  So Breyer, Democracy (Fn.  16), IX. Siehe etwa auch Lewis F. Powell, Jr., What Really Goes on at the Supreme Court, in: Choper (Fn.  15), 209–213 (1980).

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e)  Personalisierung im politischen System Personalisierung ist freilich keine Besonderheit des Supreme Court, sondern eine Eigenheit des U.S. amerikanischen Systems generell. Ein präsidentielles System, in dem Parteien nur die Funktion der Personalauswahl haben, neigt zur personalistischen Verkürzung von Positionen. Man wählt Personen nicht Programme: von lokalen Amtsträgern bis zur höchsten Ebene. Gesetze tragen in der Umgangssprache die Namen der verantwortlichen Kongressabgeordneten. Der ganze Beamtenapparat in Washington trägt den Namen des Präsidenten („Obama administration“). In den USA kennt man auch die Namen der Commissioners der regulatory agencies. Wer dagegen könnte in der Bundesrepublik den Präsidenten der Bundesnetzagentur benennen? Als Beispiel für die generelle Orientierung der amerikanischen Rechtskultur an handelnden Akteuren darf auf das Yale Biographical Dictionary of American Law verwiesen werden.45 Dort werden rund 700 Personen behandelt: Richter, Rechtspolitiker, Anwälte, Rechtswissenschaftler, Prozessbeteiligte aber auch Schriftsteller und Künstler, die sich mit Recht beschäftigten. Man reduziert Rechtsgeschichte also weder auf die Akteure des Rechtssystem im engeren Sinne, die Handelnden der drei Gewalten, noch auf Rechtsprofessoren, sondern greift auch auf ein politisches und zivilgesellschaftliches Reservoir zurück. Das erkenntnisleitende Interesse lautet: Was war der jeweilige Beitrag des Porträtierten für die Entwicklung des amerikanischen Rechts? In welchem (zeitlichen, kulturellen, politischen) Kontext wirkten sie? Das Ausleuchten der persönlichen Hintergründe und Sozialisationserfahrungen ist ein normales wissenschaftliches Unterfangen und zählt seit dem Legal Realism zum Rüstzeug rechtswissenschaftlichen Arbeitens. Schreibt man in den USA eine Entwicklungsgeschichte des Rechts geht es immer um Personen und Konstellationen, um Interessen und Politik. In dieser konsequenten Perspektive auf Recht als gleichermaßen idealistisches wie realistisches Menschenwerk zeigt sich zugleich eine tief verwurzelte demokratische Rechtskultur. Die USA sind aus Rechtsakten entstanden, die unweigerlich mit dem Handeln von Personen verbunden sind (Rechtsanspruch auf Sezession, herrschaftsbegründende Verfassung). Dass Recht Individuen Handlungsspielräume mit kollektiver Wirkung verschafft, zählt zum Gründungsmythos der USA. Bei Richtern und Gerichten manifestiert sich dies besonders. Hier trifft sich der Trend zur Individualisierung der Akteure mit dem Wirken einer Institution, die aus Persönlichkeiten zusammengesetzt ist.

2.  Verfassungsinterpretation und Akteurszentrierung Für den Glauben an die Rationalität der Institution ist es freilich wichtig, wie die Entscheidungen des Supreme Court dargestellt, begründet und vermittelt werden. Auch wenn charakterlich besonders gefestigte Männer und Frauen entscheiden, auch wenn das Gericht eine i.w.S. binnenpluralistische Zusammensetzung aufweist, so 45   Roger K. Newman (Hrsg.), The Yale Biographical Dictionary of American Law, 2009. Vgl. die Besprechung von Oliver Lepsius, ZNR 35 (2013), 299–301.

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darf doch in der Außendarstellung das personalisierende Element nicht überwiegen, um die Glaubwürdigkeit und die Bindungswirkung der Entscheidungen und den Respekt ihnen gegenüber nicht zu unterminieren. Es muss in der Vermittlung der gerichtlichen Entscheidungstätigkeit daher neben das personalisierende Element, das die Fähigkeit des Einzelnen rechtfertigt, ein institutionelles Element treten, das belegt, wie Entscheidungen nicht nur das aggregierte Ergebnis individueller Präferenzen sind, sondern einer höheren rechtlichen Logik folgen. Ein Großteil des US-amerikanischen verfassungsrechtlichen Diskurses ist um diese Frage bemüht: Wie wirken die Restriktionen einer Institution auf das Entscheidungsverhalten der einzelnen Richter zurück, so dass deren kollektive Entscheidung nicht mehr als Ausdruck individueller Präferenzen verstanden werden kann, selbst wenn es sich um individuell autorisierte Meinungen handelt? Wie können Individuen kollektiv handeln um zu rationalen Ergebnissen zu gelangen? Mit diesem institutionentheoretischen Problem, der Strukturierung individuellen Handelns durch einen institutionellen Rahmen, beschäftigen sich US-amerikanische Verfassungsjuristen stärker als dies in anderen Verfassungsrechtsordnungen getan wird, in denen der Verfassungstext im Zentrum steht. In den USA kam und kommt es zu konkurrierenden Deutungen über das „Wesen“ von judicial review und die Beharrungs- und Bindungskräfte von Institutionen.46 Amerikaner müssen die Balance finden zwischen der stillschweigenden Prägung des Entscheidungsverhaltens durch institutionelle Prozesse und der offenkundigen Relevanz charakterlicher Eigenschaften. Selbstbindungsprozesse spielen dabei immer wieder eine Rolle.47

a)  Rechtsprechen in der Tradition des Common Law Welche Haltung Richter verkörpern, welche „Philosophie“ sie befolgen, beeinflusst die Wahrnehmung und Erklärung, wie die Verfassung interpretiert wird: Sind Richter „textualists“, „originalists“, „constructionists“, „realists“ oder „activists“? Sind sie „Heroes, Soldiers, Minimalists, Mutes“?48 Warum aber neigt das amerikanische Rechtsdenken zu einer so ausgeprägten Personalisierung? Ein Grund ist die Tradi­ tion des Common Law. Im Common Law, so die überkommene Doktrin, macht der 46  Stellvertretend darf verwiesen werden auf: Henry Hart/Albert Sacks, The Legal Process, 1994 (1958); Herbert Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, Harvard L. Rev. 73 (1959), 1–35; Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch. The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962; John Hart Ely, Democracy and Distrust, 1980; Mark Tushnet, Red, White and Blue, 1988 (Nd. 2015); Cass Sunstein, One Case at a Time, 2001; Adrian Vermeule, Judging Under Uncertainty, 2006; Paul W. Kahn, Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratische Legitimation, JöR 49 (2001), 571–585. Systematisierender Überblick bei Ulrich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998, 241–265. 47   Vgl. etwa Frankfurter, Supreme Court in the Mirror (Fn.  36), 150, der vorrangig auf funktional begründete Restriktionen der Stellung des Gerichts vertraute und damit judicial self-restraint rechtfertigte. Siehe auch Jerome Frank, Law and the Modern Mind, 1936, 118–147 mit einer Skizze des „idealen Richters“. 48   So die Klassifikation von Sunstein (Fn.  21). Eine andere Typologie von Richterbildern zumeist nach deutschem Vorbild bei Thorsten Berndt, Richterbilder. Dimensionen richterlicher Selbsttypisierungen, 2010, 137 ff.

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Richter nicht Recht, sondern entdeckt es. Die im Common Law wurzelnde materielle Gerechtigkeit bedarf also eines humanen Transformateurs. Gerechtigkeit ist daher eine Leistung von Personen, weniger von Institutionen.49 Folglich sind an Richter besondere Qualifikationen und Charaktereigenschaften zu stellen.50 Man vertraut in den USA weder auf eine Richterlauf bahn noch auf die Idee eines gesetzlichen Richters. Und man käme auch nicht auf die Idee, Juristen im Alter von 25 Jahren zu Richtern zu ernennen, nur weil sie zwei Staatsprüfungen bestanden haben (zumal Amerikaner in diesem Alter die Law School in der Regel noch gar nicht beendet haben). Richter werden vom Volk gewählt (in den meisten Einzelstaaten) oder vom Präsidenten mit Zustimmung des Senates auf Lebenszeit ernannt (Bundesrichter).51 Auswahl, Rekrutierung und Legitimation des Richteramtes beruhen auf einer Mischung aus Charakter, Expertise und Erfahrung, jedenfalls auf einem individualisierten Auswahlprozess, der dann in eine Wahl oder Ernennung mündet. In diesem Verfahren regiert keine Konkurrentenklage, wie sie momentan in der Bundesrepublik bei der Besetzung von höheren Richterstellen um sich greift.52 Die Vorstellung, man könne Auswahlkriterien juridifizieren und gar noch der richterlichen Letzt­ entscheidung vorbehalten – besonders krass in dieser Hinsicht ist ein Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs zur Zuwahl neuer Verfassungsrichter53 – ist Amerikanern fremd. Die Auswahlkriterien bestehen aus einem Bündel subjektiver Fähigkeiten, das nicht justiziabel ist, und doch zu einer berechenbaren Grundhaltung verschiedener Richtertypen führt, also nicht zu einer Gruppe erratischer Individualisten.54 Die Stellung des Richters ist gewissermaßen die Kehrseite der richterlichen Rechtserkenntnis im case law im Unterschied zur Bindung des Richters an das Gesetz in den kodifizierten Rechtsordnungen, die den Richter als Amtsträger trifft und 49  So Antoine Garapon/Ioannis Papadopoulos, Juger en Amérique et en France. Culture juridique française et common law, 2003, 159. 50   Sie werden immer wieder unter dem schwer zu übersetzenden Begriff „candor“ (Weitsicht, Hellsicht, Umsicht) zusammengefasst oder als „craft“ (Kunstfertigkeit) bezeichnet, vgl. etwa Benjamin Cardozo, Jurisprudence (1932), in: Hall (Hrsg.), Selected Writings of Benjamin Nathan Cardozo, 1947, 37 ff.; Karl Llewellyn, The Common Law Tradition, 1960, 213 ff.; ders., American Common Law Tradition, and American Democracy (1942), in: ders., Jurisprudence, 1962, 282–315; Richard Posner, How Judges Think, 2008, 107–117, 264 f., 305 f.; siehe auch Garapon/Papadopoulos (Fn.  49), 162. 51   Art. III sec. 1 US-Verfassung. Neben dem U.S. Supreme Court existieren als Bundesgerichtsbarkeit der U.S. Court of Appeals mit 13 Zuständigkeitsbereichen (circuits) sowie diesem untergeordnet 94 Federal District Courts. Die Gerichtsbarkeit auf der Ebene der Staaten, Kreise und Gemeinden tritt hinzu und folgt eigenen Regeln. 52   2014 war das Jahr mit den meisten Konkurrentenklagen gegen Richterwahlen zu Bundesgerichten; 2015 war die Besetzung von neun Senatsvorsitzen an Bundesgerichten durch Klagen blockiert. Vgl. Joachim Jahn, Richterklagen lähmen Bundesfinanzhof, FAZ v. 14.1.2015; Christian Rath, Richter klagen gegen Richterwahl, Legal Tribune Online v. 5.3.2015; Dietmar Hipp, Richter gegen Richter, Der Spiegel v. 13.6.2015; Ursula Knapp, Hausgemachte Schwierigkeiten, Legal Tribune Online v. 9.10.2015. 53   Hess. StGH Beschl. v. 13.8.2014 – P.St.2466, DÖV 2014, 1022 = NVwZ 2015, 55. Besprechung durch Oliver Garcia, Hessische Verhältnisse am hessischen Staatsgerichtshof, De legibus Blog v. 30.9.2014 (www.blog.delegibus.com): Drei von elf Mitgliedern des StGH erklärten unter dem Protest von fünf Mitgliedern die Wahl von sechs Mitgliedern für unwirksam und behaupteten, dies zu dritt als StGH bindend entscheiden zu können. 54  Vgl. Cass Sunstein, Constitutional Personae, 2015, der zu dem Ergebnis kommt, die über hundert Richter, die am U.S. Supreme Court seit seinen Anfängen wirkten, ließen sich letztlich zu vier Typen zusammenfassen: den Helden, den Soldaten, den Minimalisten und den Stummen.

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die gerade nicht zur Disposition besonders angesehener oder prestigeumwehter Charakterköpfe steht. Richter in Amerika sind angesehene Persönlichkeiten mit hohem Sozialprestige – und auch darin mag man einen Unterschied zur kontinentaleuropäischen Tradition entdecken.55 Wie Recht und Richter in den USA das Gemeinwesen zusammenhalten, thematisierte Alexis de Tocqueville schon 1835.56 Jeder sei am Recht interessiert, nicht als einem Fremdprodukt, sondern als einem eigenen Produkt. Juristen formten die höchste politische Klasse und den gebildetsten Teil der Gesellschaft, sie nehmen den Platz der Aristokratie in Amerika ein (Hohepriester des Rechts) und wirkten als ein Gegengewicht zur Demokratie.57 Recht wird zu einer schichtenübergreifenden, für das Gemeinwesen konstitutiven Beschwörungsformel, beobachtete Tocqueville, verwaltet von Richtern, die keine Eigeninteressen verfolgen. Recht werde so zum Kitt der Gesellschaft, die ohne ein Rechtssystem nicht funktionieren könne, weswegen das Recht und mit ihm die Richter, die es verwalten, praktisch überhöht und ethisch verehrt werden.58

b)  Rechtserkenntnis zwischen Pragmatismus und checks and balances In den USA regiert die Vorstellung, Recht sei Menschenwerk. Der Mensch ist der Akteur der Rechtsentwicklung in den verschiedensten institutionellen Arrangements: Es existiert kein System im Hintergrund, das mehr weiß als der Einzelne, keine akteurslose Dogmatik, die nur im Passiv spricht, wie in Deutschland.59 Bei einer solch subjektiven Zurechnung der Rechtserzeugung bricht ein Vorverständnis durch, das die Federalist Papers der amerikanischen Verfassung mitgegeben haben: Die Institutionenordnung wird aus dem Unvermögen des Menschen, zu richtigen Entscheidungen zu gelangen, gerechtfertigt.60 Weil Menschen irren, weil sie nicht altruistisch handeln, weil sie koalieren und Mehrheiten bilden, um ihre Interessen zuweilen auf Kosten anderer durchzusetzen, bedarf es einer Struktur der checks and balances. Hier manifestiert sich das Schicksal einer strikt demokratisch gedachten Rechtsordnung: Sie rechnet mit Fehlern, weil sie Menschenwerk ist.   Garapan/Papadopoulos (Fn.  49), 166 f.   Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, tome I, 2. partie, 1835, Kap. VI und VIII (in der Zählung späterer Ausgaben: Teil I, Kap. XIV und XVI) 57   Tocqueville, Band I/2 Kap. VIII §  2 : Les légistes „forment une sorte de classe privilégiée parmi les intelligences. Ils retrouvent chaque jour l’idée de cette supériorité dans l’exercice de leur profession; ils sont les maîtres d’une science nécessaire, dont la connaissance n’est point répandue; ils servent d’arbitres entre les citoyens, et l’habitude de diriger vers le but les passions aveugles des plaideurs leur donne un certain mépris pour le jugement de la foule. Ajoutez à cela qu’ils forment naturellement un corps.“ 58  Vgl. Tocqueville, Band I/2, Kap. VI §  4 („De l’idée des droits aux États-Unis“) sowie §  5 („Du ­respect pour la loi aux États-Unis“). Aus neuerer Zeit ähnlich Julie Allard/Antoine Garapon, Les juges dans la mondialisation, 2005, 44 f. 59  Vgl. Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, 39–62. 60   Vgl. insbesondere Federalist Nr.  10, 37, 51, 57 ( James Madison). Dazu Roland Lhotta (Hrsg.), Die hybride Republik. Die Federalist Papers und die politische Moderne, 2010; Beatrice Brunhöber, Die Erfindung „demokratischer Repräsentation“ in den Federalist Papers, 2010; Winfried Brugger, Freiheit, Repräsentation, Integration: Zur Konzeption politischer Einheitsbildung in den „Federalist papers“, in: FS Alexander Hollerbach, 2001, 515–532; Oliver Lepsius, Besprechung, AöR 120 (1995), 455–458. 55

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Diese Auswüchse sollen u.a. durch Gerichte verhindert werden, einer Institution, der man am ehesten zutraut, nicht interessengeleitet zu handeln. Gerichte, fasst ­A lexander Hamilton im Federalist Nr.  78 zusammen, seien die am wenigsten gefährliche Gewalt, weil sie nur auf Antrag tätig werden können, nur Rechtsfälle, also Vergangenes entscheiden, am Ergebnis dieser Entscheidung kein Eigeninteresse haben und überdies ihre Entscheidungen nicht selbst durchsetzen können. Seit Hamiltons klassischer Rechtfertigung genießen in den USA Gerichte, insbesondere der U.S. Supreme Court, im politischen System ein hohes Prestige.61 Gerichten kann man vertrauen – nicht weil sie unpolitisch oder rechtsstaatlich gebunden sind (wie man in Deutschland sagen würde), nicht weil sie per se ungefährlich sind, sondern weil sie als Institution schwächer als die anderen Institutionen sind und ihre Mitglieder nicht interessengeleitet handeln. Verständlich ist daher auch, warum sowohl die Institution des Richters allgemein verherrlicht wird als auch manche Richter geradezu bewundert werden. Man denke nur an die Prinzipientheorie Ronald Dworkins. In der Beschreibung Dworkins funktioniert sie als Rechtserzeugung der Dritten Gewalt, also am Beispiel von Gerichtsverfahren und richterlicher Rechtserkenntnis. Dworkin jedenfalls diskutiert seine Prinzipientheorie nicht am Beispiel der gesetzgebenden Gewalt; von ihr erwartet er keine Gerechtigkeit. Seine moralische Instanz ist vielmehr der imaginäre Richter Herkules.62 Der idealiserte „Übermensch“ ist in der amerikanischen Sicht ein Richter; in der deutschen wäre es unzweifelhaft „der Gesetzgeber“. Welche Bedeutung das Handeln von Richtern für die US-amerikanische Rechtstheorie hat, verdeutlicht auch das Interesse an Entscheidungs- und Begründungsstilen, also an akteurszentrierter Kasuistik im Unterschied zur gesetzeszentrierten Systematik, was hingegen deutsche Rechtstheoretiker zu interessieren pflegt. Karl Llewellyn, einer der führenden Legal Realists,63 identifizierte einen „grand style“ in der richterlichen Rechtsfindung, dem er einen „formal style“ negativ gegenüberstellte. Benjamin Cardozo (1914–1932 Richter am New York Court of Appeals, also einem Gericht mit genuiner Zuständigkeit für das Common Law, 1932–1938 am U.S. Supreme Court) wird von ihm als modernes Vorbild für praktizierten „grand style“ präsentiert.64 Für Jerome Frank hingegen, einen anderen Legal Realist, war der Richter Learned Hand (U.S. Court of Appeals) „unser weisester Richter“.65 Später 61   Der klassische Text in Anspielung auf Hamilton ist: Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch. The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Zur Diskussion etwa Kenneth D. Ward (Hrsg.), The Judiciary and American Democracy. Alexander Bickel, the Counter-Majoritarian Difficulty, and Contemporary Constitutional Theory, 2005. 62   Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, 105–130. 63   Vgl. oben Fn.  12. 64  Vgl. Karl Llewellyn, The Common Law Tradition, 1960, 430–445. Zum Entscheidungsstil Cardozos auch Fikentscher (Fn.  12), 240–250; Jerome Frank, Law and the Modern Mind, 1936, 236–241; Andrew Kaufman, Cardozo, 1998; Richard Polenberg, The World of Benjamin Cardozo. Personal Values and the Judicial Process, 1997; Richard Posner, Cardozo: A Study in Reputation, 1990; Michael Bernick, Benjamin Cardozo: A Judge Most Eminent, in: Choper (Fn.  15), 104–109 (1979). 65   Jerome Frank, Courts on Trial. Myth and Reality in American Justice, 1949, Widmung; siehe auch ders., Judge Learned Hand (1955), in: B. F. Kristein (Hrsg.), A Man’s Reach. The Selected Writings of Judge Jerome Frank, 1965, 48–73. Zu Frank siehe Fikentscher (Fn.  12), 290–293; Robert Glennon, The Iconoclast as Reformer: Jerome Frank’s Impact on American Law, 1985; Maria Anna Rea-Frauchiger, Der amerikanische Rechtsrealismus, 2006.

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nannte man Henry Friendly (U.S. Court of Appeals) „den größten Richter seiner Zeit“66 und in der Gegenwart ist Richard Posner (U.S. Court of Appeals) der Anwärter auf diesen Thron.67 Posner ist zugleich der momentan prominenteste Kritiker der amerikanischen Richterkaste.68 Er beklagt den Niedergang der zeitgenössischen Entscheidungskultur am U.S. Supreme Court,69 moniert eine falsche Grundausbildung der Juristen und fordert, qualifiziertere Richter zu ernennen, die auch technisches, ökonomisches und soziologisches Verständnis mitbringen.70 Mit höchstem Lob werden also nicht unbedingt die Richter des U.S. Supreme Court bedacht. Appellationsrichter zu preisen hat Vorteile: Sie entscheiden noch eigenständiger (Dreier-Kollegium), sie entscheiden mehr Fälle, sie können die Tatsachen stärker berücksichtigen, sie entscheiden freier, weil sie nicht die letzte Instanz sind und doch zugleich wissen, dass die wenigsten ihrer Urteile zur review durch den Obersten Gerichtshof angenommen werden. Für „wahres Richterkönigtum“ sind Appellationsrichter daher prädestinierter als Richter des U.S. Supreme Court mit seinen oft kontroversen, häufig politischen und nur schwer korrigierbaren Richtungsentscheidungen.

3.  Das Amt macht die Person, aber erst Personen machen die Institution Betrachten wir das Verhältnis von Amt und Person des amerikanischen Richters, so erkennen wir einen Wechselprozess: Erst das Richteramt und die Zugehörigkeit zur Institution ermöglichen das Prestige der Person. Ohne Amt ist die Person unerheblich. Das Gericht verleiht diese Würde, aber seine Würde entsteht erst durch die Handlungen und Entscheidungen markanter Mitglieder am Gericht. Von ihnen hängt die Überzeugungskraft der Urteile, die Wahrnehmung neuer Impulse, das   David Dorsen, Henry Friendly, Greatest Judge of His Era, 2012. Auch Richard Posner, Reflections on Judging, 2013, 165, erklärt Friendly zum größten Richter der letzten 50 Jahre. 67  Vgl. Douglas Baird, The Young Astronomers, Univ. of Chicago L. Rev. 74 (2007), 1641 (1641): Oliver Wendell Holmes und Richard Posner „are the two dominant judge-scholars in the American legal tradition.“ Ähnlich Adrian Vermeule, Posner on Security and Liberty, Harvard L. Rev. 120 (2007), 1251 (1263): Posner sei „a uniquely influential figure in American law“. Posner hat die Zitierhäufigkeit der Jahre 1995–2000 in wissenschaftlichen Publikationen ausgewertet. Unter den Juristen führt er das Feld an; nur neun „public intellectuals“ übertreffen ihn, darunter Foucault, Bourdieu, Habermas und Weber, vgl. Richard Posner, Public Intellectuals: A Study of Decline, 2001, 212. Nach einer anderen Erhebung aus 2000 ist Posner der mit weitem Abstand am meisten zitierte Rechtswissenschaftler aller Zeiten, vgl. Lincoln Caplan, The double life of Richard Posner, America’s most contentious legal reformer, Harvard Magazine Jan/Feb 2016 (http://harvardmagazine.com/2016/01). Eine Biografie ist angekündigt: William Domnarski, Richard Posner, 2016. 68   Vgl. neben den Titeln in den folgenden beiden Fn. Richard Posner, Divergent Paths: The Academy and the Judiciary, 2016: Eine Kritik an den verbreiteten Vorstellungen eines selbstreferentiellen Rechtsverständnisses, das auf Eigenlogiken, Sachgesetzlichkeiten und vom Sozialen abgeschottete Normativität vertraut. Besonders Richtern des U.S. Supreme Court wirft Posner vor, ihre politischen Ansichten hinter jargonhaften juristischen Formeln zu invisibilisieren. Dass sie auf Lebenszeit ernannt würden sei angesichts der politischen Bedeutung, die viele Entscheidungen des U.S. Supreme Court haben, eigenartig. 69   Richard Posner, How Judges Think, 2010; ders., Reflections on Judging, 2013 mit harter Kritik an der Rspr. des U.S. Supreme Court zur Wahlkreiseinteilung und Wahlkampfinanzierung (ebd., 85, 123) und insbes. den Ansichten Scalias, ebd., 121, 182–219, 235. 70   Posner, Reflections (Fn.  69), 330. 66

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Funktionieren der checks and balances und auch die in ihrem jeweiligen Charakter begründete Neutralität der Institution ab. Die Personalisierung eines Gerichts, jedenfalls des U.S. Supreme Courts, ist eine Voraussetzung für sein erfolgreiches Wirken in gerade diesem politischen System. Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Ein amerikanisches Gericht verständigte sich als Kollektiv auf eine abstrakt aus einem Normtext abgeleitete Begründung und spräche dieser eine generelle systematische Bindungswirkung zu. Man stelle sich also vor, der Supreme Court entschiede im Stile wie das Bundesverfassungsgericht. Ein solches Urteil fände kaum Respekt. Man würde den Richtern unterstellen, ihre wahren Erwägungen formalistisch zu verstecken. Man könnte mit einer solchen Entscheidung auch nicht diskursiv umgehen (überzeugen die Gründe? passen die Tatsachen?), sondern fühlte sich durch sie usurpatorisch eingeengt. Die Akteurszentrierung und Personalisierung einer Entscheidung macht die Bindung an die Entscheidungen in den USA erträglich. Zugleich unterminiert die Personalisierung nicht den Respekt vor der Dritten Gewalt. Im Gegenteil, deren Kompetenz, Streitfälle gerichtsförmig zu entscheiden, wird gerade durch den Umstand gerechtfertigt, dass Menschen entscheiden, die dafür charakterlich besonders befähigt sind und mit der Entscheidung keine Eigeninteressen verfolgen. In den USA ist die Personalisierung der Justiz daher ein Mittel, um die Glaubwürdigkeit und die Bindungskraft des FallRechts zu sichern.

III.  Das Beispiel englischer Richter Blicken wir als nächstes nach England. Welche Bedeutung die Gestalt des Richters dort hat, brachte bereits Gustav Radbruch auf den Punkt: „Persönlichkeit und Verantwortung des Richters verbergen sich in England nicht in der anonymen Mehrheit eines Richterkollegiums. In den wesentlichen Richterfunktionen, vor allem im Geschworenengericht, steht der Richter als Einzelpersönlichkeit vor der Öffentlichkeit, und in den Entscheidungssammlungen, den „reports“, wird stets der Name des Rich­ ters genannt, bei Kollegialentscheidungen vielfach auch die Rechtsansicht von ­R ichtern wiedergegeben, die in der Minderheit geblieben sind. Die Namen großer Richter bewahren noch in einem späteren Jahrhundert ihre Autorität.“71 Und Karl Loewenstein, unter deutschen Verfassungsjuristen wohl der beste Kenner der eng­ lischen Verhältnisse, resümierte: „Kein anderer Beruf und nicht einmal der des erfolgreichen Politikers genießt das gleiche Ansehen wie der eines Richters. In der Formierung der moralischen und gesellschaftlichen Standards spielten sie seit alters eine unsichtbar maßgebende Rolle. Dem Richterspruch wird, auch vom Verlierer in wichtigen Zivilsachen, widerspruchslos Gehorsam geleistet. Judex locutus causa finita.“72 Gilt auch heute noch, was Radbruch und Loewenstein beobachteten?

  Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 4.  Aufl. 1958, 17 (1946).   Karl Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Band II, 1967, 68. Über Loewensteins England-Studien siehe Oliver Lepsius, Karl Loewenstein (1891–1973), in: P. Häberle/M. Kilian/H. A. Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 2015, 411 (424–429). 71

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1.  Lord Denning als Schlüsselfigur Als Beispiel eines englischen Richters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts greife ich auf Lord Denning zurück. Er mag als singuläre Figur des 20. Jahrhunderts untypisch sein und womöglich nicht zum verallgemeinerungsfähigen Leitbild taugen, doch lässt sich an ihm jedenfalls untersuchen, wie weit eine Personalisierung des Richters überhaupt gehen kann, eines Richters, über den ein anderer Richter sagte, er sei der bekannteste und beliebteste Richter in der gesamten englischen Geschichte.73 Denning starb hundertjährig im Jahr 1999. An Elogen herrscht kein Mangel, Biographen scharen sich um ihn.74 Seinen Ruhm verdankt er nicht der Mitgliedschaft im House of Lords (1957–1962) sondern seiner Stellung als Präsident des Court of Appeal (Master of the Rolls). Mit 24 wurde Alfred („Tom“) Denning Barrister, mit 39 King’s Counsel und damit in den Kreis der Anwärter auf ein Richteramt aufgenommen. 1944 wurde er zum Richter am High Court ernannt, 1948 rückte er zum Court of Appeal auf. 1957 erfolgte mit der Berufung zum Law Lord am Appellate Committee des House of Lords die Nobilitierung, doch fünf Jahre später kehrte Denning als Master of the Rolls an den Court of Appeal zurück und blieb dessen Präsident bis 1982, als er unfreiwillig zurücktrat.75 Er war der letzte Richter ohne gesetzliches Rentenalter und konnte so der am längsten amtierende Richter der neueren englischen Rechtsgeschichte werden.

73  So Lord Bingham, Address at the Service of Thanksgiving for the Rt Hon Lord Denning, in: Tom Bingham, The Business of Judging, 2000, 409 (409). 74   Iris Freeman, Lord Denning. A Life, 1993; Edmund Heward, Lord Denning. A Biography, 1997. Ein gleichermaßen analytisches wie einfühlsames Porträt schrieb Reinhard Zimmermann, „Fiat Justitia!“. Alfred Thompson Denning, Baron Denning of Whitchurch (1899–1999) und sein Beitrag zur Entwicklung des englischen Privatrechts, in: D. Klippel (Hrsg.); Colloquia für Dieter Schwab, 2000, 153– 183. Vgl. des Weiteren: Peter Robson/Paul Watchman (Hrsg.), Justice, Lord Denning and the Constitution, 1981; Charles Stephens, The Jurisprudence of Lord Denning, 2009, Band I: Fiat Justitia. Lord Denning and the Common Law, Band II: The Last of England. Lord Denning’s Englishry and the Law, Band III: Freedom under the Law. Lord Denning as Master of the Rolls 1962–1982; Allan Hutchinson, Laughing at the Gods, 2012, 141–172; Dorothee Kutzner, Lord Denning – Englische Auslegungstradition und Europäisches Recht, 2001. Eine Zusammenstellung und Kommentierung der Würdigungen und Nachrufe bei Stephens, op.cit., Band I, 1–10, Band III, 1–8. 75   Auslöser waren Aussagen Dennings in seinem Buch „What Next in the Law“, 1982, die als anstößig empfunden wurden. Er konstatierte, dass es in der englischen Gesellschaft inzwischen kein einheitliches Rechtsgefühl mehr und nicht mehr denselben Respekt vor dem Recht gebe wie früher, weil die Engländer keine homogene Rasse mehr seien. Einige kämen aus Ländern, in denen Korruption zum normalen Leben gehöre. Daraus leitete Denning die Notwendigkeit ab, das Geschworenensystem zu ändern. Man könne nicht mehr alle Engländer als vernünftige und verantwortliche Mitglieder der Gemeinschaft betrachten, die gleichermaßen als Geschworene geeignet seien. Die „Society of Black Lawyers“ forderte darauf hin seinen Rücktritt. Vgl. zu dem Vorgang Zimmermann (Fn.  74), 155 f.; Heward (Fn.  74), 193–201; Freeman (Fn.  74), 390–400. Denning selbst schrieb offenherzig darüber in: The Closing Chapter, 1983, 3–13. Gegenüber Immigranten urteilte Denning bisweilen vorurteilsbehaftet; Immigration gefährdete in seinen Augen die Homogenität der englischen Nation als Voraussetzung der Stabilität der Rechtsordnung; vgl. für entsprechende Aussagen: Stephens (Fn.  74), Band II, 142–161.

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a) Rechtsreform Zielstrebig wollte Denning das englische Recht aus der materiellen und institutionellen Versteinerung befreien, in die es seiner Meinung nach geraten war. In den 1950er und 1960er Jahren setzte er entscheidende Reformimpulse: mit der Abschwächung der „consideration“-Doktrin beim Vertragsschluss, durch die Anerkennung eines Vertrages zugunsten Dritter, mit der objektivrechtlichen Ergänzung der Vertragsauslegung am Maßstab einer fairen Risikoverteilung, im Kampf gegen unbillige Freizeichnungsklauseln, durch den Einsatz der Beweislastumkehr, durch die Fortentwicklung des einstweiligen Rechtsschutzes oder mit der Ausweitung von Prozesskostenhilfe, um einige der auf ihn zurückgehenden Reformen zu nennen.76 In seinen späten Jahren scheute sich Denning nicht, Bereiche mit dringendem Reformbedarf offen anzusprechen und sogleich konkrete Vorschläge zu unterbreiten, was und wie reformiert werden sollte. Das betraf etwa die Gerichtsverfassung und die Stellung der Geschworenen, die Entwicklung der Gefährdungshaftung und das Recht der unerlaubten Handlungen (dabei insbesondere Persönlichkeitsrechte und den Schutz der Privatheit) wie auch eine Stärkung individueller Rechte gegenüber hoheitlichen Eingriffen.77 Gerne wird überdies hervorgehoben, dass Dennings Modernisierungen Parallelen im kontinental-europäischen Recht haben.78 Eine solche Reformagenda lässt sich institutionell nur durchsetzen, wenn sich der Richter von den Bindungen des Rechts zu befreien vermag. Gesetze und Präjudizien müssen in ihrer Bindungswirkung relativiert werden. Die Bedeutung Dennings erklärt sich nicht nur durch seine Ideen, wie das Recht materiell zu ändern ist, sondern auch durch seine Bereitschaft, die Präjudizien- und Gesetzesbindung zu überspringen.

b) Gesetzesauslegung Das englische Gerichtswesen war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine formalis­ tische, unpolitische Erstarrung geraten, die besonders nach dem Zweiten Weltkrieg zu Tage trat.79 Es genoss wenig Ansehen und war für die soziopolitische Entwicklung der englischen Gesellschaft praktisch irrelevant geworden. Politik spielte eine viel größere Rolle als Recht, und es lag durchaus im Interesse von Westminster, dass Richter die Präeminenz der politischen Institutionen nicht bedrohten und dem politischen Prozess in jeder Hinsicht den Vortritt ließen. Methodischer Ausdruck dieser institutionellen Zurückhaltung war zum einen ein am strengen Wortlaut haftendes Gesetzesverständnis, das Gesetze eng interpretierte, Lücken nicht im Wege der Ana Näher Zimmermann (Fn.  74), 158–170.  Näher Denning, What Next in the Law, 1982. Dabei greift er zu drastischen Formulierungen, z.B. 154: „I have shown, I hope, that our law as to personal injuries is entirely out of date.“ 78   So etwa Fikentscher, Methoden II (Fn.  12), 137; Zimmermann (Fn.  74), 180. 79   Vgl. dazu Fikentscher, Methoden II (Fn.  12), 58 ff.; Robert Stevens, The English Judges. Their Role in the Changing Constitution, 2002, 26 ff. („high formalism and increasing irrelevance“), 30 ff.; zur „Starrheit des englischen Rechts“ auch Radbruch (Fn.  71), 39. 76

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logie schloss und keine Gesetzessystematik entwickelte.80 Gesetze blieben punktuelle Interventionen des politischen Prozesses in das überkommene Präjudizienrechtsgefüge. Zum anderen banden Präzedenzfälle die Gerichte strikt. War eine Sache vorentschieden, gab es kaum Spielraum, selbst wenn sich die Umstände gewandelt hatten. 1948 hieß es noch, die Präjudizienbindung sei starrer als je zuvor.81 Dieses Vertrauen auf punktuelle Rechtssicherheit durch restriktive Interpretation ging einher mit der Vorstellung eines im Übrigen (noch) ungeregelten rechtsfreien Raumes, dessen Bewahrung als Freiheitsraum ein Anliegen war. Aktivistischem Richtertum war diese Haltung abhold. Denning zog gegen die grammatikalische Auslegung zu Felde82 und gilt als Wiederbegründer der teleologischen Auslegung in England.83 Die Auslegung müsse den der Regelung zugrundeliegenden allgemeinen Zweck verwirklichen und dürfe nicht am Wortlaut kleben.84 Bei der Zweckermittlung erhalten Richter naturgemäß einen rechtspolitischen Entscheidungsspielraum, der nach der alten Auslegungsregel gerade vermieden werden sollte. Denning geht es nicht um ein adäquates Verständnis des Gesetzes und seine fürsorgliche Fortschreibung unter veränderten Tatsachen, sondern um die Erzeugung richterlicher Freiräume. Er versteht sich als unpolitischer Richter.85 Als Treuhänder des Parlaments begreift er sich nicht: „Parliament decides upon the words. The judges say what those words mean.“86 Aufgabe des Parlaments sei es „to use plain, simple language expressing principles, and for the judges to fill the gaps in a statute so as to do what good sense requires.“87 Denning wollte Lücken also nicht durch eine Analogie zu anderen Normen füllen, sondern unter Rückgriff auf den „gesunden Menschenverstand“. Sein diskretionärer Umgang mit der Gesetzesinterpretation wird besonders deutlich, wenn man seine Entscheidungen zu gesetzlichen Privilegierungstatbeständen von Gewerkschaften liest, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom Parlament mit Schutzklauseln ausgestattet worden waren. Darauf gestützte Arbeitskampfmaßnahmen der Trade Unions gingen Denning oft zu weit, auch weil kleine berufsspezifische Spartengewerkschaften einen überproportionalen Einfluss ausüben konnten. Die entsprechenden Gesetze hat er nicht teleologisch interpretiert, sondern so eng gefasst wie es eben ging und die interpretativ erzeugten ungeregelten Zustände mit

 Näher Fikentscher, Methoden II (Fn.  12), 111–133. Im Einzelnen 1877 als „golden rule“ formuliert durch Lord Blackburn, River Wear Commissioners v. Adamson, 2 App. Cas. 742, 746 (House of Lords, 1877). 81   Arthur Goodhart, Precedent in Divisional Courts, Law Quarterly Review 64 (1948), 40–44 (41). 82  Vgl. Lord Denning, The Discipline of Law, 1979, 9–22; ders., The Closing Chapter (Fn.  75), 93– 114. 83   Zimmermann (Fn.  74), 173; Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, 963, 1004, 1120–1123, 1149; Paul Watchman, Palm Tree Justice and The Lord Chancellor’s Foot, in: Robson/Watchman (Fn.  74), 1 (20–25); Kutzner (Fn.  74), 102 ff. 84   Denning, Discipline (Fn.  82), 15–17. 85   Seine Biographin Freeman (Fn.  74, 308) teilt mit, Denning sei nicht an Politik interessiert gewesen und habe nie an einer Wahl teilgenommen. 86   Denning, The Closing Chapter, 111. 87   Ebd., 112. 80

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Prinzipien ausgefüllt, die den Gerichten breite Einschätzungsspielräume überließen, Arbeitskampfmaßnahmen für rechtswidrig zu erklären.88

c) Präjudizienbindung Zeit seines Lebens trat Denning auch für eine lockere Präjudizienbindung ein und bekämpfte eine rigide Anwendung der stare decisis-Doktrin.89 Als er von 1957–1962 als Lordrichter amtierte, lehnte er die damals überkommene Ansicht ab, das House of Lords sei an stare decisis absolut gebunden. Stattdessen trat er dafür ein, als falsch, ungerecht oder unzweckmäßig erkannte Präjudizien zu übergehen. Im House of Lords blieb er mit dieser Ansicht allein unter den Law Lords. Lord Simonds war sein größter Widersacher, der ihn unverblümt der Häresie beschuldigte.90 Es blieb Denning nur, zu dissentieren, wie er überhaupt in 15% der Entscheidungen im House of Lords, an denen er mitgewirkt hatte, dissentierte – ein hoher Wert.91 Die 1950er Jahre, also Dennings Zeit im House of Lords, wird allgemein als eine Zeit beschrieben, in der eine besonders orthodoxe Haltung unter den Richtern herrschte.92 In England sei es schwerer als irgendwo sonst auf der Welt, von einer unangenehmen Entscheidung loszukommen.93 Denning nahm seine Niederlagen im Oberhaus, die er selbst unverblümt schildert,94 zum Anlass für eine grundsätzliche Stellungnahme zum Problem der Präjudizienbindung. 1959 gab ihm ein Vortrag in Oxford die Gelegenheit dazu. Wenn Juristen Präzedenzfälle zu eng läsen und darüber die fundamentalen Prinzipien von 88   Zur Analyse: Kenneth Miller, The Labours of Lord Denning, in: Robson/Watchman (Fn.  74), 126 (146); siehe auch Zimmermann (Fn.  74), 173, Freeman (Fn.  74), 309 f. Vgl. Dennings Rechtfertigung in: The Closing Chapter, 1983, 155–210. 89   Zum englischen Präjudiziendenken jener Zeit, das im Vergleich zu den USA die Verhältnisse enger erfasste, die Rechtssicherheit stärker betonte und nicht auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgriff: Fikentscher, Methoden II (Fn.  12), 74, 81–86; umfassend zum „Zeitalter der strengen Buchstabentreue“ von ca. 1850–1950: Vogenauer (Fn.  83), 780–962; zum nachlassenden Formalismus nach 1950 ebd., 1236–1244. Siehe auch Alan Paterson, The Law Lords, 1982, 132–146, 170–174. Er unterscheidet drei Phasen, in denen sich die überkommene Präjudizienstrenge abmilderte: 1957–1962 unter Lord Simonds als Senior Law Lord herrschte noch die Orthodoxie, 1962–1966 entstand – auch unter dem Einfluss Dennings – eine Zeit der Heterodoxie und 1966–1973 lockerte sich das Bild zugunsten richterlicher Rechtsfortbildung. 90   Lord Simonds bürstete Denning in Mehrheitsvoten öfter ab. Vielzitiert ist Scruttons Ltd. v. Midland Silicones Ltd., UKHL 4 [1962] AC 446: „Ich werde mich nicht leichtfertig durch eine unkritische Begeisterung für eine abstrakte Art von Gerechtigkeit dazu verführen lassen, unsere erste Pflicht zu ignorieren, die darin besteht, nach dem durch Parlamentsgesetz und bindenden Präjudizien festgelegten Recht zu entscheiden. … Deshalb lade ich Eure Lordschaften zu der Feststellung ein, dass gewisse Äußerungen [von Lord Denning] zurückgewiesen werden müssen“ (Übersetzung nach Zimmermann, Fn.  74, 160); zum Disput Simonds/Denning auch Vogenauer (Fn.  83), 1008 f., 1112. Zum Umgang der Richter im House of Lords untereinander und zur Entscheidungsfindung aufschlussreich Paterson Law Lords (Fn.  89), 84–120, für die Zeit ab ca. 2000 ders., Final Judgment. The Last Law Lords and the Supreme Court, 2013, 123 ff., 170 ff. 91  Vgl. Paterson, Final Judgment (Fn.  9 0), 152. Durchschnittlich dissentieren Richter in weniger als 10% der Fälle; für die Zeit von 2000–2008 kommt Paterson auf einen Schnitt von 8%, ebd., 170. 92  So Paterson, Law Lords (Fn.  89), 135 („prevailing orthodoxy in interpreting the judicial role“). 93   A. R. N. Cross, Precedent in English Law, 1961, 17. 94   Denning, Discipline (Fn.  82), 287–291, 297–300. Siehe auch Watchman (Fn.  83), 16–20.

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Wahrheit und Gerechtigkeit vergäßen, die sie doch bewahren sollen, dann würde eines Tages das ganze Gebäude zusammenbrechen. Das Common Law werde zu wachsen auf hören. Es werde zu einer fossilen Struktur werden wie ein Korallenriff.95 Eine gelockerte Präjudizienbindung begründet Denning mit zwei Erwägungen: Bis 1850 sei es gängige Praxis gewesen, dass das House of Lords alte Präzedenzfälle korrigieren und das Recht auf diese Weise ändern konnte.96 Die rechtsfortbildende Rolle sei vor allem der Mitwirkung von Nicht-Juristen bei der Rechtsprechung zu verdanken, sei es als Geschworene, sei es als nicht-juristische Mitglieder des House of Lords. „They have insisted on the true principles and have not allowed the conservatism of lawyers to be carried too far.“97 Seit 1850 aber haben die Nicht-Juristen nicht mehr an den juristischen Entscheidungen des House of Lords mitgewirkt.98 Die damit einhergehende Professionalisierung der Rechtsprechung führte zur Versteinerung: „Whereas previously the House could and did reverse its rulings on points of law when found to be erroneous, now it cannot do so, or rather does not do so.“99 Die strikte Präjudizienbindung gelte also erst seit 100 Jahren, fährt Denning fort, und wenn das House nicht nur ein weiterer Instanzgerichtshof sein wolle, müsse es zum vitalen Wachstum zurückkehren. Es sei schließlich „the fountain of justice in our land“. Daher müsse es nicht nur die Fehler der unteren Instanzen korrigieren, sondern auch die grundsätzlichen Rechtsprinzipien niederlegen und, getreu der Bindung an diese Grundprinzipien, solche Entscheidungen „overrulen“, die von ihnen abweichen.100 Das House of Lords sei daher an seine eigenen Entscheidungen nicht gebunden. Später kontextualisierte Denning das Argument: Als er im House of Lords wirkte, sei die Präjudizienbindung besonders streng gehandhabt worden und das Parlament habe keinen Antrieb zur Rechtsreform verspürt.101 Das Institutionenarrangement   Lord Denning, From Precedent to Precedent, 1959, 3. Selbstzitat in ders., Discipline (Fn.  82), 292.   Vgl. auch C. K. Allen, Law in the Making, 7.  Aufl. 1968, 253 f.; Cross, Precedent (Fn.  93), 2.  Aufl. 1968; Fikentscher, Methoden II (Fn.  12), 83–85, 105–110: Von 1850 bis 1966 wurde der Grundsatz von stare decisis in England strikt gehandhabt; erst die Erklärung von Lord Chancellor Gardiner 1966, dass sich das House of Lords an eigene Präjudizien nicht mehr gebunden fühle, habe die strenge Präjudizienbindung gelockert. Die Praxis nach 1966 aber zeige, „daß die Doktrin des stare decisis nach wie vor in alter Strenge gilt.“ Das umfasse auch den Court of Appeal; Dennings Ansichten seien auch dort in der Minderheit (85 Fn.  184, 110). 97   Denning, Precedent (Fn.  95), 15. 98   Siehe zur Entwicklung Chantal Stebbings, The Restructuring of the Superior Courts in England during the 19th Century, in: A. Wijffels/C. H. van Rhee (Hrsg.), European Supreme Courts: Portrait through History, 2013, 182–189: Im House of Lords konnten seinerzeit alle Mitglieder, ob Juristen oder nicht, an den Revisionsentscheidungen mitwirken. Überwiegend sah man darin den Grund für eine mangelnde Qualität der Entscheidungen des House of Lords. Ab 1830 wurde das Appellationssystem grundlegend umgestaltet und mit dem Appellate Jurisdiction Act von 1876 die rechtsprechende Zuständigkeit speziellen Law Lords (Lord of Appeal in Ordinary) im Oberhaus übertragen. Hilfreich nach wie vor Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, 1913, 706–712; Loewenstein (Fn.  72), 31–33, 39–42. 99  Ebd., 28. Denning zitiert für das neue Dogma Lord Campbell, Beamish v. Bamish (1861), 9 H.L.C. 274, 338 f.: „The rule of law which your Lordships lay down as the ground of your judgment, sitting judicially, … must be taken for law till altered by an Act of Parliament, agreed to by the Commons and the Crown, as well as by your Lordships.“ 100   Denning, Precedent (Fn.  95), 34. 101   Denning, Discipline (Fn.  82), 287. Zu der Auseinandersetzung im House of Lords um Rechtssicherheit oder Anpassungsfähigkeit bei der Präjudizienbindung siehe auch Paterson, Law Lords (Fn.  89), 95

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funktionierte nicht mehr, lässt sich seine Klage zusammenfassen: Die Juristen-Richter halten in falsch verstandenem Corpsgeist an den früheren Entscheidungen fest und werden nicht mehr durch Nichtjuristen mit den unzweckmäßigen Auswirkungen oder mit Gerechtigkeitsfragen konfrontiert. Man merkt, wie akteurszentriert das Argument Dennings ist, der sich in seinen Büchern auch nicht scheut, diejenigen Law Lords zu nennen, die die verkrusteten Doktrinen bewahrten.102 Seine (Selbst-)Ermächtigung zum Reformer, der an Präjudizien nicht gebunden ist, gründet auch in der Vorstellung, zum Rechtswandel berufen zu sein, weil es andere nicht sind bzw. weil diese nicht tun, was getan werden muss. Denn unter welchen Bedingungen ein Präjudiz nicht mehr bindend sein soll, wird von Denning im Unklaren gelassen. Eher blumig spricht er von Konstellationen, in denen Prinzipien an die Gerechtigkeit angepasst werden müssten. Was das im Einzelnen heißt, welcher Grad an Abweichung erreicht sein muss und wie dieser festgestellt werden kann, wird nicht näher ausgeführt. Vergleicht man Dennings Äußerungen etwa mit denjenigen der Legal Realists in den USA 30 Jahre früher oder mit dem Aufwand, den der Warren Court mit sozialpsychologischen Untersuchungen betrieb, um sich in Brown v. Board of Education103 über die Entscheidung Plessy v. Ferguson104 hinwegsetzen und die Rassentrennung auf heben zu können, mutet die Nonchalance, mit der sich Denning dem Thema zuwendet, doch ziemlich unterreflektiert an.105 Denning bringt aber noch ein zweites Argument: Ganz offen fragt er, ob Gerichte ihre Fehler korrigieren und diejenigen Präjudizien ändern könne, die sich im Laufe der Zeit als falsch erwiesen haben?106 Denning wird zu der zugespitzten Frage letztlich durch seine eigene Situation verleitet. Nachdem er 1962 an den Court of Appeal zurückgekehrt war, stellte sich ihm das Problem der Präjudizienbindung auf der Appellationsebene. Das House of Lords hatte seine strenge Haltung inzwischen revidiert und sich selbst von der Bindung an Präjudizien ausgenommen, wenn die Bindung zu Ungerechtigkeit führen oder die Entwicklung des Rechts behindern würde; es hatte die unteren Gerichte davon aber ausdrücklich ausgenommen.107 Was galt nun für den Court of Appeal? Denning versucht seine Richterkollegen davon zu überzeugen, genauso wie das House of Lords zu verfahren und stützt sich dafür im Wesentlichen auf die Notwendigkeit, Fehler früherer Entscheidungen korrigieren zu müssen. Falls das Gericht in solchen Fällen nicht abweichen könne, werde es zur Perpetuierung des Fehlers gezwungen. Man könne für die Korrektur auch nicht auf das House of Lords warten, denn dorthin gelangten nur die wenigsten Fälle und überdies erst mit Zeitverzug. Es folgt dann ein bemerkenswertes Zusatzargument: Arme Leute hätten nicht die (finanziellen, zeitlichen) Möglichkeiten, einen Fall vors 122–146. Einflussreich war neben Dennings Schriften und Voten auch eine Vortragsserie von Lord Rad­ cliffe, The Law and Its Compass, 1961. Auch Radcliffe plädierte für einen freieren Umgang mit Präjudizien. 102  Lord Simonds führt diese Riege an, vgl. Denning, Discipline (Fn.  82), 296; Closing Chapter (Fn.  75), 211 ff. Zum Konflikt auch Freeman (Fn.  74), 244–247. 103   347 U.S.  483 (1954). 104   163 U.S.  537 (1896). 105   So auch Stephens (Fn.  74), Band I, 86, 165, 171. 106   Denning, Precedent (Fn.  95), 22; Selbstzitat in ders., Discipline (Fn.  82), 294. 107  Vgl. Denning, Discipline (Fn.  82), 296 f.

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House of Lords zu bringen. Gewännen hingegen kapitalkräftige Interessen einen Fall vor dem Court of Appeal, zahlten sie gleichwohl eine Entschädigung an den unterlegenen Kläger, um die nächste Instanz zu verhindern und damit einem potentiell für sie abträglichen Präjudiz präventiv entgegenzuwirken. Denning insinuiert also, dass eine gelockerte Präjudizienbindung auf der Ebene der Appellationsgerichte dem Entstehen einer Klassenjustiz entgegenwirkt.108

d)  Stand, Status und Stil Im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des House of Lords von Fehlern und Irrtümern zu sprechen, war eine freche Freimütigkeit, die das Standesdenken englischer Richter auf die Probe stellte. Man gestatte sich nur die Kontrollfrage, welcher Richter je so selbstverständlich von Rechtsprechungsfehlern gesprochen hat? In Deutschland wird man da jedenfalls kaum einen ebenbürtigen finden. Man wird den Comment wohl so festhalten dürfen: Richter an Obergerichten begehen keine Fehler und müssen sie daher auch nicht korrigieren.109 Gerichte, die begangene Irrtümer ein­ räumen, findet man selten. Meistens lässt sich ein Rechtsprechungswandel mit veränderten Tatsachen oder einer geänderten Rechtslage begründen. Wie offen Dening von der Korrektur von Fehlurteilen spricht, ist daher bemerkenswert. Der Gedankengang wird nachvollziehbar, wenn man Recht und Rechtsverwirklichung als Menschenwerk begreift und dabei auch die Gerichte von einer skeptischen Standesanalyse nicht ausnimmt, sondern die Sozialstruktur englischer Richter und ihre einseitige Rekrutierung in Rechnung stellt,110 ihre Kompetenzen andererseits aber auch wieder personalistisch begründet. Mehrfach hat Denning hervorgehoben, welche besonderen Charaktereigenschaften ein Richter haben müsse. Alles zusammen komplettiert eine individualistische Perspektive, in der Wenige aufgrund besonderer charakterlicher Distanz zur Rechtsentwicklung durch Rechtsprechung berufen sind. Diese Kompetenz lässt sich für Denning nicht methodisch fassen, nicht als Ausdruck (verfassungsrechtlicher) Bindungen an Gesetze oder Urteile; sie lässt sich auch nicht interdisziplinär oder expertokratisch absichern, sondern sie bleibt ein persönliches Vorrecht. Wie selbstverständlich sich Denning dieses Privileg zuschrieb, belegen nicht nur seine zahlreichen selbstbewussten Entscheidungen, in denen er das Recht fortbildete und umgestaltete, sondern eine von ihm selbst kolportierte Anekdote.111 Er sei 1962 gerne vom House of Lords an den Court of Appeal zurückgekehrt, weil er dort größeren Einfluss und Freiraum gehabt habe. Am House of Lords besteht der Spruchkörper aus fünf Richtern. Er habe also mindestens zwei Kollegen überzeugen müs Vgl. Denning, Discipline (Fn.  82), 298 f.   Ein zeitgenössischer Ausdruck dieser Selbsteinschätzung ist BVerfGE 135, 1 – rückwirkendes Interpretationsgesetz [2013], dazu Oliver Lepsius, Zur Neubegründung des Rückwirkungsverbots aus der Gewaltenteilung, JZ 2014, 488–500. 110  Dazu vor allem Loewenstein (Fn.  72), 7–12. Loewenstein spricht von der Standesdisziplin der Barrister-Gilde, die ihr Rekrutierungsmonopol auf Richterstellen verteidige. Das Richterpersonal rekrutiere sich ausschließlich aus wohlhabenden Schichten, sei von einem starken Klassengeist des Establishment durchtränkt. Die Richter stellten eine der stärksten Säulen der herrschenden Klasse dar. 111  Vgl. Denning, Discipline (Fn.  82), 287. 108 109

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sen, meist aber vier, weil Dissents dort unerwünscht sind. Am Court of Appeal sitzen hingegen drei Richter auf der Bank, so dass nur noch einer zu überzeugen war. Das Risiko, sich nicht durchzusetzen, war nur noch 2:1 statt 4:1.112 Als fünftes Mitglied im House of Lords habe es nicht so viel Spaß gemacht, wie er gedacht habe, bekannte Denning. Dissentieren lohne sich kaum. Als Master of the Rolls habe er viel mehr zu sagen und suche sich die Fälle aus, zumal der Court of Appeal viele Fälle de facto als letzte Instanz entscheide, weil jährlich nur ein paar Dutzend Fälle vor das House of Lords gelangten. Und schließlich habe er kein schlechtes Gewissen gehabt, wenn er eine Sache neu durchdachte und sie anders entschied, weil der Court of Appeal formaliter nicht die letzte Instanz gewesen sei. Das House of Lords habe seine Entscheidungen ja auch oft aufgehoben. In nicht wenigen Fällen, fügt Denning mit unverhohlener Freude an, habe dann aber das Unterhaus seine aufgehobene Entscheidung zum Ausgangspunkt eines Reformgesetzes genommen.113 An Selbstgewissheit hat es Denning also nicht gemangelt. Gegenüber den anderen Gewalten war er hingegen unnachsichtig. Die Exekutive benötige keine Ermessensspielräume; vielmehr seien die Rechte des Einzelnen strikt zu wahren. Gesetzgebung sei eher Rechtserzeugung zweiter Wahl. Ging es aber um Gerichte, dann verschwanden die Kompetenzskrupel. Richter hätten weder Interessen noch Vorverständnisse. Man müsse am Ende jemandem trauen, nämlich dem Richter, letztlich also ihm:114 „Someone must be trusted. Let it be the judges.“115 Dennings Rolle kann man schließlich nicht ohne seinen Stil erklären.116 Er pflegte eine direkte unverstellte Sprache. Man müsse kurze Sätze schreiben, einfache Worte verwenden.117 Seine lebendig geschriebenen und unterhaltenden Bücher ziehen den Leser auch stilistisch in ihren Bann. Mit sprachlichen Mitteln gelingt es Denning, beim Leser diejenigen Überzeugungen zu erzeugen, auf die es ihm ankommt. Rhetorik komplettiert das Argument. Ein glaubhafter, eingängiger Sprachstil wird von Denning bewusst eingesetzt um zu überzeugen, wo Logik, Empirie oder Präjudiz zu kurz greifen. Mit Rhetorik kann er die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses erhöhen und zugleich eigene Vorverständnisse überdecken.118  So Zimmermann (Fn.  74), 155.  Vgl. Denning, Closing Chapter, 1983, 211 ff. mit zahlreichen Beispielsfällen. 114  Vgl. Hutchinson, Laughing (Fn.  74), 155 f. 115  Lord Denning, Dingleby Lectures 1980, hier zitiert nach Stephens (Fn.  74), Band I, 164. In B.R.B. v J.B. [1968] 2 All ER 1023 (1025) erklärt Denning: „The judges can be trusted to exercise this discretion wisely. I would set no limit, condition or bounds to the way in which judges exercise their discretion. The object of the court is always to find the truth.“ (Zitiert nach Stephens, op.cit, Band III, 210.) 116  Siehe dazu auch intensiv Zimmermann (Fn.  74), 174–178. Zu Denning als Schriftsteller auch Stephens (Fn.  74), Band III, 12–50. 117  Vgl. Lord Denning, The Closing Chapter, 1983, 57–65. Im Stile von My Fair Lady macht er sich über Amerikaner lustig: „There is also a campaign in the US in favour of plain English. Whereas I have adviced you ‘Don’t use long words’ and ‘Don’t use long sentences’, their advice is ‘Don’t use multisyllabic jargon and verbal distortions’. Which advice do you prefer?“ (62). 118   Die Komplementarität von Sprachstil und juristischer Begründung wird in der Gegenwart besonders von Richard Posner praktiziert und artikuliert; vgl. von ihm: Law and Literature, 3.  Aufl. 2009. Auch in anderen Büchern hat er dargelegt, warum Entscheidungsbegründungen als eine Literaturform verstanden werden sollten und wie sie sich sprachlicher Mittel bedienen sollen, um ohne empirische oder logische Rechtfertigung zu überzeugen. 112 113

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Überdies scheut er sich nicht, Charakterurteile über andere zu fällen, um deren Ansichten zu diskreditieren. So wird etwa über Francis Bacon (1561–1626, Solicitor General, Attorney General, Lord Chancellor) mitgeteilt, sein Charakter sei so wie ihn Robert Louis Stevenson in The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde beschrieben habe. Bacons Verstand sei zwar erstklassig, sein Verhalten aber elendiglich gewesen. Nicht nur dass er seine Schulden nicht bezahlte, er wollte überdies reiche Witwen heiraten, habe an Frauen nur ein pekuniäres Interesse gehabt. Mit 45 schließlich ehelichte er die hässliche Tochter eines Abgeordneten für Geld. Dergestalt eingestimmt, erwartet der Leser nicht mehr viel von Bacon. Dass dieser 1614 die Folter anwendete passt dann ins Bild.119 Ein anderes Beispiel: Dennings Buch „What Next in the Law“ beginnt mit Porträts großer Reformer: Henry Bracton, Sir Edward Coke, Sir William Blackstone, Earl Mansfield, Lord Brougham. Regelmäßig wird deren Herkunft mitgeteilt, Lebensführung, Karrierewege und Charakter geschildert. Sie stammten aus Devon, Norfolk oder gar (wie Mansfield) aus Schottland. Was bezweckt Denning damit? Über William Blackstone (1723–1780), „the greatest exponent of the common law that we ever had“, wird mitgeteilt: „He had studied too long and too much. He took no exercise. He hated it. He ate too much. He got fatter and fatter. He died at the age of fifty-seven.“120 Wer in der Welt würde so über Richter schreiben? Wer würde meinen, dass Blackstones Studiereifer und Essgewohnheiten oder Bacons Frauenbild relevant sind? Dennings Darstellung macht jedenfalls klar: Menschen machen Recht. Große Reformer waren große Charaktere; Reformen benötigen Männer mit Haltung. Ohne Charakter keine Urteilsberechtigung. Wie selbstverständlich reiht sich Denning dann in diese Ahnenreihe ein, wenn er im Fortgang des Buches diejenigen Rechtsgebiete neu skizziert, die seines Erachtens „völlig veraltet“ sind.121

e)  Eine ambivalente Bewertung Das Urteil über Denning fällt am Ende in der Forschung ambivalent aus. Er sei der populärste und zugleich einflussreichste Richter des 20. Jahrhunderts gewesen. Es sei ihm stets um das gerechte Ergebnis, weniger um die kunstgerechte Exegese des Fallmaterials gegangen.122 Man rühmt seine Fähigkeit, Fälle nach dem gesunden Menschenverstand zu entscheiden, so „wie du und ich“ entscheiden würden. Auf diese Weise habe Denning das englische Recht von Verkrustungen befreit und modernisiert; er sei einer „of the few geniuses of the English common law“ gewesen.123 Am Herzen lag ihm der Schutz der Schwachen unter der Voraussetzung, dass es sich um einen anständigen Menschen handelte, der sich zu benehmen wusste.124 Denning gerät in die Nähe eines Volkstribunen, der im Namen der Gerechtigkeit Klassenschranken ignoriert und sich weder an die Etikette hält noch von den Meinungen   Lord Denning, Landmarks in the Law, 1984, 32–35.   Lord Denning, What Next in the Law, 1982, 13, 18. 121  Vgl. Lord Denning, What Next in the Law, 1982. 122   Zimmermann (Fn.  74), 153, 171. In den Ländern des Commonwealth galt er weithin als der größte juristische Star des Jahrhunderts, resümiert Zimmermann, 158. 123   Freeman (Fn.  74), 312, 405. 124   Zimmermann (Fn.  74), 179. 119

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anderer irritieren lässt. Auch politisch sei er eine eminent wichtige Persönlichkeit, weil er Handlungsmöglichkeiten und Alternativen außerhalb der demokratischen Institutionen eröffnete.125 Andere gründen darauf eine kritischere Einschätzung. Denning habe das Recht seiner Hausphilosophie und seinen Gerechtigkeitsvorstellungen gebeugt, habe vorschnell Überzeugungen gebildet und zu sehr in Kategorien von schwarz und weiß gedacht. Inhaltlich sei er schwer zu fassen, progressiv und reaktionär zugleich.126 Seine Äußerungen seien nicht selten unvorsichtig gewesen, zeugten von Starrsinn, Ungeduld, Radikalität und nie ganz unterdrückten Vorurteilen. Sein Vertrauen in die Richtigkeit seiner eigenen Entscheidungen wurde nicht mehr durch die Konventionen richterlicher Zurückhaltung gebremst.127 Vorurteilsbeladen waren insbesondere seine Äußerungen zum Geschlechterverhältnis, über Immigranten, zu Gewerkschaften, zu abweichendem Sozialverhalten oder auch zur französischen Rechtsordnung.128 Die Selbstsicherheit in der Beurteilung auch solcher Fragen leitete Denning aus Vorstellungen einer „englischen Identität“ ab, die dem Common Law zugrundläge.129 In der Kombination von Richterkönigtum und nationaler Volksgeistlehre mag man in Denning den letzten englischen „Germanisten“ sehen.

2.  Denning und der Wandel des englischen Richterbildes Dennings Ansehen hat sicher auch mit dem Wandel des englischen Richterbildes insgesamt zu tun. Als Denning in den 1950er und 1960er Jahren seine wirkmächtigen Entscheidungen schrieb, gegen die strenge Präjudizienbindung rebellierte und eine flexiblere Gesetzesauslegung propagierte,130 herrschte unter den englischen Richtern ein versteinerter formalistischer Strukturkonservatismus.131 Um 1960 war der Einfluss des Rechtswesens auf die englische Gesellschaft auf einem Tiefpunkt angelangt. Politische Kontrolle und politische Impulse waren weitaus wichtiger als Rechtskontrollen.132 Rechtsschutz war de facto ein Privileg der wohlhabenden Kreise. Das House of Lords hatte sich auf die unpolitischen Felder zurückgezogen, auf denen es „wie ein Eunuch die Präjudizien hütete“.133 Im Grunde hatte sich das Insti  Robson/Watchman (Fn.  74), XII.   Hutchinson, Laughing (Fn.  74), 142, 150, 153. 127  So Zimmermann (Fn.  74), 157. 128   Zahlreiche Beispiele bei Stephens (Fn.  74), Band II, 142 ff., Band III, 89 ff., 127 ff., 177 ff. 129   In welchem Ausmaß Denning mit „englischer Identität“ in seinen Entscheidungen argumentierte analysiert Stephens (Fn.  74), Band II, 81, 85, 183–185. 130  Nach Freeman (Fn.  74), VII, sei Denning in den 1950er Jahren der “hero of young lawyers” gewesen. Er habe Spaß daran gehabt, als enfant terrible zu agieren (406). 131   Vogenauer (Fn.  83), 927: Fehlendes wissenschaftliches Fundament gehörte unter englischen Richtern zum guten Ton; zur „Dürre der englischen Methodenlehre“ ebd., 945–950; zum Rückstand in der Ausbildung um 1950 ebd., 1214 f. 132  Vgl. Stevens (Fn.  79), 14 ff. 133   Stevens (Fn.  79), 26 f., 29. Die Richter um 1950 charakterisiert Stevens als zänkisch und unterwürfig (37 f.): „The bench surely contained its share of scholarly, fair, and decent men. It also had more than its share of cantankerous, prejudiced, intimidating, and boorish judges, constrained by no retirement age. In an age when the courts were under-utilised, the bar was financially impoverished, and what we would now call High Street practice [Kleinkanzleien, die alles machen, O.L.] was the norm 125

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tutionengefüge im Hinblick auf die Dritte Gewalt überlebt. Erst in den 1960er Jahren wandelte sich das Bild, und zu denjenigen, die eine aktivere Rolle einnahmen, zählte neben einigen Law Lords134 auch der wortmächtige Lord Denning, der den formalistischen Geist im House of Lords anprangerte135 und sich um die Konventionen nicht sehr scherte. Man übersehe nicht Dennings kleinbürgerliche Herkunft, was in einer ständisch geprägten Gesellschaft wie der englischen Dennings Rebellentum miterklären mag. Denning repräsentiert den Befreier von Pfadabhängigkeiten und wird zum Prototypen eines neuen, selbstsicher gestaltenden Richterleitbilds. Unter anderen Zeitumständen hätte man ihn wahrscheinlich als erratischen Querdenker ignoriert. Inzwischen ist freilich das neue Bild des sozial agierenden reformerischen Richterkönigs, für das Denning steht, seinerseits überholt. Seit Denning von der Bühne der Rechtsprechung abtrat, seit 1982, hat sich das britische Gerichtswesen grundlegend gewandelt: Mit dem EC Act 1972, dem Human Rights Act 1998, dem Devolution Act 1998 und dem Constitutional Reform Act 2005 ist das britische Verfassungsrecht grundlegend umgestaltet worden. Albert V. Diceys Idee einer parliamentary sovereignty, um die das Verfassungsrecht als politisches Recht kreiste,136 ist abgelöst worden durch eine Ausprägung einer richterlichen Kontrolle, die formell auf überkommene Überzeugungen des Common Law gestützt wird, sich materiell aber aus europäischen Rechtsgrundsätzen speist. Denning erscheint in der Rückschau auch deshalb als Genie, weil er letztmals eine untergegangene Epoche in einer Person verkörperte. Er hauchte der alten Ordnung neues Leben ein. Er gab einer Übergangsphase ein freundliches Gesicht. Schließlich erregt Lord Denning beständiges Interesse, weil sich mit seiner Person nicht nur materielle Reformschritte verbinden, sondern weil am Beispiel seiner Person zentrale Fragen der richterlichen (Un-)Abhängigkeit, der Bindung des Richters an Gesetz und Recht, der Auslegungslehre und Präjuzienbindung diskussionsfähig werden. Denning gibt diesen ansonsten eher abstrakten Methodenproblemen ein Gesicht. In der Bundesrepublik würden wir diese Themen letztlich bei Art.  20 Abs.  3 GG ansiedeln und diskutieren, ob und inwieweit Methodenfragen konstitutionalisiert worden sind.137 Will man die Bedeutung Dennings kontextualisieren, könnte for solicitors, judges were, with rare exceptions, accustomed to deference and sycophancy. Conservativism, both political and personal, with both a capital and a small ‘c’, was the order of the day among the judges.“ 134   Stevens (Fn.  79), 31, 42, 48, nennt besonders Lord Reid, Radcliffe, Devlin, später Lord Diplock, Wilberforce, noch später Lord Taylor, Bingham und Hoffmann; zu den Sturköpfen zählt er die Lord Chancellors (Simon, Jowitt, Simonds). Auch aus politischen Gründen hatten sie kein Interesse an einer aktivistischeren Richterschaft, bedrohte diese doch nur die Präeminenz des Unterhauses. 135   Denning sei der „publicist for the creative role of the judges“ gewesen, meint Stevens (Fn.  79), 35. 136   Vgl. statt vieler Oliver Lepsius, Der britische Verfassungswandel als Erkenntnisproblem. Zur andauernden Bedeutung von A. V. Dicey im britischen Verfassungsrecht, JöR 57 (2009), 559–600 (565– 574) m.w.N. 137   Vgl. etwa aus neuerer Zeit BVerfGE 122, 248 – Protokollrüge [2009]; 128, 193 – Geschiedenen-Unterhalt [2011]; der „Klassiker“ ist BVerfGE 34, 269 – Soraya [1973]. Aus der Literatur: Bernd Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen?, Rechtstheorie 40 (2009), 253–283; Ralf Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, 51–74; Reinhard Gaier, Zivilrechtliche Dogmatik und Verfassungsrecht, in: T. Lobinger/A. Piepenbrock/M. Stoffels (Hrsg.), Zur Integrationskraft zivilrechtlicher Dogmatik, 2014, 85 (94–98: „Metho-

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man ihn funktional als die englische Personifizierung der Art.  20 Abs.  3, 97 Abs.  1 GG ansehen: die Bindung der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht und ihre verfassungsrechtlich geschützte Unabhängigkeit wird in Gestalt einer individualisierenden, prototypischen Richterlauf bahn traktiert – und im Ergebnis anders gelöst als im Grundgesetz. Das Interesse an der Person Dennings dient letztlich der Behandlung der Amtsstellung in einem Lande, in dem diese Frage verfassungstextlich nicht verankert ist. So wird auch die Auseinandersetzung von Lord Simonds mit Lord Denning in der Rückschau zu einem paradigmatischen Konflikt über die Stellung des Richters.138 Trotz der Grundsätzlichkeit der Kontroverse wird sie sogleich wieder personalisiert und zwei unterschiedlichen Charakteren zugeschrieben.139 In welchem Grad gerade Common Law-Systeme von Richterpersönlichkeiten abhängen, und in welchem Grad Denning für die Lebensverlängerung der alten Ordnung steht, verdeutlich auch ein Buch, das unter dem Titel „Great Judges and How They Made the Common Law“ Richter aus England, den USA und Kanada porträtiert:140 Die Porträts stellen den Richter als Menschen in den Mittelpunkt: Woher er stammt; wie er wurde, was er war; wie er dachte und fühlte; woher er Selbstsicherheit und Überzeugungsvermögen für die Fortentwicklung des Common Law bezog. In dieser Reihe finden sich dann auch John Marshall, Oliver Wendell Holmes, Thurgood Marshall, Bertha Wilson141 oder eben Tom Denning.142 Große Richter, so wird das entscheidende Auswahlkriterium zusammengefasst, sind visionäre Rebellen, die nach ihren eigenen Regeln spielen.143 Die Personalisierung wird hier gegenüber dem Amtsverständnis ins Extreme gewendet. Für einige gelten die Regeln, Konventionen und Kompromisserfordernisse offenbar nicht (oder in geringerem Maße), weil sie aufgrund ihrer charakterlichen und sozial-künstlerischen Fähigkeiten die Berechtigung haben, die Regeln zugunsten des Fortschritts zu übertreten oder, um es vornehmer auszudrücken, diese weiterzuentwickeln. Die Freistellung Einzelner von Normen dient der Entwicklung und langfristigen Stabilisierung des Normensystems im Ganzen. In solchen Verherrlichungen des Richtertums wird die Personalisierung des Rechts handgreiflich und zur Systemeigenschaft stilisiert. Wer die Richter sind, denfragen sind Machtfragen“); Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie, 8.  Aufl. 2015, Rn.  640 ff., 696 ff., 744 ff., 777 ff., 822 ff., 936 ff. 138   Vgl. oben Fn.  9 0. 139   Tom Bingham, The Judge as a Lawmaker (1997), in: ders., The Business of Judging, 2000, 25 (28): „This may owe something to the clash of personalities between Lord Simonds and Lord Denning, the haughty figure of Simonds being less endearing than the warm personality of Denning, and the mandarin prose of Simonds being a little strong for most modern stomachs, particularly when compared with the apparently simple and highly imitable prose style of Denning.“ 140   Allan C. Hutchinson, Laughing at the Gods. Great Judges and How They Made the Common Law, 2012. 141   Bertha Wilson (1923–2007), war die erste Richterin am Kanadischen Supreme Court; vgl. Ellen Anderson, Judging Bertha Wilson. Law as Large as Life, 2001; Kim Brooks (Hrsg.), Justice Bertha Wilson: One Woman’s Difference, 2009. 142   Hutchinson, Laughing (Fn.  74), 207–235. 143   Hutchinson, Laughing (Fn.  74), 1–20: „… a great judge is someone who does not go with the flow; someone who is something of a maverick a go-it-alone person who works across the grain. … greatness requires vision and inventiveness that are matched by having the courage of one’s convictions; … great judges take an almost daredevilish approach; this is done not out of a couldn’t-care-less frivolousness, but from a deep commitment to their own sense of what is right.“ (11 f., 14, 15 f.).

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woher sie kommen, was sie waren, wie sie interagieren, untereinander und mit den Prozessbeteiligten144 – all dies sind keine Fragen der Richtersoziologie, wie sie es in der Bundesrepublik wären, sondern handfeste Themen, die wir in Deutschland zum Bereich Gerichtsverfassung, Methodenlehre und Verfassungsrecht zählen würden.

3.  Die richterliche Konstruktion einer „Verfassungssouveränität“ Runden wir das Bild von England ab, indem wir noch einen kurzen Blick auf zwei weitere prominente Richter aus der jüngeren Vergangenheit sowie aus der Gegenwart werfen: Lord Bingham und Sir John Laws.

a)  Lord Bingham Die besondere Stellung des Richters als Persönlichkeit hebt auch Tom Bingham (1933–2010) hervor, Master of the Rolls von 1992–1996, 1996–2008 Richter im Appellate Committee des House of Lords und seit 2000 Senior Law Lord. Bingham wäre gerne der erste Präsident des neuen U.K. Supreme Court geworden, der 2009 an die Stelle des Appellate Committee im House of Lords trat.145 Lord Bingham wandte sich im House of Lords besonders den „öffentlich-rechtlichen Themen“ zu wie Menschenrechtsschutz oder Devolution in Schottland. Er saß dem House of Lords in der epochalen Entscheidung zu den Festsetzungen Terrorismusverdächtiger im Belmarsh-Gefängnis vor (2004), in der erstmals festgestellt wurde, dass ein Parlamentsgesetz gegen den Human Rights Act verstoße und es aufzuheben sei146 – ein Meilenstein in der britischen Grundrechtskontrolle und inzwischen der leading case für judicial review am Maßstab des Human Rights Act. Seit dieser Entscheidung existiert im Vereinigten Königreich eine materielle Normenhierarchie ohne entsprechende Geltungshierarchie. Natürlich setzte sich auch Lord Bingham mit der Rolle des Richters als „lawmaker“ auseinander. Er arbeitet sich an Stellungnahmen anderer Richter ab, mit denen er einen literarischen Diskurs unter gleichgestellten Personen führt. Zwar unterscheidet Bingham vier grundsätzliche Positionen zur Frage ob und inwieweit Richter rechtsschöpfend tätig werden dürfen. Alle diese Positionen werden in richterlichen Autoritäten gegründet. Deren Argumente zählen.147

144   Vgl. etwa Alan Paterson, The Law Lords. How Britain’s Top Judges Set Their Role, 1982; ders., Final Judgment. The Last Law Lords and the Supreme Court, 2013. 145   Tom Bingham, The Business of Judging, 2000. Über Binghams Führungsrolle im House of Lords Paterson, Final Judgment (Fn.  9 0), 146–153, 181–195. 146   A and others v Secretary of State for the Home Department, [2004] UKHL, 56. Über die Entscheidung siehe Tom Bingham, The Rule of Law, 2010, 148 ff.; Brice Dickson, Human Rights and the UK Supreme Court, 2013; Fergal Davis u.a. (Hrsg.), Critical Debates on Counter-Terrorism Judicial Review, 2014. Über die Entscheidungsfindung im Belmarsh-Fall und das Agieren von Bingham im Gericht berichtet Paterson, Final Judgment (Fn.  9 0), 190, 294–296. 147   Bingham, Lawmaker (Fn.  139), 25–34. Vgl. aber auch abstrakter ders., Judicial Independence (1996), in: The Business of Judging (Fn. 145), 55–68.

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b)  Sir John Laws Sir John Laws (*1945), seit 1999 Richter am Court of Appeal, geht noch weiter als Lord Bingham im Belmarsh-Fall. Alle Rechte und Pflichten des Europarechts seien durch den EC-Act 1972 ins britische Recht inkorporiert worden. Der EC-Act habe den Rang eines Verfassungsgesetzes. Europarecht (und folglich auch die EMRK) stehen über Parlamentsgesetzen aber nur aufgrund einer rein britischen Vorrangregel des Common Law, nach der es Verfassungsgesetze gebe, die die parliamentary sovereignty einschränken könnten. Diese Common Law-Regel wendet Laws auf den EC-Act an.148 Der Vorrang des Europarechts wird also über eine im Common Law angelegte Hierarchisierung begründet, die zu einem Vorrang der Verfassung vor Parlamentsgesetzen führt. In seinen Publikationen führte Laws aus, eine echte Demokratie werde letztverbindlich durch die Verfassung regiert, nicht aber durch eines ihrer Organe wie das Parlament. Die parliamentary sovereignty wandelt er in eine constitutional sovereignty um und ersetzt damit die überkommene Idee einer politischen Verfassung durch eine juridifizierte Verfassung.149 Die Folgen wären erheblich und grundstürzend für das britische Verfassungsverständnis. Laws deutet nämlich zahlreiche Grundsätze um: Das Verhältnis von Parlament und Gericht wird antagonistisch gesehen und vor der Schablone einer „constitutional balance“ erläutert,150 obwohl es in Westminster traditionell gerade keine Gewaltenteilung gab, weil die Law Lords im Oberhaus auch an der Legislativkompetenz des Oberhauses teilhatten und der Lord Chancellor (in seinem alten Zuschnitt) Zuständigkeiten aller Gewalten vereinte. Parallel wird das Common Law zum Inbegriff des Rechtswesens selbst erklärt. Es sei „the unifying principle of our constitution under the Crown“ und bestimme auch die Interpretation der Gesetze,151 obwohl es traditionell nur eine Rechtsschicht neben anderen war (Equity). Bemerkenswert ist überdies, wie oft sich Laws gerade in seinem Buch „The Common Law Constitution“ auf Lord Denning bezieht, als wollte er, gleichfalls Richter am Court of Appeal, an Dennings Nimbus des großen kreativen Reformers partizipieren. „Common Law“ im Verständnis von Sir John Laws mutiert zu einer quasi naturrechtlichen materiellen Basis, die auch dazu dient, Einflüsse vom Kontinent und insbesondere aus der Rechtsprechung des EGMR zurückzudrängen. Der britische Verfassungswandel soll auf diese Weise nationalisiert werden und nicht einem europäisch induzierten Anpassungsprozess folgen, der Laws mit seiner Menschenrechtsfundierung ohnedies viel zu weit geht.152 Laws Common Law Constitution trägt damit sowohl revolutionäre als auch orthodoxe Züge. 148   Thoburn v Sunderland City Council, [2003] QB 151. Das House of Lords nahm eine Revision nicht an. Eine Selbstrechtfertigung der Entscheidung in John Laws, The Common Law Constitution, 2014, 66–71. 149   Laws, Constitution (Fn.  148); zuvor ders., Is the High Court the Guardian of Fundamental Rights?, Public Law 1993, 59; Law and Democracy, Public Law 1995, 72–93; ders., The Constitution – Morals and Rights, in: Public Law 1996, 622–635; ders., The Constitutional Foundations of Modern Public Law, in: European Review of Modern Public Law 10 (1998), 579–589. 150   Laws, Common Law Constitution (Fn.  148), 25–32. 151   Ebd., XIV, 3: „The common law is the interpreter of our statutes, and is the crucible which gives them life.“ 152   Vgl. ebd., 57 ff., 79 ff. Laws legt Wert darauf, dass sich neue Rechtsgrundsätze, die in Großbri-

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Letztere zeigen sich vor allem bei einer kompetentiellen Betrachtung. Über die Common Law Constitution haben nämlich Richter das letzte Wort: Zum einen statten sie inkorporierende Parlamentsgesetze nachträglich mit dem Status eines Verfassungsgesetzes aus, zum anderen messen sie Parlamentsgesetze an höheren Normen, die sie de facto selbst verwalten. Die selbstbewusste Stellung des Richters erhält hier eine neue Funktion: die des Verfassungsgebers in einer Verfassungstradition, die keinen förmlich abgegrenzten Verfassungstext kennt. Wer sollte über die Rangfrage, ob ein Gesetz Verfassungsrang hat, entscheiden, wenn nicht Richter? Ob sich diese Haltung durchsetzen wird, ist freilich noch offen, denn Laws Ansichten werden hart attackiert.153 Mit seinen Urteilen und Aufsätzen hat er jedenfalls eine Anstoßfunktion für Rechtserzeugung und Verfassungswandel in einem Diskurs der Institutionen wahrgenommen. Wurde bislang von den englischen Richtern bei der Ausgestaltung ihrer Kompetenzen das Institutionengefüge regelmäßig respektiert, so wird nun durch Laws dieses selbst zum Gegenstand richterlicher Rechtserkenntnis bzw. -umgestaltung. Sein Trick dabei ist, die Implementation einer dem englischen Recht an sich fremden Normenhierarchie als Ausdruck alter Common Law-Grundsätze zu präsentieren und auf diese Weise die Richterrevolution als Traditionspflege zu kaschieren. Nimmt man diese Konstruktion ernst, dann machte es in einer Binnenperspektive materiellrechtlich keinen erheblichen Unterschied, wenn das Vereinigte Königreich aus der EU austräte, weil die Individualrechte und Rechtsgrundsätze wie Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit oder der Bestimmtheitsgrundsatz inzwischen eine richterrechtlich notifizierte Common Law-Grundlage erhalten haben, über die das Parlament nicht verfügen kann.154

c)  Verfassungswandel und Richtermacht Großbritannien sieht sich mit einem Trend zum „common law constitutionalism“ konfrontiert, der auf richterliche Kontrollfunktionen gestützt wird, die bis auf Sir Edward Cokes Dr. Bonham’s case (1610) zurückgeführt werden: Parlamentsgesetze sind der Rechtskontrolle an höherrangigen Prinzipien zugänglich. Das führt zu einem Wandel des Parlamentsgesetzes, der Regierungsfunktionen wie des Richteramtannien gemeinhin dem EuGH oder dem EGMR zugeschrieben werden (er nennt Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz und den Bestimmtheitsgrundsatz), ebensogut aus dem Common Law ableiten ließen und keine kontinentaleuropäische Wurzel bräuchten, um in England zu gelten: „When they cross the Channel, these principles and ideas are absorbed into the common laws’s autnonomy; that is, their development in this jurisdiction is in the hands of our judges,……“ (63 f.). 153   Kritisch etwa Tom Bingham, The Rule of Law, 2010, 165, der daran festhält, das Mandat der Gerichte zur Überprüfung der Menschenrechte leite sich vom Parlament ab und nicht von einer dieses übertrumpfenden Autorität. Zur weiteren Diskussion und Kritik: J. A. G. Griffith, The Brave New World of Sir John Laws, Modern Law Review 63 (2000), 159; Martin Loughlin, The Idea of Public Law, 2003, 133 f.; ders., Constituent Power Subverted: From English Constitutional Argument to British Constitutional Practice, in: ders./N. Walker (Hrsg.), The Paradox of Constitutionalisation, 2007, 27– 48; ders., Grundlagen und Grundzüge des staatlichen Verfassungsrechts: Großbritannien, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I, 2007, §  4 Rn.  78. 154   Zur Diskussion solcher Vorschläge in Großbritannien vgl. Brice Dickson, Repeal the HRA and Rely on the Common Law?, in: K. Ziegler u.a. (Hrsg.), The UK and European Human Rights, 2015, 115–134 sowie weitere Beiträge dieses Bandes.

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tes. Alle Gewalten haben sich geändert:155 Das Parlamentsgesetz wird politisch instrumentalisiert; es drückt keinen gesellschaftlichen Konsens mehr aus (wie er ursprünglich auf der Basis ständischer Interessengleichheit gewährt schien), sondern ist ein parteipolitischer interessengeleiteter Kompromiss. Die Kabinettsregierung ist inzwischen durch die Premierministerregierung abgelöst worden. Sodann wirft der Human Rights Act 1998 die Frage auf, in welcher Weise Gerichte Gesetze überprüfen können. Der Human Rights Act wahrt scheinbar die parliamentary sovereignty, weil ein Gericht ein Gesetz nicht auf heben, sondern nur seine Unvereinbarkeit mit den Menschenrechten feststellen kann (sec. 4 HRA).156 Doch liegt in dieser Feststellung naturgemäß die Anerkennung einer materiellen Normenhierarchie, auch wenn ihr keine Geltungshierarchie an die Seite gestellt wird.157 Institutioneller Ausdruck dieses Prozesses ist die Verselbständigung der rechtsprechenden Gewalt vom Westminster Parliament, dessen Teil das Appellate Committee des House of Lords war, zum U.K. Supreme Court 2005/2009.158 Die Verfassungsreformen von New Labour159 aber auch Vorstöße aus der Richterschaft selbst haben die Herauslösung der britischen Höchstgerichtsbarkeit aus dem House of Parliament ausgelöst.160 Der neue Gerichtshof wird das Richterbild weiter verändern, sowohl in der Frage der Kompetenzen als auch rein materiell-rechtlich, über die ins Auge stechenden symbolischen Veränderungen hinaus (andere Roben und Kopf bedeckungen). Denn die neuen Maßstäbe der Legalität können nicht mehr durch das Vertrauen auf individuelle Weisheit oder persönliche Charakterstärke begründet werden. Sie bedürfen einer objektivierten Geltung, nicht subjektiver Glaubwürdigkeit. Wenn die Parlamentssouveränität durch eine constitutional sovereignty abgelöst wird, dann entfällt auch eine weitere Voraussetzung des alten englischen Richterkönigtums: Solan155  Vgl. Roland Sturm, Westminster oder die Kunst des Überlebens. Der britische Parlamentarismus verweigert sich den Niedergangsthesen, in: H. Oberreuter (Hrsg.), Macht und Ohnmacht der Parlamente, 2013, 115–130, der auf die Stärkung sowohl des Unter- als auch des Oberhauses gegenüber der Regierung hinweist, was auf eine weitere Ausdifferenzierung der Gewalten auch innerhalb Westminsters deutet. 156   Zur Praxis näher: Jeff King, Parliament’s Role Following Declarations of Incompatibility under the Human Rights Act, in: M. Hunt u.a. (Hrsg.), Parliaments and Human Rights, 2015, 165–192. 157   Vgl. zum Problem und zur Diskussion Almut Fröhlich, Von der Parlamentssouveränität zur Verfassungssouveränität: der britische Verfassungswandel am Beispiel des Human Rights Act 1998, 2009; Gernot Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, §  4 ; Richard Gordon, Constitutional Change and Parliamentary Sovereignty – The Impossible Dialectic, in: M. Qvortrup (Hrsg.), The British Constitution, 2013, 153–163. 158  Dazu Brice Dickson, Human Rights and the UK Supreme Court, 2013; Kate Malleson, The Evolving Role of the UK Supreme Court, Public Law 2011, 754–772; Lord Windlesham, The Constitutional Reform Act 2005: Ministers, Judges and Constitutional Change, Public Law 2005, 806–823; ders., The Constitutional Reform Act 2005: the Politics of Constitutional Reform, Public Law 2006, 35–57; Gernot Sydow, Der geplante Supreme Court für das Vereinigte Königreich im Spiegel der britischen Verfassungsreform, ZaöRV 64 (2004), 65–94; Andrew Le Sueur (Hrsg.), Building the UK’s New Supreme Court, 2004. 159   Zur Entwicklung Stevens (Fn.  79), 89 ff., 100 ff., 137 ff. 160   Insbesondere Lord Bingham sprach sich dafür aus, das oberste Gericht aus dem House of Lords zu lösen und als unabhängigen Gerichtshof zu errichten; vgl. zur Diskussion Lord Windlesham (Fn.  158), 812–817, 39 f.; Stevens (Fn.  79), 178–185. Vgl. auch Andrew Le Sueur, Judicial Power in the Changing Constitution, in: J. Jowell/D. Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, 5.  Aufl. 2000, 323–345, der bereits eine intensivere Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit forderte.

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ge formaliter nicht Gerichte sondern Parliament das letzte Wort besaß, solange auch das rechtsprechende Kollegium des House of Lords noch Teil des Parliament war, konnten sich Richter kraftvolle Meinungen erlauben. Sie gaben Anstöße für die Rechtserzeugung, die der parlamentarischen Letztentscheidung dienten. Parliament konnte sie bestätigen, verwerfen oder dulden. Das befreite Richter von der Legitimationsfrage und ermöglichte die Begründung richterlicher Erkenntnis mit Weisheit und Charakter. Wenn Gerichte aber eine Letztkontrolle ausüben, sie Gesetze verwerfen, müssen sie ihre Kontrolldimension sehr viel stärker begründen, rechtfertigen, rationalisieren und legitimieren. Kann der Verweis auf persönliche Überlegenheit jetzt noch genügen? Es steht daher zu erwarten, dass die hohe Personalisierung der britischen Rechtsprechung, wie wir sie aus dem House of Lords und auch dem Court of Appeal kannten, zurückgehen und sich auf ein mittleres US-amerikanisches Niveau hin bewegen wird. Im Gefolge der Instrumentalisierung des Parlamentsgesetzes und der Suprematie der Menschenrechte müssen die britischen Gerichte zudem Gemeinwohlfunktionen übernehmen, die bislang in den politischen Organen ressortierten. Sie sind nicht mehr, viktorianisch gesprochen, Diener der Legislative der Königin, sondern sie aktivieren auf das Common Law gestützte allgemeine Prinzipien der Rationalität und Freiheit, von due process und reasonablenenss.161 Aus Präjudizien (Einzelfallkorrekturen) werden Prinzipien: das Konkrete in der Entscheidung wandelt sich zum Abstrakten. Richterliche Kontrolle der Einzelfallgerechtigkeit wird zur Legalitätskontrolle, zur Strukturgerechtigkeit. Martin Loughlin stellt fest, „the old constitution of liberty becomes a new constitution of legality.“ „We are“, fasst Lough­ lin die rasante Entwicklung der letzten zehn Jahre zusammen, „perhaps only a short step away from the American aphorism that ‚we are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is‘.“162

IV.  Das Beispiel des Bundesverfassungsgerichts Blicken wir abschließend auf Deutschland, denn hier tritt uns ein anderes Grundverständnis von Amt und Person des Richters entgegen. Rechtserkenntnis geht als ent-personalisierter Prozess vonstatten. Es sind Organe, die entscheiden, nicht einzelne Richter – so kann man das Gesamtbild für die Höchstgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik festhalten, das hier am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts beleuchtet werden soll.

  Vgl. neben dem Belmarsh-Fall (Fn.  146): R. v Home Secretary, ex parte Simms, [2002] 2 AC 115; Jackson v Attorney General, [2005] UKHL 56. Zur Entwicklung statt vieler Bingham, Rule of Law (Fn.  146), 160 ff.; Martin Loughlin, The British Constitution, 2013, 98 ff., 105 ff., 112 ff. 162   Loughlin, British Constitution (Fn.  161), 116. 161

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1.  Ein institutionenbezogene Richterbild a)  Zurücktreten der Person hinter das Organ Im Unterschied zu England oder den Vereinigten Staaten ist es in Deutschland regelmäßig die Institution als solche, die spricht. Es entscheidet „das“ Bundesverfassungsgericht, „der“ Senat oder „die“ Kammer. Die Entscheidungsgründe werden, wie es der deutschen Rechtsprechungstradition entspricht, in einem rein objektiven Stil formuliert. Die Namen der autorisierenden Richter folgen erst am Ende der Entscheidung im Duktus von Unterschriften. Wer Autor der Begründung ist, ist nicht erkennbar. Insidern mag der Berichterstatter des Verfahrens bekannt sein. Ob er oder sie aber tatsächlich die tragenden Gründe verfasst hat, bleibt Beratungsgeheimnis.163 Welche Passagen am Ende aus wessen Feder stammen kann nur gemutmaßt werden, auch wenn Stilbrüche gelegentlich Rückschlüsse zulassen.164 Es ist jedenfalls praktisch unmöglich, einzelne Aussagen einzelnen Richtern zuzuordnen und eine Entscheidungsbegründung zu individualisieren. Solange das Beratungsgeheimnis besteht, wird die Wechselbeziehung zwischen Richterbiographie und Rechtsprechung verborgen bleiben.165 Im Unterschied zur Praxis in den angelsächsischen Ländern würde man in einer Entscheidung auch nie einen Satz finden, der die Personalpronomen „ich“ oder „wir“ enthält.166 Das Subjekt des Satzes ist eher die auszulegende Norm als solche (Sinn und Zweck der Norm); es ist die Norm, die zum Richter spricht. Im Aktiv stehen sodann die Aussagen anderer Organe (Wille des Gesetzgebers) oder Vorin­ stanzen. Überdies fällt in der deutschen Juristensprache eine Vorliebe für Passiv-Konstruktionen und reflexive Verben auf – man nutzt die Möglichkeiten der Grammatik, eine Autorisierung zu umgehen. Sorgfältig wird der Eindruck erzeugt, nicht Überzeugungen leiten, sondern Normen; nicht ein Richter spricht, sondern das Gericht; nicht der Mensch entscheide, sondern das Organ.

b)  Zurücktreten der Person hinter die Norm Der Argumentationsgang eines deutschen Gerichts nimmt seinen Ausgang bei der Norm, die nach objektivierbaren Kriterien ausgelegt wird (Sinn und Zweck der Norm, Systematik, Grammatik, Gesetzgebungsgeschichte). Im Zentrum steht üblicherweise der Normtext oder ein normativer Maßstab, der an die Stelle einer Norm tritt: Er wird traktiert. Die hier meistens verwendeten Passiv-Formen oder reflexiven   Gelegentlich wird der Berichterstatter sogar überstimmt und gibt sein Votum als abweichende Meinung ab, so Hassemer in BVerfGE 120, 224 (255–273) – Geschwisterinzest [2008]. Zum Einfluss des Berichterstatters vgl. Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des BVerfG, 2010, 86–88, 91–94. 164   Auffällig ist etwa der Übergang vom Souveränitäts- und Identitätsdiskurs zur demokratiebezogenen Perspektive in BVerfGE 123, 267 (356) – Lissabon [2009]. Zur Analyse dieser Entscheidung vgl. die Beiträge in: Der Staat 48 (2009), Heft 4. 165  So Rolf Lamprecht, Richter contra Richter, 1992, 35 f. 166  Ebenso Uwe Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, §  6 Rn.  152. 163

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Verben tun ein Übriges, um keine Autorenschaft erkennen zu lassen. Normen werden zu Quasi-Akteuren: Sie verfolgen Zwecke. Auch andere Akteure in Urteilsbegründungen sind artifizielle Gesprächspartner. Was der Gesetzgeber wollte, ist beispielsweise nur scheinbar bestimmbar, weil „der“ Gesetzgeber ein Konglomerat von Organen umfasst (im Gesetzgebungsgang des Grundgesetzes typischerweise die Bundesregierung, von der meistens die Gesetzesinitiative ausgeht und die den ersten Entwurf verfasst, sodann Bundestag, Bundesrat und gegebenenfalls noch der Vermittlungsausschuss). Andere Gerichte sind gleichfalls Akteure in Urteilsbegründungen: Wie entschieden die Vorinstanzen, wie entschied das Bundesverfassungsgericht in seinen früheren Judikaten, welche präjudizielle Wirkung wird Entscheidungen beigemessen, die sich schon mit der Interpretation der betreffenden Norm beschäftigt haben?167 Die Akteure, mit denen sich eine Entscheidungsbegründung auseinandersetzt, sind keine Personen, nicht die Richterkollegen, auf die amerikanische oder britische Entscheidungen in extenso eingehen, sondern personifizierte Normen und entpersonifizierte Organe. Es geht in einer Entscheidungsbegründung folglich nicht um die Rechtsansichten von Personen, sondern um formalisierte Aussagen von anderen Institutionen. Der Begründungsdiskurs spielt sich unter rechtsförmlichen Akten ab,168 begünstigt durch den Umstand, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit keine Tatsacheninstanz ist und keine Beweisaufnahme im herkömmlichen Sinne kennt. Jedenfalls wird alles Erdenkliche getan, um Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung zu entpersönlichen und als Ausdruck eines rationalen, objektivierbaren, textgesteuerten Prozesses darzustellen, in dem der individuelle Beitrag Einzelner sublimiert wird.169

c)  Zurücktreten der Person hinter das System Der Richter ist zwar nicht mehr „la bouche de la loi“,170 doch die Idee eines verselbständigten Rechtssystems prägt nach wie vor die kontinentaleuropäische Recht­ sprechungstradition.171 Dem Anspruch nach weiß das System mehr als der Einzel167  Zur selbstreferentiellen Begründungspraxis des BVerfG, eigene Entscheidungen im Wege des Selbstzitats aus der Interpretation früherer Entscheidungen abzuleiten: Matthias Jestaedt, Autorität und Zitat. Anmerkungen zur Zitierpraxis des BVerfG, in: FS Bethge, 2009, 513–533. Marion Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 257 (277) spricht von der Entstehung eines „entscheidungsinternen Referenzwerks“. 168   Das erzeugt gerade unter ausländischen Beobachtern den Eindruck, die Richter würden ihre wahren (politischen, sozialen, ökonomischen) Gründe hinter den formalen Begründungsstrukturen verdecken, so Kischel (Fn.  166), §  6 Rn.  155. 169   Als Klassiker dazu Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3.  Aufl. 1978 (1969), 55 ff., insbes. 91 ff. 170  Siehe Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986; und sodann dies., Der IX. Abschnitt des Grundgesetzes: Absicht und Wirklichkeit, in: Der Richter und 40 Jahre Grundgesetz, 1991, 21 (30–35). Zu Richterkönigen in der Selbstbeschreibung: Berndt (Fn.  48), 174–189. 171  Vgl. Kischel (Fn.  166), §  6 Rn.  28–32, 58, 145 f. Zur Systemorientierung im öffentlichen Recht Oliver Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen im öffentlichen Recht, in: E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, 53 (61–71, 82–85).

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ne.172 Auch wegen der Systemorientierung des deutschen Rechtsdenkens wäre es alles andere als überzeugend, eine Rechtserkenntnis zu individualisieren. Es stellte sich sonst die Frage, warum ein Einzelner mehr zu wissen meint als die Institutionen und Organe vor ihm oder gar als das System im Ganzen. Individualisierbare Meinungen stellen sich notgedrungen gegen den Rationalitätsanspruch einer systematischen Rechtserkenntnis. Wer individualisiert, personalisiert, historisiert oder kontextualisiert, negiert systemische Pfadabhängigkeiten. Das wird von vielen deutschen Juristen als latente Gefahr angesehen und bedroht auch die Entscheidungsrationalität von Höchstgerichten, die sich den Systemglauben zunutze machen. Wenn etwa das Bundesverfassungsgericht aus Anlass eines Streitfalls zugleich über ähnliche und zukünftige Fälle mitentscheidet oder wenn es bestimmte Interpretationen generell-abstrakt als verfassungsrechtliche Maßstäbe festschreibt, dann erhält es die Macht, rechtssatzgleiche Entscheidungen zu fällen, denen eine Bindungswirkung zukommt, die den konkreten Einzelfall überschreitet. Das Gericht entscheidet nicht mehr Fälle, sondern es dekretiert Normen. Es geht nicht mehr um Einzelfallgerechtigkeit, sondern um Verfassungsstruktur und Verfassungsfortbildung. Hingen solche weitreichenden Aussagen indes von personalisierbaren Einschätzungen Einzelner ab, verlören sie Glaubwürdigkeit und Legitimation. Warum sollten sich einige wenige eine generell-abstrakte Rechtserzeugungskompetenz zutrauen dürfen, die sonst von „dem“ Gesetzgeber wahrgenommen wird, also einem Institutionengeflecht, das Repräsentation, Interessenausgleich, Kompromissbildung und gegenseitige checks and balances sorgsam austariert?173 Für die Legitimation der Entscheidungskompetenz und die Legitimation des Entscheidungsergebnisses kommt es daher auf eine objektiv abgeleitete Darstellung der Entscheidungsherstellung an (Verfassungstext, Maßstäbe, Rechtsprechung). Sie erst ermöglicht die Rezeption und Reflexivität der Entscheidung.174 Jede Personalisierung erscheint dann aber als potentielle Verletzung der objektiven Begründung. Ließe sich aufgrund der topischen Struktur des Verfassungsrechts eine Aussage nicht hinreichend verobjektivieren, träte die Abhängigkeit der Entscheidungsfindung von den kontextuellen Umständen und den subjektiven Präferenzen zu Tage. In diesem Fall muss die richterliche Subjektivität gezielt invisibilisiert werden:175 materiell indem auf eine Verfassungsdogmatik verwiesen wird, die sich unpolitisch, neutral, 172   Vgl. zu den transzendieren Eigenheiten des deutschen Systemdenkens etwa Patrick Hilbert, Systemdenken in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, 2015, 48 ff.; Peter Dieterich, Systemgerechtigkeit und Kohärenz, 2014, 31 ff., 302 ff.; Lepsius, Problemzugänge (Fn.  171), 65 f.; ders., Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1 (36–41); Matthias Jestaedt, das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, 81 ff. Vergleichend: Mario Losano, Sistema e struttura nel diritto, 3 Bände, 2002. 173   Zu dem Problem der Kompetenzabgrenzung des Verfassungsgerichts in der Demokratie Klaus Schlaich, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), 99 (103 ff.); Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, 105–108, 173, 325–355; Christoph Schönberger, Höchst­ richterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 296 (306 ff.); Christoph Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: M. Jestaedt u.a., Das entgrenzte Gericht, 2011, 281 (305–323). 174   Dazu näher Albers (Fn.  167), 264–279. 175  Vgl. Bernd Eisenblätter, Die Überparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts im politischen Prozess, 1976, 80, 93.

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kontextfrei und akteurslos präsentiert,176 und formell indem die Entscheidung einem Kollegialorgan zugerechnet wird, in dem die individuellen Entscheidungsbeiträge als solche nicht mehr erkennbar sind.

2.  Richter als Teile eines Kollegialorgans a) Konsensorientierung Um eine generell-abstrakte Rechtserzeugungskompetenz behaupten zu können, müssen sich Gerichte nach außen als eine gleichermaßen austarierte Binnenorganisation darstellen. Zu diesem Zweck wird ein Expertendiskursmilieu organisiert, das die Begründung vor einer zivilgesellschaftlichen Diskussion abschließt.177 Richter müssen betont als Kollegialorgan entscheiden, den Schleier des Beratungsgeheimnisses hüten und die Bindung an die Verfassung als das allein leitende Erkenntniskriterium herausstreichen. Sie sollen zu einer einverständlichen, einstimmigen oder doch einmütigen Lösung kommen.178 In dieser Weise präsentiert sich das Bundesverfassungsgericht nach außen: sowohl was den Duktus als auch was die Kommunikation seiner Entscheidungen betrifft. Gerade Richter des Bundesverfassungsgerichts legen immer wieder Wert auf die Feststellung, sie entschieden strikt juristisch und unpolitisch.179 In den Senatsberatungen des Bundesverfassungsgerichts, berichten die Richterinnen und Richter, herrsche ein rein sachliches, entscheidungsorientiertes und nur 176  Für Dogmatik allgemein näher analysiert durch Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof u.a. (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, 39–62. 177   Dazu beispielhaft Erhard Blankenburg/Hubert Treiber, Interpretationsherrschaft über die Grundrechte als Konkurrenzproblem zwischen Rechts- und (empirisch orientierten) Sozialwissenschaftlern, in: W. Hassemer/W. Hoffmann-Riem/J. Limbach (Hrsg.), Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, 9 (27). Sie beobachten einen zweifachen Schließungsprozess: personell auf juristisch geschulte Fachleute bezogen und thematisch auf eine rechtlich vorstrukturierte Problemwahrnehmung bezogen und stellen dieses geschlossene juristische Referenzsystem dem höheren Kritikpotential in den USA gegenüber. 178  So bezogen auf Senatsentscheidungen des BVerfG Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Klugheit der richterlichen Entscheidung, in: A. Scherzberg et al. (Hrsg.), Kluges Entscheiden, 2006, 3 (13). Ebenso Gertrude Lübbe-Wolff, Die Beratungskultur des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 2014, 509–512 (509); dies., Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht?, 2015, 23. Zur starken Konsensorientierung der Senatsmitglieder siehe auch die Stimmen bei Kranenpohl (Fn.  163), 182–188, sowie Oliver Lembcke, Hüter der Verfassung, 2007, 252–260. 179   Vgl. etwa Peter Müller, „Heute darf ich das sagen“, Interview in: DIE ZEIT 15/2015 v. 9.4.2015: „In den Beratungen zählt allein das rechtliche Argument. Die Vorstellung, dass man eine politische Agenda in die Diskussion einbringen kann, ist abwegig. Wer so etwas versuchen würde, stünde sofort im Abseits und würde, zu Recht, nicht ernst genommen.“ Ebenso Lübbe-Wolff, Wie funktioniert (Fn.  178), 27 f. Weitere Stimmen bei Kranenpohl (Fn.  163), 163–167. Eine andere Wahrnehmung artikuliert Dieter Grimm, Was das Grundgesetz will, ist eine politische Frage, FAZ v. 22.12.2011, S.  30, der insistiert, juristische Kriterien können die Entscheidungen des Gerichts nicht restlos bestimmen; eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit sei eine Illusion. Grimm bezog sich auf eine Kontroverse, die Andreas Voßkuhle und Norbert Lammert im November 2011 über die Frage austrugen, ob Entscheidungen des BVerfG ausschließlich juristischer Natur seien, vgl. FAZ v. 22.12.2011, S.  30. Anlass war ein Vortrag Voßkuhles „Das Bundesverfassungsgericht und der Gesetzgeber“ beim Wissenschaftsforum des Deutschen Bundestages am 17.11.2011.

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an Rechtsfragen ausgerichtetes Beratungsklima.180 Im persönlichen Umgang hingegen gehe man auf Distanz.181

b)  Juridifizierung der Beratungskultur Dass Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auch durch die Überzeugungen der Richter beeinflusst werden, wird niemand bestreiten.182 Fragt man insoweit nach, trifft man unter Juristen auf ein starkes Tabu. Vermutungen in diese Richtung lösen geradezu empörte Reaktionen aus, berichtet Brun-Otto Bryde und ergänzt: „Die Legitimation des BVerfG für seine Kontrolltätigkeit beruht in erheblichem Umfang auf seiner Unabhängigkeit und wäre durch nichts leichter zu erschüttern als durch den Eindruck politischer Manipulierbarkeit“.183 Eine Reflektion, ob gerade die in jüngster Zeit von Mitgliedern des Gerichts in den Vordergrund gerückte spezifisch juristische Diskussionskultur184 (und das damit implizierte Absehen von persönlichen oder politischen Belangen) für ein Verfassungsgericht angemessen ist, findet man eher selten. Das Gericht scheint sich der bewussten Juridifizierung der Beratungskultur sicher. Eine zu starke Fixierung auf juristische Dogmatik und die dann notwendige Reformulierung von Belangen in dogmatischen Kategorien, weil sie sonst nicht anschlussfähig und diskussionsfähig sind, kann allerdings auch zu Reflexionsdefiziten führen,185 zumal bei einem Organ, das der Koppelung von Recht und Politik dient und ihr ausgesetzt ist. Die Juridifizierung der Entscheidungsberatung muss von der Prämisse ausgehen, dass juristische Kategorien ausreichen, um ein Problem angemessen zu erfassen und zu lösen. Dies wiederum impliziert, dass andere Maßstäbe, seien sie ethischer, ökonomischer oder gesellschaftspolitischer Natur, zurückstehen müssen, bestenfalls von den dogmatischen Kategorien absorbiert werden können. 180   Vgl. die dokumentierten Aussagen in Kranenpohl (Fn.  163), 94–100, 163–175; Lübbe-Wolff, Beratungskultur (Fn.  178); dies., Wie funktioniert (Fn.  179), 26 f., die den Beratungsstil die wichtigste Kulturleistung des Gerichts nennt. Vgl. auch die vielzitierte Aussage Konrad Hesses auf der Innsbrucker Staatsrechtslehrertagung, VVDStRL 39 (1981), 207 f., Methodendissense spielten bei Senatsberatungen keine Rolle; man müsse zur Sache kommen und diese in ihrer Eigengesetzlichkeit von guten Juristen juristisch gut behandeln. 181  So Hoffmann-Riem, Klugheit (Fn.  178), 15. 182   Dazu näher etwa Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, 182–184 unter Hinweis auf Donald P. Kommers, Judicial Politics in West Germany: A Study of the Federal Constitutional Court, 1976, 150 ff. Siehe auch Eisenblätter (Fn.  175), 80–85. Als Fallstudie zum Einfluss protestantischer Überzeugungen auf ein Urteil siehe O. Lepsius/A. Doering-Manteuffel, Die Richterpersönlichkeiten und ihre protestantische Sozialisation, in: A. Doering-Manteuffel/B. Greiner/O. Lepsius, Der Brokdorf-Beschluss, 2015, 167 ff. Siehe etwa auch Robert C. van Ooyen, „Volksdemokratie“ und nationalliberaler Etatismus. Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der politischen Theorie am Beispiel von Richter-Vorverständnissen (Böckenförde und Kirchhof ), in: ders./M. H. W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2.  Aufl. 2015, 95–118; Frieder Günther, Wer beeinflusst hier wen? Die westdeutsche Staatsrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht während der 1950er und 1960er Jahre, ebd., 205–218. 183   Bryde (Fn.  182), 178, 179. 184   Vgl. oben Fn.  179. 185   Was hierzu kritisch für die Wissenschaft angemerkt wurde, gilt für eine analog vorgehende richterliche Praxis genauso, vgl. etwa Martin Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, 49–77.

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Wenn gerade die Richter des BVerfG betonen, die Beratungsdiskussion ginge streng verfassungsrechtlich vor und der Argumentationsrahmen bleibe auch bei der Folgenbewertung juristisch,186 mag man schon fragen, ob hier nicht Diskursverengungen drohen. Welches Gewicht hat das in der Rechtswissenschaft ständig erhobene Plädoyer zur Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse oder die Kontextualisierung der Sachverhalte und Vorentscheidungen im Bundesverfassungsgericht? In der richterlichen Selbstbeschreibung des Beratungsdiskurses könnte man die Absicherung von judicial self-restraint sehen, also eine Maxime vermuten, nur Vorgaben zu machen, wenn sich diese tatsächlich aus der Verfassung ergeben. Doch die Karlsruher Entscheidungspraxis spricht dagegen, hier den Grund für die Juridifizierung der Beratungskultur zu suchen. Stattdessen fällt auf: Die Konzentration auf genuin juristische Argumente wird besonders für den damit verbundenen Effekt gelobt, individuelle Präferenzen der Richter ausblenden zu müssen. Man zwinge sich zu einem juristischen Diskurs (was immer das genau heißt), weil darüber das zulässige Rechtsargument vom unzulässigen Vorverständnis getrennt werden soll. Die Juridifizierung wird zur Konsensvoraussetzung. Die Gefahren eines solchen Vorgehens liegen darin, dass die Streitfragen nur noch über dogmatisch vorstrukturierte Zugriffe diskursfähig werden und die Vielfalt ­verfassungsrichterlicher Entscheidungskriterien verkümmern kann. Überdies drohen Pfadabhängigkeiten. Für Instanzgerichte, deren Entscheidungen noch verworfen werden können, mag dies eine effiziente Professionalisierungsstrategie sein. Die Intensität mit der aber gerade Selbstbeschreibungen von Verfassungsrichtern das Juristische bei der Entscheidungsfindung betonen, stimmt einen Beobachter mit rechtsvergleichenden, rechtshistorischen, rechtssoziologischen oder rechtsphilosophischen Interessen skeptisch, zumal große Entscheidungen des BVerfG immer auch die Entscheidung von Werturteilen voraussetzten und die Auswirkungen auf die Gesellschaft und den politischen Prozess im Blick behielten.187 Alle diese Beispiele belegen jedenfalls, welch ein hohes institutionelles Eigeninteresse das Bundesverfassungsgericht daran hat, als ein homogenes Organ wahrgenommen zu werden und nicht als ein Kreis von Individualisten, wie es etwa beim U.S. Supreme Court der Fall ist. Der konsensualen Ausgewogenheit verdankt die Karlsruher Rechtsprechung ihre befriedende Wirkung und das Gericht sein Vertrauen. Anders ausgedrückt: Ansehen und Autorität vertragen sich nicht mit Personalisierung.

186  So Lübbe-Wolff, Wie funktioniert (Fn.  178), 27 f.: „Die Diskussion ist eine verfassungsrechtliche. Das kann freilich die Diskussion möglicher Folgen von ins Auge gefassten Auslegungen der entscheidungserheblichen Verfassungs- und Verfahrensnormen einschließen – so etwas gehört als ‚teleologische‘ Überlegung zu den üblichen Methoden der Rechts- und auch der Verfassungsauslegung –, aber der Argumentationsrahmen bleibt auch dann juristisch.“ In der Tendenz anders wohl noch Willi Geiger, Erfahrungen aus 25 Jahren Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Recht und Politik im Verständnis des BVerfG, 1980, 25 (37–39), der die Ausfaserung der Diskussion beklagt: Die Beratung im Senat sei umständlicher und schwieriger als sie sein müsste. 187   Man denke nur an BVerfGE 7, 198 – Lüth [1958] oder 69, 315 – Brokdorf [1985]. Zur Kontextualisierung dieser Entscheidungen T. Henne/A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005; Thomas Henne, „Smend oder Hennis“. Bedeutung, Rezeption und Problematik der „Lüth-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Ooyen/Möllers, Handbuch (Fn.  182), 219– 230; Doering-Manteuffel/Greiner/Lepsius (Fn.  182).

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In der obergerichtlichen Praxis der Bundesrepublik tritt die Person hinter dem Richteramt zurück; in den USA macht das Richteramt die Person.

c) Sondervoten Nun mag man einwenden, dass gerade das Bundesverfassungsgericht – im Unterschied zur Praxis bei den Bundesgerichten – das Abstimmungsergebnis im Senat des Öfteren mitteilt und dass seit 1970 die Möglichkeit besteht,188 der Senatsmeinung ein Sondervotum beizugeben, was anderen deutschen Gerichten nicht gestattet ist. Von Sondervoten wird – jedenfalls im Vergleich zur Praxis in den USA oder in England – im Großen und Ganzen sparsam Gebrauch gemacht.189 Im Schnitt gibt ein Richter des BVerfG vier Sondervoten (bei zwölfjähriger Amtsdauer) ab; jeder Fünfte hat nie eine abweichende Meinung verfasst.190 Für die materielle Rechtsentwicklung erfüllen Sondervoten eine wichtige Funktion, weil sie Aussagen relativieren, Spielräume ausloten, Änderungen vorbereiten. Auch wenn es legendäre Sondervoten gibt,191 so haben sie jedoch nie das Ansehen eines Richters oder einer Richterin besonders gehoben. Ein Sondervotum zu verfassen will sorgfältig überlegt sein, will man nicht alsbald als ein Außenseiter dastehen, der sich auf dem Wege des juristischen Arguments nicht durchsetzen konnte.192 Ab188   Seit 1970 durch §  30 Abs.  2 BVerfGG gestattet; zum Prozedere §  56 GOBVerfG. Schon im Verfahren in der Spiegel-Affäre war es inoffiziell zu einer abweichenden Meinung gekommen, vgl. BVerfGE 20, 162 [1966]. Bei einem Abstimmungsverhältnis von 4:4 konnte eine Verfassungswidrigkeit der Maßnahmen gegen den SPIEGEL nicht festgestellt werden; das Gericht veröffentlichte beide Begründungen und erklärte die eine formell zur tragenden Begründung. Vgl. zur Entstehung Horst Ehmke, Mittendrin, 1994, 46: Ehmke war damals als Professor Prozessvertreter in diesem Verfahren. Als beamteter Staatssekretär im BMJ initiierte er die Institutionalisierung des Sondervotums im BVerfGG, nachdem das BVerfG nach einer internen Abstimmung sich für ihre Zulassung ausgesprochen hatte. Siehe im Übrigen: Konrad Zweigert, Empfiehlt es sich, die Bekanntgabe der abweichenden Meinung des überstimmten Richters (dissenting opinion) in den Deutschen Verfahrensordnungen zuzulassen? Gutachten D zum 47. DJT, Band I Teil D, 1968 (vom DJT mehrheitlich bejaht) sowie die Aussprache, ebd., Sitzungsbericht Teil R; Albrecht Wagner, Zur Veröffentlichung des Votums des überstimmten Richters, DRiZ 1968, 253 (gegen eine Veröffentlichung); Rolf Lamprecht, Richter contra Richter. Abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur, 1992, 106 ff.; Gerd Roellecke, Sondervoten, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, 363–384; Jutta Limbach, das Bundesverfassungsgericht, 2001, 37–39; Lembcke (Fn.  178), 247–249; Hans J. Lietzmann, Kontingenz und Geheimnis, in: Ooyen/Möllers, Handbuch (Fn.  182), 459–476. 189   Nach einer Statistik des BVerfG, die nicht mehr abruf bar ist, war nur in 6,3% der Entscheidungen der Jahre 1971–2000 ein Sondervotum beigefügt. Der Anteil hat sich in der jüngeren Zeit mehr als verdoppelt, vgl. Lietzmann (Fn.  188), 474. 190   So die Auswertung der Sondervoten von 1970–2007 durch Kranenpohl (Fn.  163), 191. Im Ersten Senat lag der Schnitt bei 2,2, im Zweiten Senat bei 5,8. 191   Jeder Student kennt etwa die abweichende Meinung von Dieter Grimm, BVerfGE 80, 137 (164– 170) – Reiten im Walde [1989] mit dem Anfangssatz: „Das Reiten im Walde genießt keinen Grundrechtsschutz.“ Häufig zitiert wird auch das Sondervotum von Gertrude Lübbe-Wolff, BVerfGE 112, 1 (44) [2004], das mit dem Satz beginnt: „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.“ Viel zitierte Sondervoten verfassten u.a. auch Wiltraut Rupp-v. Brünneck, Helmut Simon, Gottfried Mahrenholz, Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Johannes Masing. 192   Lübbe-Wolff, Wie funktioniert (Fn.  178), 31 f., 47 f., betont die konsensfördernde Wirkung von

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weichende Meinungen sind jedenfalls kein geeignetes Instrument, um sich als Richterpersönlichkeit besonders zu profilieren.193

d)  Richter in der Medienöffentlichkeit Man mag auch einwenden, dass im Laufe der Jahre immer wieder einzelne Richter im Fokus der Öffentlichkeit standen, teils weil Medien, zumal bei prominenten Gerichtsverfahren, an ihnen ein Interesse entwickeln, teils weil sie selbst die Nähe zu den Medien suchen, um Informationen zu platzieren.194 Das Gericht ist keineswegs medienscheu.195 Das gilt besonders für den Präsidenten des BVerfG, der das Gericht nach außen vertritt und seit jeher Wert darauf legt, als protokollarisch fünfter Mann im Staate die rechtsprechende Gewalt bei Staatsakten zu vertreten. Die Gerichtspräsidenten stehen naturgemäß stärker im Licht der Öffentlichkeit, ziehen die Aufmerksamkeit der Presse über Gebühr auf sich196 und müssen auch Konflikte mit den anderen Verfassungsorganen austragen.197 Durch Interviews wird gerade der GerichtspräSondervoten: „Das konsensfördernde Potential des Sondervotums kann sich außerdem nur unter der Voraussetzung entfalten, dass von der Möglichkeit des Sondervotums nicht regelmäßig, sondern nur ausnahmsweise nach gescheiterten Konsensfindungsbemühungen Gebrauch gemacht wird. Wo es üblich ist oder gar erwartet wird, dass am Ende ohnehin jeder seine höchstpersönliche Meinung nach außen trägt, fungiert das Sondervotum ersichtlich gerade nicht verständigungsfördernd und kann entsprechendes Potential auch nicht entfalten.“ Brun-Otto Bryde, Obiter Dicta, in: FS Hans-Jürgen Papier, 2013, 493 (494) meint, dass ein Sondervotum nicht nötig sei, wenn sich der Senat über die Dogmatik im Grundsatz einig sei und nur bei einer Verhältnismäßigkeitsfrage im Subsumtionsteil divergiere. Hier reiche die Mitteilung des Stimmenergebnisses um zu dokumentieren, dass im Ergebnis auch anders entschieden werden kann. 193   Ausdruck besonderer Souveränität ist daher etwa Willi Geiger, Abweichende Meinungen zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1989. Geiger war von 1951–1977 Richter des BVerfG und galt als die graue Eminenz des Zweiten Senats. Vgl. auch Jutta Limbach, Das BVerfG und das Sondervotum, JRP 1999, 10–12; Theodor Ritterspach, Gedanken zum Sondervotum, FS Wolfgang Zeidler, 1987, 1379–1389. 194  Vgl. Justin Collings, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court, 1951–2001, 2015, der die Entwicklung des Gerichts auch mit der zeitgenössischen politischen Reaktion sowie der Kommentierung in der medialen Öffentlichkeit schildert. 195  So Geiger, Erfahrungen (Fn.  186), 29. 196   Dabei ist eine gewisse Personalisierung seitens der Presse wahrnehmbar, über den Präsidenten wie über einen Politiker zu berichten, was auch durch den Umstand motiviert sein dürfte, dass der Präsident des BVerfG als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt wurde und während des ESM-Verfahrens das BVerfG den politischen Prozess in Europa de facto anhielt. Zur medialen Konzentration auf den Präsidenten des BVerfG in der Zeit des ESM-Verfahrens siehe auch Collings (Fn.  194), XXX–XXXII. Einige Beispiele für eine Personalisierung durch Medien: Heinrich Wefing, Richter oder Politiker?, DIE ZEIT v. 2.5.2013, S.  2 ; Die Anmaßung, DER SPIEGEL v. 10.3.2014; Heribert Prantl, Der Verfassungsschützer, SZ v. 10.7.2012, S.  3. In jenem Porträt, das just am Tag der mündlichen Verhandlung im ESM-Verfahren erschien, erweckte der Verfasser den Eindruck, beim Präsidenten des BVerfG privat zum Essen gewesen zu sein. Als darauf hin andere Journalisten einen Essenstermin erbaten, dementierte die Pressesprecherin des BVerfG: Herr Prantl sei nie von Herrn Voßkuhle zu einem privaten Essen eingeladen worden und könne daher auch nicht aus persönlicher Anschauung mit den Kochgewohnheiten des Präsidenten des BVerfG vertraut sein, vgl. FAS v. 29.7. 2012, S.  25. 197   So entstand recht bald nachdem das Gericht seine Arbeit aufgenommen hatte, ein ins Persönliche reichender Konflikt zwischen dem ersten Präsidenten des BVerfG, Hermann Höpker-Aschoff und dem

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sident in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen als es seiner gerichtsinternen Stellung als primus inter pares entspricht. Als einziger Richter genießt er ständigen Personenschutz. Die Präsidenten haben die ihnen zufallende Öffentlichkeitsarbeit unterschiedlich genutzt, waren auf ihre Art aber in den Medien präsent. Sowohl Jutta Limbach als auch Hans-Jürgen Papier, um die letzten Präsidenten des BVerfG zu nennen, scheuten die Öffentlichkeit nicht,198 griffen die Rolle des Gerichts als politischer Machtfaktor auf 199 und thematisierten die Macht des „letzten Wortes“.200 Wohl kaum ein Präsident des BVerfG war interview-freudiger als Papier, der auch freimütig zu aktuellen Reformanliegen Stellung nahm.201 Der jetzige Präsident, Andreas Voßkuhle, spricht über „Macht“ deutlich weniger als sein Vorgänger, sondern verfolgt ersichtlich das Anliegen, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erläutern und der Bevölkerung aber auch den politischen Organen näher zu bringen. Als nach dem Lissabon-Urteil nur teilwahre Zusammenfassungen des Urteils in der Öffentlichkeit, insbesondere in Brüssel, zirkulierten, intervenierte der Präsident, um die verzerrte Wahrnehmung der Entscheidung zu korrigieren. Ein Auftritt in einer ­politischen Fernsehsendung im ZDF, ein Hintergrundgespräch mit Journalisten in Berlin oder die Annahme einer Einladung durch die Bundespressekonferenz sind Ausdruck dieses Anliegens.202 Punktuell auf einzelne Verfahren bezogen betrifft die Bundesminister der Justiz, Thomas Dehler, beide F.D.P.; vgl. dazu Collings (Fn.  194), 7–14, 20–28; Rolf Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des BVerfG, 2011, 20–25; Geiger, Erfahrungen (Fn.  186), 32 f.; sowie Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, 1994, 23–27; Theodor Ritterspach, Hermann Höpker-Aschoff, JöR 32 (1983), 55–62. 198  Vgl. Jutta Limbach, Die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (Vortrag), 1996, auch in: FS Erhard Blankenburg, 1998, 207–219; dies., Rechts- und Verfassungspolitik im sozialen Wandel, ARSP-Beiheft 71 (1997), 9–20; dies., „Das Gericht wird mitunter als Kummerkasten der Nation mißverstanden“, DRiZ 1998, 7–11; dies., Zukunftsfähige Maßstäbe für das verfassungspolitische Denken, Das Parlament v. 16.1.1998, S.  18; dies., Das Bundesverfassungsgericht: Geschichte – Aufgabe – Rechtsprechung, 2000; Interviews mit Hans-Jürgen Papier z.B.: „Das Gericht ist Opfer seines eigenen Erfolgs“. Der neue Präsident des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, über Talkshows, Wahlkämpfe und das Karlsruher Erfolgsmodell, FAZ v. 14.7.2002, S.  28; „Wir sind strenger geworden“, Der Spiegel 30/2002, S.  52–54; „Straßburg ist kein oberstes Rechtsmittelgericht“, FAZ v. 9.12.2004, S.  5 ; „Wir müssen die Wähler stärken“, Das Parlament v. 5.2.2007, S.  5. 199   Jutta Limbach, Das BVerfG als politischer Machtfaktor (Vortrag), 1995; dies., Die Schmerzgrenze bei der Richterkritik: wenn Entscheidungen des BVerfG politisch ausgebeutet werden, ZRP 1996, 414–416; dies., „Die Politik versteckt sich gern hinter dem BVerfG“, ZRP 2000, 351–354; dies,. Das Bundesverfassungsgericht, 2001, 7, 20–23. Siehe auch „Mir ist die Kategorie der Macht suspekt“, Interview mit Winfried Hassemer, in: FAZ v. 12.2.2008, S.  4. 200   Das letzte Wort. Präsidentin Jutta Limbach über die politische Macht des BVerfG, Der Spiegel 40/2001, 62–68; „Wir haben das letzte Wort“, Interview mit Winfried Hassemer in: Der Spiegel 12/2008, S.  38–40; vgl. auch Winfried Hassemer, Politik aus Karlsruhe?, JZ 2008, 1–10; sowie die Beiträge in ders., Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2007. 201   Als Stichprobe sei auf eine Auswahl von Interviews und Stellungnahmen von Hans-Jürgen Papier aus dem Jahr 2003 verwiesen: „Ausdrückliche Klarstellung“, FAZ v. 22.2.2003, S.  4 ; Wächter, aber kein Bremser, Kölner Stadt Anzeiger v. 17.4.2003; „Das tangiert die Grundfesten“, Der Spiegel 39/2003, S.  28–31; Was macht Staat, Herr Papier?, Der Tagesspiegel v. 14.9.2003, S.  8 ; Der BVerfG-Präsident: Kreuzverhör, Pforzheimer Zeitung v. 13.9.2003, S.  3 ; „Das Parlament stärken!“, Rheinischer Merkur v. 23.10.2003, S.  4 ; „Es lohnt sich, das Senatsmodell zu diskutieren“, Staatsanzeiger Baden-Württemberg v. 17.11.2003, S.  3 ; Überholte Verfassung, FAZ v. 27.11.2003, S.  8 ; BVerfG-Präsident Papier plädiert für Subsidiarität einer evtl. EU-Grundrechtsbeschwerde, EuGRZ 2003, 85. 202   „Was nun, Herr Voßkuhle? Fragen an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts von Peter

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Medialisierung auch die anderen Senatsmitglieder. Wenn Verfahren mit weitreichen­ den politischen Konsequenzen anstehen, wie etwa das ESM-Verfahren oder der NPD-Verbotsantrag, wissen sich Medien, die über solche Verfahren berichten müssen und Zwischenstände zu geben gewohnt sind, womöglich nicht anders zu helfen, als das Informationsinteresse zu personalisieren. Aus Sicht des Gerichts wird man den Ertrag einer gezielten Medienpräsenz eher verhalten saldieren dürfen. Journalisten sind mit den Antworten, die Richter in den Medien geben, tendenziell unzufrieden. Sie erwarten sich Insider-Informationen oder eine Andeutung über zukünftige Entscheidungen. Weder das eine noch das andere kann ein Bundesverfassungsrichter liefern. Auch bei der rein sachlichen Erläuterung der Rechtsprechung stößt er an Grenzen. Die Öffentlichkeit vermutet häufig im Gerichtspräsidenten einen authentischen Interpreten der Entscheidungen des Gerichts, was dieser nicht ist und nicht sein kann, denn die Entscheidungen des BVerfG sind immer Kollegialentscheidungen, bisweilen solche des anderen Senats. Kein Richter kann Entscheidungen seines Senats authentisch interpretieren, weil er sonst entweder seine Sicht unzulässig verallgemeinerte oder aber das Beratungs­ geheimnis preisgäbe. Überdies stünde jede Erläuterung einer Entscheidung natur­ gemäß in einem neuen Zeitkontext. Man kann sich bei der Erläuterung nicht zwanghaft in die Vergangenheit gewordene Entscheidungssituation zurückversetzen. Jede Aussage über eine Entscheidung würde diese notgedrungen unter einem tagespolitischen Eindruck interpretieren und müsste nolens volens die Begründung von einst in die Gegenwart fortschreiben, de facto also der alten Entscheidung eine aktuelle Bedeutung beimessen. Dann würde aber keine alte Entscheidung erläutert, sondern eine neue antizipiert. Schon durch Zeitablauf verändert sich nämlich der Rahmen, in dem eine Erläuterung der Entscheidung steht: im Hinblick auf die Tatsachen und die Rechtslage, die der Entscheidung zugrunde lagen sowie im Hinblick auf die interpretive community. Eine rein sachliche Erläuterung einer Gerichtsentscheidung durch den Gerichtspräsidenten, die alles dies berücksichtigen wollte, müsste die Erwartungen der Presse notgedrungen enttäuschen. Der Präsident wäre in ihren Augen nur ein Vorleser, er produzierte aber keine Meldung. Auch der politische Prozess dürfte mit der Medienpräsenz eines Gerichtspräsidenten hadern, sie als Profilierungsbedürfnis missverstehen und dahinter die machtpolitische Erweiterung des Wirkungsraums über den Gerichtssaal hinaus auf die politische Bühne vermuten. In den Augen eines Politikers wird der Richter zu einem Konkurrenten, so dass er ihn politisch angreifen wird. Im Fachdiskurs schließlich spielt eine Personalisierung letztlich keine Rolle. Es gibt in der deutschen Staatsrechtslehre keine eingeübten Umgangsformen, wie Gerichtsentscheidungen personalisiert oder individualisiert werden können.203 Urteile werden materiellrechtlich diskutiert, nicht akteurszentriert. Schon die Kontextualisierung von Gerichtsentscheidungen ist ein Desiderat. Der Fachdiskurs ist regelrecht Frey und Bettina Schausten“, ZDF, 26.9.2011, 19.20–19.45 Uhr. Vgl. Katja Gelinsky, Voßkuhle und die Presse, www.verfassungsblog.de v. 24.3.2013; Merkels Chef, Der Spiegel 10/2013 v. 4.3.2013 („Der Verfassungsgerichtspräsident erklärt der Politik, was sie zu tun hat“). 203   Zu politischen Resonanzräume von Professoren (nicht Richtern) Andreas Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (Fn.  185), 135–157.

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bemüht, individualisierende und personalisierende Aspekte auszuklammern,204 obwohl deren Bedeutung Insidern bewusst ist und Richter des BVerfG die Rechtsprechungslinien und ihre eigenen Urteile in der Fachliteratur zu erläutern pflegen.205 Selbst Richter, die mit populärwissenschaftlichen Büchern über den Fachdiskurs hinauswirken,206 haben keine Personalisierung des Gerichts bewirken können.

e)  Ein Seitenblick auf Bundesgerichte Auffällig ist die geringe Personalisierung der Richterschaft überdies auf der Ebene der obersten Bundesgerichte. Eine Personalisierung ist hier als Ausdruck der Wahrung des Beratungsgeheimnisses verhindert worden, obwohl gerade Bundesrichter und insbesondere die Senatsvorsitzenden spezialisierter Zivilsenate des BGH (Senat für Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz; Kartellrechtssenat; gesellschaftsrechtliche Senate) die Rechtsentwicklung dieser Rechtsgebiete, zumal wenn sie auf Generalklauseln bestehen, sprichwörtlich in den Händen halten. Vom Gesetzgeber sind Korrekturen kaum zu erwarten und eine Superrevision ihrer zivilrechtlichen Entscheidungen findet nicht statt. Während die Senate des BVerfG noch in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit stehen und die Richter des BVerfG sich dem Fachdiskurs auch durch persönliche Präsenz und Vortragstätigkeit stellen, scheint in einigen Zivilsenaten des BGH wahres Richterkönigtum zu herrschen, gepaart mit einer zunehmenden Bereitschaft, gestalterisch tätig zu werden.207 Die Rechtswissenschaft hat sich im Zivilrecht, anders als im Verfassungsrecht, mit der gestalterischen Rolle des BGH weitgehend abgefunden; Kritik am BGH ist jedenfalls

 Gegenbeispiel: Lepsius/Doering-Manteuffel (Fn.  182).  Als Beispiele: Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1995, 1697–1705; Paul Kirchhof, Das Maastricht-Urteil des BVerfG, in: P. Hommelhoff/ders. (Hrsg.), Der Staatenverbund der EU, 1994, 11–24; ders., Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Steuergesetzgebung, Steuerberater-Jahrbuch 1999/2000, 17–34; ders., Grundlinien des Steuerverfassungsrechts in der Rechtsprechung des BVerfG, Steuerberater-Jahrbuch 1994/1995, 5–22; ders., Der Grundrechtsschutz des Steuerpflichtigen: zur Rechtsprechung des BVerfG im vergangenen Jahrzehnt, AöR 128 (2003), 1–51; Wolfgang Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, NVwZ 2002, 257–265; ders., Der grundrechtliche Schutz der Vertraulichkeit und Integrität eigengenutzter informationstechnischer Systeme, JZ 2008, 1009–1022; Johannes Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung, JZ 2012, 585–592; ders., Schmähkritik und Formalbeleidigung. Zur Abwägungsdogmatik des BVerfG im Recht des Ehrschutzes, FS Rolf Stürner, 2013, 25–42. 206   Man denke etwa an Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005 (im Amt verfasst); Paul Kirchhof, Das Gesetz der Hydra: Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!, 2008 (nach dem Ausscheiden aus dem Amt verfasst). 207  Man denke etwa an die Entscheidung, der BGB-Gesellschaft Rechtsfähigkeit zuzusprechen, BGHZ 146, 341 – ARGE Weißes Roß [2001], und sich dabei in einem prozessual zudem abseitig gelegenen Fall (Versäumnisurteil) über den Gesetzeswortlaut und eine hundertjährige Praxis hinwegzusetzen. Vgl. dazu Claus-Wilhelm Canaris, Die Übertragung des Regelungsmodells der §§  125–130 HGB auf die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als unzulässige Rechtsfortbildung contra legem, ZGR 33 (2004), 69–125. Der II. Zivilsenat versteckte sein Gestaltungsinteresse hinter vermeintlich besserer Rechtserkenntnis (als ob die Gerichte 100 Jahre geirrt hätten), wobei seine historische Auslegung und Bezugnahme auf Gierke höchst anfechtbar ist; vgl. insoweit Susanne Lepsius, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band III/2, 2013, §§  705–740 Rn.  38. 204 205

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eher selten und wird kaum methodologisch begründet.208 Das außerordentliche Selbstbewusstsein der Zivilrichter kommt etwa auch in der sog. „Hirsch-Kontro­ verse“ zum Ausdruck, als der seinerzeitige Präsident des BGH, Günther Hirsch, den Richter mit einem Klaviervirtuosen verglich, für den das Gesetz die Noten seien, und die richterliche Rechtsfortbildung als ästhetischen Auftrag darstellte.209

f)  Die Ignoranz der jüngeren deutschen Justizgeschichte Am Rande darf bemerkt werden, dass die Entpersonalisierung der deutschen Justiz im Allgemeinen vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Dritten Gewalt im Nationalsozialismus befremdet. In welchem Umfang das Rechtsprechen von der Haltung des Richters abhängt, trat bei der vorauseilenden Umgestaltung der Rechtslage durch eine adaptationswillige Richterschaft im „Dritten Reich“ zu Tage.210 Jedenfalls verdeutlicht die deutsche Justizgeschichte, wie wichtig die Individualität des Amtsträgers ist. Die Weimarer Republik ist nicht an ihren Institutionen zugrunde gegangen, sondern am Unwillen ihrer Funktionsträger. Insofern ist es bemerkenswert, wie wenig die jüngere deutsche Geschichte auf die Wahrnehmung von Richtern als Personen und Amtsträgern in der Bundesrepublik zurückgewirkt hat.211 Für das Bundesverfassungsgericht ist dies nachvollziehbar, weil gerade dieses Gericht ganz überwiegend mit Gegnern des Nationalsozialismus besetzt worden war, so dass sich eine Nachfrage hier von selbst verbot. Den Richtern des frühen Bundesverfassungsgerichts war jedenfalls klar, woher das Justizpersonal stammte, dessen Entscheidungen den Urteilsverfassungsbeschwerden zugrunde lagen. Dass die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung über die objektive Wertordnung des Grundgesetzes zuerst gegenüber der Dritten Gewalt durchgesetzt wurde (Lüth-Urteil), ist daher 208   Anders indes Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014. Andere Entscheidungen des BGH, denen eine Rechtsfortbildung contra legem vorgeworfen wurde, kamen vor das BVerfG, das sie am Maßstab der Bindung des Richters an das Gesetz nach Art.  20 Abs.  3 GG billigte (BVerfGE 122, 248 – Protokollrüge [2009] mit Sondervotum Voßkuhle, Osterloh, Di Fabio, ebd., 287) bzw. verwarf (BVerfGE 128, 193 – Geschiedenen-Unterhalt [2011]). Siehe dazu auch Gaier, Zivilrechtliche Dogmatik (Fn.  139), 85 (90 f.); Bernd Rüthers, Rechtsdogmatik als Schranke des Richterrechts?, JöR 64 (2016), unten S.  309 (332  f.). 209   Günter Hirsch, Der Richter wird’s schon richten: Zwischenruf, ZRP 2006, 161; Christoph Möllers, Mehr oder weniger virtuos. Der Mann am Klavier: Was spielt BGH-Präsident Hirsch?, FAZ v. 26.10.2006; Bernd Rüthers, Deckel zu! Richter sind keine Pianisten, FAZ v. 27.12.2006; Winfried Hassemer, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213–219; Martin Kriele, Richterrecht und Rechtspolitik, ZRP 2008, 51–53; Christian Hillgruber, „Neue Methodik“: Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 2008, 745–755; Udo Steiner, Richterliche Rechtsfortbildung und Grundgesetz, FS Günter Hirsch, 2008, 611–619; Günter Hirsch, Rechtsstaat – Richterstaat, FAZ v. 30.4.2007, S.  8 ; ders., Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, 853–858; Christoph Möllers, Erwiderung, JZ 2008, 188 f. 210  Vgl. statt vieler Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7.  Aufl. 2012 (1968); Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1987; Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht? in: R. Dreier/W. Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, 323–354. 211  Vgl. allerdings Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Der Bundesgerichtshof – Justiz in Deutschland, 2005; Manfred Görtemaker/Christoph Safferling (Hrsg.), Die Rosenburg, 2013; Hubert Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945, 2010.

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kein Zufall, sondern liegt gerade auch in der personellen Zusammensetzung der Gerichtsbarkeit begründet. In den 1950er Jahren waren zuvörderst die Gerichte, nicht die Parlamente, auf die Werte der Verfassung zu verpflichten. Nicht die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, sondern die Grundrechtsbindung der Gerichte ist daher das Problem gewesen. Im Angesicht der deutschen Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts fällt jedenfalls auf, wie unhistorisch und kontextlos das Verhältnis von Amt und Person bei der Dritten Gewalt gesehen wird – was erneut eine Differenz zu den angelsächsischen Ländern markiert, in denen geschichtliche Vorgänge in der Diskussion der Rechtslage der Gegenwart sehr viel präsenter sind, seien es historische Konstellationen, Strukturen, Irrtümer oder Vorbilder.

3. Erklärungsmuster Einige Erklärungsmuster für die geringe Personalisierung der Höchstgerichtsbarkeit in Deutschland – jedenfalls im Kontrast zu einer teilweise extremen Personalisierung des Richteramtes in den angelsächsischen Rechtsordnungen – stechen sogleich ins Auge:

a) Gerichtsorganisation Beim BVerfG handelt es sich um einen großen Spruchkörper ohne herausgehobenen „Chief Justice“. Der Senatsvorsitzende ist Gleicher unter Gleichen. Eine Binnenhierarchie existiert nicht. Die Verdoppelung „des“ BVerfG in zwei Senate führt überdies dazu, dass einerseits jeder Senat als Bundesverfassungsgericht auftritt, andererseits kein Senat für sich beanspruchen kann, „das“ Bundesverfassungsgericht zu sein. Als ein einheitliches Gericht ist das Gericht zwischen den Zwillingssenaten unsichtbar geworden. Das Plenum (beide Senat in Personalunion) tagt überaus selten; sein Zusammentreten belegt bestenfalls den Eindruck von Binnendissensen, die ausgeräumt werden müssten. Plenarentscheidungen sind deswegen tunlichst zu vermeiden.212 Hinzu kommt, dass die Mitglieder des Senats über eine einheitliche juristische Sozialisation verfügen (staatlich geprüfter Einheitsjurist) 213 und praktisch nur noch aus den Berufsgruppen der Hochschullehrer oder Bundesrichter (§§  2, 3 BVerfGG) rekrutiert werden. Parlamentarier, Kirchen- oder Verwaltungsjuristen sind selten geworden; internationale Erfahrung ist eher ein biografischer Zufall. Mitglieder mit solchen Erfahrungen und Sozialisationshintergründen saßen jedoch jahrzehntelang in den Senaten. Insofern ist eine deutlich Verengung auf wenige Rekrutierungsmili212   In jüngster Zeit vermied etwa der Erste Senat ein Anrufen des Plenums im Kopftuchfall, obwohl er von einer Entscheidung des Zweiten Senats abwich, vgl. BVerfGE 108,282 – Kopftuch I [2003] und 135, 248 – Kopftuch II [2014]. Es entstand eine Kontroverse, ob dieses Vorgehen mit §  16 BVerfGG vereinbar ist; vgl. Debate: Der Kopftuch-Beschluss: Zwei Senate, zwei Gerichte? www.verfassungsblog.de; Claudio Franzius, Vom Kopftuch I zum Kopftuch II, Der Staat 54 (2015), 435 (447–452). 213   Die Richter selbst bestätigen den homogenisierenden Einfluss der einheitlichen Juristenausbildung, vgl. Kranenpohl (Fn.  163), 163. Zum Einfluss der Ausbildung auch Uwe Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, §  6 Rn.  228–237.

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eus zu beobachten, was potentielle Quellen für Individualität ausschaltet und den professionellen Gleichklang der Senatsmitglieder zusätzlich fördert. Der Wahlmodus der Bundesverfassungsrichter mit einem erforderlichen Zwei-Drittel-Konsens in den Wahlorganen Bundestag oder Bundesrat zwingt zu einer kompromissorientierten Personalauswahl, die dazu tendiert, Querdenker oder profilierte Rechtspolitiker zu vermeiden. So entsteht ein homogener Spruchkörper. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dies so ausgedrückt: „Bei uns herrscht eher die Vorstellung, daß Richter als Personen eigentlich anonym bleiben müßten. Das Gericht, die Institution, spricht das Urteil und wendet das Recht bzw. die Verfassung an.“ Er hebt besonders den Kon­ trast zu den Vereinigten Staaten hervor: Was die Verfassungsrichter dort sagen, „soll gelten, damit der Streit ein Ende hat und es weitergeht, unabhängig davon, ob einen die Gründe überzeugen. Ein nächster Fall mag ja anders entschieden werden. Dieses prozedurale Verständnis liegt uns in Deutschland fern, während es …[…] in den USA kein Problem ist.“214 „Bei uns soll das Gericht eher unpolitisch sein.“215

b) Gerichtsautorität Unpersönlich zu entscheiden, scheint eine Voraussetzung der Autorität eines Höchstgerichts zu sein – im Unterschied zu Einzelrichtern unterer Gerichte, deren Autorität trotz der Individualisierbarkeit ihrer Urteile nicht leidet. Da die vom Höchstgericht gewählten Formulierungen von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft häufig wie Gerichtsentscheidungen gedeutet und bisweilen sogar vom Gesetzgeber in Gesetzesform übernommen werden, bemüht sich das Gericht um einen entsprechenden Ab­ straktionsgrad bei seinen Entscheidungen und wählt Formulierungen, die generell-­ abstrakten Aussagecharakter haben. Entschiede es hingegen mit individualisierbaren Begründungselementen, wäre die Weiterverarbeitung der Entscheidungen durch die anderen Organe des Rechtssystems in der hergebrachten Weise nicht mehr möglich. Case Law träte an die Stelle abstrakter Norminterpretation; Sachverhalte und Kontexte würden wichtig, distinguishing wäre die Folge. Der objektivierungssüchtige Begründungsstil dient daher auch der Generalisierung von Urteilen; diese bemühen sich um eine Sprache, die jener des Gesetzes gleicht: Es werden subsumtionsfähige Formulierungen bevorzugt, denn mit diesen kann eine Gerichtsentscheidung ge­ setzesgleich verwendet werden. Der Verzicht auf subjektivierbare Begründungs­ elemente erhöht daher die Wirkmächtigkeit von Gerichtsentscheidungen. Stilistisch nivelliert das Urteil den Abstraktionsgrad zum Gesetz und kann daher rein sprachlich und ohne explizite Kompetenzanmaßung eine gesetzesgleiche Verarbeitung finden. Ein entpersönlichter Stil kommt jedenfalls der verbreiteten Bereitschaft von Gerichten und Behörden entgegen, wie es Wolfgang Hoffmann-Riem ausgedrückt hat, sich nach der Obrigkeit unabhängig davon zu richten, ob sie dazu rechtlich verpflichtet sind.216 Um die Rechtsprechung des BVerfG zu erklären, darf man daher 214   Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, 307 (438). 215   Ebd., 437. 216   Wolfgang Hoffmann-Riem, Beharrung oder Innovation – zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, Der Staat 13 (1974), 335 (339).

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einen wichtigen Faktor nicht vergessen, nämlich die Interessen und Bedürfnisse der Institution Bundesverfassungsgericht selbst, was Brun-Otto Bryde schon vor 30 Jahren hervorgehoben hat: Das Gericht minimiert die eigene Normbindung und er­ weitert dadurch seinen Entscheidungsspielraum gegenüber den anderen staatlichen Akteuren.217 Verallgemeinert gesprochen: Das Verhältnis des Gerichts zum Gesetzgeber ist nicht, wie etwa in Großbritannien, durch einen institutionell geordneten Diskurs geprägt, sondern durch das Selbstbewusstsein des letzten Wortes über den einzelnen Fall hinaus.

c)  Materielles Verfassungsverständnis und Maßstabsbildung Auch die frühzeitig etablierte Strategie des BVerfG, die gesamte Rechtsordnung in der Wertordnung der Verfassung zu verwurzeln,218 lässt sich kaum als Erkenntnisprodukt von bestimmten individuell identifizierbaren Richtern begründen. Ein entsprechender Entscheidungsstil muss auf objektive Herleitung mit dem Ziel objektiver Verallgemeinerung gerichtet sein. Nicht die Falllösung steht im Vordergrund, sondern sie wird zum Anlass genommen für die Entscheidung von Rechtsfragen mit einer verallgemeinernden Bindungswirkung. Es geht um Verfassungsinterpretation als solche, nicht um Superrevision des Einzelfalls. Die hierzu benutzte Technik ist die der Maßstabsbildung, also die richterliche Entwicklung einer Normenschicht, die dem BVerfG ein Interpretationsmonopol sichert.219 Zwischen den Verfassungstext, der geändert werden kann, und dem einfachen Recht, das noch einfacher geändert werden kann, schiebt das BVerfG den verfassungsrechtlichen Maßstab ein, den kein Gesetzgeber ändern kann. Höchstens das BVerfG selbst könnte ihn ändern, was aber auf Schwierigkeiten stößt: Man bräuchte einen neuen Fall und müsste einen drohenden Gesichtsverlust vermeiden. Die Entpersönlichung der Rechtserkenntnis wird des Weiteren durch die zeitund kontextlose Verarbeitung der Maßstäbe gefördert. Gerichtsentscheidungen werden in Deutschland jeher – im Unterschied zu fast allen anderen Rechtskulturen – ohne Angabe des Jahres, der Parteien oder auch nur der Beigabe eines den Sachverhalt bezeichnenden Kürzels zitiert. Man verpackt Gerichtsentscheidungen in eine Fundstellen-Zahlenkombination, mit der nach außen sichergestellt wird, dass die materiellen Rechtsaussagen wie in Stein gemeißelte objektive Verkündungen erscheinen, die eine zeit- und kontextlose Bedeutung beanspruchen.220 Wenn weder die Jahreszahl noch der Sachverhaltskontext in der Zitierweise angegeben wird, zeigt dies, dass aus diesen Angaben offenbar keine Informationen folgen, die für die Wei  Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, 167 f.   Vgl. statt vieler Michaela Hailbronner, Traditions and Transformations. The Rise of German Constitutionalism, 2015, 97 ff.; Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013; Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtsbarkeit und Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, in: J. Masing/O. Jouanjan (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 2011, 39 (44–50, 64 f.); Helmut Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973. 219   Dazu näher Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Das entgrenzte Gericht (Fn.  173), 157 ff.; ders. Entscheiden durch Maßstabsbildung, in: Ooyen/Möllers, Handbuch (Fn.  182), 119–135. 220  Vgl. Oliver Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1 (43–47). 217

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terverarbeitung der Entscheidungen erforderlich sind. Es wird eben nicht bloß ein Fall entschieden, sondern eine Rechtsnorm ausgelegt – und diese Normauslegung beansprucht unabhängige, vom Sachverhalt und Zeitkontext losgelöste Geltung. Mit dieser Zitierweise wird vermieden, dass politische oder soziale Hintergründe auf die Rechtsaussage abstrahlen oder die Sozialisation oder Vorverständnisse der Richter für ergebnisrelevant gehalten werden. Der Duktus erzeugt den Schein einer zeitlosen und kontextunabhängigen Rechtserkenntnis. Im Hinblick auf die Entpersönlichung, Entzeitlichung und Entkontextualisierung, also im Hinblick auf die Dogmatisierung seiner Rechtsprechung steht das Bundesverfassungsgericht in der Tradition der Rechtsprechung der Obergerichte in Deutschland. Es beansprucht ein Verfassungsorgan zu sein, aber es präsentiert sich in seinem Entscheidungsstil viel eher wie ein Obergericht.

V.  Amt und Person 1.  Relationen in unterschiedlichen Rechtskulturen Versucht man eine vergleichende Zusammenfassung dieser Beispiele, ob und wie Gerichte personalisiert werden, so fällt auf: US-amerikanische, englische und deutsche Verfassungsrichter genießen unterschiedliche Stellungen in den jeweiligen Rechtsordnungen. Dies ist nicht nur die Folge der unterschiedlichen Gerichtsorganisation (Oberster Gerichtshof – Verfassungsgericht) und der damit verbundenen Kompetenzen (Superrevisionsinstanz – Kontrolle spezifischer Verfassungsrechtsverletzungen). Die divergierenden Wahlmodi, Amtszeiten oder Sozialisationsprozesse der Richter können die Unterschiede ebenso wenig erklären. Besonders im Kontrast zu den angelsächsischen Ländern fällt der deutlich geringere Personalisierungsgrad bei deutschen Richtern auf; hier ist es das Amt und das Organ, das im Vordergrund steht, während es in den angelsächsischen Ländern zumindest auch immer die Person ist. Amtsträger werden dort stärker als Individuen wahrgenommen als im Rechtsstaat deutscher Prägung, wo sie primär Teil einer Institution sind und als Person in ihr aufgehen. Auch im Hinblick auf Fremd- oder Selbstpersonalisierung zeigen sich Divergenzen. Die ausgeprägteste Selbstpersonalisierung findet man in England, die ausgeprägteste Fremdpersonalisierung hingegen in den USA. Für die Bundesrepu­ blik gilt: Richter vermeiden eine Selbstpersonalisierung und tun das Mögliche um eine Fremdpersonalisierung zu unterbinden. Im Hinblick auf die Fremdpersonalisierung gelingt dies deutschen Richtern zunehmend weniger. Es fehlt hierzulande noch an eingeübten Verhaltensmustern unter den Richtern, bei den anderen Organen und auch in der Wissenschaft, wie man mit einer Personalisierung von Richtern umzugehen hat. Personalisierung wird latent als eine Unterwanderung der rechtsprechenden Gewalt empfunden – und zwar tendenziell von allen Gruppen (von den Richtern selbst, von Politikern und auch von Wissenschaftlern). Darin beweist sich auch, wie sich das Amtsverständnis der Dritten Gewalt von jenem der Ersten und Zweiten Gewalt in der Bundesrepublik unterscheidet. Während es normal ist, dass Abgeordnete als Individuen wahrgenommen werden und ihre Persönlichkeit, Herkunft, Interessen und parteipolitischen Präferenzen wahlent-

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scheidend sind und auch für die Zweite Gewalt, jedenfalls soweit sie Regierungsfunktionen umfasst, Fragen von Haltung, Charakter, Expertise und Führungsqualitäten ausschlaggebend sind, gilt für die Dritte Gewalt eine andere Erwartung: Richter erfüllen eine formalisierte Rolle, die für Individualität keinen Raum lässt. Beim Politiker erwartet man eine Persönlichkeit, beim Richter eher einen entpersönlichten Experten. Dem Politiker traut man tendenziell zu viel zu (oder auch zu wenig) und blendet die Handlungsrationalitäten und -restriktionen des Amtes eher aus. Das entlastet naturgemäß auch das politische System: Versagt in den Augen der Öffentlichkeit ein Politiker, führt dies zu individuellen Vorwürfen, nicht notwendig aber zu einer Systemkrise. Beim Richter liegen die Dinge anders: Hier traut man dem Rechtssystem tendenziell zu viel zu und blendet den individuellen Beitrag von Richtern bei der Rechtsprechung zu sehr aus. Entstehen Fehlurteile führt dies zu Vorwürfen gegenüber dem Rechtssystem und zu systemischen Reaktionen (neue Gesetzgebung), nicht aber zu individuellen Appellen an Richter. In Deutschland sind Richter, volkstümlich gesprochen, nie „schuld“ an einer Entwicklung. Man zieht nicht sie zur Verantwortung, sondern das System. Um es anders zu formulieren: Demokratisch operierende Gewalten können mit einer Personalisierung umgehen. Sie vertrauen auf sie zur Legitimation und federn mit ihr Krisen systemstabilisierend ab. Rechtsstaatlich operierende Gewalten hingegen können mit einer Personalisierung nicht umgehen. Bei ihnen unterwandert eine Personalisierung tendenziell die Legitimation. Sie federt Krisen nicht ab, sondern erzeugt Glaubwürdigkeitsverluste. Im Amtsverständnis wird zwischen den Gewalten in Deutschland jedenfalls deutlich unterschieden. Es gibt politische und unpolitische Gewalten und dementsprechend divergiert auch das Verhältnis von Amt und Person. In den angelsächsischen Ländern hingegen sind solche Trennlinien beim Amtsverständnis zwischen den Gewalten nicht so deutlich erkennbar. Die Personalisierung von Amtsträgern ergreift hier prinzipiell alle Gewalten. Da sich Unterschiede vor allem im Hinblick auf die Dritte Gewalt zeigen, können Thesen für divergierende Grundverständnisse der Gewalten in unterschiedlichen Rechtskulturen abgeleitet werden. Fassen wir die Beobachtungen zusammen, so lassen sich die Unterschiede in Relationen ausdrücken. Es geht dabei nicht um ein entweder-oder, nicht um ein besser-schlechter. Problemadäquat ist vielmehr die Perspektive eines je-desto: – Je fallrechtlicher eine Rechtsordnung ist, desto personalisierter ist sie. – Je diskursiver der Entscheidungsstil im Gericht ist, desto personalisierter wird begründet und dargestellt. – Je politischer die Wirkung von Gerichtsentscheidungen ist, desto eher verträgt sie sich mit einer Personalisierung. – Je vorläufiger Entscheidungen wirken, desto leichter lassen sie sich personalisiert rechtfertigen. Die Personalisierung der Rechtserzeugung reflektiert, welche Bedeutung Gerichte als rechtserzeugende Organe in den Rechtskulturen haben. In der fallrechtlichen Tradition kommt Richtern naturgemäß eine höhere individuelle Bedeutung zu als in Rechtskulturen mit kodifizierter Tradition, in denen abstrakte Normen herrschen. Höchstgerichte müssen daher ihre Entscheidungen entweder aus Präjudizien ableiten, d.h. mit den Aussagen früherer Richter zu damaligen Tatsachen diskursiv um-

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gehen, oder mit abstrakten Normen herleiten. Personalisierung erleichtert das erste Verfahren, weil über das Prestige der Richter die Glaubwürdigkeit einer Entscheidung und damit ihre Bindungskraft erhöht werden kann, also ein zusätzliches Argument neben dem distinguishing bereitsteht, eine Leitentscheidung groß zu reden – oder, wenn es der Richter heute besser zu wissen glaubt, klein zu reden. Jetzt muss der Richter mit seinen Argumenten überzeugen. In Fallrechtsordnungen erlaubt Personalisierung eine systemstabilisierende argumentative Beweglichkeit. In kodifizierten Rechtsordnungen hingegen geht es um die Interpretation von Normen – also einen Prozess, der in der Außendarstellung nicht von bestimmten Fallkonstellationen und Tatsachen abhängig ist. Das Ziel der Höchstgerichtsbarkeit ist es hier, Rechtsfragen als solche zu entscheiden. Stellte man bei der Begründung solcher normativer Aussagen in erster Linie auf die Relevanz von Tatsachen oder auf überzeugende ­A rgumente Einzelner ab, erhöhte dies die Bindungskraft einer generell-abstrakten normativen Aussage nicht; im Gegenteil, die Aussage wäre faktisch und individuell relativiert. Dies würde tendenziell als Verlust an Rechtssicherheit, Systematik, Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung saldiert werden. Kodifizierte Rechtsordnungen haben daher ein systemstabilisierendes Interesse an der In­ visibilisierung individueller Entscheidungsbeiträge. Fallrechtliche Rechtsordnungen hingegen würden einer sich abstrakt-normativ, sachgesetzlich oder systembezogenen Rechtserkenntnis misstrauen. Ein solches Vorgehen würde das Rechtssystem nicht stabilisieren, eher den Verdacht unausgesprochener Vorverständnisse und verkappter Ideologisierungen schüren.

2.  Demokratische und rechtsstaatliche Organe Die Frage der Personalisierung eines Richteramtes sagt also etwas aus über das ­Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat, über die Stellung von Richtern in der Demokratie. Wenn demokratische Gewalten grundsätzlich personalisiert sind, die rechtsprechende Gewalt hingegen nicht notwendigerweise, dann besagt der Grad der ­Personalisierung etwas über die Einbindung von Richtern in die demokratisch le­g i­ timierte Herrschaftsausübung. Kommt es nämlich auf Personen an, werden also Amtsträger als Personen ausgewählt und legitimiert, dann kann sich die Amtsführung dieser Personen auch auf ihre persönlichen Fähigkeiten stützen. Ein Amtsträger muss seine Handlungen gerade nicht als sachlich-inhaltlich determiniert rechtfertigen (wie ein Staatsbeamter im Landratsamt), sondern hat gerade Gestaltungsspielräume auszufüllen. Das hierfür erforderliche Ermessen lässt sich nicht juridifizieren und subsumtionsfähig vorbereiten, so dass die Legitimität der Amtsführung auf die personell-organisatorische Legitimation gestützt werden muss und folglich auch individuelle Fähigkeiten relevant werden. Die Personalisierung von Amtsträgern ist daher eine Grundeigenschaft demokratischer Herrschaft, weil sie bei der Amtsführung Spielräume anerkennt, die nicht konditional determiniert sind, sondern der Gestaltung, Weitsicht, des Geschicks und der Führung überantwortet werden. Hierfür gibt es keine präziseren Auswahlkriterien als die Übertragung der Auswahl solcher Amtsträger an demokratische Wahlprozesse. Die Demokratie kann mit der Irrationalität einer persönlichkeitsbezogenen Personenauswahl umgehen und ihr Gutes abgewinnen.

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Spielen individuelle Eigenschaften von Amtsträgern hingegen keine auswahlentscheidende Rolle, kommt es ersichtlich nicht auf das Ausfüllen von Entscheidungsspielräumen an. Im Vordergrund steht nun eine Amtsführung, die inhaltlich vorstrukturiert ist und Entscheidungsspielräume nur anerkennen darf, wenn diese ihrerseits wieder strukturiert sind. Hier passt die Legitimationskettendogmatik: Wenn ein Amtsträger seine Legitimation nicht auf einen persönlichkeitsbezogenen Wahlakt stützen kann, also die personell-organisatorische Legitimation schwach ausgestattet ist, muss die sachlich-inhaltliche Legitimationskette umso stärker ausgestattet sein. Das hinreichende Legitimationsniveau wird erzeugt, indem eine stärkere sachlich-inhaltliche Legitimation eine schwächere personell-organisatorische ausgleichen kann. Dann ist es nur konsequent, von Amtsträgern mit hoher sachlich-inhaltlicher Legitimation keine Individualität abzuverlangen. Solche Amtsträger entsprechen letzt­l ich dem Typus eines der Bindung an das Gesetz unterworfenen Funktionärs mit geringen, kalkulierbaren und der Kontrolle unterliegenden Entscheidungsspiel­ räumen. Solche Amtsträger lassen sich über Staatsprüfungen und Lauf bahnverordnungen auswählen, befördern und austauschen. Hier kommt es auf objektivierbare und letztlich justiziable Leistungsparameter an; individuelle Charaktereigenschaften treten als irrationale Elemente zurück und sollen die Neutralität der Amtsführung221 und die Bindung an das Gesetz nicht gefährden. Über das Verhältnis von Amt und Person lassen sich daher rechtsstaatliche und demokratische Verfahren der Legitimation von Amtsträgern und ihrer Amtsführung thematisieren und reflektieren. Insofern ist der Vergleich der angelsächsischen Personalisierung der Höchstgerichtsbarkeit mit dem deutschen Bestreben, eine Personalisierung gerade zu verhindern, aufschlussreich und regt zum Nachdenken an. Man kann aus den Divergenzen zwischen den USA und England einerseits und Deutschland andererseits den Schluss ziehen, die Oberste Gerichtsbarkeit bei ersteren gehöre tendenziell zum politischen System während die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik als unpolitische Instanz gilt. Für die USA und England kann man eine stärkere Verwobenheit der Höchstgerichtsbarkeit mit den genuin politischen Gewalten konstatieren als für die Bundesrepublik. Das hat in der Tradition liegende Gründe: Die rechtsprechende Kompetenz des House of Lords war immer ein Teil des Westminster-Parlamentarismus, also eines Parlamentsverständnisses, das keine spezifisch legislativen, exekutiven und judikativen Gewalten trennte. Stattdessen überlappten die Zuständigkeiten (Regierung als Exekutivausschuss des Unterhauses, Gesetzgebung im Zusammenspiel zweier Häuser, die auf unterschiedlichen Repräsentativkörperschaften und Auswahlmodi beruhten, Rechtsprechung in Personalunion mit Legislativkompetenzen, querliegende Ämter wie z.B. der Lord Chancellor). Eine Verschränkung von Rechtsprechung und Rechtsetzung zeigte sich auch im Selbstbewusstsein englischer Richter zur Rechtserzeugung (jedenfalls am Beispiel Dennings). Englische Richter trauen sich eine Rechtserzeugung mit generell-abstrakter Wirkung zu, weil sie die responsive Kontrolle des politischen Prozesses unterstellen. Parliament kann immer reagieren; es behält immer das letzte Wort. Das höhere Prestige von englischen Richtern 221  Vgl. zur Neutralität als Wesensmerkmal der rechtsprechenden Tätigkeit Andreas Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, 94–104, 125–130 m.w.N. Mit anderem Vorverständnis aber ähnlichen Schlussfolgerungen: Eisenblätter (Fn.  175), 40–48, 55–58.

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ist für das politische System i.e.S. vergleichsweise irrelevant, weil die Politik letztlich immer in der Vorhand ist. Richterliche Rechtsfortbildung wird dann als ein arbeitsteiliger Beitrag gerechtfertigt, in Gestalt von Richterrecht einen rechtspolitischen Vorschlag zur Regelung von Sachfragen zu unterbreiten. Diesen Vorschlag mag eine höhere Instanz billigen, ablehnen oder korrigieren. Gerade weil Richterrecht nur einen inkrementalen Zwischenschritt im Rechtserzeugungsprozess darstellt, darf der Richter die Bindung an das Recht (hier: Präjudizien) lockern. Rechtsprechung und Rechtspolitik sind nicht strikt getrennt, sondern ziehen am selben Strang. In Deutschland hingegen fehlt es noch an einer solchen Selbstbeschreibung der Höchstgerichtsbarkeit. Die Verfassungsgerichtsbarkeit und der politische Prozess werden nicht als responsiv arbeitende Institutionen in einem arbeitsteiligen Prozess beschrieben. Es sind eher Abgrenzungsversuche von „Recht“ und „Politik“, die das Verhältnis der Gewalten zueinander charakterisieren – und zwar mehr oder minder auf allen Seiten: auf Seiten des Bundesverfassungsgerichts, der Staatsrechtslehrer sowie der Rechtspolitiker. In der deutschen Staatsrechtslehre ist man traditionell bemüht, zu eindeutigen Kompetenzabgrenzungen zu gelangen. Vorrang der Verfassung, Grundrechtsbindung der hoheitlichen Gewalt, Normwiederholungsverbot und das Bestreben nach generell-abstrakter Maßstabsetzung markieren diese Grenze zugunsten des Bundesverfassungsgerichts. Umgekehrt wird dem politischen Prozess ein Zugriffsrecht abgezirkelt über gönnerhaft wirkende Formeln wie Einschätzungs-, Prognose- oder Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers.222 In der deutschen verfassungsrechtlichen Diktion unterliegt der Gesetzgeber einer verfassungsgerichtlichen Vollkontrolle223 vor allem am Maßstab der Grundrechte, die fallweise im Ermessen des Gerichts zugunsten von Spielräumen des Gesetzgebers zurückgenommen wird.224 Subkutan ist damit eine ganz andere Hierarchisierung der Staatsgewalten als in Großbritannien verbunden. In den USA oder England begreift man Rechtsprechung (der Höchstgerichte) als einen akteurszentrierten Prozess, der sich nicht einer Dichotomie von Rechtsstaat und Demokratie zuweisen lässt. Man ist es gewohnt, mit richterlichen Aussagen auch politisch umzugehen und vermutet hinter ihnen auch nicht mehr an Rechtsbindung als sie redlicherweise erbringen können. Ein Richter spricht nie für das Gericht im Ganzen. Nie fasst er in den Augen der Öffentlichkeit die Rechtslage au222  Der Begriff „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“ fällt erstmals in BVerfGE 50, 290 (332–334) – Mitbestimmung [1979]; der Begriff „Einschätzungsspielraum“ in BVerfG 79, 127 (153) – Rastede [1988]. Für die aktuelle Praxis vgl. etwa BVerfGE 121, 317 – Nichtraucherschutz [2008]. Zur Herleitung und Bedeutung dieser Kategorie siehe Christian Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014; siehe auch: Niels Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätsmaßstab, 2015, 90–109. 223   Auch psychologisch interessant sind die Beobachtungen von André Brodocz/Steven Schäller, Hinter der Blende der Richterbank, in: H. Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, 235, wie die Richter als Herren des Verfahrens als die Herren über die Politik erscheinen (242). 224   Dies ermöglicht insbesondere die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit, vgl. näher Oliver Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/ders., Verhältnismäßigkeit, 2015, 1 (7 f., 10–12, 20); Sebastian Seedorf, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Gesetzgebung, ebd., 129 (135–143, 151 f.); Matthias Jestaedt, Verhältnismäßigkeit als Verhaltensmaß, ebd., 293 (293–295).

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toritativ zusammen. Jeder weiß, ein Richter entscheidet nur einen Fall und ob die Entscheidung über den Fall hinaus breitenwirksam relevant werden wird, ist keine Entscheidung, die dieser Richter mehr trifft, sondern eine Frage, die eine andere interpretive community entscheidet (und sei es auch nur dasselbe Gericht zu einem anderen Zeitpunkt). Einzelne können eine größere Resonanz in der Öffentlichkeit habe, weil ihr Beitrag durch den gerichtlichen Entscheidungsprozess auch wieder relativiert wird. In den angelsächsischen Ländern ist die Personalisierung von Gerichten institutionell „ungefährlich“, weil der politische Prozess damit besser umgehen kann, es eine Fachöffentlichkeit gibt, die individuelle Komponenten der Rechtsprechung aufgreift, auf bereitet und wissenschaftlich diskutiert und weil schließlich auch die (populäre) Medienkultur Rechtsprechen als einen rechtspolitischen Prozess begreift, der zumindest teilweise parallel zum (partei-)politischen Prozess verläuft und diesen gerade arbeitsteilig korrigieren soll.

3.  Medien und Öffentlichkeitswahrnehmung Könnten wir auch in Deutschland mit einer Personalisierung von Gerichten umgehen? Wenn in Deutschland Medien über Richter berichten, lassen sich zwei Ziele der Berichterstattung ausmachen, ein sachliches, das die objektive Rechtslage thematisiert, und ein personalisiertes, das an den Richtern selbst interessiert ist. Bei letzterem trifft man auf Persönlichkeitsbilder, die Kolportage von Personalkonstellationen oder Machtzuschreibungen. Das Interesse an der Person dient nicht, wie in den USA oder England, der besseren Erfassung der Rechtslage, ihrer Fortentwicklung durch das Gericht und der Beschreibung eines arbeitsteiligen rechtspolitischen Prozesses (Verhältnis von judicial process und political process). Bei der deutschen Berichterstattung über Richter gewinnt man den Eindruck, dass es umgekehrt ist: Geht es um die Personalisierung von Richtern liegt eher der Vorwurf in der Luft, eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht sei machtversessen geworden. Im Subtext dreht sich eine Personalisierung um die Politisierung der Justiz oder um Anzeichen der Entprofessionalisierung rechtsstaatlich gebundener Rechtserkenntnis. Weder die Medien, noch der politische Prozess, noch die deutsche Staatsrechtslehre können mit der Personalisierung der Rechtsprechung adäquat umgehen. Sie reihen einen in die Öffentlichkeit tretenden Richter in ihren jeweiligen Funktionszusammenhang ein: Medien erwarten Meldungen, Politiker erwarten Politik. Die Personalisierung eines Gerichts liegt daher in der Regel nicht im Interesse des Gerichts, weil in den Resonanzräumen der Personalisierung (Medien, Politik) Verhaltensregeln gelten, die die Rechtsprechung nicht erfüllen kann, will sie ihre Stellung als Dritte Gewalt nicht einbüßen. Einen Fachdiskurs im engeren Sinne, der die Beiträge einzelner Richterpersönlichkeiten zur Rechtsentwicklung richtersoziologisch thematisiert oder fallspezifisch kontextualisiert, gibt es in Deutschland (noch) nicht. Wie personalisiert ein Gericht wahrgenommen wird, ist daher letztlich ein Indikator für das bei Verfassungsgerichten stets problematische Verhältnis von Recht und Politik. Zugespitzt ließe sich kontrastieren: In Deutschland erzeugt Personalisierung den Eindruck einer Politisierung. In den USA beschreibt Personalisierung den Umstand

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der Politisierung. Im Vereinigten Königreich stört Personalisierung nicht, solange die Rechtserzeugung parlamentarisiert bleibt.

4.  Ist die Personalisierung des BVerfG vermeidbar? Wer die amerikanischen und britischen Traditionen vor Augen hat und die Entwicklung im Umgang mit dem BVerfG in der letzten Zeit beobachtet, steht vor der Frage, ob die Personalisierung des BVerfG absehbar ist? Jedenfalls nimmt das Interesse der Medienöffentlichkeit an Richterpersönlichkeiten zu. Politiker reagieren sensibler auf Statements von Richtern. Über die Historisierung und Kontextualisierung von Urteilen beginnt auch die Wissenschaft, sich mit den rechtsprechenden Akteuren zu befassen. In der historiografischen Aufarbeitung der Rechtsentwicklung tritt neben die in Deutschland seit jeher professorenlastige Wissenschaftsgeschichte zunehmend eine Rechtsprechungs- und Gerichtsgeschichte, die auch die Personen nicht vernachlässigen wird.225 In allen Resonanzräumen der Verfassungsrechtsprechung deuten die Indikatoren auf eine zunehmende Personalisierung des Bundesverfassungsgerichts. Das Interesse scheint sich von der Konkretisierung materieller Verfassungsmaßstäbe mit Letztentscheidungscharakter, also akzeptierter Verfassungsexpertise, zu verlagern auf die Frage, welche Entscheidungsspielräume das Bundesverfassungsgericht und mit ihm seine Richterinnen und Richter haben, wie sie diese wahrnehmen und ob, wann und wie sie sie anderen Institutionen überlassen. Anders gesprochen: Fragen der Kompetenz, Zuständigkeit und Letztverantwortung werden für die Forschung wichtiger, generell-abstrakte materielle Maßstäbe unwichtiger. Dieser Trend ist letztlich auch Ausdruck einer Entwicklung, die das Bundesverfassungsgericht nicht umkehren kann. Er ist Ausdruck einer reifen und mächtigen Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich zu einem Organ entwickelt hat, das institutionell im politischen Prozess vernetzt ist. Er ist Ausdruck eines materiellen Verfassungsverständnisses, das im Hinblick auf seine Ableitung aus dem Verfassungstext ersichtlich an Grenzen gestoßen ist. Je mehr konkrete Aussagen auf abstrakte Vorgaben gestützt werden (Menschenwürde, Verfassungsidentität, Verhältnismäßigkeit, Gesamtabwägung u.ä.),226 desto augenfälliger wird der individuelle Beitrag bei der Herleitung dieser Vorgaben. Entscheidungen, die mit Menschenwürde oder Verfassungsidentität begründet werden, lassen sich nicht mehr als Verfassungsvollzug darstellen. Jedenfalls ist das Gericht am Ende der Möglichkeiten einer Textinterpretation angelangt; es operiert mit Formeln, die auch der Selbstermächtigung dienen.227 Schließlich führt die europäische Entwicklung zu einer institutionellen Konkurrenz des Bundesverfassungsgerichts mit Gerichten in Europa, die eine andere, offenere Personalisie225  Vgl. Benjamin Kram/Florian Meinel, Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand historischer Forschung, JZ 2014, 913–921. 226  Dazu Carsten Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Das BVerfG an der Grenze des Grundgesetzes, 2015. 227   Vgl. bezogen auf die Verfassungsidentität Christoph Schönberger, Identitäterä, JöR 63 (2015), 41– 62; Oliver Lepsius, Souveränität und Identität als Frage des Institutionen-Settings, JöR 63 (2015), 63– 90; Albert Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland: Karriere – Konzept – Kritik, AöR 140 (2015), 1–30.

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rungstradition haben. Nimmt man solche Anzeichen ernst, dann wird auch Karlsruhe einer fortschreitenden Personalisierung nicht entkommen können. Wie sollte das Gericht darauf angemessen reagieren, und was dürfen die anderen Gewalten sowie die Wissenschaft fordern und erwarten? Das Bundesverfassungsgericht steht in einer Umbruchsituation. Seine maßstabsetzende Gewalt ist, jedenfalls in der bisher praktizierten Form, ausgereizt.228 Das deutsche Verfassungsrecht ist de facto Präjudizienrecht geworden,229 so dass sich das BVerfG einem Gericht in fallrechtlicher Tradition annähert. Als Gouvernante der bundesdeutschen Demokratie230 muss es nicht mehr wirken.231 Es hat mit dem EuGH und dem EGMR Konkurrenten in seinem Kerngeschäft, dem Grundrechtsschutz, bekommen.232 Zugleich praktiziert es im Verdikt der Grundrechtskontrolle einen arbeitsteiligen Rechtserzeugungsprozess, indem es etwa Steuergesetze rund alle zehn Jahre beanstandet und den Bundestag dadurch zwingt, jenseits der politischen Agenda von Koalitionsvereinbarungen und in einer politisch undankbaren Thematik Gerechtigkeitsfragen zu diskutieren und Lösungen anzupassen. In solchen Politikfeldern ist die tatsächliche Rolle des BVerfG inzwischen die eines Gegenspielers im arbeitsteiligen Prozess der Rechtsfortbildung. Rechtspolitisch wirkt das BVerfG auch im Prozess der europäischen Integration, wenn es Demokratiedefizite konstatiert,233 Verfahren kontrolliert234 und mit anderen Gerichten justizförmig diskutiert.235 Man kann sich auch gut vorstellen, dass die Bundesregierung auf der europäischen Bühne über manche Karlsruher Linie dankbar ist, weil sie es der Regierung ermöglicht, sich für die Wahrung nationaler Interessen hinter das Gericht zurückzuziehen. Als „Bürgergericht“ erfüllt das Bundesverfassungsgericht überdies eine Partizipationserzwingungs- und Repräsentationsergänzungsfunktion im politischen Prozess.236 Über die Verfassungsbeschwerde kann nämlich der Einzelne, gefiltert durch das Gericht, auf den politischen Prozess einwirken. Im politischen System der Bundesrepublik substituiert die Popularverfassungsbeschwerde funktional gesehen die fehlende direkte  Näher Lepsius, Maßstabsetzende Gewalt (Fn.  173), 247–266; ders. Entscheiden (Fn.  219), 132–

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229  So Brun-Otto Bryde, Obiter Dicta (Fn.  192), 493, der im Übrigen feststellt, die abstrakte Auslegung der Verfassungssätze sei inzwischen in einem solchen Maße geklärt, dass Verfassungsinterpretation fast langweilig wirke (494) und der Akzent auf die Logik des Präjudizienrechts gelegt werden müsse (vgl. 499). Aus politikwissenschaftlicher Sicht: Steven Schäller, Präjudizien als selbstreferentielle Geltungsressource des BVerfG, in: H. Vorländer, Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006, 205 (206–212). 230   So noch Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, 263. 231  Vgl. Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Das entgrenzte Gericht (Fn.  173), 57–66. 232  Dazu Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014; Oliver Lepsius, Grundrechtspluralismus in Europa, in: J. Masing u.a. (Hrsg.), Strukturfragen des Grundrechtsschutzes, 2015, 45–66; Claus-Dieter Classen, Kooperation und Konkurrenz – das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Europäischen Gerichtshof. Eine deutsche Perspektive, in: J. Masing/O. Jouanjan, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2011, 125–150; Matthias Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund, in: C. Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, 93–127. 233   BVerfGE 123, 267 – Lissabon [2009]. 234   BVerfGE 132, 195 – ESM [2012] 235   BVerfGE 134, 366 – OMT [2014]. 236   Dazu schon Helmut Simon, Die rechts- und sozialstaatliche Demokratie, in: M. Güde u.a., Zur Verfassung unserer Demokratie. Vier republikanische Reden, 1978, 63 (67 f.).

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Demokratie auf Bundesebene. Das Bundesverfassungsgericht erfüllt jedenfalls Funktionen, die über Rechtsprechung im herkömmlichen Sinne hinausgehen. Es ist ein arbeitsteilig wirkendes, diskurs-integratives politisches Organ geworden. Das kann auf die Beschreibung des Gerichts und seine Fremdpersonalisierung nicht ohne Folgen bleiben. Man kann den Sachverhalt auch aus umgekehrter Sicht beschreiben. In den Gründungsjahren der Bundesrepublik hatte sich eine politische Kultur naturgemäß noch wenig ausgebildet. Die Bildung der politischen Institutionen hatte gegenüber der Bildung der politischen Kultur einen Vorlauf. Die Bundesrepublik konnte sich auf keine politische Kultur stützen, die demokratische Wertüberzeugungen legitimiert hätte.237 Dadurch prägten die Institutionen die politische Kultur der Bundesrepublik stärker als in Staaten mit einer eingespielten politischen Kultur, in denen es die politische Kultur ist, die auf die Institutionen einwirkt. Inzwischen aber prägt die politische Kultur der Bundesrepublik die politischen Institutionen zumindest genauso wie diese auf jene einwirken. Veränderungen in der Rollen- und Funktionsbeschreibung des BVerfG sind insofern der Effekt einer funktionierenden Demokratie. Hinzu kommt die allgemeine Struktur verfassungsrechtlicher Normen, die nicht ohne weiteres subsumierbar sind, sondern zur Anwendung erst auf bereitet werden müssen. Ein materielles Verfassungsverständnis wie jenes des Grundgesetzes bedarf dabei der Rückversicherung in Wertüberzeugungen, die einerseits dem politischen Prozess als Verfassung vorausliegen, andererseits auch weiterentwickelt werden müssen, denn sonst würde Verfassungsrecht versteinern und zur Herrschaft der toten Hand werden. Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist mit der Entscheidung von Fällen anhand enumerativer Zuständigkeiten nicht umschrieben. Zu ihr zählt auch die Pflege des materiellen Verfassungsverständnisses. Gerade in dieser Funktion kommt ihm kein letztes Wort zu – weder im Verhältnis zu den anderen Gewalten noch im Verhältnis zur Zeit-Dimension, die Anpassungen früher oder später auf die Tagesordnung setzt. Von daher steht das Bundesverfassungsgericht immer auch vor der Aufgabe, einen Selbstverständigungsprozess der demokratischen Gesellschaft zu moderieren. Auch dies ist naturgemäß eine politische Aufgabe, keine genuin rechtsprechende. Nur in seinen Handlungsmöglichkeiten ist das Gericht auf die Mittel der rechtsprechenden Gewalt beschränkt: es kann rechtsförmlich nur als Gericht, also durch Einzelfallentscheidungen (Urteile, Beschlüsse, einstweiligen Rechtsschutz) wirken. Diese Aufgabe stellt sich formell als Rechtsprechung dar; materiell ist sie aber nicht Normsubsumtion oder Verfassungsvollzug. Mit Rechts- und Verfassungsbindung lässt sie sich nicht vollends beschreiben.238 Anders gesprochen: Verfassungsgerichte treffen notgedrungen auch politische Entscheidungen – nicht nur weil die Fälle politische Relevanz besitzen, sondern weil die Natur der Verfassungskonkretisierung nicht als rein rechtlich determinierter Konkretisierungsprozess begriffen werden kann. Politik wird also nicht als exogener Faktor von politischen Organen an das Gericht herangetragen, sondern entsteht als 237  Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Prägung der politischen Kultur der Bundesrepublik durch institutionelle Ordnungen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, 2.  Aufl. 2009, 63 (63 f.). 238  Näher Werner Heun, Rechtliche Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: ders., Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, 2014, 286–300; ders., Die politischen Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, ebd., 301–317.

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endogener Faktor bereits dadurch, dass das Gericht tut, was es tun soll. Das Bundesverfassungsgericht wird zu einem politischen Organ (also einem Organ, das Entscheidungsspielräume füllt, die nicht determiniert sind), ohne dass dazu ein politischer Anstoß von außen nötig wäre.239 Wenn Richter des Bundesverfassungsgerichts Wert darauf legen „nur juristisch zu entscheiden“, dann ist darin also ein eher taktisches Statement in der Abgrenzung der einen Staatsgewalt gegenüber einer anderen Staatsgewalt zu sehen; nicht aber darf diese Aussage als realistische Selbstbeschreibung verstanden werden. Träfe sie zu, wäre das Gericht nur ein qualifiziertes In­ stanzgericht. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird das Bundesverfassungsgericht wie selbstverständlich als institutioneller „Vetospieler“, „Ersatzgesetzgeber“ und „Agenda-Setter“ behandelt und dem politischen System zugerechnet.240 Man spricht von der „Karlsruhisierung der Politik“241 oder hebt den Beitrag hervor, den das Bundesverfassungsgericht für die Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie geleistet habe.242 Dieter Grimm spricht von der Rolle des BVerfG als Hüter von Gemeinschaftsinteressen und sozialer Gerechtigkeit und sieht im BVerfG ein Gegengewicht zu den Defiziten demokratischer Parteipolitik.243 Andere sehen in der Wertschätzung des Bundesverfassungsgerichts auch einen „Obrigkeits-Ersatz“ und ein Identifikationsorgan für vordemokratische, obrigkeitsstaatliche Rollenerwartungen.244

5.  Erkenntnisinteressen und Fragestellungen einer Personalisierung Die folglich immer auch politische Natur der Entscheidungstätigkeit legt nach dem oben Gesagten eine partielle Personalisierung zumindest nahe. Jedenfalls will prima facie nicht einleuchten, warum ein Organ mit auch-politischem Handeln ohne Personalisierung auskommen sollte, während ansonsten bei politischen Organen die Per239  Auf diese Paradoxie hat frühzeitig schon Gerd Roellecke hingewiesen, vgl. Über immanente Grenzen der richterlichen Gewalt des Bundesverfassungsgerichts, Diss.jur. Freiburg 1960, 132–162, 182–184 (insbes. Zur Idee einer Gestaltungsfreiheit des BVerfG); siehe später ders., Das Paradox der Verfassungsauslegung, 2012, 7–14; ders., Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: Handbuch des Staatsrechts Band 3, 3.  Aufl. 2005, 1201–1219. Siehe etwa auch Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und die „grundlegende Konvention“ der bürgerlichen Gesellschaft, in: F. Hase/ ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und Politisches System, 1980, 189 (244–247, 261, 270 f., 280–296). 240  So Uwe Kranenpohl, „Angst vor dem Freunde“ oder ein „Problem der knappen Legitimation“? Bundesverfassungsgericht und Bundestag, in: Oberreuter (Fn.  155), 95–113; siehe auch Rüdiger Voigt, Das Bundesverfassungsgericht in rechtspolitologischer Sicht, in: Ooyen/Möllers, Handbuch(Fn.  182), 69–94; Alexis v. Komorowski/Michael Bechtel, Gesetzgebungs- oder Justizstaat? Zum (Macht-)Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Parlamentsgesetzgeber am Beispiel der aktuellen grundrechtsdogmatischen Entwicklung, in: M. Becker/R. Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, 2006, 282–305. 241  So Voigt (Fn.  235), 77. Siehe auch: Gerhard Casper, Die Karlsruher Republik, ZRP 2002, 214–219. 242  So Sascha Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, 2009. Siehe auch Brun-Otto Bryde, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Demokratisierung der Bundesrepublik, in: Ooyen/Möllers, Handbuch (Fn.  182), 497–510. 243   Dieter Grimm, Ein Gegengewicht zu den Defiziten demokratischer Parteipolitik, ZRP 2000, 72–74. Zum Funktionszuwachs der rechtsprechenden Gewalt und den Verschränkungen mit Legislativfunktionen siehe auch Voßkuhle, Rechtsschutz (Fn.  221), 54–63. 244  Vgl. Robert C. van Ooyen, 60 Jahre Bundesverfassungsgericht – (k)ein Grund zum „Jubeln“?, Recht und Politik 47 (2011), 142 (149). Siehe allgemeiner: Hans Vorländer (Hrsg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2006.

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sonalisierung zugleich eine Strategie war, mit Freiräumen und Entscheidungsspielräumen umzugehen. Wer dem Gericht eine Personalisierung verwehrt, degradiert es ungewollt. Er suggerierte, das Gericht zähle zu jenen Organen, die keine genuinen Freiräume besitzen sondern nur determiniert entschieden. Im Übrigen darf daran erinnert werde, dass sich der Parlamentarische Rat über die Unvermeidlichkeit einer auch politisch kontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit im Klaren war.245 Wenn die rechtsvergleichenden Einsichten von oben tragfähig sind und eine Personalisierung der Höchstgerichtsbarkeit auch für ein funktionierendes arbeitsteiliges Verständnis demokratisch und rechtsstaatlich legitimierter Organe steht, kommt es für den deutschen verfassungsrechtlichen Diskurs darauf an, eine eigenständige, angemessene Beschreibung der individualisierbaren Rolle von Richtern zu finden. Aufgrund der Grundprägungen unterschiedlicher Rechtskulturen steht nicht zu erwarten, dass britische oder amerikanische Vorverständnisse zu Vorbildern werden. Es gilt vielmehr, einen Mittelweg zu finden. Das Ziel der Personalisierung sollte nicht in der Neugier an den Personen liegen, sondern aus rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen folgen: Wie lassen sich die Funktionen von Organen erfassen, legitimieren, diskutieren und kritisieren? Wie gelingt eine dynamisierende Beschreibung der Rechtsentwicklung? Wie kann man mit pluralistischen Rechtsdeutungen umgehen ohne in ihnen Systemkrisen zu vermuten? Wie integriert man grundlagenbezogene Fragestellungen (Rechtsvergleichung, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie) in einen überwiegend dogmatischen Diskurs? Wie thematisieren Juristen das „Spannungsverhältnis“ von Recht und Politik? Die angemessene Erfassung richterlicher Individualität und ihrer Impulse für die Rechtsprechung wird desto leichter gelingen, je unverstellter man die Funktionen des Bundesverfassungsgerichts als eines Organs beschreibt, das in den Formen eines Gerichts politische Wirkungen erzielt und je unbefangener man die Frage aufwirft, auf welchen Feldern und in welchen Formen diese Funktion wünschenswert ist. Im europäischen „Verfassungsgerichtsverbund“ lassen sich auf diese Weise unterschiedliche Rechtsdeutungen auch leichter erklären, rechtfertigen, anpassen und ändern. Amerikanische und britische Erfahrungen legen jedenfalls nahe, dass sich Diskurse zwischen den Gerichten, ein „dialogue des juges“, mit Hilfe einer fallrechtlichen Individualisierung von Urteilsgründen leichter organisieren lässt als über Identitätsformeln, die Respekt erheischen und Diskurse ausschließen. Die Individualisierung von Richtern ist überdies Desiderat einer vorurteilsfreien Richtersoziologie und ideologiekritischen Justizforschung. Nicht zuletzt befreit sie von den Pfadabhängigkeiten einer systemfixierten Dogmatik, die Interessen, Kontexte und die Dynamik der Zeit ausblendet. Letztlich geht es um eine Neubeschreibung des Verhältnisses der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie.

245   Die Beratungen fasst kommentierend zusammen: Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, 52 ff.; Karlheinz Niclauß, Der Parlamentarische Rat und das Bundesverfassungsgericht, in: Ooyen/Möllers, Handbuch (Fn.  182), 191–204.

Charisma der Auf klärung Amt, Person und Institution am Beispiel von Joachim Gauck als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde von

Prof. Dr. Julian Krüper, Universität Bochum* Inhalt A. Facetten von Amt und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 B. Kurze Geschichte einer unwahrscheinlichen Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 C. Das Amt zwischen Politik und Rechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 I. Kongruenzen von individuellem und institutionellem Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 II. Organisationspraxis und Organisationszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 D. Herrschaft und Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Aufarbeitung im Geiste der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 II. Charismatische Herrschaft und Personalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Aspekte charismatischer Herrschaft bei Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Charisma und Bürokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Charismatisierung und Personalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4. Charismatisierung durch Instituierung und Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 III. Habitualisierung als Modus charismatischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Leerstellen der Weberschen Charismatheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Die kultursoziologische Deutung des Charismas bei Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. Die legitime Sprache der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Gaucks kulturelles Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Die ‚legitime Sprache‘ des Ostens – und des Westens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 c) Ästhetik und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 E. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

*   Dr. Anja Böning, Jun.-Prof. Dr. Mehrdad Payandeh sowie Prof. Dr. Christoph Schönberger danke ich für Hinweise zu Vorfassungen dieses Beitrags, meinen Bochumer Mitarbeitern für ihre Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts.

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A.  Facetten von Amt und Person Das Begriffspaar von ‚Amt und Person‘ schillert facettenreich, denn es ist in vielen Welten zu Hause. Am wenigsten ist ihm die dogmatische Rechtswissenschaft Heimat, die zwar im Beamtenrecht ihre Amtsbegriffe pflegt, sie aber typischerweise nicht in ein substanzreiches Verhältnis zur Person bringt. Natürlich tauchen hier und da Amtswalter und Amtsträger als Akteure auf, zu ihrer Person aber will das Recht nicht durchdringen. Es lebt von der Fiktion, sie alle seien Diener des gemeinen Wohls, der „Gesamtheit“, wie Art.  130 Abs.  1 WRV formuliert, nicht aber einer Partei, einer eigenen Agenda oder gar persönlicher Interessen. Tritt die Person hinter dem Amt in Erscheinung, so wird dies rechtlich als Aberration verstanden und typischerweise als Grundrechtskonflikt rekonstruiert. Demgegenüber können Staatslehre und Verwaltungswissenschaft, noch in Sichtweite des Rechts, seiner dogmatischen Fesseln aber schon entwunden, mit dem Begriffspaar leichter etwas anfangen.1 Ihre Perspektiven gehen über in historisch grundierte Herrschaftstheorie und -soziologie,2 die wiederum Bezüge zu den theologischen Debatten über den Amtsbegriff 3 aufweisen. Doch auch außerhalb der dogmatischen Rechtswissenschaft gibt es eine Neigung, Amt und Person mehr zu scheiden, als aufeinander zu beziehen. Auch die Systemtheorie, in den Sozialwissenschaften seit langem wirkmächtiger Referenzrahmen, lässt die „Person hinter der Rolle verschwinden“4. In diesem weitgespannten Raum muss sich eine Fall-Studie, als die sich dieser Beitrag versteht, positionieren. Klar liegt, dass die Perspektiven dogmatischer Rechtswissenschaft und des geltenden Rechts hier kaum weiterführen. Eine substantiierte Explizierung des Verhältnisses von Amt und Person ist für sie ein Non-Thema, weil sie diese Bereiche notfalls im Wege einer rechtlichen Fiktion trennen wollen. Damit ist nicht gesagt, dass geltendrechtliche Vorgaben keinen Einfluss auf das Verhältnis von Amt und Person hätten, sie spielen aber nur eine Rolle neben anderen. Dieser Beitrag geht daher einen anderen Weg und situiert die Fallstudie in einem interdisziplinären Spannungsfeld. Dies bietet sich an, weil der Gegenstand dieses Beitrags – Joachim Gauck und die bis heute oft mit seinem Namen belegte Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) 5 – Berührungspunkte mit allen angesprochenen Bereichen hat. Der Herrschaftsbezug des 1   H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S.  253 ff.; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S.  195, aber auch dort mit dem Appell, es sei „von der Einzelperson zu abstrahieren“; H. Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S.  117 ff.; J. Bogumil/W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, 2.  Aufl. 2009, S.  111 ff., 186 ff.; H.-U. Derlien/D. Böhme/M. Heindl, Bürokratietheorie, 2011, S.  67 ff., 151 ff. 2  Klassisch M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, (Studienausgabe der MWG I/23), 2014, S.  157 ff.; weiter etwa N. Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2.  Aufl. 2006, S.  279 ff. 3  Überblick etwa bei H.-W. Gensichen, Art. Amt, in: Betz/Browning/Janowski/Jüngel (Hrsg.), RGG1, 4.  Aufl. 1998, S.  421 ff.; J. Neumann, Art. Amt, EvStL, 2.  Aufl. 1975, S.  34 ff. 4   M. Eisenegger, Eine Phänomenologie der Personalisierung, in: ders./Wehmeier (Hrsg.), Personalisierung der Organisationskommunikation, 2012, S.  11. 5   W. Mittenzwei, Die Intellektuellen, 2001, S.  4 45: „Joachim Gauck gab der Behörde seinen Namen“ (insgesamt mit einer überaus kritischen Einschätzung der Behörde); als Beispiel anekdotischer Evidenz mag auf die Sonderausgabe der Bild-Zeitung aus Anlass von 25 Jahren deutscher Wiedervereinigung hingewiesen werden, in der es die „Gauck-Behörde“ bis in eine (freilich fiktive) Schlagzeile schaffte.

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Aufarbeitungsauftrags des BStU ist evident, in seiner prospektiven wie retrospektiven Dimension.6 Die Kreation einer Sonderbehörde mit hochspezifizierten und für staatliche Behörden atypischen Aufgaben – „ein solches Amt – das hatte eben noch keiner erlebt“7 – ist aus institutioneller und organisationswissenschaftlicher Perspektive interessant. Und schließlich bündeln sich in Person und Vita Joachim Gaucks Anfragen an die Amtsprägung durch historische Umstände, persönliche Eigenschaften und Traditionen, die sich zuspitzen lassen auf die Frage, ob die kulturelle Prägekraft des ‚evangelischen Pfarrhauses‘8 bis an die Spitze einer Bundesoberbehörde reicht.9 Verbunden wird dieses Panorama durch Elemente soziologischer Herrschaftstheorie, die die Wechselwirkung von organisationaler Institutionalisierung und personalisiertem Amt deutend in den Blick nehmen kann. Dazu wird im Folgenden – dem Untertitel gemäß, nach dem es um Amt, Person und Institution gehen soll – zunächst das institutionelle Setting in Gestalt der Behörde des Bundesbeauftragten kurz historisch eingeordnet (B.). Sodann soll unter C. dem Zusammenhang von rechtlicher Zwecksetzung einer Organisation, organisatorischer Situationsgebundenheit und Organisationspraxis am Beispiel des BStU nachgegangen werden. Schließlich wird unter D. der Versuch unternommen, die Rolle Joachim Gaucks als ‚Gründungsvater‘ und Leiter des BStU herrschaftstheoretisch zu rekonstruieren und kulturelle, historische und individuelle Prägungen seiner Arbeit an der Spitze des BStU zu untersuchen.

B.  Kurze Geschichte einer unwahrscheinlichen Behörde Lenin wird der Aphorismus zugeschrieben, die Deutschen lösten, wollten sie Revolution machen, zuvor eine Bahnsteigkarte. Dieser Spott über die Fusion von Legalismus und Ausnahmezustand10 mag jene beschleichen, die sich der Aufarbeitungsgeschichte nach der Wiedervereinigung zuwenden: Die Deutschen errichten ausgerechnet eine Behörde, gleich mit mehreren tausend Mitarbeitern, um das inkommensurable Unrecht des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufzuarbeiten. Dabei mögen sich dem Betrachter Analogien zu Leviathan und Behemoth aufdrängen: Bürokratische Herrschaft11 wird mit bürokratischer Herrschaft gekontert: So verschieden scheinen die Mittel von Rechtsstaat und Unrechtsstaat also   S. zum Problem der Deutungshoheit über die MfS-Akten J. Krüper, Mit Recht erinnern, in: ders./ Sauer (Hrsg.), Staat und Recht in Teilung und Einheit, 2012, S.  221 f. 7   J. Legner, Joachim Gauck, 2014, S.  186. 8   Für eine Kultur- und Institutionengeschichte s. jüngst C. Aschenbrenner, Das evangelische Pfarrhaus, 2015; weiter Seidel/Spehr (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus, 2014; Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Leben nach Luther, 2013; C. Eichel, Das deutsche Pfarrhaus, 2012; Greiffenhagen (Hrsg.), Das evangelische Pfarrhaus, 1991. 9  Für eine parallele Perspektive s. O. Lepsius/A. Doering-Manteuffel, Die Richterpersönlichkeiten und ihre protestantische Sozialisation, in: dies./Greiner (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss, 2015, S.  167 ff. 10   S. dazu weiterführend C. Hillgruber, Der Staat 49 (2010), 167 ff. („Deutsche Revolutionen – Legale Revolutionen“). 11  S. spezifisch zum „bürokratischen Totalitarismus“ des SED-Regimes W.-U. Friedrich, German Studies Review 17 (1994), 1 ff. 6

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offenbar nicht zu sein.12 Und doch: Die Geschichte des BStU ist eine Erfolgsgeschichte, sein Konzept ein Exportschlager nicht allein in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, sondern auch darüber hinaus.13 Aufarbeitung, so hat es den Anschein, ist ein Meister aus Deutschland. Dass dabei Kritik an der Arbeit der Behörde,14 etwa an ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit,15 an ihrem Umgang mit Prominenten-Akten16 und mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern in ihren Reihen17 laut wurde, ist dabei ebenso richtig. Die Kritik an der Arbeit der Behörde war und ist, von Befürwortern wie Gegnern der Aufarbeitung des MfS-Unrechts, von Profiteuren des DDR-Regimes wie von seinen Opfern, von West- wie Ostdeutschen, teils vehement. Sie aufzuarbeiten kann nicht Gegenstand dieses Beitrags sein, weil damit unter anderem notwendig eine Schilderung und Bewertung der behördlichen Praxis im Detail (der Recherche, der Aktenrekonstruktion und -bearbeitung) sowie der institutionellen Rahmenbedingungen, wie sie durch die Struktur des MfS vorgeprägt wurden, verbunden wäre. Dies sprengte den Rahmen dieses Beitrags. Insofern sind die nachfolgenden Ausführungen cum grano salis auch nicht als Bewertung der behördlichen Praxis des BStU oder seiner Rechtsgrundlagen zu verstehen, sondern als Untersuchung der spezifischen Erfolgsbedingungen der Arbeit des BStU.

Insgesamt aber gilt, dass der BStU seinen Platz im institutionellen Gefüge bundesdeutscher Erinnerungskultur gefunden hat,18 wozu die jeweiligen Behördenleitungen ihren eigenen Anteil beigetragen haben. Dass der BStU überhaupt existiert, ist Ergebnis des vehementen Einsatzes von Vertretern der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Denn es war keineswegs von Beginn an klar, dass es zu einer Offenlegung der MfS-Akten kommen würde.19 Vertreter der 12   S. im Hinblick auf parallele Behördenstruktur und -praxis von BStU und MfS I. Markovits, 35 Law & Society Rev. 2001, 513 (553, dort Fn.  60): „Maybe it is not surprising that the Gauck Authority, as the sole keeper and administrator of the Stasi files, also shares some of the attributes and habits of the organization whose corrupt estate it has inherited“; im Hinblick auf die altkaderlastige Rekrutierung des Personals des BStU Legner (Fn.  7 ), S.  187: „Die Alt-Kader der SED sahen nicht so aus, dass sich der westdeutsche Oberamtsrat vor ihnen zu fürchten brauchte – sie glichen ihm sogar in vielem“; als Motiv auch bei G. Gaus, Neue Portraits in Frage und Antwort (Interview mit Joachim Gauck), 1992, S.  191 ff.: „Infizierung des Siegers durch das Leichengift des Besiegten“. 13   So wurde etwa 2008 unter maßgeblicher Beteiligung der BStU Marianne Birthler das „Europäische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden“ gegründet; der BStU berät international Staaten und Behörden zu Fragen der Aufarbeitung und ist Gründungsmitglied der „European Platform for Memory and Conscience“. 14   Aus den Reihen der ehemaligen DDR-Eliten etwa Mittenzwei (Fn.  5 ), S.  4 43 ff., Einordnung bei U. Schacht, Die Politische Meinung 1/2005, Nr.  422, 69 ff. 15   Darstellung der Kontroverse bei M. Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“, 2013, S.  329 ff.; s. auch Markovits (Fn.  12), 538 f. 16   Hier sind etwa die Fälle Helmut Kohls und Gregor Gysis zu nennen, vgl. dazu J. Drohla, Aufarbeitung vs. allgemeines Persönlichkeitsrecht, 2012, S.  34 ff., 242 ff. et passim; J. Pietrkiewicz, Stasi-Akten im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Datenschutz, in: Suckut/Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte, 2003, S.  140 ff. 17   Aus juristischer Perspektive dazu N. Pietrkiewicz/J. Pietrkiewicz, NJ 2014, 183 ff.; aus der Praxis Beschluss des LArbG Berlin-Brandenburg, 14 Sa 2300/14 v. 23.4.2015. 18   S. dazu insgesamt Becker (Fn.  15), S.  305 ff. zur Geschichte des BStU; s. weiter J. Gieseke, Die Stasi, 3.  Aufl. 2011, S.  282 ff. 19   Becker (Fn.  15), S.  308: „Der Weg dorthin [zur Gründung des BStU, Anm. JK] war jedoch keineswegs vorgezeichnet“.

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Bundesrepublik wie der DDR plädierten vielmehr für eine Vernichtung der Akten, „Mord und Totschlag“ (Lothar de Maizière) wurden befürchtet, politische Enthüllungen westdeutscher Verstrickungen mit der SED-Diktatur gefürchtet und daher, wenn schon keine völlige Vernichtung, doch wenigstens eine „differenzierte Vernichtungsregelung“20 (Eckart Werthebach) gewünscht. Nachdem die Volkskammer im August 1990 ein Gesetz zur Errichtung einer Aufarbeitungsbehörde verabschiedet hatte, drohte dies bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag unter den Tisch zu fallen, das Gesetz nach der Vereinigung also nicht fortzugelten. Dies wies die Volkskammer praktisch einstimmig zurück, die Verabschiedung des Einigungsvertrages schien gefährdet.21 Schließlich setzten Mitglieder des MfS-Sonderausschusses der Volkskammer, darunter Joachim Gauck, politisch flankiert durch die zivile Besetzung der MfS-Liegenschaften und einen Hungerstreik einiger Bürgerrechtler,22 ein Zusatzprotokoll zum Einigungsvertrag durch. Danach wurde der neue gesamtdeutsche Bundestag im Einigungsvertrag verpflichtet, ein dem Volkskammergesetz vergleichbares Gesetz zu verabschieden.23 Von der Bundesregierung wurde Joachim Gauck für die Interimsperiode bis zur Verabschiedung des neuen Gesetzes als Sonderbeauftragter für die MfS-Akten eingesetzt und trat am 3.10.1990 sein Amt an. Der Verpflichtung zum Erlass eines neuen Gesetzes kam der Bundestag erst über ein Jahr nach der Wiedervereinigung im Dezember 1991 nach.24 Der Sonderbeauftragte als Leiter einer ‚Behörde-to-be‘ war unmittelbar mit handfesten praktischen Herausforderungen des Verwaltungsauf baus konfrontiert. Ende 1990 arbeiteten rund 50 Personen in der werdenden Behörde, Ende 1991 waren es bereits rund 600. Bis 1993 wuchs die Behörde auf die Stärke von über 3.300 Planstellen an.25 In den ersten hundert Tagen wurden über 400.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt, zusätzlich zu rund 130.000 Anträgen auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst, deren gemeinsame Bewältigung die Behörde vor erhebliche Herausforderungen stellte.26   J. Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, 2009, S.  242.   Zeitlich spielte sich dies innerhalb weniger Tage bzw. Wochen ab: Am 24.8.1990 verabschiedete die Volkskammer das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Akten des MfS/Af NS“ (GBl. I Nr.  58, 7.9.1990, S.  1419 ff.), die Protesterklärung der Volkskammer gegen den drohenden Wegfall des Gesetzes wurde am 30.8.1990 verabschiedet, die am Folgetag zu wenigen Änderungen am Einigungsvertrag führte. Dagegen erhob sich scharfer Protest vor allem der Bürgerrechtsbewegung, was am 18.9.1991 zum Abschluss der Zusatzvereinbarung zwischen den Verhandlungspartnern führte. Am 20.9.1990 wurde der Einigungsvertrag in Volkskammer und Bundestag verabschiedet. 22  Dazu D. Gill, Von den Bürgerkomitees zur Gauck-Behörde, in: Suckut/Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte, 2003, S.  67 ff. 23   S. Schumann, Vernichten oder Offenlegen?, 1995, S.  23 ff. 24   Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (StUG) vom 20.12.1991 (BGBl. I S.  2272). 25   1. Tätigkeitsbericht des BStU, BT-Drs. 12/5100, S.  6 : Mehrere hundert Mitarbeiter waren allein für die Bewachung der Liegenschaften eingestellt, was den prekären und fragilen Charakter der Behörde und ihrer Tätigkeit in der Transformationsperiode dokumentiert. 26   Die damit verbundenen, nicht zuletzt juristisch in der Wahrung von Persönlichkeitsrechten Betroffener begründeten Schwierigkeiten der Aktenrecherche, -erstellung und -auf bereitung (etwa: Anonymisierung) können hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden, vgl. dazu etwa 1. Tätigkeitsbericht des BStU, BT-Drs. 12/5100, S.  23 ff. sowie die weiteren Tätigkeitsberichte seither. 20 21

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In der Entstehung des BStU sind verschiedene personelle Kontinuitäten auszumachen. Joachim Gauck, der in der Wende-Zeit verschiedentlich für eine Öffnung der MfS-Akten zu Auf klärungszwecken geworben hatte,27 war von der Volkskammer zum Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS/ Af NS gewählt, sodann von der Bundesregierung zum Sonderbeauftragten ernannt und schließlich vom Bundestag nach Maßgabe des StUG zum Bundesbeauftragten gewählt worden. Ausschuss-Sekretär in der Volkskammer wurde David Gill, der später der erste Pressesprecher des BStU wurde.28 Zuvor war Gill maßgeblich an der Besetzung der MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg beteiligt und hatte mit dem dortigen Bürgerkomitee an der geordneten Übergabe der Liegenschaften und der in ihnen gesammelten Akten mitgewirkt. Neben Gauck und Gill wechselten Mitglieder aus den ehemaligen Bürgerkomitees und dem Volkskammer-Sonderausschuss mit in die neue Behörde.29 Unbestritten größte Bedeutung für die Errichtung und Etablierung der Behörde hatte aber vor allem Hansjörg Geiger, 1990 Referatsleiter beim Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz, den Gauck auf Vorschlag des Berliner Datenschutzbeauftragten Garstka zu seinem Stellvertreter machte. Bis dahin ein ‚unbeschriebenes Blatt‘30, war Geiger für die juristische Positionierung des BStU entscheidend, gerade auch gegen die Begehrlichkeiten der westdeutschen Sicherheitsbehörden. Mit Gauck verband ihn ein enges System der Arbeitsteilung: „er mit seiner Ausstrahlung, seiner Botschaft, ich als spezialisierter Jurist, der darin geschult war, andere mit juristischen Argumenten zu überzeugen“31.

C.  Das Amt zwischen Politik und Rechtsbindung I.  Kongruenzen von institutionellem und individuellem Amt Jedem an Recht und Verwaltung Geschulten ist ein dem Amtsbegriff innewohnender Dualismus geläufig; ‚Amt‘ bezeichnet einerseits die Organisationseinheit einer staatlichen Behörde, ‚das Amt‘ als Synonym für eine konkrete Institution.32 Andererseits bezeichnet der Begriff die von einer natürlichen Person innegehabte Position einschließlich ihrer Einordnung in den staatlichen Funktionsauf bau und die mit der

27   S. etwa J. Gauck, Die Stasi-Akten 1991; ders., Die Zeit, Nr.  16, 13.4.1990, S.  7 („Erst erinnern, dann vergeben“). 28   David Gill ist heute Leiter des Bundespräsidialamtes. 29   Gill (Fn.  22), S.  80. 30   1995 wurde Geiger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, 1996 des Bundesnachrichtendienstes sowie 1998 Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz; Geiger ist Herausgeber und Autor des bis heute umfassendsten Kommentars zum StUG. 31   Zit. nach Gauck (Fn.  20), S.  262; die Arbeitsteilungsthese auch bei Legner (Fn.  7 ), S.  190; dieses Motiv kehrt wieder bei Eichel (Fn.  9 ), S.  331 f., dort bezogen auf Joachim Gauck und Angela Merkel. 32   S. in diesem Sinne zum Ämterwesen etwa K. Kroeschell, Art. Amt, in: Stammler/Erler/Kaufmann (Hrsg), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1971, Sp.  153; am Beispiel der EKD H. Brunotte, Art. Amt (evangelisch-lutherisch), in: Kunst/ders. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966, Sp.  35.

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Position verbundenen konkreten Aufgaben. Diese individuelle Seite des Amtsbegriffs wird beamtenrechtlich als abstrakt-funktional beschrieben.33 Das durch das Begriffspaar Amt und Person bezeichnete Spannungsverhältnis bezieht sich vorrangig auf den individuellen Amtsbegriff. Der rechts-, insbesondere grundrechtsgebundene Amtsträger wird als bloßer Normexekutor ohne eigenes Interesse entworfen. Die Person des Amtsträgers wird also durch zwei Filter neutralisiert: die Bindung an objektives Recht und das Unparteilichkeitsgebot. Amtsträger und Person werden so durch einen Schleier des voneinander-nicht-Wissens geschieden. Das ist eine Perspektive auf Amtstätigkeit, die erstens den subalternen Sachbearbeiter vor Augen hat und die zweitens dezidiert unpolitisch ist. Ihre Grenzen liegen damit auf der Hand. Je größer nämlich die Bedeutung des individuellen Amtes innerhalb einer Behörde ist, und das heißt typischerweise: je höher es in der Hierarchie angesiedelt ist, desto stärker rückt der institutionelle Amtsbegriff in den Blick, weil sich in den individuell wahrzunehmenden Aufgaben die institutionellen Aufgaben des Amtes abbilden. Aufgaben einer Behördenleitung – zumal des BStU – sind aber ihrer Natur nach regelmäßig viel stärker politisiert als Aufgaben auf der Arbeitsebene der Behörde. Deswegen kann eine Betrachtung von Amt und Person eines Behördenleiters die jeweils zu leitende Behörde, ihre Aufgaben und Strukturen, ihre Abläufe und ihre Entscheidungsergebnisse nicht außer Acht lassen. Individueller und institutioneller Amtsbegriff stehen also in der Person des Behördenleiters in einem Wechselwirkungsverhältnis, mehr noch: sie sind teilkongruent. Dieser Befund ist auch aus personalisierungstheoretischer Perspektive zu bestätigen: Danach findet eine „Subjekt-Personalisierung“34, also die Personalisierung der für eine Organisation (oder auch: für eine Idee) sprechenden Person, regelmäßig erst dort statt, wo die Person (dauerhaft oder für bestimmte Zeit) durch stratifikatorische Merkmale von anderen Sprechern unterschieden ist. Dies ist bei Behördenleitern erkennbar der Fall. Vom Bundestag auf Zeit gewählt, ihm verantwortlich und trotz Rechtsaufsicht des Bundesinnenministeriums mit einem jedenfalls praktisch unbeschränkten Vertretungsanspruch ausgestattet, spricht der BStU als Behördenleiter in einer exklusiven Position, die Subjekt-Personalisierungen ohne Weiteres wahrscheinlich macht (dazu auch unter D.). Dass Personen mit diesen Eigenschaften zugleich Gegenstand einer Objekt-Personalisierung werden, indem etwa in Medienkommunikation über sie in bestimmter Weise gesprochen wird, ist dabei keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil wird eine Personalisierung umso wirkmächtiger ausfallen, je mehr Subjekt-Personalisierung und Objekt-Personalisierung einander ergänzen.

Dieses Verhältnis der Wechselbezüglichkeit von individuellem und institutionellem Amt ist mutmaßlich umso enger, je weniger es sich um eine gefestigte Behörden­ struktur handelt, die sich an bestehenden Vorbildern orientieren kann. Dies war bei der Gründung des BStU und gesetzgeberisch beim Erlass des StUG offensichtlich der Fall. Je mehr aber die Tätigkeit des individuellen Amtsträgers mit der des institutionellen Amtes in Kongruenz gerät, desto wichtiger werden für den Amtsträger die Zweck- und Funktionsbestimmungen des institutionellen Amtes. Dabei geht die Tätigkeit des individuellen Amtsträgers natürlich nicht vollständig im Vollzug abstrakter behördlicher Zwecksetzungen auf. Diese programmieren sein Handeln zwar, sie de  U. Battis, BBG, 4.  Aufl. 2009, §  10 Rn.  10.   Eisenegger (Fn.  4 ), S.  15.

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terminieren es aber nicht völlig. Vielmehr bleiben Räume notwendiger politischer Konkretisierung und Formung des behördlichen Handelns der Behörde insgesamt. Das führt zum nächsten Punkt.

II.  Organisationspraxis und Organisationszwecke Der Rechtsakt der Behördengründung, zunächst also die Einsetzung Joachim Gaucks als Sonderbeauftragter, formal dann der Erlass des StUG 1991, konstituierte das insti­ tutionelle Amt des BStU. Wie bei jeder Organisation muss sich auch bei einer staatlichen Behörde eine bestimmte Art der Geschäfts- und Amtsführung erst heraus­ bilden. Ihre eigentliche Verfassung, die Wirklichkeit ihrer Tätigkeit, ergibt und wandelt sich im Laufe der Zeit. Die soziologische Organisationsforschung thematisiert diese Fragen unter verschiedenen Stichworten, etwa der organisationalen Informalität und der Organisationskultur35 bzw. der Bedeutung ideeller und symbolischer Sinngebung („meanings“)36. Dabei ist der Organisationsstil zugleich geprägt durch den Organisationstypus: Der Grad der institutionellen Verfestigung, zu dem auch die rechtliche Durchformung der Organisation zählt, spielt dabei ebenso eine Rolle wie Größe, Funktion und habituelle Muster der Organisationsmitglieder. So wird eine Werbeagentur einen anderen Organisationsstil haben als ein Verwaltungsgericht oder eine Verwaltungsbehörde. Eine Rolle bei der Ausprägung organisatorischer Spezifika kann dabei das Recht spielen. Namentlich staatliche Institutionen erfahren durch rechtliche Programmierung spezifische Zwecksetzungen, die ihr Handeln in formaler und informaler Hinsicht prägen.37 Der BStU bezieht seine behördliche Zwecksetzung38 juristisch und symbolisch aus dem StUG, das in §  1 Abs.  1 programmatisch formuliert: „Dieses Gesetz regelt die Erfassung, Erschließung, Verwaltung und Verwendung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit und seiner Vorläufer- und Nachfolgeorganisationen (Staatssicherheitsdienst) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, um 1. dem Einzelnen Zugang zu den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen zu ermöglichen, damit er die Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf sein persönliches Schicksal auf klären kann, 2. den Einzelnen davor zu schützen, dass er durch den Umgang mit den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird, 3. die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern, 4. öffentlichen und nicht öffentlichen Stellen die erforderlichen Informationen für die in diesem Gesetz genannten Zwecke zur Verfügung zu stellen“.

35   V. Tacke, Organisationssoziologie, in: Kneer/Schroer (Hrsg.), Handbuch Spezielle Soziologien, 2010, S.  352 f. 36   T. B. Zilber, The work of meanings in institutional processes and thinking, in: Greenwood/Oliver u.a. (Hrsg.), Organizational Institutionalism, 2008/2013, S.  151 ff. 37  Grundlegend N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 6.  Aufl. 1999. 38   Nachfolgend werden die Begriffe Zweck und Ziel synonym verwendet.

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Der BStU steht damit vor der grundlegenden Herausforderung, durch das StUG auf Zwecke und Ziele verpflichtet zu sein, die einerseits als ‚praktisch-tatsächlich‘ beschrieben werden können (überwiegend Nr.  1, 2 und 4), andererseits aber auch ‚qualitativ-sozialer‘ Art sind (vor allem Nr.  3): Letztere bilden sich in komplexen sozio-historischen Prozessen der Aufarbeitung ab, zu denen die Behörde beitragen kann, die sie aber natürlich nicht allein steuert. Nimmt man den §  1 Abs.  1 StUG organisationstheoretisch in den Blick, zeigt sich eine Kombination von organisatorischer Konditionalprogrammierung und Zweckprogrammierung der Behörde als informationsverarbeitendem System, hinter denen jeweils verschiedene Systemfunktionen sichtbar werden.39 Während die Konditionalprogramme die Behörde für entscheidungsauslösende Ursachen (also etwa: Akteneinsichtsanträge) öffnen, regelt das Zweckprogramm die Wirkung des Systems,40 hier also seine Rolle im Prozess der Aufarbeitung. Der BStU hat bei der Erreichung der Zwecke aus §  1 Abs.  1 Nr.  1, 2 und 4 StUG koordinierende, verwaltende und, durch die Notwendigkeit mühseligster Aktenauf bereitung vor Einsichtnahme, ermöglichende Funktionen. Doch selbst in §  1 Abs.  1 Nr.  1 StUG klingt mit der Referenzierung des ‚persönlichen Schicksals‘ ein für verwaltungsrechtliche Normen untypischer normativer Überschuss an, der sich in seiner biographisch-individuellen Disposition nicht ohne weiteres in tradierten rechtlichen Aufgabenzuweisungsmodi fassen lässt. Dass mehr noch §  1 Abs.  1 Nr.  3 StUG einen für den Typus einer staatlichen Verwaltungsbehörde hochgradig untypischen Zweck normiert, liegt dabei auf der Hand. Praktisch deutlich wird dies schon daran, dass die einschlägigen Kommentare und Monographien zum StUG zur rechtlichen Aufschlüsselung des Aufarbeitungskonzepts letztlich nichts beizutragen haben. Das ist kein Zufall: Auf klärung ist ein politisch-gesellschaftlicher Vorgang, der auch mit rechtlichen Mitteln bestritten wird, der aber seinerseits nicht rechtlich ist. Gleichwohl macht das StUG die Aufarbeitung zum Ziel der behördlichen Tätigkeit und setzt damit einen Rahmen, den die Leitung und die Mitarbeiter der Behörde auszufüllen haben. Rechtsstaatlich belastbare Parameter organisationaler Zweckerreichung sind typischerweise quantitativer Natur. Dazu zählen beim BStU die Zahl der gestellten Anträge auf Akteneinsicht als Rechtfertigung der Behördenexistenz, die Zahl der bearbeiteten Anträge als Nachweis der Behördeneffizienz sowie weitere quantitative Größen wie etwa der Erschließungsgrad der Akten, die Menge an rekonstruierten Akten usf. Parameter zur Beurteilung, inwiefern das anspruchsvollere qualitativ-soziale Ziel der Aufarbeitung erreicht worden ist, bestehen indes kaum.41 Es ist daher naheliegend, dass Organisationen, sofern sie auf Ziele solcher Art verpflichtet sind, sich Wege suchen, deren Erreichung zu gewährleisten und zum Ausdruck zu bringen: Die Behörde als politischer Akteur entsteht. Dabei spielt eine Rolle, dass die Praxis der Organisation nicht allein durch die (rechtlichen) Zwecksetzungen bedingt, sondern hochgradig situativ bestimmt ist. Der kontingenztheoretische Ansatz der Organisationsforschung nimmt diesen Zusammenhang in den Blick, indem er Struktur-Situations-Beziehun  Unterscheidung bei Luhmann (Fn.  37), S.  101 ff.   Luhmann (Fn.  37), S.  101 ff., dort auch zur notwendigen Unschärfe dieser Differenzierung. 41   Zur Problematik von Zielsystem und Erfolgskontrolle P. Preisendörfer, Organisationssoziologie, 2.  Aufl. 2008, S.  63 f. 39

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gen von Organisationen untersucht.42 Danach wirken Aspekte der internen Organisationssituation und solche der externen Organisationssituation auf die Struktur der Organisation selbst ein, wobei die externe Situation ihrerseits Aspekte der aufgabenspezifischen Umwelt und der globalen Umwelt der Organisation in sich vereint.43 Dabei wird man auch hier davon ausgehen dürfen, dass die Abhängigkeit von situativen Faktoren umso höher ist, je weniger die Organisation an sich bereits gefestigt ist. Für die Wirklichkeit des BStU in den Auf baujahren nach der Wiedervereinigung sind beide Aspekte wichtig. Gauck-Biograph Johann Legner resümiert: „Das Geiger-Gauck-Team hat in den ersten Monaten jedenfalls etwas ganz Ungewöhnliches geleistet. Es hat eine Behörde aufgebaut, die von außen wohlgeordnet schien, obwohl im Innern zuweilen Chaos herrscht“44.

Hansjörg Geiger selbst bilanziert: „Es gab viel guten Willen in den ersten Wochen, aber keinerlei Struktur“.45

In der Auf bauphase der Behörde, einem „Auf bau ohne Bauplan“46, stand man vor der historisch beispiellosen Herausforderung, überhaupt arbeitsfähig zu werden, die immensen und verstreuten Aktenbestände zu sichern, Aufarbeitungsauftrag und Aufarbeitungsstrategie des BStU zu konkretisieren und zu entwickeln und die Behörde im aufarbeitungspolitischen Diskurs zu positionieren, auch und gerade gegen innerbehördliche Widerstände. Dabei begleitete besonders die erste Amtszeit Joachim Gaucks rege Kritik von Vertretern der Bürgerrechtsbewegung, die bereits im StUG zu weitgehende Zugeständnisse an die Interessen der westdeutschen Nachrichtendienste und zu wenig Autonomie der MfS-Opfer über ihre eigenen Unterlagen beklagten: „Meine Akte gehört mir“. Dort, wo Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung selbst Mitarbeiter der Behörde wurden, kam es gerade in der Anfangszeit zu Konflikten, in denen sich Gauck als neuer Behördenchef zum Teil auch gegen Forderungen der Bürgerrechtsbewegung stellen musste, bis hin zu Entlassungen einzelner Mitarbeiter.47 Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist aber das Verhältnis des BStU zur eigenen Organisationsumwelt in aufgabenspezifischer Hinsicht. Wie bereits angedeutet, waren weder die Errichtung der Behörde noch ihr genaues Aufgabenprofil politisch gesetzt,48 die Öffnung und Verwendung der Akten eine von der Bürgerrechtsbewegung erzwungene Folge der friedlichen Revolution. Die prekäre Situation der Behörde – etwa in ihrem Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten der ‚alten‘ Bundesrepublik und befreundeter Staaten49 – bestimmte lange Zeit ihre politische Wirklichkeit.50 Der Konflikt um die MfS-Akten Helmut Kohls   Preisendörfer (Fn.  41), S.  79 ff.   A. Kieser, Der situative Ansatz, in: ders. (Hrsg.), Organisationstheorien, 7.  Aufl. 2014, S.  175 ff. 44   Legner (Fn.  7 ), S.  194. 45   Zit. nach Gauck (Fn.  20), S.  258. 46   Gauck (Fn.  20), S.  249. 47   Gauck (Fn.  20), S.  267 f.; Einordnung bei Becker (Fn.  15), S.  311. 48   Becker (Fn.  15), S.  308. 49   Zur Weiterleitung von Akten vom BStU an die NSA jüngst die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke in BT-Drs. 15/4024. 50   Zu den Angriffen auf die Behörde und die Versuche der Einflussnahme in der Zeit nach Verabschiedung des StUG Becker (Fn.  15), S.  322 f. 42 43

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etwa zog sich bis weit in die Amtszeit Marianne Birthlers als BStU. Im Interim zwischen dem 3.10.1990 und dem Inkrafttreten des StUG am 29.12.1991 waren die Behörde und ihr Leiter auch politisch keineswegs auf sicherem Territorium. Zwar hielt sich die Bundesregierung mit Interventionen gegen Gauck und die Behörde letztlich zurück, dies allerdings nicht aus Überzeugung in der Sache, sondern aus politstrategischer Rücksichtnahme auf den explizit erklärten Willen der Volkskammer, die eine zentrale Aufarbeitungsinstitution gefordert hatte (dazu auch unter D.).51 Daher kam der Ausarbeitung des StUG große Bedeutung zu, weil mit ihm dauerhaft das Profil des BStU geprägt wurde. Nicht zufällig haben sich Joachim Gauck und Hansjörg Geiger intensiv in den Gesetzgebungsprozess eingebracht, an dessen Ende „ein außerordentlicher Erfolg für das Team Gauck-Geiger“52 stand. Die Leitung des BStU war in der Interimszeit bis Ende 1991, aber auch noch weit darüber hinaus, also eine hochgradig politische Aufgabe. Die Rationalitäten des täglichen Handelns waren – angefangen bei der Ausarbeitung einer vorübergehenden Benutzungsordnung und endend bei der Positionierung der Behörde im lebhaften Wende-, Aufarbeitungsund Erinnerungsdiskurs dieser Jahre – kaum von bürokratisch-exekutivem Rechtsvollzug, sondern von Strategie, Politik und institutionellem Marketing beherrscht. In dieser Zeit waren die Innenwelt des BStU und seine aufgabenspezifische Außenwelt über die Kontroverse um Art und Reichweite der Auf klärung eng miteinander verbunden. So erklären sich auch die Schwierigkeiten und Konflikte der Personalrekrutierung, die teils notwendig, teils zufällig, Stasi- und SED-Altkader in neue Positionen brachte.53 Erneut ins Bewusstsein gedrungen ist die Frage mit größerem historischen Abstand durch die Bemühungen Roland Jahns als drittem BStU, die dort noch beschäftigten ehemaligen MfS-Mitarbeiter in andere Bundesbehörden versetzen zu lassen; eigens dafür wurde mit §  37a StUG eine neue Rechtsgrundlage im StUG geschaffen. So wenig der Aufarbeitungsauftrag aus §  1 Abs.  1 Nr.  3 StUG also auch rechtlich greif bar ist, so bedeutsam ist er für das Verständnis des Verhältnisses von Amt, Institution und Person in der Zeit, in der Joachim Gauck Leiter des BStU war. Denn die Profilierung des politischen Aufarbeitungsauftrages der Behörde, ihre Instituierung als eine der zentralen Aufarbeitungsinstanzen des DDR-Unrechts, gehört zu den wesentlichsten Leistungen Gaucks in dieser Zeit. Wie lässt sich dieser Erfolg erklären? Vieles ist sicher auf die hochspezifische historische Situation zurückzuführen, in der Gauck agierte. Die friedliche Revolution, Wende und Wiedervereinigung bestimmten die politische Landschaft in den achtzehn Monaten zwischen der DDR-Kommunalwahl im Mai 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990; Aufarbeitung und Auf klärung bestimmten die Folgezeit. Eine solche Periode weitreichender und tiefgreifender Transformation macht Unwahrscheinliches wahrscheinlicher und schafft Freiräume, in denen unkonventionelle Formen und Instrumente der Politik geschaffen werden.54 Dabei hat Joachim Gauck in seiner Rolle als BStU die Ausübung von politischer Macht früh negiert: „Das [G]anze als eine Machtausübung zu sehen   Legner (Fn.  7 ), S.  191 f.   Legner (Fn.  7 ), S.  192. 53   Gauck (Fn.  20), S.  266 mit einem Selbstzitat (gegenüber einem einstellenden Personalreferenten): „Wie viele SED-Mitglieder haben Sie mir denn heute wieder reingedrückt?“. 54   K. Kraemer, Berl. Journ. f. Soz. 12 (2002), Nr.  2 , S.  174. 51

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ist mir wirklich fremd“55. Doch ist kaum zweifelhaft, dass es sich bei der Leitung des BStU um ein machtvolles politisches Amt handelt, auch wenn die Logiken seiner Machtausübung unkonventionell sind. Denn selbstverständlich ist das Verwalten, das Bearbeiten, das Bereitstellen, das Beforschen und Bewerten des aktenförmigen Erbes eines Geheimdienstes einer Diktatur eine Form der Machtausübung, in jedem einzelnen Fall, aber auch institutionell. Daran ändert die gesetzliche Anleitung der Behördentätigkeit durch das StUG nichts. Allein die Monopolisierung der Akten bei der Behörde begründet einen politischen Gestaltungsraum, in dem Macht und Machtanspruch des MfS, wenn auch rechtsstaatlich modifiziert, fortwirken. Die macht- und herrschaftstheoretische Rahmung weist nun den Weg zu Ansätzen, die das Verhältnis von Amt und Person Joachim Gaucks als Leiter des BStU zu deuten helfen. Darum soll es in den folgenden Überlegungen gehen. Ihnen liegt die These zugrunde, dass sich Arbeit (und Erfolg) Joachim Gaucks erstens mit herrschaftsund habitustheoretischen Modellen Max Webers und Pierre Bourdieus verstehen lassen und sich zweitens in Annahmen kommunikationswissenschaftlicher Personalisierungsforschung fügen. Für das Verständnis dieses Zusammenhangs ist indes zuvor in den Blick zu nehmen, auf welchen ideengeschichtlichen Grundlagen das Aufarbeitungsprojekt ruht, dessen Vertreter Joachim Gauck als Leiter des BStU gewesen ist. Dabei wird sich zeigen, dass sich Botschaft und Botschafter in einer historisch seltenen Weise entsprochen und wechselseitig bestärkt haben. Im Einzelnen:

D.  Herrschaft und Habitus I.  Aufarbeitung im Geiste der Aufklärung Die Arbeit des BStU steht im Zeichen der Auf klärung. Wenn das StUG und der historische Diskurs auch eher von Aufarbeitung sprechen, so geschieht diese doch in auf klärerischer Absicht. Dabei ist dem dominierenden Aufarbeitungsbegriff etymologisch das Element eines mehr oder minder mühevollen Arbeitseinsatzes, einer gewissen Anstrengung zu eigen, mal mit dem Ziel, sich einer Last oder einer Aufgabe zu entledigen, mal mit dem Ziel, die Verbesserung einer Sache, einer Person oder eines Zustandes zu bewirken.56 Im soziopolitischen Verwendungszusammenhang kombiniert der Begriff der Aufarbeitung verschiedene dieser Elemente und bezeichnet die prozesshafte Be- und Verarbeitung historischer Erfahrungen, unter anderem mit dem Ziel, sich diese durch Verarbeitung anzueignen; 57 Aufarbeitung ist Katharsis. Das klingt bei Karl Jaspers an, der formuliert: „Reinigung ist vielmehr ein innerlicher Vorgang, der nie erledigt, sondern anhaltendes Selbstwerden ist“58, und weiter:   J. Gauck, in: Gaus (Fn.  12), S.  195.   J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bd., Leipzig 1854–1961, Online-Version vom 17.10.2015, Bd. 1, Sp.  617. 57   Zum Aneignungsgedanken als Kern der Aufarbeitung s. T.W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10/II, 2003, S.  555. 58   K. Jaspers, Die Schuldfrage (1946), 1974, S.  9 0. 55

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„Was die Schuld angeht, so ist ein Weg das Durchdenken der vorgetragenen Gedanken [zur Kollektivschuld, Anm. JK] (…) sie müssen vergegenwärtigt, angeeignet und verworfen werden mit dem eigenen Wesen. Dieser Vollzug und was daraus folgt, ist Reinigung“59.

Erst die aktive, nutzende Verarbeitung macht es also möglich, die historischen Erfahrungen mit dem Ziel einer verbesserten gesellschaftlich-politischen Ordnung hinter sich zu lassen. Entsprechend formuliert Theodor Adorno: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen“60.

Das hier deutlich werdende Verständnis von Aufarbeitung ruht auf ideengeschichtlichen Grundlagen der Auf klärung, die, ungeachtet aller historischen Vagheit des Begriffes,61 eine „Emanzipation des Menschen aus der Welt des geschichtlichen Herkommens, d.h. seine Befreiung von allen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Bindungen, Institutionen und Konven­ tionen“ zum Ziel hat, „die der kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft nicht standzuhalten vermögen. […] die Auf klärung [strebt] die Erziehung des Menschen zu einem selbstbewußten Vernunftwesen und zu einer selbständigen sittlichen Lebensweise an“62.

In einer Formulierung Tobias Cohns geht es der Auf klärung darum, „die Unmündigkeit zu beseitigen, den Autoritätsglauben zu brechen und dafür den eigenen Geiste, dem Geist der Zeit die Zunge zu lösen“63.

Stets schwingt im Auf klärungsbegriff also ein pädagogisches Element mit, und zwar nicht allein in individueller – Auf bruch des Individuums aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – sondern auch in kollektiver Hinsicht.64 Wie eng der Zusammenhang zwischen historischer Aufarbeitung staatlichen Systemunrechts und der Idee der Auf klärung ist, liegt auf der Hand: Unverkennbar ist die Rückgewinnung persönlicher Autonomie über das eigene Lebensschicksal, das Wissen um seine mögliche (Ver-)Formung durch den staatlichen Machtapparat ein auf klärerisches Anliegen, in individueller und – im Hinblick auf die psychologischen Langzeitfolgen des MfS-Terrors65 – auch in gesellschaftlicher Hinsicht.66 Das Indivi  Jaspers (Fn.  58), S.  91.   Adorno (Fn.  57), S.  572. 61   H. Stuke, Art. Auf klärung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S.  243 (245 ff.). 62   Stuke (Fn.  61), S.  245. 63   T. Cohn, Die Auf klärungs-Periode, 1873, S.  4. 64   L. v. Westenrieder, Auf klärung in Bayern (1780), 1832, S.  1 f. 65   M. Birthler, Freiheit ist Einsicht in die Akten, in: Suckut/Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte, 2003, S.  34: „Die Operationen des MfS haben Schäden bewirkt, die verschiedentlich bis heute nachwirken“; aus der psychologischen Literatur s. etwa Trobisch-Lütge/Bomberg (Hrsg.), Verborgene Wunden, 2015 zu „Spätfolgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre[r] transgenerationale[n] Weitergabe“; Ahrens (Hrsg.), Verführung, Kontrolle, Verrat, 2015, zum Thema „MfS und die Familie“; R. Hoffmann, Stasi-Kinder, 2013, zu Spätfolgen bei Kindern MfS-Angehöriger; C. Seidler/M. Froese, Traumatisierungen in (Ost-) Deutschland, 2006; T. Plänkers/U. Bahrke/ M. Baltzer u.a., Seele und totalitärer Staat, 2005 zum „psychischen Erbe der DDR“. 66   Birthler (Fn.  65), S.  4 4: „Der Satz [Freiheit für meine Akte] blieb im Gedächtnis und stand als 59

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duum wird aus seiner Unmündigkeit entlassen, gewinnt Verfügungsbefugnisse über seine Lebensdaten zurück und wird gegenüber der vergangenen institutionellen Ordnung der DDR ins Recht gesetzt.67 Joachim Gauck spricht über die Arbeit des BStU daher entsprechend vom „Experiment der Selbstfindung“68, der Bürgerrechtler Gerd Poppe von der „Rückgewinnung verloren geglaubter Jahre“69. Es ist daher kein Zufall, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht den materiellen juristischen Kern der StUG-Debatten bildet, vorrangig jenes der vom MfS-Terror als Opfer Betroffenen.70 Die ideengeschichtliche Grundierung des Aufarbeitungsdiskurses in der Auf klärung findet daher in den dogmatischen Feinstrukturen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen starken Resonanzraum: Die Sicherung personaler Autonomie und personaler Integritätsschutz stehen im Mittelpunkt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.71 Wo aber dem Einzelnen die autonome Selbstdarstellung, die Möglichkeit „plastes et fictor“ (Pico della Mirandola) zu sein, durch Bespitzelung und Überwachung dauerhaft beschränkt oder unmöglich gemacht wird, muss Selbstentfaltung fehlgehen.72 Es geht der Auf klärung des MfS-Terrors daher um „Wahrheit an [der] Stelle von Lügen und Legenden“73 oder, in den Worten Ludwig Wielands, um „so viel Erkenntnis, als nötig ist, um das Wahre und das Falsche immer und überall unterscheiden zu können“74. Dass das MfS-Unrecht einen besonders geeigneten Bezugspunkt für im eigentlichen Sinne auf klärerisch motivierte Aufarbeitung bildet, ergibt sich auch aus einer weiteren Überlegung. Denn stets war die Stoßrichtung des Auf klärungsdenkens eine religionskritische, allgemeiner formuliert ging es um die Entbindung des Menschen aus überpositiven Zwängen und Strukturen.75 In diesem Punkt treffen sich der moderne Aufarbeitungsanspruch und der Aufarbeitungsgegenstand des MfS-Unrechts, nimmt man ihn aus der Perspektive der vorrationalen Geltungsbedingungen totalitärer Herrschaft in den Blick:76 Der typische Rekurs totalitärer Regime auf Praktiken politischer Allmachtsausübung grundiert ihr Handeln nämlich in mythologisch-mystologischer Weise. Man mag die Herrschaft der SED und den Terror des MfS als typisch bürokratisch und damit als diesseitig verstehen. Indes ist damit, was das MfS betrifft, nur die Innenperspektive seines organisatorischen Modus beschrieben. Nach Metapher dafür, dass die Einsicht in die Akten befreiende Wirkung haben kann. Das gilt für Individuen ebenso wie für die Gesellschaft insgesamt“. 67   Birthler (Fn.  65), S.  27 spricht davon, den „Opfern der Diktatur Genugtuung zu verschaffen“. 68   H.-J. Noack, Vergeben ist ganz einfach, Spiegel 1/1991, S.  24 f. 69   G. Poppe, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 12/57, S.  4699, dort zum StUG: „Nicht die vielbeschworenen Rachegelüste werden letztendlich die Folge der Lektüre sein, sondern die Wiederaufnahme des Gesprächs, die Neuentdeckung verloren geglaubter Jahre“. 70   Zu den Rechtsfragen des Persönlichkeitsrechtsschutzes K. Bonitz, Persönlichkeitsrechtsschutz im Stasi-Unterlagen-Gesetz, 2009; Drohla (Fn.  16). 71   H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3.  Aufl. 2013, Art.  2 Abs.  1 Rn.  69. 72  Zu Selbstentfaltung und Selbstdarstellung als Gegenständen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Dreier (Fn.  71), Rn.  70. 73   Birthler (Fn.  65), S.  29. 74   L. Wieland, Sechs Antworten auf sechs Fragen (1798), 1857, S.  372. 75   K. Scholder, Art. Auf klärung, in: Kunst/Grundmann (Hrsg.), EvStL, 1966, Sp.  82: „Kampf gegen alle ‚Vorurteile‘ als Ausdruck eines dogmatisch gebundenen, supranatural bestimmten Weltbildes“. 76   T. Petersen, Allmacht und totale Herrschaft, in: Bonheim/Regehly (Hrsg.), Mystik und Totalitarismus, 2003, S.  51 ff.

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außen hin ist diese aber nicht – und im Weberschen Sinne schon gar nicht legitimierend – wirksam geworden, im Gegenteil: Die Erfahrung der Menschen mit dem MfS, mit der Diktatur der SED insgesamt, wie sie in zahllosen Zeitzeugenberichten beschrieben ist, war die eines Ausgeliefertseins, der Willkür und der Hilflosigkeit.77 In den Worten Ulrike Poppes: „Ein Bürger kann seine Rechte gegenüber dem Staat einklagen. In der DDR war die Verwaltung gegenüber dem Bürger nicht begründungspflichtig. Alles wurde willkürlich entschieden, von der Staatsgewalt, der Betriebsleitung, der Parteileitung. Ob man eine bessere Wohnung kriegte, ein Telefon, ein Auto, einen bestimmten Beruf erlernen oder studieren durfte, der Einzelne war einer intransparenten Entscheidungsmacht ausgeliefert. Vieles hing vom Wohlverhalten ab. Das ist ein starkes Disziplinierungsinstrument. Man war dauernd zum politischen Bekenntnis aufgefordert und wusste nicht, welche Nachteile es hatte, wenn man sich verweigerte“78.

Neben solche offen erfahrene Willkür trat für viele DDR-Bürger die Wirklichkeit einer intensiven persönlichen Überwachung durch das MfS, die Überwachung von Postverkehr und Telekommunikation und die durch inoffizielle Mitarbeiter, deren Zuträgerdienste für die Überwachungs- und Zersetzungsstrategien des MfS von großer Bedeutung waren.79 Dabei ist die in den letzten Jahren intensiv diskutierte Frage, wie groß die Zahl der IM des MfS tatsächlich gewesen sei, hier irrelevant.80 Dass das MfS seinen Allmachtsanspruch und seine Omnipräsenz pflegte und zum Teil auch fingierte,81 führte zusammen mit der tatsächlich stattfindenden Überwachung dazu, dass sich das MfS als strukturgebende Größe im Alltag der DDR etablieren konnte,82 deren Parallelen zum Orwellschen „Ministry of Love“ sich aufdrängen.83 Dass dabei die tatsächlichen Einfluss- und Überwachungsmöglichkeiten ­keineswegs immer so weitreichend waren, wie vermutet, kam dem MfS durchaus gelegen. Es hatte sich den Status eines veritablen „sozialpsychologischen Mythos“84 erarbeitet. Im Ganzen betrachtet ergab sich daraus eine Gemengelage, in der das MfS als eine „unheimliche“85 Institution zwischen Abwesenheit und Präsenz, zwischen Arkanum und Publikum erschien, als ein totalitärer deus ex machina, dessen Präsenz   Gieseke (Fn.  18), S.  163 ff.   Interview mit der Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, Alles weg, alles neu, Chrismon 10/2014 (abrufbar unter www.chrismon.de). 79   Einen Überblick zu Rekrutierung und Einsatzfeldern der IM jüngst bei B. Florath, Die inoffiziellen Mitarbeiter, in: Münkel (Hrsg.), Staatssicherheit, 2015, S.  4 0 ff. 80   Gegenüber den Schätzungen von bis zu 190.000 IM kritisch I.-S. Kowalczuk, Stasi konkret, 2013, S.  209 ff. 81   I.-S. Kowalczuk, DDR-Alltag und MfS, in: Münkel (Hrsg.), Staatssicherheit, 2015, S.  69: „Denn es gehörte zu den Absichten des MfS bis zur Auflösung, seine Tätigkeit selbst zu dämonisieren und zu mythisieren. Dahinter stand ein Herrschaftsprinzip, das darauf auf baute, Angst zu erzeugen, einzuschüchtern und Individualität zurückzudrängen“. 82   Gieseke (Fn.  18), S.  163 ff., freilich mit einer differenzierten Betrachtung und Bewertung des MfS als „Big Brother?“. 83   Kowalczuk (Fn.  80), S.  212: „Die in der DDR vermutete Allgegenwart des MfS hing ganz wesentlich mit der Annahme zusammen, dass es mit einem riesigen Heer an Spitzeln arbeitete, die überall herumschnüffelten“. 84   Gieseke (Fn.  18), S.  166. 85   Gauck (Fn.  27), spricht im Untertitel vom „unheimlichen Erbe“ des MfS. 77 78

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und Eingreifen zufällig, willkürlich und potentiell stets möglich war. Jene Potentialität der Bedrohung produzierte eine „Mentalität der Untertänigkeit, insbesondere in jenen (politisch und in der sozialen Schichtung) mittleren Bereichen des DDR-Bevölkerung, die besonders häufig in solchen [MfS-induzierten, Anm. JK] Verstrickungssituationen agierten“86.

Es ist für die Arbeit des BStU unter der Leitung von Joachim Gauck dabei kennzeichnend, dass jene Untertänigkeit gerade auch von ihm selbst „in der Metaphorik einer Erkrankung und einer daraus abgeleiteten Gesunderwartung“

rhetorisiert wurde.87 Damit korrespondierte die Kritik an der Behörde, wenn sie in deren Handeln einen „Waschzwang des Staates“88 diagnostizierte. Die Aufarbeitung des MfS-Terrors ist nach alledem als ein auf klärerisches, sozialpsychologisches Projekt zur Brechung der „Macht des Geheimen und des Herrschaftswissens“89 und damit also als ein Vernunftprojekt zu verstehen. In der Weise, wie sein grundlegender Individualismus gegen die fortwirkende Institution des MfS in Stellung gebracht wird, steht es in der Tradition menschenrechtlicher Entwicklungen, die Hans Joas auf den Begriff der „Sakralisierung der Person“ gebracht hat.90 In seiner Vorbildlosigkeit und seiner Inkommensurabilität 91 ist es zugleich, wie die Behörde zu seiner Realisierung, ein unwahrscheinliches Projekt. Dass es sich gleichwohl hat etablieren können und einstweilen jedenfalls bis 2019 fortgeführt wird, regt die Suche nach seinen Erfolgsbedingungen weiter an. Daher sollen hier im Folgenden, der themensetzenden Leitdifferenz von Amt und Person folgend, in der Person Joachim Gaucks liegende Beiträge in den Blick genommen und theoretisch gerahmt werden. Dabei wird sich zeigen, dass für ein angemessenes Verständnis dieser Zusammenhänge die ideengeschichtliche Grundierung des Aufarbeitungsprojekts in der Auf klärung besondere Bedeutung hat. Dass diese Grundierung praktisch nie ausdrücklich thematisiert wurde, sondern nur in den Elementen der Aufarbeitungsrhetorik mehr oder weniger stark durchschimmert, steht der Verankerungsthese nicht entgegen. Vielmehr zeigt sich darin, dass die Aufarbeitungserzählung auf ­kulturell tief verankerte Wert- und Rationalitätsvorstellungen rekurrieren konnte, die ihre Durchsetzung im politischen Diskurs wahrscheinlicher gemacht hat. Sie hat sich dabei in außergewöhnlicher Weise mit Person und Habitus Joachim Gaucks verbunden. Im Einzelnen:   Gieseke (Fn.  18), S.  168.   Gieseke (Fn.  18), S.  168. 88   D. Dahn, Der Waschzwang des Staates oder wem gehört die Gauck-Behörde?, in: Zimmer (Hrsg.), Das Gauck-Lesebuch, 1998, S.  17 ff. 89   Birthler (Fn.  65), S.  27. 90   H. Joas, Die Sakralität der Person, 2011/2015, S.  23 ff. zur Entstehung der Menschenrechte aus dem „Charisma der Vernunft“. 91   Die archivierten Bestände des BStU sind enorm: „Mit insgesamt 111 Regal-Kilometern Schriftgut, mehr als 1,7 Millionen Fotos und Mikrofiches, über 30.100 Film-, Video- und Tondokumenten, ca. 4.500 Karteien mit rund 41 Millionen Karteikarten und mehr als 10.000 Disketten, Magnetplatten und -bändern handelt es sich um einen der größten Archivbestände in Deutschland. Dazu kommen Unterlagen auf Sicherungs- und Arbeitsfilmen, die als Papier rückkopiert circa 47 Regal-Kilometern entsprächen“ (Näheres unter www.bstu.bund.de). 86 87

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II.  Charismatische Herrschaft und Personalisierung 1.  Aspekte charismatischer Herrschaft bei Max Weber Die dreigeteilte Typologie der Formen legitimer Herrschaft92 gehört zu den Exportschlagern der verstehenden Soziologie Max Webers. Während die Deutung von Herrschaft als traditional vor allem historisch-ethnologisch von Interesse ist und die legale Herrschaft als Erklärungsmodell moderner Staatlichkeit Ausgangspunkt zeitgenössischer Bürokratietheorie ist, funktioniert der Typus der charismatischen Herrschaft nicht nur als Erklärungsansatz für die Totalitarismusforschung, sondern fasziniert auch durch seine affektive und personale Dimension.93 Dabei reicht der Deutungsanspruch des charismatischen Typus auch bei Weber über totalitäre Herrschaftsexzesse hinaus, und zwar aus zwei Gründen: Erstens konzipiert Weber seine Herrschaftsformen als idealtypische Reinformen, leugnet aber zugleich nicht ihre Wirklichkeit als empirische Mischformen.94 Zweitens ebnet Weber mit seiner These von der Veralltäglichung des Charismas den Weg zu seiner Applikation in Strukturen rationaler, bürokratischer oder vereinfachend: moderner Herrschaft.95 Im Kern der Weberschen Charisma-Lehre steht die mit außeralltäglichen Qualitäten ausgestattete Persönlichkeit, die um derentwillen als „begabt, gottgesendet oder als vorbildlich […] gewertet wird“96. Die Charismatisierung der Führungspersönlichkeit ist als normativer Akt nicht objektiv bzw. objektiven Kriterien folgend, sondern Ausdruck einer Zuschreibung, der „Anerkennung“97 als Folge der charismatischen Bewährung der jeweiligen Persönlichkeit. In die Zeit gesetzt stabilisiert sich Charisma also durch Anerkennung aufgrund Bewährung als Führerpersönlichkeit. Dabei zeichnet sich „reines Charisma“ nach Weber dadurch aus, dass es „spezifisch wirtschaftsfremd“98 ist und demgegenüber „einen ‚Beruf ‘ im empathischen Sinne des Wortes: als ‚Sendung‘ oder innere ‚Aufgabe‘“99 begründet. Grund und Gelegenheit charismatischer Bewährung liegen daher in der Wahrnehmung des Amtes, der Verwirklichung der Aufgabe und der Sendung, also im ‚wie‘ und im ‚was‘ der charismatisch begründeten Tätigkeit. Während nach Weber die rein charismatische Herrschaft aber notwendig außeralltäglich ist, durchläuft sie in sozialen Dauerbeziehungen eine Veralltäglichung, in deren Folge sie „traditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert)“100 wird. Neben diese personalisierte Form des Charismas tritt eine historisierte Form, in der sich dieses Charisma „von der Bindung an eine Person [löst], es wird zunehmend   Weber (Fn.  2 ), S.  152 ff.   W. Gebhardt, Grundlinien der Entwicklung des Charismakonzeptes in den Sozialwissenschaften, in: ders./Zingerle/Ebertz (Hrsg.), Charisma, 1993, S.  1. 94   Weber (Fn.  2 ), S.  154 f., der zunächst von „reinen Typen“ spricht und sodann: „Daß keiner der drei […] Idealtypen historisch wirklich rein vorzukommen pflegt, darf natürlich hier sowenig wie sonst die begriffliche Fixierung in möglichst reiner Ausprägung hindern“. 95   Weber (Fn.  2 ), S.  176 ff. 96   Weber (Fn.  2 ), S.  173. 97   Weber (Fn.  2 ), S.  173. 98   Weber (Fn.  2 ), S.  175. 99   Weber (Fn.  2 ), S.  175. 100   Weber (Fn.  2 ), S.  176. 92 93

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unpersönlicher und sachlicher, zu einer Eigenschaft, die sich an Ideen, Programme, Institutionen heftet“, ein „Charisma der Vernunft“ entwickelt sich.101 Darin versöhnt sich die soziologische Rationalisierungsthese mit dem Befund charismatischer Residuen auch in Strukturen moderner Herrschaft. Allgemeiner betrachtet bietet sich hier eine Erklärung für den Bestand und die Stabilität moderner Herrschaftsstrukturen, die vorderhand ohne affektiv-charismatische Elemente auszukommen behaupten. Dabei wird man den Zusammenhang zwischen persönlichem, genuinem Charisma und einem entpersonalisierten, ideengebundenen Charisma kaum als aufgelöst ansehen müssen, vielmehr scheint eine wechselseitige Verstärkung der beiden Charismaformen nicht nur möglich, sondern jedenfalls dort wahrscheinlich, wo Botschaft und Botschafter in besonders kompatibler Weise aufeinandertreffen.

2.  Charisma und Bürokratie Während Weber selbst das Verhältnis von Charisma und (rationaler) Bürokratie idealtypisch eher als ein Verhältnis kommunizierender Röhren verstand – mehr Bürokratie entspricht weniger Charisma und umgekehrt –, gehen neuere Überlegungen von einem osmotischen Verhältnis von Charisma und Bürokratie aus.102 Einher damit geht die Vorstellung einer polyzentrischen Verteilung der Charismaeigenschaften auf „die vielen kleinen Führer mit limitiertem Anspruch“103. Es findet also eine Departementalisierung der Herrschaftstypen statt, die es plausibel macht, dass innerhalb eines sich insgesamt als rational-bürokratisch verstehenden Staats- und Gemeinwesens Bereichsausnahmen intensiverer und weniger intensiverer Charismatisierung bestehen. Damit geht zugleich eine Relativierung der ‚großen soziologischen Rationalisierungsgeschichte‘ einher, weil Herrschaftsverbände nun als System aufeinander bezogener Partikularherrschaftsbereiche verstanden werden können, die von einer „charismatischen Gemeinschaft der ideologischen Virtuosen“104 bespielt wird. Dabei lässt sich die Entstehung charismageneigter Herrschaftsbereiche aus der Kombination verschiedener Bedingungen erklären. Insbesondere müssen Person, Aufgabe und (sozialer, kultureller, politischer) Kontext zueinander passen. Als Aufgabe wurde hier unter D.I. bereits das Vernunftprojekt der Aufarbeitung beschrieben. Dass dieses Projekt ausgerechnet einem evangelischen Pfarrer anvertraut wurde, ist nicht im Sinne einer naiven von…-nach…- Erzählung zu verstehen, die monokausal verknüpft, was doch durch historische Zufälligkeiten und Pfadabhängigkeiten mitbegründet ist. Zu unwahrscheinlich ist es, dass abstrakte kulturelle Hintergrundbedingungen als erheblich in den Vordergrund politischer Entscheidungsfindung und Personalauswahl treten. Indes können sie solche Entscheidungen mitprägen und vor allem Erfolgsbedingung solcher Entscheidungen werden. Insoweit zeigt sich, dass für die Frage des Gelingens charismatischer Herrschaft Amtsverständnis und Amtsführung von Bedeutung werden. Dabei mag in der Per101   S. Breuer, Das Charisma der Vernunft, in: Gebhardt/Zingerle/Ebertz (Hrsg.), Charisma, 1993, S.  159 (160). 102   S. Breuer, Bürokratie und Charisma, 1994, S.  194 ff. 103   Breuer (Fn.  102), S.  195. 104   G. Roth, Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, 1987, S.  142 ff.

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son Joachim Gaucks seinem Herkommen entsprechend ein Amtsverständnis anzutreffen sein, dass vom protestantisch-theologischen Amtsbegriff her seine Prägung erfährt. Traditionell verbindet sich in der protestantischen Theologie der Amtsbegriff stärker als etwa im Katholizismus mit dem des Dienstes.105 Der protestantische (Pfarr-) Amtsträger als primus inter pares seiner Gemeinde ist mit der Verkündigung betraut, die sich nicht mit einem Herrschaftsanspruch verbindet. Amt ist Diakonie, ist Dienst und der Amtsträger ist „Diener am Wort“106. Dazu passt das titelgebende Zitat Joachim Gaucks aus dem Dokumentarfilm Margarethe Steinhausens aus dem Jahr 2002: „Ich predige Demokratie“. Auch ein bei Gauck stets anzutreffendes ‚Pathos der Vernunft‘, mit dem sich spezifische Inhalte (Freiheit, Auf klärung, Autonomie, Verantwortung) mit einem entsprechenden rhetorischen Duktus verbinden, war für die ihm übertragene Aufgabe in spezifischer Weise passend. Gleichwohl mag die Deutung der Arbeit Gaucks als Typus einer charismatischen Herrschaft kontraintuitiv anmuten, da dieser natürlich ein hierarchisches Element eignet,107 protestantisches Amtsverständnis sich aber gerade durch einen anti-hierarchischen Affekt auszeichnet.108 Zieht man zur Erhellung dieses Zusammenhangs textliche Äußerungen zu Rate, die Joachim Gauck im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit getroffen hat, finden sich durchaus Spuren dieser Dichotomie: Das dienende Amtsverständnis – der Amtsträger als Diener der Gemeinde, einer Gruppe oder eines Volkes – lässt die Person des Amtsträgers hinter den geübten Dienst zurück-, den Dienst selbst, die Sache, aber hervortreten. Dabei ist das Amtsverständnis einerseits innere Haltung, gewissermaßen ethischer Maßstab des individuellen Handelns, es kann aber zugleich den Habitus des Amtsträgers selbst bestimmen. Dies erfolgt etwa dadurch, dass einer möglichen Distanz von Amtsträger und Bürger rhetorisch vorgebeugt wird. Ansatzpunkte dazu finden sich bei Joachim Gauck zahlreich: Seine Sprache ist die einer präreflexiven Unmittelbarkeit. Radikale Subjektivität, gern in textlichen Expositionen („Vor mir liegen Photos aus Rostock vom März“109 ) lässt den Autor als Amtsträger fern, seine Person aber nah werden; Distanz wird abgebaut und die Unmittelbarkeit der subjektiven Anschauung verleiht dem Sprecher Glaubwürdigkeit und wertet ihn als Amtsträger dadurch auf. Ebenso operiert das kollektivierende „wir“, das die Distanz zwischen Autor und Leser, zwischen Redner und Zuhörern auf hebt und dessen sich Gauck vielfach bedient. Soweit mag die Rhetorik des Amtes geprägt sein von der Haltung eines Gleichen unter Gleichen, der stellvertretend für seine Gemeinde wahrnimmt und berichtet. Jener Stil verbindet sich dabei gern mit einer dichten, rhetorisch versierten Narration, etwa in Gaucks Bericht über die ersten Einsichtnahmen in die MfS-Akten Anfang 1992: „Berlin, Behrenstr. 14–16, Amtssitz des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats­ sicher­heitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik. 09.00 Uhr am 2. Januar 1992“. 105   M. Beintker, Art. Amt (reformiert), in: Betz/Browning/Janowski/Jüngel (Hrsg.), RGG2, Bd. 1, 1998, Sp.  432. 106   Zitat und Zusammenhang bei Brunotte (Fn.  32), Sp.  36; der Sache nach auch bei H. M. Müller, Art. Amt, in: Betz/Browning/Janowski/Jüngel (Hrsg.), RGG1, Bd. 1, 1998, Sp.  436. 107   Roth (Fn.  104), S.  140. 108   Im Einzelnen ist dies in der protestantischen Theologie gerade im Hinblick auf das Pfarramt umstritten, s. etwa Brunotte (Fn.  32), Sp.  36. 109   Gauck (Fn.  27).

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Wiederum wird höchste Unmittelbarkeit erzeugt durch die Rhetorik eines expositionslosen Anfangs, als Muster geläufig aus vielen Kurzgeschichten. Fast entgeht dem Leser, dass Gauck hier über die Räumlichkeiten seiner Behörde, über seinen Amtssitz spricht. Wo das Reden von „meinem Amtssitz“ merkwürdig unpassend, selbstüberhöhend schiene, entgeht die rhetorische Distanzierung dieser Gefahr und bewirkt gerade dadurch die charismatisierende Überhöhung, die sie an der rhetorischen Oberfläche vermeidet. Auch in mündlicher Rede – etwa in einem langen Fernseh-Interview Gaucks im Jahr 1993110 – ist die Distanzierung vom institutionellen Amt durch das Sprechen über „den Bundesbeauftragten“ zu verzeichnen. So wird Autorität geschaffen durch Distanz und Respekt vor dem eigenen Amt. Vergleicht man damit etwa einen Text David Gills, sachlich und örtlich in unmittelbarer Nachbarschaft des eingangs zitierten Gauck-Textes angesiedelt, fällt der radikal andere Zugriff auf, nämlich der der historiographischen Relativierung und Distanzierung der eigenen Ausführungen, obwohl der Text über eigene Erfahrungen Gills berichtet und in seinem Unmittelbarkeitsanspruch also nicht hinter dem Gaucks zurückbleibt. Das rhetorische Profil Gaucks, wie es hier nur beispielhaft angedeutet werden kann, lässt sich personalisierungstheoretisch erhellen. Fälle der Subjekt-Personalisierung lassen sich nach zwei Richtungen ordnen: Erstens geht es darum, inwiefern die sprechende Person entweder als Privatperson oder in ihrer Funktion als Organisationssprecher auftritt (Rollendimension), und zweitens, ob sie sich eines offiziellen oder eines privaten Sprachgebrauchs befleißigt.111 Während konventionell der Grad der Subjekt-Personalisierung zunimmt, je mehr der Sprecher sich auf seine Rolle bezieht und je offizieller sein Sprachgebrauch, lässt sich in Gaucks Texten ein Unterlaufen dieses Schemas zeigen. Dass er mehr oder weniger stets als Vertreter der von ihm geleiteten Institution spricht, ist unhintergehbar durch die stratifikatorische Sonderstellung als Behördenleiter vorgegeben, auch wenn sich Gauck von ihr im Einzelfall rhetorisch distanziert. Er spricht aber nicht ‚offiziell‘, was bis heute Grund seines Erfolges als Redner ist, sondern bedient sich einer nicht-offiziellen Rhetorik, woraus sich ein spannungsreicher Kontrast ergibt, in dessen Folge gerade eine hochgradige Personalisierung im Sinne einer Identifizierung von Person und Sache begründet wird (dazu sogleich).

3.  Charismatisierung und Personalisierung Dass die Behörde des BStU bis heute noch immer mit dem Namen Gaucks verbunden wird (wenngleich auch die Bezeichnungen Birthler-Behörde und aktuell Jahn-Behörde anzutreffen waren und sind), belegt nachdrücklich, wie sehr individuelles und institutionelles Amt durch Gauck in seiner Person verschmolzen und wechselseitig geprägt worden sind. Zu dieser Verschmelzung mag beigetragen haben, dass die in der deutschen Verwaltungskultur eher selten anzutreffende Bezeichnung der Behörde als „Der Bundesbeauftragte“ schon in 110   Interview mit Helmuth Karasek und Ulrich Schwarz in der Reihe „Spiegel Thema“: abruf bar unter www.youtube.com/watch?v=eZB9YrX3DEo [17.10.2015]. 111   Eisenegger (Fn.  4 ), S.  15.

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sich den Keim zu einer identifizierenden Personalisierung trägt. Soweit ersichtlich, setzt sich in der Behördenbezeichnung eine angepasste Übernahme des Begriffs des „Sonderbeauftragten“ fort, den Gauck in der Interimsphase zwischen Wiedervereinigung und Erlass des StUG trug. Zuvor war er als Vorsitzender des Sonderausschusses der Volkskammer bereits federführend mit der Kontrolle der Abwicklung des MfS/Af NS befasst.

Wie sehr diese Verbindung zugleich als eine sich verstärkende Kopplung von persönlichem und ideengebundenem Charisma zu deuten ist, zeigt sich weniger in den affirmativen Bewertungen seiner Arbeit, sondern in der Kritik daran: Noch immer provoziert die Tätigkeit Gaucks als BStU harsche Kritik, vor allem von Seiten ehemaliger Angehöriger der DDR-Eliten und Vertretern der politischen Linken.112 Schon in der Sprache jener Kritik, in ihrer Wortwahl bildet sich ex negativo das charismatische Profil Gaucks ab, wenn vom „Inquisitor“113 und „Großinquisitor“114 die Rede ist. Ulrich Schacht hat die Beschreibungen Gaucks durch Werner Mittenzwei, einem führenden Literaturwissenschaftler und Wissenschaftsfunktionär der DDR, beschrieben als „Fratze eines satanisch agierenden Polit-Pfaffen, vor deren Hintergrund der Autor selbst ­U lbrichts und Mielkes Erscheinungen starke menschliche Züge abgewinnt“115.

Man mag scharfe Kritik an Gauck abtun als notwendige Begleitschmerzen einer historisch einmaligen Systemtransformation, in deren Folge politische und kulturelle Eliten des abgelösten Systems naturgemäß unter erheblichen Druck gerieten. Auch beziehen die eingesetzten Sprachbilder ihre rhetorische Kraft schon aus der schlichten Bezugnahme auf Gaucks Herkunft als Pfarrer und dem Versuch ihrer Diskreditierung. Die Intensität der Kritik in Gestalt der persönlichen Zuspitzung auf Gauck verrät aber zugleich etwas über den Grad an charismagebundener Personalisierung, den der historische Aufarbeitungsauftrag nach der Wende in der Person Gaucks erfahren hat. Der vielschichtige Personalisierungsbegriff soll dabei verstanden werden als das Phänomen, wonach die Person zum Deutungsmuster organisationaler Sachverhalte wird, und zwar in der organisationalen Selbstdarstellung, in der Fremddarstellung der Organisationen in den Medien oder in der Wahrnehmung der Organisationen durch das Publikum.116 Zu einem solchen Deutungsmuster avanciert die Person gerade dann, wenn sie sich in besonderer Weise eignet, Organisationskultur und Organisationsethos zu verkörpern, wie es hier der Fall war. Daher werden Personalisierungs-

112   Zu unterscheiden ist die Kritik an der Arbeit der errichteten Behörde von der grundsätzlichen Streitfrage nach dem „ob“ der Öffnung der MfS-Akten, die auch unter Bürgerrechtlern der Wendezeit durchaus unterschiedlich beantwortet wurde, dazu Becker (Fn.  15), S.  318 f. 113   K. Huhn, Die Gauck-Behörde: Der Inquisitor zieht ins Schloß, 2012 (Huhn war Sportchef des Neuen Deutschland, Sportfunktionär in der DDR und Medienberichten zufolge IM des MfS). 114   Etwa bei H. Winterstein, Für die Stasi ein Staatsfeind – für Gauck auch!, in: Zimmer (Hrsg.), Das Gauck-Lesebuch, 1999, S.  220 ff. 115   Schacht (Fn.  5 ), S.  74. 116   Eisenegger (Fn.  4 ), S.  13, dessen Definition an die strukturgleiche Definition der Personalisierung im Bereich der Politik angelehnt ist, die C. Holtz-Bacha/E.-M. Lessinger/M. Hettesheimer, Personalisierung als Strategie der Wahlwerbung, in: Imhof/Schulz (Hrsg.), Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen, 1998, S.  240 (241 f.), vorlegen.

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phänomene vielfach als rationalitätsmindernde Phänomene beurteilt,117 Sach- und Personalbezug – etwa: medialer Kommunikation – also gegeneinander in Stellung gebracht.118 Am Grunde dieser Einschätzungen liegt die Befürchtung, Strategien der (politischen) Personalisierung stellten auf Dauer die Grundannahmen einer deliberativ-rational operierenden demokratischen Ordnung in Frage, „die simplifizierende Narration [gewinne] gegenüber der abwägenden Argumentation die Oberhand“119,

kurz: das Bild obsiege über das Wort. Ob und inwieweit der These der Rationalitätsminderung durch Personalisierung jedenfalls für den Kernbereich der Politik zuzustimmen ist, muss offen bleiben. Für die Situation des politischen Alltagsgeschäfts unter dem Druck medial beobachteter Entscheidungszwänge mag die Einschätzung durchaus zutreffen, dass die wirkmächtigere Personalisierung politischer Positionen Argumentationen verflacht oder gar entbehrlich macht und damit entrationalisierend wirkt. Ob das im Falle der Aufarbeitung des MfS-Unrechts durch den BStU und namentlich die Zuspitzung auf Joachim Gauck als Leiter des BStU aber in gleichem Maße der Fall war, muss bezweifelt werden. Diese Zweifel speisen sich im Wesentlichen aus den dem BStU übertragenen Aufgaben, namentlich dem hochgeneralisierten Aufarbeitungsauftrag des §  1 Abs.  1 Nr.  3 StUG.120 Nicht nur, dass es sich dabei um einen für eine staatliche Behörde völlig untypischen Auftrag handelt, auch die Tätigkeit der Behörde ansonsten ist kaum mit konventionellem behördlichen Handeln vergleichbar. Namentlich war der BStU nie ein Archiv im herkömmlichen Sinne,121 worüber die mal latente, mal aktuelle Diskussion über die Eingliederung seiner Bestände in das Bundesarchiv Koblenz nicht hinwegtäuschen kann. Der Aufarbeitungsauftrag des BStU ist im Sinne eines administrativ-juridischen Ziels nicht greifbar, sondern bleibt ein gesellschaftliches Ziel, zu dem die Behörde nur beitragen kann. Aber auch als gesellschaftliches Ziel bleibt Aufarbeitung diffus, weil keine Parameter bereitstehen, anhand derer sich ermessen ließe, ob bzw. inwieweit das Ziel erreicht oder verfehlt wurde. Zwei Gründe sind dafür namhaft zu machen, nämlich erstens der Aufarbeitungsgegenstand selbst und zweitens die Genese der Aufarbeitungsidee. Zum Ersten: Aufarbeitung ist eine relationale Kategorie, die im Interesse zukünftiger gesellschaftlicher Ordnung Gegenwart mit historischen Tatsachen verknüpft. Die Relationierung ist dabei gleichermaßen normativ wie systematisierend, es geht also um Ordnung und Bewertung des aufzuarbeitenden Unrechts. Bezugsobjekt der Aufarbeitung ist ein in sich inkommensurabler Gegenstand, nämlich das MfS-Unrecht, dessen vollständige Erfassung in quantitativer und qualitativer Hinsicht kaum möglich ist. Zwar ist denkbar, dass zu einem unbestimmten zukünftigen Zeitpunkt   Übersicht bei J. Hoffmann/J. Raupp, Publizistik 51 (2006), 456 ff.   Holtz-Bacha/Lessinger/Hettesheimer (Fn.  116), S.  242 f. 119   Eisenegger (Fn.  4 ), S.  12. 120   In diese Richtung auch Gieseke (Fn.  18), S.  282: „Das personalisierende Namenskürzel ist nicht nur dem komplizierten offiziellen Titel geschuldet, sondern auch indirekter Ausdruck der Tatsache, daß hier unter einem Dach eine ganze Reihe von Funktionen gebündelt werden, die sprachlich und inhaltlich nicht auf einen Nenner zu bringen sind: Archiv, Überprüfungsbehörde, Museum, politische Bildungseinrichtung“. 121   T. Lindenberger, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 53 (2003), S.  338 (339): „… bis heute kein historisches Archiv strictu sensu …“. 117

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alle Akten erschlossen und individuell und institutionell ausgewertet und bewertet sind. Aber angesichts des immensen Umfangs des Aktenmaterials allein, das nur das materielle Substrat des begangenen Unrechts darstellt, dieses also vertritt, aber nicht abbildet, werden dauerhaft immer nur Ausschnitte dieses Unrechts erkennbar, dieses aber nicht als Ganzes quantifiziert oder qualifiziert. Auf unabsehbare Dauer ist mit blinden Flecken, Wahrnehmungsverzerrungen und Randunschärfen zu rechnen. Je mehr das MfS-Unrecht zudem nur noch historisch ist, und nicht mehr in Tätern und Opfern Zeugen hat, ändert die Aufarbeitung fortwährend ihren Modus: von der reflektierenden Aneignung aufgearbeiteten Wissens zu seiner kompilierenden Bereitstellung. Die Unfassbarkeit des MfS-Unrechts setzt sich also in der Unfassbarkeit seiner Aufarbeitung fort. Von Aufarbeitung zu sprechen meint daher, im Modus höchster Symbolisierung von einem theoretisch erstrebenswerten, praktisch aber nicht erreichbaren Zustand zu sprechen. Über die strukturelle Unmöglichkeit abgeschlossener Aufarbeitung legt die siebzig Jahre andauernde Bewältigung des NS-Unrechts im Übrigen beredt Zeugnis ab. Zum Zweiten: Der Überblick über die Entstehung des BStU und des StUG hat gezeigt, dass sie einem historischen Ausnahmezustand der Krise und der Transformation entsprungen sind.122 Erst die Bürgerbewegung, die Hungerstreikenden in der MfSZen­trale und schließlich die Volkskammer-Delegation des Sonderausschusses haben sichergestellt, dass es zu einer strukturierten, behördlich organisierten Aufarbeitung auch jenseits eingespielter juristischer (Straf-)Verfahren gekommen ist, indem sie das Zusatzprotokoll zum Einigungsvertrag und damit die Institutionalisierung einer eigenen Behörde erzwangen. Die Aufarbeitung des MfS-Unrechts durch den BStU lässt sich dabei verstehen als ein Paradox in Form der behördlich institutionalisierten Revolution, eine Art verstetigter Ausnahmezustand.123 Dieser Befund erschöpft sich nicht in institutioneller Wortspielerei, sondern wirkt zurück auf die Tätigkeit der Behörde und ihrer Leiter. Denn der historische Anspruch auf Offenlegung der Akten, auf ­Publizierung der offiziellen und inoffiziellen MfS-Mitarbeiter, der Wunsch nach ­revolutionärer Katharsis stieß und stößt sich an den rechtsstaatlichen Grenzen, die Abwehrrechte, Schutzpflichten und Verhältnismäßigkeitserwägungen errichten. Der revolutionäre Offenlegungsanspruch ist absolut und kennt keine rechtsnormativen Abstufungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Er setzt dem kategorischen Unrecht des MfS eine ebenso kategorische Remedur entgegen, die sich nicht in rechtsstaatlichen Grauabstufungen verlieren will.124 Dieses Spannungsverhältnis ist nicht ohne Folgen geblieben für die innerbehördliche Kultur und Arbeit,125 hat aber zugleich auch mittlerweile eine Alltäglichkeit erlangt, die nur gelegentlich noch durch größere, medial begleitete Aufdeckungen durchbrochen wird, etwa im Fall des West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte und der, wie 2009 bekannt wurde, IM des MfS war.126 122   S. dazu E. Neubert, Arbeitsweise der „Gauck-Behörde“ im gesellschaftlichen Kontext, in: Wüstenberg (Hrsg.), Wahrheit, Recht und Versöhnung, 1998, S.  65. 123   Gedanke bei Neubert (Fn.  122); außerdem bei K. Schuller, FAZ, Nr.  228, 30.09.2000, S.  4 ; aufgenommen bei Becker (Fn.  15), S.  384. 124  Dazu Schuller (Fn.  123). 125   Schuller (Fn.  123). 126   Becker (Fn.  15), S.  366 ff.

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Es zeigt sich insgesamt, dass die Aufarbeitungstätigkeit des BStU, die in der Gesamtaufarbeitung der DDR-Geschichte wiederum nur einen, wenn auch wichtigen Teil bildet, sowohl vom Gegenstand als auch von der Genese her sich herkömmlicher behördlicher Tätigkeit entzieht. Sie ist kaum bzw. stets nur in Ausschnitten fassbar, erfuhr aber zugleich – jedenfalls in zeitlichem Kontext der Wende – erhebliche öffentliche und politische Aufmerksamkeit. Dass unter diesen Bedingungen Prozesse der charismatischen Personalisierung auf den Behördenleiter Joachim Gauck Platz griffen, kann insofern kaum überraschen. Personalisierung ist auch in diesem Fall zunächst als Komplexitätsreduktion zu verstehen, die hier anspruchsvolle, abstrakte Konzepte gesellschaftlicher Aufarbeitung erst artikulations- und deliberationsfähig machte. Dass darin eine personalisierungsgetriebene Rationalitätsminderung des Diskurses lag, mag man indes bezweifeln. Es drängt sich nämlich der Eindruck auf, die Personalisierung der Aufarbeitung hin auf die Person Gauck – und später etwa auf die „unbeugsame Marianne“127 – sei eine konsequente, hochgradig plausible Antwort auf den Terror des MfS gewesen. Während dieser als latenter, unpersönlich-bürokratischer und technokratischer Terror empfunden wurde, als ein Verschwinden der handelnden Personen hinter der Institution des MfS – Hannah Arendt spricht von der „verantwortungslosen Verantwortlichkeit“ totalitär-technokratischer Regime128 – markieren die Aufarbeitungsbemühungen nach der Wende insofern einen scharfen Gegenpol. Die Aufarbeitungsbehörde des ‚obsiegenden‘ Rechtsstaates charismatisiert sich. Sie setzt dem anonymen Schrecken des MfS den personalisierten Retter entgegen, der intransparenten mystischen Verstrickung den luziden Rhetor der Vernunft. Lang tradierte religiöse Motive brechen sich hier Bahn, vom heilsbringenden Messias, von der himmlischen Lichtgestalt des rächenden Seraphims, aber sicher auch Bilder vom furchtlosen Mann fürs Grobe im Dienst der guten Sache. Dass sich die Person Gauck in ihrer Herkunft, Person und Rhetorik geradezu für eine Strategie der Personalisierung anbot, muss man als historischen Glücksfall betrachten, ohne damit in der Kontroverse um die Arbeit des BStU schon notwendig Stellung zu beziehen. Richtig ist aber auch, dass diese Personalisierung Anknüpfungspunkt für scharfe Kritik geworden ist, etwa bei Inga Markovits: „Led by a man who, as a pastor, had a professional stake, and as a former dissident, a personal stake, in seeing the world divided into light and darkness and in classifying its inhabitants as either righteous or sinners, the Agency has done its best to keep these distinctions clean by sheltering the victims and by exposing the perpetrators to public shame“129.

Es bietet sich allerdings auch noch eine alternative Deutung an: Man mag es als ­ironische Volte der Geschichte verstehen, dass der Inbegriff einer bürokratischen (Schreckens-)Herrschaft rechtsstaatlich gekontert wird mit der Errichtung einer ­politisch, juristisch und personell mächtigen Behörde zu ihrer Auf klärung,130 die in vielen ihrer inneren Abläufe durchaus erstaunliche Parallelen zum MfS aufweist. Nochmals Inga Markovits:   Zitat m.w.N. und Kontext (Kohl-Verfahren) bei Becker (Fn.  15), S.  324.   H. Arendt, Organisierte Schuld, in: dies., Die verborgene Tradition (1976), 2000, S.  41. 129   S. etwa Markovits (Fn.  12), S.  540 [Hervorhebungen nicht im Original]. 130  Mit den über 3.300 Mitarbeitern zu Spitzenzeiten hatte die Behörde drei- bis viermal mehr Mitarbeiter als die kleineren Bundesministerien. 127

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„Maybe it is not surprising that the Gauck Authority, as the sole keeper and administrator of the Stasi files, also shares some of the attributes and habits of the organization whose corrupt estate it has inherited. Maybe the Stasi poison is still strong enough to affect those who touch it, even years after the collapse of Socialism. […] Both deal with secrets and with skeletons: the one, exploiting their existence in people’s closets, the other bringing them out into the light. Both process and pass on highly dubious information: lies, innuendos, exaggerations, defamations, hearsay (in fact, courts in the Federal Republic repeatedly have declared Stasi information to be too unreliable to count as evidence […]) Both had or have a highly personal working style: the Stasi through personal surveillance and betrayal, the Gauck Authority through its pastoral solicitude for Stasi victims, whose confrontation with their past the Agency carefully manages and controls. […] As the Stasi was, the Gauck Authority is not bound by the rules of ordinary data protection […] It seems no accident that the Gauck Authority is the only post-Socialist federal agency that in its work still makes use of the infamous GDR „personal identification number“ (Personenkennzahl, or PKZ). The idea of a personal ID number for every citizen has always been anathema to German data protection, and the Unification Treaty, accordingly, called for the abolition of the PKZ. The Gauck Authority, by special legislation, was allowed to continue its use through the year 2005 […], supposedly to facilitate the deciphering of Stasi cover names. And, like the Stasi, the Gauck Authority perceives the world in Manichaean terms of light and darkness, replacing the Stasi’s dichotomy of friend and foe with that of victim and perpetrator“131.

In dieser MfS und BStU analogisierenden Perspektive kann Charismatisierung auch als Korrelat verstanden werden zu dem für sozialistische Staaten typischen Personenkult, der als Fassade der bürokratisch-technokratischen Diktaturen errichtet wurde. ‚Half ‘ der Personenkult dort, die Differenz des utopischen Herrschaftsanspruchs und der kruden Herrschaftswirklichkeit zu überbrücken, macht die hochgradige Personalisierung auf die Behördenleitung unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaats die Fortexistenz der Akten des MfS als materiellem Unrechtssubstrat, ihre andauernde Bedeutung und soziale Sprengkraft überhaupt erst erträglich. In dieser Logik wäre also Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Zugleich sind Charismatisierungen geeignet, die latenten Defizite, die eine rechtsstaatliche Unrechtsaufarbeitung gegenüber dem Gerechtigkeitsbedürfnis der ehemals Verfolgten beinahe notwendig aufweist, zu kaschieren. Dass unter anderen persönlichen und politischen Voraussetzungen auch Marianne Birthler und Roland Jahn eine personalisierte Sonderstellung in der Landschaft bundesdeutscher Behördenchefs eingenommen haben, bestärkt diese These. Namentlich die Vita Jahns als geradezu sinnbildlichem Opfer des DDR-Regimes ist für seine Wahrnehmung – und sein Handeln! – als BStU prägend geworden. Fasst man diesen Gedanken stärker juristisch, rücken die strukturellen grundrechtlichen Probleme der BStU-Tätigkeit in den Blick. Die Gefahr der Perpetuierung der Persönlichkeitsrechtsverletzungen des MfS durch Öffnung der Akten liegt auf der Hand. Aber auch die historisch im Einzelfall unscharfe Unterscheidung von Tätern und Opfern des MfS-Unrechts, die Gleichzeitigkeit von Täter- und Opferstellung, wirft grundrechtliche Probleme in der Anwendungspraxis des StUG auf. Und schließlich stellt auch die juristisch angemessene Erfassung der kollektiven Dimension von Individualrechtsverletzungen des MfS den Verfassungsstaat vor große Herausforderungen. Das StUG versucht – auch in seinen acht Novellen seit 1991 – diese Spannungslagen in rechtsstaatlicher Weise aufzubereiten. Ob dies überzeu  Markovits (Fn.  12), S.  553 (dort in Fn.  60).

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gend gelingt, ist nach wie vor umstritten. In dieser Situation grundrechtlicher Legitimationsprobleme behördlichen Handelns mag der hochgradigen Charismatisierung der Behörden­ leitung die Funktion einer Legitimationskompensation zukommen, die die unvermeidlichen rechtsstaatlichen Grenzunschärfen der behördlichen Aufarbeitungstätigkeit in den Blick nimmt. Dabei kann dieser Legitimationszugewinn natürlich nicht in einem juristisch greifbaren Sinn etwaige grundrechtsdogmatische Problemlagen auflösen, ihr Auftreten aber akzeptabel machen oder als Folge des Aufarbeitungsprojekts im Ganzen als unvermeidlich darstellen und absichern.

Spinnt man den Faden einer Zwillingsbeziehung von BStU und MfS fort, mag man Korrespondenzen erkennen in den individualistischen Ideologemen, die der Marxismus als „wissenschaftlicher Sozialismus“ in seinem Menschenbild des befreiten Individuums und die vernunftgrundierte Auf klärung in ihrer Sicht auf die autonome Person pflegen.132 Hinzu kommt: Die hier bereits angeführte Kritik an der Tätigkeit Gaucks als BStU ist zu wesentlichen Teilen eine ideologisch grundierte Kritik, die sich am BStU deswegen abarbeiten kann, weil Gauck seine Tätigkeit selbst eminent ideologisch grundiert hat. Er ist insofern ein typischer Vertreter jener „ideologischen Virtuosen“133 in der Politik, die sich durch einen moralischen Absolutismus auszeichnen, der sich gegen die Autorität des politischen Systems (hier des untergegangenen Regimes) wendet.134 Die Einordnung der Behördentätigkeit in eine idealistische, auf klärerische Tradition weist dabei nur die ideologische Richtung. Die Art und Weise ihrer Profilierung in der Rhetorik Gaucks und der konkreten Arbeit der Behörde schärfte den ideologischen Gegensatz zwischen Aufarbeitungsauftrag des BStU und der Tätigkeit des MfS in einer spezifischen Weise. Danach besteht in der ideologischen Profilierung selbstverständlich keine materielle Parallele, aber eine modale in der Bedeutung, die der ideologische Rekurs für die Identität der jeweiligen Organisation hatte.

4.  Charismatisierung durch Instituierung und Institutionalisierung Begünstigende Faktoren der Charismatisierung des BStU liegen in seiner individuellen Instituierung und behördlichen Institutionalisierung. Der Bundesbeauftragte ist eine Bundesoberbehörde (mittlerweile) im Geschäftsbereich des Staatsministers für Kultur und Medien, §  35 Abs.  1 S.  1 StUG (bis 2006 war der BStU noch im Geschäftsbereich des Bundesministerium des Inneren loziert, §  35 Abs.  1 S.  1 StUG i.d.F. v. 1991). Nach §  35 Abs.  2 StUG wird der Behördenleiter durch den Deutschen Bundestag gewählt und durch den Bundespräsidenten ernannt. Angelehnt ist die Vorschrift an §  22 BDSG, der die Wahl des Bundesdatenschutzbeauftragten regelt. Die Leitung des BStU unterscheidet sich insofern von der Leitung anderer Bundesoberbehörden, die üblicherweise durch die aufsichtsführenden Ministerien ernannt werden. Abweichend von Art.  42 Abs.  2 S.  1 GG bedarf es für die Wahl des BStU einer qualifizierten Mehrheit. Verfassungsrechtlich stattet dies die Behörden S. für eine menschenrechtsgenealogische Perspektive Joas (Fn.  90), S.  53 f., der indes von der wissenschaftlichen „Prätention“ des Marxismus als wissenschaftlicher Sozialismus spricht. 133   Roth (Fn.  104), S.  142. 134   Roth (Fn.  104), S.  144. 132

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leiter mit einer (rational zu verstehenden) parlamentarischen und also demokratischen Legitimation aus. Die demokratische Legitimation durch Parlamentswahl und die symbolische Legitimation durch die Ernennung durch den Bundespräsidenten betonen dabei erstens die politische und zweitens die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des BStU als Behörde. Der Auf klärungsauftrag des institutionellen Amtes wird also durch die demokratisch-symbolische Aufwertung des individuellen Amtes gestärkt und als politisch relevant herausgestellt. Dies setzt sich auch in der Berichtspflicht des BStU gegenüber dem Deutschen Bundestag nach §  37 Abs.  3 StUG fort. Während das Verfassungsrecht den Wahlmodus also rational, demokratisch-dogmatisch rekonstruiert, kann er herrschaftssoziologisch zugleich als moderner Modus der Charismatisierung gedeutet werden, Max Weber spricht insofern von der „herrschaftsfremden Umdeutung des Charismas“; herrschaftsfremd insofern, weil sich der grundsätzlich autoritäre Charakter des Charismas durch Wahl des „frei gewählten Führers“ antiautoritär umbildet.135 Im Bemühen um breiten demokratischen Konsens bei der Wahl des BStU zeigt sich daher auch das Bedürfnis, dem Amt besondere politische Gravitas zu verleihen und damit auch, gerade wegen der breiten parlamentarischen Zustimmung, einen politischen Gestaltungsspielraum für die Amtsträger zu eröffnen. Die Sonderstellung, die der Bundesbeauftragte durch Wahl und Ernennung eingeräumt bekommt, setzt sich auch im Modus der Institutionalisierung seiner Behörde im Verhältnis zur Bundesregierung fort. Zunächst ist der BStU selbst kein Beamter, sondern Amtsträger.136 Der (nunmehr) federführende Staatsminister für Kultur und Medien führt allein die Rechtsaufsicht über den BStU. Während dies heute, fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Errichtung, nicht mehr in vergleichbarer Weise aussagekräftig ist wie 1991, kann die Rücknahme der Aufsichtsintensität gegenüber dem BStU doch kaum überschätzt werden. Es sind gerade Instrumente der Fachaufsicht, mit denen in der Gründungsphase der Innenminister auf die Organisationspraxis des BStU massiv hätte Einfluss nehmen können. Dass ihm diese Möglichkeit von Beginn an verwehrt war, eröffnete dem BStU erst den Freiraum an politischer Gestaltungsmöglichkeit in einem bürokratisch-legalistisch durchstrukturierten Herrschaftsverband, den Joachim Gauck in spezifisch charismatischer Weise ausfüllte.

III.  Habitualisierung als Modus charismatischer Herrschaft 1.  Leerstellen der Weberschen Charismatheorie Auf der Suche nach Erklärungen für den Erfolg Joachim Gaucks als BStU sind bis hierher herrschafts- und personalisierungstheoretische Ansätze in den Blick genommen worden, die den historischen Kontext und das spezifische Aufgabenprofil des BStU als charismatisierungs- und personalisierungsgeneigt analysiert haben. Dabei bleiben die Überlegungen von einem untergründigen Spannungsverhältnis geprägt, das sich schon in Webers Herrschaftstypologie angelegt findet: Denn zwar beschreibt   Weber, (Fn.  2 ), S.  190 f.   J. Pietrkiewics/J. Burth, in: Geiger (Hrsg.), StUG, 2.  Aufl. 2006, §  35 Rn.  9.

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Weber den Befund einer Veralltäglichung des Charismas in Formen traditionaler und bürokratischer Herrschaft und macht es damit auch als prägende Größe unter den Bedingungen moderner Herrschaft zugänglich. Der Ausnahmecharakter, das Heroisch-Naturalistische des Charismabegriffs wirkt indes fort und lässt ihn spannungsreich in der Analyse zeitgenössischer Herrschaftsbefunde stehen. Grund dafür ist, dass der Charismabegriff bei Weber selbst eigentümlich unbestimmt bleibt, gar eine Leerstelle seiner herrschaftssoziologischen Betrachtungen bildet, in denen dessen ­religionssoziologische Grundlagen gewissermaßen kontextfremd fortzuwirken scheinen.137 Das stellt nicht in Abrede, dass Weber das Sozialkonstruktivistische des Charismas, seine Konstituierung durch Zuschreibung der Gefolgschaft ausdrücklich im Blick hat.138 Indes bleiben die Gründe, die die Anerkennung des Charismas tragen oder wahrscheinlich machen, eher im Ungewissen:139 „Diese ‚Anerkennung‘ ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige ganz persönliche Hingabe“140.

So anschlussfähig diese Annäherung Webers an die Gründe der Charismazuschreibung im hier interessierenden Fall auch sein mag – revolutionäre Wendebegeisterung trifft auf menschliche Notlagen der politischen Opfer des MfS und auf die individuelle und gesellschaftliche Hoffnung auf Auf klärung und Aufarbeitung –, so unspezifisch ist sie zugleich. Sie verliert umso mehr an Explikationskraft, je weniger es um die Deutung idealtypischer Herrschaftscharismatisierung, sondern, wie hier, um Charismaresiduen in bürokratischer Herrschaft geht. Die Ansiedlung von Charisma und Charismazuschreibungen im affektuell-emotionalen Bereich menschlichen Handelns,141 an der „Grenze des Sozialen zum Nicht-Sozialen“142, entzieht es teilweise der Analyse typologisch gemischter Herrschaftsformen. Namentlich bleibt offen, welche „sozialen Praktiken der Generierung und Aneignung charismatischer Qualitäten“143 erforderlich und zu beobachten sind. Hier setzt eine These Klaus Kraemers an, der in den kultursoziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus eine Reformulierung charismatheoretischer Gehalte sieht, die nach „spezielle[n], alltägliche[n] Distink­ tionspraktiken“144 fragen, die einer Charismabildung und -zuschreibung im Weberschen Sinne zuträglich sind.

  H. Joas, Die Kreativität des Handelns, 1996, S.  72; Kraemer (Fn.  54), S.  173.   Weber (Fn.  2 ), S.  173; Kraemer (Fn.  54), S.  175. 139   Kraemer (Fn.  54), S.  175: „Die Gründe […] werden jedoch nicht genauer genannt, jedenfalls nicht in einem strikt soziologischen Sinne“. 140   Weber (Fn.  2 ), S.  173. 141   Zum „sozialen Handeln“ als vernunftbasiertem Handeln H. Joas, Die soziologische Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, 3.  Aufl. 2007, S.  17. 142   Kraemer (Fn.  54), S.  175. 143   Kraemer (Fn.  54), S.  175. 144   Kraemer (Fn.  54), S.  180. 137

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2.  Die kultursoziologische Deutung des Charismas bei Pierre Bourdieu Bourdieus soziologische Studien des sozialen Raumes konzentrieren sich auf die von ihm so genannte „legitime Kultur“145 und ihre Träger. Während er dabei im Ausgangspunkt alltagskulturelle und ästhetische Praktiken sozialer Distinktion in den Blick nimmt, macht sein theoretischer Ansatz dort nicht halt, sondern bezieht sich ausdrücklich auch auf den politischen Raum.146 Den Trägern legitimer Kultur, so Bourdieus These, gelingt es, ihre „Klassifikationsraster fein/grob, raffiniert/primitiv, distinguiert/vulgär, vornehm/ordinär etc. als legitime, weil gesellschaftsweit anerkannte Unterscheidungen durchzusetzen“147.

Die Fähigkeit zur Durchsetzung solcher Klassifikationsraster ist dabei zu verstehen als „symbolische Macht“148, mit der soziale Wahrheiten konstruktiv begründet werden.149 Darüber, wie viel symbolische Macht ein Einzelner oder eine gesellschaftliche Gruppe für sich beanspruchen kann, entscheidet wiederum das jeweilige kulturelle bzw. soziale Kapital.150 Dabei ist Kapital „eine der Objektivität der Dinge innewohnende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird“151.

Besondere Bedeutung weist Bourdieu dabei dem individuellen kulturellen Kapital zu, das er eng an Bildung und Bildungserwerb knüpft und das in seiner inkorporierten (man könnte auch sagen: authentischen) Form ein „Besitztum [ist], das zu einem festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben‘ ist ‚Sein‘ geworden“152.

Dabei hinterlässt die Aneignung des spezifischen kulturellen Kapitals stets Spuren in der Person, die es inkorporiert, etwa in der Art ihres Sprechens.153 Der Wert des individuellen kulturellen Kapitals wächst je nach Knappheit oder situativem gesellschaftlichen Bedürfnis danach. Zugleich bestimmt die Fähigkeit des Individuums, sein kulturelles Kapital einzusetzen, über die Durchsetzungskraft im sozialen Raum. Dabei nimmt bei Bourdieu die Sprache eine besondere Bedeutung ein,154 es geht ihm normativ um die „legitime Sprache“, die „offizielle (formale) Sprache“ oder die   P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1982, S.  48, 56 ff. et passim.   Bourdieu (Fn.  139), S.  620 ff. 147   Kraemer (Fn.  54), S.  181. 148   P. Bourdieu, Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders., Rede und Antwort, 1992, S.  135 ff. 149   Kraemer (Fn.  54), S.  181. 150   P. Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, 1992, S.  49 ff. 151   Bourdieu (Fn.  150), S.  50. 152   Bourdieu (Fn.  150), S.  56. 153   Bourdieu (Fn.  150), S.  57. 154   P. Bourdieu, Politik, Bildung, Sprache, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, 1992, S.  13 (16). 145

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„Hochsprache“155, die an Konstituierung und Legitimierung des politischen Feldes Anteil hat. Sprache wird darin in dieser Lesart zu einer Methode, der es – gerade in Zeiten politischer Umbrüche und Transformationen – „um die Formierung und Re-Formierung von Denkstrukturen“156 geht, um die Behauptung und Sicherung symbolischer Macht. Diese zeichnet sich dabei nicht durch die Möglichkeit formaler Unterwerfung aus, sondern setzt ein bestimmtes Maß an Einverständnis voraus, eine Haltung, „die mit der üblichen Alternative von Freiheit und Zwang nicht zu fassen ist“157. Es geht dabei also um Räume diffuser politischer Normativität, die von den Trägern der legitimen Kultur, den Sprechern der legitimen Sprache in der einen oder anderen Weise mit spezifischen Inhalten aufgefüllt werden können. Damit ist beinahe notwendig ein Raum sozialer Konflikte, des kontroversen Diskurses bezeichnet, in dem in den Begriffen von Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemonialtheorie158 mit „leeren Signifikanten“ um die Vormacht bestimmter politischer Konzepte gerungen wird. Verschiedene Bedingungen kommen also bei der habitusgestützten – charismatischen – Durchsetzung symbolischer Macht zum Tragen: Ein gewisses Grundeinverständnis des sozialen Feldes – der ‚Herrschaftsunterworfenen‘ – ist vorauszusetzen, eine Rezeptionsgeneigtheit gegenüber bestimmten politischen Inhalten, deren Durchsetzung mit den Mitteln ‚legitimer Sprache‘ umso wahrscheinlicher wird, je höher das kulturelle Kapital der Akteure ist. All das schließt – auch erhebliche – soziale Konflikte um die Durchsetzung dieser Inhalte keineswegs aus. Nimmt man den hier interessierenden Sachzusammenhang von Joachim Gauck als BStU in den Blick, zeigt sich, dass er sich durch eine Reihe von Aspekten des Bourdieuschen Modells plausibilisieren lässt.

3.  Die legitime Sprache der Aufklärung a)  Gaucks kulturelles Kapital Das spezifische kulturelle Kapital, das Joachim Gauck als BStU mitbrachte, ergibt sich aus seiner beruflichen Sozialisation als protestantischer Theologe und Pfarrer. Die kulturprägende Kraft des ‚evangelischen Pfarrhauses‘ ist gerade in den letzten Jahren Gegenstand intensiver kultursoziologischer Auseinandersetzungen geworden, die es als „Hort des Geistes und der Macht“159, als „Mythos“160 und „Sehnsuchtsort“161, als Ort von „Glaube, Geist und Macht“162 in den Blick nehmen. Das Sinnbild des Pfarrhauses steht dabei für eine bestimmte Lesart des „Protestantismus als Bildungs-

  P. Bourdieu, Was heißt sprechen?, 2.  Aufl. 2005, S.  47 ff.   Bourdieu (Fn.  155), S.  52 f. 157   Bourdieu (Fn.  155), S.  56. 158   E. Laclau/C. Mouffe, Hegemonie und direkte Demokratie, 2.  Aufl. 2000. 159   Eichel (Fn.  8 ). 160   Seidel/Spehr (Hrsg.) (Fn.  8 ). 161   Eichel (Fn.  8 ), S.  21 ff. 162   Aschenbrenner (Fn.  8 ). 155

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macht“163, als formative Größe nicht nur des protestantischen Individuums, sondern eines Bildungsbürgertums insgesamt. In diesem kommt den von Bourdieu als Distink­ tionsmerkmalen des kulturellen Kapitals verstandenen Beständen formaler Bildung und Bildungs(re)präsentation besondere Bedeutung zu, die in der „legitimen Sprache“ der kulturellen Eliten produziert und reproduziert werden. In der Sache geht es dabei um den engen Zusammenhang von Bildung und Wissen als Voraussetzung individueller Freiheit,164 als Grundlage des autonomen Individuums, worin sich die hier bereits skizzierten Ziele der Aufarbeitung des MfS-Unrechts unmittelbar widerspiegeln. Diese inhaltlichen Grundpositionen verbinden sich im Protestantismus schon traditionell mit einer bestimmten Semantik, dem „Pathos der Sachlichkeit“165, für das Joachim Gauck wie kaum jemand anderes aus dem politischen Raum steht. Die auf klärerische Prägung seines Aufarbeitungsdenkens korrespondiert mit dieser theologischen Tradition, der es um die „Selbstbildung des Individuums zur ‚Persönlichkeit‘“166 zu tun ist, im Geiste von „Traditionsbruch, Kritik, Innovation, Rationalisierung und individueller Wahrheitssuche“167. Dabei kommt bei der politischen Durchsetzung des Auf klärungsauftrags dem Umstand, dass Gauck diese Inhalte nicht allein habitualisiert zu haben scheint, sondern sie auch zu vermitteln weiß, kaum zu unterschätzende Bedeutung zu. Er ist Theologe und Pfarrer, Inhalt und Verkündigung gehen bei ihm Hand in Hand, weil es ihm regelmäßig gelingt, die spezifischen Inhalte in eine sprachlich wirkungsvolle Form zu bringen. Botschaft und Botschafter werden teilkongruent, individuelles und ideengebundenes Charisma verstärken sich wechselseitig. Einher mit der theologischen Sprachmacht geht ein Geistlichen oft zugebilligter Vertrauensvorschuss, der ihrem Handeln auch außerhalb theologischer Zusammenhänge eine moralische Dimension mitgibt, die ihre symbolische Macht aufwertet. Diese Aufwertung ist naturgemäß besonders wirksam in Bereichen, deren moralische Grundierung und deren moralische Probleme evident sind, wie es bei der MfS-Unrechtsaufarbeitung der Fall ist. Gerade in Konflikten von juristischen Rechtmäßigkeitsanforderungen und moralischem Gerechtigkeitsempfinden – „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ (Bärbel Bohley) – kann der moralische Überschuss an kulturellem Kapital hilfreich sein, diese Konflikte zugunsten juristischer Rechtmäßigkeit aufzulösen, für deren moralische Vertretbarkeit dann derjenige einsteht, der über gesteigertes kulturelles Kapital verfügt. Dabei kommt den protestantischen Geistlichen der ehemaligen DDR noch insofern eine Sonderrolle zu, weil die evangelische Kirche Hort und Quelle oppositionellen Widerstands und Schutzraum der in den 1980er Jahren immer stärker werdenden Bürgerrechtsbewegung war. Als „Enklave einer Gegenkultur im atheistischen DDR-Staat“168 kommt ihrem Personal nicht in jedem Einzelfall, aber doch kraft institutioneller Zugehörigkeit die widerlegliche Vermutung von Aufrichtigkeit und Widerständigkeit unter den Bedingungen einer Diktatur zu.   F. W. Graf, Protestantismus, 2006, S.  97 ff.   Graf (Fn.  163), S.  98. 165   Graf (Fn.  163), S.  98. 166   Graf (Fn.  163), S.  99. 167   Graf (Fn.  163), S.  100. 168   Eichel (Fn.  8 ), S.  269. 163

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Zugleich wird die Figur des Pfarrers von kulturellen Traditionen überlagert, in denen das religiöse Personal als gelehrt wahrgenommen wird. Das sittliche Surplus wird also durch einen zugeschriebenen kognitiven Kredit ergänzt, die Pfarrerpersönlichkeit also als Gelehrter idealisiert,169 was ihr kulturelles Kapital mehrt. Dies fügt sich bruchlos in das Bourdieusche Deutungsmuster, nach dem in der deutschen Intellektuellen-Tradition die Gelehrten, auf Ernsthaftigkeit, Wahrheit und Tiefe aus seiend, sich schon früh gegen die mondäne Welt der Fürstenhöfe abgrenzten und also distinguieren konnten,170 eine Tradition also, in der Gelehrsamkeit kulturelles Kapital mehrte. Festzustellen ist also ein hoher Bestand kulturellen Kapitals auf Seiten Joachim Gaucks bei der Übernahme seiner Funktion als BStU. Die Frage, wie er dieses Kapital eingesetzt hat, führt zu den weiteren Aspekten des Bourdieuschen Modells. In seiner Deutung des politischen Feldes spielen die legitime Sprache als Methode der Durchsetzung bestimmter Denkmuster einerseits, eine bereits vorfindliche Geneigtheit des Publikums, die Muster dieser legitimen Sprache aufzugreifen und zu replizieren andererseits, wichtige Rollen.

b)  Die ‚legitime Sprache‘ des Ostens – und des Westens Bourdieu führt Sprache und Herrschaft eng, „die offizielle Sprache ist den gleichen Interessen verpflichtet wie der Staat“171, und betont damit die scharfe Normativität von Sprache und Sprachverwendungsregeln. Dies macht er zunächst an den sprachlichen Details fest (in Abgrenzung der Hochsprache von Dialekten, Idiomen und lokalen sprachlichen Idiosynkrasien), bezieht sich aber im Hinblick auf den politischen Raum ausdrücklich auch auf „neue[s], politische[s] Vokabular, neue Verweis- und Bezugssysteme, Metaphern und Euphemismen“172, also auf die rhetorische Seite der Sprache, der Geltung zu verschaffen sei. Es geht ihm also darum, wie über etwas gesprochen wird, mit Michel Foucault also um die „Ordnung des Diskurses“. Die spezifische Legitimität des Gauckschen Sprechens über Aufarbeitung und Auf klärung speist sich nun aus zwei Quellen. Im Hinblick auf den revolutionären Umbruch in der DDR und die folgende Transformationsphase bediente die Rhetorik Gaucks das revolutionäre Pathos der Bürgerbewegung – „Meine Akte gehört mir“ –, in dem sich vor allem eine Abkehr vom alten System der DDR und ein ideologisches Gegenmodell dazu manifestierte. Jenseits der Kritik aus der Bürgerbewegung an seiner Amtsführung im Detail, konnte sich Gauck so als Sachwalter eines politisch-revolutionären Erbes präsentieren, dem er mittels seiner auf klärerischen Rhetorik sprachlich legitime Form verlieh. Ein weiterer Aspekt aber tritt noch hinzu, der plausibel macht, warum sich trotz aller Widerstände auf Seiten der Bundesregierung und dem Polit-Establishment der alten Bundesrepublik im Kern der revolutionäre Aufarbeitungsanspruch hat durchsetzen können. Denn in Gaucks Rhetorik der Auf klärung spiegeln sich die tradierten   Eichel (Fn.  8 ), S.  135.   Bourdieu (Fn.  145), S.  132. 171   Bourdieu (Fn.  155), S.  50. 172   Bourdieu (Fn.  155), S.  53; zur politischen Sprache auch ders. (Fn.  145), S.  707 ff. 169 170

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Wertgrundlagen des individualistisch orientierten, demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsstaats in reinster Form, wie auch immer sie im Einzelnen sprachlich gefasst werden mögen: Freiheit, Autonomie, Verantwortung, zudem der Rekurs auf das Scheitern der NS-Unrechtsaufarbeitung in den Nachkriegsjahren und die in den Identitätskern der Bundesrepublik zielende Warnung vor einer Wiederholung dieses Scheiterns. Weder der sprachlichen Form und schon gar nicht der Sache nach konnten sich die Vertreter des bundesrepublikanischen Establishments gegen diese Forderungen wenden, auf deren ideologischen Grundlagen sie zu Zeiten der deutschen Teilung die Überlegenheit der Bundesrepublik gegenüber der DDR stets beteuert und rhetorisch befestigt hatten. So fielen die Bonner Stellungnahmen gegen die Aufarbeitung, jedenfalls soweit sie dokumentiert sind, auch seltsam kraftlos und technisch aus, weil ihnen schon sprachlich die legitimatorische Grundlage fehlte, wie es sich bis heute an den zeitgenössischen und restlos absurd wirkenden Forderungen nach vorzeitigen Schlussstrichen ablesen lässt.173 Schließlich bildete die historische Gesamtsituation einen Erfolgsfaktor für die Tätigkeit Gaucks. Bereits Max Weber hat die Geneigtheit von Krisen- und Transformationsperioden für charismatische Herrschaft betont. In ihnen bestehen zugleich das Bedürfnis und die Möglichkeit zu unkonventionellen, im Weberschen Sinne außeralltäglichen Formen und Modi politischer Herrschaft. Die zu bewältigende Situation der Wiedervereinigung im Allgemeinen und der MfS-Unrechtsaufarbeitung waren und sind bis heute vorbildlos und waren ab einem gewissen Zeitpunkt auch unausweichlich. Damit wurde, was die Aufarbeitungsfrage betrifft, ein geschichtspolitischer Raum eröffnet, in dem unterschiedliche Vorstellungen über das notwendige Verhältnis zur Vergangenheit miteinander um geschichtspolitische Hegemonie rangen. Dass einem protestantischen Pfarrer, seit jeher von Amts wegen mit den ewigen Fragen betraut, die Rolle zufiel, diesen Raum mit seiner Rede von Aufarbeitung und Auf klärung, von Versöhnen und Verzeihen zu füllen, mag ein historischer Zufall gewesen sein. Dass dieses Unterfangen indes in besonderer Weise gelang, ist, wie sich aus dem Vorgenannten ergeben hat, alles andere als zufällig. Ein letzter Punkt verbleibt:

c)  Ästhetik und Authentizität In ihrer Untersuchung zum deutschen Pfarrhaus diagnostiziert Christine Eichel eine „Renaissance des Predigttons“174 und belegt ihre These mit der Rhetorik Joachim Gaucks in seinem Wirken als Bundespräsident. Anders als die gegenüber positiven Weltentwürfen und einem gefühligen „Jargon der Eigentlichkeit“ kritische intellektuelle Elite,175 goutiere die Bevölkerung das Pastoral-Predigende, das Utopisch-Ver173   So plädierte etwa der damalige Bundesinnenminister Schäuble für eine vollständige und sofortige Vernichtung der Akten. Freilich hat er, ähnlich wie Helmut Kohl, dieses Urteil mit größerem historischen Abstand relativiert. 174   Eichel (Fn.  8 ), S.  331. 175   Beißend spricht T.W. Adorno, Der Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften, Bd. 6, 1997, S.  417 von der „Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins“.

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heißende in Gaucks Sprechen.176 Und auch in seiner Zeit als BStU zeichnen sich die Reden und Beiträge Gaucks durch einen Dualismus aus, der den kühlen Ernst aufklärerischer Ratio, eine politische Pflichtenethik mit einem positiven Entwurf des Gelingens verbindet, konkret der Aussöhnung zwischen den Tätern und Opfern des MfS-Unrechts. Dabei schärft Gauck die sachlichen Gegensätze durch die rhetorische Pathologisierung des MfS-Unrechts,177 um vor jener düsteren Skizze das Heilsversprechen gelingender Aufarbeitung als erstrebenswertes und erreichbares Ziel deutlicher leuchtend (und damit die Tätigkeit des BStU als unausweichlich) erscheinen zu lassen. In der These bewusster rhetorischer Kontrastierung, vielleicht gar Überspitzung von Unrecht und Aufarbeitung klingt positiv ein Element des Ästhetischen an, negativ gewendet ein Element des Kalkulierten. Und in der Tat wird man das rhetorische Profil Gaucks kaum als ein Produkt des Zufalls oder reiner Habitualisierung ansehen können. Seine Sprache unvermittelter Emotionalität, die sich nicht scheut, ihren Anspruch auf politische Relevanz mit Mitteln aus dem rhetorischen Fundus des Theologisch-Pastoralen zu unterfüttern, ist natürlich auch ein Ergebnis bewusster Entscheidung für ein politisches Programm und dessen Ästhetisierung. Eichel macht für die positive Resonanz auf dieses Sprechen die Herkunft des Sprechers aus dem Pfarrhaus verantwortlich, der sie eine moralische Authentifizierungsfunktion zuweist.178 Und sicher realisiert sich hier das kulturelle Kapital des Redners Gauck in Gestalt des moralischen Surplus, das den protestantischen Geistlichen der ehemaligen DDR zugebilligt wird. Insofern sind hier Sprecher und Stil in der Außenwahrnehmung kongruent und werden damit als authentisch wahrgenommen.179 Die spezifische Ästhetik dieser Sprache hebt sich von konventioneller Polit-Rhetorik ab und ist kongruent mit der politisch-historischen Sondersituation und dem spezifischen Aufarbeitungsauftrag des BStU. Zugleich ist sie – ein encore für Bourdieu – Ausweis einer bestimmten sozialen Distinktionsstrategie der bürgerlichen Gesellschaft, weil jede ästhetische Manifestation gleichermaßen „eint und trennt“180. Die mit theologischen Anleihen reich gesättigte Sprache der Auf klärung des MfS-Unrechts ermöglichte über ihre spezifische Ästhetik also einerseits trennende Distinktion, andererseits einende Integration: Die Bevölkerung und die Politik in den alten Bundesländern vermochte die sorgsam eingeübte politische Distanzierung von der DDR über die idealistischen Gehalte des Auf klärungsrhetorik zu perpetuieren und konnte darüber dem Auf klärungsanliegen des BStU letztlich positiv gegenübertreten. Die in der friedlichen Revolution aktiv und passiv engagierten Bürger der DDR wiederum vermochten aus jener Rhetorik der Auf klärung das politische Erbe ihrer revolutionären Bemühungen herauszulesen, das der BStU im Hinblick auf das MfS-Unrecht seither verwaltet.

  Eichel (Fn.  8 ), S.  332.   Gieseke (Fn.  18), S.  163. 178   Eichel (Fn.  8 ), S.  334. 179  Zu den Dimensionen des Authentizitätsbegriffs s. A. Assmann, Authentizität – Signatur des abendländischen Sonderwegs, in: Rössner/Uhl (Hrsg.), Renaissance der Authentizität?, 2012, S.  27 ff. 180   Bourdieu (Fn.  145), S.  104. 176

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E. Resümee In der Tätigkeit Joachim Gaucks als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verbanden sich verschiedene Motive und Sachlagen zu einem Gesamtkomplex, der seinen Erfolg in diesem Amt, aber auch die scharfe Kritik an ihm und seiner Amtsführung, plausibel macht. Die historisch vorbildlose Situation der Wiedervereinigung und die notwendige Aufarbeitung des MfS-Unrechts begünstigten die Entwicklung unkonventioneller politischer Herrschaftsinstrumente, zu denen die Behörde des Bundesbeauftragten und der ihr erteilte Aufarbeitungsauftrag in §  1 Abs.  1 Nr.  3 StUG zählen. Die Inpflichtnahme der Behörde für Zwecke der gesellschaftlichen Unrechtsaufarbeitung instituierte diese als politischen Akteur, der sie bis heute geblieben ist. Die politische Natur des institutionellen Amtes hatte dabei Rückwirkungen auf die Funktion der Behördenleitung als individuelles Amt, indem es dieses einer exekutiven Vollzugs- und Planungslogik enthob und in einen hochkontroversen Raum geschichtspolitischer Auseinandersetzungen einstellte. Ausgefüllt hat Joachim Gauck diesen Raum im Modus charismatischer Herrschaft. Deren ideologischer Kern lag in einem Verständnis von Aufarbeitung als ideengeschichtlicher Frucht der Auf klärung. Zu konstatieren ist dabei im Sinne Max Webers eine enge Verbindung von persönlichem Charisma und einem ideengebundenen, institutionellen Charisma der Aufklärung, die in einem Verhältnis wechselseitiger Verstärkung standen. Basis des personalen Charismas ist im Sinne des Bourdieuschen Habitusdenkens ein kulturelles Kapital Gaucks, das sich aus seiner Herkunft als protestantischer Theologe und Pfarrer aus der evangelischen Kirche der ehemaligen DDR speist. Damit wurde eine spezifisch ‚kulturprotestantische‘ Tradition des Individualismus und Rationalismus, einer wahrheitsorientierten Erkenntnis- und Selbstbildung politisch erschlossen, die dem Aufarbeitungsanspruch des BStU eine kulturelle, politische und nicht zuletzt rhetorische Unterfütterung bot. Die ‚Einfallstore‘ für eine Charismatisierung der Leitung des BStU waren dabei zahlreich: Die politische Übergangssituation von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung und der Modus der parlamentarischen Wahl des BStU zählen dazu; hinzu kommen die ‚Anverwandlung‘ des BStU und seiner Praxis an das MfS und dessen Funktionslogiken, die man als eine Art ‚administratives Stockholm-Syndrom‘181 verstehen kann, verstärkt durch die institutionenfunktionale Verwandtschaft der individualistischen Ideologeme von Marxismus und Auf klärungsdenken – und nicht zuletzt war und ist es die kognitive und politische Inkommensurabilität des Aufarbeitungsanspruchs, die eine Charismatisierung der Behördenleitung, ihre „Subjekt-Personalisierung“, als Modus der Komplexitätsreduktion begünstigte. Diese Gemengelage führte dazu, dass in der politisch unterdeterminierten Übergangssituation der Wiedervereinigung Joachim Gauck – im Sinne Pierre Bourdieus – die ‚legitime Sprache‘ des auf klärungspolitischen Programms bestimmen konnte. Diese fand in den ‚westlichen‘ Wertgrundlagen des freiheitlichen Verfassungsstaates ebenso einen Resonanzraum, wie sie dem politischen Erbe der Bürgerrechtsbewegung, bei all ihrer Kritik an Joachim Gauck im Einzelnen, rhetorisch eine Behausung gab.   Diese Begriffsprägung geht auf Christoph Schönberger zurück.

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Die polnische Bürgerrechtsbeauftragte Wie das Amt seine Bedeutung erhielt von

Jan Muszyn´ski, Universität Bayreuth Inhalt I. „Ein Weib auf dem Kerzenleuchter“ – Eine missverstandene Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 II. „Eine Kandidatin aus der Schubkarre“ – politische Hintergründe der Wahl Łe˛towskas . . . . . . . . . . 221 1. Die Wahl durch den Sejm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Die ersten Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 III. Die gesetzlichen Kompetenzen des Ombudsmanns in der Volksrepublik Polen und ihre Umsetzungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 IV. Die Wahrnehmung des Bürgerbeauftragten in der Volksrepublik Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Der Ombudsmann und die Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Zwischen Hammer und Amboss – Ombudsmann, Regierung und Opposition . . . . . . . . . . . . . 231 V. Nach dem Umbruch von 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Die Frage des Religionsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2. Der Ombudsmann und die Abrechnungen mit dem alten System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 VI. Resümee der ersten Amtszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 VII. Feci quod potui faciant meliora potentes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Der Ombudsmann im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Mehr als nur eine Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

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I.  „Ein Weib auf dem Kerzenleuchter“ – Eine missverstandene Institution Diesen Titel gab die erste Ombudsfrau1 Polens, Ewa Łe˛ towska, nach dem Ende ihrer Amtszeit einem Buch,2 in dem sie ihre vierjährige Amtszeit als Beauftragte für Bürgerrechte mit direkter und zugleich wissenschaftlicher Diktion resümierend auf den Punkt brachte. Mit dem Wort „Weib“ provozierte Łe˛ towska ganz bewusst und forderte diejenigen heraus, die an ihren Kompetenzen, ihrer Durchsetzungskraft sowie am Sinn des von ihr bekleideten Amtes zweifelten. Einen solchen Buchtitel konnte sich nur jemand erlauben, der das Amt des Ombudsmannes in Polen ganz wesentlich mitgestaltet hatte. „Ein Weib auf dem Kerzenleuchter“ soll zwei Aspekte ausdrücken: Zum einen die anfängliche Irritation, die einer langsamen Gewöhnung an das Amt wich – ein Amt, das zunehmend Vertrauen unter den Bürgern gewann und schließlich allgemeine und weitgeteilte Anerkennung erfuhr. Zum anderen soll das Zitat den Finessenreichtum der Ausdrucksweise von Łe˛ towska unterstreichen, deren direkte und humorvolle Art bei gleichzeitiger Unnachgiebigkeit das Amt von Anbeginn an prägte. Die erste Ombudsfrau sorgte bei den zwischen 1987 und 1992 amtierenden Regierungen wohl für etwas Verwirrung, denn in der Zeit der politischen Polarisierung erwies sie sich als eine unpolitische Wächterin der Menschenrechte. Sie selbst meinte, dass „ein Ombudsmann, der von der Regierung gemocht wird, seinen Sinn verfehlt“.3 Irritierend begann die erste Amtszeit des Bürgerrechtsbeauftragten, denn mit Gesetz vom 15. Juli 19874 wurde ein Organ ins Leben gerufen, das unverständlich und unpassend für das damalige sozialistische Staatssystem Polens war. Man hätte meinen können, dass in Folge des lahmenden Demokratisierungsprozesses, der damals noch von der PZPR5 getragen wurde, eine Einrichtung entstand, die nicht nur abseits der traditionellen Gewaltenteilung stehen würde, sondern auch nur einen Anschein der Verbesserung der Menschenrechtslage geben sollte. Für die Spitze der Institution wählte der von systemkonformen Abgeordneten dominierter Sejm eine Juraprofessorin, die weder politisch engagiert noch bekannt war. Die Institution war voller Gegensätze. Sie war als eine „Fassadeinstitution“, wie Łe˛ towska ihre Einrichtung in der Anfangsphase nannte, gedacht, doch wurde sie zu einer führenden Rechtsschutzbehörde in einem Staat, der eine marxistische Ideologie in seiner Verfassung verankert hatte. Sie war eine Behörde, die mit den Stimmen des kommunistischen Parlaments eingerichtet wurde und trotzdem nach dem demokratischen Umbruch inhaltlich und personell unverändert weiter geführt werden 1   Die Begriffe „Ombudsmann“, „Beauftragter für Bürgerrechte“, „Bürgerrechtsbeauftragter“ werden folgend in der männlichen Form verwendet, wenn es um das Organ als solches geht. An Stellen, wo der persönliche Bezug zum Amt im Vordergrund steht, wird die weibliche Form verwendet. Die polnische Verfassung des Jahres 1997 verwendet für die Bezeichnung der Ämter nur die männliche Form, insofern ist diese Form ein Verfassungsbegriff, der zur Rechtssprache gehört. 2   E. Łe˛ towska, Baba na s´wieczniku, Warszawa 1992. 3   E. Łe˛ towska, Jak zaczynał Rzecznik Praw Obywatelskich, Łódz´ 1992. 4   Ustawa z dnia 15 lipca 1987 o Rzeczniku Praw Obywatelskich Dz.U. z 1987r. Nr 21, poz. 123 (Gesetz vom 15. Juli 1987 über den Bürgerrechtsbeauftragten, Dz. U. 1987 Nr.: 21 Pos. 123). 5   Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – Polnische Vereinigte Arbeiterpartei.

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konnte. Der Bürgerrechtsbeauftragte wurde als eine Bürgerrechtsüberwachungs­ behörde konstruiert, dem aber keine hoheitlichen Kompetenzen im eigentlichen Sinne zustanden. Trotz dieser Mängel gewährte das Amt eine gewisse „Macht“ über die anderen Staatsorgane, eine Macht deren Grundlagen in der Unabhängigkeit, Transparenz und Bürgernähe zu sehen ist. Inwiefern prägte Łe˛ towska mit ihrer Charaktereigenschaften die Institution? Wie hat sie die Gunst der Stunde des politischen Wandels der Jahre 1989/1990 für die Stärkung der Menschenrechte genutzt? Diese Frage findet keine eindeutige Antwort. Nach einer Betrachtung ihrer Amtszeit lässt sich aber festhalten, dass die Institution des Ombudsmannes in Polen ganz wesentlich zur Stärkung des Rechtsstaates geführt hat. Dank flexibler und schlussendlich recht umfangreicher Kompetenzen, die durch die Entschlossenheit und Überparteilichkeit der ersten Ombudsfrau effektiv zur Anwendung kamen, hat sich das Organ in der Umbruchsphase behauptet und als zukunftsfähig erwiesen, was auch an dem allmählichen, aber ständigen Kompetenzzuwachs durch die späteren Novellen des Ombudsmanngesetzes zu sehen ist. Die gesetzlichen und praktischen Grundlagen der Institution haben sich im Verfassungssystem Polens innerhalb den ersten Jahren der Demokratie so stark verwurzelt, dass, wie Lech Garlicki6 meint, bei allen Kontroversen um die polnische Verfassung von 1997 eine Sache über alle politischen Lager hinaus klar war: Der Ombudsmann musste im Wesentlichen so bleiben, wie er durch das Gesetz vom 15. Juli 1987 geformt worden war7 und zwar mit seiner Unabhängigkeit von den Staatsgewalten und ausgestattet mit Kontrollmaßnahmen der Bürgerrechtsbefolgung nicht nur gegenüber staatlichen Organen im eigentlichen Sinne. Im Folgenden geht es um die Entstehungsgeschichte dieser Behörde, deren Sinn anfangs unverständlich schien oder sogar missverstanden wurde, die sich jedoch dank der Professionalität und Entschlossenheit ihrer ersten Amtswalter weder instrumentalisieren noch in die politische Kampf hineinziehen ließ, und sich zu einer Antriebskraft des polnischen Rechtsstaates entwickelte.

II.  „Eine Kandidatin aus der Schubkarre“ – Die politischen Hintergründe der Wahl Ewa Łe˛ towskas Die Entstehung des Beauftragten für Bürgerrechte in Polen muss in einem breiteren Kontext der Krise der sozialistischen Systems in den 1980er Jahre gesehen werden. Sie zeigt sich nicht nur in den gesellschaftlichen Unruhen, sondern auch in der Gesetzgebung und Rechtspraxis dieser Periode.8 Schon in den 1970er Jahre gab es Tendenzen in der PZPR, die zur Demokratisierung des realen Sozialismus führen soll  Lech Garlicki (geb. 1946), Verfassungsrechtler der Universität Warschau, 1981–1987 Direktor des dortigen Instituts für Staats- und Rechtswissenschaft, 1987 ordentlicher Professor, 1993–2001 Richter des polnischen Verfassungsgerichtshofs, seit 2002 Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 7   L. Garlicki, Polskie prawo konstytucyjne zarys wykładu, Warszawa 2005, S.  414. 8   Dazu etwa: L. Garlicki, Vier Jahre der Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, JöR 39 (1990), 285; I. Malinowska, Rzecznik Praw Obywatelskich w systemie ochrony praw i wolnos´ci w Polsce, Warszawa 2007, S.  109–119; A. Deryng, Rzecznik Praw Obywatelskich jako wnioskodawca w poste˛ powaniu przed Trybunałem Konstytucyjnym, Warszawa 2013, S.  47–53. 6

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ten. Der schwere Rückschlag, der durch die Einführung des Kriegsrechts in den Jahren 1981 und 1982 erfolgte, hat die etwas liberaleren Strömungen in der Partei und in der Gesellschaft gehemmt.9 Die Parteispitze begriff aber, dass das Regieren mit dem Marschall Law kurzsichtig war und zu verheerenden Folgen sowohl gesellschaftlicher und wirtschaftlicher als auch politischer Art führen musste. Deswegen entstand 1982 PRON10, eine von den konzessionierten Parteien11 und sämtlichen gesellschaftlichen Bewegungen (auch denjenigen, die der katholischen Kirche nahe standen) getragene „Plattform“, die nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus patriotischen Beweggründen die Regierung unterstützen sollte. PRON sollte die Gesellschaftsbasis der Arbeiterpartei darstellen und sie unterstützen. Diese Organisation hatte vor allem machtlegitimierende Bedeutung und trug nicht zur Demokratisierung und zur Förderung des Rechtstaates im westlichen Sinne bei. Doch aus den Kreisen von PRON im Sejm kam 1984 der Vorschlag, eine Institution des „Wächters der Bürgerrechte“ einzuführen.12 Die Institution des Ombudsmannes, die sich daraus entwickelte und in Polen „Rzecznik Praw Obywatelskich“ heißt , wurde einerseits als ein Staatsorgan gedacht, das im Westen schon aufgrund seiner Bezeichnung „Ombudsmann“ positive Assoziationen wecken konnte, vor allem weil das Amt des Ombudsmannes im westlichen Schweden entstand; andererseits sollte es innenpolitisch nur den „Anschein der Möglichkeit, sich gegen die Staatsmacht zu stellen“, erwecken.13 In den juristischen Kreisen wurde die neue Initiative eher mit Vorbehalt, wenn nicht mit Widerwillen gesehen. Die gemäßigten Stimmen unterstrichen, dass der Ombudsmann die Lage der Bürgerrechte zumindest nicht verschlechtern werde.14 Diese Meinungen konnten sich durchsetzen, weil schon andere Organe, die der beschränkten Überprüfung des Verwaltungshandelns dienten, entstanden waren und man eine Konkurrenz zwischen ihnen befürchtete: Zum einen wurde mit dem Gesetz vom 31. Januar 1980 die öffentliche Verwaltung der gerichtlichen Kontrolle ausgesetzt durch die Einrichtung des Hauptverwaltungsgerichts, das die Verwaltungsakte in bestimmten Bereichen (z.B. außerhalb des Militärs) auf Rechtsmäßigkeit überprüfen durfte.15 1982 entstand zudem der Staatsgerichtshof,16 der die verfassungsrechtliche Verantwortung der Staatsfunktionäre vollziehen sollte, jedoch nie eine besondere Bedeutung erlangte. Darüber hinaus 9   S. Kwiatkowski, Od konsultacji do demokracji, [in:] M.F. Rakowski (Herausgeber), Polska pod rza˛dami PZPR, Warszawa 2000, S.  431–438. 10   Patriotyczny Ruch Odrodzenia Narodowego – Patriotische Bewegung für nationale Wiedergeburt. 11   In der Volksrepublik Polen existierten drei politische Parteien, die im Parlament Sitze hatten, PZPR – Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei), der eine nach der Verfassungsnovelle vom Jahr 1975 „führende Rolle“ zustand, ZSL – Zjednoczone Stronnictwo Ludowe (Vereinigte Bauernpartei) und SD – Stronnictwo Demokratyczne (Demokratische Partei). 12   J. S´wia˛tkiewicz, Rzecznik Praw Obywatelskich w polskim systemie prawnym, Warszawa 2001, S.  25. 13   Ibidem S.  25. 14   Ibidem S.  25. 15   Ustawa z dnia 31 stycznia 1980 r. o Naczelnym Sa˛dzie Administracyjnym oraz o zmianie ustawy – Kodeks poste˛ powania administracyjnego, (Gesetz über Hauptverwaltungsgericht und Änderung der Verwaltungsverfahrensordnung), Dz.U. 1980 Nr.  4 Pos. 8. 16   Ustawa z dnia 26 marca 1982 r. o Trybunale Stanu, (Das Staatsgerichtshofgesetz), Dz.U. 1982 Nr.  11 Pos. 84.

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wurde 1985 der Verfassungsgerichthof ins Leben gerufen17, zwar mit nur begrenzten Befugnissen zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (so wurde z.B. keine Verfassungsbeschwerde vorgesehen, außerdem konnten die Urteile durch den Sejm mit einer Zweidrittel-Mehrheit außer Kraft gesetzt werden); dennoch verschaffte er sich einige Bedeutung. Damit wurde das für autoritäre Regime typische Verfassungsprinzip der Einheitlichkeit der Staatsgewalten allmählich gelockert und der Weg zum Rechtstaat vorbereitet. Der Ombudsmann, der den Kreisen der PZPR entsprang und augenscheinlich in die Kompetenzen der Gerichte eingriff und damit abseits der traditionellen westlichen Gewaltenteilung stand, war vielen oppositionellen Reformatoren verdächtigt, genauso wie den PZPR-Konservativen, die in ihm die nächste Stelle sahen, die der Schwächung der Staatsmacht dienen sollte. Diese Argumente wurden von den Gegnern des Amtes bzw. der ersten Amtswalterin, von Seiten des alten Establishments und später auch noch der ersten schon demokratisch gewählten Regierungen sowie der Presse oft erhoben18.

1.  Die Wahl durch den Sejm Jedenfalls wurde das Ombudsmann-Gesetz am 15. Juli 1987 verabschiedet. Anschließend begann die Suche nach einem Amtswalter. Die Frist wurde bis zur Sejm-Sitzung am 19. November 1987 gesetzt. Wie Łe˛ towska bemerkte, war die Suche nicht leicht. Der Konsens in der Regierungskreisen und in PRON umfasste folgende Eigenschaften des zukünftigen Bürgerrechtsbeauftragten: Er sollte Juraprofessor, nicht politisch engagiert und am besten eine Frau sein.19 Das Amt schien aber für die potenziellen Inhaber nicht sehr attraktiv. Zwar waren die Kompetenzen relativ weit und dennoch klar umrissen, doch die politische Atmosphäre um die Stelle war entmutigend. Die Ungewissheit der Zukunft der Behörde war spürbar, sowohl was die politische Perspektive anbelangt, als auch die Einflussmöglichkeiten auf die zaghaften demokratischen Reformen. Wie sie selbst erwähnt, kam der Vorschlag, für das Amt zu kandidieren, für Ewa Łe˛ towska überraschend.20 Im Herbst 1987 befand sie sich mit einem Forschungs­ stipendium in Westdeutschland, als ihr Mann sie anrief und ihr mitteilte, man bespreche in Regierungskreisen ihre Kandidatur. Mit entwaffnender Ehrlichkeit erwiderte sie: „Bist du wahnsinnig? Ich habe genug zu tun und keine Lust, mich damit

17   Ustawa z dnia 29 kwietnia 1985 r. o Trybunale Konstytucyjnym, (Das Verfassungsgerichthofgesetz), Dz.U. 1985 Nr.  22 Pos. 98. 18   Dazu etwa: L. Garlicki, Aktuelle Entwicklungstendenzen des Verfassungsrechts in Polen: Vortrag vor dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Saarbrücken, den 28. Oktober 1989, europa­ institut.de/fileadmin/schriften/178.pdf (Zugang: 28.10.2015); L. Garlicki, Der polnische Verfassungsgerichtshof in rechtsvergleichender Sicht, Osteuropa (32) 1986, S.  1–12; Der historische Hintergrund wird aus geschichtswissenschaftlichem Gesichtspunkt sehr lapidar, aber treffend von Norman Davies in seinem Buch: „Heart of Europe – The Past in Poland’s Present“ beschrieben. Deutsche Übersetzung: „Im Herzen Europas Geschichte Polens“, München 2000. 19   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  7. 20   Ibidem, S.  7.

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du beschäftigen“.21 Erst als ein Anruf vom Polnischen Konsulat in Köln kam, mit der Bitte, sich in Warschau vorzustellen, hat sie zugesagt. Łe˛ towska war in den politischen Kreisen bis dahin unbekannt. Der Vorschlag erfüllte zwar die inoffiziellen Richtlinien und schien der Parteienlinie günstig, doch war er eher auf die Schnelle vorbereitet und nicht im Sejm vorbesprochen. Das verdeutlicht den mangelnden Ernst, mit dem das Amt betrachtet wurde. Damals ließ sich von der Kandidatin nicht viel sagen: Ewa Łe˛ towska wurde 1940 in Warschau geboren, studierte an der dortigen Universität Rechtswissenschaften. Promotion und Habilitation erfolgten 1968 und 1975. Seit 1986 war sie an der Polnischen Akademie der Wisenschaften Professorin für Zivilrecht und Verbraucherrecht. Außeruniversitäre Tätigkeiten von Łe˛ towska konzentrierten sich auf ein Amt als Legislationsrätin bei der Regierung und auf der Föderation der Verbraucher.22 Von der Abstimmung am 17. November 1987 im Sejm und von der darauf folgenden Wahl hat sie unangenehme Erinnerungen: „Die Sejm-Sitzung begann und damit begannen auch schon die Probleme. Es war klar, dass ich als eine in der ‚Schubkarre gebrachte Person‘ niemandem bekannt war, außer den Wissenschafts- und Verbrau­ cher­schutz­m ilieus. Im politischen Leben habe ich nicht existiert – warum sollte ich auch? […] Alle Abgeordneten waren genervt, weil man ihnen im letzten Moment eine Kandidatin für den Beauftragten vorgestellt hat und zusätzlich auch nur eine einzige Kandidatin. Die Lage war unangenehm. Da rasteten Abgeordnete aus: Was soll das alles? Natürlich hatten sie vollkommen Recht. […] Die Lage entspannte sich etwas durch die Rede der Abgeordnete Krystyna Zielin´ska, die mich ein wenig aus der Verbraucherbewegung kannte und sich einigen Ansehens im Hohen Haus erfreute. Ich kann mich nicht genau an das Ergebnis der Abstimmung erinnern, doch wurde ich mit großer Mehrheit gewählt.“23 Das politische Mandat und die Unterstützung waren trotz der deutlichen Mehrheit sehr wackelig. Für die neue Insti­t ution war das ein schlechter Beginn, der keine günstige Prognose erlaubte. Das Sejm-­ Präsidium war froh, dass es seiner gesetzlichen Pflicht genügen und zur Wahl eine Kandidatin präsentieren konnte. Ernst wurde die Wahl auf der damaligen politischen Bühne nicht genommen. Die Lage, in der die erste Ombudsfrau in ihr Amt eingeführt wurde, war überdies angesichts der gesetzlichen Aufgaben zum Bürgerrechtschutz nicht besonders attraktiv. Die Machthaber schienen in Selbstzufriedenheit gerade angesichts einer Institution, die „auf dem Papier“ viel konnte, aber scheinbar nicht ernstgenommen werden musste. Der politische Wandel war noch nicht in Sicht. Man konnte zwar von einer langsamen Evolution des Herrschaftssystems in Polen ausgehen, aber der Ombudsmann schien dabei keine Hauptrollen spielen zu können. Gegen diese Einstellung nahm Ewa Łe˛ towska das Amt an und sogleich die Menschenrechtschutzaufgabe in Angriff - eine Angelegenheit, die trotz ihrer Brisanz, in der allgemeinen Wahrnehmung in Polen damals weit ab von allen denkbaren politischen Metamorphosen lag.

  Ibidem, S.  7.   Ein Verein, der sich seit 1981 mit dem Verbraucherschutz in Polen beschäftigt. 23   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  8. 21

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2.  Die ersten Reaktionen Damit begann die Geschichte des Bürgerrechtsbeauftragten in der Volksrepublik ­Polen. Die Wahl wurde später von den Widersachern Łe˛ towskas als undemokratisch kritisiert, was sie auch nie bestritt.24 Mit der Wahl hörten die Vorwürfe zur undemokratischen Provenienz des Amtes nicht auf. Von der Parteispitze beginnend, über die Opposition, Wissenschaft, Justiz, Verwaltung, Presse bis zur katholischen Kirche: alle hatten eine andere Vorstellung, wie das Amt des Beauftragten ausgeübt werden sollte. Eine allgemeine Dissonanz zwischen den Erwartungen und der Realität war spürbar. All dies musste endlich zu Konflikten und Missverständnisse führen. Diese Konflikte haben die Institution weitgehend geprägt. Vor allem die Medien wollten die Ombudsfrau zu allgemeinen Aussagen und Deklarationen zwingen, um sie politisch zu platzieren und zu instrumentalisieren. Von Anfang an hat Łe˛ towska dies aber vermieden, konzentrierte sich auf die gesetzlichen Aufgaben und nicht auf die große Politik. Sie erinnert sich: „Meine Bekannten haben ihre Verblüffung nicht verbor. gen. Marek Rymuszko, ich kannte ihn seit Jahren vom, Prawo i Zycie‘25 meinte: ich wundere mich, warum Sie das Amt angenommen haben. Ich habe ihn gesagt: Warten Sie ab! Dabei habe ich gedacht: ich will unbedingt etwas daraus machen. Ich hatte (und habe immer noch) keinen Augenblick am Fassadencharakter des Amtes gezweifelt. Ich habe das auch nie verborgen - wie konnte ich mich da täuschen, wenn man auf so unernste Art und Weise nach einer Kandidatin sucht und vor der Wahl niemand mit ihr ernsthaft reden will?“26 Sie ergänzte: „Wenn ich die spätere Lageentwicklung hätte vorhersehen können, hätte ich wahrscheinlich die Funktion nicht angenommen, aus einem ganz einfachen Grund: aus persönlichen Angst.“27 Aus heutiger Sicht klingt dies überraschend, denn der Ombudsmann war von Anfang an mit wichtigen Befugnissen ausgestattet. Man musste tatsächlich noch ein wenig abwarten. Weder dem Amt noch der Amtswalterin gegenüber brachte irgendjemand Optimismus auf, schon gar nicht das politische Milieu, in dem sie sich jetzt bewegen musste.

III.  Die gesetzlichen Kompetenzen des Ombudsmanns in der Volksrepublik Polen und ihre Umsetzungsmöglichkeit Wie schon erwähnt, führte die Volksrepublik Polen schon in den 1980er Jahren die vier wichtigsten Institutionen ein, die mittelbar oder unmittelbar dem Schutz der in der Verfassung und anderen Gesetzen niedergeschriebenen Bürgerechte dienen sollten. Chronologisch waren das der Verwaltungsgerichthof (1980), der Staatsgerichtshof (1982), der Verfassungsgerichthof (1985) und am Ende der Bürgerrechtsbeauftragte (1987). Diese Institutionen wurden nicht ins System der alten Staatskontrollorganen eingebettet, das aus der Höchsten Kontrollkammer (die rechnungshofähnliche   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  70.   Eine juristische Zeitschrift, erschien von 1956 bis 2000. 26   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  9. 27   Ibidem, S.  13. 24

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Funktionen ausübte), der Staatsanwaltschaft (die „die Volksrechtsmäßigkeit überwachen sollte“28 ) und den Petitionsbüros bei allen Behörden (die als Ersatz für die Kontrolle der Rechtsmäßigkeit der Verwaltung bereitstanden) bestanden. Diese Fülle angeblicher Bürgerrechtsschutzmechanismen steigerte aber nicht unbedingt das Schutzniveau für den Einzelnen. Das Prinzip der Einheitlichkeit der Staatsgewalt hat stattdessen Interessenkonflikte hervorgerufen und förderte den Opportunismus im delikaten Bereich der Bürgerrechte, denn alle Schutzmechanismen waren in der Exekutive verankert und ideologisch beeinflusst. Erst die sich emanzipierende Judika­ tive erhob sich dank der in der Verfassung verankerten richterlichen Unabhängigkeit29 sowie der Schwächung der Position der PZPR allmählich über das herrschende Prinzip und führte so zu ersten Ansätze einer Gewaltenteilung und zur Steigerung der Effektivität der Rechtschutzorgane. Durch sie entstanden die ersten Institu­ tionen, die Verfahrensgarantien schützen sollten und es blieb nicht nur bei materiellrechtlichen Garantien, wie sie für die marxistischen Staaten typisch waren.30 Die in den 1980er Jahren eingeführten Institutionen bedingten daher eine neue Generation von Rechtschutzorganen. Ihre Besonderheit bestand vor allem in der Unabhängigkeit von der Exekutive, also praktisch in der Unabhängigkeit von der Partei. Die neuen Rechtsschutzorgane verfolgten das Ziel der Kontrolle der Verwaltung, die früher äußerst begrenzt nur auf dem Zivilrechtsweg über Schadensersatzverfahren möglich war. Doch die angesprochenen Zusammenhänge rückten die neue Institution des Ombudsmannes in ein ambivalentes Licht. Einerseits sollte der Ombudsmann ein Rechtschutzorgan sein, andererseits war er als ein „Ein-Personen-Organ“ verschiedenen Versuchen der Beeinflussung ausgesetzt, wie Tadeusz Zielin´ski31 bemerkte: „Die Echtheit des besprochenen Amtes [tatsächliche Umsetzung der durch das Gesetz ­g arantierten Kompetenzen] hängt von den persönlichen Eigenschaften des Ombudsmannes ab“.32 Als weiteres Problem erwies sich seine scheinbare Platzierung außerhalb der traditionellen Gewaltenteilung.33 Der Ombudsmann wurde zwar mit „vie-

  Art.  3 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft der Volksrepublik Polen (Ustawa z dnia 20 czerwca 1985 r. o Prokuraturze Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej), Dz.U. 1985 Nr.  31 Pos. 138. 29   Der Wiederspruch des Prinzips der Einheit der Staatsgewalt und der Unabhängigkeit der Richter wurde mehrmals in der Fachliteratur der Volksrepublik Polen erörtert. Siehe etwa: L. Garlicki, (Fn.  8 ); S. Gebethner, Przesłanki ustanowienia Rzecznika praw obywatelskich w Polsce [in:] L. Garlicki (Herausgeber) Rzecznik praw obywatelskich, Warszawa 1989, S.  29–45. 30   S.Gebethner, (Fn.  29), S.  39. 31   Tadeusz Zielin´ski (1926–2003), Professor für Arbeitsrecht an der Schlesischen Universität in Kattowitz (1969–1981) und der Jagiellonen Universität in Krakau (1982–1996), Senator (1989–1991), Ombudsmann (1992–1996), Minister für Arbeit und Soziales (1997). 32   T. Zielin´ ski, Ombudsmann – Möglichkeiten und Grenzen der Tätigkeit, Warszawa 1994. S.  85. Auch andere Autoren betonen dieses Element der polnischen Ombudsmann-Tradition, etwa A. Gajda, Kierunki rozwoju instytucji Rzecznika Praw Obywatelskich w Polsce, Warszawa 2013, S.  135., A Zoll, Rzecznik Praw Obywatelskich – zadania konstytucyjno-prawne oraz funkcje publiczne w zakresie wspierania społeczen´stwa obywatelskiego w Polsce, www.rpo.gov.pl/pliki/1149066257.doc (Zugang: 16.10.2015). 33   Scheinbar, weil der Ombudsmann über keine Hoheitsmittel verfügt, sondern lediglich Kontrollund Überprüfungsmaßnahmen ergreifen kann. E. Łe˛towska nannte das Organ einmal „einen Hund, der zwar laut bellen kann, aber keinen beißen darf “. 28

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len Waffen“ für die Duelle um Bürgerrechte ausgestattet, deren Umsetzung aber von den faktischen und politischen Umständen abhing. Die Einrichtung des Ombudsmannes in der ursprünglichen Form war zur „Stärkung der sozialistischen Rechtsmäßigkeit und Schaffung von weiteren Garantien des Schutzes der Rechte und Freiheiten der Bürger“34 bestimmt. „Der Bürgerrechts­ beauftragte überwacht die Rechte und Freiheiten der Bürger, die in der Verfassung der Volksrepublik Polen und anderen Rechtsakten niedergeschrieben worden sind.“35 Er sollte überprüfen, ob in Folge der Tätigkeit oder Niederlassen eines Organes, einer Organisation oder Institution, die zur Befolgung der Bürgerrechte verpflichtet sind, zu keinen Wiederhandlungen gegen das Recht oder Prinzip des gesellschaft­ lichen Zusammenlebens und gesellschaftlichen Gerechtigkeit gekommen ist. Diese Aussage wurde bis heute im Gesetz beigehalten. Der Ombudsmann wurde durch den Sejm auf Vorschlag der schon angesprochenen Organisation PRON gewählt. Der Kandidat musste ein polnischer Staatsbürger sein, der sich mit hervorragendem juristischem Wissen, beruflichen Erfahrung und sozialen Engagement auszeichnet, sich aufgrund seiner moralischen Qualitäten und sozialen Sensibilität allgemeiner Anerkennung erfreut. Der Ombudsmann erhielt auch eine Art parlamentarischer Immuni­ tät: Ohne Zustimmung des Sejm durfte er nicht festgenommen werden, und er genoss eine quasi-richterliche Unabhängigkeit, soweit es um seine Aufgabenerfüllung ging; zudem war die Möglichkeit seiner Abwahl erheblich begrenzt. Der damalige Gesetzgeber stattete das neue Amt mit relativ umfangreichen Kompetenzen aus, was in anderen Ländern, die das Amt des Ombudsmannes kennen, ohne Beispiel war.36 Laut Gesetz konnte der Ombudsmann sowohl aus eigener Initia­ tive als auch auf Antrag tätig werden. Es genügte ein formloser Antrag; Gebühren fielen nicht an. Zielin´ski teilt die Kompetenzen in folgende drei Gruppen ein: Rechtsmittel, parlamentarische Mittel und Kontroll- und Verwaltungsmittel.37 (1) Die erste Gruppe umfasste Anträge an den Verfassungsgerichtshof auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder der Nichtvereinbarkeit eines Normativaktes niedrigeren Ranges mit der Verfassung bzw. mit dem Gesetz sowie Anträge auf Feststellung einer allgemeingültigen Verfassungsauslegung.38 Zu dieser Gruppe zählten außerdem Gesuche an das Oberste Gericht mit den Anträgen auf Beschlussfassung zur Klärung einer Rechtsvorschrift, die in der Praxis Zweifel auf kommen lässt bzw. deren Anwendung zur Diskrepanz in der Praxis führen würde. Darüber hinaus sind noch Anträge auf außerordentliche Revisionen bei bereits rechtskräftigen Gerichtsurteilen zu erwähnen.39 (2) Die Gruppe der parlamentarischen Mittel umfasste die Anträge 34   Präambel zum Gesetz über den Bürgerrechtsbeauftragten in der ursprünglichen Fassung, (Dz.U. 1987 Nr 21 Pos. 123). 35   Art.  1 Abs.  2 Gesetz über den Bürgerrechtsbeauftragten in der ursprünglichen Fassung. 36   J. S´wia˛tkiewicz, (Fn.  12), S.  24. 37   T. Zielin´ ski, (Fn.  32), S.  98. Siehe auch: Z. Jarosz, Ustawa o rzeczniku praw obywatelskich, in: L. Garlicki, (Fn.  29), S.  46–65. 38   Diese Kompetenz kam erst nach der Wende und blieb bestehen bis die Verfassung von 1997 in Kraft trat. 39   Heute kann sich der Ombudsmann an allen verwaltungs-, straf- und zivilgerichtlichen Verfahren beteiligen. Außerdem kann er Kassationsverfahren vor dem Höchsten Gericht und Hauptverwaltungsgericht einleiten.

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auf Gesetzgebungsinitiative an die entsprechende Organe, die die Kompetenz besaßen, Gesetzesentwurfe dem Parlament vorzulegen. Diese Kompetenz war und bleibt bis heute eine lex imperfecta, da die Organe nicht verpflichtet sind, dem Ersuchen des Ombudsmannes zu folgen; sie werden aber als wichtige Impulse gesehen. Schließlich umfasste diese Gruppe auch Gesuche an sämtliche außergerichtliche Organe. Diese Art „soft law“ darf nicht unterschätzt werden. Zielin´ski bemerkt dazu,40 die größte Bedeutung haben gerade diese Rechtsmittel, denn sie wenden sich direkt gegen konkrete Machtakte. (3) Auch die Kontroll- und Verwaltungsmittel der dritten Gruppe waren nicht zu unterschätzen, weil hier vor allem die argumentative Geschicklichkeit und Durchsetzungskraft des Ombudsmannes zum Einsatz gelangte. Die Organe, an die die Gesuche gerichtet wurden, waren zwar nicht verpflichtet, den Hinweisen und Bemerkungen des Ombudsmannes zu folgen, sie waren jedoch verpflichtet, auf sie zu antworten. Schon das aber hat oft zu Bedenken hinsichtlich der Rechtsmäßigkeit der vom Ombudsmann kritisierten Vorgänge und zur Änderung der ursprünglichen Schritte geführt. Trotz der ziemlich breiten Skala an Kompetenzen und Mitteln war für Łe˛ towska der Auftakt als Ombudsfrau nicht einfach. Sie erinnert sich, dass sie am Anfang ihrer Amtszeit niemand ernst genommen hat.41 Es kam anfangs häufig vor, dass Entscheidungsträger sie missachteten.42 Das Amt des Ombudsmanns musste sich erst etablieren und emanzipieren, sowohl im Bewusstsein der Gesellschaft, als auch der Verwaltung und Regierung. Diese Wirkungsbedingungen konnte das Gesetz nicht dekretieren; sie hingen vom Ombudsmann selbst ab. Die Abhängigkeit der Effektivität des Amtes von den persönlichen Eigenschaften seines Amtswalters kann sowohl positiv als auch negativ bewertet werden. Mit dem Legalitätsgesichtspunkt argumentiert z.B. Łe˛ towska und kritisiert die Verknüpfung von Effektivität mit Persönlichkeit; doch aus der Zeitperspektive eines inzwischen 27 Jahre alten Amtes findet man überraschend viele positive Beispiele, wie die Wahrnehmung der Aufgaben einhergeht mit persönlichen Eigenschaften der Ombudspersonen in Polen. Man sollte freilich erwähnen, dass die neue Behörde institutionell ein unschätzbares Glück hatte, das sich mit juristischen Maßstäben und Werkzeugen nicht messen und nicht lenken lässt.   T. Zielin´ ski, (Fn.  32), S.  83 ff.   E. Łe˛towska, (Fn.  2 ), S.  46. 42  Łe˛towska zählt die Fälle auf. Die unbeantworteten Gesuche durch den ehemaligen Premierminister M.F. Rakowski und später von Politikern, die vom Kreis der „Solidarnos´c´“-Bewegung kamen. (Łe˛towska, [Fn.  2 ], S.  32 ff.); auch die Briefe an die Kirchenhierarchie, z.B. Primas Józef Glemp, blieben ohne Antwort, wahrscheinlich wegen des Konflikts um die Einführung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen – dazu noch unten. Eine interessante Anekdote bringt E. Łe˛towska vom Treffen mit dem damaligen Innenminister General Czesław Kiszczak. (Łe˛ towska, [Fn.  2 ], S.  47) „Er sagte zu mir: In einer Sache müsse ich komplett schweigen, nämlich zu den Nachrichtendiensten. [Die Nachrichtendienste standen schon gesetzlich außerhalb der Prüfungskompetenzen des Ombudsmannes. JM] Ich dachte mir: Oh Gott, er will mich wie ein kleines Mädchen damit beeindrucken oder besser gesagt: angeben. Deswegen habe ich geantwortet: Herr Kiszczak, glauben Sie überhaupt daran, dass ich Sie danach fragen und Sie mir dann die Wahrheit sagen würden? So aber war der Maßstab der Behandlung meiner Person. Ich sage das nicht erbittert, denn es war verständlich. Ich fand es aber einfach lächerlich.“ Es gab noch andere Angriffe, vor allem von Seiten der Presse, zunächst aus den Parteikreisen, später auch aus den Oppositionsmilieus, die mit der angeblich von der Ombudsfrau geführten Politik unzufrieden waren. 40 41

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IV.  Die Wahrnehmung des Bürgerbeauftragten in der Volksrepublik Polen Die allgemeinen Aussagen des damaligen Gesetzgebers, die sich in den Aufgabennormen im Gesetz vom 15. Juli 1987 wiederfanden, gaben wiederholt Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen der Ziele des Ombudsmannes.

1.  Der Ombudsmann und die Bürger „Pausenlos muss ich wiederholen, dass ich niemandes Interessen verteidige und noch mehr, obwohl ich weiß, dass es schockierend klingen wird, verteidige ich nicht einmal die Gerechtigkeit an sich; als Idealfall höchstens, weil jemand irgendwo leidet. Ich verteidige vielmehr die Menschenrechte, die aus der Tatsache herzuleiten sind, dass jemand ein Staatsbürger eines Staates ist, in diesem Fall ein Pole. Das ist meine Aufgabe. Bestenfalls darf der Bürgerechtbeauftragte die maximal bürgerfreundliche Auslegung der Gesetze anwenden. Die Gerechtigkeit, oder sagen wir mal so, das Gerechtigkeitsgefühl soll jedoch nie eine Universalmethode für den Beauftragten darstellen. […] Müsste der Ombudsmann nach reiner Gerechtigkeit handeln, so hätte ich einfach die Anweisungen befolgen, d.h. alle Postulate zu erfüllen, die in den an mich adressierten Briefen niedergeschrieben sind. […] In der Wirklichkeit sind die Menschen im Stande, alles als ihre Bürgerrechte anzuerkennen. Es ist manchmal schwer darzulegen, dass das Recht, glücklich zu sein, kein Bürgerrecht darstellt.“43

Die schier unbegrenzte Auslegungsmöglichkeit des Gesetzes weckte in nahezu allen Gesellschaftssichten Erwartungen gegenüber der neuen Institution. Die Regierungskreise unterstrichen, der Ombudsmann sollte „bezeugen, dass [seine] Reformschritte keine Parolen sind und [soll] der Regierung auf die Hände schauen.“44 Die Opposition wollte dagegen im Ombudsmann einen Verbündeten sehen, der die schon in Gang gesetzten politischen Umwälzungen unterstützen sollte. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft war durch die Petitionsbüros geprägt. Diese in fast allen staatlichen Institutionen in den 1950er Jahren eingerichteten Stellen dienten der Annahme von Petitionen unzufriedener Bürger. Sie sollten als eine Art Verwaltungskontrolle fungieren. In der Tat waren sie aber bloße Briefredaktionen, weil sie weder mit Aufsichts- noch mit Kontrollmitteln ausgestattet waren. Die Petitionsbüros dienten also eher als gesellschaftliche Jammerstellen oder Instanzen der letzten Hoffnung auf ­Erledigung einer Sache, und nicht als fundierte Kontrollorgane der Verwaltung. Sie erfreuten sich deswegen keines guten Rufs, weil sie erstens keine Akte der öffent­ lichen Gewalt auf heben konnten (und das auch nicht wollten, denn die damals herrschende Meinung ging von der Beständigkeit der Verwaltungsakte aus und der ­Unmöglichkeit, sie durch externe Organe aufzuheben). Zweitens unterstanden sie meistens unmittelbar der Behörde, deren Entscheidung beklagt wurde, so dass eine rechtmäßige Beendigung der Sache nicht in ihrem Interesse war. Der Bürgerrechtsbeauftragte ist im Gegensatz zu den Petitionsbüros und Gerichten ein monokratisches Organ. Die Person des Amtswalters steht für das Amt als   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  32–33.   M.F. Rakowski, Dzis´ 7/1991.

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Ganzes, anders als bei den aus mehreren Mitgliedern zusammengesetzten Gremien wie z.B. dem Verfassungsgerichtshof oder dem Hauptverwaltungsgericht. Für den durchschnittlichen Bürger verfügt der Ombudsmann über einschneidendere Kompetenzen als ein Gericht. Außerdem spielt die in den vielen autokratischen Gesellschaften präsente Neigung eine Rolle, Sachen persönlichen zu erledigen. Weithin dachte man, der Ombudsmann könne kraft seines Amtes alles erledigen, was sich der Einzelne wünscht, man müsse ihn nur von seinem Anliegen überzeugen. Dieser Aspekt, das individuelle Prestige und Vertrauen auf die persönliche Durchsetzungs­ fähigkeit des Ombudsmannes ist bei der Betrachtung der Entwicklung des Amtes nicht wegzudenken und hatte auch einen positiven Einfluss auf das Bild des Ombudsmannes in der breiten Öffentlichkeit: Es wurde eher die Person und nicht ein herzloses Amt wahrgenommen. Diese Neigung ist in Polen noch immer verbreitet, wenn auch inzwischen in schwächerer Form. Im ersten Amtsjahr erreichten den Ombudsmann fast 45.000 Briefe.45 Viele waren nur ein Ausdruck der Verbitterung der Bürger und gaben dem Ombudsmann keinen Anlass, tätig zu werden.46 Einige waren auch politisch motiviert und zielten auf die Einbeziehung in ideologische Auseinandersetzungen.47 Die oft durch die Presse induzierte Wahrnehmung des Ombudsmannes als „Wächter der Gerechtigkeit“ verbunden mit dem eingebürgerten Bild des Brief büros hatte zur Folge, dass sich langsam ein Enttäuschungsgefühl in der Gesellschaft verbreitete. Die mangelnde Rechtskultur bewirkte, dass die Bürger den Ombudsmann wie einen privaten Anwalt betrachtet haben. Viele Briefe enthielten die Bitte, etwas für den Absender zu erledigen. „Wir warten bis die Behörde alle unsere Probleme löst“48 beklagte sich 1988 Łe˛ towska in einem Feuilleton.49 Die Unbeholfenheit in der Gesellschaft und mangelndes Bewusstsein über die Pflichten und Rechte führten zur Überschwemmung des Büros des Bürgerrechtsbeauftragten mit Eingaben und Anliegen. Die primäre Aufgabe hingegen bestand (und besteht immer noch) darin, Petenten Rechtsberatung zu gewährleisten. Die Erwartungshaltung vieler Briefschreiber lähmte das Büro und frustrierte die Mitarbeiter. Mit seinen knappen Ressourcen konnte der Bürgerrechtsbeauftragte nur bedingt wirken. Im Oktober 1988 beschrieb Łe˛ towska die Stimmung in der Gesellschaft und zitierte ihren schwedischen Amtskollegen Nobel: „[Die Leute] hoffen, dass der Ombudsmann Wunder bewirkt, dass er mit seinem Feuerschwert der Gerechtigkeit sofort das ganze seit Jahrzehnten gewachsene Unrecht wiedergutmacht; sie hoffen, dass wir den Beschwerdeführern ihre Würde vor aller Augen zurückgeben und zugleich ihre Feinde demütigen, die sie um Gnade bitten sollten. Diese Leute denken, dass sich der Ombudsmann in jedem Konflikt persönlich engagieren und als privater Anwalt und Berater die Gerechtigkeit wiederherstellen soll wie ein Herrscher, der durch keine Gesetze gebunden ist. […] Die Pflicht solche Hoffnungen zu enttäuschen entmutigt einen, wenn 45   M. Zubik (Herausgeber), Ksie˛ ga XX-lecia Rzecznika Praw Obywatelskich w Polsce, Warszawa 2007, S.  130. 46   Beispielsweise die Beschlagnahme eines Pferdes durch die polnische Armee im Jahr 1939 und die darauf gerichtete Entschädigungsforderung. 47   Etwa die Frage zur Stellungnahme zur polnischen Exilregierung, die bis 1989 ihren Sitz in London hatte. 48   E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  6. . 49   E. Łe˛ towska, Pomóz sam sobie, (Helfe dir selbst [ JM]), Rzeczpospolita vom 13./14. Mai 1988.

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es uns nicht gelingt, Begriffe wie Unabhängigkeit der Gerichte oder Grundlagen der Justizverwaltung verständlich und ausreichend zu erklären. Dies ist auch für das Personal des Amtes demoralisierend, […] denn sie leiden auch oft unter dem aggressiven Ton der Antragsteller.“50

Der polnische Bürgerrechtsbeauftragte musste sich also mit ähn­lichen Problemen wie der Amtskollege in Schweden abmühen. An dieser Stelle muss die Geschicklichkeit von Łe˛ towska als erster Amtswalterin unterstrichen werden. Durch ihr konsequentes Beharren auf dem Legalitätsprinzip erkämpfte sie für das Amt Ansehen und Unabhängigkeit, auch ohne auf alle Wünsche der Petenten einzugehen.

2.  Zwischen Hammer und Amboss – Ombudsmann, Regierung und Opposition Nicht nur die mangelnde Rechtskultur war am Anfang der Amtszeit von Łe˛ towska ein Problem. Auch die Bestrebungen verschiedener Institutionen und Organisa­ tionen, das Amt zu instrumentalisieren und den Ombudsmann zu einem politischen Verbündeten zu machen, sorgten für Probleme. Sehr gut illustriert diese Situation ein von Łe˛ towska gebrauchtes Beispiel.51 Während der massiven Streikwelle 1988 wandten sich an die Bürgerrechtsbeauftragte Bergleute vom oberschlesischen Bergwerk „Manifest Lipcowy“, die angeblich durch die streikenden Kollegen am Zugang zu ihrem Arbeitsplatz gehindert worden waren, so dass ihr in der Verfassung verankertes Recht auf Arbeit verletzt wurde. Die „Trybuna Ludu“52 berichtete breit von den Arbeitern, die gegen den Streik auftraten; es wurde sogar ein Besuch bei der Ombudsfrau angekündigt. Die Erwartung der Regierung war, dass der Bürgerrechtsbeauftragte die Proteste aus einer unabhängigen Position verurteilt. Gleichzeitig ging eine Bitte vom Streikkomitee der Stettiner Werft ein, bei den Verhandlungen mit dem staatlichen Arbeitgeber zu vermitteln. Die Lage war angespannt und barg erhebliche politische Sprengkraft. Łe˛ towska enttäuschte beide Seiten, indem sie aus der Legalitätsposition argumentierend sich in den politischen Streit nicht ziehen ließ. In Schreiben vom 31. August 1988 an die Werftarbeitern und vom 1. September 1988 an die Bergleute unterstrich sie, dass die Aufgabe des Ombudsmanns nicht in der Vertretung der Interessen gesellschaftlicher oder politischer Gruppen bestehe, sondern in der Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der Tätigkeit der Organen, Organisationen und Institutionen, die zur Befolgung der Bürgerrechte aufgerufen sind. Der Bürgerrechtsbeauftragte „will keine eigene Politik machen, die mit den Zielen anderer Entscheidungsträger konkurriert. Diese Haltung ermöglicht das Behalten der Unabhängigkeit bei der Prüfung, ob es zu einer Rechtsverletzung gekommen ist, und verschafft ein moralisches Recht zur Bewertung dieser Verletzungen im Namen der Rechtsmäßigkeit, die als Fundament der Institution des Bürgerrechtsbeauftragten anzusehen ist.“53 Im Brief an die Bergleute wurde auch unterstrichen, dass es   E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  57–58.   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  22–26. 52   Parteiorgan der PZPR und die größte Zeitung damals. 53   E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  24. 50 51

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wegen des in der Verfassung verankerten Rechts auf Arbeit nur dem Staat obliege, als Arbeitgeber die Bedingungen zur Arbeitsleistung zu schaffen. Im Fall einer Behinderung des Zugangs zum Arbeitsplatz durch die Kollegen liege indes keine Verletzung dieses Rechts vor, denn der Staat garantiere trotzdem die Rechte der Arbeitnehmer, die an dem Streik nicht teilnehmen. „Die Frage, wie man den Kompromiss bestimmen soll, wo die Grenze zwischen Ungerechtigkeit […] und vernünftig ausgewogenen, gegensätzlichen, gesellschaftlichen Interessen verläuft, soll nicht der Bürgerrechtsbeauftragte antworten. Das ist vielmehr die Aufgabe der Politik, der Interessengruppen, Lobbyisten und Parlamentarier […]“,54 meinte Łe˛ towska.

V.  Nach dem Umbruch von 1989 Diese entschlossene Haltung und das Beharren auf dem Legalitätsprinzip machte sowohl die Regierung als auch die Opposition dem neuen Amt und seiner Inhaberin gegenüber misstrauisch. Doch ihre Haltung zeigte die klare Richtung, die aus den Gesetzesformulierungen resultierte. In vielen Fällen vor 1989 wandte sich Łe˛ towska gegen Tätigkeiten der Regierung und Verwaltung. Nie hat sie jedoch die politische Karte gespielt. Bis ins Jahr 1989 sah die Opposition dies durchaus positiv.55 Doch nach den teilweise freien Wahlen im Juni 1989 bildete die Opposition die Regierung und fand sich in der Position der Machthaber und der potentiellen Störer der Bürgerrechte wieder. Der Bürgerrechtsbeauftragte war ein „leichtes Angriffsziel“, denn Herkunft und Legitimation rührten noch aus dem alten System. Auch der Regierungswechsel hat jedoch Łe˛ towska nicht daran gehindert, sich gegen die neuen Macht­haber durchzusetzen.

1.  Die Frage des Religionsunterrichts Das prominenteste Beispiel dafür war der Fall der Wiedereinführung des Religionsunterrichts. Die Anweisungen des Bildungsministers vom 3. August 1990 zur Wiedereinführung des katholischen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen und vom 24. August 1990 den nichtkatholischen Religionsunterricht betreffend wurden von den Gegnern als „Einführung der Religion durch die Hintertür“ gebrandmarkt. Kurz vor dem Schulbeginn (in Polen immer am 1. September) ergingen die beiden Rechtsakte aus dem Ministerium. Der Sinn der Entscheidung wurde von niemandem ernsthaft beanstandet, die Rechtsform der Einführung hingegen schon. Der Ombudsmann wollte die Instruktionen vor den Verfassungsgerichthof tragen und am Maßstab der Verfassung überprüfen lassen mit dem Vorwurf, die Einführung des Religionsunterricht gehöre zur Gesetzesmaterie und könne nicht durch eine Anwei  E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  277.   Z.B. der Fall einer Intervention gegen einen Gesetzesentwurf, durch den Eigentümer enteignet werden sollte, in deren Räumlichkeiten regierungsunfreundliche Blätter gedruckt wurden. Łe˛ towska setzte sich stark dagegen ein und begann eine Kampagne in den Medien und in den Machthaberkabinetts, die Erfolg hatte: Der Gesetzesentwurf wurde abgelehnt. 54 55

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sung, also einen Rechtsakt, der nur die für die untergeordnete Schulverwaltung bindend war, eingeführt werden. Łe˛ towska belegte ihre Meinung folgendermaßen: „Das Berufen auf die Menschenrechte, auf Naturrecht oder gesellschaftliche Gerechtigkeit darf nicht als Universalmethode der Rechtsanwendung und als Argument für die Verneinung des geltenden Rechts dienen […] Es darf aber und vielleicht auch sollte ein Impuls für Rechts­ änderungen sein, aber auf eine Art und Weise, die für solche Handlungen angebracht ist. Im Prozess der Rechtsanwendung können und sollen die Argumente der Menschenrechte, des Naturrechts und der sozialen Gerechtigkeit auch korrigierende Bedeutung erlangen, nämlich als ein Auslegungskriterium, zur Lückenfüllung oder zur Bestimmbarkeit unscharfer Formulierungen dienen.“56

Diese Auffassung sorgte in den neuen Regierungskreisen und bis in die Gesellschaft hinein für gehörige Empörung. Für die Widersacher erschien diese Aussage als ein Versuch, die Würdigung der Religion auch noch nach Jahren des religionsfeind­ lichen Systems zu verhindern. Das hat die Autorität des Ombudsmannes vor allem mit einem Argument, das auf die angebliche kommunistische Herkunft des Amtes verweist, untergraben. Indes stellte der Verfassungsgerichtshof nach einer münd­ lichen Verhandlung, die in den Medien einen enormen Widerhall fand, die Vereinbarkeit der Exekutivanordnungen mit der Verfassung fest. Jedoch erwies sich im Endeffekt der Fehlschlag des Ombudsmannes nicht als gravierend. Ein Jahr darauf verabschiedete nämlich der Sejm ein Gesetz, das den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen ermöglichte. Die Haltung des Beauftragten für Bürgerrechte war nicht religionsfeindlich, wie einige ihm vorgeworfen haben; sie war vielmehr legali­ stisch getrieben, gestützt auf das Legalitätsprinzip, das sich in diesem Fall gegen ein Projekt der neuen Regierung richtete. An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass Łe˛ towska sich im Übrigen für die Religionsausübung in den Gefängnissen einsetzte.57

2.  Der Ombudsmann und die Abrechnungen mit dem alten System Auch der Fall der sog. Lustration und der Überprüfung der Polizeibeamten und Geheimdienste sorgte für Empörung auf Seiten der „Solidarnos´c´“-nahen Regierung. Es wurde Łe˛ towska persönlich vorgeworfen, dass sie die Verbrechern des alten Systems in Schutz nehmen wollte, obgleich sie nur die Prozedur der Überprüfung wegen mangelnder Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Entlassung vom öffentlichen Dienst beanstandete.58   E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  285.   Dazu u.a.: E. Łe˛ towska, Rzez´bienie pan´stwa prawa 20 lat póz´niej, Warszawa 2012, S.  20–47; E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  283–286; E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  53 ff.; Andere Meinung: A. Zoll, Pan´stwo prawa jeszcze w budowie, Warszawa 2013, S.  289–298. 58  Dazu: E. Łe˛ towska, Rzez´bienie pan´stwa prawa 20 lat póz´niej, S.  141–167; Historischer Überblick: B. Banaszak, Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Polen, [in:] G. Brunner, Juristische Bewältigung des Kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland, Berlin 1995, S.  41– 52; P. Mohlek, Die juristische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit in Polen [in:] ibidem, S.  53–80; K. Działocha, Probleme der Lustration der Staatsbeamten und der Beseitigung einiger Folgen der kommunistischen Gesetzgebung in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichthofes [in:] ibidem, S.  81–84. 56 57

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Aus der Bürgerrechtsperspektive zeichneten sich nach dem Fall des Kommunismus in Polen zwei Tendenzen ab. Die erste war auf gnadenlose Abrechnung mit den ehemaligen Funktionären des Systems eingestellt, die zweite auf Ablehnung des großen Teils der Gesetzgebung und Rechtsprechung aus den Zeiten der Volksrepublik. Łe˛ towska stellte sich gegen beide Tendenzen, weshalb sie stark von den neuen Machthabern kritisiert wurde: „Ich hatte neulich eine Auseinandersetzung mit einem Richter des Verfassungsgerichtshofs. Er sagte zu mir: Sie bemühen sich so stark bei der Auslegung einer Vorschrift des Lehrer­ gesetzes. Lohnt sich das? Es ist doch eine Vorschrift auf deren Grund in der Vergangenheit die Menschen verfolgt wurden. Das Ergebnis war etwa: Lassen wir uns nicht den Kopf über die richtige Auslegung einer einst missbrauchten Vorschrift zerbrechen, sondern warten wir auf die neue Regelung. Aber diese Haltung ist mir komplett fremd. Ich werde mich ständig bemühen […] um eine Vorschrift zu retten, durch ihre richtige Auslegung. […] Durch [eine andere] Haltung verzichtet ein Jurist auf sein Werkzeug. Wir sind doch wie Handwerker, wir arbeiten mit dem, was wir zur Hand haben und wir müssen das so gut wie möglich tun.“59

Die Stellung Łe˛ towskas zur Auslegung des alten Rechts illustriert auch dieses Zitat: „Das Recht gibt größere Spielräume, als man denkt. Aber damit sie erkannt werden, muss man häufiger und mutiger zu den bei uns selten angewandten Methoden wie systematischer, funktioneller Auslegung und unmittelbarer Anwendung der Verfassung greifen. Man muss intensiver die Inhalte der Verfassung in Anspruch nehmen und damit die Standards des demokratischen Rechtsstaates herausfiltern – auch mithilfe der Errungenschaften der Europäischen Gemeinschaft. (Wer weiß eigentlich bei uns, was da geregelt ist?) Es reicht nicht, sich allgemein auf die Begriffe der Gerechtigkeit oder des ius zu berufen, weil dieses Werkzeug zu abgenutzt und zu schwammig ist, als dass es in den komplexen Einzelfällen hilft […].“60

VI.  Resümee der ersten Amtszeit „Als ich mein Amt übernahm, wurde mir ein leeres Zimmer im Sejm-Gebäude, ein Mitarbeiter und ein Dienstwagen mit Fahrer zur Verfügung gestellt. In diesem leeren Zimmer lagen schon Tausende Briefe an den zukünftigen Ombudsmann. Nach vier Jahre war ein fundiertes Büro entstanden, mit einer Mannschaft hervorragender Fachleute. […] Es gibt rationale Arbeitsabläufe. Es gibt reiche Erfahrungen und viele Veröffentlichungen, die belegen, was getan wurde. Alles ist, kurz gesagt, einigermaßen normal. Es gibt keine Rückstände bei der Brief bearbeitung, deren Eingangszahlen einst Weltrekorde geschlagen haben. Das alles wurde nur durch übermenschliche Anstrengungen meiner Mitarbeiter erreicht. […] Heute schneidet der Ombudsmann in den Popularitätsumfragen ziemlich gut ab. Die Anerkennung gilt aber der ganzen Behörde, nicht nur einer Person. Für diesen Erfolg haben viele Menschen gearbeitet. Er besteht aus der Summe des Wissens, der Klugheit und der enormen täglichen, langweiligen Anstrengung. […] Ob es Rückschläge gab? Gewiss! Aber es gibt ja keinen, dem alles gelingen würde. Manche Niederlagen gewannen mit dem Lauf der Zeit andere Farben, manche wurden zu halben oder sogar zu vollen Siegen. Vielleicht war es so, weil wir darauf beharrt haben, jene Prinzipien zu bewahren, die in den stürmischen Zeiten für viele um  E. Łe˛ towska, (Fn.  2 ), S.  11; dazu auch: P. Winczorek, Uwagi o aksjologicznych aspektach działalnos´ci legislacyjnej w dziedzinie prawa publicznego (konstytucyjnego) w Polsce, Ruch Prawniczy Ekonomiczny i Socjologiczny (4) 1994, S.  53–59. 60   E. Łe˛ towska (Fn.  2 ), S.  195–196. 59

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ständlich oder sogar unanwendbar zu sein schienen. Für diese Prinzipien kämpften wir auch mit den anerkannten Autoritäten. Grundlegend für meine Behörde war das Prinzip, dass das Recht, solange es in Kraft ist, auf der Seite der Staatsgewalt die heilige Pflicht begründet, dieses zu beachten und zwar mit der ganzen Loyalität und Disziplin, aber nicht starr und stumm, sondern mit professionellen Kreativität. Die Mängel an der letzten Eigenschaft werden leider oft mit totaler Negation verwechselt, auch die Vorschriften des ,alten‘ Rechts sind zu retten. […] Der alte Grundsatz: ‚wenn man nicht weiß, wie man sich benehmen soll, dann soll man sich einfach anständig benehmen‘, gilt ja auch für die Verwaltung.“61

Łe˛ towska schuf mit ihrem Büro eine Institution, die eine der Hauptrollen bei der Entwicklung des polnischen Rechtsstaats gespielt hat. Die Behörde entstand in schwierigen Zeiten der politischen und gesellschaftlichen Metamorphose des Staates. Die ursprüngliche Unterschätzung und manchmal sogar Missachtung wich Anerkennung und Respekt. In allen Ländern, in denen die Institution des Ombudsmannes bekannt ist, entstand sie erst nach politischen Abrechnungen, im Moment der relativen Stabilisierung und konnte folglich nicht als Schöpfer des Rechtsstaates gesehen werden, sondern lediglich als sein Wächter. In Polen war es anders. Łe˛ towska war eine zufällige aber äußerst gelungene Wahl für dieses Amt. In ihrer ersten Amtszeit erkämpfte sie ihren Nachfolgern fundierte Grundlagen für die zukünftige Tätigkeit und Prinzipien der guten Praxis. Andrzej Zoll62, Ombudsmann in den Jahren 2000 bis 2006, vertritt in seinem bereits erwähnten Buch „Pan´stwo prawa jeszcze w budowie“63 die Meinung, dass die Grundlage der gelungenen Wirkung des Ombudsmannes seine gesetzliche Aus­ stattung mit Kontroll- und Überwachungswerkzeugen und der Verzicht auf Machtmittel ist. Der Ombudsmann kann nur politisch unabhängig sein, solange er über keine Gewalt- und Hoheitsmaßnahmen verfügt.64 Łe˛ towska hielt sich nicht nur formell an dieses Prinzip, sondern gründete die Autorität des Amtes auf dem Legalitätsprinzip, der Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit in der Erfüllung der gesetz­l ichen Aufgaben. Kann man also überhaupt von dem persönlichen Einfluss auf das neue Amt von Łe˛ towska sprechen? Die überwiegende Meinung in der Literatur teilt diese Einschätzung.65 Professor Łe˛ towska hatte unzweifelhaft die Gunst der Stunde der politischen Wende genutzt um die Stärke des Amtes, das sie waltete, zu entwickeln. Ihr Erfolg gründet auf der Summe einiger Faktoren: Erstens, die Umwälzungen in Polen Ende der 1980er und Anfangs 1990er Jahre haben ein Vakuum im Bereich des Rechtschutzes gebracht. Die Gesetze waren vor allem auf das neue wirtschaftliche System nicht vorbereitet, was Lücken im Schutz der Bürgerrechte verursachte, welche etwa die Gerichte nur schwer füllen konnten.   E. Łe˛ towska, (Fn.  3 ), S.  529–530.   Andrzej Zoll, geb. 1942; 1989–1997 Richter des Verfassungsgerichtshofs, 1991–2013 Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht an der Jagiellonen Universität in Krakau, 1993–1997 Präsident des Verfassungsgerichthofes, 2000–2006 Bürgerrechtsbeauftragter, langjähriges Mitglied der Kodifikationskommission des Strafrechts beim Sejm der Republik Polen, 2009–2013 ihr Vorsitzender. 63   A. Zoll, (Fn.  57). 64   A. Zoll, (Fn.  57), S.  143 ff. 65  U.a.: A. Zoll, (Fn.  57), S.  143 ff., J. S´wia˛tkiewicz, (Fn.  12), S.  31 ff., L. Garlicki, (Fn.  7 ), S.  413 ff.; A. Gajda (Fn.  32), S.  126 ff.; M. Zubik, Rzecznik Praw Obywatelskich (po 20 latach istnienia urze˛ du), Pan´stwo i Prawo (11) 2008, S.  3 –11; T. Zielin´ ski, (Fn.  32), S.  85 ff. 61

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Neue Rechtsprechungslinien und Standards waren noch nicht etabliert, um unter den neuen rechtlichen Bedingungen der Marktwirtschaft effektiv zu arbeiten. Die informelle Prozedur und der breite Zugang zum Ombudsmann haben den Rechtschutz wesentlich erleichtert und die Möglichkeit gegeben, die auf sonstige Art und Weise nicht zu beanstandende Urteile oder Entscheidungen doch zu überprüfen. Der Bürgerrechtsbeauftragte hat das verletzte Gerechtigkeitsgefühl vieler in den juristischen Rahmen hineininterpretiert: mithilfe allgemeiner Aussagen über die Bürgerrechte, die über verschiedene Rechtsakte zerstreut waren. Zweitens, die Anfangsphase jeder Institution veranlasst sogar zwangsläufig den ersten Amtswalter, sein Amt zu beeinflussen und erzeugt in der Öffentlichkeit die Assoziation des Amtes mit dem Amtswalter, der ihm oft charakteristische Züge verleiht. Dieser psychische Zusammenhang ist nicht zu unterschätzen und kann sich tief auf die Wahrnehmung des Amtes hinauswirken. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Nachfolger von Łe˛ towska ein komplett vorgeprägtes Amt erbten und mit seinem „Geist“ leben mussten. Sie haben es natürlich mit ihren eigenen Schwerpunktsetzungen stark beeinflusst. Doch die erste Ombudsfrau hat sämtliche Signale für die Staatsorgane, die Behörden und auch für die Öffentlichkeit gegeben, durch die das Amt in eine bestimmten Bahn eingebettet wurde. Damit hat sie die Zukunft des Amtes entscheidend gestaltet. Von ihrer Beeinflussung blieb bis heute vor allem die starke Bindung des Ombudsmannes an das Gesetzmäßigkeitsprinzip erhalten. Gewiss ist sie im Gesetz nieder­ geschrieben. Doch hat die Haltung des Ombudsmanns in Polen, der sich an ideologischen und politischen Auseinandersetzungen nicht beteiligt, sondern nur nach Maßstab der Verfassung und anderer gesetzlicher Akte (darunter auch internationalen Verträgen) auf die Bürgerrechtsverletzungen hinweist, dem Amt Glaubwürdigkeit verliehen. Damit ist auch die von Łe˛ towska oft betonnte und geförderte Bindung an den amerikanischen Funktionalismus66 häufig in der Haltung des Ombudsmannes zu sehen. Mit Roscoe Pound könnte man sagen, dass der Ombudsmann primär „law in action“ zu beeinflussen versucht und sich fern vom „law in books“ hält.

VII.  Feci quod potui faciant meliora potentes Mit diesen von den Berichten der altrömischen Konsuln bekannten Worten resümiert Łe˛ towska ihre Amtszeit in ihrem letzten Feuilleton als Ombudsmann für die Zeitung „Rzeczpospolita“ vom 18. November 1991. Der Bürgerrechtsbeauftragte des Jahres 1988 unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von jenem aus 2015. Er etablierte sich mittlerweile zu einem wohl bestallten Organ. Er ist nicht mehr, wie am Anfang im Sejm-Gebäude untergebracht, hat Fachabteilungen u.a. für Strafrecht, Zivilrecht, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht, Arbeits- und Sozialrecht, dazu eine Abteilung für die Gleichberechtigung und Schutz der behinderten Personen. Die steigende Bedeutung des Amtes führt zum „Export“ der polnischen Regelungen vor allem in die Länder des ehemaligen Ostblocks.67 Die   E. Łe˛ towska, (Fn.  58), S.  141 ff.   A. Zoll, (Fn.  32), www.rpo.gov.pl/pliki/1149066257.doc (Zugang: 16.10.2015). Seit 1997 enga-

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große Zahl der Briefe pro Jahr68 hat zu Einrichtung der Abteilung für Vorkontrolle der Anträge geführt, deren Aufgabe in der Feststellung liegt, ob es zu einer Bürgerrechtverletzung im Einzelfall gekommen ist. Es entstanden auch zusätzliche Außenstellen in Kattowitz, Danzig und Breslau. Der Ausbau der Behörde und der Kompetenzzuwachs führen aber nicht zu einer Zerbröckelung der Einrichtung, der Bürgerrechtbeauftragte ist immer noch ein monokratisches, zentralisiertes Organ. Auch darin ist eine Bedeutung zu sehen.69 Aufgrund der sich oft überschneidenden Kompetenzen arbeitet der Ombudsmann auch mit anderen Kontroll- und Aufsichtsbehörden wie Generalinspektor des Datenschutzes70 oder Amt für Schutz der Konkurrenz und Konsumenten71 zusammen, was aber zur Stärkung seiner Position auf anderen Rechtsgebieten führt. Die Popularität des Amtes hat gehalten und im Jahr 2000 wurde noch ein weiterer Ombudsmann für Kinderrechte eingerichtet. Zusätzlich entstanden in den Ministerien Ombudsstellen für Patienten und Sozialversicherte. All dies zeugt von der Popularität der Idee des Grundrechtschutzes durch Ombudsleute in Polen, doch nach der Meinung von Zoll schwächt es den Beauftragten.72.

1.  Der Ombudsmann im Rechtsstaat Schon 1989,73 detaillierter aber erst durch die Verfassung vom 1997, wurde der Bürgerrechtsbeauftragte verfassungsrechtlich verankert. Die Institution fand ihren Platz im Abschnitt der Staatskontroll- und Rechtschutzorgane. Die Art.  208 bis 212 der polnischen Verfassung regeln seine Grundlagen. Danach wird der Beauftragte für Bürgerrechte vom Sejm mit Zustimmung des Senats auf fünf Jahre berufen. Er darf keine andere Stelle innehaben (außer einer Hochschulprofessur) und keine andere Berufstätigkeit ausüben. Vor allem darf er keiner politischen Partei und keiner Gewerkschaft angehören und keine öffentliche Tätigkeit ausüben, die sich mit der Würde seines Amtes nicht vereinbaren lässt. Die Unabhängigkeit in seiner Aufgabenerfüllung und parlamentarische Immunität wird gewährleistet.74 Die wichtigsten Pringierte sich der Bürgerrechtsbeauftragte Polens beim Auf bau ähnlicher Institutionen hauptsächlich in den ehemaligen sowjetischen Republiken, im Balkan und in Mittel- und Osteuropa im Rahmen des United Nations Development Program. 68  2013 waren es 35.310 neue Eingaben, vgl. Synteza informacji o dzałalnos´ci Rzecznika Praw ­Obywatelskich w 2013 roku, S.  74, http://www.rpo.gov.pl/sites/default/files/Synteza_RPO_2013% 20r.pdf (Zugang: 16.10.2015). 69   Mehr dazu: A. Gajda, (Fn.  32), S.  176–191. 70   Poln.: Generalny Inspektor Ochrony Danych Osobowych. 71   Poln.: Urza˛d Ochrony Konkurencji i Konsumentów. 72   A. Zoll, (Fn.  57), S.  146–147. 73  Verfassungsänderungsgesetz vom 7. April 1989. (Ustawa z dnia 7 kwietnia 1989 r. o zmianie Konstytucji Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej), Dz.U. 1989 Nr.  19 Pos. 101. 74   Mehr zu der staatorganisatorischen Stellung des Ombudsmannes (Auswahl): L. Garlicki, (Fn.  7 ), S.  415; L. Garlicki, Rzecznik praw obywatelskich, Warszawa 1989; Z. Witkowski (Hrsg.), Prawo kon­ stytucyjne, Torun´ 2001, S.  497 ff., J. S´wia˛tkiewicz, (Fn.  12), S.  37 ff., J. Buczkowski, Prawo konstytucyjne Rzeczpospolitej Polskiej, Rzeszów – Przemys´ l 2013, S.  466 ff., B. Banaszak, Prawo konstytucyjne, Warszawa 2015, S.  578  f f.; A. Rost, Instytucje polskiego prawa konstytucyjnego, S.  167ff; Deutschsprachige Literatur: G. Jaster, Der polnische Beauftragte für Bürgerrechte, Baden-Baden 1994; A. Zoll,

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zipien sind:75 Erstens ist er ein selbständiges, monokratisches Staatsorgan, abgegrenzt von der Verwaltung und Justiz. Zweitens ist er mit dem Sejm funktionell verbunden, doch nicht untergeordnet. Drittens, ist er eine Anlaufstelle für die Klagen der Bürger gegen die hoheitlich handelnden Organe; er ergreift die Maßnahmen zum Rügen der Misstände. Er nimmt dabei nicht nur die Gesetze als Maßstab, sondern auch ius. Viertens ist er für jedermann (nicht nur polnische Staatsbürger, sondern auch juristische Personen und Ausländer) zugänglich. Die Klage an den Ombudsmann verlangt keine spezielle Form und unterliegt keinen Gebühren. Im Vergleich zur Ursprungsversion vom 1987 sichert das Gesetz über den Beauftragten für Bürgerrechte in der neuen Bekanntmachung des Jahres 2014 dem Ombudsmann neue Aufgaben. Die Hauptaufgabe hat sich im Wesentlichen nicht verändert, doch wurde sie umformuliert und erweitert: Der Ombudsmann „hütet [also] die in der Verfassung und in anderen Normativakten festgelegten Rechte und Freiheiten der Menschen und Staatsbürger, darunter hütet er auch die Realisierung des Grundsatzes der Gleichbehandlung.“76 Wie Stanisław Trociuk77 betont, resultiert aus dem Wortlaut des Art.  1 Abs.  2 des Ombudsmanngesetzes nicht nur die Pflicht, die in der polnischen Verfassung verankerten Rechte zu hüten, sondern auch diejenigen der EMRK falls sie von den polnischen Einrichtungen verletzt werden.78 Der Art.  1 Abs.  3 Ombudsmanngesetzes wurde beibehalten, doch gewinnt er neue Bedeutung. Der Beauftragte überprüft ob „in Folge der Tätigkeit oder Niederlassen eines Organes, einer Organisation oder Institution, die zur Befolgung der Bürgerrechte verpflichtet sind, zu keinen Wiederhandlungen gegen das Recht oder Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens und gesellschaftlichen Gerechtigkeit gekommen ist“. In diesem Sinne hat der Beauftragte breitere Kompetenzen als die Gerichte, denn er darf auch dann handeln, wenn das Recht zwar nicht verletzt wurde, jedoch durch seine Anwendung Leid oder ein Gefühl der Ungerechtigkeit entstanden ist, die die Begriffe „gesellschaftliches Zusammenleben“ und „gesellschaftliche Gerechtigkeit“ beinhalten.79 Außerdem werden die Begriffe „Organ“, „Organisation“ und „Institution“ breit ausgelegt, nämlich als Einrichtungen, die auf Grund eines Gesetzes hoheitlich handeln. Außerhalb seiner Zuständigkeit bleiben also Grundrechtsverletzungen durch Private, nicht jedoch die Überprüfung des staatlichen Handelns in Reaktion auf solche Grundrechtsverletzungen.80 Dies kommt vor allem im Bereich

Bürgerrechtsbeauftragte als ein Verfassungsorgan der Republik Polen, in: C.D. Classen/H. Heiss/A. Supron´-Heidel, Polens Rechtsstaat im Vorabend des EU-Beitritts, Tübingen 2004; B. Banaszak/T. Milej, Polnisches Staatsrecht, Warszawa 2008, S.  200 ff; A. Deryng, Der polnische Bürgerrechtsbeauftragte als Verfassungsorgan zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in Polen, Osteuropa-Recht (3–4) 2008, S.  168–182. 75   L. Garlicki, (Fn.  7 ), S.  413–414. 76   Art.  1 Abs.  2 Ustawa o rzeczniku Praw Obywatelskich vom 15 Juli 1987, Dz. U. 2014 Pos. 1648, (Neubekanntmachung). 77   Stanisław Trociuk, geb. 1964, seit 2002 Stellvertretender Bürgerrechtsbeauftragte. 78   S. Trociuk, Ustawa o Rzeczniku Praw Obywatelskich, Online LEX Kommentar zum Art.  1, Punkt II. (Zugang: 16.10.2015). Dazu auch: I. Malinowska, (Fn.  8 ), S.  122. 79   L. Garlicki, (Fn.  7 ), S.  418. 80  So: S. Trociuk, (Fn.  78), Punkt VI.

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des Arbeitsrechts zum Tragen und gewährt dem Ombudsmann einen mittelbaren Zugriff auf das Handeln Privater. Zu den Aufgaben von 1987 kam u.a. die Zusammenarbeit mit dem Beauftragten für Kinderrechte.81 Nach dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen ­Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe nimmt der Beauftragte für Bürgerrechte darüber hinaus die Aufgabe einer Stelle wahr, die Visitationen zur Verhinderung von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe durchführt,82 was den Schwerpunkt seiner Arbeit stärker auf den Justizvollzug ausrichtet. Der Ombudsmann handelt in Polen aus eigener Initiative oder auf Antrag. Die schon erwähnte Aufteilung der Aufgaben von Zielin´ski in Rechtsmittel, parlamentarische Mittel und Kontroll- und Verwaltungsmittel behält auch heute ihre Gültigkeit. Der Ombudsmann ist heute nicht nur ein Rechtschutzorgan, es werden ihm vier weitere Funktionen zugeschrieben: Präventionsfunktion, Diagnostikfunktion, Kontrollfunktion und Kreationsfunktion. Die obengenannten Funktionen überschneiden sich, doch primär handelt der Ombudsmann als Rechtschutzbehörde und innerhalb von dieser Funktion kann er nach der Feststellung einer Grundrechtsverletzung verschiedene Maßnahmen ergreifen. (1) Vor allem steht ihm die Möglichkeit offen, ein Protestschreiben an die verletzende Institution zu formulieren; diese ist verpflichtet, Stellung zu nehmen. (2) Er kann auch das übergeordnetes Organ verständigen und verlangen, Kontroll- oder Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen. (3) Ihm steht auch die Befugnis zu, eine Klage vor Zivilgerichten zu erheben oder an dem schon laufenden Zivilverfahren teilzunehmen mit den Rechten der Staatsanwaltschaft. Nicht ohne Bedeutung sind schließlich seine Kompetenzen im Bereich des Straf- und Ordnungswidrigkeitsrechts, (4) hier kann er vor allem vom öffentlichen Ankläger Einleitung des Strafverfahrens bei den Offizialdelikten verlangen. Er kann auch Anträge auf Bestrafung im Ordnungswidrigkeitsverfahren stellen. Außerdem, im Bereich des Verwaltungsrechts (5), kann er sich an die Behörde wenden mit dem Ersuchen, ein Verwaltungsverfahren aufzunehmen oder vor den Verwaltungsgerichten klagen. Darüber hinaus (6) kann er die Kassationsklagen erheben und Revisionen einlegen. Im Bereich des Verfassungsrechts ist er im Rahmen der vom Ombudsmann aufgegriffenen Sachen berechtigt, Anträge zur Gesetzesinitiative bei den befugten Organen zu stellen oder eine Änderung der Rechtsakte zu verlangen, die die Bürgerrechte verletzen oder verletzen könnten. Die Kernbefugnisse des Beauftragten konzentrieren sich auf sein Verhältnis zu den höchsten Gerichtsorganen im Land. In diesem Rahmen darf er an den laufenden Verfahren vor Verfassungsgerichtshof teilnehmen und Gesuche an das Oberste Gericht zur Klärung einer Rechtsvorschrift, die in der Praxis Zweifel auf kommen lässt bzw. deren Anwendung zur Diskrepanz in der Praxis führen würde, richten. 81   Der Ombudsmann für Kinderrechte wurde erstmal 2000 vom Sejm berufen. Er ist ebenfalls ein in der Verfassung verankertes Organ. 82  Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Angenommen von der Generalversammlung der UNO am 18.12.2002. In Kraft getreten am 22.06.2006. (Dz. U. 2007 Nr.  30 Pos. 192).

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Als wichtigste Kompetenz des Ombudsmannes wird heute die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle vor dem Verfassungsgerichthof gesehen (Art.  16 Abs.  2 Nr.  2 Ombudsmanngesetz). Vor dem Hintergrund des deutschen Grundrechtschutzsystems scheint diese Aufgabe besonders interessant, denn der Ombudsmann bietet dem Bürger dank seiner niederschwelligen Zugänglichkeit eine Möglichkeit, Bürgerrechtsverletzungen vor dem Verfassungsgericht geltend zu machen, was ansonsten im Verfahren der Verfassungsbeschwerde wegen des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung erschwert ist. In diesem Fall hat der Ombudsmann in Polen zwei Aufgaben. Einerseits filtert er die unbegründeten Klagen heraus und berät, wie das Problem auf andere Weise zu lösen ist; falls die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift von ihm dabei festgestellt wird, eröffnet er andererseits den Weg zu einer Rüge vor dem Verfassungsgerichthof in Gestalt einer abstrakten Normenkontrolle. Dem Bürger bietet dies die Möglichkeit eines verkürzten Weges zum Verfassungsgericht. Gegenüber dem Verfassungsgericht dient der Bürgerrechtsbeauftragte als eine Auffangstelle, die Beschwerden, die nur aus Streitlust oder Unwissen entstehen, hemmt und damit die Kapazitäten des Verfassungsgerichts schont.83 Besonders aktuell in der heutigen Tätigkeit in Polen ist die Frage der Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, Art.  17a Ombudsmanngesetz.84 Darauf wurde vor allem Wert gelegt als Zoll das Amt innehatte (2000–2006). Zoll hat begonnen, die Wahrnehmung des Amtes als eine Plattform zu verstehen, wo sich verschiedene, manchmal gegensätzliche Meinungsträger treffen können, um auf neutralem Boden zu sprechen. Dabei geht es nicht um Verhandlungen, sondern eher um einen Bildungseffekt sowie Diskussionen über Missstände. Die Konzentration des Ombudsmannes auf die Schaffung einer Dialogplattform trifft auch einen um 2005 begonnenen Trend, den Akzent der Bürgerrechtsverletzungen auf das Handeln Privater zu legen, was besonders durch Zoll gefördert wurde.85 Die Aufgaben des Ombudsmanns in Polen werden also vermehrt. Zu den wichtigen, doch oft unterschätzten Aufgaben gehört schließlich die Berichterstattung über die Lage des Grundrechtsschutzes im Land. Dieser Bericht zählt zu den gesetzlichen Aufgaben des Ombudsmannes, doch die Veröffentlichung der dokumentierten Grundrechtsverletzungen geht weit darüber hinaus und trägt zum verbesserten Grundrechtsbewusstsein der Bürger bei.

2.  Mehr als nur eine Behörde Der 28jährige Wirkungsprozess des Amtes gehört zu den stolzesten Seiten der pol­ nischen Rechtsstaatsgeschichte. Alle sechs ehemaligen Bürgerrechtsbeauftragten brachten ein eigenes Programm für das Amt mit und haben ihm eigene Züge gegeben. Das Gleiche wird von dem seit August 2015 amtierenden Adam Bodnar erwartet.86 Was aber die ganze Zeit die Institution auszeichnete, ist ihre Unabhängigkeit,  Dazu: A. Deryng, (Fn.  32), S.  84 ff.  Dazu: A. Deryng, (Fn.  74), S.  178–181. 85  Mehr: A. Zoll, (Fn.  8 ), www.rpo.gov.pl/pliki/1149066257.doc, (Zugang: 16.10.2015). 86   E. Łe˛ towska legte das Gewicht vor allem auf das Legalitätsprinzip; T. Zielin´ski wurde zu einem „reisenden Ombudsmann“ – er reiste viel durch das Land und setzte auf persönliche Zusammenkünfte 83

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gewonnen durch Verzicht auf Macht- und Hoheitsmaßnahmen, ausgestattet nur mit Kontrollmitteln, die an den brennenden Punkten eingesetzt und durch Autorität unterstützt werden. Mit solchen Mitteln kann manchmal mehr erreicht werden. Darüber hinaus leistet der Bürgerrechtsbeauftragte enorme Auf klärungsarbeit für die Gesellschaft. Er erläutert die Komplexität des Rechtsystems und bringt eine ausgewogene Stimme in den öffentlichen Diskurs in Polen ein. Dadurch wurde der Bürgerrechtsbeauftragte zu einem „Markenzeichen“ des polnischen Grundrechtschutzsystems. Auch in Zukunft ist seine Wirkung im Bereich des Grundrechtschutzes erwünscht. Der „Geist“, den die erste Amtswalterin Ewa Łe˛ towska der Institution einprägte, muss die ganze Zeit zur Vorschein kommen, denn, wie sie selbst meint: „Am wichtigsten sind nicht die Vorschriften, die die Tätigkeit der Institutionen regeln, sondern was mit den Institutionen oder Staatsorganen im Kontakt zu den Bürgern passiert. Das wird durch verschiedene Verhaltensnormen geregelt und zwar nicht nur durch Rechtsnormen. Hier ist noch viel zu tun.“87 Dem deutschen Grundrechtsschutzverständnis mag die Institution des Bürgerrechtsbeauftragten aufgrund der starken Bindung an die Persönlichkeit und die Haltung des Amtswalters ungewohnt und verdächtig vorkommen. Doch die polnischen Erfahrungen haben das Gegenteil bewiesen, und genau dieser Punkt gibt dem Amt die Stärke und schafft eine parallele Schutzmöglichkeit für die Bürger, die das Verfahren vor dem Verfassungsgericht nur unter den eng ausgelegten prozessualen Voraussetzungen einleiten können. Außerdem stärkt der Ombudsmann die Bildung und Verbreitung der Rechtskultur, was selbst noch im Polen des Jahres 2015 nötig ist.

mit den Bürgern; für A. Zielin´ski ausschlaggebend war die unmittelbare Anwendung der Verfassung und die Geltung des internationalen Rechts in Polen; der Ombudsmann der 4. Amtszeit A. Zoll war vor allem auf die Stärkung der Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen bedacht; J. Kochanowski legte viel Wert auf die Zusammenarbeit mit dem Parlament und die Qualität des Rechts; I. Lipowicz fand die Betonung der Rechte der am Rand der Gesellschaft lebenden Bürger wichtig; der 2015 gewählte A. Bodnar deklariert verstärktes Engagement in die Gerichtsverfahren (Interview mit A. Bodnar im Polnischen Radio am 3.8.2015, Zugang: http://www.polskieradio.pl/ 7/129/Artykul/1484099,Adam-Bodnar-z-pelna-pokora-czekam-na-decyzje-Senat). Mehr zu den „Programen“ der Beauftragten A. Gajda, (Fn.  32), S.  174. 87   E. Łe˛ towska, Dwadzies´cia lat póz´niej [in:] Ksie˛ ga XX-lecia Rzecznika Praw Obywatelskich w Polsce (Herausgeber: M. Zubik), S.  33.

Charisma, Sakramentalität und Amtskirche Person, Institution und Amt in der Geschichte des kanonischen Rechts von

Prof. Dr. Andreas Thier, Universität Zürich Inhalt I. Person und Kirchenamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 II. Charisma und amtskirchliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 III. Sakralisierte Personalität und institutionell begründete Herrschaftsmacht im Spannungsfeld von potestas ordinis und potestas jurisdictionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 IV. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

I.  Person und Kirchenamt Officiorum plurima genera esse, sed praecipuum illud quod in sacris divinisque rebus habetur – „Es gibt viele Arten von Ämtern, aber das Wichtigste ist jenes, das in heiligen und göttlichen Dingen ausgeübt wird“1. Diese Aussage aus den Etymologiae des Isidor von Sevilla († 636) 2 verweist auf ein wichtiges Element institutioneller3 kirchlicher Identität: Kirchlichkeit ist geprägt durch die ämterförmige Organisation.4 Allerdings 1   Isidori Hispalensis Episcopi. Etymologiarum sive Originum, Libri XX, VI.XIX.1, hier benutzt die Ausgabe von Wallace Martin Lindsay, vol.  1, 1911 (Nd. 1997), 245–246. 2  Im Überblick (m.w.N.): Jacques Fontaine, Art. „Isidor v. Sevilla“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, 1991, Sp.  677–680; Reinhard Tenberg, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon II (1990), Sp.  1374–1379, online verfügbar, unter http://www.bbkl.de/lexikon/bbkl-artikel.php?wt=1& art=./I/Is-Iz/Isidor_s.art. 3   Unter „Institution“ wird hier eine auf der Grundlage von Normen auf Dauer begründete Organisation verstanden; für einen Überblick über den insbesondere sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch, der wesentlich weiter reicht, s. André Brodocz, Art. „Institution“, in: Hartmann/Offe (Hrsg.), Politische Theorie und politische Philosophie: ein Handbuch, 2011, 227 f. 4  Als Überblick zu dieser Problematik: Carl Heinz Ratschow, Art. „Amt/Ämter/Amtsverständnis VIII: Systematisch-theologisch“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 2, 1978/1993, 593 ff.; für eine ausgesprochen konzise Verdichtung s. Peter Landau, Die Ursprünge des Amtsbegriffs im klassischen kanonischen Recht. Eine quellengeschichtliche Untersuchung zum Amtsrecht und zum Archidiakonat im Hochmittelalter, in: ders., Officium und Libertas Christiana, 1991, 5 ff., 5–7, wieder abgedruckt in:

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Andreas Thier

umfasst das semantische Feld des Ausdrucks „Amt“ dabei nach katholischem Kirchen­ rechtsverständnis zwei Bedeutungsschichten: „Amt“ kann eine bestimmte gesamtkirchliche „Aufgabe“ angeben, die dann auch als munus bezeichnet wird.5 Im kanonischen Recht der Gegenwart sind dies das Lehramt (Ecclesiae magisterium – etwa can. 218 CIC 1983), das Heiligungsamt (munus sanctificandi) und das Amt der Leitung (munus regendi), die Ausübung der Leitungsgewalt (potestas regiminis).6 „Amt“ kann im kanonischen Recht aber auch eine Aufgabe einzelner Personen bezeichnen.7 In diesem Deutungszusammenhang wird der Ausdruck officium ecclesiasticum benutzt, wie etwa die Bezeichnung in can. 145 §  1 CIC (1983) deutlich macht: „Kirchenamt ist jedweder Dienst, der durch göttliche oder kirchliche Anordnung auf Dauer eingerichtet ist und der Wahrnehmung eines geistlichen Zweckes dient (Officium ecclesiasticum est quodlibet munus ordinatione sive divina sive ecclesiastica stabiliter constitutum in finem spiritua­lem exercendum)“8. Diese Beschreibung verdeutlicht sehr eindringlich die transpersonale Qualität des Kirchenamts: Das officium ecclesiasticum hat eine von der Lebenszeit der Amtsinhaber verschiedene temporale Dimension, es ist in seiner Existenz vom Amtsinhaber unabhängig,9 auch wenn der Zugang zum kirchlichen Amt an einzelne besondere personale Voraussetzungen, wie insbesondere die Weihe, gebunden ist.10 Es folgt außerdem einer Zwecksetzung ( finis spiritualis), die außerhalb der Personalität des Amts­ inhabers liegt,11 und es umfasst schließlich einen Aufgabenkreis, der nicht vom Amtsinhaber selbst festgelegt worden ist, sondern auf eine institutionelle Vorgabe ders., Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1967 bis 2006, 2013, 341 ff., 341–343. Zum kirchlichen Amt im Überblick: Péter Erdö, Art. „Amt III. Kath.“, in: Freiherr von Campenhausen/Riedel-Spangenberger/Sebott/Hallermann (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 1, 2000, 78 ff., 78; Gunther Wenz, Art. „Amt II. Ev.“, a.a.O., 74 ff., 74–77; grundlegend: Ralf Dreier, Das kirchliche Amt. Eine kirchenrechtstheoretische Studie, 1972, 152–168 (zur Deutung des Amts als göttlicher Stiftung); aus neuerer Zeit s.a. Elmar Maria Morein, Officium ecclesiasticum et universitas personarum: Bestimmung des Rechtsinstituts „Amt“, 2006 mit dem Schwerpunkt bei can. 145 CIC 1983. 5   Für diese Deutung s. etwa die Übersicht bei Gerald A. Kallenbach, Ein Kirchenamt im Dienst der Verkündigung: die Rechtsstellung des Religionslehrers, 2000, 101–109, m.w.N. zur Verwendung von munus in diesem Deutungszusammenhang im CIC 1983. 6   Vgl. insofern can. 204 §  1 CIC 1983, wo die Rede ist von der Teilhabe der Gläubigen am muneris Christi sacerdotalis, prophetici et regalis, dem „priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi“ (so die Übersetzung im Auftrag der Bischofskonferenz, vgl. Codex des kanonischen Rechts, lateinisch-deutsche Ausgabe, 5. Auflage 2001, 85). Im Überblick zu den sogenannten munera s. Erdö, Amt III. (Fn.  4 ), 78 f.; näher Kallenbach, Kirchenamt (Fn.  5 ), 106–109 mit einer sehr kohärenten Darstellung. Bemerkenswerterweise fehlt eine entsprechende Übersicht im Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hrsg. v. Haering, Rees und Schmitz, 2015, Andeutungen immerhin im Beitrag von Christoph Ohly, Das Kirchenamt, ebd., §  14, 234 ff., 235–237. 7   Dazu der Überblick bei Ohly, Kirchenamt (Fn.  6 ), pass., sowie Raoul Naz, Art. „Offices ecclésiastiques“, in: ders. (Hrsg.), Dictionnaire de droit canonique: contenant tous les termes du droit canonique avec un sommaire de l’histoire et des institutions et de l’état actuel de la discipline, Bd. 6, 1957, Sp.  1074 ff. 8   Übersetzung nach: Codex des kanonischen Rechts (Fn.  6 ), 59. 9   Zu diesem Aspekt s. etwa Winfried Aymans/Klaus Mörsdorf, Kanonisches Recht I, 1991, 447 f. 10   Vgl. dazu die Hinweise bei Hubert Socha, in: Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici, 2015, van. 145 (Stand: 1988), Rn.  9, der deswegen sogar eine personale Prägung des officium ausmacht. 11  Dazu Socha, Münsterischer Kommentar, can. 145 (Fn.  10), Rn.  8.

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(ein munus ordinatione sive divina sive ecclesiastica […] constitutum) zurückgeht. Man könnte deswegen auch sagen, dass der Amtsbegriff des gegenwärtigen kanonischen Rechts geprägt ist von institutioneller Abstraktion gegenüber der konkreten Personalität des Amtsinhabers. Gerade die Konzeption des Amts als dauerhafte Zuweisung von Aufgaben und der zu deren Erfüllung notwendigen Befugnisse12 sind in der kirchenrechtshistorischen Entwicklung bereits frühzeitig prägend geworden. Es ist bezeichnend für diesen Befund, dass bereits am Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts erste Ansätze eines Ordnungsentwurfs auftauchen, die auf eine Ämterorganisation hinzielen: Im sogenannten Ersten Clemensbrief, einem um 95 entstandenen Schreiben eines römischen Bischofs Clemens13 an die Gemeinde in Korinth,14 wird nämlich mit dem Ausdruck λειτουργία (Funktion, Amt)15 und vor allem mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit der willkürlichen Absetzung von Funktionsträgern auf solche transpersonalen Ordnungsstrukturen hingewiesen, deren Existenz auf göttliche Stiftung zurückgeführt wurde: Denn es seien die von Christus erwählten Apostel gewesen, die ihrerseits „ihre Erstlinge […] zu Episkopen und Diakonen derer“ eingesetzt hätten, „die künftig glauben würden“16. Deswegen wäre es „nicht für recht“ zu halten, „wenn diese aus dem Dienst entfernt werden“, war es doch „keine kleine Sünde […] wenn wir die, die untadelig und fromm die Opfer dargebracht haben, vom Episkopenamt ent­ fernen“17. Die Aussage über die apostolische Einsetzung der hier angesprochenen Bischöfe ist nicht allein ein zumindest rudimentärer früher Beleg für den Gedanken von der apostolischen Sukzession als Legitimation bischöflicher Herrschaft.18 Die These von der letztlich auf Christus zurückgehenden Besetzung gerade des episkopalen Amtes führt auch zu einem anderen Themenfeld, das für das Beziehungsgefüge von Person und kirchlicher Institution wesentlich ist, die Frage nämlich, wie und unter welchen Voraussetzungen Leitungspositionen in der Kirche zu besetzen sind.19 12  Dazu Ohly, Kirchenamt (Fn.  6 ), 236 f. sowie Naz, Offices (Fn.  7 ), Sp.  1075. Der Zusammenhang von Aufgabe, Amt und Amtsbefugnis ist auch angedeutet in can. 145 §  2 , wo hingewiesen wird auf die „Pflichten und Rechte, die den einzelnen Kirchenämtern eigen sind“ (Obligationes et iura singulis officiis ecclesiasticis propria); zur Übersetzung s. Codex des kanonischen Rechts (Fn.  6 ), 59. 13   Douglas Powell/Clemens von Rom, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 8, 1991, 113 ff. 14   Dazu im Überblick: Andreas Lindemann, Die Clemensbriefe (Handbuch zum Neuen Testament, 17/I), 1992, 11 ff.; ders., Der erste Clemensbrief, in: Pratscher (Hrsg.), Die apostolischen Väter, 2009, 59 ff.; zur Debatte über dieses Dokument umfassend Horacio E. Lona, Der erste Clemensbrief (Kommentare zu den Apostolischen Vätern, Bd. 2), 1998, 13–110 und pass. 15   Thomas Kramm, Art. „Amt“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Supplement-Lieferung 3, 1985, Sp.  350 ff., hier 351–355. 16   1 Clem 42,4. Der Text folgt der Übersetzung bei Andreas Lindemann/Henning Paulsen (Hrsg.), Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe auf der Grundlage der Ausgaben von Franz Xaver Funk, Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker, 1992, 77–158, hier 127 (das griechische Original ebd., 126). 17  1 Clem 44, 3–4, Text nach der Übersetzung bei Lindemann/Paulsen, Die Apostolischen Väter (Fn.  16), 129 (das griechische Original ebd., 128). 18   Zur kontroversen Debatte um diese Deutung des Clemensbriefs s. aus jüngerer Zeit Jochen Wagner, Die Anfänge des Amtes in der Kirche. Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur (Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 53), 2011, 239–241 m.w.N. 19   Zu dieser Problematik im Zusammenhang des Clemensbriefs Andreas Thier, Hierarchie und Auto­ nomie. Regelungstraditionen der Bischofsbestellung in der Geschichte des kirchlichen Wahlrechts bis 1140, 2011, 19–24 m.w.N.

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Diese Fragestellung rührt an den Grundlagen der kirchlichen Ämterlehre. Denn, so soll nachfolgend in einem ersten Abschnitt argumentiert werden (unten II.), in einem sehr frühen Stadium der kirchlichen Geschichte konkurrierte die Konzeption des kirchlichen Amts mit der Vorstellung vom Charisma kirchlicher Leitungspersonen und damit mit einer Idee, die sich nur sehr schwer in einen institutionell geprägten Ordnungsentwurf einfügen ließ. Ein ähnliches Problem entstand aus dem Neben- und Miteinander von officium und ordinatio/ordo, also von Amt und Weihe. Denn der Bezug der kirchlichen Ämter auf die sacras divinasque res, um es mit den Worten Isidors von Sevillas auszudrücken,20 hatte auch Konsequenzen für die Beziehung der kirchlichen Amtsinhaber zu ihrem Amt und für die Erfassung der Amtsinhalte selbst. Das für das kanonische Recht prägende Spannungsfeld zwischen Sakralität und rechtlicher Normativität – das übri­ gens auch dazu führen sollte, dass die Mehrheitsregel sich mit der Fiktion vom Handeln des Kollektivs verband (etwa eines Konzils) 21 – sollte sich nämlich in diesem Problemzusammenhang zu der Frage verdichten, in welcher Beziehung die Weihe einerseits und die Zuweisung eines Amts andererseits standen. Das könnte man aus der Perspektive der Gegenwart in die Frage übersetzen, wie ein spezifischer mitgliedschaftlicher Status in einer Institution – begründet durch die Weihe – koordiniert wurde mit einer institutionell begründeten Handlungs- und Herrschaftsbefugnis. Dem soll im zweiten Abschnitt dieses Beitrags nachgegangen werden (unten III.).

II.  Charisma und amtskirchliche Ordnung Vor allem in der paulinischen Theologie ist immer wieder hingewiesen worden auf eine unmittelbar von Gott gegebene Gnadengabe, die ihre Empfänger in besonderer Weise zu Medien der göttlichen Offenbarung macht und eine besonders intensive Verbindung zum Göttlichen versinnbildlicht.22 Dieses χάρισμα ἐκ θεοῦ (z.B. 1 Kor 7,7) hatte grundsätzliche Konsequenzen auch für die Organisation der frühen christ­   Vgl. oben, bei und in Fn.  1.   Allgemein hierzu: Orazio Condorelli, Principio elettivo, consenso, rappresentanza: itinerari canonistici su elezioni episcopali, provvisioni papali e dottrine sulla potestà sacra da Graziano al tempo della crisi conciliare (secoli XII–XV), 2003, 33–97; Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wortund Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 4. Auflage 2003, 221–224. Pierre Michaud-Quantin, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le Moyen-Âge latin, 1970, 278–284; zu römischrechtlichen Textgrundlagen, die sich allerdings wohl noch nicht als Repräsentationsprinzip deuten lassen s. D. 50, 1, 19: quod maior pars curiae effecit, pro eo habetur, ac omnes egerint („was der grössere Teil der Kammer hervorgebracht wird, wird für das gehalten, was alle getan haben“); hierzu nunmehr grundlegend Wolfgang Ernst, Maior pars – Mehrheitsdenken in der römischen Rechtskultur, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, 132 (2015), 1 ff., hier 46 f., mit einer gegenüber den überkommenen Deutungen neuen Interpretation. 22  Für die paulinische Theologie in diesem Zusammenhang im Überblick s. Klaus Berger, Art. „Geist/Heiliger Geist/Geistesgabe III: Neues Testament“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 12, 1984/1993, 178 ff., hier 189–192. Umfassend aus neuerer Zeit Dirk Kellner, Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie. Die Bedeutung der Charismenlehre für die Pastoraltheologie und die Lehre vom Gemeindeauf bau, 2011, 278–364 m.w.N.; Gerhard Viehhauser, Streben nach Charisma und Heilung. Theologie der Charismen in der Hermeneutik der Erfahrung auf der Grundlage von 1 Kor 12–14. 20 21

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lichen Gemeinden: Die mit dem χάρισμα ἐκ θεοῦ, dem Charisma von Gott, ausgestatteten Personen – bei Paulus waren das die Apostel, die Propheten und die sog. Lehrer (vgl. etwa 1 Kor 12,28) 23 – waren nämlich in letzter Konsequenz von Gott selbst unmittelbar eingesetzt, handelten deswegen allein in seinem Namen und entzogen sich damit jedenfalls im Ausgangspunkt der Eingliederung in einen institutionellen Rahmen. Anders ausgedrückt könnte man versucht sein zu formulieren, dass die Doktrin vom Charisma – jedenfalls dem Grundsatz nach – eine Position ihrer Inhaber jenseits der kirchlichen Institution begründete.24 In diese Richtung zielen die Überlegungen von Rudolph Sohm (1841–1917) 25 zu den Ordnungsstrukturen der frühen christlichen Gemeinden in der Zeit vor dem Ersten Clemensbrief.26 Hier stand „an der Stelle der Gesetzgebung […] die Lehre vom Herrenwort“, weil die Ordnung der frühen ecclesia „nicht rechtliche, sondern charismatische Organisation“ gewesen sei, in der „die freie Anerkennung des Charismas“ und die „Unterordnung in der Ekklesia“ allein „Liebespflicht, nicht Rechtspflicht“ gewesen sei.27 Erst mit dem Clemensbrief, so hat Sohm ursprünglich 28 argumentiert, sei das Kirchenrecht geschaffen worden. Jetzt nämlich sei „eine von Gott der Christenheit mitgegebene kirchliche Rechtsordnung“ behauptet worden, „welche einen Gegenstand des Glaubens darstellt, deren Beobachtung für das rechte Verhältnis zu Gott entscheidend Stationen der kirchlichen Rezeption bis heute, 2009, 23–143; klassisch: Hans Freiherr von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 2. Auflage 1963, 59–81. 23   Näher hierzu etwa Wagner, Anfänge (Fn.  18), 86–88. Zum paulinischen Konzept des Charisma in 1 Kor 12 s. Hildegard Scherer, Charismen in Korinth – das Konzept des Paulus, in: Rychterová/Seit/Veit (Hrsg.), Das Charisma – Funktionen und symbolische Repräsentationen, 2008, 59 ff., 64–70, sowie die in Fn.  22 Genannten. 24   In diese Richtung ältere Ansätze s. die Übersicht zur Diskussion bei Ulrich Brockhaus, Charisma und Amt: Die paulinische Charismenlehre auf dem Hintergrund der frühchristlichen Gemeindefunktionen, 1972, 7–94, v.a. 7–31. 25   Andreas Thier, Art. „Sohm, Gotthard Julius Rudolph“, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), 539–541 (online verfügbar, unter http://www.deutsche-biographie.de/ppn118615238.html) m.w.N.; näher insbesondere Andreas Bühler, Kirche und Staat bei Rudolph Sohm, 1965; aus neuer Zeit s. Stefan Ruppert, Kirchenrecht und Kulturkampf. Historische Legitimation, politische Mitwirkung und wissenschaftliche Begleitung durch die Schule Emil Ludwig Richters, 2002, 153–159. 26   Zu Sohms Argumenten und Konzeptionen im Zusammenhang mit dem Ersten Clemensbrief s. aus jüngerer Zeit die konzise Analyse bei Stefan Seit, Charisma oder Recht? Webers Charisma-Konzept und das Bild der Kirche in Rudolph Sohms Interpretation des Ersten Clemensbriefs. Vorüberlegungen zu einem schwierigen Begriff, in: ders./Rychterová/Veit (Hrsg.), Das Charisma – Funktionen und symbolische Repräsentationen, 2008, 13 ff., 13–39. 27   Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. 1, 1892, 25, 27 f. (die Hervorhebungen aus dem Original wurden nicht übernommen). Detailliert auch ders., Wesen und Ursprung des Katholizismus, erstmals in: Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 27/10, 1909, selbständig erschienen 1912, 1967, und wieder abgedruckt in: Pawlowski (Hrsg.), Rudolph Sohm. Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist. Ausgewählte Texte zum Verhältnis von Staat und Kirche, 1996, 39 ff., hier 122–129. 28  Zur Modifikation von Sohms Überlegungen, der seit 1913/14 die Existenz eines „altkatholischen“, dem charismatischen Ursprung der Kirche näher stehenden Kirchenrechts behauptete, s. die Andeutungen in: ders., Wesen (Fn.  27), 168, sowie näher ders., Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, in: Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Adolf Wach zum 15. November 1915, posthum hrsg. v. Jacobi, Mayer, 1918, Nd. 1967, 536–674; s. dazu auch Peter Landau, Sakramentalität und Jurisdiktion, in: Rau/Reuter/Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. 2, 1995, 58 ff., wieder abgedruckt in: Landau, Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter: ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1967 bis 2006, 2013, 17 ff., hier 20–34.

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ist“.29 Seit dem Clemensbrief bildet also die Kirche hiernach eine rechtsförmig geordnete Institution, die aber darin in einen Prozess der Entfremdung gegenüber ihrem gerade durch seine Rechtsfreiheit gekennzeichneten Ursprung30 gerät. Sohms darauf gegründete berühmte These, „das Kirchenrecht steht mit dem ­Wesen der Kirche in Widerspruch“31 ließe sich im Blick auf die Beziehungen von Institution und Person dann in die Aussage umformulieren, „das kirchliche Amt steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch“. Denn wenn die Position der Amtsträger nicht mehr im Charisma und damit in der Spiritualität des Göttlichen begründet, sondern aus der Institution Kirche abgeleitet wird, dann schiebt sich die Kirche gleichsam zwischen die Person des Amtsträgers und Gott. Solche Überle­ gungen bewegen sich nicht ganz zufällig auf der Linie der lutherischen Ekklesiologie und Rechtstheologie32 mit ihrer Lehre von der unsichtbaren Kirche als Liebesgemeinschaft der wahrhaft Gläubigen.33 Dem entsprach es, dass Sohm betonte, die Vor­ stellung von kirchlichem Recht sei „nach dem Urteil der lutherischen Reformation ein widerchristlicher Gedanke“34, was freilich aus heutiger Sicht nicht ganz in Einklang mit den Quellen zu bringen ist.35 Aber das ändert nichts an Sohms enormen Einfluss auf seine Zeitgenossen, der auch und gerade bei Max Weber greif bar wird, dessen So­ziologie gerade in den der Kirche gewidmeten Teilen Sohm verpflichtet ist 36 und   Sohm, Kirchenrecht I (Fn.  27), 160; s.a. ders., Wesen (Fn.  27), 141.   Vgl. etwa Sohm, Kirchenrecht I (Fn.  27), 23: „Es kann keine rechtliche Regierungsgewalt in der Ekklesia geben“, es seien vielmehr „Moralgebote“ gewesen, die die als „Ekklesia“ bezeichnete urchristliche Organisation strukturiert hätten. 31   Sohm, Kirchenrecht I (Fn.  27), 1, 700. Für eine umfassende Analyse von Sohms ekklesiologischen und theologischen Grundannahmen s. Bühler, Kirche und Staat (Fn.  25), 122–257. 32   Auf der gleichen Linie auch Bühler, Kirche und Staat (Fn.  25), 234–246, der allerdings auch die Unterschiede zur lutherischen Theologie herausstellt. 33  Dazu demnächst im Überblick: Andreas Thier, Grundlagen und Anfänge der Geschichte des ­evangelischen Kirchenrechts, in: Heinig/de  Wall (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, Rn.  24–27 (Manuskript abgegeben); umfassend: Johannes Heckel, Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, 2. Auflage, hrsg. v. Martin Heckel, 1973; ders., Kirche und Kirchenrecht nach der Zwei-Reiche-Lehre, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 48 (1962), 222 ff.; John Witte Jr., Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reforma­t ion, 2002 (dt. als „Recht und Protestantismus. Die Rechtslehre der lutherischen Reformation“, 2014), 87–112. 34   Rudolph Sohm, Weltliches und geistliches Recht, erstmals in: Festgabe der Leipziger Juristenfakultät für Dr. Karl Binding zum 7. August 1913, 1914, 1 ff., wieder abgedruckt u.a. in: Pawlowski (Hrsg.), Rudolph Sohm. Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist. Ausgewählte Texte zum Verhältnis von Staat und Kirche, 1996, 142 ff., 212 (die Hervorhebung entspricht dem Original). 35   Für die heutige Sichtweise s. etwa Christoph Link, Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, 2. Auflage 2010, 58. 36   Michael N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, 1987, 16–25; Kellner, Charisma (Fn.  22), 56–64; Martin Riesebrodt, Charisma, in: Kippenberg/Riesebrodt (Hrsg.), Max Webers ‚Religionssystematik‘, 2001, 151 ff.; Seit, Charisma (Fn.  26), 39–44 m.w.N.; s.a. Andreas Anter, Charisma und Anstaltsordnung. Max Weber und das Staatskirchenrecht seiner Zeit, in: Lehmann/Ouédraogo (Hrsg.): Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, 2003, S.  29 ff., sowie Klaus Tanner, Die Macht des Unverfügbaren: Charisma als Gnadengabe in der Thema­ tisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum, in: Andenna/Breitenstein/Melville (Hrsg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter: Akten des 3. Internationalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte“ in Verbindung mit Projekt C „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter“ und Projekt W „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle Wechselwirkung zweier politischer 29

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der bekanntlich das Charisma zu einem Typus seiner Herrschaftssoziologie37 machen sollte.38 Sohms Thesen zu Recht, Kirche und Staat sind immer wieder intensiv debattiert worden.39 Trotzdem wurden seine Überlegungen hier noch einmal eingeführt, weil sie in ihrer Grundsätzlichkeit die Frage nach der Beziehung zwischen Institution und Person im Kirchenrecht besonders plastisch werden lassen. Das ändert allerdings nichts daran, dass Sohms Thesen sich in ihrer markanten Akzentuierung nur begrenzt mit den Quellen vereinbaren lassen.40 Das gilt nicht allein für Sohms These vom ursprünglich rechtsfreien Raum der christlichen Gemeinden,41 der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Adolf von Harnack42 mit der nüchternen Feststellung widersprochen43 wurde, „das göttliche Kirchenrecht war bereits da“44. Im vorliegenden Betrachtungszusammenhang wichtiger ist der Befund, dass die Ordnung der frühen christlichen Gemeinden von vornherein von einem Nebenund Miteinander von Charisma und institutionell eingebundenen Ämtern geprägt war, war doch zu diesem Zeitpunkt das gemeindliche Ordnungsgefüge noch vergleichsweise locker geschichtet,45 und bezeichnenderweise ist gerade die paulinische Theologie gekennzeichnet von einer Verschränkung von Amt und Charisma.46 So formuliert der Erste Clemensbrief selbst die Regel, „es soll sich ein jeder seinem Nächsten unterordnen, wie es bestimmt ist in seiner Gnadengabe (ἐν τῷ χαρίσματι und sozialer Felder“ des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (Dresden, 10.–12. Juni 2004), 2005, 25 ff., 28–40. – Max Weber hatte während seiner Militärzeit in Straßburg Vorlesungen Sohms besucht, siehe Max Weber, Lebenslauf, in: ders., Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Schriften 1889–1894, MWG I/1 hg. v. Dilcher/ Lepsius, 2008, 352; dazu auch Peter Landau, Max Weber und das kanonische Recht, in: Lepsius/Schulze/Kannowski (Hrsg.), Recht – Geschichte – Geschichtsschreibung, 2014, 163 ff. 37  Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, 2001. 38   Aus jüngster Zeit s. etwa Christopher Adair-Toteff, Max Weber’s Charisma, in: Journal of Classical Sociology, 5/2 ( July 2005) 189 ff.; s. im Übrigen die Nachweise oben, Fn.  36. 39   Vgl. etwa Hans-Martin Pawlowski, Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist. Der Beitrag Rudolph Sohms zur Moderne, in: ders. (Hrsg.), Rudolph Sohm. Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist. Ausgewählte Texte zum Verhältnis von Staat und Kirche, 1996, 221 ff.; zu Sohms Kirchenrechtskonzeption s. Dietmar Konrad, Der Rang und die grundlegende Bedeutung des Kirchenrechts im Verständnis der evangelischen und katholischen Kirche, 2010, 220–229, sowie nach wie vor grundlegend Bühler, Kirche und Staat (Fn.  25), passim. 40   S. dazu insbesondere Landau, Sakramentalität (Fn.  28), 27–34. 41   Zur Debatte über diese These Sohms s. die Übersicht bei Wagner, Anfänge (Fn.  18), 23–30. 42   Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, 2004. 43   Zur Kontroverse zwischen Sohm und Harnack s. im Überblick Seit, Charisma (Fn.  26), 39 f. m. Anm.  81. 44   Adolf von Harnack, Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten nebst einer Kritik der Abhandlung R. Sohm’s: „Wesen und Ursprung des Katholizismus“ und Untersuchungen über „Evangelium“, „Wort Gottes“ und das trinitarische Bekenntnis, 1910, 159. 45  Als Überblick zu den Deutungen des gemeindlichen Ordnungsgefüges in paulinischer Zeit s. Bengt Holmberg, Paul and power. The structure of authority in the primitive church as reflected in the Pauline epistles, 1978, 96–109 m.w.N. 46  Zusammenfassend Wagner, Anfänge (Fn.  18), 90–92 für die paulinische Theologie, in der Amt und Charisma ineinander verschränkt sind. Umfassend Kellner, Charisma (Fn.  22), 358–360.

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αύτοῦ )“47, bezieht also das Charisma in die gemeindliche Ordnung mit ein. Ließe sich

hier noch argumentieren, dass damit die Kategorie des Charisma durch ihre Ausweitung auf alle Christen möglicherweise gezielt abgewertet wurde, so deutet die um 100 entstandene Didache, eine Sammlung von angeblichen apostolischen Regeln für die kirchlichen Gemeinden48, in eine andere Richtung. Hier nämlich erging an die Gemeinden die Anweisung, „wählt Euch Bischöfe und Diakone […] denn sie sind es, die für Euch das Amt (λειτουργία ) der Propheten und Lehrer ausüben“49. Hier konvergierten also nicht allein kirchliche Ämter – Episkopat und Diakonat – mit dem Charisma, repräsentiert durch Propheten und Lehrer, auch wenn die Konkurrenz zwischen beiden Funktionstypen durchaus noch greif bar wird.50 Vor allem wurden die charismatischen Funktionsträger in dieser Anweisung durch die Wahl gezielt an die Institution Gemeinde zurückgebunden. Das Charisma als, wie man vielleicht sagen könnte, „transinstitutionelle“ Kategorie der Legitimation und auch der Aufgabenumschreibung kirchlicher Funktionsträger verlor in der Folgezeit mehr und mehr an Bedeutung.51 Das beruhte auf der allmählichen Verfestigung der kirchlichen Institutionen, die deswegen der vergleichsweise unbestimmten Beschreibung ihres Personals mit charismatischen Kategorien wie „Prophet“ oder „Lehrer“ immer weniger zugänglich wurden. In den Vordergrund traten stattdessen normativ ein­ facher zu benutzende Kriterien der Zuständigkeitsabgrenzung wie seit dem Konzil von Antiochia (341) deutlich wurde, das jedem Bischof die ἑξουσία (potestas in der Übersetzung des Dionysius Exiguus) über seine Diözese zustand.52 Ein territorial ungebundenes Wirken von „Propheten“ und „Lehrern“ war mit diesem Konzept hierarchisierter Bischofsherrschaft, dem monarchischen Episkopat, nicht zu vereinbaren. Zugleich wurde die wahlförmige Einbindung der Bischofsbestellung in das kirchliche Institutionengefüge seit dem 3. Jahrhundert vollends festgeschrieben und war seit dem ersten Konzil von Nicaea (325) 53 eine feste Regel des jetzt entstehenden universalen Kirchenrechts,54 um dann seit dem 12. Jahrhundert, in der Zeit der klassischen Kanonistik, zu einem zentralen Thema des dekretistischen und dekretalis­ 47  1 Clem 38, 1, Text nach der Übersetzung bei Lindemann/Paulsen, Die Apostolischen Väter (Fn.  16), 123 (griechisches Original ebd., 122). 48   Jonathan A. Draper, Die Didache, in: Pratscher (Hrsg.), Die Apostolischen Väter, 2009, 17 ff.; Johannes Mühlsteiger, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung, 2006, 69–86; Georg Schöllgen, Einleitung zur Didache, in: ders./Geerlings, Didache; Zwölf-Apostel-Lehre; Traditio apostolica; Apostolische Überlieferung = Zwölf-Apostel-Lehre = Apostolische Überlieferung, 1991, 25–94. 49   Didache 15, 1; hier zitiert nach der Textausgabe bei Georg Schöllgen, in: ders./Geerlings, Didache; Zwölf-Apostel-Lehre; Traditio apostolica; Apostolische Überlieferung = Zwölf-Apostel-Lehre = Apostolische Überlieferung, 1991, 96–139, hier 135 (der griechische Text ebd., 134). 50   Zur Deutung der Didache im Zusammenhang der Ämterordnung s. Wagner, Anfänge (Fn.  18), 277 f., 300. 51   Im Überblick Ernst Ludwig Grasmück, Von der charismatischen Struktur der christlichen Gemeinden in „apostolischer“ Zeit zu den frühen Formen von Hierarchie und Institutionalisierung, in: Rychterová/Seit/Veit (Hrsg.), Das Charisma – Funktionen und symbolische Repräsentationen, 2008, 73 ff. 52  Zum Ganzen: Jean Gaudemet, Charisme et droit. Le domaine de l‘évêque, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 74 (1988), 44 ff., 48–56 (zu den antiochenischen Bestimmungen ebd., 48). 53   Als Überblick: Lorenzo Perrone, Von Nicaea (325) nach Chalcedon (451), in: Alberigo (Hrsg.), Geschichte der Konzilien. Vom Nicaenum bis zum Vaticanum II, 1993, 21 ff., hier 33–56. 54   Thier, Hierarchie (Fn.  19), 155–164 und passim.

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tischen Diskurses zu werden.55 Dabei ersetzte die im Wahlverfahren zu prüfende dignitas, teilweise auch der bloße Konsens der Wahlbeteiligten die Kategorie des allein von Gott gegebenen Charisma.56 Das bedeutete zwar nicht, dass die jetzt ent­ stehende Amtskirche völlig auf charismatische Elemente als Kennzeichnungen personaler Qualitäten verzichtete, wie die Tradition der Heiligenviten57 und die Be­ deutung des Charisma in der kollektiven Erinnerung monastischer Gemeinschaften58 zeigen. Aber der institutionelle Vorrang gegenüber dem Charisma blieb dauerhaft ­erhalten. Noch im 20. Jahrhundert erklärte das Vaticanum II59 im Dekret über das Laien­ apostolat60 in der Auseinandersetzung mit der paulinischen Theologie, es schenke zwar der Heilige Geist „den Gläubigen auch noch besondere Gaben (dona)“, die auch als charismata bezeichnet werden. Doch die Benutzung dieser Gaben solle, so wurde dann betont, bei allen Gläubigen erfolgen in communione […] cum pastoribus suis, quorum est de eorum germana natura et ordinato exercitio iudicium ferre […] ut omnia probent et quod bonum est teneant61. Der Einsatz des Charisma wurde also zurückbezogen auf die Kleriker, denen eine umfassende Prüfungsbefugnis zugebilligt wurde, die bis hin zur Entscheidung darüber reichte, ob ein Charisma beibehalten werden sollte. Bezeichnenderweise sahen die Verfasser des Dekrets dann auch die Notwendigkeit zu betonen, diese Prüfungsbefugnis solle selbstverständlich nicht bewirken, ut Spiritum extinguant, dass also der Heilige Geist durch die Kleriker gleichsam ausgelöscht werde. Hier wurde also der Konflikt zwischen Amt und persönlicher Gnadengabe eindeutig zu Gunsten der amtskirchlichen Ordnung entschieden.62

55   Für einen instruktiven Überblick s. Richard H. Helmholz, Kanonisches Recht und Europäische Rechtskultur (engl. The spirit of classical canon law, 1996), 2013, 37–67. 56   Thier, Hierarchie (Fn.  19), 40–62, 98–119. 57   Dazu etwa Götz Hartmann, Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger der Spät­ antike, 2006, 8–11 m.w.N. und passim. Allgemein zur Hagiographie als Referenzpunkt der Sinngebung s. die Beiträge in: Dieter R. Bauer/Klaus Herbers (Hrsg.), Hagiographie im Kontext: Konzeption und Zielvorstellung, 2000. 58   Vgl. dazu etwa Gert Melville, Stephan von Obazine: Begründung und Überwindung charisma­ tischer Führung, in: ders./Andenna/Breitenstein (Hrsg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter: Akten des 3. Internationalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte“ in Verbindung mit Projekt C „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter“ und Projekt W „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle Wechselwirkung zweier politischer und sozialer Felder“ des Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (Dresden, 10.–12. Juni 2004), 2005, 85 ff., sowie die weiteren Beiträge in diesem Sammelband. 59   Knut Wenzel, Kleine Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, 2005. 60   Dazu allgemein: Guido Bausenhart, Theologischer Kommentar zum Dekret über das Apostolat der Laien (Apostolicam actuositatem), in: Hünermann/Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum zweiten vatikanischen Konzil, 2005, 1 ff., 5–37. 61   Decretum de apostolatu laicorum „Apostolicam actuositatem“, v. 18.11.1965, 3, 3; Text in: AAS 58 (1966), 837 ff., sowie nunmehr auch in: Ganzer/Alberigo/Melloni (Hg.), Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta. Editio critica, Bd. III, 2010, 451–474 (ediert von Alberto Melloni). 62   Auf dieser Linie auch Bausenhart, Kommentar (Fn.  60), 54–56.

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III.  Sakralisierte Personalität und institutionell begründete Herrschaftsmacht im Spannungsfeld von potestas ordinis und potestas jurisdictionis In der Lehre vom Weihesakrament63 hat die katholische Kirche ein Instrument geschaffen, mit dessen Hilfe es möglich ist, einzelne ihrer Mitglieder in besonderer Weise an sich zu binden und zugleich von anderen Mitgliedern abzuheben. Denn durch die Weihe wird, wie es etwa in can. 207 §  1 CIC 1983 heißt, mit dem ordo der Kleriker eine besondere Gruppe von Gläubigen geschaffen, die als ministri sacri abgegrenzt werden von den „anderen“ (ceteri), die laici nuncupantur, die also Laien heißen.64 Bereits der Ausdruck ministri, „Amtsträger“, deutet auf den amtsrechtlichen Kern dieser Unterscheidung hin.65 Dem entspricht der erste Beleg für laici im Ersten Clemensbrief. Hier nämlich wurde die Person der laici bestimmt aus der Differenz zwischen Amtsträgern und solchen Personen, die kein gemeindliches Amt ausüben: 66 „Dem Hohenpriester sind nämlich eigene dienstliche Handlungen (λειτουργίαι) übertragen, und den Priestern ist ihr eigener Platz (τόπος ) zugewiesen, und Leviten obliegen eigene Dienstleistungen; der Mensch aus dem Volk ist an die für das Volk geltenden Vorschriften (λαΐκος ἄνθροπος τοῖς λαϊκοῖς προστάγμασιν) gebunden“67. Die Weihe war allerdings mehr als eine schlichte Aufgabenübertragung. Sie erhielt sehr rasch sakramentale Qualitäten, so dass auf diese Weise die Unterscheidung zwischen Laien und Klerus und dessen innerkirchlicher Leitungsanspruch in der göttlichen Heilsordnung verankert wurde.68 Kennzeichnend dafür war eine Aussage Augustins (354–430) 69 von 40170 : „Wenn eine Ordination eines Klerikers zur Versammlung der Gemeinde geschehen sollte, dann, auch wenn die Versammlung der Gemeinde nicht erfolgt, bleibt gleichwohl

63   Ludwig Ott, Das Weihesakrament (Handbuch der Dogmengeschichte IV/5), 1969. Aus der Perspektive des geltenden universalen Kirchenrechts s. Johann Hirnsperger, Die Ordination, in: Haering/ Rees/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts (Fn.  6 ), 1221 ff., sowie Ludger Müller, Weihe, in: ders./Ahlers/Gerosa (Hrsg.), Ecclesia a Sacramentis. Theologische Erwägungen zum Sakramentenrecht, 103 ff. 64   Zum Ganzen im Überblick: Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: Listl/Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts (Fn.  6 ), 220 ff., 230–232. 65   Näher hierzu Ahlers, Grundstellung (Fn.  64), 231 m.w.N. 66  Dazu Lona, Der erste Clemensbrief (Fn.  14), 434 f.; Wagner, Anfänge (Fn.  18), 232–234. 67  1 Clem 40, 5; Text nach der Übersetzung bei Lindemann/Paulsen, Die Apostolischen Väter (Fn.  16), 125 (die griechische Fassung ebd., 124). 68   Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 12–18, 29. 69   Therese Fuhrer, Augustinus, 2004; David Vincent Meconi/Eleonore Stump (Hrsg.), The Cambridge Companion to Augustine, 2014. 70   Zur Datierung s. Gerard Walsh, Introduction, in: ders. (Hrsg.), De Bono Coniugali. De Sancta Uirginitate, 2001, IX ff., IX m.w.N.

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bei jenen Geweihten das Sakrament der Weihe.“71 Die Ordination eines Klerikers72 war hiernach also auch dann gültig, obwohl die an sich notwendige Versammlung der Gemeinde nicht stattfand. Die Laien wurden auf diese Weise aus dem Weihevorgang ausgenommen, die Gültigkeit der Weihe an die Konsekration durch den kirchlichen Oberen, etwa den Bischof (oder den Metropoliten oder auch die Konprovinzialbischöfe)73 gebunden. Regelmäßig war die Weihe damit mit der Übertragung eines kirchlichen Amts verbunden und bereits das Konzil von Chalcedon verbot 451 ausdrücklich die sog. absolute Ordination, die den Geweihten nur mit der Kirche insgesamt verband, ohne ihm ein bestimmtes officium zu übertragen.74 Diese funktionale Bindung von officium, dem Amt, und ordo, dem Klerikerstand, die in der sozialen Wirklichkeit der Kirche vor allem der Versorgung der Kleriker diente, bewirkte also eine Doppelung der Beziehungen zwischen amtskirchlicher Institution und geweihter Person: Die Position des Klerikers war begründet auf der Weihe und auf der Einweisung in ein Amt. Dem entsprach auch die Beschreibung der Weihe durch Petrus Lombardus († 1160)75 als „ein gewisses Zeichen, das ist ein bestimmtes Heiliges, durch das dem Geweihten die geistliche Gewalt (potestas spiritualis) und ein Amt (officium) übertragen wird“76. Der Ausdruck potestas spiritualis verwies allerdings auch auf die analytischen Bemühungen, die mit der Weihe verliehenen sakramentalen Befugnisse deutlicher zu konturieren. Zwar hatte die Weihe seit jeher den Geweihten die Vollmacht der Sakramentsspendung gegeben und etwa (je nach Weihegrad) Menschen durch die Taufe77 in die Kirche aufzunehmen.78 Darüber hinaus bildete sich eine Hierarchie der Weihegrade aus den höheren und den niederen Weihen heraus,79 die ihrerseits der kirchlichen Organisation ein buchstäblich sakrales Fundament gab. Bezeichnenderweise drohte noch 1563 das Konzil von Tri71   Augustinus Hipponensis, De bono coniugali, 24.32, in: Zycha (Hrsg.), Sancti Aureli Augustini de fide et symbolo; De fide et operibus; De agone christiano; De continentia; De bono coniugali; De Sanc­ ta virginitate; De bono viduitatis; De adulterinis coniugiis lib. II; De mendacio; Contra mendacium; De opere monachorum; De divinatione daemonum; De cura pro mortuis gerenda; De patientia (Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, 41; Augustini opera V/3), 1900, 227: […] si fiat ordinatio cleri ad plebem congregandam, etiamsi plebis congregatio non subsequatur, manet tamen in illis ordinatis sacramentum ordinationis (Übersetzungsvorschlag im Text A.T.). 72   Zur Deutung der Ordination bei Augustinus s. den Überblick bei Alexander Zerfaß, Ordinatio, in: Augustinus-Lexikon IV, 2012, 353 ff. 73   In der Übersicht s. Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 27, 30 f. 74   Zu dieser Entwicklung s. Vinzenz Fuchs, Der Ordinationstitel von seiner Entstehung bis auf Innozenz III. Eine Untersuchung zur kirchlichen Rechtsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Anschauungen Rudolph Sohms, 1930, Nd. 1963. 75   Marcia L. Colish, Peter Lombard, 1994. 76   Petrus Lombardus, Sententiae in iv libris distinctae, 4.24.13.1: signaculum quoddam esse, id est sacrum quiddam, quo spiritualis potestas traditur ordinato et officium (hier zitiert nach der online verfügbaren Ausgabe, unter http://clt.brepolis.net/LLTA/pages/TextSearch.aspx?key=MPELOSENT_). Zu dieser Beschreibung s. Christopher Voigt-Goy, Potestates und ministerium publicum. Eine Studie zur Amtstheolo­ gie im Mittelalter und bei Martin Luther, 2014, 22 f., sowie Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 48. 77  Grundlegend zur Rechtsgeschichte des Taufsakraments nunmehr Christoph H. F. Meyer, Taufe und Person im ersten Jahrtausend, in: Rechtsgeschichte – Legal History Rg 21 (2013) 89 ff., online verfügbar, unter http://dx.doi.org/10.12946/rg21/089-117. 78   Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 14 f., 29, 79  Im Überblick: Richard Puza, Art. „Weihe, -grade, -hindernisse“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, 1997, 2104 ff., 2106, näher Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 19–25, 43–48.

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ent80 all denen das Anathem an, die behaupteten, dass es „in der katholischen Kirche keine göttlich begründete Hierarchie gebe, die aus Bischöfen, Priestern und Amts­ trägern besteht“81. Diese Verflechtung von kirchlicher Organisation und Weihe, von Sakralität und Ämterordnung, schuf auch Probleme. Das deutet sich bereits bei Augustin an. Denn der Bischof von Hippo hielt es für notwendig, seiner vorhin zitierten Aussage über die Sakramentalität der Weihe82 den Hinweis hinzuzufügen, „wenn jemand aufgrund seines Verschuldens aus dem Amt entfernt wird, verliert er das einmal verliehene Sakrament des Herrn nicht, auch wenn das Urteil (über seine Amtsentfernung) fortbesteht“83. Die hierin angedeutete Unterscheidung von officium und ordo, vor ­allem aber die Vorstellung von der Unzugänglichkeit der Weihe für menschliche Verfügungen hatte durchaus konkrete Hintergründe: Bereits in der Spätantike durchlebte die Kirche im Zeichen ihrer theologischen Identitätsbildung eine Serie von heftigen internen Kontroversen, in deren Verlauf die unterlegene Seite regelmässig zu Häretikern erklärt und deswegen aus der Kirche ausgeschlossen wurde. Dann aber stellte sich die Frage, wie mit den sakramentalen Handlungen exkommunizierter Bischöfe und Kleriker (Taufen, Priesterweihen etc.) umzugehen war, ob also der Ausschluss eines Geweihten auch seine endgültige (und rückwirkende) Lösung von der Institution Kirche bedeuten konnte, obwohl doch diese Bindung sakramental begründet war.84 So stand im sogenannten Donatisten­streit,85 die Frage im Vordergrund, ob sakramentale Handlungen von Bischöfen und Klerikern, die später als Häretiker eingestuft wurden, Gültigkeit behielten. Anders ausgedrückt, war das Problem zu lösen, ob eine sakramental begründete Bindung der Person an die Institution auch dann fortwirken konnte, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für diese Bindung durch Häresie oder Schisma entfielen. Ein ähnlich gelagertes Problem stellte sich auch nach der ideellen Konsolidierung der Kirche. Denn im Zusammenhang des Investiturstreits wurde der Simonist, der die Einsetzung durch einen Laien erlangt hatte, seinerseits einem Häretiker gleichgestellt. Das führte wiederum zu der Frage, ob die   Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 1–4, 1951–1975.   Sessio 23, canones de sacramento ordinis, c. 6: Si quis dixerit, in ecclesia catholica non esse hierarchiam divina ordinatione institutam quae constat ex episcopis, presbyteris et ministris[…]; Text in: Ganzer/Alberigo/ Melloni, Decreta (Fn.  61), 113 (Hervorhebung nicht im Original, Übersetzungsvorschlag A.T.); zum Kontext s. Udo Wolter, Art. „Verwaltung, Amt, Beamter V–VI“, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1992/2004, 26 ff., 31, sowie bereits ders., Amt und Officium in mittelalterlichen Quellen vom 13. bis 15. Jahrhundert. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 74 (1988), 246 ff., 253 f. 82   Dazu oben, bei und in Fn.  71. 83   Augustinus Hipponensis, De bono coniugali, 24.32, in der Edition Zycha (Fn.  71), 227: si aliqua culpa quisquam ab officio remoueatur, sacramento domini semel inposito non carebit, quamuis ad iudicium permanente. 84  Dazu Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 17 f., 31–39. 85   Zum Donatistenstreit im Überblick: Bernhard Kriegbaum, „Donatismus.“ Religion in Geschichte und Gegenwart. Brill Online, 2015, http://referenceworks.brillonline.com/entries/religion-in-geschich te-und-gegenwart/donatismus-COM_03829; näher Ernst Ludwig Grasmück, Coercitio. Staat und Kirche im Donatistenstreit, 1976; Arne Hogrefe, Umstrittene Vergangenheit. Historische Argumente in der Auseinandersetzung Augustins mit den Donatisten, 2009, 17–60 und passim; Johannes Mühlsteiger, Donatismus und die verfassungsrechtlichen Wirkungen einer Kirchenspaltung, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 85 (1999), 1 ff. 80 81

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Amtshandlungen eines Simonisten gültig waren und ob er im Zweifel erneut zu ordinieren war.86 Diese Fragestellungen können hier freilich nur genannt, aber im vorliegenden thematischen Rahmen nicht näher untersucht werden. Wesentlich ist hier vielmehr der Befund, dass die seit dem frühen 12. Jahrhundert entstehende scholastisch geprägte kirchliche Rechtswissenschaft87 gerade in diesem Fall vor einem komplexen und alles andere als praxisfernen Problem stand. Das galt umso mehr, als die Beziehung von officium und ordo auch andere Strukturelemente der Amtskirche betraf, deren analytische Erfassung zu den erklärten Zielsetzungen der Kanonistik gehörte: So wurde immer wieder die Frage gestellt, wie das Verhältnis zwischen Bischofswahl und Bischofsweihe bzw. der ihr gleichgestellten confirmatio zu bestimmen war, ob nämlich der zum Bischof Gewählte bereits die episkopalen Befugnisse ausüben durfte.88 Besonders deutlich (und zumindest dem Grundsatz nach auch dringlich) wurde diese Problematik beim Papst. Das galt schon deswegen, weil der Papst als Bischof von Rom grundsätzlich der gleichen Weihestufe angehörte wie die anderen Bischöfe auch und in einer allein von der Weihehierarchie her gedachten kirchlichen Organisation sein Primat fraglich zu werden drohte. Hinzu trat auch hier die Frage, ob bereits die Papstwahl oder erst die Konsekration des Gewählten konstitutiv für seine Herrschaftsbefugnisse waren.89 In der kanonistischen Diskussion90 entwickelten sich dabei relativ bald differenzierende Antworten. Das galt der Sache nach bereits für das Decretum Gratiani, das um 1140 entstand und die wichtigste Basis der neu entstehenden Kanonistik bildete.91 Gratian thematisierte die eben angesprochenen Überlegungen an mehreren Stellen seines Dekrets sehr intensiv.92 Er schlug unter anderem vor, zwischen der Ausübung 86   Zu den unterschiedlichen Deutungen und Positionen hierzu s. Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 60–73. 87   Christoph H. F. Meyer, Art. „Kanonistik“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2. Auflage 2012, Sp.  1576 ff.; zu Texten und Autoren s. die Beiträge in: Wilfried Hartmann/ Kenneth Pennington (Hrsg.), The History of Medieval Canon Law in the Classical Period, 1140–1234. From Gratian to the Decretals of Pope Gregory IX., 2008. Grundlegend zu Konzeptionen und Hermeneutiken: Helmholz, Kanonisches Recht (Fn.  55), passim. 88  Umfassend: Robert L. Benson, The Bishop-elect. A Study in Medieval Ecclesiastical Office, 1968. 89   Zum Ganzen Harry Dondorp, Die Zweidrittelmehrheit als Konstitutivum der Papstwahl in der Lehre der Kanonisten des dreizehnten Jahrhunderts, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 161 (1992), 396 ff. 90  Dazu: Jean Gaudemet, Pouvoir d’ordre et de juridiction. Quelques repères historiques, in: L’année canonique 29 (1985/86), 83 ff. (wieder abgedruckt in: ders., Droit de l’Eglise et vie sociale au Moyen Age, 1989, Nr. VII), 84–87; Donald Edward Heintschel, The mediaeval concept of an ecclesiastical office, 1956, passim; Wolter, Amt (Fn.  81), 250–256, s.a. ders., Verwaltung (Fn.  81), 29–32. 91   Peter Landau, Gratian and the Decretum Gratiani, in: Hartmann/Pennington, History (Fn.  87), 22 ff. m.w.N.; zur Person Gratians aus jüngster Zeit Anders Winroth, Where Gratian slept: the life and death of the father of canon law, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, 99 (2013), 105 ff. 92   Zu Gratians Konzept von ordo und officium s. Heintschel, Concept (Fn.  9 0), 16–32, wo allerdings die nachfolgend angesprochene Problematik nicht thematisiert wird. S. demgegenüber die Hinweise bei Hans Barion, Ordo und Regimen fidelium: Über die rechtsgeschichtlichen Grundlagen des c. 948 Codex IC, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 46 (1960), 112 ff., 119–131 mit einer intensiven Auseinandersetzung mit Gratian; Adam Zirkel, „Executio potestatis“. Zur Lehre Gra­ tians von der geistlichen Gewalt, 1973; s.a. Ludwig Hödl, Die Geschichte der scholastischen Literatur

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und der Inhabe der potestas officii zu unterscheiden und formulierte deswegen die Regel, aliud est potestas offitii, aliud executio, „das eine ist die Amtsbefugnis, das andere ist deren Ausübung“.93 Daraus ergab sich für Gratian als Grundregel, dass der Geweihte zwar die dadurch verliehene potestas auch nach seinem Abfall von der Kirche nicht verliere, aber – mit Ausnahme der Taufe – als Häretiker nicht wirksam ausüben könne.94 Diese Grundunterscheidung wurde in der Dekretistik, also dem Teil der Kanonistik, die sich aus der Kommentierung von Gratians Dekret bildete,95 übernommen und weiter ausgebaut. Mehr und mehr gewann dabei die Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von potestates an Raum:96 Eine aus der Weihe resultierende, sakrale und deshalb unentziehbare Befugnis, die potestas ordinis, wurde abgehoben von einer potestas iurisdictionis97, einer Herrschaftsgewalt, die allein von der Institution Kirche abgeleitet wurde und deswegen auch keinen Bestand mehr hatte, wenn die Amtsperson sich außerhalb der Kirche befand.98 So erklärte etwa Alanus Anglicus, der um 1190–1215 in Bologna unterrichtete,99 in der zweiten Schicht seiner Glossen zum Dekret (um 1202)100 im Einklang mit Gratian, auch eine ehemals geweihte, aber von der Kirche abgefallene Person könne wirksam die Sakramente spenden, wenn dies der kirchlich vorgeschriebenen Form entspreche. Nicht möglich sei einem Häretiker dagegen die Exkommunikation,101 denn „die Möglichkeit zur und der Theologie der Schlüsselgewalt, Bd.1, 1960, 173–175, der dabei auch die – hier nicht näher in den Blick zu nehmenden – Beziehungen zwischen der gratianischen Konzeption und den Ordnungsentwürfen Ivos von Chartres untersucht. 93   Decretum Gratiani, Dictum Gratiani §  1, post C. 24 q. 1 c. 37, hier zitiert nach der Ausgabe von Emil Friedberg (Hrsg.), Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, 1879, Nd. 1995, 981. 94   Vgl. Dictum Gratiani §  2 , post. C. 1 q. 1 c. 97, bei Friedberg, Corpus (Fn.  93), 395: Degradatus enim episcopus potestatem largiendi sacros ordines non habet, facultatem baptizandi tamen non amisit. Der abgesetzte, degradierte Bischof hatte keine Konsekretions- und Ordinationsbefugnisse mehr, konnte aber weiterhin taufen. Zum Ganzen: Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 65 f., sowie Stanley Chodorow, Christian political theory and church politics in the mid-twelfth century. The ecclesiology of Gratian’s Decretum, 1972, 173–175. 95  Überblick: Meyer, Kanonistik (Fn.  87), 1577, sowie Rudolf Weigand, Art. „Dekretisten, Dekretistik“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, 1986, 661 ff.; näher ders., The transmontane decretists, in: Hartmann/Pennington, History (Fn.  87), 174 ff., sowie Kenneth Pennington/Wolfgang P. Müller, The decretists. The Italian school, ebd., 121 ff. 96   Ott, Weihesakrament (Fn.  63), 66–72. S. a. Franz Gillmann, Der „sakramentale Charakter“ bei den Glossatoren Rufinus, Johannes Faventinus, Sikard von Cremona, Huguccio und in der Glossa ordinaria des Dekrets, in: Der Katholik. Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben, 4. Folge Bd. 5 (1910), 300 ff., online verfügbar unter http://idb.ub.uni-tuebingen.de/diglit/kath_1910_ 005/0306. 97   Zur Entwicklung des Wortfeldes in der Dekretistik s. Martinien van de Kerckhove, La notion de juridiction chez les Décrétistes et les premiers Décrétalistes (1140–1250), in: Etudes franciscaines, 49 (1937), 420 ff. (online verfügbar über den Server der MGH München, http://www.mgh-bibliothek. de//dokumente/b/b072091.pdf ), 421, 423–425. 98   Hödl, Geschichte (Fn.  92), 179–184, der dabei die potestas jurisdictionis aus der Perspektive der Schlüsselgewalt analysiert. 99   Übersicht bei Kenneth Pennington, Medieval and Early Modern Jurists: A Bio-Bibliographical Listing, nur online verfügbar, hier http://faculty.cua.edu/pennington/1140a-z.htm#Alanus%20Anglicus. 100   Alphons Maria Stickler, Alanus Anglicus als Verteidiger des monarchischen Papsttums, in: Salesianum 21 (1959), 346 ff.; s.a. Rudolf Weigand, The development of the Glossa ordinaria to Gratian’s decretum, in: Hartmann/Pennington, History (Fn.  87), 55 ff., 79 f. 101  Zur Bedeutung der Exkommunikationsbefugnis als Referenz der potestas ordinis s. Hödl, Geschichte (Fn.  92), 181–183.

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Sakramentsspendung hat er kraft seiner Weihe (ex ordine) und behält sie deswegen auch, wenn er die Kirche verlässt […] die Exkommunikation ergibt sich dagegen aus der iurisdictio, die derjenige auf immer verliert, der die Kirche verlässt“.102 Eine andere Konsequenz aus dieser Verbindung von iurisdictio und amtskirchlicher Institution war es, dass bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert die These formuliert wurde, die iurisdictio könne vom Bischof auf einen Laien übertragen werden;103 Huguccio von Pisa († 1210)104 formulierte dann, selbst ein Laie könne die Vollmacht zur Exkommunikation erhalten wenn auch „nicht kraft seiner eigenen Autorität (auctoritas), aber ich glaube durch die Delegation eines Höheren […] denn dies betrifft eher die jurisdictio als den ordo“105. Auch die Unterscheidung zwischen dem Papst und den anderen Bischöfen wurde mit dieser Kategoriendoppelung begründet. Zwar waren alle Bischöfe, wie schon Cyprian von Karthago in einem intensiv rezipierten Text mit dem bezeichnenden incipit Episcopatus unus betont hatte, vereint in einem übergeordneten Bischofsamt.106 Aber, so hieß es in einer reportatio, einer Vorlesungsmitschrift,107 zu den Lehrvorträgen des Kanonisten Laurentius Hispanus († 1248),108 „das Weihesakrakament ist ein Einziges und so ist der Papst nicht höher als irgendein Bischof im Weihegrad, sondern unterscheidet sich einzig in seinen Verwaltungsbefugnissen (sola administratione) von ihm“109. Die jetzt immer weiter entfalteten Differenzierungen zwischen der administratio, wie die potestas iurisdictionis nunmehr auch genannt wurde,110 und der durch die sakramentale Weihe begründeten Zugehörigkeit zum ordo bildete den Aufstieg von Ordnungsentwürfen ab, in denen das Beziehungsfeld von Person und Institution vollends gedoppelt wurde. Kaum jemand hat dieses Beziehungsgefüge so präzise umschrieben wie Thomas von Aquin (1225–1274):111 Denn, so betonte er, im Ausgangspunkt existierte eine potestas spiritualis, die aber in eine potestas sacramentalis und eine potestas iurisdictionalis zu untergliedern sei. Den   Alanus, Glosse zu C. 24 q. 1 c. 4 ad v. exsecrare, Ms. Bibl. Municip.  645, fol.  193vb, ediert in: Alfons (sic) Maria Stickler, Die Zweigliedrigkeit der Kirchengewalt bei Laurentius Hispanus, in: Scheuermann/ May (Hrsg.), Ius sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag, 1969, 181 ff., 200 m. Fn.  64: quoniam sacramenta conficere habet ex ordine quem ab ecclesia recendens retinet […]. excommunicationem vero ex iurisdic­tione quam recedens ab ecclesia semper amittit. 103  Dazu Stickler, Zweigliedrigkeit (Fn.  102), 196 f. m.w.N. 104   Wolfgang P. Müller, Huguccio. The life, works, and thought of a twelfth-century jurist, 1994. 105   Huguccio von Pisa, Summa decretorum, zu D. 96 c. 1 ad v. licui laico, Ms. BSB München, Clm. 10247, fol.  96ra, ediert bei Stickler, Zweigliedrigkeit (Fn.  102), 198 m. Fn.  55: non sua auctoritate set ex auctoritate et delegatione maioris credo eum […] Hoc enim magis pertinet […] ad iurisdictionem quam ad ordinem. 106   Dazu umfassend Thier, Hierarchie (Fn.  19), 32–40, 351–365. 107   Francesco Siri, Lectio, disputatio, reportatio. Note su alcune pratiche didattiche nel XII secolo e sulla loro trasmissione, in: Lenzi/Musatti/Valente (Hrsg.), Medioevo e filosofia. Per Alfonso Maierù, 2013, 109 ff. 108   Kenneth Pennington, The decretalists 1190 to 1234, in: ders./Hartmann, History (Fn.  87), 211 ff., 228–230. 109   Glosse zu C. 24 q. 1 c. 18 ad v. episcopatus unus, Ms. Paris, Bibl. nat. 15393, fol.  199rb, ediert bei Stickler, Zweigliedrigkeit (Fn.  102), 187 m. Fn.  19 a.E.: sacramentum ordinis est unum et ita non est maior papa aliquo episcopo in ordine set sola administratione ab eo discrepat. Zur Zuschreibung des Ms. Paris s. Pennington, Decretalists (Fn.  108), 228 m. Fn.  97. 110  Zusammenfassend Gaudemet, Pouvoir (Fn.  9 0), 87 f.; näher die Übersicht bei van de Kerckhove, Juridiction (Fn.  97), 421–424. 111   Volker Leppin, Thomas von Aquin. Zugänge zum Denken des Mittelalters, 2009; Norman Kretzmann/Eleonore Stump (Hrsg.), The Cambridge Companion to Aquinas, 1993. 102

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Unterschied beider Teilgewalten beschrieb Thomas mit einer temporalen Kategorisierung, indem er die potestas spiritualis als eine unveränderliche Qualität des Geweihten charakterisierte, die potestas iurisdictionalis dagegen als non immobiliter kennzeichnete, sei sie doch nicht durch die Weihe, sondern ex simplici inunctione hominis, also durch die schlichte Beauftragung eines Menschen von der Institution Kirche entstanden.112 In dieser kunstvollen dialektischen Verknüpfung von Dauer und Wandel ­verbanden sich Sakrales und Institutionelles, man könnte vielleicht auch von der Verflechtung von Transzendenzqualitäten der Person mit dem als Immanenz gedeute­ ten Charakter der Anstaltskirche sprechen.113 Die mittelalterliche Trennung von Weihe- und Jurisdiktionsgewalt blieb bis in das 20. Jahrhundert bestehen. Noch der CIC 1917 sah die potestas ordinis durch die Weihe übertragen, während die potestas iurisdictionis auf der missio canonica beruhte.114 Zwar bemühte sich das Vaticanum II um eine Überwindung dieser Spaltung durch die Einführung einer uniformen sacra potestas,115 die aber bei der Umsetzung der kon­ ziliaren Theologie in den CIC 1983 wieder aufgegeben werden musste und der ­eingangs bereits angesprochen Unterteilung in die Ämter der Lehre, Leitung und Heiligung116 wich.117

IV. Schlussbemerkung Es ist vielleicht deutlich geworden, dass das kanonische Recht die Beziehung von Person und kirchlicher Institution in ein Spannungsfeld von Dauerhaftigkeit und Veränderbarkeit stellte. Wesentlich bestimmt wurde die Qualität dieser Beziehung durch das Moment des Sakralen, sei es in Form des Charisma, sei es in Form des Weihesakraments. Denn, so sollte zu zeigen versucht werden, im Fall der Weihe konnten die Befugnisse der Einzelperson sogar ihre Beziehung zur Institution Kirche überdauern. Hier und noch deutlicher im Fall des Charisma zeigte sich aber auch das Bemühen, den transinstitutionellen Wirkungskreis klar zu begrenzen. Das officium   Thomas de Aquino, Summa Theologiae, IIª-IIae q. 39 articulus 3, in: Thomas de Aquino, Opera omnia, Bd. 8, 1895, 40625, hier benutzt nach der Online-Ausgabe Corpus thomisticum http://www. corpusthomisticum.org/sth3034.html: Respondeo dicendum quod duplex est spiritualis potestas, una quidem sacramentalis; alia iurisdictionalis. Sacramentalis quidem potestas est quae per aliquam consecrationem confertur. […] Et ideo talis potestas secundum suam essentiam remanet in homine qui per consecrationem eam est adeptus quandiu vivit, […] Potestas autem iurisdictionalis est quae ex simplici iniunctione hominis confertur. Et talis potestas non immobiliter adhaeret. Näher hierzu: Ulrich Horst, Das Wesen der „potestas clavium“ nach Thomas von Aquin, in: Münchener Theologische Zeitschrift 11 (1960), 191 ff., v.a. 195–200. 113   Die Verwendung der Kategorien „Transzendenz“ und „Immanenz“ folgt Überlegungen insbesondere von Hans Vorländer, vgl. Hans Vorländer, Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen: Eine Einführung in systematischer Absicht, in: ders. (Hrsg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, 2013, 1 ff. 114  Umfassend: Ilona Riedel-Spangenberger, Sendung in der Kirche. Die Entwicklung des Begriffes „missio canonica“ und seine Bedeutung in der kirchlichen Rechtssprache, 1991, 98–144 m.w.N. 115   Im Überblick: Krämer, Vollmacht (Fn.  6 ), 149–151 m.w.N.; umfassend ders., Dienst und Vollmacht in der Kirche. Eine rechtstheologische Untersuchung zur Sacra Potestas-Lehre des II. Vatikanischen Konzils, 1973. 116   Vgl. oben, bei und in Anm.  6. 117   Riedel-Spangenberger, Sendung (Fn.  114), 201–282. 112

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und seine klar bestimmbaren Kompetenzen und vor allem die Möglichkeit, es mehr oder weniger jederzeit wieder zu entziehen, bildete und bildet deswegen den unverzichtbaren Gegenhalt zur Weihe und erst recht zum Charisma. Dieses Gegen- und Miteinander von lediglich institutionell begründeten Befugnissen, dem officium, und besonderen personalen Qualitäten, verliehen durch die Weihe oder gegeben durch das Charisma, wird aus meiner Sicht in der Entwicklung des kanonistischen Amtsverständnisses besonders plastisch. Nicht zuletzt hierin bestätigt sich deswegen auch in diesem Fall der Befund, dass die Evolution kirchlichen Rechts und kirch­lichen Rechtswissens eine sehr hilfreiche Referenz sind, wenn es darum geht, Deutungsmuster für die Organisation und das Handeln von Institutionen zu untersuchen.118

118   In ähnliche Richtungen auch Horst Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: Siebeck (Hrsg.), Artibus ingenuis. Beiträge zu Theologie, Philosophie, Juris­ prudenz und Ökonomik, 2001, 133 ff. = JZ 2002, 1 ff.; zur Bedeutung des kanonischen Rechts gerade im Zusammenhang des öffentlichen Rechts allgemein s. Peter Landau, Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungs­ geschichte, 1991, 39 ff., wieder abgedruckt in: ders., Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter, 2013, 233 ff., hier 243–247.

Die Reichsvizekanzler im 16. Jahrhundert – eine erste Annäherung von

Prof. Dr. Anette Baumann Universität Gießen und Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung Wetzlar

Inhalt I. Einleitung: Forschungsstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 II. Die Reichshofkanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Organisation und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 III. Die Reichsvizekanzler unter Karl V. und Ferdinand I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Matthias Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Johann Naves . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3. Jakob Jonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4. Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 IV. Die Reichsvizekanzler unter Ferdinand I. und Maximilian II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Georg Sigmund Seld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Johann Ulrich Zasius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3. Johann Baptist Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4. Die Veränderungen unter Maximilian II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 V. Die Reichsvizekanzler unter Rudolf II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Siegmund Vieheuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Jakob Kurz von Senftenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Johann Wolfgang Freymon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4. Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 VI. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

I.  Einleitung: Forschungsstand und Fragestellung Die Historiker Peter Moraw und Volker Press propagierten 1975 eine neue Sicht auf das Heilige Römische Reich. Unter anderem stellten sie fest, dass zur Erfassung des Systems des Alten Reiches eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Synthese statt-

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finden müsse. Sie forderten die Wissenschaftler auf, die Erforschung von Institutionen und ihren Trägern zu verbinden. Nicht zuletzt, weil die einzelnen Personen in unterschiedlichen Funktionen an verschiedenen Reichsbehörden tätig gewesen seien und somit über ihre Person mehrere Institutionen miteinander verbunden hätten. Umgekehrt müsse aber auch die Offenheit institutioneller Ordnungen für die Prägungen durch Personen herausgearbeitet werden.1 Nur das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren – so die Autoren – mache eine „histoire totale“ des Alten Reiches möglich.2 In der Folge wurden diese Anregungen in der Wissenschaft unterschiedlich aufgenommen und auf weitere Reichsinstitutionen angewandt. Hier sei beispielsweise auf Christine Roll, die 1996 das Reichsregiment 3 untersuchte, und Horst Carl, der 2000 den Schwäbischen Bund4 erforschte, hingewiesen. Roll konnte anschaulich deutlich machen, dass das Reichsregiment über Personen aus ganz unterschiedlichen Institutionen verfügte5. Ursache hierfür war, dass es einen Mangel an geeignetem Spitzenpersonal gab6. Dieser Umstand erwies sich für die eigene Karriere als außerordentlich nützlich.7 Carl kommt bei seiner Untersuchung zum gleichen Ergebnis. Auch beim Schwäbischen Bund wurden mehrere Dienstverhältnisse des Personals akzeptiert.8 So gab es zahlreiche Reichskammergerichtsassessoren, wie z. B. Braun und Ilau, die gleichzeitig beim Schwäbischen Bund und am Gericht tätig waren.9 Carl konnte auch eine Entwicklung innerhalb der Personalbesetzung ausmachen, indem er auf eine zunehmende Differenzierung der Funktionen innerhalb des Schwäbischen Bundes hinwies. Bestimmte Ämter wurden mehr und mehr von juristischem Fachpersonal besetzt.10 Weitere Forschungen zu Patronage, Netzwerken und Klientelverbindungen11 sowie der Rolle der Frauen in den Karriereplanungen des gesamten Hauses12 stimmen mit den Beobachtungen von Moraw und Press überein13. 2003 erschien der Sammelband „Reichspersonal. Funktionsträger von Kaiser und Reich“.14 Der Band beruhte auf einer Tagung, die das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit 2001 in Wetzlar in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung veranstaltet hatte. Der Band ist dem Andenken Moraws und Press 1   Moraw/Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 2 (1975), 95–108, 101. Ähnlich auch Mazak, Klientelsystem im Europa der Frühen Neuzeit, 1988 2   Moraw/Press, (Fn.  1), 99. 3   Roll, Das zweite Reichsregiment 1521–1530, 1996. 4   Carl, Der Schwäbische Bund 1488–1534, 2001. 5   Roll, (Fn.  3 ), 230 6   Roll, (Fn.  3 ), 247. 7   Roll, (Fn.  3 ), 299. 8   Carl, (Fn.  4 ), 302, 307 9   Carl, (Fn.  4 ), 331. 10   Carl, (Fn.  4 ), 303 11   Beispielsweise Asch (Hg.), Integration – Legitimation – Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, 2011 und von Thiessen, Diplomatie und Patronage, die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive, 2010. 12   Schraut, Das Haus Schönborn. Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840, 2005. 13   Moraw/Press, (Fn.  1), 101. 14   Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hgg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, 2003.

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verpflichtet, ohne die beiden in der Einleitung zu nennen.15 Die Herausgeber des Bandes versuchten, die Vielseitigkeit der Juristen und ihrer Tätigkeit im Dienste des Reiches in den Begriff „Reichspersonal“ zu kleiden. Der Begriff stieß auf Widerstand, wurde aber auch als tragfähig akzeptiert.16 Eine endgültige Diskussion über die Bezeichnung ist noch nicht abgeschlossen. Die Untersuchung der Biographien der Angehörigen von Reichsinstitutionen blieb weiterhin aktuell. Zahlreiche neue Werke entstanden. Hier sei nur auf die Studien von Sigrid Jahns, Anette Baumann, Maria von Löwenich, Stefan Ehrenpreis, Thomas Dorfner u. a. hingewiesen. Sie befassten sich mit den Kammerrichtern17, den Assessoren18, aber auch den Advokaten und Prokuratoren des Reichskammergerichts19. In jüngster Zeit wird auch das Personal des Reichshofrats verstärkt ins Visier genommen. Neu hinzugekommen sind ­so u. a. Forschungen zu den Reichshofratsagenten 20. Eine erste Monographie zum Reichshofrat Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg ist im Entstehen begriffen.21 Hier soll nun das Spektrum erweitert und ein Blick auf eine weitere Reichsbehörde geworfen werden, die in der Forschung in jüngster Zeit völlig vernachlässigt wurde22, gleichwohl sie für das Reich von zentraler Bedeutung war. Gemeint ist die 15   Wendehorst/Westphal, in: Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hgg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, 2003, 1–20. 16   Burckhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von Volker Reinhard, 10. völlig neue bearb. Aufl., Bd. 11, 2006, 70. Während der Tagung äußerten sich Sigrid Jahns, Albrecht Cordes und Maximilian Lanzinner negativ über den Begriff. 17   Von Löwenich, in: Baumann/Eichler (Hgg.), Die Affäre Papius, Korruption am Reichskammergericht, 28–35. Ihre Dissertation zu den Kammerrichtern nach 1648 ist in Vorbereitung. 18   Sigrid Jahns hat zahlreiche Aufsätze und Monographien zu diesem Thema verfasst. Hier sei nur das wichtigste Werk genannt: Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I: Darstellung, Teil II: Biographien in zwei Bänden, 2003 und 2011. 19   Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806), 2006; dies., Die Prokuratoren der Reichsstädte Esslingen und Reutlingen am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert, in: Esslinger Studien 43, 2004, 105–123; dies., in: Diestelkamp (Hg.), Der Weg zur Gründung des Reichskammergerichts und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527), 2003, 161–196; dies., in: Baumann/Oestmann/Wendehorst/Westphal (Hgg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, 2003, 179–198; dies., Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer (1495–1690). Berufswege in der Frühen Neuzeit, in: ZRG GA 117 (2000), 550–565; dies., Das Reichskammergericht in Wetzlar und seine Prokuratoren, in: ZRG GA 115 (1998), 474–497. 20   Ehrenpreis, in: Wendehorst (Hg), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation, 2015, 245–264; ders., in: Baumann u. a. (Hgg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, 2003, 165–177; ders., in: Grüne/Slamicka (Hgg.), Korruption. Historische Annäherungen, 2010, 283–305. Und Dorfner, in: Amend-Traut/Baumann/Wendehorst/ Wunderlich (Hgg.), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, 2012, 97–111.; ders., Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658–1740), 2015; ders., in: Bongartz/Denzler/Franke/Schneider/Stodolkowitz (Hgg.), Was das Reich zusammenhielt. Das Verhältnis von Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich [in Vorbereitung]; ders., in: Denzler/Franke/Schneider (Hgg.), Prozessakten – Parteien – Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, 2015. 21   Rast, in: Baumann/Jendorff (Hgg.), Adel, Recht und Gerichtbarkeit im frühneuzeitlichen Europa, 2014, 295–330. 22  Die letzte Veröffentlichung zur Reichshof kanzlei stammt aus dem Jahre 1933. Groß, Die Geschichte der Deutschen Reichshof kanzlei von 1559–1806. Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, 1933.

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Reichshof kanzlei, die direkt dem Mainzer Erzbischof und Reichserzkanzler unterstand und deren tatsächlichem Chef, dem Reichsvizekanzler.23 Es soll um die Frage gehen, wie diese Reichsbehörde an ihrer Spitze eine eigene Funktionselite herausbilden konnte. Wer waren diese Männer? Welche Ausbildung hatten sie und in welchem Verhältnis standen sie zu den anderen Reichsbehörden, wie den beiden Höchstgerichten Reichskammergericht und Reichshofrat? Welche Rolle spielten Leistung und Familie? Und wie verhielten sie sich zur Religionsfrage? Spannend erscheinen solche Fragen immer dann, wenn neue Dynamiken in der Politik entstehen. Dies ist bezogen auf das Reich vor allem im 16. Jahrhundert und hier besonders ab den 1530er Jahren der Fall. Das Reich wurde von einem Modernisierungsprozess erfasst. Neue Reichsinstitutionen entstanden. Das Reichskammergericht begann sich zu etablieren. Es besaß seit 1527 einen festen Sitz in Speyer und schien, nach einigen Turbulenzen in den 1530er bis 1540er Jahren, die Religionswirren meistern zu können. Das Vertrauen in die Institution wuchs, was nicht zuletzt die stetig wachsenden Prozesseingangszahlen ab 1555 beweisen.24 Zudem funktionierte die Visitation des Gerichts durch die Reichsstände. Der Reichshofrat begann seine Aufgaben zu definieren und wahrzunehmen. Die erste Reichshofratsordnung entstand 1559.25 Die zuvor aus verschiedenen Ämtern und Beratungsgremien bestehende Reichshof kanzlei wurde auf neue Grundlagen gestellt und allmählich in eine leistungsfähige Behörde umgewandelt. Im Folgenden wird zuerst die Institution Reichshof kanzlei nach dem Stand von 193326 vorgestellt, da neuere Forschungen fehlen. Dann folgen die einzelnen Biographien der Reichsvizekanzler.

II.  Die Reichshof kanzlei 1. Entwicklung Eine Reichshof kanzlei entstand bereits im Mittelalter. Im Zuge der Reichreform unter Maximilian I. gelang es dem Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg, die Leitung der Reichshof kanzlei mit einigen Unterbrechungen an sich zu ziehen. Die Rollen von Kaiser und Kurfürst von Mainz bezüglich der Besetzung des Amtes des Reichsvizekanzlers und seiner Funktionen sind im Einzelnen nicht erforscht. Das wenige, das man weiß, ist unklar. Hier können nur einige Hinweise gegeben werden, die auf größere Auseinandersetzungen schließen lassen. Wie diese Streitigkeiten zu interpretieren sind, muss allerdings offen bleiben. 23   Siehe hierzu die Forderung von Oestereich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des Alten Reiches, 9. neu bearb. Ausgabe, Erstausgabe 1974. Er wollte, dass auch die anderen Institutionen wie Reichstage, Reichskreise und eben auch die Reichshofskanzlei stärker berücksichtigt würden. 24   Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Bde., 1985, Bd. 2, 295. 25   Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, 1973; Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrates, Bd. 1: 1550–1626 und Bd. 2: 1626–1766, 1980 und 1990. 26   Groß, (Fn.  22), 5 ff.

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Nach dem Scheitern des Nürnberger Reichsregiments wurde die Reichskanzlei kurzzeitig von der Hof kanzlei Maximilians übernommen. Karl V. bestätigte jedoch noch vor seiner Wahl die Ansprüche des Mainzer Kurfürsten. Allerdings nahm der Kurfürst die Leitung des Amtes nicht selbst wahr, sondern setzte dafür einen sogenannten „Reichsvizekanzler“ ein.27 Nach dem Tod Karls V. wurde die Reichshofkanzlei in der bisherigen Form aufgelöst. Die Hof kanzlei Kaiser Ferdinands übernahm nun die Aufgaben der Reichshof kanzlei, bis es zu einer Neugründung oder abermaligen Ausgliederung kam.28 Die genauen Vorgänge sind hier noch nicht erforscht. 1558 meldete Kurfürst Daniel von Mainz ein Mitspracherecht bei der Leitung der Reichshof kanzlei und der Bestellung seines Stellvertreters an. Nach einigen Verhandlungen wurde festgelegt, dass der Vizekanzler im Namen des Kanzlers unterzeichnen könne. Auf späteren Reichstagen kam es zu weiteren Zugeständnissen. 1559 erließ Ferdinand I. eine Kanzleiordnung, die mit Erweiterungen bis zum Jahre 1806 die Grundlage für die Arbeit der Kanzlei bildete.29

2.  Organisation und Kompetenzen Die Reichshof kanzlei besaß unterschiedliche Zuständigkeiten. Für die deutschen Territorien war die „deutsche Expedition“ zuständig. Die „lateinische Expedition“ zeigte sich für die europäische diplomatische Korrespondenz und für Reichsitalien verantwortlich.30 Daneben erteilte sie in Zusammenarbeit mit dem Rat, den Finanzund weiteren Behörden Privilegien und stellte Mandate aus. Auch war sie mit der Einziehung und Verwaltung der Kanzleigebühren betraut. In der Kanzleiordnung hielt man zudem fest, dass der Erzkanzler mit Zustimmung des Kaisers das Kanzleipersonal einschließlich des Reichsvizekanzlers ernennen könne. 31 Die wichtigsten Beamten der Kanzlei waren die Sekretäre, die für die lateinische und deutsche Expedition zuständig waren. Sie sollten Konzepte schreiben und das Schriftgut des Reichshofrates verwalten. Den Parteien, die sich an diese Institution wandten, sollte Auskunft gegeben werden. Daneben gab es Taxatoren und Kanzlei­ schreiber sowie Kanzleidiener, die für den Postdienst innerhalb der Behörde sorgten.32 Vorsteher der Reichshof kanzlei war laut Ordnung von 1559 der Erzkanzler des Reiches, also der Kurfürst von Mainz. Er führte das Siegel und unterschrieb.33 Der faktische Chef der Kanzlei war jedoch der Reichsvizekanzler, der die Oberaufsicht und die Befehlsgewalt über das Kanzleipersonal innehatte. Er beanspruchte im Namen des Erzkanzlers die Jurisdiktion über das Personal. 27   Auer, Stichwort: Reichshof kanzlei, Enzyklopädie der Frühen Neuzeit, Bd. 10, Spalte 911–914, Spalte 912. 28   Groß, (Fn.  22), 5. 29   1565 kam es zu einer neuen Herausgabe der Kanzleiordnung, die Maximilian II. dann 1570 in Speyer erließ. Groß, (Fn.  22), 20. 30   Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionspolitik. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612, 2006, 84. 31   Auer, (Fn.  27), Spalte 912. 32   Groß, (Fn.  22), 115. 33   Groß, (Fn.  22), 97.

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Die wichtigste Aufgabe des Reichsvizekanzlers war die Konzipierung der im Reichshofrat beschlossenen Dokumente mit Ausnahme der auf Reichsitalien bezogenen Schriftstücke. Im 16. Jahrhundert war der Reichsvizekanzler quasi der erste Minister für auswärtige Angelegenheiten des Reiches sowie für die österreichische Hauspolitik, die innere Politik des Reiches und alle vom Kaiser beherrschten Länder.34 Der Reichsvizekanzler nahm als Mitglied des Reichshofrates automatisch an dessen Sitzungen teil und hatte das Recht, in Abwesenheit des Reichshofratspräsidenten das Präsidium zu führen. Wie oft dies der Fall war, muss beim heutigen Kenntnisstand offen bleiben. Zusätzlich nahmen die Sekretäre der Reichshof kanzlei an den Sitzungen des Reichshofrats teil und protokollierten sie35. Darüber hinaus registrierte und führte die Reichshof kanzlei die Akten des Reichshofrates.36 Die Reichshof kanzlei hatte damit einen beträchtlichen Einfluss auf die Arbeit des Reichshofrats.37 Der Reichsvizekanzler besaß auch formell die Aufsicht über das kaiserliche Siegel. Er vertrat den Kaiser nach außen und verkündete seine Willensmeinung.38 Die Bedeutung der Reichshof kanzlei ist also nicht zu unterschätzen. Sie hatte große Einflussmöglichkeiten auf das zweite höchste Gericht im Alten Reich, den Reichshofrat. Ein Umstand, der bisher von der Forschung nicht ausreichend gewürdigt wurde.

III.  Die Reichsvizekanzler unter Karl V. und Ferdinand I. Auf dem Reichstag zu Augsburg im Sommer 1530 befand sich Karl V. auf der Höhe seiner Macht, nachdem er nach neunjähriger Abwesenheit in das Reich zurückgekehrt war.39 Glaubensfragen und Türkensteuer standen im Mittelpunkt der Diskussionen. Karl V. war es während des Reichstags in Geheimverhandlungen gelungen, die Zustimmung von fünf Kurfürsten für die Wahl seines Bruders Ferdinand zum römischen Kaiser zu gewinnen. Das geschah überwiegend mit finanziellen Zuwendungen.40 Im Januar 1531 kam die Wahl in Köln zustande. Nur der Kurfürst von Sachsen hielt sich fern und protestierte gegen das Vorgehen. Ein Schutzbündnis der protestantischen Fürsten und einiger Reichsstädte wurde ins Leben gerufen. Der Schmalkaldische Bund entstand.41

  Groß, (Fn.  22), 98.   Auer, (Fn.  27), Spalte 912. 36   Ehrenpreis, (Fn.  30), 87. 37   Ehrenpreis, (Fn.  36), 84. 38   Groß, (Fn.  22), 98. 39   Kohler, Karl V. 1500–1558: Eine Biographie, 2000, 41. 40   Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1490 bis 1648, 1983, 259. 41  Ebd. 34 35

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1.  Matthias Held In dieser Situation wurde Mathias Held 1531 Reichsvizekanzler. Held stammte aus Arlon im heutigen Belgien. Er starb 1563 in Köln. Über seinen Studiengang wissen wir nichts; jedenfalls muss er juristische Studien betrieben haben. 1527 wurde er von Brandenburg zum Assessor am Reichskammergericht präsentiert. In den folgenden Jahren war er ein enger Vertrauter des Kaisers, der ihn auch auf Reisen begleitete. Kaiser Karl V. ernannte Held zum Mitglied seines Hofrates42 und zum „eques aureatus et miles“.43 Held war von grundlegender katholischer Überzeugung und stand den gemäßigten Kräften um Kaiser Karl V., wie Granvella und Naves, mit großer Skepsis gegenüber.44 Dies machte ihn zu einem wichtigen Baustein in Karls V. Politik. 45 So war er an den Verhandlungen mit den protestantischen Reichsständen in Schmalkalden beteiligt. Allerdings verhandelte er dort gegen die Instruktionen des Kaisers, der nicht auf völlige Konfrontation mit den Protestanten setzte. Held schreckte nicht davor zurück, bei seiner Mission ein katholisches Bündnis zu errichten und das Reichskammergericht zu instrumentalisieren. Er tat dies, indem er dem Gericht – trotz Geheimhaltungspflicht über die Verhandlungen mit dem Schmalkaldischen Bund – Informationen zukommen ließ.46 Held war zudem der Ansprechpartner des Gerichts, das unter mangelnder Besoldung zu leiden hatte.47 Er war auch derjenige, der im Auftrag des Kaisers das Gericht immer wieder bat, doch zusammenzubleiben und auszuharren, trotz aller Widrigkeiten.48 Helds Verhandlungstaktiken stießen im Reich auf Ablehnung. Die Proteste gegen den rührigen Kanzler wurden schließlich so massiv, dass sich Karl V. genötigt sah, einen gemäßigteren Kandidaten für das Amt des Vizekanzlers auszusuchen. 1541 erhielt deshalb Johann Naves den Posten, ein Protegée der Statthalterin der Niederlande und Schwester Karls V., die sich massiv gegen Held ausgesprochen hatte.49 Noch 1543 kritisierte die Visitationskommission den Einfluss von Held am Reichskammergericht.50

  Ortlieb, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht, 2003, 221–289, 255.   Ennen, Der Reichsvicekanzler Dr. Matthias Held, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das Alte Erzbistum Köln 25, 1873, 131–172, 137. 44   Höß, Stichwort: Mathias Held, in: Neue Deutsche Biographie 8, 1969, 465 ff. 45   Ennen, (Fn.  43), 131–172. 46  Siehe Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, AR 1 RKG Misc. 530, f. 90 verso-91 verso; Rößner, Konrad Braun (ca. 1495–1563), ein katholischer Jurist, Politiker, Kontroverstheologe und Kirchenrefor­ mer im konfessionellen Zeitalter, 1991, 49. 47   Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Reichshof kanzlei Reichskammergericht 317, 29. Juni 1540 unfoliert. 48   HHStA Wien, Reichshof kanzlei Reichskammergericht 316, 1537/38 unfoliert. 49   Höß, Held, in: Neue Deutsche Biographie 8, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1969, 465 ff., 466. 50   HHStA Wien, Mainzer Erzkanzlerarchiv Reichskammergericht 3, unfoliert. 42 43

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2.  Johannes Naves Johann Naves wurde 1500 geboren und starb am 28. Februar 1547 in Ulm. Er studierte in Mainz und in Straßburg.51 Nach seinem Studium trat er in Kontakt mit dem Reichskammergericht. Die Statthalterin der Niederlande52, Maria von Ungarn, hatte ihn damit beauftragt, sich um ihre am Reichskammergericht anhängigen Prozesse zu kümmern. Naves war also als Sollicitator tätig, vielleicht besaß er auch den Status eines Praktikanten. 1540 treffen wir ihn im Dienste des Kaisers an. Er war Adlatus des Nicolas Perrenot de Granvelle, den er bei den stattfindenden Religionsgesprächen in Hagenau und Worms unterstützen sollte.53 Beide Städte liegen nur wenige Kilometer von Speyer, dem Sitz des Reichskammergerichts, entfernt. Von dem kaiserlichen Assessor dieser Zeit, Matthias Neser, wissen wir, dass das Reichskammergericht in engem Kontakt mit Naves und Granvella stand.54 Schließlich war Naves als einer der Kaiserlichen Kommissare intensiv mit dem Vorbereitungen des Reichstages 1542 in Speyer befasst.55 Ab 1541 nahm Naves immer stärker Funktionen des Reichsvizekanzlers wahr, auch wenn die Bestallungsurkunde noch ausstand. Die Gründe für die Verzögerung sind nicht bekannt. Wahrscheinlich war die Urkunde gar nicht notwendig. Die Vermutung der Forschung, dass die Ursache in dem gespannten Verhältnis des Kaisers zum Erzkanzler Albrecht von Brandenburg lag56, ist wohl der Vorstellung geschuldet, dass die Behörde schon voll ausgebildet war. Naves starb 1547 in Ulm auf einer seiner Reisen im Dienste des Kaisers.57

3.  Jakob Jonas Mit dem Nachfolger von Naves wurde die streng katholische Stoßrichtung der habsburgischen Kaiser wiederaufgenommen. Jakob Jonas verband eine enge Freundschaft mit dem vormaligen Vizekanzler Mathias Held sowie dem späteren kurmainzischen Kanzler und vorherigen Reichskammergerichtsassessor Konrad Braun, dem er zudem im Amt als kurmainzischer Kanzler folgte. Auch Braun galt als eng mit den Altgläubigen verbunden. Die katholische Haltung Jonas wurde maßgeblich von diesen Freunden beeinflusst.58 Jakob Jonas wurde 1500 in Götzes geboren und starb am 28. Dezember 1558 in Abendsberg. Er besuchte die Stiftsschule St. Luzi in Chur und studierte dann in Leipzig und Wittenberg. Jonas erhielt die Priesterweihe. Der spätere Kaiser Ferdinand I. scheint recht früh auf ihn aufmerksam geworden zu sein, denn   Aulinger, Johann von Naves, in: Neue Deutsche Biographie 19, 1999, 1 f.   Heiß, Maria, Erzherzogin von Österreich, in: Neue Deutsche Biographie 16, 1990, 207 ff. 53   Aulinger, (Fn.  51), 1 f. 54   Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, AR 1, RKG Misc. 330 und Datenbanken: Richtergutachten. Ungedruckte Quellen zum Entscheidungsprozess am Reichskammergericht (1524–1627) http://www. jura.uni-frankfurt.de/53689561/Projekt-Richterprotokolle oder http://data.rg.mpg.de/rkg/DFG02. mdb bzw.http://data.rg.mpg.de/rkg/2014-06-22_Richterprotokolle_gesamt.pdf. 55   Schweinzer, in: Lutz/Kohler (Hgg.), Aus der Arbeit an den Reichstagen unter Kaiser Karl V.: Sieben Beiträge zu Fragen der Forschung und Edition, 1986, 228–272, 229. 56   Aulinger, (Fn.  53), 2. 57   Aulinger, (Fn.  53), 1. 58   Burmeister, Jakob von Jonas, in: Neue Deutsche Biographie 10, 1974, 593. 51

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Jonas nahm auf seine Empfehlung einen Lehrauftrag in Hebräisch an der Universität Tübingen an. 1532 promovierte Jonas um dann ein Jahr später Kanzler des Bischofs in Konstanz zu werden. 1538 präsentierte der Fränkische Kreis Jonas an das Reichskammergericht. Fünf Jahre später sollte Jonas auf der Reichskammergerichtsvisitation als Vertreter des Mainzer Erzkanzlers auftreten. Die Vertreter von Kursachsen und Kurpfalz protestierten energisch gegen seine Funktion als Visitator. Sie warfen Jonas vor, Urteile im Sinne der Altgläubigen gesprochen zu haben und deshalb parteiisch zu sein.59 Außerdem befürchteten sie, dass er ehemalige Kollegen begünstigen und die Visitation nach seinen Vorstellungen beeinflussen könne. Es kam zu heftigen Diskussionen und Umfragen. Die Visitation selbst und ihre Funktion wurden schließlich in Frage gestellt.60 Sie galt bei den Visitatoren, mit Ausnahme von Sachsen, Brandenburg und Augsburg, als ein genaues Abbild des Reiches. Die kaiserlichen Gesandten seien dabei das Haupt des Reiches und die Visitatoren die Glieder,61 deshalb müsse Jonas auch daran teilhaben. Jonas lenkte schließlich nach Rücksprachen mit den kaiserlichen Kommissaren teilweise ein, indem er versprach, bei Verhandlungen über Urteile abwesend zu sein.62 Damit war die Diskussion nicht beendet. Teile der Visitatoren wünschten, die Angelegenheit dem Kaiser direkt vorzutragen. Dies sollte aber nur geschehen, wenn alle Visitatoren bis zum Eintreffen seiner Antwort in Speyer blieben. Der Kaiser verwies offiziell auf seine Gesandten. Intern äußerte er die Meinung, dass er Jonas „bei der Visitation wohl leiden möge“63. Es folgten weitere Diskussionen. Die Visitation wurde letztendlich erfolglos abgebrochen. Im gleichen Jahr wurde Jonas wohl Reichsvizekanzler, d. h. Naves und Jonas übten das Amt des Reichsvizekanzlers einige Jahre zusammen aus. Vielleicht wollte man so alle Parteien des Reiches einbinden. Jonas ist als Reichsvizekanzler bis zu seinem Tod 1558 nachweisbar. Er war im Reich gut vernetzt, so besaß er z. B. enge Beziehungen zu den pfälzischen Reichsrittern. Jonas war der Schwager des pfälzischen Diplomaten und Ritters Wolfgang von Affenstein,64 der von 1510 bis 1522 als Prokurator am Reichskammergericht arbeitete. Der Bruder Wolfgang von Affensteins, Melchior von Affenstein, wiederum war kaiserlicher Rat und 1549 Richter am Pfälzer Hofgericht.65

4. Gemeinsamkeiten Betrachtet man die drei Vizekanzler, die unter Kaiser Karl V. um die Mitte des 16. Jahrhunderts agierten, so zeigt sich, dass das Hauptaugenmerk bei der Rekrutierung   HHStA Wien, MEA RKG 3 unfoliert.   HHStA Wien, MEA RKG 3 unfoliert. 61   HHStA Wien, MEA RKG 3 unfoliert. 62   HHStA Wien, MEA RKG 3 unfoliert. Siehe hierzu auch die theoretischen Überlegungen von Rudolf Schlögel; ders., Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, 2014, 14 f. 63   HHStA Wien, RHK RKG 317 unfoliert. 64   Hasenclever, Johann von Naves aus Luxemburg, Reichsvizekanzler unter Kaiser Karl V., in MIÖG XXVI, 1905, 280–328, 324. 65   Baumann, in: Diestelkamp (Hg.), Der Weg zur Gründung des Reichskammergerichts und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527), 2003, 161–196, 180. 59

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auf ihrer politischen und religiösen Gesinnung lag. Gleichzeitig wird deutlich, dass Karl V. für seine Reichshof kanzlei an juristisch ausgebildeten Personen interessiert war, die das Reichsrecht kannten. Der Garant hierfür war das Reichskammergericht. Dabei schien es unerheblich, ob die Personen eine Funktion am Reichskammergericht inne hatten oder aber den Kameralprozess aus anderen Zusammenhängen z. B. als Sollicitator kannten. Entscheidend waren allein die Kenntnisse. Recht und Politik gingen eine enge Verbindung ein. Gleichzeitig besaß die Reichshof kanzlei eine noch wenig ausgeprägte Behördenstruktur. Es ging vor allem darum, geeignete Personen mit entsprechender juristischer Ausbildung zu finden66. Dabei ist die Funktion nicht mit dem Amt gleichzusetzen. Vielmehr konnten mehrere Personen gleichzeitig das gleiche Amt ausüben. Wie weit Rivalitäten zwischen Kaiser und Erzkanzler eine Rolle spielten, müsste erst noch in einem größeren Forschungskontext untersucht werden. Daneben werden Teile von Personenverbänden sichtbar: so die enge Verbindung zwischen Held und Jonas, aber auch zu Granvella und Naves, die über das Reich hinaus bis nach Spanien reichten. Meist gab es auch eine Lebensphase, in denen eine sehr enge persönliche Verbindung zwischen Kaiser und Reichsvizekanzler bestand. Ebenso ist die räumliche Konzentration der Reichspolitik auf die Reichsstadt Speyer, in der 1542, 1544 und 1570 Reichstage und zahlreiche Reichsdeputationstage67 stattfanden, und die Umgebung zu beachten. Recht und Politik fanden um die Mitte des 16. Jahrhunderts am Oberrhein statt.

IV.  Die Reichsvizekanzler unter Ferdinand I. und Maximilian II. 1.  Georg Sigmund Seld Als Naves in Ulm 1547 starb, blieb das Amt faktisch unbesetzt. Die Leitung der Reichspolitik hatte Granvella.68 Die Funktion eines zweiten Reichsvizekanzlers neben Jonas besaß ab 1547 Georg Sigmund Seld. Seld stammte aus Augsburg und studierte zusammen mit seinem Bruder in Ingolstadt und Bologna.69 Die Familie Seld gehörte zu den Augsburger Patriziern und pflegte enge Kontakte zur Familie Fugger. Hans Jakob Fugger sowie Raimund Fugger waren mit Georg Sigmund Seld befreundet.70 Georg Sigmund Seld machte in Bayern Karriere. Nach seinem Studium in Ingolstadt, u. a. bei Viglius von Aytta, in Padua, Bologna und Bourges71 stand er in den Diensten des Bischofs von Freising. Danach berief ihn Herzog Ludwig X. von Bay66   Siehe hierzu auch Maximilian Lanzinner, der feststellt, dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sich die Verwaltungen mehr am Recht orientierten und expandierten. Hierfür waren erfahrene Juristen wichtig. Siehe Lanzinner, FS zum 65. Geburtstag von Dieter Albrecht, 1992, 71–88, 85. 67   Siehe allgemein hierzu Lanzinner, Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556–1586, 1995. 68   Vogel, Der Reichsvizekanzler Georg Sigmund Seld, sein Leben und Wirken, 1933, 19. 69   Vogel, (Fn.  68), 7. Siehe auch Lanzinner, in: MIÖG 102 (1994), 296–315, 299. 70   Vogel, (Fn.  68), 10, 15. 71   Laubach, Der Reichsvizekanzler Georg Sigmund Seld im Dienst der Kaiser Karl V. und Ferdinand I., 2011, 11.

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ern-Landshut in seine Kanzlei. 1544 besuchte er im Auftrag des Bayern den Reichstag in Speyer.72 Begleitet wurde er von Wolf von Schellenberg, Dr. Leonhard von Eck, Dr. Georg Stockhammer, Hans Zenger und Wolfgang Trainer.73 Dort traf er auch seinen Bruder Christoph, der in Speyer zuerst als Prokurator und dann als Assessor am Reichskammergericht tätig war. Georg Sigmund war seinem Bruder sehr eng verbunden, denn Christoph verwaltete bis zu seinem frühen Tod 1557 das Vermögen seines Bruders. 1545 wurde Georg Sigmund Rat bei Herzog Wilhelm IV. von Bayern. Zwei Jahre später ist er am Kaiserhof als Reichsvizekanzler nachweisbar. Wie er zu dem Amt gelangte, ist nicht sicher. Vielleicht waren verwandtschaftliche Be­ ziehungen entscheidend, denn Kaiser Ferdinand I. ehelichte eine Tochter Herzog Albrechts V. von Bayern.74 Bayern spielte vom ausgehenden 16. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts innerhalb des Reichs im politischen Modernisierungsprozess eine Vorreiterrolle.75 Vermittlungen des Mainzer Kurfürsten können dagegen wohl eher ausgeschlossen werden, denn Laubach behauptet, dass bei der Berufung Selds der Mainzer Erzbischof nicht gefragt worden sei.76 Selds Aufgaben als Reichsvizekanzler waren vielfältig. Neben den eigentlichen Geschäften führte er u. a. die Abdankungsverhandlungen Kaiser Karls V. und vermittelte zwischen König Philipp II. von Spanien und Herzog Albrecht von Bayern. Dabei stand Seld, der u. a. auch Spanisch sprach,77 immer in engem Brief kontakt mit Granvella und teilte wohl dessen gegenreformatorische Haltung.78 Selds enge Verbindung zu Philipp II. zeigt sich darin, dass er den spanischen König darauf hinwies, dass dieser nach dem Tode Karls V. um die Neubelehnung mit dem Reichslehen ­Siena nachsuchen müsse.79 Philipp II. schätzte Seld sehr und dankte dies mit finan­ ziellen Zuwendungen. So erhielt Seld 1200 Gulden pro Jahr für seine Dienste.80 Schließlich ernannte Karl V. nach vier Jahren Dienst in der Reichshof kanzlei im Mai 1551 Seld offiziell zum Reichsvizekanzler. Nach der Abdankung Karls V. zog sich Seld nach Bayern zurück. Jonas hatte nun das Amt des Reichsvizekanzlers alleine inne. Nach dem Tod von Jonas kehrte Seld jedoch wieder in seine Funktion als Reichsvizekanzler zurück. Vielleicht ist dies im Zusammenhang mit dem Antritt Ferdinands I. als Kaiser zu sehen.81 Nach dem Tode Ferdinands I. wollte sich Seld erneut aus dem aktiven Dienst zurückziehen, blieb dann aber unter Kaiser Maximilian II. weiter im Amt.82 72   Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Speyer 1542. Jüngere Reihe Bd. 12, bearb. von Silvia Schweinzer-Burian, 157, 1206. 73   Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Speyer 1542. Jüngere Reihe Bd. 12, bearb. von Silvia Schweinzer-Burian, 157. 74   Sicken, in: Schindling/Ziegler (Hgg.), Die Kaiser der Neuzeit, 1519–1918, 1990, 55–78, 60. 75   Schilling, Auf bruch und Krise. Deutschland 1517–1648, 1994, 318. 76   Laubach, (Fn.  71), 17. 77   Laubach, (Fn.  71), 22. 78   Vogel, Der Reichsvizekanzler Georg Sigmund Seld, sein Leben und Wirken, 1933, 15. 79   Edelmayer, Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich, 2002, 65. 80   Edelmayer, (Fn.  79), 68. 81   Laubach, (Fn.  71), 78. 82   Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), 1993, 297.

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Lanzinner lobt Georg Sigmund Seld sehr. Dieser habe „alle übrigen an Erfahrung und Urteilskraft“ übertroffen.83 Er schreibt weiter: „Er (Seld A.d.V.) wußte auf sämtlichen Gebieten der dynastischen, der Reichs- und erbländischen Politik Bescheid und zog so eine enorme Arbeitslast auf sich. Als einzigem Reichsvizekanzler gelang es ihm noch, gemäß den Ansprüchen der Kanzleiordnung von 1559 mit den ‚geheimen ratssachen‘ des kaisers betraut zu sein und zugleich auch dem ‚reichshofrat beizuwohnen‘. Seld befasste sich mithin sowohl mit der inneren Landesverwaltung wie mit der kaiserlichen Justiz. Der Venezianer brachte seine Vielgeschäftigkeit auf die Formel ‚che egli è quasi solo, che fà il tutto‘“.84 Gleichzeitig mit Seld war Johann Baptist Weber im Amt. Seld hätte wohl lieber Johann Ulrich Zasius in dieser Rolle gesehen.85 Die Gründe hierfür sind im Moment nicht erklärbar.86

2.  Johann Ulrich Zasius Zasius wurde ab 1566 offiziell Reichsvizekanzler. Johann Ulrich Zasius war der Sohn des berühmten Rechtsgelehrten Ulrich Zasius. Er wurde 1521 in Freiburg geboren, wo er auch studierte. Danach setzte er sein Studium in Padua und vielleicht auch an anderen Universitäten fort.87 1540 erwarb er schließlich das Licentiat der Rechte in Freiburg und ein Jahr später das Doktorat. Seit 1540 war Zasius außerdem im Dienste der Herzöge von Savoyen als Rät tätig. Drei Jahre später berichten die Quellen von einer Professur an der Universität Basel. Ab ca. 1546 stand er im Dienste der beiden Kaiser Ferdinand I. und Maximilians II. Zasius wurde dort als kaiserlicher Gesandter eingesetzt. Er war auch als Visitator am Reichskammergericht tätig.88 Zasius betrieb eine aktive Friedenspolitik und war deutsch-patriotisch und anti­ habsburgisch gesinnt.89 Kaiser Maximilian II. war wohl deshalb mit Zasius unzufrieden. Zasius hatte aber einen engen Fürsprecher im Herzog von Bayern, so dass er im Amt bleiben konnte.90 Die Gründe hierfür sind nicht klar. Lanzinner sieht die Ursache in der mangelnden offiziellen Ernennung darin, dass nach der Kanzleiordnung der Kurfürst von Mainz und nicht der Kaiser die Reichsvizekanzler ernannte.91 Zasius konnte sich jedenfalls über fehlende Arbeit nicht beklagen, obwohl er nur für geheime Ratssachen zuständig war. Weber war ihm dabei keine große Hilfe.92 Deshalb wandte Zasius sich u. a. wegen personeller Hilfe an das Reichskammergericht, um so die wachsende Geschäftslast des Reichshofrates unter der Kontrolle des Ge­   Lanzinner, (Fn.  82), 299.   Lanzinner, (Fn.  82), 299. 85   Lanzinner, (Fn.  82), 302. 86   Edel, in: MÖStA 45 (1997), 111–185, 126. 87   Goetz, „Zasius, Johann Ulrich“ in: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898), 706–708. 88   Meußer, Für Kaiser und Reich. Politische Kommunikation in der frühen Neuzeit: Johann Ulrich Zasius (1521–1570) als Rat und Gesandter der Kaiser Ferdinand I. und Maximilian II., 2004, 179 ff. Siehe auch HHStA Wien RHR RKG 320 unfoliert, 1557. 89   Lanzinner, (Fn.  82), 306. 90   Lanzinner, (Fn.  82), 301. 91   Lanzinner, (Fn.  82), 302. 92   Lanzinner, (Fn.  82), 303. 83

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heimen Rates und der Regierungszentrale zu halten.93 Hierfür ausersehen wurde Arnold Ernstenberger, Protonotar am Reichskammergericht und damit Mitglied der Reichskammergerichts-Kanzlei. Zuvor war Ernstenberger Kanzleichef in Mainz gewesen.94

3.  Johann Baptist Weber Neben Zasius bekleidete Johann Baptist Weber das Amt des Reichsvizekanzlers.95 Weber wurde am 29. August 1529 geboren und stammte wahrscheinlich aus Memmingen.96 Weber studierte in Ingolstadt Jura und knüpfte in dieser Zeit enge Verbindungen zu zahlreichen ehemaligen Angehörigen des Reichskammergerichts, wie den ehemaligen Assessoren Viglius van Aytta und Nikolaus Everhardus.97 Einer seiner Mitkommilitonen war der spätere Assessor am Reichskammergericht Hunger. 1545 setzte Weber seine Studien in Bologna fort, um sich sieben Jahre später in Tübingen zu immatrikulieren. Gleichzeitig wurde er in Ingolstadt auch als Ordinarius geführt.98 Weber hatte die Stelle von Hunger erhalten, als dieser 1549 an das Reichskammergericht wechselte. Er war zudem Prorektor und Rektor an der Universität. In Ingolstadt werden neben beruflichen und studentischen Netzwerken erstmals familiäre Beziehungen deutlich, die sich z. T. parallel herausbildeten. So traf Weber in Ingolstadt auf den Stief bruder seines Vorgängers Seld, Johann Hegenmüller, und auf seinen späteren Nachfolger Sigmund Vieheuser,99 der wiederum mit Hegenmüller verschwägert war.100 Nach seiner Karriere an der Universität hatte Weber den Posten des Kanzlers der bayerischen Regierung zu Landshut inne. 1559 wurde Weber auf dem Reichstag zu Augsburg dem Mainzer Kurfürsten als Kandidat für den Posten des Reichsvizekanzlers präsentiert und wohl auch angenommen. Als Zasius 1566 offiziell Reichsvizekanzler wurde, zog sich Weber auf die Geschäfte am Reichshofrat innerhalb der Reichshof kanzlei zurück. Er setzte sich vor allem mit den Konflikten in den italienischen Reichslehen Finale und Mantua auseinander. Auch die Bestätigung und Vergabe von Privilegien übernahm er. Diese Beschäftigungen waren mit besonderen Gratifikationen verbunden, die sich im Erwerb der Herrschaften Retz und Bisenstein bei Wien niederschlugen.101 Außerdem organisierte Weber die Reichsdeputations­tage.102   Lanzinner, (Fn.  82), 305.   Lanzinner, (Fn.  82), 305. 95   Lanzinner, (Fn.  82), 302. Lanzinner macht darauf aufmerksam, dass in den Besoldungslisten Weber als Hofvizekanzler und Zasius als Reichshofvizekanzler aufgeführt wird. Lanzinner schließt daraus, dass der Aufgabenbereich von Seld zwischen Weber und Zasius geteilt wurde. Zasius habe die geheimen Ratssachen bearbeitet, während Weber für den Reichshofrat zuständig gewesen sei. 96   Edel, (Fn.  86), 111–185, 113. 97   Edel, (Fn.  86), 118. 98   Edel, (Fn.  86), 111–185, 121. 99   Edel, (Fn.  86), 122. 100   Ehrenpreis, (Fn.  30), 110. 101   Lanzinner, (Fn.  82), 303. 102   Edel, (Fn.  86), 134. HHStA Wien, MEA RKG 7 unfoliert, Kaiser Ferdinand I. ernennt Deputierte für den Deputationstag. Das Schriftstück ist von Weber unterschrieben. 93

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Nach dem Tode Zasius blieb seine Nachfolge umstritten. Weber war nicht bereit, auch die Arbeit von Zasius zu übernehmen. Er wollte weiterhin nur die Lehns-, Privilegien- und Reichshofratssachen bearbeiten.103 Die Suche nach einem Nachfolger für Zasius verlief zäh. Kurmainz und Bayern wollten Siegmund Vieheuser auf dem Posten, da dieser als gut katholisch galt. Maximilian II. hatte jedoch Vorbehalte gegenüber Vieheuser, da dieser – seiner Meinung nach – in einem zu engen Verhältnis zum bayerischen Herzog stand. Der Kaiser befürchtete wohl Loyalitätskonflikte.104 Da sich die Parteien mit dem Kaiser nicht einigen konnten, erhielt Weber 1570 das Amt des Reichsvizekanzlers allein, allerdings nur kommissarisch.105 Hegenmüller, der Schwager Viehheusers, war zu dieser Zeit ebenfalls in der Reichshof kanzlei tätig. Als Rudolf II. 1576 Kaiser wurde, verließ Hegenmüller die Reichshof kanzlei und den kaiserlichen Hof.106 Statt Hegenmüller kam am 23. April 1577 Siegmund ­Vieheuser als Reichsvizekanzler an die Kanzlei. Weber zog sich darauf hin aus dem aktiven Dienst zurück, schied aber erst 1583 offiziell aus.107 Die Gründe für die Schwächung von Webers Position sind nicht ganz klar. Edel vermutet, dass Weber wohl ein Opfer der bayerischen Politik geworden war.108 Festzuhalten bleibt: Weber hatte in der Reichshof kanzlei trotz Stellenteilung erheblichen Einfluss, da er 18 Jahre an der Leitung der Behörde mitwirkte. Er konnte in dieser Zeit über seine Töchter ein enges Verwandtschaftsnetzwerk mit Mitgliedern des Reichshofrats und Reichskammergerichts auf bauen. So heiratete eine Tochter Webers den Reichskammer­ gerichtsassessor Wolfgang Freymon, der 1594 auf dem Posten des Reichsvizekanzlers folgte.109 Die zweite Tochter ehelichte Kurz von Senftenau, einen Reichshofrat, der ebenfalls später das Amt des Reichsvizekanzlers innehatte. Die dritte Tochter hei­ ratete den Reichskammergerichtsassessor Blarer von Wartensee.110 Weber starb am 23. Oktober 1584.

4.  Die Veränderungen unter Maximilian II. Die Zeit unter Kaiser Maximilian II. ist von Unsicherheit geprägt. Innerhalb der Reichshof kanzlei gab es die meiste Zeit eine Doppelspitze, die nicht unbedingt um Zusammenarbeit bemüht war. Die Gründe für die Zweifachbesetzung des Reichs­ vizekanzleramtes bleiben im Dunkeln. Hier sind weitere Forschungen nötig. Zum ersten Mal nahmen jetzt Reichshofräte den Posten des Reichsvizekanzlers wahr. In dieser Zeit wurden auch verstärkt Reichshofräte als Visitatoren an das Reichskammergericht geschickt.111 Karrierepfade schienen sich allmählich zu verfestigen. Dabei   Lanzinner, (Fn.  82), 309.   Lanzinner, (Fn.  82), 311. 105   Edel, (Fn.  86), 131. 106   Edel, (Fn.  86), 133. 107   Edel, (Fn.  86), 134. 108   Edel, (Fn.  86), 139. 109   Edel, (Fn.  86), 178. 110   Edel, (Fn.  86), 178. 111   Siehe zukünftig: Baumann, Die kaiserlichen Kommissare als Visitatoren des Reichskammergerichts, in: Baumann/Kemper (Hgg.), Zwischen Justiz und Politik. Speyer als Zentralort des Reiches. Der Band erscheint voraussichtlich 2017. 103

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zeigte sich auch, dass das Verhältnis Reichshofrat-Reichshof kanzlei weithin unklar ist. Hier ist ein Blick in die Quellen unabdingbar. Letztendlich wird man den Reichshofrat als eine Unterabteilung der Reichshof kanzlei sehen müssen. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Rolle des Reichskammergerichts als Karrierevorstufe schwand. Die Pflege enger Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten des Gerichts war jedoch nach wie vor die Regel. Meist gab es eine gemeinsame Vergangenheit, die auf Universitätsbekanntschaften beruhte. Hinzu kamen familiäre Netze. Eine wichtige Rolle spielte außerdem das Herzogtum Bayern112, dem es über lange Zeit gelang, eigenes Personal in der Reichshof kanzlei zu platzieren. Der zentrale Rekrutierungspunkt war hier die Universität Ingolstadt.

V.  Die Reichsvizekanzler unter Kaiser Rudolf II. 1.  Siegmund Vieheuser Gleich nach dem Regierungsantritt Kaiser Rudolfs II. wurde Siegmund Vieheuser Reichsvizekanzler. Er stammte aus einem Bürgergeschlecht aus Landau in Niederbayern und war, wie bereits erwähnt, mit Georg Sigmund Seld verschwägert. In zweiter Ehe heiratete er in die Augsburger Familie Rehlinger ein.113 Vieheuser studierte in Ingolstadt und Freiburg. In den Jahren von 1561 bis 1566 amtierte er als bayerischen Hofrat. 1567 präsentierte ihn der bayerische Herzog am Reichskammergericht. Vieheuser saß 1571 zusammen mit Andreas Gail, Eberhard Schenk von Winterstein, Ferdinand Ströle und Johann Gailing sowie Theodor Appian in einem Senat am Reichskammergericht.114 Bayern schlug Viehheuser 1570 auf dem Reichstag zu Speyer dem Kaiser als Reichsvizekanzler vor. Der Kaiser ging vorerst darauf nicht ein, sondern ernannte ihn zum Reichshofrat. Hier zeigt sich wohl Kaiser Maximilians II. distanziertes Verhältnis zu Bayern. Vieheuser empfand dies als Abstieg, da ihm der Reichshofrat seiner Meinung nach wenig Einfluss bot. In seiner Funktion als Reichshofrat wurde er 1574 an die Höfe von Kursachsen und Kurbrandenburg gesandt, um dort die Verhandlungen für die Königswahl Kaiser Rudolfs II. vorzubereiten. Daneben absolvierte er weitere diplomatische Missionen. 1576 berief Kaiser Rudolph II. Vieheuser in den Geheimen Rat, ein Jahr später erhielt er das Amt des Reichsvizekanzlers. Vieheuser bekleidete es bis zu seinem Tod am 23. April 1587 in Lauterbach. Kaiser Maximilian II. hatte ihn in den Adelsstand erhoben. 1580 erhielt er die Edelmannfreiheit für alle seine Güter.115

112   Edel, Der Kaiser und die Kurpfalz. Eine Studie zu den Grundelementen politischen Handelns bei Maximilian II. (1564–1576), 1997, 143 f. 113   Ehrenpreis, (Fn.  30), 200. 114   Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, AR 1 Misc. 533 f. 79v–117r. 115   Ehrenpreis, (Fn.  30), 315.

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2.  Jakob Kurz von Senftenau Auch Jakob Kurz von Senftenau war vor seiner Ernennung zum Reichsvizekanzler Reichshofrat gewesen, zudem war er mit einer Tochter des ehemaligen Reichsvizekanzlers Johann Baptists Weber verheiratet. Er wurde am 11. März 1554 geboren und stammte aus einer Tiroler Familie, die in Toblach ansässig war. Der Aufstieg der Familie begann mit dem Vater, der als Angestellter der Fugger in Schwaz später zur Domänenkammer wechselte und es schließlich zum oberösterreichischen Kammerrat in Innsbruck brachte.116 Kurz Mutter hatte zudem das Reichslehen Senftenau in die Ehe eingebracht. 1536 war die Familie deshalb bereits in den erblichen Freiherrenstand erhoben worden. Über das Studium Jakob Kurz von Senftenau ist nichts bekannt. Enge Verbindungen bestanden wohl zu einigen Augsburgern Patriziern. Im Augsburger Kalenderstreit wandte sich deshalb der Augsburger Rat persönlich an Kurz von Senftenau.117 Senftenau arbeitete wohl zuerst als kaiserlicher Kämmerer. In seiner Zeit als Reichshofrat wurde er vor allem für Missionen und Gesandtschaften im Reich verwendet. 1585 erfolgte die Ernennung zum Geheimen Rat. 1587 übernahm er schließlich das Amt des Reichsvizekanzlers, das ihm jedoch erst 1593 offiziell übertragen wurde.

3.  Johann Wolfgang Freymon Nur ein Jahr später musste Kurz von Senftenau mit seinem Schwager Johann Wolfgang Freymon das Amt leiten.118 Freymon und sein Schwager bildeten von 1594 bis 1597 quasi eine Doppelspitze im Amt. Die Umstände dieser Berufung und das Verhältnis der beiden Schwäger sind dabei zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt. Auch die Motivation des Kaisers für diese Entscheidung ist nicht klar. Vielleicht wollte und konnte man auf die Expertise dieses hervorragenden Juristen nicht verzichten, obwohl er bereits seit 1592 über eine angeschlagene Gesundheit klagte und immer wieder um seine Entlassung aus kaiserlichen Diensten bat. Erst 1597 wurde schließlich seiner Bitte entsprochen, worauf hin er sich auf sein Schloß Randeck bei Kehlheim zurückzog.119 Freymon stammte aus Ingolstadt, wo er am 14.März 1546 geboren worden war. Sein Vater war Kanzler der gefürsteten Propstei Berchtesgaden gewesen.120 Johann Wolfgang studierte in Ingolstadt und wurde dort 1571 zum Doktor der Rechte promoviert. Danach ging er in die bayerische Landesverwaltung, wo er zuerst am herzoglichen Gericht in Straubing tätig war. Dann ist er als Regimentsamtsrat in Burghausen anzutreffen. 1576 präsentierte ihn der Kaiser am Reichskammergericht. Freymon war Rudolf II. wohl schon damals aufgefallen, da er zu diesem Zeitpunkt im   Ehrenpreis, (Fn.  30), 303.   Ehrenpreis, (Fn.  30), 200 f. 118   Da wir die Rivalitäten innerhalb der RHK nur vermuten können, sind hier keine weiteren Aussagen möglich. 119   Ehrenpreis, (Fn.  30), 295 f. 120   Merzbacher, Stichwort: Freymon von Randeck, Johann Wolf, in: Neue Deutsche Biographie 5, 1961, 423 f. 116 117

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Reich durch die Publikation verschiedener juristischer Werke in gewissen Fachkreisen bekannt war.121 So hatte er 1574 einen „Elenchus omnium auctorum sive scriptorum qui in jure tam civili quam canonico claruerunt“122 veröffentlicht. Es handelt sich dabei um eine Art Bibliographie von juristischen Autoren und ihrer Werke, die Freymon nach Sachthemen gegliedert hatte.123 Freymon stand auch im wissenschaftlichen Austausch mit Johann Fichard in Frankfurt. 1592 arbeitete er an einer kommentierten Neuausgabe der „Institutiones“ in der deutschen Übersetzung von Andreas Perneder mit.124 Außerdem stand er im engen Kontakt mit den bedeutenden Rechtsgelehrten Donellus, Forster und Cisner.125 Fünf Jahre nach seiner Präsentation an das Reichskammergericht wurde Freymon an den Reichshofrat berufen und am 2. Februar 1589 in den Geheimen Rat. In den folgenden Jahren zog man ihn, wie sein Schwager auch, zu diplomatischen Missionen heran. Wie weit die beiden zusammenarbeiteten, muss jedoch offen bleiben. Freymon gehörte zu den versiertesten Juristen am Hof Kaiser Rudolfs II. Er machte mehrfach Vorschläge zu Verwaltungsreformen. Vor allem um 1590 sah er große Probleme in der Reichshof kanzlei. So beklagte er sich, dass den Referenten des Reichshofrats als den eigentlichen qualifizierten Rechtsgelehrten immer mehr Sachen aus der Hand genommen würden. Trotzdem hätten sie sich gegenüber dem Geheimen Rat und dem Reichsvizekanzler zu verantworten.126

4. Gemeinsamkeiten Die Gruppe der Reichsvizekanzler unter Rudolf II. zeichnete sich dadurch aus, dass sie alle aus dem Herzogtum Bayern oder aus der Reichsstadt Augsburg stammten. Ihr Amt als Reichsvizekanzler erreichten sie erst, nachdem sie einer Tätigkeit beim Reichshofrat nachgegangen waren. Zudem waren sie alle mit vormaligen Reichs­ vizekanzlern verwandt. Kontakte zum Reichskammergericht blieben wichtig, aber eine Arbeit am dortigen Gericht war nicht mehr Voraussetzung. Gute Juristen konnte man auch anderweitig finden. Grund hierfür ist vielleicht auch, dass sich in dieser Zeit der Reichshofrat zu einer Aufsichtsbehörde des Reichskammergerichts ent­ wickelte.127

VI.  Zusammenfassung und Ausblick Zu Beginn des 16. Jahrhunderts setzt ein politischer und gesellschaftlicher Wandel ein, den man spätestens ab dem Augsburger Reichstag von 1555 als „Vorsattelzeit der 121   Siehe unter anderem sein bedeutendsten Werk, das 1574 erschienen ist: Symphonia juris utriusque chronologica, 1574. 122   Merzbacher, (Fn.  119), 423 f. 123   Ehrenpreis, (Fn.  30), 117. 124   Ehrenpreis, (Fn.  30), 117 f. 125   Ehrenpreis, (Fn.  30), 118. 126   Ehrenpreis, (Fn.  30), 95. 127   Baumann,(Fn.  11). Der Band erscheint voraussichtlich 2017.

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Moderne“128 bezeichnen kann. Ab diesem Zeitpunkt traf die theologisch-religiöse Bewegung auf eine säkulare Dynamik des frühmodernen Staates. Diese Dynamik zeigt sich besonders deutlich bei den obersten Reichsinstitutionen und ihrem Personal. Neue Reichsbehörden entstanden oder wurden in eine neue Form gekleidet. Bei der Untersuchung zeigte sich, dass das Reichskammergericht anfänglich ein wichtiges Reservoir zur Rekrutierung von künftigen Reichsvizekanzlern darstellte. Juristische Kenntnisse waren sehr begehrt. Kaiser und Erzkanzler hatten bei der Wahl eines ehemaligen Reichskammergerichtsjuristen die Garantie, dass die ausgewählten Personen auch tatsächlich für die Arbeit geeignet waren. Schließlich hatten sie vor Gericht ein schwieriges Examen absolviert. Dabei spielte natürlich auch die kaisertreue Gesinnung eine Rolle. Dies wird besonders bei den drei ersten Reichs­ vizekanzlern deutlich. Mit der Gründung bzw. Erstarkung des Reichshofrats gewann dieser als zweite Rekrutierungsebene für die Reichsvizekanzler eine immer bedeutendere Rolle, wobei das tatsächliche Verhältnis zwischen Reichshof kanzlei und Reichshofrat über die Normen hinaus offen bleiben muss. So ist nicht klar, wie weit der Reichshofrat als eine Unterbehörde der Reichshof kanzlei zu betrachten ist oder ganz andere Maßstäbe angelegt werden müssen. Davon hängen eine ganze Menge ungeklärter Fragen ab, z. B. welche Anteile Kaiser und Erzkanzler von Mainz tatsächlich bei der Besetzung der Stellen hatten. Wie weit bildeten Amt und Funktion überhaupt eine Einheit? Letztendlich sind die tatsächlichen Strukturen und personellen Beziehungen von Reichshofrat und Reichshof kanzlei so komplex, dass im Sinne von Moraw und Press nur ein umfangreiches Forschungsprojekt Abhilfe schaffen könnte. An dieser Stelle kann letztendlich nur auf das Forschungsdesiderat hingewiesen werden. Außerdem wird eine enge Verbindung des Reichs mit dem Herzogtum Bayern sichtbar. Bayern spielte im Reich eine Vorreiterrolle im politischen Modernisierungsprozess.129 Dies gelang vor allem durch die Einrichtung und Förderung der Universität Ingolstadt, die wiederum fast als die juristische Ausbildungsstätte par excellence für die Reichskammergerichtsassessoren gelten kann. Gleichzeitig wird sichtbar, dass eine Versachlichung des Klientel- und Patronagesystems stattfand, ohne dass die für das Mittelalter charakteristischen personalen Strukturen in den Hintergrund gedrängt worden wären. Das zeigt sich vor allem daran, dass im 16. Jahrhundert der Reichsvizekanzlerposten fest in ein Familiennetzwerk bzw. Personenverband eingebunden war. Schwiegerväter, Schwäger und Schwiegersöhne trafen sich nicht nur zu familiären Zusammenkünften, sondern auch täglich bei der Arbeit. Bei dem Reichsvizekanzler achteten die Kaiser auf eine katholische Gesinnung, dabei zogen sie im Laufe der Zeit moderate Kräfte Hardlinern vor. Am Reichskammergericht und am Reichshofrat blieb aber immer Raum für protestantisches Personal, um damit die Kommunikation zu allen Teilen des Reiches aufrechterhalten zu können. Der Aufsatz zeigt, dass die Erforschung der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches in Bezug auf Reichskammergericht und Reichshofrat in jüngster Zeit große Fortschritte erzielt hat. Gerade der zentrale Teil des Reiches, die   Schilling, Auf bruch und Krise. Deutschland 1517–1648, 1994, 313.   Schindling/Ziegler (Hgg.), Die Kaiser der Neuzeit, 1519–1918, 1990, 320.

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Reichshof kanzlei, mit ihren vielfältigen und vielschichtigen Beziehungen zu anderen Reichsinstitutionen ist jedoch noch nicht untersucht. Der Forschungsbedarf in weiten Teilen noch nicht einmal erkannt. Es ist an der Zeit, dies zu ändern!

Aufsätze und Abhandlungen

Was ist Recht? Und andere Fragen, die Juristen bis heute in Verlegenheit setzen* von

Prof. Dr. Uwe Volkmann, Universität Frankfurt/Main Inhalt I. Der hölzerne Kopf aus Phädrus’ Fabel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 II. Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Recht als Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Recht ohne Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3. Erneute Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4. Und neue Irritation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 III. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Rechtswissenschaft als Vernunftwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Die Rechtswissenschaft in der Einheit der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Irritation und Zerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 4. Wissenschaftlichkeit kraft Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 IV. Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1. Bescheidung als Wissenschaftsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Wissenschaft oder Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Ermüdungserscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 4. Erosion des Systemanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 V. Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Jenseits des Entscheidungszwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 2. Neue Konjunktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Neues Kommunikationsformat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 4. Theorie als Wissenschaftsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

*   Überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 10. Juni 2015 am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehalten hat. Der Beitrag führt einige frühere Überlegungen weiter, s. vor allem U. Volkmann, Das Recht und seine Grundlagen, in: A. Funke/ J. Lüdemann/J. Krüper (Hrsg.), Konjunkturen in der öffentlich-rechtlichen Grundlagenforschung, 2015; die Fragen, auf die hier eine versuchsweise Antwort gegeben wird, sind dort allesamt offengelassen.

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VI. Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Erweiterung der Richtigkeitsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. Unentrinnbarkeit der Legitimitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. Veränderungen des Zugriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4. Neue Suche nach der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 VII. Kein Ende der Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

I.  Der hölzerne Kopf aus Phädrus’ Fabel Was immer es mit dem Recht auf sich haben mag, es lebt auch von und in seinen Geschichten. Diese hier handelt von einem damals noch jüngeren Rechtslehrer, der vor seinem ersten Einsatz als Prüfer im mündlichen Staatsexamen stand und sich mit der Frage quälte, was er denn sinnvollerweise prüfen solle. Um die Kandidaten nicht gleich mit einem komplizierten Fall zur Abgrenzung der Inhalts- und Schrankenbestimmung von der Enteignung oder zur Abwägungsfehlerlehre im Bauplanungsrecht zu verschrecken, nahm er sich schließlich vor, mit etwas Allgemeinerem zu beginnen, zu dem, wie er hoffte, jeder erst einmal etwas sagen könne, gleichsam als ein lockerer Aufgalopp. Also eröffnete er die Prüfung mit dem Satz, sie, die Kandidaten, hätten ja nun allesamt vier oder fünf Jahre Rechtswissenschaft studiert, nun solle doch einfach mal jemand sagen, was das denn sei, das Recht, wie würde man das selber beschreiben? Lähmendes Entsetzen. Dann einige unbeholfene Annäherungen, neuerliche Ratlosigkeit, deshalb sicherheitshalber Übergang zur zweiten Frage: Wenn schon nicht recht klar sei, was das „Recht“ in „Rechtswissenschaft“ bedeute, vielleicht könne jemand mal versuchen zu erklären, was denn hier nun „Wissenschaft“ sei? Dasselbe Ergebnis; auch der als Hilfestellung gemeinte, weil immerhin bei einer konkreten Norm ansetzende Hinweis auf den Wissenschaftsbegriff, den das Bundesverfassungsgericht einmal zu Art.  5 Abs.  3 GG entwickelt hatte, versank in Ratlosigkeit und Schweigen. Der Rechtslehrer hat daraus für die Zukunft gelernt und diese Fragen seitdem nie mehr gestellt. Stattdessen leitet er nicht ohne Resignation, aber zumindest doch wie alle anderen seine Prüfungen nun mit einem mehr oder weniger komplexen Fall ein, behandelt Probleme wie die Abgrenzung der Inhalts- und Schrankenbestimmung bei der Enteignung oder fragt nach der gericht­ lichen Kontrolle von Abwägungsfehlern bei der Bauleitplanung. Auch dies wissen regelmäßig nicht alle, aber der Rechtslehrer hat doch den Eindruck, es herrsche ein höheres Einverstandensein, ja sogar eine gewisse Zufriedenheit mit dieser Art von Nichtwissen. Dabei hätte man es durchaus vorhersehen können. „Was ist Recht?“, leitet Kant mit einer Passage, die in kaum einer ordentlichen Vorlesung Rechtsphilosophie fehlt, seine Rechtslehre ein: „Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen … will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben; aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum at iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeit

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lang jene empirischen Prinzipien verlässt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht, um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten“. Es folgt der berühmte Hinweis, eine Rechtslehre, die darauf verzichte, sei „(wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat“.1 Und was die andere Frage nach der Wissenschaft und speziell ihrer Wissenschaftlichkeit anbelangt, so scheint es auch die Rechtswissenschaft selbst immer weniger zu wissen. Das belegen jedenfalls die anhaltende Diskussion und die zahllosen Veröffentlichungen, die dazu seit einiger Zeit erscheinen. Gesucht wird dann etwa nach dem „Proprium“ der Rechtswissenschaft, man versucht sich an einer „Theorie“ von ihr, zieht das Wissen von „Dogmatik“ in Zweifel oder spürt ganz allgemein der „Wissenschaft“ des Rechts oder „im Recht“ nach; die vorerst letzte Hervorbringung gilt der „Selbstreflexion“ der Rechtswissenschaft überhaupt.2 Die Orientierungslosigkeit, die die unschuldigen Kandidaten in jener längst zurückliegenden Staatsprüfung offenbarten, hat nun ganz offenbar auch das Fach selbst und in seiner ganzen Breite erfasst, und dass dies nicht zum ersten Mal, sondern in perio­ dischen Abständen immer wieder auftritt, macht die Sache keineswegs besser. Was wäre in diesem Sinne die disziplinäre Identität des Faches – und wie ließe sie sich heute bestimmen, in der Abgrenzung zu anderen Fächern wie in Bezug auf den Gegenstand, mit dem es sich beschäftigt? Dazu wollen die nachfolgenden Ausführungen einige Überlegungen und am Ende einen Vorschlag beisteuern, der aber vielleicht auch nur wieder Anlass für weitere Fragen liefert.

II. Recht Beginnt man in diesem Sinne mit der Frage, mit der alles anfängt, also mit der Frage nach dem Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft, werden die Schwierigkeiten gleich offenbar. Natürlich haben alle Juristen eine ungefähre Vorstellung davon, was das Recht ist; schließlich beschäftigen sie sich ja beruflich ständig damit. Nicht jeder ist sich aber über diese Vorstellung im Klaren oder hat einmal probehalber versucht, den eigenen Rechtsbegriff zu formulieren.3 Und wer es versucht, bekommt gleich einen Eindruck von den Schwierigkeiten, als sperre sich dieser Gegenstand gegen seine Erfassung in einem klaren oder überhaupt in einem Begriff. Was wissen wir also über das Recht?

1   I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Theorie- Werkausgabe Immanuel Kant, hrsgg. von W. Weischedel, 1968, Band VIII, S.  336; daran jüngst anknüpfend etwa T. Gutmann, Der Holzkopf des Phädrus – Perspektiven der Grundlagenfächer, JZ 2013, 697 ff. 2   In dieser Reihenfolge: C. Engel/W. Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007; M. Jestaedt/O. Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008; A. Funke/J. Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009; G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012; R.-M. Kiesow, Rechtswissenschaft – Was ist das?, JZ 2010, 585 ff.; M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, JZ 2014, 1 ff.; E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015. 3  Nach M. Winkler, Rezension von S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, Der Staat 53 (2014), 676.

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1.  Recht als Vernunft Dafür muss man zunächst sehen, dass der prinzipielle Gegensatz, wie er bei Kant in seiner Frage nach dem Recht aufgebaut ist, also der Gegensatz zwischen dem, was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, und dem, was an ihnen recht und unrecht ist, vereinfacht ausgedrückt also der ­Gegensatz zwischen einem grundsätzlich realen und einem grundsätzlich idealen Rechtsbegriff, in der Geschichte lange Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt hat und möglicherweise auch heute keine mehr spielt.4 Beides floss bis weit in die Neuzeit zusammen und war untrennbar ineinander verschränkt. Das Recht, heißt es bei Ulpian, „leitet seinen Namen von der Gerechtigkeit her, denn Recht ist, wie Celsus trefflich definiert, die Kunst des Guten und Billigen“5 – hier ist alles in dem einen Begriff vorhanden, das Ideale wie das Reale, die Orientierung an einem höheren Maßstab wie die praktische Anwendung im Alltag. Das Scharnier, das die beiden Seiten miteinander verband, war die Vernunft, und zwar als eine Vernunft, die sich in allen Verhältnissen aussprach und von der auch das Recht selber nur ein Ausdruck war. Es ist also, schreibt Cicero, „das wahre Gesetz die rechte Vernunft, mit der Natur übereinstimmend, ausgegossen in alles, beständig, ewig“, und als solche ist sie auch dem Recht unauslöschlich eingeprägt: „Denn es gibt nur ein einziges Recht, durch das die menschliche Gesellschaft gebunden ist, und das wiederum nur in einem einzigen Gesetz fundiert ist, in dem Gesetz, das in der rechten Vernunft des Gebietens und Verbietens besteht. Wer es nicht kennt, ist ungerecht, mag es irgendwo aufgeschrieben sein oder nicht.“6 Das ist die klassische Lehre von der Weltvernunft, wie sie in der griechisch-römischen Stoa entwickelt wurde und hier ihre gültige Formulierung gefunden hat. Sie steht zugleich für eine besonders klare und vielleicht sogar für die stärkste Verbindung von Recht und Vernunft, die sich denken lässt, weil sie beides ganz unvermittelt miteinander gleichsetzt. Das Recht ist hier einfach Vernunft, und damit ist schon alles gesagt. Aber auch sonst, also in ihrem sachlichen Kern, bleibt die Verbindung durch die Geschichte hindurch lange erhalten, wobei sich nur die Bezeichnung oder die Verkörperung ändert, in der die Vernunft jeweils Wirklichkeit gewinnt: Sie kann wie im Mittelalter theologisch-transzendental, sie kann wie im Natur- und Vernunftrecht der Auf klärung rational-innerweltlich bestimmt werden oder wie später bei Savigny organisch-historisch. Aber immer bleibt sie darin mit dem Recht verschränkt, das damit in der Sache und in welcher Vermittlung auch immer selbst als Vernunft erscheint.

2.  Recht ohne Vernunft Paradoxerweise gerät diese Verbindung mit der zunehmenden Verschriftlichung, Aufzeichnung und Zusammenstellung des Rechts, die sich vor allem mit der Idee der   Der Gegensatz zwischen dem idealen und dem realen Rechtsbegriff bzw. der realen oder idealen Dimension des Rechts bei R. Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, Der Staat 50 (2011), 389 ff. 5   D. Ulpianus, Ulpian primo libro reg., Digesten I, 1.1. 6   M. T. Cicero, De re publica, III, 22, 33; ders., De legibus I 42, Übersetzung N. Hoerster. 4

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Kodifikation verbindet, in eine Krise, zeitlich also etwa ab dem Übergang zum 19. Jahrhundert: ausgerechnet jetzt, wo das Recht als Gegenstand erstmals anschaulich und greif bar wird, nicht rekonstruiert oder erst ausfindig gemacht werden muss aus einzelnen Rechtssprüchen, Überlieferungen oder Textfragmenten, sondern als Resultat planender – und gerade in der Vorstellung der Kodifikation eben auch vernünftiger – Formung und Zwecksetzung in die Welt tritt. Es wird dies aber wesentlich wahrgenommen als Entzweiung, und zwar gerade im Verhältnis zu jener Vernunft, die dem Recht einst eingeschrieben schien. In seiner Verkörperung als geschriebenes Gesetz, im Medium der Schrift und später dem des Buches, treten beide nun auseinander, löst sich das Recht aus seiner Verankerung in einem geistigen Gehalt, wird selbsttragend und selbstständig; es ist jetzt etwas, das man – als Gesetzblatt oder Buch – in die Hand nehmen und auf den Tisch legen kann, und wo es die ursprüngliche Verbindung noch gibt, haftet ihr etwas Äußerliches an, wird sie – im mehrfachen Wortsinn – zufällig.7 Das spiegelt sich alsbald in einem entsprechend gespaltenen Rechtsbegriff, von dem in der Folge unklar wird, ob dieser auf das real existierende, überwiegend nun in den Gesetzbüchern auf bewahrte Recht, vielleicht noch ergänzt um Phänomene wie Gewohnheits- oder Richterrecht, beschränkt ist oder weiter unter Rückgriff auf eine in ihm angelegte Vernunft bestimmt werden kann, vor der sich das reale Recht zu legitimieren hat. So oder so treten der reale und der ideale Rechtsbegriff nun auseinander und können sogar gegeneinander ausgespielt werden.8 Dies geschieht in der bekannten Positivismus-/Naturrechtsdebatte, der dann je nach dem maßgeblichen Referenzrahmen unterschiedliche Exponenten zugeordnet werden: hierzulande etwa Kelsen oder Radbruch, im angloamerikanischen Rechtskreis bis heute und in unzähligen Variationen fortgeführt Hart und Dworkin.9

3.  Erneute Integration Die Debatte wird gelegentlich bis heute und sogar bis in jüngste Habilitationsschriften hinein fortgeführt.10 Dabei wird gar nicht bemerkt, dass ihr zwischenzeitlich der Gegenstand abhandengekommen ist und der Gegensatz, an dem sie sich abarbeitet, heute an Bedeutung verloren hat, vielleicht sogar überhaupt gar keine Rolle mehr spielt. Für die Bundesrepublik lässt sich dies illustrieren am Schicksal der Naturrechtsrenaissance, die die Nachkriegsjahre lange prägte.11 Sie fiel in dem Moment in sich zusammen, in dem man feststellte, dass man alles, was das vermeintliche Natur7   Was gerade die mediale Verkörperung des Rechts – und insbesondere deren Veränderungen – für das Recht bedeutet, kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden; s. insb. zur Rolle von Schrift und Buchdruck in diesem Zusammenhang T. Vesting, Die Medien des Rechts: Schrift, 2011; sowie ders., Die Medien des Rechts: Buchdruck, 2013, dort zu dem damit verbundenen epistemologischen Einschnitt S.  47 ff., speziell zur Herausbildung von Recht als autonomes System S.  78 ff. 8   Speziell unter diesen Begriffen eben Alexy (Fn.  4 ). 9   Gerade die Hart-Dworkin-Debatte hat die angloamerikanische Rechtstheorie mindestens bis zur Jahrtausendwende geradezu beherrscht, vgl. S. J. Shapiro, The „Hart-Dworkin“ Debate: A Short Guide for the Perplexed, Michigan Law Working Paper Series, March 2007, No. 77. 10  Vgl. C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat, 2015, i. E. 11   Grundlegend auf bereitet – auch in den wechselnden Diskursverläufen – nunmehr bei L. Foljanty, Recht oder Gesetz, 2012, zum allmählichen Versiegen s. dort, S.  343 ff.

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recht an Begründungs- und Denkformen bereitstellte, längst hatte, nämlich im Grundgesetz als der Verfassung des neugegründeten Staatswesens: Dieses nimmt in seinen zentralen Prinzipien – Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit – alle wesentlichen Leitbegriffe und Problemformeln des neuzeitlichen Naturrechts in sich auf und verbindet dadurch das reale Recht wieder mit einer idealen Vorstellung von ihm, wie sie bis heute vor allem in der Moralphilosophie entfaltet wird.12 Der Rechtspositivismus reagiert darauf, indem er zunehmend „inklusiv“ wird und anerkennt, dass das positive Recht selber sich zur Moral öffnen und vielfältige moralische Vorstellungen inkorporieren kann. Mittlerweile ist sogar ein „superinklusiver Rechtspositivismus“ denkbar, nach dem das Recht auch die Gerechtigkeit insgesamt als Argument in sein System einbauen und dort verwendbar machen kann.13 Blickt man dazu auf Art.  20 Abs.  3 GG und die dort angeordnete Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“, so sind wir davon möglicherweise gar nicht so weit entfernt. Der alte Gegensatz von Naturrecht und Rechtspositivismus stellt sich dann nur noch für den Ausnahmefall der Bewältigung der Folgen autoritärer oder totalitärer Regime, also für das „Hitler-Problem“, das aber in der Sache nur ein solches zulässiger Rückwirkung ist und für den Alltag einer Rechtsordnung keine Rolle spielt.14 Wird das Recht, so könnte man fragen, dann aber nicht wieder selbst als ein in sich Vernünftiges gedacht, als Verkörperung einer universal gewordenen Vernunft, wie sie unter anderen Vorzeichen und von einem ganz anderen weltanschaulichen Ausgangspunkt aus bereits von der griechisch-römischen Stoa angenommen war?

4.  Und neue Irritation Dies wird allerdings nun von einer anderen Warte aus zunehmend bestritten; kaum ist dieser Halt erreicht, tun sich dahinter neue Unsicherheiten auf. Es wird nämlich zusehends unklar, ob man überhaupt noch von dem einen Recht sprechen kann und worin es besteht. Der Gegenstand franst aus und wird auch in sich zusehends unscharf. Als geläufigster Indikator für diese Entwicklung gilt meist die Auflösung des klassischen Konnexes von Recht und Staat, dem das Recht zusammen mit seiner Form und seinem Inhalt auch seine Einheit oder zumindest eine Vorstellung von Einheit verdankte. In dem Maße, in dem die Rechtsproduktion sich vom Staat entkoppelt, entfällt dafür die Grundlage. Stattdessen überlappen und überlagern sich in einem neuen „Rechtspluralismus“ eine Vielzahl von partikularen Rechtsregimen, die teils funktional, teils territorial, teils noch traditional-religiös ausgerichtet sind und sich in einer schwer durchschaubaren Weise durchdringen.15 Dessen Erfassung wird zudem dadurch erschwert, dass unter dem Etikett seinerseits ganz verschiedene   R. Dreier, Recht – Moral – Ideologie, 1981, S.  124.   Zu nennen ist hier vor allem J. Coleman, Negative and Positive Positivism, Journal of Legal Studies 11 (1982), 139 ff. 14   Die Bezeichnung bei K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S.  332 ff. 15   L. Viellechner, Responsiver Rechtspluralismus, Der Staat 51 (2012), 559 (561); knappe und instruk­ ti­ve Auf bereitung bei S. Baer, Rechtssoziologie, 2.  Aufl. 2015, S.  99 ff., 104 ff. In Bezug auf die wechselseitige Durchdringung spricht postmoderne Rechtstheorie häufig auch von „Interlegalität“, vgl. B. de Sousa Santos, Toward a New Legal Common Sense, 2.  Aufl. 2002, S.  437. 12 13

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Narrative zusammenkommen, die ihrerseits ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen.16 Parallel dazu diffundiert auch der Begriff der Norm, der sich zusehends von klassischen Elementen der Setzung einerseits oder der zwangsweisen Durchsetzbarkeit andererseits emanzipiert; stattdessen werden zunehmend auch andere Regeln oder regelgeleitete Praktiken erfasst, die früher anderen Kategorien – dem Informellen, der Kultur, der Moral – zugeschlagen worden wären.17 Auch private Akteure – transnationale Unternehmen, Netzwerke, Sportverbände, hybride Gebilde wie Icann etc. – sind nun zunehmend normsetzend tätig, ohne dass immer schon klar ist, ob das, was dort entsteht, schon Recht ist oder vielleicht nur etwas irgendwie Ähnliches.18 Und zu alledem haben der Dekonstruktivismus und die Postmoderne unsere Vorstellung von irgendeiner Rationalität des Rechts, Linguistik, Sprach- und Medienphilosophie auch von der Möglichkeit seiner rationalen Interpretierbarkeit auseinandergenommen.19 Wo einmal das eine Recht war, sehen viele jetzt: lauter Fragmente, selbst von der Verfassung nur noch: Fragmente.20 In einer Frankfurter Habilitationsschrift ist daraus vor einiger Zeit die Konsequenz gezogen worden, jede irgendwie lineare oder systematische Darstellung des Rechts aufzugeben: Nur noch in alphabetischer und damit letztlich in Bezug auf seinen Gegenstand ganz willkürlicher Reihung sollte fortan vom Recht die Rede sein.21 Gibt es das dann noch, das Ganze des Rechts? Im Sinne von gemeinsamen und darin auch vernünftigen Strukturen der Wirkungsweise und des Geltens, aber auch im Sinne von Strukturen des Inhalts? 22 Und kann man unter diesen Voraussetzungen vom Recht überhaupt noch als einem Ganzen erzählen? 16  Dazu R. Seinecke, Das Recht des Rechtspluralismus, 2015. In den 1970er Jahren wurde darunter überwiegend das Nebeneinander verschiedener Rechtsschichten innerhalb einer staatlichen Ordnung bzw. innerhalb eines abgrenzbaren territorialen Raums verstanden, etwa das Nebeneinander von politisch-säkularer Ordnung und religiösen Normsystemen (Scharia etc.), von kolonialgeprägtem Recht und dem Recht indigener Bevölkerungsgruppen etc., vgl. F. von Benda-Beckmann, Rechtspluralismus in Malawi, 1970; ders., State, Religion and Legal Pluralism, 2001; das Vorbild in der von E. Ehrlich untersuchten Bukowina, s. ders., Das lebende Recht der Völker der Bukowina, 1912; die Übertragung auf den neuen globalen Rechtspluralismus dann etwa bei G. Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Rechtshistorisches Journal 15 (1996) 255 ff. 17  S. auch hierzu die so schöne wie schillernde Definition des Rechts im „Epilog“ von Seinecke (Fn.  16), S.  338 (Ms): Recht als „Relation von Recht und Ordnung“; ferner die pragmatische Auflösung des Normbegriffs bei T. Vesting, Rechtstheorie, 2.  Aufl. 2015, Rn.  60 ff. 18  Typisch etwa die Antwort von Theoretikern des Rechtspluralismus wie P. S. Berman, Global Legal Pluralism, Southern California Law Review 80 (2007), 1155 (1177): Maßgeblich ist letztlich nur, was die Beteiligten als bindend ansehen, „the whole debate about law versus non-law is largely irrelevant in a pluralism context“. 19   Statt vieler I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009. 20   G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, bezogen auf neuartige, emergente Verfassungsstrukturen in globalen Räumen. 21   R. M. Kiesow, Das Alphabet des Rechts, 2004; die Stichworte heißen dann etwa Fabrik, S.  106 ff., Irrsal, S.  134 ff., XY, S.  279 ff. etc. 22   S. die Frage von K. Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität, in: FS Habermas 2001, S.  539 (541): „Am Faktum des Rechtspluralismus scheint sich die Einheitsfiktion des Rechtssystems aufzulösen. Wie ist dann aber noch ein in wenigstens minimaler Weise gerechtes, am Prinzip der Gleichbehandlung gleicher Fälle und damit des Rechts auf Gleichheit aller Rechtsgenossen orientiertes, auf ein kohärentes System von Normen gestütztes Entscheiden möglich?“

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III. Wissenschaft Das führt zu der weiteren Frage, ob diese Erzählung als eine wissenschaftliche möglich ist. Das ist natürlich im letzten Sinne nur eine Frage der Übereinkunft, also der Frage, welchen Wissenschaftsbegriff man jeweils setzt.23 Aber es ist insoweit keine beliebige Frage, als sich jedes Fach, das den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein, Rechenschaft darüber ablegen muss, worin es seine Wissenschaftlichkeit findet und wie es sie begründet.24 Allerdings ist möglicherweise auch schon der Anspruch überhöht. In Frankreich etwa studiert man nur „droit“, in England und den Vereinigten Staaten einfach „law“; nichts ist hier mit Wissenschaft. Ist Rechtswissenschaft also nur ein Name, ein deutscher Name, wie kürzlich gesagt worden ist? 25

1.  Rechtswissenschaft als Vernunftwissenschaft Die Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit begleitet die Rechtswissenschaft – oder neutraler: die Jurisprudenz – jedenfalls seit ihren Anfängen; insoweit geht es ihr heute nicht viel anders als der Theologie, von der man bei Lichte besehen ja nicht einmal weiß, ob es ihren Gegenstand überhaupt gibt.26 Im Fall der Jurisprudenz haben diese Zweifel ihren historischen Grund im klassischen aristotelischen Wissenschaftsbegriff, nach dem die Wissenschaft (episteme) als eine von fünf Grundhaltungen der Seele auf die Erkenntnis einer ewigen und unwandelbaren Wahrheit bezogen war: als „ein Erfassen des Allgemeinen […] und dessen, was aus Notwendigkeit ist“, im Sinne einer inneren Wahrheit der Dinge, die den Wandel der Erscheinungen und der Tageswertungen überdauert.27 Das war und ist außerordentlich einflussreich, bis heute hallt es so etwa noch in die bekannte Wissenschaftsdefinition des Bundesverfassungsgerichts hinein.28 Die Beschäftigung mit Recht hatte Aristoteles demgegenüber seinerzeit nicht der Wissenschaft, sondern der Klugheit (phronesis) zugeordnet; sie war in diesem Sinne nicht Dienst an einer unwandelbaren Wahrheit, sondern – als Gesetzgebung, Rechtsberatung, richterliche Streitentscheidung – praktisches Handeln in und für die Welt, vergleichbar in etwa der Verwaltung eines Hauses.29 Sie kann dann 23  So zutreffend U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: A. Kaufmann/ W. Hassemer/ders. (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Auflage 2004, S.  385 (386). 24   Es sei denn, man lehnt im Sinne eines „anything goes“ von vornherein jeden Begründungs- und Methodenzwang ab, so P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1975. 25   Kiesow (Fn.  2 ), JZ 2010, 591. 26   Zu den Zweifeln an der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz siehe schon den bei G. Radbruch zitierten Spottvers Friedrich von Logaus, s. G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1. Auf­ lage 1910, S.  116. Der Vergleich mit der Theologie wohl erstmals bei I. Kant, Der Streit der Fakultäten, 1. Auflage 1798. 27   Aristoteles, Nikomachische Ethik, 139 b 15 ff., 30–35; zum Zusammenhang mit dem Streit um die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders. (Fn.  12), S.  48 (49). 28   BVerfGE 35, 79 (113) [1973]: „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“; die Wahrheit selber gilt dann mit Wilhelm von Humboldt als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“. 29   Aristoteles, Nikomachische Ethik, 140 b 30 ff.

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allerdings gerade in dem Moment zum Gegenstand von Wissenschaft werden, in dem das Recht selber als ein in sich Wahres und Vernünftiges begriffen wird, sich mit der Vorstellung einer universalen Vernunft verbindet, so wie es hier exemplarisch in seiner Bestimmung durch die Stoa und Cicero vorgestellt worden ist.30 Als empirischer Ausdruck dieser Vernunft galt alsbald das Corpus Iuris Civilis, in dem man die gesamte juristische Weisheit der römischen Epoche auf bewahrt sah; sie traf und versammelte sich hier in einem durch die Jahrhunderte hindurch fortgetragenen Rechtstext, der dadurch nun selber im Laufe der Zeit als geschriebene Vernunft, als ratio scripta, erschien. Als beinahe heiliger Text genoss er in diesem Sinne eine Autorität, die der Bedeutung der Bibel für die Theologen kaum nachstand.31 Zunächst an der Universität Bologna, später auch an allen anderen europäischen Universitäten konnte man sich dann mit dem Recht auch wissenschaftlich befassen, so wie man sich auch mit der Bibel in der Theologie wissenschaftlich befassen konnte: durch Ordnen, Zusammenstellen, aber eben auch – namentlich in den Glossen – durch schöpferisches Weiter- und Über-den-Text-Hinausdenken. In der klassischen Definition von Ulpian fließt deshalb beides zusammen, die Rechtswissenschaft und die Theologie: Die Jurisprudenz, heißt es dort, ist „die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten.32

2.  Die Rechtswissenschaft in der Einheit der Wissenschaften Es ist dementsprechend gerade diese Verschränkung des Rechts mit der Vernunft oder ihren Platzhaltern (göttlicher Schöpfungsplan, Wahrheit etc.), die es als Gegenstand von Wissenschaft historisch erst möglich machte. Ebenso wie die anderen Wissenschaften zielte die so konstituierte Rechtswissenschaft dann auf die Erkenntnis dieser Vernunft, die im Recht nur eine ihrer möglichen Erscheinungen annahm. Von hier aus war sie von den anderen Wissenschaften nicht geschieden, sondern konnte mit ihnen zwanglos zusammengeführt werden: mit der Theologie wie in der Rechtsund Gesetzeslehre Thomas von Aquins, mit der Philosophie wie im aufgeklärten Vernunftrecht eines Grotius, Pufendorf, Wolff oder Thomasius, die oft eben immer auch beides waren, Juristen und Philosophen, manchmal – wie etwa Wolff – zugleich auch noch Theologen und Mathematiker. Das verband sich mit einer Vorstellung von Wissenschaft, in der sämtliche Einzeldisziplinen zwar auf unterschiedlichen Feldern wirken mochten, sie alle aber doch in ihrer Zielbestimmung zusammenfanden, und in der so konstituierten Einheit der Wissenschaften ging folgerichtig auch die Rechtswissenschaft zwanglos auf: als Dienst an einer universalen Vernunft, der sie alle aus   S. oben I und 1.   So M. Böhl/W. Reinhard/P. Walter (Hrsg.), Hermeneutik, S.  292 f. 32   D. Ulpianus, Ulpian primo libro reg., Digesten 1.1.10.2 (Iurisprudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia, hier wiedergegeben nach der Ausgabe von O. Behrends u. a., Band 2, 1995. Ob „scientia“ hier wirklich schon „Wissenschaft“ und nicht lediglich „Wissen“ bedeutet, wird gelegentlich bezweifelt, vgl. J. Rückert, Denktraditionen, Schulbildungen und Arbeitsweisen in der ‚Rechtswissenschaft‘ – gestern und heute, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Fn.  2 ), S.  13 (14 f.); jedenfalls für die Verhältnisse nach dem Ende des 11. Jahrhunderts und die Art und Weise der Vermittlung des Stoffes nach dem Vorbild der Universität von Bologna würde es aber aus den im Text dargelegten Gründen durchaus passen. 30 31

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je unterschiedlichen Perspektiven verpflichtet waren. Noch bei Hegel erscheint die Rechtswissenschaft in diesem Sinne als „Teil der Philosophie“, sie hat die „Idee des Rechts“ zum Gegenstand, und ihre Aufgabe ist es, diese „Idee, als welche die Vernunft eines Gegenstandes ist, aus dem Begriffe zu entwickeln“.33 Aber auch bei Kant ist die Rechtslehre mit der Philosophie eng verbunden, wenn nicht verschmolzen; sie zielt auf die Vernunfterkenntnis des Rechts, die es von den Zufälligkeiten seiner historischen Erscheinung befreit, es als ein System von „Prinzipien a priori“ ausweisen und begründen will.34

3.  Irritation und Zerfall Mit dieser Einheitsbetrachtung und der damit verbundenen Begründung von Wissenschaftlichkeit ist es allerdings in dem Moment vorbei, in dem Recht und Vernunft auseinandertreten und als voneinander im Ausgang Getrenntes begriffen werden. Dies geschieht mit der Durchsetzung der förmlichen Gesetzgebung als vorherrschender Modus der Rechtserzeugung, mit der sich der Rechtsbegriff wie oben beschrieben in einen realen und einen idealen Begriff aufspaltet.35 Die entscheidende Frage war dann, wie man weiter am Wahrheits- und damit am Wissenschaftsanspruch der Rechtswissenschaft festhalten konnte, wenn das Recht nun nicht mehr als etwas Ideales und in sich Vernünftiges behandelt werden konnte, sondern als das bloße – und damit letztlich beliebige – Produkt menschlicher Zwecksetzung, das es der Sache nach war. Eine Zeitlang lässt sich gerade für Deutschland beobachten, wie man die neue Entwicklung zu ignorieren versucht und an der Vorstellung eines reinen, vernünftigen Rechts festhält. Die Vernünftigkeit wird dann anderswo gesucht, jenseits oder auch oberhalb des geschriebene Rechts: in der Geschichte und dem Volksgeist wie bei Savigny (durch „still wirkende Kräfte“, aus Sitte, Volksglaube und Gewohnheit wird das Recht erzeugt, „nicht durch die Willkür des Gesetzgebers“);36 in einer Pyramide der Begriffe, die ihren ersten Grundbegriff – den der Freiheit, von dem alle Rechtsverhältnisse nur ein Ausfluss sein sollten – ebenfalls außerhalb des geschriebenen Rechts fand.37 So konnte man weiter an der Vorstellung eines idealen, des reinen und wahren Rechts festhalten, das der Beliebigkeit der je gesetzten Zwecke enthoben war. Aber je weiter sich das Rechtssystem als positives Rechtssystem ausdifferenziert, je stärker die Rechtsproduktion durch die Parlamente, Ministerien und Amtsstuben voranschreitet, je umfangreicher die Gesetzesblätter und die Gesetzesbücher werden und je mehr das tatsächliche Rechtsleben davon erfasst wird, desto klarer ist für jedermann zu sehen, dass diese Art der Begründung von Wissenschaftlichkeit auf Sand gebaut ist. Julius Hermann von Kirchmann benötigte schon 1848 in seiner berühmten Philippika nur wenige gezielte Stöße, um das ganze Gebäude wie   G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§  1 und 2.  Vgl. Kant (Fn.  1), S.  309 ff., 319 ff. 35   S. oben I 2. 36   F. C. von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S.  8 ff., 16 ff. (Zitat S.  14). 37   G. F. Puchta, Cursus der Institutionen, Band 1, 2. Auflage 1845, §  1 (S.  9 ); in diesem Sinne ist dann das Recht nach wie vor „ein Vernünftiges“ (S.  6 ). 33

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ein Kartenhaus in sich zusammenfallen zu lassen: „drei berichtigende Worte des Gesetzgebers, und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“38 Das Recht ist wandelbar, änderbar, flüchtig geworden, „in seiner letzten Bestimmtheit baare Willkür“, wie Kirchmann schrieb.39 Wer unter diesen Bedingungen weiter nur nach dem Idea­ len, Vernünftigen und Wahren jenseits und oberhalb dieses Flüchtigen und Zufälligen suchte, mochte dann zwar das, was er betrieb, weiter Rechtswissenschaft nennen, aber es war am Ende nur eine Rechtswissenschaft ohne Recht.

4.  Wissenschaftlichkeit kraft Systembildung Die Alternative wird dementsprechend darin gesehen, die Verbindungen und Bezüge zu diesem Idealen und Vernünftigen, zu einer Vorstellung von Recht hinter und über dem geschriebenen Recht, zu kappen und die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz primär intern zu begründen, in der Sache also durch den vorhandenen Rechtsstoff und die Art und Weise seiner Erfassung. Dies kann seinerseits in zwei unterschiedlichen Varianten geschehen, je nachdem wie radikal die Kappung jener Bezüge ausfällt. In einer gemäßigten Variante, für die in Deutschland das Programm der Hermeneutik steht, präsentiert sich die Rechtswissenschaft als Textwissenschaft im Sinne einer „verstehenden Geisteswissenschaft“, die sich im vielschichtigen und in seinen Tiefen nicht vollständig zu erschließenden Vorgang des Verstehens für solche Bezüge durchaus noch offen hält.40 In der radikalen Variante, wie sie sich alsbald mit dem Konzept des juristischen Positivismus verbindet, soll das Recht demgegenüber vollständig „von allen nichtjuristischen, bloß der ethischen und politischen Betrachtung angehörigen Stoffen gereinigt“ werden; diese gelten künftig nur noch als das berühmte „Vorspiel im philosophischen Himmel“, das den Juristen nicht mehr zu interessieren hat.41 Ziel ist die konsequente Formulierung und Entfaltung eines „strictly legal point of view“, der sich ganz auf den je vorfindbaren Rechtsstoff und seine Behandlung beschränkt.42 Die Wissenschaftlichkeit des Faches besteht dann darin, dass dieser Stoff als ein System konzipiert wird, dessen einzelne Teile sinnvoll aufeinander bezogen sind.43 Ausräumung von Inkonsistenzen, konstruktive Arbeit an Begriffen, sinnvolle Ordnung, mit einem Wort: Systembildung – das ist fortan Wissenschaft.44 In der Sache wird, so könnte man sagen, damit der aristotelische Wissenschaftsbegriff durch den kantischen ersetzt: Woran die Wissenschaft von nun an bauen soll, ist „ein nach Prinzipien geordnetes Ganze(s) der Erkenntnis“,45 und zum 38   J. H. von Kirchmann, Von der Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, das hinlänglich bekannte Zitat auf der Seite 7. 39   Kirchmann (Fn.  38), S.  16. 40   So noch etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S.  204 ff. 41  Nach C. F. von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, 3. Auflage 1880, Neudruck 1969, S.  1 f., 237 f. 42   S. dazu W. Ernst, Gelehrtes Recht, in: Engel/Schön (Fn.  2 ), S.  3 (15 ff.). 43   Ernst (Fn.  42), S.  4 f. 44   Zu diesem „systematischen Proprium“ W. Frisch, Wesenszüge rechtswissenschaftlichen Arbeitens – am Beispiel und aus der Sicht des Strafrechts, in: Engel/Schön (Fn.  2 ), S.  156 (160 ff.). 45   I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Schriften zur Naturphilosophie, Theorie- Werkausgabe, Band VIIII, 1977, S.  11.

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Inbegriff dieses Ganzen wird gerade die Vorstellung des „Systems“.46 Rechtswissenschaft, lässt sich dann sagen, „ist entweder systematisch oder sie ist nicht“.47

IV. Dogmatik Man muss allerdings sehen, dass der kantische Wissenschaftsbegriff dabei um seine charakteristische Pointe verkürzt wird: Wenn Kant von „Prinzipien“ spricht, meint er immer auch Prinzipien a priori, also solche, die dem sinnlichen Wahrnehmbaren vorausliegen, und das „Ganze der Erkenntnis“ zielt bei ihm stets auf die Transzendierung eines bloß in der Realität vorgefundenen Stoffes. Gerade diese Verkürzung wird indessen für das neue Verständnis Programm. Zu ihrer tragenden Säule wird der Begriff der Dogmatik, in dem die deutsche Rechtswissenschaft bis heute ihre disziplinäre Identität findet: als „Herzstück“ „Kerngeschäft“ oder „Markenkern“ oder wie die Formulierungen alle heißen.48 Aber worin liegt der Kern dieses Kerns, und reicht er für eine Begründung von Wissenschaftlichkeit wirklich hin?

1.  Bescheidung als Wissenschaftsprogramm Es ist in diesem Zusammenhang möglicherweise keine ganz unwichtige Beobachtung, dass ungeachtet ihrer allgemeinen Hochschätzung Juristen um eine nähere Bestimmung von Dogmatik mindestens ebenso verlegen sind wie um die Antwort auf die Frage nach dem Recht überhaupt. Dogmatik ist bis heute ein unscharfes Konzept geblieben, über dessen Eigenart und Funktionsweise wir verblüffend wenig wissen.49 Auch die Dogmatik selbst hat, obwohl die Beschäftigung mit ihr in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer weiter ausgreift, bislang noch keine einigermaßen konsentierte Definition von sich hervorgebracht.50 Unklar sind in diesem Sinne: das Zentrum und die Reichweite, also die Frage, ob Dogmatik mittlerweile ein Synonym für die Rechtswissenschaft als Ganzes ist oder ob es daneben noch andere Bereiche legitimen rechtswissenschaftlichen Arbeitens gibt; 51 ferner die Themen, der Umfang und die Grenzen, also die Frage, was zur Dogmatik im Einzelnen alles da46   Der Begriff auch bereits bei Kant a. a. O.; zur konstitutiven Rolle für die Rechtswissenschaft bis heute A. von Arnauld, Öffnung der Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität, VVDStRL 74 (2014), 61 ff. 47   So – heute fast schon klassisch – H.-J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale 5 (1952), 129 (205). 48  Herzstück: F. Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staats­ rechtslehre, G. V. Beiheft 7 (2007), S.  177 (209); Kerngeschäft: A. von Arnauld, Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nach einer Öffnung für sozialwissenschaftliche Theorie, in: A. Funke/J. Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, S.  65 (70); Markenkern: Jestaedt (Fn.  2 ), JZ 2014, 4 ff. 49   C. Bumke, Rechtsdogmatik, JZ 2014, 641 (642), ferner dort insbesondere Fn.  6 a. E. 50   S. nur die Zusammenstellung der verschiedenen Dogmatikbegriffe bei Jestaedt (Fn.  2 ), JZ 2014, 4 f.; ferner etwa C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Fn.  2 ), S.  17 ff. 51  Vgl. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage 1991, S.  307.

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zugehört und was nicht; 52 schließlich auch die Funktionen und die Wirkungen, vor allem also die Frage, ob Dogmatik nur nachzeichnend-reproduktiv oder selber auch rechtserzeugend tätig wird.53 Blickt man darauf aus der historischen Perspektive, so geht es aber eben vor allem um die zuvor beschriebene Verengung und Verkürzung des Blicks, also um die konsequente Beschränkung auf die innere Ordnung des Rechtsstoffs einerseits und die konsequente Ablösung von einer Vernünftigkeit jenseits und oberhalb des Rechts, überhaupt von allen außerrechtlichen Sinnsystemen andererseits. Wie beides zusammenkommt, ist bis heute nirgends besser nachzulesen als im Vorwort der zweiten Auflage des Labandschen Staatsrechts, in dem Laband selbst sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er betreibe ja nur Dogmatik: Positiv bestimmt ist die Dogmatik danach vor allem durch drei Elemente, nämlich (1) „Konstruktion der Rechtsinstitute“, (2) „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe“ und zuletzt (3) „Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen“; entschieden abgegrenzt ist sie demgegenüber von allen „historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen“ – der Verdacht ist, dass diese häufig nur dazu dienen, „den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen“.54 Heute würde man als vierten Grundzug noch die Ausrichtung auf die Rechtspraxis hinzunehmen, der die Dogmatik Anwendungs- und Entscheidungshilfe sein will.55 Aber auch das ist natürlich eine Form von Beschränkung und Selbstbescheidung: die Rechtswissenschaft als Zuliefererbetrieb für die Orte und Stätten, an denen das gemacht wird, worauf es ankommt.

2.  Wissenschaft oder Handwerk Es sind allerdings gerade dieser Reduktionismus und die Unterstellung unter die Bedürfnisse der Praxis, die der so bestimmten disziplinären Identität von Anfang an 52   Unklar ist vor allem, ob die Methodenlehre, also etwa die klassischen Kanones der Auslegung, selber Teil der Dogmatik oder von ihr prinzipiell geschieden ist; die Gleichsetzung von Dogmatik mit „juristischer Methode“ etwa bei E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013 (S.  11 ff.); die Trennung demgegenüber bei W. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 (2008), 1 (15 ff.). Man findet sogar Dogmatikbegriffe, die den von vielen als konstitutiv angesehenen Anspruch auf Systembildung aus ihr heraushalten wollen, s. C. Möllers, Methoden, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Auflage 2012, Bd. 1, §  3 Rn.  35; ebenso M. Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Fn.  2), S.  79 (87 ff.); s. demgegenüber aber M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Fn.  2 ), S.  117 (124 f.), 53   S. einerseits Ernst (Fn.  42), S.  10; andererseits Jestaedt (Fn.  2 ), JZ 2014, 11; aus historisch-rechtsvergleichender Perspektive umfassend N. Jansen, The Making of Legal Authority, 2010. 54   P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, hier zitiert nach der 5. Auflage 1911, Nachdruck 1964, S. VIII. Dass schon die konstruktiven Leistungen desselben Autors so nicht zu erklären sind, steht auf einem anderen Blatt, s. dazu Vesting (Fn.  17) Rn.  201 sowie noch unten VI 2; ebenso dass es heute durchaus Dogmatikbegriffe gibt, die sich für solche außerrechtlichen Bezüge wieder öffnen und sie zu integrieren versuchen; s. dazu neuerdings M. Klatt, Integrative Rechtswissenschaft, Der Staat 54 (2015), 469 ff. In solchen Weiterungen verliert das Konzept aber natürlich jede Trennschärfe. 55  Vgl. M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, §  1 Rn.  20.

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den Vorwurf eingetragen haben, sie führe das Fach gerade weg von seiner Wissenschaftlichkeit; was dabei herauskomme, sei bestenfalls eine – vielleicht gediegene – Gebrauchstechnik: eine Kunsthandwerkslehre, die statt an den Universitäten genauso gut oder möglicherweise sogar besser an den Fachhochschulen gelehrt und vermittelt werden könne.56 Als das gemeinsame Kommunikationsformat von Wis­sen­schaft und Praxis, als das sie häufig bezeichnet wird, wird sie in zunehmendem Umfang eben auch von Praktikern beschickt, die dabei nicht notwendigerweise eine schlechtere Figur abgeben als die sich selbst so nennenden Wissenschaftler.57 Ablesen lässt sich dies an der in manchen Rechtsgebieten mittlerweile ganz vorherrschenden Literaturgattung des Kommentars, in dem der Rechtsstoff ordnend und systematisierend – landläufig also eben: dogmatisch – auf bereitet wird, sich die Autorenschaft aber ganz überwiegend aus Wissenschaftlern und Praktikern zusammensetzt; in vielen Rechtsgebieten gibt es mittlerweile überhaupt nur Praktikerkommentare.58 Unter diesen Bedingungen wird aber unklar, was eigentlich das spezifisch Wissenschaftliche dogmatischen Arbeitens ist.59 Inzwischen wird Dogmatik sogar immer öfter auch von Praktikern selbst gemacht, ohne dass die Wissenschaft dazu überhaupt noch ins Spiel kommt. Vor allem die Rechtsprechung bildet seit jeher und in den letzten Jahren mit immer noch steigender Tendenz ihre eigenen dogmatischen Figuren aus und schreibt sie kontinuierlich fort, das Bundesverfassungsgericht mittlerweile sogar in einem eigens dazu entwickelten „Maßstäbeteil“.60 Die Beobachtung ist aber nicht auf ­ das Bundesverfassungsgericht beschränkt, sondern gilt für alle Höchstgerichte, die „fallübergreifende Funktionen der Gewährleistung einer Rechtsprechungseinheitlichkeit und der Fortbildung des Rechts erfüllen“ und dafür ein spezifisches Kommunikations- und Textformat ausgebildet haben,61 während die Rechtswissenschaft – nennen wir sie einmal so – sich überwiegend darauf beschränkt, die dort entworfenen Linien kommentierend nachzuzeichnen. Für das Verfassungsrecht, um bei diesem Bespiel zu bleiben, hat man deshalb von der Abdankung einer wissenschaftlich betriebenen Staatsrechtslehre zu Gunsten eines „Verfassungsgerichtspositivismus“ gesprochen, aber auch für andere Rechtsgebiete wie etwa weite Teile des Europarechts ließe sich Ähnliches behaupten.62 Als angemessene Literaturgattung drängt sich dann zunehmend die Entscheidungsbesprechung in den Vordergrund, typischerweise schließend mit Sätzen von der Art, hier werde man auf die weitere Entwicklung gespannt sein können oder es bleibe abzu  S. heute wieder Kiesow (Fn.  2 ), JZ 2010, 591.   Die Bezeichnung etwa bei Möllers (Fn.  52), §  3 Rn.  35. 58   Beispiele aus dem Öffentlichen Recht etwa: Beamtenrecht, Baurecht, Migrationsrecht etc. 59   So zutreffend O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Fn.  2 ), S.  39 (60 f.). 60   Auf diesen aufmerksam gemacht zu haben ist vor allem das Verdienst von O. Lepsius, s. ders., Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, S.  159 ff. 61   M. Albers, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, VVDStRL 71 (2012), 257 (266 ff.). 62   Die These bei B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungs­ gerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), 161 (163); heute konstatiert derselbe Autor für das Verfassungsrecht einen „Abschied von der Dogmatik“, s. den gleichnamigen Beitrag in JZ 2007, 157 ff. (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel, s. etwa für das Europarecht A. von Bogdandy/J. Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009). 56 57

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warten, wie sich das betreffende Gericht wieder aus der nun geschaffenen Situation herausmanövriere. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus ist das natürlich der Offenbarungseid. Von daher mag es eine bloße zeitliche Koinzidenz, vielleicht aber doch auch mehr als nur ein Zufall sein, dass ein ganz um die Dogmatik zentriertes Verständnis von Rechtswissenschaft zunehmend auch wissenschaftspolitisch unter Druck gerät: Im Wettbewerb um Fördergelder, Excellenzcluster, Sonderforschungsbereiche etc. hat ein solches Verständnis kaum noch Chancen; gefragt sind stattdessen Interdisziplinarität und Grundlagenorientierung.63

3. Ermüdungserscheinungen In alledem verdichten sich die Anzeichen, dass die hohe Zeit einer wissenschaftlich betriebenen Dogmatik möglicherweise bereits hinter uns liegt. Auch der Umstand, dass über Dogmatik derzeit so viel geredet wird wie nie zuvor in ihrer Karriere, zeigt ja zunächst nur die Irritationen, die um sie herum entstanden sind. Als möglicherweise doch sehr deutsches Phänomen steht sie zudem seit geraumer Zeit im Verdacht, der internationalen Anschlussfähigkeit des hiesigen Rechtsdenkens wie überhaupt der längst unausweichlichen Öffnung der eigenen Rechtsordnung für Einflüsse anderer Rechtsebenen im Wege zu stehen und so heutigen Anforderungen gar nicht mehr gewachsen zu sein.64 Aber auch von innen ist die Dogmatik zunehmend mit dem Problem konfrontiert, dass sich ihr Gegenstand, das Recht, wissenschaftlich-systematischer Durchdringung und konstruktiver Fort- und Weiterbildung zunehmend entzieht. Ursächlich dafür ist vor allem die immer weiter voranschreitende Gesetzes­ produktion, die für die Dogmatik immer weniger zu tun lässt: Wo die Gesetze immer mehr selbst regeln, braucht man sie im Grunde nicht mehr. Möglicherweise verdankte sich ihr Höhenflug, obwohl mit der Positivierung des Rechts unauflöslich verbunden, unausgesprochen immer doch der Lückenhaftigkeit und Unvollständigkeit der geschriebenen Gesetze, die von der Dogmatik dann gefüllt werden konnten. Die Strafrechtswissenschaft etwa erbrachte ihre bedeutendste Systematisierungsleistung ja im bloßen Steinbruch des Allgemeinen Teils, um den eine ganze Lehre der Straftat herumgebaut werden konnte, und auch das ob seiner Geschlossenheit bis heute vielgerühmte BGB war ja bei seinem Inkrafttreten eine durchaus skizzenhafte und fragmentarische Ordnung, die wichtige Bereiche des Rechtsverkehrs wie etwa das Recht der Leistungsstörungen gar nicht oder nur unzulänglich regelte.65 In dem Maße, in dem das Gesetz selber in diese Bereiche eindringt, bleibt auch für die Wissenschaft hier immer weniger zu tun: Es steht ja nun alles im Gesetz, soll einst ein Zivilrechtler nach der Schuldrechtsreform geklagt haben. Aber auch die Vertreter des Polizeirechts, lange Zeit die Referenzdisziplin im Öffentlichen Recht, können Ähnliches erzählen: Die polizeiliche Generalklausel, einst der Ausgangspunkt für die rechtsstaatliche und zugleich systematisch-wissen S. Gutmann (Fn.  1).   Dieser Befund ist freilich umstritten, s. einerseits Lepsius (Fn.  59), S.  47 f.; andererseits SchmidtAßmann (Fn.  52), S.  5 f.; Vorschläge zur Entschärfung des Problems bei Jestaedt (Fn.  2 ), JZ 2014, 7 ff. 65   S. für die Strafrechtswissenschaft W. Frisch (Fn.  4 4), in: Engel/Schön (Fn.  2 ), S.  156 (162). 63

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schaftliche Durchdringung des gesamten Rechtsgebiets, spielt neben den immer weiter ausgreifenden Spezialermächtigungen – mittlerweile selbst für so harmlose Eingriffe wie die Meldeauflage – zunehmend keine Rolle mehr; sie enthält längst nicht mehr das Allgemeine, als eine verbindende Klammer des gesamten Rechtsgebiets, sondern ist zu einem Auffangbecken für das Abseitige und Entlegene geworden, dessen Eintritt sich bis jetzt bloß niemand vorstellen konnte. In der Folge verlieren auch die mit ihr verbundenen Leit- und Strukturierungsbegriffe – die Gefahr, der Störer – an Bedeutung, ohne dass neue an ihre Stelle getreten oder überhaupt in Sicht sind.66

4.  Erosion des Systemanspruchs Erschüttert wird die Dogmatik aber vor allem in dem grundlegenden Anspruch, den sie erhebt, nämlich in dem Anspruch der Ordnungs- und Systembildung, der bis heute das innere Wesen dogmatischen Arbeitens ausmacht. Dieser speist sich aber seinerseits aus der Vorstellung vom Recht als einem sinnvoll geordneten Ganzen, nicht in dem Sinne, dass das Recht schon von sich aus ein solches Ganzes wäre – das ist es sicher nicht –, aber doch in dem weiteren Sinne, dass es sich als ein solches Ganzes bilden und rekonstruieren lässt, so wie es im bekannten Topos von der „Einheit der Rechtsordnung“ ausgedrückt ist.67 Auch das zehrt noch vom idealistischen Systemanspruch der alten Kodifikationen, die eben bestimmungsgemäß Gesetzeswerke „aus einem Guss“ waren, die durchdachten Ergebnisse einer ihrerseits verwissenschaftlichten Gesetzgebung, in die das Bemühen der bedeutendsten Köpfe der Wissenschaft ihrer Zeit eingeflossen ist.68 Eine solche Gesetzgebung aus einem Guss gibt es heute nicht mehr, und in einer Demokratie mit ihren täglichen Entscheidungs‑, Abstimmungs- und Kompromisszwängen wird sie zusehends unwahrscheinlicher; möglicherweise hat die Vorstellung einer solchen Gesetzgebung überhaupt etwas Vor- und Undemokratisches. Jedenfalls werden die Gesetze selbst immer kasuistischer, man registriert eine in die Tausende gehende Zahl von Maßnahmen-, Änderungs- und Ergänzungsgesetzen, die dann notdürftig in den vorhandenen Norm­ bestand eingepasst werden müssen. Der Rechtsstoff selbst fragmentiert auf diese Weise, und die Praxis reagiert darauf mit einer zunehmenden Einzelfallorientierung, die sich nicht in die großen Linien einfügen lässt. Ablesbar ist dies an dem beispiellosen Siegeszug, den die Abwägung seit einigen Jahrzehnten im Recht angetreten hat; zunächst noch beschränkt auf die Anwendung der Verfassung, hat sie, um die bekannte Formulierung des Lüth-Urteils aufzugreifen, von hier aus in immer weitere Bereiche des Rechtslebens ausgestrahlt und dieses nach einem neueren Befund sogar weitgehend erobert.69 Abwägung aber sperrt sich gegen dogmatische Durchdringung im Sinne einer Arbeit an den Begriffen; statt 66  Vgl. etwa D. Kugelmann, Der polizeiliche Gefahrenbegriff in Gefahr, DÖV 2003, 781 ff.; M. Möstl, Die neue dogmatische Gestalt des Polizeirechts, DVBl. 2007, 581 ff., dessen Vorschläge sich allerdings insoweit nicht durchgesetzt haben. 67   Ernst (Fn.  42), S.  4 f., 29. 68   S. erneut Ernst (Fn.  42), S.  9. 69   Zu diesem Siegeszug J. Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs, JZ 2011, 913 ff.

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methodisch-systematischer Rationalität regieren der Primat des Einzelfalls und eine allgemeine Billigkeit, so dass man im Grunde gar kein Jurist sein muss, um sie zu beherrschen: Das Ergebnis ist ohnehin nicht vorhersehbar und ohne festes Maß.70 Man kann dann natürlich umgekehrt sagen, dass gerade dies einen neuen Bedarf an systematischer Durchdringung, in der Sache also wiederum an Dogmatik auslöst.71 Aber auch wenn das richtig ist, stellt sich natürlich die Frage, wie dieser Anspruch realistischerweise eingelöst werden kann. Die Dogmatik selbst kann ihn nicht thematisieren, weil sie ihn voraussetzt; es ist gleichsam der Punkt, von dem aus sie eine gegebene Rechtsordnung beobachtet, und wie immer ist dies der einzige Punkt, den der Beobachter selber nicht sieht.

V. Theorie Mit alldem erscheint eine ganz oder auch überwiegend auf die Dogmatik konzentrierte Rechtswissenschaft mehr und mehr wie eine Schrumpfform von Wissenschaft, und das gilt umso mehr, je stärker sie auch den rechtserzeugenden, rechtsbildenden – und insofern eben dann auch innovativen – Grundzug der Dogmatik verdrängen und als grundsätzlich illegitim aus der Betrachtung ausscheiden will.72 Wenn das Ganze des Rechts, so es das überhaupt noch geben mag, erfasst werden soll, wird man den engeren Horizont der Dogmatik also transzendieren und den Blick für das öffnen müssen, was über sie hinausweist.73 Wenn also nicht Dogmatik oder jedenfalls nicht allein Dogmatik, dann vielleicht Theorie? Muss eine Rechtswissenschaft, die weiter als solche im Gespräch bleiben will, nicht immer auch „theoretischen Tiefgang“ haben?74

1.  Jenseits des Entscheidungszwangs Allerdings ist auch „Theorie“ ein unscharfes Konzept, das in den unterschiedlichsten Bedeutungen und Zusammenhängen verwendet wird; das Spektrum reicht von bloßen Interpretationsvorschlägen für Normtexte, die oft nur auf ein einzelnes Wörtchen innerhalb solcher Texte bezogen sind und durch ihre Bezeichnung als „Theorie“ über ihre manchmal ergreifende Schlichtheit hinwegzutäuschen versuchen,75 über anspruchsvollere, weil auf höherem Abstraktionsniveau angesiedelte Systemati70   So jedenfalls die Einschätzung dogmatisch orientierter Juristen, vgl. erneut den durchgängigen Tenor bei Rückert (Fn.  69), 921 ff. 71   So etwa Schmidt-Aßmann (Fn.  52), S.  5 f., 18. 72   S. dazu die Nachweise in Fn.  53. 73   In diesem Sinne auch O. Lepsius, Problemzugänge und Denktraditionen im Öffentlichen Recht, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Fn.  2 ), S.  53 (90 f.); T. Gutmann, Intra- und Interdisziplinarität: Chance oder Störfaktor?, ebd., S.  93 (98). 74   So etwa H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR n. F. 50 (2002), 1 (34 ff.). 75  Also etwa: die Apprehensions-, Kontrektations-, Ablations- oder Illationstheorie zur Bestimmung des Merkmals der „Wegnahme“ in §  242 StGB, die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit zur Bestimmung der nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeit in §  4 0 VwGO etc.

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sierungsversuche76 bis hin zur Bezeichnung für ein eigenständiges Grundlagenfach, das aber – eben als „Rechtstheorie“ – selbst immer noch der Bestimmung seiner näheren Konturen und Grenzen harrt.77 Über das, was Theorie ist, besteht insofern noch weniger Konsens als über Dogmatik, von der jeder immerhin glaubt zu wissen, was sie ist. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber am ehesten darum, die Verengung auf die praktische Anwendung des Rechts im einzelnen Fall aufzubrechen, also dort weiterzumachen, wo die Dogmatik auf hört. Als Anleitungshilfe für die Praxis, als die sie sich heute im Wesentlichen begreift, steht die Dogmatik wie diese selbst unter notorischem Entscheidungszwang und kann diesen nur einlösen, indem sie nicht ständig von neuem ihre eigenen Grundlagen thematisiert. Insofern lebt sie wesentlich von „incompletely theorized agreements“, also gerade vom Verzicht auf Theorie, und das ist für ihre Zwecke auch vollkommen in Ordnung so und kann gar nicht anders sein.78 Für die wissenschaftliche Behandlung des Rechts erscheint das indessen zunehmend unzureichend, wie sich leicht daran ablesen lässt, dass über die „Gesichtsfeldausfälle und Verengungen einer sich auf den Status einer bloßen Gebrauchswissenschaft zurückziehenden Jurisprudenz“ seit einiger Zeit diskutiert wird.79 Eine Wissenschaft vom Recht, die sich davon löst, wäre in diesem Sinne eben auch der Ort, an dem über die Praxis hinausgedacht wird. Das bedeutet entgegen einer heute vielfach vertretenen Auffassung nicht, dass die Ergebnisse dieses Nachdenkens und die dabei formulierten Erkenntnisse nicht irgendwann selbst wieder praxisrelevant werden können.80 Im Gegenteil prägen sie von einem bestimmten Zeitpunkt an auch das Verständnis der verschiedenen Institute oder auch einzelner Sätze des Rechts und wirken dann zwangsläufig auf dessen Inhalt zurück. Es bedeutet nur, dass dieses Nachdenken von den unmittelbaren Zwängen der Entscheidungsfindung entlastet ist und darin jedenfalls nicht das primäre Ziel theoretischer Reflexion liegt.

2.  Neue Konjunktur Vorderhand mehren sich jedenfalls die Anzeichen, dass der Bedarf an Theorie in diesem ganz allgemeinen Sinne wieder steigt. So registriert man seit einiger Zeit eine 76   Wie etwa die Vorsatz- oder Schuldtheorie im Strafrecht, die finale Handlungslehre etc.; auf diese Form von Theorie zielt etwa auch Schulze-Fielitz (Fn.  74). 77   Vgl. die möglichen Deutungen in B. Rüthers/S. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 8. Auflage 2015, §  1, seit der 6. Auflage mit dem Zusatz „mit Juristischer Methodenlehre“. Und man muss dagegen nur das Buch von Vesting (Fn.  17) legen, um zu erkennen, dass auch auf dieser Ebene zwischen „Theorie“ und „Theorie“ ganze Welten liegen können. Welche verschiedenen Verwendungsweisen von „Theorie“ es innerhalb der Rechtswissenschaft insgesamt gibt, ist zusammengestellt bei Dreier (Fn.  12), S.  70 (72 ff.). 78   Gutmann (Fn.  73), S.  95 f.; die Figur zuerst bei C. Sunstein, Incompletely Theorized Agreements, in: Harvard Law Review 108 (1995), 1733 ff., dort und in späteren Veröffentlichungen bezogen primär auf die praktische Verfassungsanwendung. 79   Gutmann (Fn.  73), S.  97. 80   Die entsprechende Auffassung prominent und namentlich für die Verfassungstheorie bei Jestaedt (Fn.  55), §  1 Rn.  10 ff., 13 ff., 28 ff.; ders., Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009; allgemein für die Theorie auch Lepsius (Fn.  2), S.  5 f.; umfassend für die Rechtswissenschaftstheorie insgesamt erneut M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, S.  16 ff., 27 ff., 69 ff.

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starke Zunahme von Theorieproduktion selbst in Gebieten, die – wie etwa das internationale Wirtschaftsrecht, das Europarecht, das Kartellrecht oder das Zivilrecht – lange als weitgehend theorieresistent galten.81 Im Verfassungsrecht erscheinen jetzt Bücher über „Verfassungslehre“ oder auch explizit über „Verfassungstheorie“, und zwar als Frage nach dem gelebten Sinn der Verfassung, nach ihrem Begriff und ihrem Grundverständnis, auf das dann die einzelnen verfassungsrechtlichen Sätze und Institute zurückgeführt werden.82 Selbst im lange Zeit primär dogmatisch arbeitenden Verwaltungsrecht ist das heute stilbildende Werk kein Handbuch mehr, sondern eines über die „Grundlagen des Verwaltungsrechts“, das in der Sache eine neue Theorie des Verwaltungsrechts enthält; es ist jedenfalls ein Buch, das kein Praktiker je in die Hand nehmen dürfte, weil er nicht weiß, was er damit anfangen soll. Man könnte die Aufzählung ohne Mühe fortsetzen und um weitere Beispiele ergänzen; im Grunde können ja alle Vertreter der Teilfächer aus ihren Gebieten Ähnliches berichten: Im Strafrecht findet seit einigen Jahren eine Diskussion über die symbolischen Wirkungen von Strafe oder überhaupt auch über ein rein symbolisches Strafrecht statt; das Zivilrecht öffnet sich zunehmend für die Erkenntnisse der Ökonomie, aus denen mittlerweile schon die ersten Lehrstühle für – zumindest auch – Rechtsökonomik hervorgegangen sind; dazu eröffnet seit einiger Zeit die Rechtsvergleichung nicht nur neue Forschungs- und Betätigungsfelder, sondern auch neue Horizonte; sogar zur Rechtssoziologie werden wieder zaghaft erste Lehrbücher geschrieben.83 Und auch das zunehmende Nachdenken über Theorie selbst oder über Dogmatik und ihr Verhältnis zur Theorie ist ja seinerseits eine Form theoretischen Räsonnements, das den Blick darauf freilegt, was hinter dem positiven Recht und seiner Anwendung liegt.

3.  Neues Kommunikationsformat Mit diesem Blick auf das Dahinter des Rechts stellt Theorie zugleich ein Kommunikationsformat bereit, das sowohl für den Austausch innerhalb des Faches im Sinne von Intradisziplinarität als auch für den Austausch mit anderen Fächern im Sinne der heute allenthalben geforderten Interdisziplinarität genutzt werden kann. Der Austausch innerhalb des Faches ist bekanntlich schon seit längerem dadurch notleidend oder zumindest schwieriger geworden, dass der Spezialisierungsgrad und die damit einhergehende Binnendifferenzierung immer weiter zugenommen haben. Die Dog  S. Buckel/R. Christensen/A. Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, 2. Auflage 2008, S. XI f.   S. nur das Werk von Depenheuer/Grabenwarter (Fn.  55); das Programm bereits bei M. Jestaedt, Die Verfassung hinter der der Verfassung, 2009. Vorläufer der Renaissance der Verfassungstheorie: M. Morlok, Was ist und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988; ferner naturgemäß P. Häberle, s.etwa ders./M. Kotzur, Europäische Verfassungslehre, 8.  Aufl. 2015. 83   Zum Aufstieg der Rechtsökonomik W. Weigel, Rechtsökonomik 2003, S.  94 ff.; durchaus zweifelnd C. Engels/M. Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, insb. S.  315 ff. Zum Aufstieg der Rechtsvergleichung etwa G. Trantas, Die Anwendung der Rechtsvergleichung bei der Untersuchung des öffentlichen Rechts, 1998, S.  29 f. und S.  93; speziell für die weiter wachsende Bedeutung im Verfassungsrecht nunmehr G. Frankenberg (Hrsg.), Order from Transfer, 2012; S. Baer, Zum Potential der Rechtsvergleichung für den Konstitutionalismus, JöR n. F. 63 (2015), S.  389 ff. Als Lehrbuch zur Rechtssoziologie s. dies. (Fn.  15). 81

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matik hilft hier nicht mehr weiter, weil sie ihrerseits zunehmend in bereichsspezifische Dogmatiken oder reine Teildogmatiken (des Verfassungsrechts, des Verwaltungsrechts, des Steuerrechts, des Privatrechts, des Strafrechts, des Sozialrechts etc.) zerfällt. Die Verständigung kann dann nur auf einer höheren Ebene gesucht werden, als die nach Lage der Dinge eben nur Theorie in Betracht kommt.84 Der Austausch und das Gespräch mit anderen Fächern betreffen demgegenüber vor allem die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, mit denen die theoretische Reflexion ebenfalls die verschiedensten Berührungspunkte schafft. Hinsichtlich der Interpretation von Recht ginge es etwa um die Verbindung zur philosophischen Argumentationstheorie, um eine Öffnung zur Reflexion über die Leistungsfähigkeit von Sprache in der Linguistik oder die Aufnahme von Erkenntnissen der Medientheorie für die Lesbarkeit des Rechts insgesamt.85 Hinsichtlich der Wirkungen von Recht wären vor allem die neuen Anforderungen zu verarbeiten, mit denen Recht heute konfrontiert ist und die von einer Rechtswissenschaft als bloßer Norm- oder Buchwissenschaft gar nicht mehr adressiert ­werden können. So war etwa, um zwei Beispiele aus dem Öffentlichen Recht zu nehmen, das Verwaltungsrecht in seinen Anfängen ganz auf die rechtsstaatliche Begrenzung und Zurückdrängung des Staates zentriert. Für diese reichten die gängigen dogmatischen Bordmittel nicht nur aus, sondern die Dogmatik war dafür kraft ihres Rationalisierungs- und Strukturierungspotentials überhaupt vollkommen adäquat. In dem Moment, in dem das Verwaltungsrecht stärker als ein Mittel zur Erreichung von Zielen eingesetzt wird und überhaupt ein Denken von der Bewirkung her einsetzt, wie es etwa mit seiner Neukonzeptionierung als Steuerungsressource – und parallel dazu mit der Neukonzeptionierung der Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft – geschieht, reicht das nicht mehr: Wenn diese Steuerung weiter mit den Instrumenten oder jedenfalls im Rahmen des Rechts erfolgt, muss die Rechtswissenschaft sich auch für die bislang meist an andere Wissenschaften abgeschobenen Überlegungen dahin öffnen, wie diese Zwecke erreicht werden.86 Und auch für die Verfassung treten zunehmend andere Wirkungen in den Vordergrund, die sie über ein rein juristisches Entscheidungsprogramm hinausheben: Verfassungen haben, wie wir uns in der Außenbeobachtung durch die Politikwissenschaften haben sagen lassen müssen, wesentlich auch eine symbolische Dimension, sie sind zum Medium geworden, in dem eine Gesellschaft sich selbst beschreibt und in das sie ihre zentralen Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen hineinprojiziert,87 und das wirkt sich dann vielleicht auch auf die Frage aus, wie ihre einzelnen Institute sinn  So auch Gutmann (Fn.  73), S.  99 f.  Nach I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; die Verbindung mit der Medientheorie jetzt eindrucksvoll bei T. Vesting, Die Medien des Rechts, 4 Bände, 2011 ff. 86  Vgl. C. Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition, in: Engel/Schön (Fn.  2 ), S.  205 ff.; A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Fn.  52), §  1 Rn.  39; C. Möllers, Methoden, ebda., §  3 Rn.  42 ff. Die Entwicklung beginnt freilich – entgegen gelegentlichen Selbststilisierungen in diese Richtung – nicht erst mit der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“, sondern knüpft an frühere Debatten an: die Verwaltung als Leistungsträger (Forsthoff ), die Planungseuphorie der siebziger Jahre etc.; s. zur Diskussion in dieser Zeit die Beiträge in D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 2.  Aufl. 1976. 87   S. statt vieler nur H. Vorländer, Integration durch Verfassung?, in: ders. (Hrsg.), Integration durch Verfassung, 2002, S.  9 ff.; A. Brodocz, Die symbolische Dimension der Verfassung, 2003. 84 85

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vollerweise zu verstehen wären, welche Rolle einem Gericht zukommt, das sie anwendet, und wie von hier aus diese Rolle sinnvoll zu begrenzen wäre. Mit der Interpretation von Texten kommt man jedenfalls hier nicht mehr weiter.

4.  Theorie als Wissenschaftsprogramm So könnte die Öffnung für Theorie die Rechtswissenschaft wieder ein Stück in den Kreis der Nachbarwissenschaften zurückführen, nicht im Sinne der älteren Einheit aller Wissenschaften, die auch die Rechtswissenschaft als Sachwalterin der sich in allen Verhältnissen aussprechenden Vernunft begriff, aber doch in dem eingeschränkten Sinne, dass sie Verbindungen ermöglicht und herstellt, die eine nur in sich selbst kreisende Rechtswissenschaft zuvor abgeschnitten hatte. Zugleich erschließt sich von hier aus das allgemeine Programm einer Theorie, die formende Einwirkungen auf ihren Gegenstand zwar nicht kategorisch ausschließt, aber ihn doch vor allem aus einer Außenperspektive beobachtet. In diesem Sinne lässt sie sich als eine „denkende Betrachtung“ des Rechts beschreiben, die in ihrem sachlichen Kern auf eine Vorstellung davon zielt, was das Recht ist, wovon es lebt, wie es funktioniert und wie es mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelt wird.88 Das konkrete Programm ließe sich dann in verschiedenen Stufen entfalten, deren erste, weil sie noch am ehesten mit klassischer Dogmatik zu tun hat, Grundfragen der Interpretation und Anwendung des Rechts beträfe. Eine zweite davon zu unterscheidende Stufe hätte es mit den Wirkungen und der Leistungsfähigkeit des Rechts zu tun, bei der die veränderten Anforderungen an das Recht ebenso zu reflektieren wären wie die verschiedentlich konstatierte Diffusion des Normbegriffs.89 Zuletzt müsste es, noch einmal eine Stufe hinaufsteigend, dieser Art von denkender Betrachtung dann aber um den Begriff und das Verständnis des Rechts insgesamt gehen, so wie es oft auch der allgemeinen Rechtstheorie im Sinne eines eigenen Grundlagenfachs zugeschrieben wird.90 Dies könnte dann auch der Ort sein, an dem man den großen und grundsätzlichen Fragen nachgeht, den Fragen also etwa, ob es das Recht als einen einheitlichen Gegenstand noch gibt, welchen Sinn eine Vorstellung wie die von der Einheit der Rechtsordnung unter den heutigen Bedingungen von Plurali­ sierung und Fragmentierung noch macht und worin diese Einheit heute in einem tieferen Sinne noch gefunden werden könnte. Theorie in diesem Sinne wäre dann auch der Versuch, eine gemeinsame Sprache zu finden, die es uns, den Juristen, ermöglicht, unsere gemeinsamen Probleme auch weiterhin gemeinsam zu themati­ sieren.

88   Das Zitat in Anlehnung an Hegels Definition der Philosophie, s. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1817, §  2 („denkende Betrachtung der Gegenstände“). 89   Dies dann eben auch als mögliches Programm der Rechtssoziologie, s. dazu nun Baer (Fn.  15), S.  108 ff., 161 ff., 185 ff. 90   Der Begriff liegt aber eben insoweit nicht fest, siehe bereits oben Fn.  77; man könnte etwa auch von einer allgemeinen „Theorie des Rechts“ oder einer „Allgemeinen Rechtslehre“ sprechen, so die Titel der Bücher von P. Koller, Theorie des Rechts, 2. Auflage 2001; Röhl/Röhl (Fn.  14).

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VI. Philosophie Die letzte und entscheidende Frage wäre aber, ob dieses Gemeinsame allein in einzelnen Elementen der Form zu suchen wäre oder ob es nicht zuletzt auch in bestimmten Gemeinsamkeiten des Inhalts gefunden werden muss. Es wäre dies zugleich die weitere Frage, ob eine Rechtswissenschaft, die wieder in einem umfassenderen Sinne als Wissenschaft verstanden werden will, sich weiter darauf beschränken kann, ein bloßes Sach- und Verfügungswissen bereitzustellen, das Auskunft darüber gibt, wie und mit welchen Mitteln vorgegebene Ziele am ehesten erreicht werden können, oder ob dazu nicht auch ein Orientierungswissen im Sinne eines Wissens um in einer gegebenen Gesellschaft gerechtfertigte Zwecke und Ziele gehören müsste, ein Wissen also, mit dem der technisch-instrumentelle Verstand und die moralisch-politische Vernunft dieser Gesellschaft wieder in ein sachgerechtes Verhältnis zu setzen wären.91 Dies wäre dann der Punkt, an dem die Philosophie ins Spiel kommt, und zwar als die Frage nach dem „Haltenden“ der Rechtsordnung, nach dem, was diese Rechtsordnung von innen her legitimiert, trägt und in Geltung hält.92

1.  Erweiterung der Richtigkeitsmaßstäbe So führt die Frage nach einer angemessenen wissenschaftlichen Behandlung des Rechts, die Frage also, wie diese Behandlung beschaffen sein muss, damit sie mit Recht eine wissenschaftliche genannt werden kann, wie von selbst und mit innerer Folgerichtigkeit wieder zurück auf die Fragen, die am Anfang der Betrachtung des Rechts selbst standen: also auf die Fragen nach dem Verhältnis zwischen einem realen und einem idealen Rechtsbegriff, nach dem normativen Grund oder den Gründen des Rechts, allgemein nach einer Vernunft im oder hinter dem Recht.93 Es ist wiederum klar, dass die Dogmatik zur Beantwortung dieser Fragen nichts beitragen kann; ihre Wirkungsweise ist im Kern eine formelle.94 Man könnte sogar im Gegenteil sagen, dass es gerade die immer weiter vorangetriebene Verfeinerung der dogmatischen Instrumente ist, die einen neuen Bedarf nach der entsprechenden Selbstvergewisserung weckt: Juristen sehen ja in dem, was sie täglich tun – als Wissenschaftler, wenn sie sich an Debatten über den Inhalt von Recht beteiligen, als Richter, die von den Prozessbeteiligten mit gegensätzlichen Rechtsansichten konfrontiert werden, als Studierende, die über einer Hausarbeit brüten –, dass es gerade diese Verfeinerung ist, die es möglich macht, auch entgegengesetzte Ergebnisse dogmatisch konsistent zu begründen.95 Auch jede Erweiterung des dogmatischen Instrumentenkastens um eine neue Methode oder eine neue Argumentform eröffnet ja im Zweifel erst einmal nur eine neue Alternative des Entscheidens. Ohne den Rückgriff auf den Wertungs91   Die Unterscheidung nach J. Mittelstraß, Für und Wider eine Wissensethik, in: ders. (Hrsg.), Wissen und Grenzen, 2001, S.  75 f. 92   Das „Haltende“ erneut bei Hegel (Fn.  33), §  258 Zusatz, dort bezogen auf den Staat. 93   S. oben I 1. 94   So zutreffend Eifert (Fn.  52), S.  85. 95   H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtlehre als Wissenschaft, 2007, S.  11 (21 f.).

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hintergrund einschließlich politischer und gerechtigkeitsorientierter Wertungen geht es dann für die Auswahl in der Sache gar nicht ab.96 Und auch als zentraler Richtigkeitsmaßstab fällt Dogmatik unter diesen Prämissen zusehends aus. So mag man etwa, um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nehmen, der letzten Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts bescheinigen, dass sie dogmatisch missglückt sei oder jedenfalls die unterlegene Senatsminderheit dogmatisch deutlich fester im Sattel sitze als die Mehrheit.97 Aber ob es deshalb ein gutes oder schlechtes Urteil ist, ist damit noch in keiner Weise beantwortet. Dafür müssten vielmehr weitere Richtigkeitsmaßstäbe in die Beurteilung einbezogen werden, die wiederum nur aus den normativen Gründen des Rechts, also aus den ihm zugrundeliegenden Ideen und Wertungen, zu gewinnen wären. Auch die Theorie im hier beschriebenen Sinne verhält sich dazu nicht, wie man leicht an der ökonomischen Theorie des Rechts erkennen kann, die derzeit, wenn die Zeichen nicht trügen, in ihrer Verselbstständigung zu einem neuen Fach Rechtsökonomik einen rasanten Aufstieg erlebt. Diese denkt von vornherein nur instrumentell, in Kategorien der Effizienz und der Nützlichkeit; worauf diese Nützlichkeit ausgerichtet ist und wofür sie besteht, interessiert sie nicht.98

2.  Unentrinnbarkeit der Legitimitätsfrage Weder die Dogmatik noch die Theorie in dem hier beschriebenen Sinne sind damit in der Lage, die Frage nach der wirklichen normativen Verfassung der Gesellschaft in einem vollständigen und umfassenden Sinne zu beantworten; sie setzen diese als ihren Legitimationsgrund voraus, verhalten sich dazu aber nicht. Dass ein intuitives Wissen darüber immer mitgeführt wird und es ohne ein solches nicht geht, lehrt andererseits bereits die historische Erfahrung. Verhältnismäßig gut aufgearbeitet ist das für den staatsrechtlichen Positivismus, der die Legitimitätsfrage bewusst aus der Rechtsanwendung ausschließen wollte und das Recht so von einem Standpunkt reiner Wissenschaft, in der Sache also von einem Standpunkt des Unpolitischen aus, bearbeiten wollte. Heute weiß man, dass dies nur äußere Fassade, vielleicht auch Maskerade war; was sich dahinter verbarg, war eine latent obrigkeitsstaatliche, im Kern antidemokratische Grundhaltung, die dem Selbstverständnis ihrer Zeit auf eine vollkommene Weise entsprach: eine „monarchistische Befangenheit“, wie dies der große Positivist Adolf Merkl zutreffend genannt hat.99 Aber auch bei Merkl selbst sowie vielleicht noch deutlicher bei Hans Kelsen, dem wir die radikalste Formulierung einer rein internen, von allen außerjuristischen Elementen gesäuberten Betrachtung des Rechts verdanken, ließe sich durchaus fragen, ob nicht auch bei ihnen mehr oder weniger deutliche normative Prämissen mitschwingen, die nur eben im Programm als sol  Schulze-Fielitz a. a. O.  So H. M. Heinig, Kurswechsel in der Kopftuchfrage: nachvollziehbar, aber mit negativen Folgewirkungen, abruf bar unter www.verfassungsblog.de. 98  Vgl. D. von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Auflage 2011, S.  373 ff. 99   A. Merkl, Die monarchistische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre, Schweizerische Juristenzeitung 16 (1919/20), 378 ff.; umfassend dann später P. von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974. 96 97

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chem nicht offengelegt werden: ein moralischer und weltanschaulicher Skeptizismus oder auch Relativismus, wie Kelsen ihn etwa in seinen Schriften über Demokratie bezeugt hat, eine grundsätzliche Sympathie für die Demokratie, die gerade in jenem Relativismus für ihn ihren Grundgedanken fand, vielleicht auch eine „deutlich liberal gefärbte Staatsrechtsauffassung“, wie Hermann Heller gemeint hat.100 Auch die Reine Rechtslehre hat deshalb möglicherweise einen sie inhaltlich legitimierenden Grund, ohne den sie gar nicht angemessen verstanden werden kann; wer sich einen gewissen Sinn für Ironie bewahrt hat, könnte sogar von ihrem impliziten Gerechtigkeitsprogramm sprechen. Heute sind es nicht zuletzt Impulse von außen, die Veranlassung geben könnten, ein solches Programm wieder stärker explizit zu machen und in die Beschäftigung mit Recht zu integrieren. Sie resultieren hier vor allem aus der Notwendigkeit der Angleichung verschiedener Rechtsmassen und Rechtsordnungen in einem zusehends nicht mehr nationalstaatlich begrenzten, sondern globalen Rechtsraum. Diese setzt ihrerseits voraus, dass verschiedene Rechtsordnungen mit­ einander in einen Dialog treten. Dessen Sprache kann dann aber nicht die einer bestimmten positiven Rechtsordnung sein, sondern sie muss in dem gefunden werden, was ihr vorausliegt.101 In diesem Sinne lässt sich seit einiger Zeit eine globale Renaissance von Gerechtigkeitsdiskursen beobachten, mit denen sich eine sich selber globalisierende Jurisprudenz schon im eigenen Interesse kurzschließen müsste.102

3.  Veränderungen des Zugriffs Darüber hinaus vollzieht aber auch das Rechtssystem selbst und von innen heraus eine verstärkte Öffnung für den Wertungshintergrund, also für das, was hier in Ermangelung eines besseren Begriffs die Philosophie des Rechts genannt ist. Speziell für das Verfassungsrecht etwa ließe sich zeigen, wie es sowohl in seinen einzelnen Bestimmungen als auch als Ganzes seinerseits von hinter ihm stehenden Ordnungsideen, geteilten Gerechtigkeitsüberzeugungen und am Ende von einer grundsätzlicheren Auffassung davon ausgelegt wird, was eine Verfassung ist und wozu sie da sein soll, in der Sache also allesamt von Vorstellungen, in denen sich das normative Selbstverständnis einer Gesellschaft bündelt.103 Unterhalb dessen, aber durchaus parallel dazu wird auch im Verwaltungsrecht seit einigen Jahren verstärkt über Leitbilder oder hinter dem Recht stehende Schlüssel- und Verbundbegriffe nachgedacht, in denen zugleich bestimmte Grundvorstellungen über die zweckmäßige Gestalt der jeweiligen Institutionen kondensieren; in diesem Sinne fungieren sie zugleich als 100   H. Heller, Staatslehre, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften, 2. Auflage 1992, Bd. 3, S.  79 (159); Kelsens eigenes Bekenntnis zum Relativismus etwa in ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, jetzt in: ders., Verteidigung der Demokratie, hrsgg. von M. Jestaedt/O. Lepsius, S.  153 (223 ff.). 101   C. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz, ARSP-Beiheft 2001, 41 (49 ff.). 102   Möllers a. a. O. Auf die Notwendigkeit des Rekurses auf „gemeinsame Ordnungsideen“, „‚transpositive‘ Prinzipien“ etc. in diesem Zusammenhang verweist von Arnauld (Fn.  46), VVDStRL 74 (2014), 68 f. 103   Ich kann dies hier nicht näher belegen, sondern muss auf frühere Veröffentlichungen von mir verweisen, s. zuletzt U. Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, Der Staat 54 (2015), 35 ff.

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Schleusen- oder Brückenbegriffe.104 Auch die oben schon angesprochene Konjunktur der Abwägung, die gerade bei den primär dogmatisch arbeitenden Juristen des Zivilrechts in einem notorisch schlechten Ruf steht, weist in diese Richtung, insofern sie bei allem, was sich sonst gegen sie sagen lässt, durchaus einer praktischen Rechtsvernunft den Weg ebnet, die auf Verwirklichung der Gerechtigkeit im einzelnen Falle zielt.105 Selbst die lange Zeit nur auf das innere System schielende Dogmatik sieht sich neuestens mit der Forderung konfrontiert, aus ihrer Introvertiertheit herauszukommen und sich für entsprechende Überlegungen zu öffnen.106 Welche Veränderungen sich damit für die Philosophie des Rechts im Sinne einer Rekonstruktion seiner Legitimationsgründe vollziehen, wird in ihrem ganzen Ausmaß deutlich, wenn man sie mit der bisherigen Bedeutung der Rechtsphilosophie als Grundlagenfach im universitären Studium des Rechts kontrastiert. Diese war ebenso wie die anderen Grundlagenfächer (Rechtstheorie, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie etc.) weitgehend herabgestuft auf den Status einer reinen Reflexions- oder Beobachtungsdisziplin, die nach außen vor allem daran zu erkennen war, dass sie von den juristischen Experten als für das eigentliche Kerngeschäft entbehrlich gehalten wurde.107 Nun aber wandert sie in Gestalt des zur Sprache gebrachten normativen Selbstverständnisses ihrer Zeit wieder stärker in das Recht und seine Anwendung hinein, also an den Ort, wo sich die Sache entscheidet.108 Und auch die aktuelle Karriere der Rechtsvergleichung ist in diesem Zusammenhang vielleicht mehr als nur ein Randphänomen: Lange als ein Orchideenfach zur gelehrten Information eher belächelt als ernst genommen, ist sie – ob als „fünfte Auslegungsmethode“ oder in welcher Form auch immer – dabei, in den Kreis der Faktoren aufzurücken, die für die Geltung und den Inhalt des Rechts relevant werden, und zwar ohne dass sich das normlogisch begründen lässt; es ist ja durchaus nicht klar, warum ein Interpret für die Bestimmung des Inhalts einer von einem bestimmten Normgeber erlassenen Norm auf Erwägungen zurückgreifen soll, die ein ganz anderer Normgeber angestellt hat.109 Aber die Begründung dafür liegt erneut hinter dem positiven Recht,

104   Schmidt-Aßmann (Fn.  52), S.  21 ff. („Brückenbegriffe“); C. Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn.  52), §  4 Rn.  3 ff. (Schlüsselbegriffe, Leitbilder etc.). 105   Selbst im Zivilrecht erscheinen neuerdings wieder Habilitationen, die eine „normative Privatrechtstheorie“ als „rechtsphilosophisches Unternehmen“ entwerfen, das Recht als „Teil einer normativen Praxis, nämlich einer Rechtfertigungspraxis“ verstehen und so „nach einer in der Gegenwart überzeugenden Begründung des Gehalts des geltenden Rechts“ fragen, F. Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015, S.  30 ff. S. ferner etwa den Ausweis von „Gleichheit als Leitbegriff des Privatrechts“ bei M. Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S.  71 ff. 106   S. etwa die vorgeschlagene Weiterentwicklung der Dogmatik zu einer „gerechtigkeitsoptimierenden Anwendungslehre“ bei J. F. Lindner, Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitswissenschaft, RW 2011, 1 (20 ff.), dort auch das titelgebende Programm einer entsprechenden Erneuerung der Rechtswissenschaft insgesamt; ferner Klatt (Fn.  54) mit Blick auf die klassischen Canones der Auslegung. 107   A. Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S.  10. 108   Anschaulich spricht von Arnauld (Fn.  46), VVDStRL 74 (2014), 68 f., insoweit von Ordnungs­ ideen, „die auf eine eigentümliche Weise sowohl innerhalb als auch außerhalb der Norm liegen“. 109  Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode: P. Häberle, „Fünfte Auslegungsmethode“: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S.  27 ff.

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nämlich in den ideellen Grundlagen, die verschiedenen Rechtsordnungen gemeinsam sind; wo solche fehlen, lässt sich auch nichts sinnvoll vergleichen.110

4.  Neue Suche nach der Vernunft Man kann dies als eine durchaus neuartige Verschränkung des Rechts mit seinen philosophischen und ideellen Grundlagen sehen, die aber auf eine irritierende Weise wieder an die ältere Vorstellung vom Recht als einer Ordnung des Richtigen und einem in sich Vernünftigen erinnert. Möglicherweise ergäbe sich daraus zumindest eine vorsichtige Antwort auf die am Anfang dieser Überlegungen stehende Frage, ob man vom Recht heute überhaupt noch als einem vernünftigen Ganzen wissenschaftlich erzählen kann und worin die gemeinsamen Strukturen gesehen werden können, und möglicherweise ist es kein Zufall, dass der Verfassung – weniger in einer bestimmten realen Gestalt als vielmehr als Form und als Ordnungsidee – dabei eine gewisse Schlüsselrolle zufällt.111 Wenn die Verfassung in der Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit der Rechtsgenossen, im Versprechen auf Gleichbehandlung gleicher Fälle, überhaupt in ihrer Deutung als eine „gute und gerechte Ordnung des Gemeinwesens“ wesentliche Elemente der neuzeitlichen Rechtsidee in sich aufnimmt,112 wenn sie darin die „Weisheit der Jahrhunderte, die vor uns gewesen sind,“ in einem Text symbolisch verkörpert,113 wenn diese nun aus- oder hineinstrahlt in das einfache Recht, so dass dieses von hier aus Richtlinien und Impulse für seine Interpretation empfängt,114 wenn dadurch mittlerweile auch das Zivilrecht im Laufe seiner Anwendung rückgebunden worden ist in eine „materiale Ethik sozialer Verantwortung“, die nun durch die Verfassung ihre Maßstäbe erhält:115 dann könnte man dies ja auch lesen als den erneuten Versuch, das Recht wieder von seinen erhellenden Legitimationsgründen aus zu begreifen, es von hier aus unter bestimmten vernünftigen Leitgesichtspunkten zu ordnen, es darin überhaupt mit dem normativen Selbstverständnis seiner Zeit, das sich gerade in den zentralen Texten spiegelt, zu verknüpfen und kurzzuschließen.116 110   Deshalb informiert man sich, wenn es etwa um die Auslegung von Grundrechten geht, eben in der Rechtsordnung der Vereinigten Staaten, Frankreichs oder Spaniens, aber nicht in derjenigen von China oder Nordkorea. Übersicht über die insoweit bestehenden Begründungsansätze bei C.-D. von Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 2015, S.  94 ff., 262 ff. 111   S. oben I 4 a. E. 112   Die mittlerweile schon klassische Formulierung bei K. Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, JZ 1995, 265 (266); ferner etwa D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S.  242. 113   Eine Formulierung von B. Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen, 1904, S.  10, 105; ganz entsprechend die Charakterisierung speziell der Grund- und Menschenrechte bei G. Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, jetzt in: ders. Rechtsphilosophie, 2. Auflage 2003, S.  209 (210): die Menschenrechte als „Arbeit der Jahrhunderte“, die bei allen Zweifeln „doch einen festen Bestand herausgearbeitet“ hat etc. 114   BVerfGE 7, 198 (205 f.) [1958]. 115   Eine Formulierung von F. Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S.  24, aufgegriffen in BVerfGE 89, 214 (233) – Bürgschaftsverträge [1993]. 116   Für die entsprechende Bestimmung der Strafrechtswissenschaft G. Jakobs, Strafrecht als wissen-

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Heute wird die Verfassung in dieser Bedeutung zunehmend verdrängt durch das europäische Recht, aber auch dort lassen sich – ob man sie nun so bezeichnet oder nicht – Strukturen von Verfassung ausmachen, und auch diese bilden heute ein ideelles Fundament, das den Mitgliedstaaten gemeinsam ist, von dem aus nun die einzelnen nationalen Rechtsordnungen mehr und mehr überformt werden.117 Sogar im lange Zeit nur pragmatisch-inkrementell verstandenen Völkerrecht finden sich Ansätze zu einer solchen Einheitsbildung, deren Leitbegriff gerade die Konstitutionalisierung ist, und zwar gerade um der These von Fragmentierung und Zerfall ein anderes Narrativ entgegenzusetzen.118 Dabei geht es an dieser Stelle gar nicht darum, was von den einzelnen Versuchen in diese Richtung zu halten ist, ob damit Übersteigerungen verbunden sind, die man besser abwehrt, oder ob überhaupt die Verfassung das angemessene Ordnungskonzept für sämtliche der damit aufgeworfenen Fragen ist; das kann man mit guten Gründen alles auch anders sehen.119 Es geht vielmehr um das Gemeinsame, das darin zum Vorschein kommt, nämlich das Bemühen, das Recht wieder von seinen ideellen Fundamenten her zu erschließen und zu begreifen. Das hat dann durchaus etwas von dem alten Versuch, das Recht als ein in sich Vernünftiges zu verstehen, nur dass es eben dabei nicht noch einmal um eine überzeitliche Wahrheit gehen kann, sondern um die – mit Hegel zu sprechen – zur Wirklichkeit gewordene Vernunft ihrer Zeit, um das normative Selbstverständnis der hier und jetzt existierenden Gesellschaft, in die das Recht und seine Behandlung einzubinden wäre.

VII.  Kein Ende der Fragen Mit dieser Verbindung zwischen dem normativen Selbstverständnis einer Gesellschaft und dem Recht, das in dieser Gesellschaft oder in dieser Zeit zur Anwendung kommt, wäre immerhin das Programm einer Rechtswissenschaft bezeichnet, die die Selbsteinkapselung einer bloß um die Dogmatik kreisenden Jurisprudenz hinter sich lässt und sich wieder in einem anspruchsvolleren Sinne so nennen kann. Das bedeutet schaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Fn.  2 ), S.  103 (106), dort allerdings ohne den Bezug auf die Verfassung. 117  An der Verwendung des Verfassungskonzepts für die Erklärung der Rechtsstrukturen an der Europäischen Union halten namentlich fest: A. von Bogdandy/J. Bast (Fn.  62); Häberle/Kotzur (Fn.  82); kritisch insoweit H. M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassung(svertrag)? JZ 2007, 905 ff.; zur Deutung der EMRK als gemeineuropäische Teilverfassung etwa E. Pache, Die europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsordnung, EuR 2004, 393 (395). 118   S. etwa A. Peters, Rechtsordnungen und Konstitutionalisierung, ZÖR 65 (2010), 3 ff.; T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012; zwischen den verschiedenen Positionen nunmehr vermittelnd L. Viellechner, Verfassung als Chiffre, ZaöRV 2015, 231 ff. 119   Dafür etwa A. von Bogdandy, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich, in: ders./P. Cruz Villalon/P.-M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, §  39, dort vor allem Rn.  38 ff., 78 ff.; für die praktische Entfaltung für das Europarecht in Gestalt einer „europäischen Prinzipienlehre“ s. ders., Grundprinzipien, in; von Bogdandy/Bast (Fn.  62), §  1. Die entschiedene Gegen­ position bei C. Schönberger, Der „German Approach“, 2015, S.  51 f.: Systematisierungen können heute „nicht mehr an das Verfassungsrecht als die zentrale Normschicht […] anknüpfen“. Versuch der Verortung in einem „universalen Code der Legalität“ bei Günther (Fn.  22), zum möglichen Inhalt ebd., S.  558.

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Uwe Volkmann

nicht, dass dieses Selbstverständnis in jeder einzelnen Anwendung des Rechts präsent gehalten werden müsste, dass darüber die begrifflich-konstruktive Arbeit an und mit dem Recht zu vernachlässigen oder ganz in den Hintergrund zu treten hätte oder dass der „nur“ dogmatischen Arbeit ihr Eigenwert abgesprochen würde, und ebenso wenig bedeutet es, dass jeder Wissenschaftler die entsprechenden Überlegungen in der täglichen Arbeit mit dem Recht immer von neuem reproduzieren oder gar erst selber auf sie kommen müsste.120 Es bedeutet nur, dass, wer in einem anspruchsvolleren Sinne Wissenschaft betreiben will, in der Lage sein muss, das reale Recht auf seinen ideellen und philosophischen Grund zurückzuführen und von dort aus zu begreifen, dass Wissenschaft in diesem Sinne dort beginnt, wo die Anstrengung zur Vernunft unternommen wird. Das Resultat dieser Anstrengung muss nicht die eine juristische Weltformel sein, die für alle Rechtsgebiete gleichermaßen Geltung beansprucht und sie zuletzt alle in einer einheitlichen, ungegliederten Masse aufgehen lässt; im Gegenteil sind hier überall Eigenrationalitäten am Werk, findet sich eine Pluralität von Zielen und Zwecken und mag es in einzelnen Fällen durchaus unwahrscheinlich sein, überhaupt noch irgendeine Art von systematischer Ordnung oder Geschlossenheit zu erkennen. Aber auch dann muss die Anbindung an die übergeordneten Legitimationsgründe des Rechts, die Rückbindung des Rechts in die Vernunft seiner Zeit gewährleistet und die Wissenschaft in der Lage sein, die Grundfragen zu beantworten, die eine Gesellschaft an ihr Recht richtet. Natürlich kann man dann auch dagegen wieder eine Reihe von Einwänden mobilisieren. Lassen sich die aufgeworfenen Fragen heute überhaupt noch in einem einheitlichen Sinne beantworten oder ist es in unserer hochindividualisierten, pluralisierten und vielfältig fragmentierten Welt nicht ganz ausgeschlossen, überhaupt noch nach Vorstellungen und Elementen zu suchen, die die einzelnen Teile des Rechts ideell miteinander verbinden? Liegt darin nicht überhaupt eine verhängnisvolle Entdifferenzierung und Entrelationierung, die mühsam errichtete Systemgrenzen verschleift und in einen so auch gar nicht mehr erstrebenswerten Holismus zurückführt?121 Und jagt man nicht überhaupt einer Schimäre nach, wenn man auf diese Weise doch noch nach einem – vielleicht pluralen oder heterarchischen, aber in der Sache eben doch: – Ganzen des Rechts sucht? Sind da nicht überall nur noch Fragmente und einzelne „Brocken“, „Gesetzesbrocken, Meinungs­brocken, Urteilsbrocken“?122 Das sind berechtigte Fragen. Vielleicht könnte man sich ja dann bis auf weiteres erst einmal darauf verständigen, dass Wissenschaft der Ort ist, wo all diese Fragen überhaupt verhandelt werden.

  Dies im Anschluss an Jakobs (Fn.  116), S.  106.   Zur Kritik eines solchen Holismus unter verschiedenen Aspekten etwa F. Müller/R. Christensen, Die Einheit der Verfassung – Kritik des juristischen Holismus, 2. Auflage 2007. S. demgegenüber zu einem Teilbereich R. Christensen/A. Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, S.  23 ff., 83 ff., 113 ff.: Entwurf eines „horizontalen, praktischen und pragmatischen Holismuskonzepts“ für die Grundrechte. Ein von ganz anderem Grundansatz getragenes Plädoyer für mehr Differenzierung, mehr Kontext­ sensibilität innerhalb der Rechtswissenschaft etc. nun bei O. Lepsius, Relationen. Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, i. E. (voraussichtlich 2016). 122  So Kiesow (Fn.  2 ), JZ 2010, 590. 120 121

Rechtsdogmatik als Schranke des Richterrechts? von

Prof. Dr. iur. Dres h.c. Bernd Rüthers, Universität Konstanz* Inhalt A. Die Renaissance der Grundsatzfragen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 B. Was ist Rechtsdogmatik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 I. Die Unsicherheit des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 II. Die Scheu vor dogmatischer Erstarrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 III. Der Funktionsverlust der Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 IV. Dogmatik als Dienerin der Herrschenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 V. Versuch einer Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 VI. Dogmatik und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 VII. Zeitgebundenheit/Vergänglichkeit juristischer Dogmen – Unterschiede zwischen juristischer und theologischer Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 C. Wie entsteht Rechtsdogmatik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I. Der Zwang zu schnellen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 II. Die Irrtumsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 D. Worauf gründet die „Wahrheit“ und Gültigkeit dogmatischer Sätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 E. Der Wandel der Dogmatik in der Wende vom Gesetzesstaat zum Richterstaat . . . . . . . . . . . . . . . 324 I. Die Führungsrolle der letzten Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 II. Dogmatische Irrtümer im Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 III. Die Rolle der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 F. Was leistet Rechtsdogmatik für die juristische Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 I. Ordnungs- und Systematisierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 II. Stabilisierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 III. Entlastungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 IV. Negationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 V. Kritik- und Fortbildungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 *   Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. 2003 auf Anregung von Prof. Dr. Bernd von Hoffmann im Institut für Rechtspolitik der Universität Trier zum Thema „Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts“ gehalten hat. Eine frühere Fassung erschien unter diesem Titel als Heft 15 der Schriftenreihe des Instituts, 2003. Die dramatischen Veränderungen durch den Wandel der Bundesrepublik vom Rechtsstaat zum Richterstaat machten eine Überarbeitung und Ergänzung erforderlich.

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G. Rechtsdogmatik und Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 I. Was heißt Rechtspolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 II. Rechtsdogmatik als „kristallisierte Rechtspolitik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 III. Rechtspolitik und Folgenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 H. Erosion der Dogmatik durch das Richterrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 I. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

A.  Die Renaissance der Grundsatzfragen des Rechts Grundsatzfragen des Rechts haben – außer in der Juristenausbildung – literarische Hochkonjunktur, angesichts der rasanten Veränderungsgeschwindigkeiten in allen Lebensbereichen ist das keine Überraschung.1 Viele Teilgebiete der Gesamtrechtsordnung sind nicht mehr durch die einschlägigen Gesetze, sondern durch „Richterrecht“ geregelt. In diesen Bereichen gilt nicht das „Gesetz“, sondern das, was die zuständigen letzten Gerichtsinstanzen für geltendes Recht erklären. Das trifft auch für das Verfassungsrecht zu. Was das Bundesverfassungsgericht in den seinen rechtskräftigen Entscheidungen festlegt, gilt als Inhalt des Grundgesetzes – bis zur nächsten Änderung dieser Rechtsprechung: „Das Bundesverfassungsgericht […] bestimmt also letztlich, was das Grundgesetz sagt.“2

Dieser Lehrsatz eines führenden Grundrisses des Staatsrechts beschreibt die Normsetzungsmacht der letzten Gerichtsinstanzen, nicht nur im nationalen Recht. Was sie aus den jeweiligen Rechtsnormen herauslesen („Auslegung“) oder in sie hineinlesen („Einlegung“ = richterliche Normsetzung) wird geltendes Recht – nicht nur für die entschiedenen Einzelfälle.3 Die Entscheidungen des EuGH und des EGMR prägen  Zur Auswahl aus jüngerer Zeit etwa die Sammelbände von: J. Krüper/H. Merten/M. Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, mit Beiträgen von St. Huster, M. H. Müller, U. Volkmann, P. M. Huber, H. Schulze-Fielitz, B.-O. Bryde, R. Christensen und D. Stein; G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? 2012 mit Beiträgen von W. Hassemer, C. Waldhoff, O. Lepsius, U. Di Fabio, M. Eifert, B. Grzeszick und A. Voßkuhle; C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012 mit Beiträgen von C. Bumke, M. Jestaedt, P. Kirchhof und E. Picker; dazu B. Rüthers, RabelsZ 79 (2015), 142–161; M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011; T. Lobinger/A. Piepenbrock/M. Stoffels (Hrsg.), Zur Integrationskraft zivilrechtlicher Dogmatik, 2014, mit Beiträgen von dens. sowie R. Gaier, A. Nußberger, P.-C. Müller-Graff. Ferner: R. Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, JZ 2012, 10 ff.; ders, Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik – zu rechtsanwendungsbezogen und zu wenig grundlagenorientiert?, AcP 214 (2014), 7–54; H. Koziol, Glanz und Elend der deutschen Zivilrechtsdogmatik. – Das deutsche Zivilrecht als Vorbild für Europa?, AcP 212 (2012), 1–62; J. Lüdemann, Rechtsetzung und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods Bonn 2009/30; K. F. Röhl, Auflösung des Rechts, in: FS Andreas Heldrich, 2005, 1161–1176; O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999; R. Bakker, Grenzen der Richtermacht – Die Kollegialkontrolle im Großen Senat des BAG, 1994. 2   So das gängige Lehrbuch von H. Maurer, Staatsrecht, 6.  Aufl. 2010, §  20 Rn.  9. Siehe in der Sache ebenso schon R. Smend, Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen des BVerfG am 26.1.1962, in: Bundesverfassungsgericht (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht 1951–1971, 1971, 16. 3   B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 8.   Aufl. 2015, Rn.  236 ff., 821 ff. 1

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in ähnlicher Weise die Rechtsbereiche, für welche diese Gerichte zuständig sind. Die Bundesrepublik hat sich, zunächst nur zögernd wahrgenommen, mit der rasanten Zunahme des Richterrechts von einem demokratischen Rechtsstaat in einen „Rich­ terstaat“ mit neuen Machtstrukturen verwandelt. Die normsetzende, also rechtspolitische Funktion der Justiz auf allen Ebenen verdient und findet zunehmend Aufmerksamkeit. Ihr zunehmendes Wachstum verändert das Verfassungs- und Machtgefüge des Grundgesetzes.4 Die von den Gerichten bei der Gesetzesanwendung und – erst recht – bei ihrer richterlichen Normsetzung praktizierten, oft auch wechselnden Rechtsanwendungsmethoden bestimmen maßgeblich den Inhalt ihrer Entscheidungen. Diese Methoden sind, wie gerade für Deutschland vielfach historisch belegt ist, dem historischen Wandel der Verfassungen und der Wertvorstellungen unterworfen.5 Meine Hypothese lautet: Methodenfragen sind (auch) Verfassungsfragen. Daraus folgen die Fragen: – Wo liegen die verfassungsrechtlichen Grenzen des wuchernden Richterrechts? Wie ist das Gebot der Gesetzesbindung der Gerichte nach Art.  20 Abs.  3 und 97 Abs.  1 GG zu verstehen? –  Wer kontrolliert wie die Normsetzungsmacht der letzten Instanzen? Zu diesem Problemkreis hat im Januar 2009 in Hamburg ein Symposion stattgefunden, auf dem drei Staatsrechtslehrer (C. Bumke, M. Jestaedt, P. Kirchhof ) und ein Zivilrechtslehrer (E. Picker) referierten. Den Vorträgen ging eine Podiumsdiskussion voraus, an der sich die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Ingrid Schmidt, der frühere BGH-Präsident Günter Hirsch und der damalige Vizepräsident (heute Präsident) des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle beteiligten, immerhin Vertreter von drei obersten Bundesgerichten. Ihr Thema: „Richterrecht als unvermeidliches Übel, anmaßende Praxis oder rechtsautonome Vernunft?“ Die vier 2012 publizierten Referate zum Richterrecht6 spiegeln die in den letzten Jahren verspätet aufgekommene, immer noch kontroverse Diskussion zu der nicht nur für die Rechtswissenschaft, sondern für das gesamte Gemeinwesen Bundesrepublik zentrale Frage: Wer bestimmt, was geltendes Recht ist?7 Es geht um eine Analyse des Gefüges und der Grenzen der richterlichen Normsetzungskompetenz im Verhältnis zur Gesetzgebung. Das ist eine Grundfrage der freiheitlichen Demokratie. Sie betrifft den Kern der Verfassung. Das kommt besonders in den Beiträgen von Jestaedt und Picker angemessen zum Ausdruck. Jestaedt fordert von den Gerichten eine möglichst trennscharfe Unter4   B. Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtstaat zum Richterstaat, 2014. Der Titel des Buches ist inzwischen überholt. Er könnte doppelsinnig treffend lauten: „Die unheimliche Revolution …“ Vgl. auch: M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger, Das entgrenzte Gericht, 2011, 21 ff., 34 ff., 49 ff., 57 ff., 124 ff., 133 ff., 141 ff. und passim mit Rezension durch B. Rüthers, ZRG GA 2013, 510–517. 5   B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7.  Aufl. 2012; ders., Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen, 2001; ders./Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  640 ff. 6   Vgl. die Beiträge in C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht (Fn.  1). 7   Es handelt sich um ein derzeit attraktives Thema. Vgl. zusätzlich die Vortragssammlung von C. Baldus/F. Theisen/F. Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung – Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen, 2013.

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scheidung von Auslegung einerseits und richterlicher Normsetzung (Rechtsfortbildung oder Rechtsumbildung) andererseits. Die herrschende Methoden- und Rechtsquellenlehre habe zu der real stattfindenden richterlichen Rechtserzeugung bis heute kein rechtes Verhältnis gefunden. Sie nehme den rechtserzeugenden Charakter der Rechtsprechung nicht zur Kenntnis und habe die Ausarbeitung einer judikativen Ermächtigungslehre zur richterlichen Normsetzung versäumt.8 Richterliche Rechtsfortbildung halte sich nur dann im verfassungsrechtlichen Rahmen, wenn die Nichtbeachtung, Änderung oder Ergänzung gesetzlich vorhandener Maßstäbe sich auf eine positivrechtliche Ermächtigung durch Gesetz oder höherrangiges Recht berufen könne. Eduard Picker fordert unter dem Titel „Richterrecht und Rechtsdogmatik“ eine „rechtsdogmatische Disziplinierung des Richterrechts“.9 Er wendet sich gegen ein Verständnis, das im Richterrecht die „angemessene Form moderner Normsetzung“ erkennen und anerkennen will, also die „Setzung“ allgemeiner und allgemeinverbindlicher Normen durch die Gerichte. Der Richterspruch solle „sich schon der Idee nach auf die Lösung des konkreten Streitfalles beschränken“. Als „Haupterzeuger“ von Richterrecht sieht er das Bundesarbeitsgericht. Ob das zutrifft, erscheint im Hinblick auf die Normsetzungspraxis des Bundesverfassungsgerichts der Nachprüfung wert.10 Angesichts der Realitäten im Arbeitsrecht – eine weithin regelungsunfähige oder -unwillige Gesetzgebung und eine rasante Veränderungesgeschwindigkeit der Arbeits- und Wirtschaftswelt – erscheint das überbordende Ausmaß von ‚Richter­ arbeitsrecht‘ allerdings, anders als Picker meint11, kaum als „herbeigeredet“. Das Wuchern des Richterrechts im Arbeitsrecht geht, wie die Verhinderung eines Arbeitsvertragsgesetzes in mehreren Anläufen zeigt, maßgeblich auf die gemeinsame, unterschiedlich motivierte Blockadestrategie des DGB und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BdA) zurück.12 Da eine Änderung dieser Blockade der Gesetzgebung durch die vereinte Großmacht der Verbände nicht zu erwarten ist, wenn es um die Erhaltung ihrer Regelungsoligopole geht, wird es wohl bei der resignativen Prognose Franz Gamillschegs bleiben: „Das Richterrecht bleibt [im Arbeitsrecht] unser Schicksal.“13 Picker weist zutreffend auf die Risiken jener neuen Freirechtsschule hin, die unter dem Deckmantel einer angeblich „objektiven“ oder auch „objektiv-teleologischen“ Auslegung die richterliche Gesetzesbindung nach Art.  20 Abs.  3 GG liquidieren will.14 Sie leugnet deren Möglichkeit und verschleiert den Übergang der Interpreten 8   M. Jestaedt, Richterliche Rechtsetzung statt richterliche Rechtsfortbildung. Methodologische Betrachtungen zum sog. Richterrecht, in: Richterrecht (Fn.  1), 49 (68 f.). 9   E. Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik. Zur rechtsdogmatischen Disziplinierung des Rich­ ter­rechts, in: Richterrecht (Fn.  1), 85–119. 10   Dazu näher Rüthers, Heimliche Revolution (Fn.  4 ), 139 ff. 11   Picker wie Fn.  9. 12  Die Ausnahme bildet das verfassungsrechtlich zweifelhafte sog. Tarifeinheitsgesetz. Vgl. dazu B. Rüthers, Ein Gesetz gegen die Verfassung?, ZRP 2015, 2–5. 13   F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, AcP 164 (1964), 385 ff., 445. Vgl. ders. dazu 30 Jahre später: 50 Jahre deutsches Arbeitsrecht im Spiegel einer Festschrift, RdA 2005, 79 ff., 80. 14   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  796 ff; B. Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen?, Rechtstheorie 40 (2009), 253–283; ders., Rechtswissenschaft ohne Recht?, NJW 2011, 434–436.

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von der Auslegung des Gesetzes zur Einlegung der eigenen rechtspolitischen Regelungswünsche der Interpreten. Ihren vorläufigen Höhepunkt findet sie in der verwunderlichen These von W. Grasnick: „Es gibt kein Recht und keine Rechtsordnung. Es gibt nur Richter.“15 Man müsse sich um die Rechtsordnung keine Sorgen machen. Niemand könne die Rechtsordnung in Gefahr bringen, denn, so wörtlich, „[…] die gibt es gar nicht. So wenig, wie die Ordnung überhaupt oder das Recht als solches.“ Grasnick hält beides für Märchengebilde, wie beispielsweise „Schneewittchen oder den Mann im Mond“. Würde diese Meinung sich durchsetzen, so wären das Demokratieprinzip, der Parlamentsvorrang bei der Gesetzgebung sowie die Gesetzesbindung der Gerichte, aller Gerichte, aufgehoben. Das Recht geriete vorbehaltlos in die Hände einer ungebundenen, quasi priesterlich herrschenden Richterkaste. Picker schließt sich der verbreiteten, seit langem geübten Kritik an den „Gesetzes übersteigenden“ Rechtsanwendungspraktiken mancher Bundesgerichte und ihrer führenden Vertreter (W. Hassemer, G. Hirsch u. a.) an, die entgegen der Gesetzesbindung ihre eigenen „Richtigkeitsvorstellungen“ an die Stelle derer der Gesetzgebung setzen. Sie legen das ein, was der Gesetzgeber nach ihrer Ansicht gewollt haben sollte und halten das so interpretierte Gesetz, also sich selbst, für „klüger“ als seine Schöpfer. Er warnt vor der Gefahr, dass in diesen Erscheinungsformen des Richterrechts die vom Grundgesetz gebotene und garantierte Unabhängigkeit des Richters mit der Ungebundenheit seines Standes, also der gesamten Justiz verwechselt werde. Die Gesetzesbindung der Gerichte ist nach der freiheitlich demokratischen Ordnung des Grundgesetzes die Grundlage und die unabdingbare Voraussetzung der richterlichen Unabhängigkeit. Als geeignetes Instrument gegen diese Entwicklung empfiehlt er die „Dogmatik“. Mit ihrer Hilfe soll das wuchernde Richterrecht „domesti­ ziert“ werden. Es lohnt sich, den Erfolgsaussichten dieses Versuches nachzugehen.

B.  Was ist Rechtsdogmatik? I.  Die Unsicherheit des Begriffs Wenn Juristen von Dogmatik sprechen, ist der Bedeutungsgehalt, die Intension des Begriffs oft unklar. In den grundlegenden Handbüchern, Lexika und Einführungen in die Rechtswissenschaft fehlt bisweilen sogar das Stichwort, auch wenn die Autoren es beiläufig eifrig benutzen. Der Begriff wird als bekannt vorausgesetzt, aber selten und meistens spärlich definiert.16   W. Grasnick, Pater Brown und die Kamele, Myops 2010, 12–17.   Beispielhaft etwa W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 1–5, 1975–1977. Vgl. ferner F. v. Hippel, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben des Verwaltungsrechts, VVDStRL 30 (1972), 193 ff.; K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, Hamburger Ringvorlesung, 1990; dazu Bespr. v. E. v. Hippel, RabelsZ 54 (1990), 766–770; ders. Richtiges und unrichtiges Recht, Recht und Politik, 2002, 63–69; A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in. W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, §  1 Rn.  2 –7; N. Jansen, Einführung, in: G. Essen/ders. (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 2011, S.  1 (1 f.); M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: Was weiß Dogmatik? (Fn.  1) 117–121; C. Bumke, Rechtsdogmatik, JZ 2014, 15 16

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Auch der eingehende Aufsatz von E. Picker „Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte“17, setzt den Begriffsinhalt von Rechtsdogmatik als geklärt voraus und wendet sich sogleich dem höchst billigenswerten Ziel zu, eine „geschichtlich denkende Rechtsdogmatik“ und eine „dogmatisch fragende Rechtsgeschichte als Wissenschafts- und Ausbildungsziel“ zu verbinden.18 Einen guten Überblick zur Entwicklung des Begriffs vermittelt Chr. Waldhoff mit seinem Beitrag „Kritik und Lob der Dogmatik“. Im selben Band warnt O. Lepsius mit guten Gründen vor der übertriebenen Vielfalt der Erwartungen an die Dogmatik.19

II.  Die Scheu vor dogmatischer Erstarrung Der Dogmatikbegriff löst im juristischen Diskurs bisweilen negative Emotionen aus.20 Dogmatik gilt vielen, besonders in bewegten Zeiten einschneidender Veränderungen oder gar Umwälzungen der Fakten oder der Wertbilder, als „Dogmatismus“, als das Kleben an fragwürdigen Traditionen, als Fremdheit des Rechts und der Juristen gegenüber der Lebenswirklichkeit und ihren Erfordernissen.21 Der Streit um die Befreiung der jeweils „gültigen“ Dogmatik von ihren historischen Wurzeln ist ein zyklisch wiederkehrendes Problem. Es wird vor allem in Epochen ökonomischer, kultureller, gesellschaftlicher und politischer Umbrüche aktuell. Die in der Regel historisch geprägte juristische Dogmatik erscheint ihren Kritikern oft wie ein Bollwerk der prinzipiell konservativ eingestellten Juristen gegenüber neuen Perspektiven und Wertvorstellungen, welche die hergebrachten Rechtsvorstellungen in Frage stellen oder verändern könnten.22 Die Serie solcher Debatten begann in Deutschland um die Wende zum 20. Jahrhundert mit den Kampfschriften der Freirechtsschule. Sie forderten die Trennung von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte.23 Der Diskurs begann mit der These, dass Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte völlig verschiedene Aufgaben hätten und folgerichtig zu getrennten, ja geradezu „umgekehrten“ Disziplinen geworden 641 ff. Einen sehr weiten, kaum noch exkludierenden Dogmatikbegriff verwendet E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, dazu die Besprechung durch J. Ipsen, AöR 140 (2015), 318– 323. Siehe schließlich die zugleich distanzierende Würdigung von Dogmatik durch den Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, 2012, 25–27, 30–35, 40. 17   E. Picker, Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte, AcP 201 (2001), 763–859. 18   Picker (Fn.  17), 848 ff. 19   C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: Was weiß Dogmatik? (Fn.  1), 17–37; O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, ebd., 39–62. 20   Jüngst etwa H. Koziol, Glanz und Elend der deutschen Zivilrechtsdogmatik, AcP 212 (2012), 1 ff.; R. Stürner, Das Zivilrecht der Moderne und die Bedeutung der Rechtsdogmatik, JZ 2012, 10 ff.; ders., Die Zivilrechtswissenschaft und ihre Methodik, AcP 214 (2014), 7 ff.; ders. (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010. 21   Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Picker (Fn.  17), 771 ff., 780 ff. 22   Vgl. etwa J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2.  Aufl., 1972, 90 ff. 23   H. Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, 104 ff.; ders., Probleme der Strafrechtsvergleichung, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, 1907/8, 65, 108; ders., Was ist uns Savigny?, Recht und Wirtschaft 1 (1911), 47 ff.; E. Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, 98 ff.; ders., Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1918/19, 17. Für die polemische Schärfe dieser Debatte vgl. Picker, Rechtsdogmatik (Fn.  17), 767.

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seien.24 Die Geschichtlichkeit des Rechts sei zwar für die Rechtsgeschichte wichtig und wertvoll. Das gegenwärtige Recht werde aber nicht von der Geschichte, sondern von den realen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ethischen Machtfaktoren bestimmt. Dem Freirecht gingen allerdings die Dogmatiker des Gesetzespositivismus voraus, die, in der Fixierung auf die jeweils neue Gesetzgebung, oft in eine reine Buchstabeninterpretation verfielen und den Blick für die historischen Zusammenhänge verloren oder verdrängten. In reiner Form findet sich das in der insoweit fast steril zu nennenden Auslegungslehre des großen Hans Kelsen, des Schöpfers der „Reinen Rechtslehre“. Eine neue Welle grundsätzlicher Kritik an der Rechtsdogmatik begann mit dem Vordringen neo-marxistischer Strömungen in die Rechtswissenschaft in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Der für menschenfeindlich und morbid erklärte „Spätkapitalismus“ (Habermas) und die liberalistische „Übergangsgesellschaft“ der Bundesrepublik sollte durch einen neuen Sozialismus ersetzt werden. Zutreffend wurde wiederentdeckt, dass die Rechtswissenschaft auch eine Sozialwissenschaft sei. Das hatte Lorenz von Stein bereits im 19. Jahrhundert der wirklichkeitsfremd gewordenen deutschen Rechts- und Staatswissenschaft – ähnlich wie Max Weber – ent­ gegengehalten und sich aus der Jurisprudenz verabschiedet.25 Nun wurde die herkömmliche juristische Dogmatik erneut, diesmal von marxistischen Grundpositionen aus, kritisiert.26 Bei der Auseinandersetzung mit der Rolle des Rechts und der Juristen in der Hitler-Diktatur zeitigte die unkritische Übernahme marxistischer Sichtweisen bemerkenswerte Ergebnisse. So kamen manche überzeugte Neomarxisten bei ihren Analysen der Situation in den siebziger Jahren nicht zur Anerkennung der Grundrechtsdemokratie als Gegenposition zur NS- und SED-Diktatur, sondern sie empfahlen die marxistische Diktatur als Therapie gegenüber der des Hitlerreiches.27 Die Beispiele zeigen: Dogmatische Grundsatzdebatten sind regelmäßig Begleiterscheinungen von wirklichen oder erwünschten Umbruchssituationen. Dafür gibt es in Deutschland und in Europa während des 20. Jahrhunderts eine Fülle von Belegen. Die angedeuteten Diskurse haben einen weitgehenden Trennungsprozess zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte eingeleitet und vorangetrieben. Heute sind dies in Deutschland nach Gegenstand, Methode und Forschungsinteressen getrennte Disziplinen.28 Das hat weitere Gründe: In der Geschichtswissenschaft, in der Philosophie und in der Rechtsgeschichte hat sich die Überzeugung verbreitet, man könne ohnehin aus der Geschichte nichts lernen.29 24   C. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Bd. 1, 1892, 531 ff.; V. Ehrenberg, Die deutsche Rechtsgeschichte und die juristische Bildung, 1894, 6. 25   L. v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, 1876. 26  Beispielhaft H. Rottleuthner, Klassenjustiz, Kritische Justiz (KJ) 1969, 1 ff.; ders., Richterliches Han­ deln – Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973; ders., Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973. 27   Nachweis bei W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 3, 1976, 327 unter Hinweis auf H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, 209 ff. Rottleuthners Kritik am Rechtsstaat des Grundgesetzes war 1973 härter als die am Recht des NS-Staates. 28   Picker, Rechtsdogmatik (Fn.  17), 763 ff. 29  Vgl. etwa die Kontroverse A. Lübbe, Aus der Geschichte lernen? – Eine Kritik pädagogischer

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III.  Der Funktionsverlust der Rechtsgeschichte Das Programm einer geschichtlichen Rechtsdogmatik, so meinen viele, sei mit der Abkehr von der historischen Schule endgültig zu Grabe getragen worden.30 Folgerichtig spielt die Rechtsgeschichte in der gegenwärtigen deutschen Juristenausbildung heute eine Rolle, die mit „marginal“ noch euphemistisch bezeichnet ist. Mit der weitgehenden Verdrängung von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie aus der Ausbildung wird (bewusst?) darauf verzichtet, die großen Zusammenhänge der Rechtsentwicklung aufzuzeigen, bleibende, historisch gewachsene und veränderte Erkenntnisgewinne wahrzunehmen und festzuhalten, sich der schlichten Einsicht zu stellen, dass es „ohne Herkunft keine Zukunft“ gibt: Das Wissen um die Herkunft ist eine unverzichtbare Bedingung für die zutreffende Einschätzung der Gegenwart und für eine humane Gestaltung der Zukunft. Auf den uralten interdisziplinären Theorienstreit, ob Menschen aus der Geschichte etwas lernen können, will ich hier nicht eingehen, aber so viel bekennen: Ich meine viele wollen und können das, aber sicher nicht alle. Die Deutschen hätten nach ihrer wechselvollen jüngeren politischen Geschichte Anlass, unbeirrt von theoretischen Spitzfindigkeiten nach praktischen Möglichkeiten des Lernens aus Geschichte zu suchen. Das belegt nicht zuletzt die Verfassungsgeschichte. Was ist jede neue Verfassung anderes als der Versuch, nach leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit eine bessere politische Ordnung zu suchen? Das Grundgesetz kann bisher als ein erfolgreiches Beispiel verfassungsdogmatischen Lernens aus Geschichte aufgefasst werden. Solches Lernen aus der Geschichte setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, –  die maßgeblichen Wirklichkeiten unbefangen wahrzunehmen und –  aus dem Erkannten Schlüsse nach den Regeln der praktischen Vernunft zu ziehen. Man muss lernen wollen und lernen können. Der Glaubenssatz, man könne aus der Geschichte nichts lernen, vernichtet die Chance, aus Erfahrungen, wenn nicht klug, so doch klüger zu werden. Das gilt auch für das Verhältnis von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik.

IV.  Dogmatik als Dienerin der Herrschenden? Die juristische Dogmatik ist vielen Juristen – und nicht nur Juristen – gerade durch die Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts fragwürdig, ja unheimlich geworden. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass im Nacheinander der schnell wechselnden politischen Systeme, Rechtsideen und Verfassungsideologien aus denselben unveränGeschichtsschreibung am Beispiel von B. Rüthers, Wir denken die Rechtsbegriffe um … Weltanschauung als Auslegungsprinzip, 1987, Rechtshistorisches Journal 7 (1988), 417 ff. und ders., Aus der Geschichte lernen? – Eine Erwiderung, Rechtshistorisches Journal 8 (1989), 381 ff.; ferner M. Stolleis, Lehren aus der Rechtsgeschichte? Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Bernd Rüthers, in: R. Eisfeld/ I. Müller (Hrsg.), FS Kempner, 1989, 385 ff.; R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, 33; T. Schieder, Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode, in: FS Heimpel, 1971, 1 ff., 25 f.; E. Picker, Ursprungsidee und Wandlungstendenzen des Tarifvertragswesens, in: Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, 1997, 879, 953. 30   F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.  Aufl. 1967, 423.

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derten Rechtssätzen ganz unterschiedliche, oft gegensätzliche Entscheidungen für dieselben Interessenkonflikte hervorgezaubert und begründet werden konnten. Was für eine Dogmatik ist das, die als rechtstheoretischer Zauberstab unbegrenzte „Auslegungen“ oder besser „Einlegungen“ ermöglicht? Eines scheint auf den ersten Blick offenkundig zu sein: Die juristische Dogmatik erweist sich als außerordentlich elastisch und anpassungsfähig an sich wandelnde gesellschaftliche, politische und ökonomische Rahmenbedingungen und Wertmaßstäbe. Sie kann sogar der Motor für rechtspolitische Entwicklungen werden, hat also neben den konservierenden auch dynamische Elemente.

V.  Versuch einer Begriffsklärung Gerade die bisweilen gegensätzlichen Funktionsweisen dessen, was als Rechtsdogmatik bezeichnet wird, lassen eine möglichst genaue Begriffsbestimmung geraten erscheinen. Das Wort Dogma kommt aus dem Griechischen. Es hat ein Spektrum von möglichen Bedeutungen, wie „festgelegte Meinung“, „Verfügung“ einer zuständigen Instanz oder gefestigter „Lehrsatz“. In der spätantiken Philosophie bezeichnet das Wort die lehrhafte Formulierung von „Grundwahrheiten“ oder „feststehenden, gültigen Lehrsätzen“. Von dort wurde das „Dogma“ in die christliche Theologie übernommen. In der katholischen Kirche ist es ein feierlich verkündeter und verpflichtender Glaubenssatz. Im weiteren Sinne bezeichnet das Wort eine „Grundüberzeugung“, die gegen Zweifel nicht durch einen rationalen Beweis, sondern durch autoritative Deklaration und durch glaubensgestützte Akzeptanz gesichert ist.31 Das Dogma in diesem Sinne erhebt Anspruch auf Gültigkeit und Anerkennung. Dogmatik ist dann die Lehre von diesen Dogmen. Sie haben in den einzelnen Disziplinen eine unterschiedliche Bedeutung und Funktion. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Dogmen die als verbindlich oder gültig anerkannten Grunderkenntnisse eines Lehrgebietes darstellen. Die Art und der Grund der Verbindlichkeit können verschieden sein. Was besagt dieser philosophisch-theologisch entwickelte Begriff der Dogmatik, wenn man ihn in die Rechtswissenschaft überträgt? Ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt, dass es zu allen Zeiten das Bedürfnis gegeben hat, allgemein anerkannte juristische Grundsätze zu formulieren. Es handelt sich dabei überwiegend nicht um rational beweisbare Aussagen, sondern um Grundannahmen („Axiome“), die als gültig anerkannt vorausgesetzt werden, aber nach unseren Erfahrungen im Wechsel der jeweils herrschenden Rechtsanschauungen häufig revidiert werden können. Dazu gehört etwa die Entscheidung für einen ­K anon und eine Rangfolge von Grundwerten, wie sie im Grundrechtskatalog des Grund­gesetzes verankert sind. Das Grundgesetz wird daher vom Bundesverfassungsgericht und der h. L. folgerichtig, wenn auch nicht unwidersprochen, als eine verbindliche „Wertordnung“ verstanden. Werturteile sind zwar rational diskutierbar, etwa unter dem Gesichtspunkt, welche normativen Regelungen dem Gedeihen einer Gesellschaft dauerhaft dienlich sind. Aber sie sind nicht „logisch beweisbar“. Deshalb gehört die Festlegung und 31   Der große Brockhaus in 12 Bänden, Bd. 3, 1978, S.  219. Siehe auch G. Essen/N. Jansen (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 2011.

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Durchsetzung von Werturteilen in Grundsatzfragen der Rechtsordnung („Wesentlichkeitstheorie“) zu den unverzichtbar notwendigen Aufgaben der Gesetzgebung. Dogmatik bedeutet, angewendet auf das Recht, demnach die Erläuterung der für das geltende Recht als maßgebend anerkannten Grundwerte, Begründungen und Problemlösungen. Erst daraus lassen sich die sachgerechten Beurteilungen von Einzelfragen sinnvoll und (möglichst) widerspruchsfrei ableiten. Sie ist gleichsam das innere System einer in verschiedenen Entwicklungsstufen gewachsenen, unübersichtlichen und oft nicht widerspruchsfreien geschriebenen Rechtsordnung. Dogmatik ist also das „Archiv“ bewährter und anerkannter Beurteilungsmuster, auf das der Jurist zurückgreift, wenn eindeutige gesetzliche Regelungen für seinen Streitfall fehlen. Es umfasst alle Grund- und Lehrsätze, Grundregeln und Prinzipien der Rechtsordnung. Das sind einmal diejenigen, die in Gesetzen festgeschrieben sind und durch Aus­ legung gewonnen werden, aber auch diejenigen, die Justiz und Rechtswissenschaft mit allgemeiner Anerkennung den gesetzlichen Regeln hinzugefügt haben (z. B. „Informationelles Selbstbestimmungsrecht“; „Allgemeines Persönlichkeitsrecht“, §  823 Abs.  1 BGB). Dieses „Archiv“ der Dogmatik enthält nicht etwa einzig gültige oder gar „wahre“ Lösungen für anstehende Entscheidungen. Es erschließt nur den Zugang zu bisher bewährten, anerkannten Beurteilungs- und Deutungsmustern, die von Fall zu Fall auf ihre Angemessenheit auf möglicherweise veränderte Fakten und Wertmaßstäbe überprüft werden können und müssen. Indem die Dogmatik das geltende Recht mit rationaler Überzeugungskraft und unter Berufung auf allgemein anerkannte Grundwerte (Wertüberzeugungen) zu erklären versucht, lässt sie sich definieren als eine „Theorie des jeweils geltenden Rechts“. Davon zu unterscheiden ist ein anderer Begriff von Rechtsdogmatik. Er kommt ins Spiel, wenn Juristen bei der Rechtsanwendung von ihren eigenen als den „dogmatisch sauberen Lösungen“ sprechen. Dann ist in der Regel eine Arbeitsweise gemeint, welche die Vorgaben des Gesetzes und dessen inneren Wertungszusammenhang ernst nimmt, also eine methodengerechte Gesetzesanwendung. Der „undogmatisch“ und „ergebnisorientiert“ arbeitende Jurist dagegen sucht nach einer Lösung, welche aus seiner Sicht „gerechter“ ist, als die vom Gesetz gebotene. Nach diesem Ziel wählt er dann die dazu geeignete Methode. Durch diesen oft verdeckten, schillernden Doppelsinn besitzt der Dogmatikbegriff ein gewisses Missbrauchspotential. Wenn jemand als „schlechter Dogmatiker“ bezeichnet wird, ist klar, dass dies als Vorwurf gemeint ist. Aber was genau gesagt wird, bleibt unklar, weil es keine eindeutige Definition von „guter Dogmatik“ gibt. Ehrlicher ist es, in diesen Fällen von „Methode“ zu sprechen. Damit wird wenigstens deutlich, über welche Fähigkeiten und Kenntnisse gesprochen werden soll.32 Die Verfassungsrelevanz der Gesetzesauslegung und der juristischen Methodenwahl ist ein in der Jurisprudenz und Justiz, gelegentlich auch im Bundesverfassungsgericht nicht selten verkanntes Problem.33 Hier zeigt die juristische „Erinnerungs32   Unklar insoweit W. Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, in: Was weiß Dogmatik? (Fn.  1), 3–15. Die Verwendung der Begriffe „Dogmatik“ und „Methode“ ist oft schwankend, vgl. ebendort etwa C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, 26 ff. und M. Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, 80 ff. 33  Zur modernen „Freirechtsschule“ vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  640 ff.,

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kultur“ aufgrund der Schweigespirale zu den Perversionen der Rechtsordnung im NS-Regime und in der DDR immer noch beträchtliche Lücken.

VI.  Dogmatik und Gesetz Die erste Quelle der Dogmatik sind die geltenden Gesetze. Sie entwickelt sich aus der verfassungsgemäßen Auslegung der gesamten Rechtsordnung als einer widerspruchsfrei gedachten Einheit, die nicht in den Gesetzen vorhanden ist, sondern durch eine harmonisierende Interpretation („Konkordanz“) der real vorhandenen Lücken und Widersprüche hergestellt werden muss. Insoweit ist die Jurisprudenz eine Textwissenschaft.34 Sie hat es, wie andere Textwissenschaften, (Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Theologie u. a.) mit der Interpretation von Texten zu tun. Das sind vor allem Gesetzestexte, amtliche Gesetzesbegründungen, Gerichtsentscheidungen, Darstellungen von Problemlösungen für die Schaffung von Rechtssätzen, rechtswissenschaftliche Diskurse in Fachzeitschriften etc. Rechtsnormen haben, soweit es sich um geltendes Recht handelt, gegenüber allen anderen Texten eine besondere Art von Verbindlichkeit: Sie beanspruchen „Geltung“. Juristen sind bei der Rechtsanwendung an „Gesetz und Recht“ gebunden (Art.  20 Abs.  3 GG).

1.  Die Unsicherheit der Sprache Gesetze sind in Rechtssätzen, also in Sprache gefasst. Die Sprache ist ein unsicheres, ungenaues Medium. Ihre Begriffe sind oft mehrdeutig oder unbestimmt. Was ist etwa ein „gefährliches Werkzeug“ i. S. von §  224 Abs.  1 Nr.  2 StGB (gefährliche Körperverletzung) oder was bedeutet „Nachtzeit“ bei der schweren Jagdwilderei nach §  292 Abs.  2 Nr.  2 StGB? Was ist ein „wesentlicher Bestandteil“ („zur Herstellung eingefügt“) nach §  94 Abs.  2 BGB? Wortbedeutungen („Intensionen“) sind darüber hinaus im historischen Verlauf, im Wandel der herrschenden moralischen und politischen Wertvorstellungen und Systeme veränderlich, etwa „Treu und Glauben“, „gute Sitten“, „wichtiger Grund“. Alle zentralen juristischen Begriffe sind auch gesellschaftlich geprägt und bedeuten deshalb je nach der bestehenden Gesamtordnung etwas Verschiedenes.35 Die Begriffe haben, ebenso wie die Individuen, ihre Geschichte und vermögen ebensowenig wie diese, der Gewalt der Zeit zu widerstehen.36

2.  Dogmatik als Aufgabe und Produkt der Auslegung Damit wird deutlich: Juristische Dogmatik kann nicht im Gesetz allein gefunden werden. Zu den genannten Unsicherheitsfaktoren der Sprache (Mehrdeutigkeit, Un704 ff, 813 ff., 815 f.; näher B. Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen?, Rechtstheorie 40 (2009), S.  253–283. 34   B. Rüthers, Willkür in den Worten, FAZ v. 23. 12. 02, S.  8; ders./Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  150 ff., 156 ff. 35   L. v. Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, 1876, S.  135. 36   Nach S. Kierkegaard, dänischer Philosoph und Theologe, 1813–1855.

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bestimmtheit, Wandelbarkeit) kommt als weiteres Auslegungsproblem hinzu, dass Gesetze in aller Regel lückenhaft sind. Schon im 19. Jahrhundert wusste man, dass Gesetze, im Gegensatz zur Idee der vollständigen und perfekten Kodifikation, nur unvollständig und unfertig hervorgebracht werden können. Schon deshalb ist die generelle Definition der Gesetzeslücke als einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ (Larenz) problematisch. Sie lässt die von der Gesetzgebung geplanten wie auch die sekundären Lücken, die nach dem Inkrafttreten entstehen, außer Betracht. Die unvermeidbare Lückenhaftigkeit gilt bereits für den Zeitpunkt der Verabschiedung eines neuen Gesetzes, denn die Gesetzgebung kann nur selten alle regelungsbedürftigen Einzelfragen erkennen („primäre Lücken“). Mit dem Alterungsprozess eines Gesetzes (BGB von 1900!) und den gesellschaftlichen Veränderungen werden die Lücken immer zahlreicher. Die Gerichte müssen ständig Rechtsfragen entscheiden, welche die Gesetzgebung nicht kennen und regeln konnte („sekundäre Lücken“). Die neu zu entscheidenden Probleme müssen aber in das System, in die Dogmatik der geltenden Rechtsordnung „eingepasst“ werden. Schon die römischen Juristen wussten, dass die Gesetze nicht fertige Lösungen für alle Rechtsfragen bereithalten können. Bei Pomponius (Dig. 1, 2, 2, 12) finden wir eine bemerkenswerte Definition der Dogmatik, sie sei „[…] quod sine scripto in sola prudentium interpretatione consistit.“ Dogmatik ist danach dasjenige, was ohne im Gesetz geschrieben zu sein, auf kluger Interpretation beruht. Allerdings legt der Gesetzgeber für alle Rechtsgebiete Grundwerte und „oberste Grundsätze des Rechts“ fest, die, zumal wenn sie in der Verfassung verankert sind, absoluten Geltungsanspruch besitzen, also unverrückbare „Säulen der Dogmatik“ bilden und das Gesamtgefüge der Rechtsordnung tragen. Erst die Dogmatik deckt dieses innere System der Gesamtrechtsordnung auf. Aus diesem Grund ist das von der Dogmatik entwickelte System aussagekräftiger und „gültiger“ als die einzelne, immer interpretationsbedürftige Gesetzesbestimmung. Die Gesetze geben der Dogmatik allerdings die maßgeblichen Fixpunkte für die Erkenntnis des inneren Wertungszusammenhangs. Was allerdings „kluge Interpretation“ genannt werden kann und was nicht, das bleibt nach aller historischen Erfahrung nicht selten umstritten. Entscheidend ist im Ergebnis, welche Auffassung sich jeweils als „herrschend“ durchsetzt, als „gültig“ akzeptiert wird. Man denke nur an die Beispiele Sicherungseigentum versus Faustpfandrecht oder Geldersatz bei Persönlichkeitsverletzung versus §  253 BGB. Es geht regelmäßig um einen Konkurrenzkampf unterschiedlicher Auffassungen in der Frage, welches die „angemessene“, „richtige“, „systemgerechte“, „dogmatisch saubere“, „gültige“ Lösung für systemrelevante Regelungsprobleme sei.

VII.  Zeitgebundenheit/Vergänglichkeit juristischer Dogmen – Unterschiede zwischen juristischer und theologischer Dogmatik Hier deutet sich ein wichtiger Unterschied zwischen juristischer und theologischer Dogmatik an, der für unser Thema („Rechtsdogmatik und Rechtspolitik“) zu beachten ist. In der katholischen Glaubenslehre ist das Dogma eine durch die Bibel oder die Überlieferung offenbarte und durch eine vom Papst „ex cathedra“ verlautbarte,

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unverrückbare („ewige“) Glaubenswahrheit, die nach der neuen Lehre des Ersten vatikanischen Konzils (1869/70) vom kirchlichen Lehramt mit „Unfehlbarkeit“ definiert wird. Die Verkündung durch das Lehramt begründet danach die Unabänderlichkeit. Zwar kann die Interpretation eines kirchlichen Dogmas dem jeweiligen geschichtlichen Verständnis angepasst werden. Der Inhalt aber muss nach der Lehre von der kirchlichen Dogmatik unverändert bleiben und begründet eine Glaubensverpflichtung für alle Kirchenmitglieder. Dieses „Unfehlbarkeitsdogma“37 ist auch unter katholischen Theologen zunehmend in kontroverse Diskussionen geraten. Der juristischen Dogmatik liegt ein grundlegend anderer Dogmenbegriff zugrunde als in der Theologie.38 Juristische Gesetze und die auf ihnen beruhenden Rechtsordnungen sind historische Erscheinungen. Sie entstehen aus ethnischen, geographischen, klimatischen, kulturellen, ökonomischen, religiösen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und Gestaltungsfaktoren. Sie sind zeitbedingt, vielfältig veränderbar und müssen das sein. Damit ist klar: Juristische Dogmen sind kein „Ewigkeitsprodukt“. Juristische Dogmatik ist keine dauerhafte, starre Gegebenheit, sondern auf temporäre Geltung und Veränderung angelegt. Sie drückt zwar den Willen zu einer normativ verfestigten Ordnung aus, den Wunsch nach Kontinuität und Verlässlichkeit, ist aber gleichwohl zeitbedingt und variabel. Das Grundgesetz der Bundesrepublik macht an einer Stelle eine Ausnahme von der prinzipiellen Veränderbarkeit allen Rechts. Es enthält in Art.  79 Abs.  3 eine „Ewigkeitsklausel“ für einige Grundelemente der Verfassung. Der Versuch einer solchen unveränderlichen Festschreibung fundamentaler Grundwerte (föderativer Staatsauf bau, Menschenwürde, demokratischer Rechtsstaat) ist auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der NS-Diktatur zu sehen. Rechtsgeschichte, zumal Verfassungsgeschichte, kann als Beweis dafür genommen werden, dass Lernen aus der Geschichte möglich ist. Die Reichweite der Ewigkeitsklausel ist allerdings umstritten, zumal das Grundgesetz selbst von seinen Schöpfern 1949 als eine vorläufige Verfassung verstanden wurde. Abgesehen von dieser Ausnahme sind staatliche Gesetze zeitbedingt, können altern und ganz oder teilweise obsolet werden. Juristische Dogmatik ist daher, anders als theologische Dogmatik, eine Lehre auf Zeit, nicht auf Ewigkeit. Sie ist die systematische Zusammenfassung des überwiegend anerkannten, „geltenden“ Rechts zu bestimmten Problem- und Regelungsbereichen, die auf Entwicklung und Weiterbildung angelegt ist. Diese vorläufige Antwort auf die Frage „Was ist juristische Dogmatik?“ führt zu weiteren Fragen: –  Wie entsteht juristische Dogmatik? –  Worauf gründet sich ihr Gültigkeitsanspruch? –  Welche Funktionen hat sie?

37   Vgl. kritisch H. Küng, Unfehlbar? – Eine Anfrage, 5.  Aufl. 1975; dazu K. Rahner (Hrsg.), Antworten auf die Anfrage von Hans Küng, 1972. 38   Siehe dazu: G. Essen/N. Jansen (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 2011.

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C.  Wie entsteht Rechtsdogmatik? I.  Der Zwang zu schnellen Entscheidungen Das Leben, mit dessen Beurteilung und Beeinflussung es die Juristen zu tun haben, pflegt bunter, vielfältiger und dynamischer zu sein als das Gesetz und als die Regelungsphantasie aller menschlichen Normsetzer. Der Rechtsverkehr und seine Teilnehmer sind auf allen Lebens- und Rechtsgebieten unendlich erfindungsreich. Entwickelte Gesellschaften zeichnen sich durch ihre rasante Veränderungsgeschwindigkeit und die wachsende Komplexität aller Lebensbereiche, ihrer Organisationsformen und ihrer Steuerungsmittel aus. Die Rechtsordnung eines Rechtsstaates muss für alle, auch für die der Gesetzgebung noch unbekannten und ungeregelten Interessenlagen eine „passende“, systemgerechte Lösung bereitstellen. Das ist in dem damit angedeuteten Bereich der Gesetzes- und Rechtslücken die verfassungsmäßige Aufgabe der Justiz.39 Die Gerichte müssen im Rahmen ihrer Zuständigkeit alle ihnen vorgelegten Streitfälle entscheiden. Insoweit gilt das Rechtsverweigerungsverbot.40 Es gibt also keine rechtshängigen Streitfälle, die unentschieden bleiben oder von den Gerichten an die Gesetzgebung verwiesen werden können. Jede Rechtsfrage muss in nützlicher, prozessrechtlich geregelter Frist vom zuständigen Gericht beantwortet werden. Dieser Zeitzwang unterscheidet die Jurisprudenz, vor allem die Justiz, von den meisten übrigen Wissenschaften.

II.  Die Irrtumsrisiken Andererseits sind weder die Gerichte noch die juristische Dogmatik allwissend. Sie sind aber dazu verpflichtet, auch solche Streitfälle und Rechtsfragen zu entscheiden, die ihnen neu und unbekannt sind. Für sie gilt eine besondere Gesetzmäßigkeit des Handelns, die sonst eher in der Politik zu beobachten ist: „Die Notwendigkeit, zu entscheiden, geht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen.“41 Der Satz drückt die Vorläufigkeit und die mögliche Irrtumsbefangenheit juristisch-dogmatischer Problemlösungen aus. Die Juristen tasten sich unter dem Zwang unaufschiebbarer Entscheidungen von Fall zu Fall an sachgerechte Antworten auf neue Fragen heran. Die juristische Dogmatik speichert, analysiert und bewertet die Erfahrungen und Folgen der bisher verwendeten Lösungsmodelle. Die Komplexität entwickelter Gesellschaften, die begrenzte Regelungsfähigkeit der Gesetzgebung und das Rechtsverweigerungsverbot steigern die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechenden juristischen Dogmatik. Soviel ist klar: Mit dem Veränderungstempo der ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen und politischen Systeme ist unvermeidbar eine permanente Dynamisierung der Dogmatiken in 39   Ganz h. L., BVerfGE 34, 269 [1973]; 65, 182 [1983]; 69, 188 [1985]; 75, 223 (243 f.) [1987]; zu den Grenzen vgl. BVerfGE 69, 315 (371 f.) [1985]; 82, 6 [1990]. 40   Dazu näher E. Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot, ZZP 81 (1968), 79 ff.; Rüthers/Fischer/ Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  314, 823. 41   A. Gehlen, Der Mensch, 1.  Aufl. 1940 (12.  Aufl. 1978), S.  303.

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den betroffenen juristischen Teildisziplinen verbunden. Ihre „Verfallzeiten“ werden unter dem Einfluss der genannten Faktoren kürzer.

D.  Worauf gründet die „Wahrheit“ und Gültigkeit dogmatischer Sätze? Für offene Regelungsfragen gibt es kaum je allein „wahre“ oder „richtige“ normative Antworten. Sie lassen nach der Erfahrung der Juristen in Geschichte und Rechtsvergleichung, nicht zuletzt im Blick auf das Ringen um „gerechte“ Lösungen in den Parlamenten demokratischer Staaten, in aller Regel verschiedene Lösungsmöglichkeiten zu, die von ihren Vertretern jeweils als besonders „gerecht“ empfunden werden. Es geht dabei letzten Endes um das Problem von „Recht und Gerechtigkeit“.42 Der Streit der Rechtsmeinungen in der juristischen Literatur und der Parteien im Parlament sowie die vielfältig abweichenden Entscheidungen in der Justiz, nicht selten von Senaten im selben obersten Bundesgericht, beweisen die Relativität juristischer Lösungsansätze. In diesem Widerstreit der Meinungen benötigt die juristische Praxis Orientierungen für ihr berufliches Handeln. Das sollte eine sorgfältig ausgearbeitete juristische Dogmatik bieten. Sie kann zeigen, welche sinnvollen, systemverträglichen Lösungen und Begründungen es für die Antwort auf eine Rechtsfrage gibt und welcher der konkurrierenden Vorschläge den Vorzug verdient. Mit der Aufstellung dogmatischer Lehrsätze, gegründet auf Gesetz und bewährte Lehre oder begründete Eigenwertung, ist dann jeweils der Anspruch verbunden, dies sei die sachgerechte, „gültige“ Lösung einer Rechtsfrage. Dabei ist jedoch zu beachten: Eine „Wahrheit“ dogmatischer Lehrsätze oder Lösungsvorschläge kann es nicht geben. Juristische Regelungsprobleme sind immer wertbezogen. Rechtsnormen enthalten Werturteile der Normsetzer, wie das Zusammenleben der Menschen nach ihrer Überzeugung geregelt werden soll. Dasselbe gilt für den Kerngehalt dogmatischer Sätze. Über die Frage, ob Werturteile und normative Sätze mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität als „wahr“ oder „richtig“ bewiesen werden können, ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, maßgeblich angestoßen von Max Weber, eine heftige, teilweise noch andauernde Kontroverse entbrannt, der „Werturteilsstreit“.43 An den Juristen ist sie weitgehend vorbeigegangen. Ich muss mich hier auf das für mich einleuchtende Ergebnis dieser Kontroverse beschränken: Bei allen Rechtsnormen und normativen Sätzen, zu denen auch die Lehrsätze der juristischen Dogmatik gehören, geht es darum, was zur Regelung bestimmter Lebensbereiche zu tun ist, welche Handlungsgebote gelten sollen. Solche Sätze sind nicht als „wahr“ oder „richtig“ beweisbar. Sie können nur als angemessen, sinnvoll, 42  Dazu Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  343 ff., 349, 400; näher zur Relativität der „Gerechtigkeit“ B. Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit – Fehldeutungen eines Begriffs, 3.  Aufl., 2009, 159–180 und passim. 43   Vgl. nur K. Acham, Sozialwissenschaften und Wertgeschehen, sowie H. Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, beide in E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 12.  Aufl. 1993, 165 ff.,196 ff.; Th. Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 14.  Aufl. 1991. – Zur Bedeutung für die Jurisprudenz vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  294 ff., 579 ff.

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systemgerecht diskutiert und begründet werden.44 Eine absolute Richtigkeit von Gesetzesnormen, richterrechtlichen Fallnormen oder dogmatischen Sätzen scheidet daher aus. Es gibt also kein absolut „richtiges“, „wahres“ oder „gerechtes“ Recht. Letzteres zeigt schon die bereits erwähnte Erfahrung, dass immer wieder gleichgelagerte Streitfälle von verschiedenen Gerichten oder auch Senaten desselben obersten Bundesgerichts gegensätzlich entschieden werden. Nicht selten „novellieren“ oberste Bundesgerichte ihre eigene Rechtsprechung zu demselben Problem. So hat das BAG etwa in seiner Rechtsprechung zum Begriff des „leitenden Angestellten“ und zur Arbeitnehmerhaftung mehrfach geschwankt. Auch die Gesetzgebung regelt manchmal die gleiche Materie in kurzer Frist mehrfach neu und unterschiedlich, neuerdings sogar in derselben Regierungskoalition. Menschliches Erkennen ist im Bereich der Wissenschaften niemals abgeschlossen. Selbst das Erfahrungswissen der Naturwissenschaften befindet sich nach der Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts, das sich insoweit der skeptischen Erkenntnistheorie des „Kritischen Rationalismus“ von Xenophanes und Karl R. Popper anschließt, „immer nur auf dem neuesten Stand des möglichen Irrtums.“45 Dieser Vorbehalt gilt erst recht für die Aussagen der juristischen Dogmatik. Diese haben wegen ihrer Wertbezogenheit und Geschichtlichkeit keinen höheren, eher einen geringeren Gewissheitsgrad als naturwissenschaftliche Aussagen. Deshalb gibt es keine absolut wahren oder richtigen dogmatischen Lehrsätze im Sinne zeitlos gültiger Erkenntnisse. Sie stehen in der Regel in einer Konkurrenz zu anderen Lösungsmodellen. Es geht dann um ein Mehr oder Weniger an Zweckmäßigkeit, Vertretbarkeit, Systemrationalität im Hinblick auf die Widerspruchsfreiheit zur Gesamtrechtsordnung und auf die erwartbaren Folgen.

E.  Der Wandel der Dogmatik in der Wende vom Gesetzesstaat zum Richterstaat I.  Die Führungsrolle der letzten Instanzen Der Zwang der Gerichte, alle systemrelevanten Streitfragen, die ihnen vorgelegt werden, alsbald zu entscheiden, rückt die Autorität der letzten Instanzen in den Mittelpunkt der Betrachtung.46

1.  Der Siegeszug des Richterrechts Die Bundesrepublik Deutschland vollzieht in den letzten Jahrzehnten fortschreitend einen Wechsel vom Gesetzesstaat zum Richterstaat.47 Das Kodifikationszeitalter des   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  109 ff., 117 ff., 290a ff.   BVerfGE 49, 89 (143) – Kalkar [1978] = NJW 1979, 359, 363. Es fällt auf, dass das Gericht hier die Kernthese der Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus zitiert, ohne ihren Autor Popper zu erwähnen. Vgl. etwa K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1986, 41 ff., 55 ff. 46   Rüthers, Heimliche Revolution (Fn.  4 ). 47  Vgl. B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, in: E. Picker/ 44 45

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18. und 19. Jahrhunderts wurde, beginnend mit der Wende zum 20. Jahrhundert und dem 1. Weltkrieg, zunehmend abgelöst durch eine Epoche staatlicher Maßnahme­ gesetze und richterlicher Normsetzungen. Als erste Schritte dieses Übergangs sind zu nennen die richterliche Zulassung der „Geschäftsgrundlage“ (clausula rebus sic stantibus) als Leistungseinwand gegen den Willen des BGB-Gesetzgebers sowie das Aufwertungsurteil des Reichsgerichts vom 28. November 1923.48 Die Einzelheiten sind bekannt und können hier dahinstehen. Es genügt die zusammenfassende Hypothese: Der überwiegende Teil des heute geltenden Rechts ist nicht mehr das Gesetzesrecht, sondern das Richterrecht der letzten Instanzen.49

Sie ist auf allen Rechtsgebieten verifizierbar, besonders aber dort, wo die einschlägigen normativen Regelungen schmal sind (Beispiel: Verfassungsrecht) oder gänzlich fehlen, weil die Regelungsbereitschaft der Gesetzgebung – aus welchen Gründen auch immer – gering ist (Beispiele: Arbeitsgesetzbuch, Arbeitskampfrecht). In allen Bereichen mit geringer gesetzlicher Regelungsdichte, das sind zunehmend fast alle Rechtsdisziplinen, ist für alle Beteiligten und Betroffenen die Frage entscheidend: Wie wird die letzte Instanz entscheiden? Danach versuchen sie ihr Verhalten im Rechtsverkehr auszurichten. Eine zweite Hypothese: Der quantitative Vormarsch und der qualitative Vorrang des Richterrechts haben inzwischen den Begriff und die Entstehungsweisen der Rechtsdogmatik inhaltlich verändert.

In den weiten genannten Bereichen sind die Richter der letzten Instanzen in einem früher unbekannten Ausmaß zu „professionellen“ Normsetzern, zu Ersatzgesetzgebern geworden. Das gibt der Frage, wie juristische Dogmatik entsteht, eine neue Dimension. Wird sie von übergeordneten Instanzen geschaffen und vorgegeben oder ist sie das Produkt eines interaktiven historischen Erfahrungs- und Erkenntnisprozesses, auf dessen Ergebnisse die Gesetzgebung, die Gerichte und das Schrifttum gleichermaßen einwirken? Dogmatik als ausschließliche Emanation autoritärer staatlicher Vorgaben, das erscheint als eine auf den ersten Blick gerade in liberalen Verfassungsstaaten wenig überzeugende Vorstellung. Andererseits prägen die Entscheidungen der letzten Instanzen mit ihren darin aufgestellten Fallnormen unverkennbar die Inhalte der Rechtsordnung und zugleich damit die Prinzipien der Rechtsdogmatik. Man muss sich nur an die „Mutlangen“Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erinnern, in der eine 80-jährige Rechtsprechungstradition mit der Veränderung einer Richterstimme im zuständigen Senat entgegen der eigenen früheren Rechtsprechung beiseite geschoben wurde.50 Der ursprüngliche Sinn des Wortes „Dogma“ gewinnt mit dem Wandel zum Richterstaat

B. Rüthers (Hrsg.), Recht und Freiheit, Symposion zu Ehren von Reinhard Richardi, 2003, 111–136; gekürzte Fassung in JZ 2002, 365 ff. 48  Dazu B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7.  Aufl. 2012, 13 ff., 36 ff., 66 ff. 49   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  41 ff., 235–258, 822 ff., 865 ff. 50   BVerfGE 92, 1 [1995] gegen BVerfGE 73, 206 [1986]. Vgl. die eingehende Kommentierung bei H. Tröndle/T. Fischer, StGB, 49.  Aufl. 1999, §  240, Rdnr.  2 b ff. Ferner W. Offenloch, Erinnerung an das Recht – Der Streit um die Nachrüstung auf den Straßen und vor den Gerichten, 2005.

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eine gesteigerte Aktualität.51 Es bedeutete in der Antike und jetzt erneut verstärkt eine autoritative Verfügung, einen verbindlichen Lehrsatz. Die letzten Instanzen setzen heute mit ihren Fallnormen gesetzgebungsähnliche rechtspolitische Akte. Sie ändern geltendes und schaffen neues Recht. Die Beispiele sind Legion (c.i.c., p.V.V., „Herrenreiter“, „Mutlangen“, „Arbeitnehmerhaftung“, „informationelles Selbstbestimmungsrecht“, u. v. a.). An diesen Beispielen bewährt sich die Begründung der Rechtsgeltung, die Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert in seinem Hauptwerk „Leviathan“ gegeben hat. Der Siegeszug des Richterrechts führt erneut zu der Feststellung: „Auctoritas non veritas facit legem.“ 52 Die von Richtermacht getragene Autorität, nicht die Wahrheit, schafft das Recht.

2.  Verfassungswandel und Dogmatikbegriff Es ist keine Übertreibung, in der hier angedeuteten Wendung zum Richterstaat einen von der Staatslehre wenig beachteten und unterschätzten, einschneidenden Verfassungswandel zu sehen. Die Gewaltentrennung, wie sie Art.  20 Abs.  3 GG vorsieht, hat ein neues Gesicht erhalten. Die Normsetzungsmacht ist faktisch in einem bisher unbekannten Ausmaß von der Gesetzgebung auf die Justiz übergegangen. Wegen der Unabhängigkeit der Richter scheidet eine politische Kontrolle ihrer Amtsführung aus. Sie werden an den Bundesgerichten auf Lebensdienstzeit, am Bundesverfassungsgericht auf zwölf Jahre gewählt. Die Normsetzung liegt damit in der Bundesrepublik in einem erheblichen Umfang nicht mehr beim Parlament, sondern bei den Richterinnen und Richtern der letzten Instanzen. Sie ist in dem Ausmaß, in dem die Rechtsordnung immer mehr aus Richterrecht besteht, eine Domäne von Juristen geworden. In diesem Bereich kann die Bundesrepublik nur noch sehr eingeschränkt als eine parlamentarische Demokratie bezeichnet werden. Die Normsetzung ist zu erheblichen Teilen in die Hände einer „Juristenaristokratie“, besser: „Richteraristokratie“ gewandert. Die Kriterien der erforderlichen Ausbildung, Qualifikation und Berufserfahrung, das Wahlverfahren und ein erforderliches Mindest­ alter bestätigen diese Klassifikation. Mit dem Vordringen des Richterrechts hat sich auch die Dogmatik verändert. Solange das Gesetzesrecht den Rechtsbegriff vorrangig prägte, bezeichnete der Dogmatikbegriff jenen übergreifenden Erklärungszusammenhang der Rechtsordnung, der, wie schon Pomponius gesagt hat, aus dem Gesetz allein nicht zu entnehmen war. Die Rechtswissenschaft suchte durch „kluge Interpretation“ ein einheitliches „inneres System“, eine in sich stimmige, widerspruchsfreie Gesamtregelung des jeweiligen Lebensbereiches zu entwickeln. Zentraler Orientierungspunkt waren dabei die Regelungsziele der Gesetzgebung. Die Ausweitung des Richterrechts bedeutete zugleich einen Rückzug, mindestens ein Zurücktreten der Gesetzgebung bei der Festlegung der Regelungsziele. Die Leitlinien der Rechtspolitik werden in der Realität nicht mehr primär von der Gesetzgebung, sondern in zunehmendem, erheblichem Umfang von der Justiz gezogen. Sie 51

 Dazu Rüthers, Heimliche Revolution (Fn.  4 ), 86 ff., 139 ff.   Th. Hobbes, Leviathan, 26. Kap.

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bestimmt damit auch Fixpunkte der sich wandelnden Dogmatik. Ein Beispiel dafür ist etwa die Veränderung der Schutzbereiche der Medienfreiheit und des individuellen Ehrenschutzes nach Art.  1, 2, und 5 GG. Ein anderes bildet die fast uferlose richterrechtliche Ausdehnung des Kündigungsschutzes bei personen- und verhaltens­ bedingten Kündigungen entgegen den gesetzgeberischen Zielen des Kündigungsschutzgesetzes.53 Dieser Trend, die Normsetzung über die Grenzen der Gewaltentrennung hinaus auf die Justiz zu verlagern, wird bestärkt durch die Praxis des Bundesverfassungs­ gerichts, bei der Normenkontrolle nicht mehr nur die Verfassungsmäßigkeit erlassener Gesetze zu prüfen, sondern weit darüber hinaus dem Parlament Richtlinien vorzuschreiben, wie die künftige Gesetzgebung auf dem fraglichen Gebiet auszusehen habe, damit sie vor dem Gericht bestehen könne.54 Die Entscheidungen aller letzten Instanzen haben für den Rechtsverkehr gesetzesähnliche Wirkungen, gleich ob sie im Lückenbereich ergehen oder eine gesetzlich Wertung oder eine bestehende Rechtsprechung abändern. Dieser Effekt wird durch die Verfahrensgesetze aller Rechtsgebiete, durch den Zulassungszwang für Rechtsmittel und durch Vorlagepflichten bei abweichenden Entscheidungen der Instanzgerichte untermauert.55 Den letzten Instanzen werden so Richtlinienfunktionen zugewiesen. Im Ergebnis bewirken die Verfahrensgesetze, dass die Gesetzesbindung der Gerichte (Art.  20 Abs.  3, 97 Abs.  1 GG) weniger wirksam sanktioniert ist als die Bindung der Instanzgerichte an das Richterrecht der letzten Instanzen. Die obersten Bundesgerichte haben so eine fast absolute Führungsrolle für die Entwicklung der Rechtsordnung und der Rechtsdogmatik übernommen. Sie sind in dieser Funktion zu Konkurrenten der Gesetzgebung geworden, nicht selten zu überlegenen Konkurrenten. Insofern hat sich gegenüber der von den Schöpfern des Grundgesetzes angestrebten Kompetenzverteilung nach Art.  20 Abs.  3 und 97 Abs.  1 GG ein stiller, aber tiefgreifender Wandel vollzogen. Die Parteien haben das längst erkannt. Der leidenschaftlich und oft mit seltsamen Mitteln geführte politische Kampf um die Besetzung hoher Richterämter ist dafür ein klares Zeichen.56 Dieser Kampf hat inzwischen, nicht mehr nur in Einzelfällen, erkennbare, problematische Auswirkungen auf die fachliche Eignung der Gewählten. Der Trend geht, wie mehrere Konkurrentenklagen zeigen, bei den großen Parteien dahin, der Parteitreue und der politisch-ideologischen Zuverlässigkeit den Vorzug vor der Fachkompetenz und der richterlichen Unabhängigkeit der Kandidaten zu geben.57 Ein über den Bundesrat eingebrachter Entwurf zur Reform der Richterwahl zu den Bundesgerichten hätte geringe Realisierungschancen. Für die Ausbildung einer einheitlichen Dogmatik bedeutete das Vordringen des Richterrechts in allen Disziplinen ein gesteigertes Risiko der Unübersichtlichkeit und der Widersprüchlichkeit des geltenden, gemischten Normengefüges aus Geset53   Nachweise bei B. Rüthers, Vom Sinn und Unsinn des geltenden Kündigungsschutzrechtes, NJW 2002, 1601–1609. 54   Vgl. dazu eingehend W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie, NJW 2001, 1–10. 55   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  245 ff. 56  Näher B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, 365 ff. 57  Vgl. Rüthers, ebd.

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zes- und Richterrecht. Schon bei der parlamentarischen Gesetzgebung kommt es immer häufiger zu Wertungswidersprüchen („Kollisionslücken“) und Verwerfungen innerhalb eines Gesetzes oder zwischen verschiedenen Gesetzgebungsakten. Aber die Vorarbeiten der beteiligten Ministerien mindern immerhin dieses Risiko. Ganz anders ist das beim Richterrecht. Die Multiplikation der Ersatzgesetzgeber schafft hier erhebliche Gefahrenquellen. Widersprüchliche Auffassungen und Entscheidungen der verschiedenen Senate eines obersten Bundesgerichts, sogar des Bundesverfassungsgerichts, sind keineswegs seltene Ausnahmen. Ein besonderes Kapitel ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „horror ­pleni“. Der Begriff bezeichnet die Scheu einzelner Senate von Bundesgerichten, bei ge­planten Abweichungen von der Rechtsprechung anderer Senate oder ihres Großen Senates, diesen, wie gesetzlich vorgeschrieben, vorher anzurufen. Es geht auch da um eine Verfassungsfrage, nämlich die des gesetzlichen Richters. Der erste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in Fragen des Arbeitskampfrechts die Rechtsprechung seines Großen Senats zur Kampfparität und zum „ultima-ratio“Prinzip durch seine Rechtsprechung seit 1974 im Ergebnis buchstäblich auf den Kopf gestellt, ohne ein einziges Mal seine zahlreichen Abweichungen von den Grund­ sätzen des Großen Senats diesem vorher vorzulegen, wie es das Arbeits­gerichtsgesetz in §  45 Abs.  2 zwingend vorschreibt. Trotz frühzeitiger, wiederholter Kritik an diesen fortgesetzten Gesetzesverstößen58, die im Hinblick auf Art.  101 Abs.  1 Satz  2 GG („gesetzlicher Richter“) zugleich Verfassungsverstöße darstellen, hat der Senat bisher jede Begründung dieser rechtswidrigen Strategie verweigert. Die Folgen der gestörten Kampfparität sind u. a. an der seit 1980 ständig gewachsenen Massenarbeitslosigkeit abzulesen, die auch der Sachverständigenrat in seinen Jahresgutachten seit vielen Jahren wesentlich den verunglückten Regelungen von Teilen des Arbeitsrechts zurechnet.59

II.  Dogmatische Irrtümer im Richterrecht Wahre oder absolut richtige Problemlösungen hat nach allem auch das Richterrecht der letzten Instanzen nicht zu bieten. Es gibt sie nicht. Aber es gibt nachweisbar gesetzwidrige, zweckwidrige, widersprüchliche, auf Denkfehlern beruhende und unangemessene, also „falsche“ Lösungen und Entscheidungen. Auch Bundesgerichte können irren. Aber sie irren mit einer besonderen, verfahrensgesetzlich gesicherten Eigenart: Sie irren rechtskräftig. Die Feststellung ist von erheblicher juristischer Tragweite. Auch irrige, etwa gesetz-, verfassungs- oder systemwidrige Entscheidungen der letzten Instanzen gestalten durch ihre Rechtskraft und Vollziehbarkeit das Rechtsleben, die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit. Rechtspolitisch engagierten Bundesrichtern ist diese Eigenschaft ihrer Entscheidungen durchaus bewusst und wichtig.

58   B. Rüthers, Beschäftigungskrise und Arbeitsrecht, 1996, 106 ff.; ders., Der Abbau des „ultimaratio“Gebotes im Arbeitskampfrecht durch das Bundesarbeitsgericht, Der Betrieb 1990, 113 ff. 59   B. Rüthers, Mehr Beschäftigung durch Entrümpelung des Arbeitsrechts?, NJW 2003, 546–552.

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III.  Die Rolle der Rechtswissenschaft Die Ausarbeitung der juristischen Dogmatik war – auf der Grundlage der historischen Rechtsschule Friedrich Carl von Savignys im 19. Jahrhundert und später – eine primäre Aufgabe der Rechtswissenschaft, bei der ihr eine unbestrittene Führungsrolle zukam. Das ging so weit, dass den gelehrten Juristen die Kompetenz zukam, kraft ihres Fachwissens „Juristenrecht“ zu schaffen. Das hat sich mit dem angedeuteten Trend vom Gesetzesstaat zum Richterstaat einschneidend geändert.

1.  Die veränderte Dienst- und Angebotsfunktion Die Jurisprudenz ist diesem Wandel bereitwillig gefolgt. Dabei ist oft die kritiklose Gläubigkeit gegenüber richterrechtlichen Neuschöpfungen der Bundesgerichte auffällig. Die Rechtswissenschaft analysiert und konstruiert die juristische Dogmatik nicht mehr primär nach den Wertmaßstäben der Gesetzgebung und in der Tradition bewährter Lehre und Überlieferung, sondern in einer nicht selten dienstfertigen Hurtigkeit nach den Normsetzungsakten und Fallnormen der letzten Instanzen. Besonders bemerkenswert ist dabei die jahrzehntelang geübte kritikarme Folgsamkeit der deutschen Rechtslehre, auch des Staatsrechts, gegenüber den vielfachen Neuschöpfungen des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Grundrechte und der gesamten Verfassungsdogmatik. Die Dogmatik des geltenden deutschen Rechts wird zunehmend durch eine kurzatmige „Dogmatik des Richterrechts“ der letzten Instanzen bestimmt. Das ist nicht eine Dogmatik der gesetzlichen Rechtsordnung und auch nicht primär eine solche der Rechtswissenschaft. Was so für die nationale Rechtsordnung festzustellen ist, gilt in ähnlicher Weise für das Europarecht durch die Führungsrolle des EuGH und des EGMR. Es mag dahinstehen, ob die Gerichte selbst durch ihre Entscheidungen die Dogmatik schaffen, oder ob sie lediglich die Fixpunkte der Dogmatik festlegen.60 Sie sind weiterhin auf den kritischen Diskurs mit der Jurisprudenz angewiesen. Die Arbeit an der Dogmatik bleibt also eine Aufgabe der Rechtswissenschaft. Sie muss und wird sich aber zunehmend auf die richterlichen Entscheidungen konzentrieren, weil deren Rechtskraft die Rechtsordnung (um-)gestaltet. Unzweifelhaft ist, dass das Richterrecht den entscheidenden Einfluss auf die Dogmatik hat. Den von der Rechtswissenschaft entwickelten dogmatischen Thesen und Lösungsvorschlägen kommt keine vergleichbare Autorität zu, wie sie dogmatisch bedeutsame Entscheidungen der letzten Instanzen entfalten. Die moderne Rechtswissenschaft kann wegen der ihr fehlenden Normsetzungskompetenz keine juristische Dogmatik „schaffen“. Sie wirkt gleichwohl bei deren Entstehung und Entwicklung durch ihre Analysen, ihre systematische Ausarbeitung und Verfeinerung mit. Das geschieht nicht kraft ihrer Autorität, sondern durch die Überzeugungskraft ihrer Argumente. Diese ist besonders dort durchsetzungsmächtig, wo sie dem Richterrecht innere Widersprüche, Denkfehler und zweckwidrige Fehlsteuerun­gen nachweist. 60

  Vgl. oben E. I. 2.

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Das wichtigste Erkenntnismittel der Rechtswissenschaft ist der offene Diskurs, der sich an die Thesen und Lösungsmuster der Justiz und der Rechtslehre anschließt und der potentiell auch die Gerichte einschließt. Allerdings ist zu beobachten, dass die Bundesgerichte zunehmend auf eine Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen im Schrifttum zu ihren Entscheidungen verzichten. Das gesteigerte Macht- und Selbstbewusstsein der „Ersatzgesetzgeber“ im Siegeszug des Richterrechts führt dazu, dass in den Entscheidungen der letzten Instanzen in den letzten Jahren bevorzugt, bisweilen gar ausschließlich, zustimmende Literaturbeiträge aus den eigenen Reihen der an den Entscheidungen beteiligten Richter zitiert und kritische Stimmen schlicht verschwiegen werden. Eine solche Immunisierungsstrategie in der Form der organisierten „Hofjuristerei“ ist der sachgerechten Funktion der Obergerichte wenig zuträglich. In dem notwendigen kritischen Dialog, bilden sich neben den autoritativen Instanzen (Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit), die über originäre Regelungsmacht ver­ fügen, auch argumentative Kompetenzhierarchien heraus. Die Gegner der jeweils „herrschenden Meinung“ in der Lehre pflegen diese gelegentlich als „herrschendes Zitierkartell“ anzugreifen, solange sie nicht selbst zu dominantem rechtspolitischen Einfluss gelangt sind.61 In der Fachwelt werden unterschiedliche Auffassungen in einem Meinungsstreit über rechtspolitische und zugleich dogmatische Fragen nicht nur gezählt, sondern nach der Überzeugungskraft der Argumente und der ihnen zugrundeliegenden Vorverständnisse gewogen.62 Daneben spielt das auf erbrachte wissenschaftliche Leistungen gegründete Ansehen des jeweiligen Autors einer Meinung eine Rolle. Schließlich wird die Durchschlagskraft einer dogmatischen These auch von der sprachlichen Qualität ihrer Präsentation, vom Ansehen des Verlages oder des Publikationsorgans, also vom Zugang zur und von der Akzeptanz in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit beeinflusst. Auf diese Weise bildet sich im Laufe einer problemorientierten juristischen Diskussion das heraus, was mit Kritik und Vorbehalt eine „herrschende“ oder doch „überwiegende“ Meinung genannt werden kann.63 Auch bei diesem Prozess kommt der Rechtsprechung der zuständigen letzten In­ stanzen (Bundesgerichte, Bundesverfassungsgericht) bei realistischer Betrachtung die bereits geschilderte Führungsrolle zu. Die rechtskräftigen Irrtümer der letzten In­ stanzen setzen sich in den Kommentaren und Handbüchern ungeachtet ihrer Widersprüche und Fehlsteuerungen als „herrschende Meinung“ durch, auch wenn sie im Schrifttum überwiegend als irrig kritisiert und abgelehnt werden.

2.  Die Kritikfunktion Dogmatische Sätze haben, wenn sie zur herrschenden Meinung avanciert sind, die Chance allgemeiner Anerkennung und „Gültigkeit“ im wissenschaftlichen Diskurs und, mehr noch, in der Rechtspraxis, weil sie sich in Lehre und Rechtsprechung   Vgl. etwa R. Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, KJ 1974, 369 ff.; W. Däubler, Das Arbeitsrecht I, 8.  Aufl. 1986, 35 f.; vgl. auch U. Wesel, Juristische Weltkunde, 7.  Aufl. 1994, 159, 189 f. 62   F. Eckholt-Schmidt, Legitimation durch Begründung, 1974, 16 ff. und passim. 63  Kritisch Wesel, Juristische Weltkunde (Fn.  61), 159, 189 f. 61

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bewährt haben. Ihre Gültigkeit beruht darauf, dass sie von vielen geprüft und akzeptiert und dass sie über die Judikate der letzten Instanz de facto das Rechtsleben gestalten. Die Rolle der Rechtswissenschaft besteht demnach u. a. darin, ständig neue und untereinander konkurrierende Entwürfe für Lösungsmodelle und dogmatische Grundsätze bereitzustellen, zu analysieren und kritisch zu bewerten. Die normsetzenden Instanzen, also Gesetzgebung und Gerichte, wählen aus diesem Angebot64 die ihnen plausibel und zweckgerecht erscheinenden Lösungen aus und wandeln sie durch autoritative Normsetzungsakte in geltendes Recht um.

3.  Dogmatik und Geschichte Die Rechtswissenschaft hat bei dieser Angebots- und Kritikfunktion gegenüber den normsetzenden Instanzen eine disziplinübergreifende Kontrollfunktion im Blick auf die Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit des dogmatischen Systems. Sie erschöpft ihr Wissen und ihre Aufgabe nicht in der Tagespolitik aktueller rechtspolitischer Reformvorhaben, die nicht selten von wechselnden, rechtsfremden Erwägungen mitbestimmt werden, etwa den Machterhaltungsinteressen einer Regierungskoali­ tion. Die Geschichte der Rechtsdogmatik hingegen speichert die Erfahrungen und Einsichten der Staats- und Justizpraxis aus Jahrhunderten. Damit wird die Unverzichtbarkeit historischen Denkens für das Gelingen aller dogmatischen Bemühungen deutlich. Geschichtslose Rechtsdogmatiken und Methodenlehren verführen leicht zu wissenschaftlichen „Blindflügen“. Sie steigern das Risiko, das Recht tagespolitischen Beliebigkeiten und vermeidbaren Wertungswidersprüchen zu öffnen. Sie verkennen und verdrängen wichtiges juristisches Erfahrungswissen. Die historisch fundierte Dogmatik ist – wie die gesamte Rechtsgeschichte – eine eigenständige Erkenntnisquelle für die Lösung juristischer Probleme. Sie ist unerlässlich für eine sachgerechte wissenschaftliche Arbeit in Theorie und Praxis.65 Die wechselvollen historischen Erfahrungen und Verstrickungen der deutschen Juristen in die Verfassungsumwälzungen des 20. Jahrhunderts lassen es schwer verständlich erscheinen, dass es immer noch gängige Lehr- und Handbücher für die Juristenausbildung und die Rechtspraxis gibt, welche die historischen Umbrüche, Umdeutungen und Rechtsperversionen der deutschen und vieler europäischen Rechtsordnungen verschweigen, vernebeln und verdrängen. Auch für ganze Wissenschaftsdisziplinen gilt der Erfahrungssatz, dass ohne die Erkenntnis und Annahme der historischen Herkunft eine sinnvolle Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft nicht gelingen kann.

  N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 24.  Zutreffend Picker, Rechtsdogmatik (Fn.  17), 763 ff, 821 ff. mit Fn.  206. Vgl. dazu B. Rüthers, Diskurs als Motor des Erkenntnisfortschritts, JZ 2015, S.  240–246. 64 65

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4.  Dogmatik und Methodenwahl Besondere Bedeutung hat das geschichtliche Denken für die Methodenwahl der Gesetzesauslegung und für die zutreffende, verfassungsgemäße Erfüllung des Rechtsstaatsgebotes (Gewaltentrennung) nach Art.  20 Abs.  3, 97 Abs.  1 GG bei der Rechtsanwendung.66 Ich erinnere an meine Eingangshypothese: 67 Methodenfragen sind im Kern Verfassungsfragen, nämlich Fragen der Machtverteilung und Kompetenzverschiebung unter den Staatsgewalten.

Die gegenwärtig vom Bundesverfassungsgericht und von allen obersten Bundes­ gerichten bejahte und geübte,68 irreführend als „objektive Auslegung“ bezeichnete Methode der Rechtsanwendung ist im Kern dezidiert ahistorisch und subjektiv. Sie setzt die Eigenwertungen der Entscheider an die Stelle derer der Gesetzgebung und nimmt nach Belieben und bewusst die Vereitelung von Regelungszielen und Normzwecken der Gesetzgebung in Kauf. Nüchtern gesehen gibt diese Methode den Rechtsanwendern die Möglichkeit, unter dem Etikett einer scheinbar gesetzesgebundenen Operation statt der Auslegung des Gesetzgebungswillens eine Einlegung eigener rechtspolitischer Konzepte zu betreiben. Jede verfassungsgemäße Gesetzesauslegung hat damit zu beginnen, dass der Rechtsanwender den historischen Normzweck der Gesetzgebung und deren Regelungsziele zu erforschen sucht. Wer darauf verzichtet, wie die scheinbar „objektive“ Auslegung im Regelfall, hält den Regelungswillen und das Gestaltungsziel der Legislative (des Parlaments als Repräsentant des Souveräns) für vernachlässigenswert. 66  Eingehend Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  640 ff., 696 ff., 744 ff., 777 ff., 822 ff., 936 ff. Zum Streit zwischen subjektiver und objektiver Auslegungsmethode siehe auch: K. F. Röhl/ H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3.  Aufl. 2008, §  79. 67   Oben unter A. Genauso gesehen („Methodenfragen sind Machtfragen“) von R. Gaier, Zivilrechtliche Dogmatik und Verfassungsrecht, in: T. Lobinger/A. Piepenbrock/M. Stoffels (Hrsg.), Zur Inte­ grationskraft zivilrechtlicher Dogmatik, 2014, 85 (94–98); R. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes, 2009, 51 (67). 68   In zwei neueren Entscheidungen könnte sich freilich ein gegenläufiger Trend abzeichnen, der sich bislang aber noch nicht allgemein durchgesetzt haben dürfte. In BVerfGE 122, 248 – Protokollrüge [2009] hatte der Zweite Senat eine Rechtsfortbildung des Großen Senats des BGH in Strafsachen zum Verbot der Rügeverkümmerung nach §  247 StPO (BGHSt 51, 298) gebilligt. In einem Sondervotum beklagten die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio, dass sich der Große Senat des BGH der gesetzgeberischen Grundentscheidung entgegenstelle und sie durch eine eigene als vorzugswürdig empfundene Konzeption ersetze. Dadurch überschreite er die verfassungsrechtlichen Grenzen der richter­ lichen Rechtsfortbildung, vgl. BVerfGE 122, 248 (287 ff., Tz.  129 ff.) [2009]. In diesem Sondervotum deutet sich eine Relativierung der objektiven Auslegung an, vgl. B. Rüthers, Trendwende im BVerfG?, NJW 2009, 1461; G. Breaucamp/L. Treder, Methoden und Technik der Rechtsanwendung, 2.  Aufl. 2011, S.  48 f. Wenig später hat dann der Erste Senat die Auslegung des BGH zu §  1578 Abs.  1 BGB (Geschiedenen-Unterhalt, wandelbare eheliche Lebensverhältnisse) nach der sog. Dreiteilungsmethode für verfassungswidrig erklärt, BVerfGE 128, 193 (Tz.  52 ff.) – Geschiedenen-Unterhalt [2011]. Die Auslegung durch den BGH respektiere nicht mehr die gesetzgeberische Grundentscheidung. Manche Autoren fragten bereits, ob diese Entscheidung das Ende der objektiven Auslegung bedeute, so etwa M. Kötter, BVerfG: Das Ende der „objektiven“ Auslegungsmethode?, www.verfassungsblog.de vom 14.2.2011. Skeptischer indes R. Gaier, Zivilrechtliche Dogmatik (Fn.  67), 85 (90 f.): Es sei zwar eine partielle Renaissance des historischen Gesetzgebers in der Methodenlehre auszumachen, doch in späteren Entscheidungen scheine das BVerfG „auf den konsequenten Weg einer in erster Linie objektivierten Betrachtung zurückgefunden zu haben.“

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Er will nicht einmal wissen, wann und warum er vom Willen der Gesetzgebung abweicht. Verfassungsgemäße Auslegung im Sinne des Demokratiegebots (Normsetzungsprärogative des Parlaments) und der rechtsstaatlichen Gewaltentrennung erfordert also als ersten Schritt immer den Versuch der Erforschung des historischen Normzwecks. Das schließt zwei Fragen ein: – Welches war die Ausgangslage, welche die Gesetzgebung zum Einschreiten veranlasste? –  Welche Regelungsziele verfolgte die Gesetzgebung? Diese Fragen sind nur der erste, nicht der letzte Schritt einer verfassungsgemäßen und methodengerechten Rechtsanwendung. Aber ohne diesen Schritt wird die Rechtsanwendung leicht zu einer Usurpation richterlicher Normsetzungsmacht, zur Verdrängung gesetzlicher Wertungen durch willkürliche Eigenwertung der Gerichte. Die Frage nach dem ursprünglichen Normzweck zeigt, dass die Jurisprudenz insoweit unverzichtbar eine geschichtliche Wissenschaft ist. Eine Rechtsnorm verstehen heißt zuerst, die Ausgangslage und das Regelungsziel zu erkennen, welche der Anlass für die Gesetzgebung waren. Dass die Methodenwahl einen entscheidenden Faktor für den unlösbaren Zusammenhang von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte darstellt, wird nicht immer mit genügender Deutlichkeit gesehen.69 Nur die Methode, die zunächst die Regelungsziele der historischen Gesetzgebung zu erforschen sucht, kann die Rechtsordnung aus dem Zusammenhang ihrer Ausgangssituation verstehen. Wer die Rechtsdogmatik als ein historisch gewachsenes und veränderbares Ordnungsgefüge anerkennt, muss der historischen Auslegung einen unverzichtbaren Rang, allerdings nicht einen absoluten Vorrang einräumen. Noch ein anderer Umstand macht geschichtliches Denken für Juristen unverzichtbar. Die Abfolge willkürlicher „unbegrenzter“ Aus- und Einlegungen in Deutschland und in Europa im letzten Jahrhundert zeigt den Lebenswert der Rechtsgeschichte, wie Heinrich Mitteis70 das genannt hat, nämlich die Notwendigkeit einer historischen Besinnung und Gebundenheit von Wissenschaft und Praxis an bewährte Lehre und Überlieferung.

F.  Was leistet Rechtsdogmatik für die juristische Praxis? I.  Ordnungs- und Systematisierungsfunktion Die Dogmatik ordnet den umfangreichen, ständig wachsenden Rechtsstoff nach systematischen Gesichtspunkten. Er ist heute zunehmend in zahlreichen, oft mangelhaft und widersprüchlich konzipierten Einzelgesetzen und in einer vielfach unübersehbaren Fülle letztinstanzlicher Entscheidungen zersplittert. Ohne die in der Dogmatik geleistete Systematisierung könnte er nicht erfasst, analytisch durchdrungen und einheitlich angewendet werden. Erst diese Ordnung ermöglicht den Einblick in das 69  Vgl. Picker, Rechtsdogmatik (Fn.  17). 763 ff., 823 mit Fn.  206. Pickers Zitat meiner Rechtstheorie (Rdnr.  383, 385) übersieht die relevanten Abschnitte in Rdnr.  778–821. 70   H. Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, 1947.

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innere Wertungssystem der Gesamtrechtsordnung, das den Maßstab bildet, wenn nach „Gesetz und Recht“ im Sinne von Art.  20 Abs.  3 GG entschieden werden soll. Durch die Dogmatik wird das Recht verständlich, lehrbar, lernbar und anwendbar.

II. Stabilisierungsfunktion Dogmatische Sätze bieten Lösungsmuster für bestimmte Entscheidungsprobleme in den unterschiedlichen Regelungsbereichen des Rechts. Sind sie als „gültig“ anerkannt, so ermöglichen sie gleiche Entscheidungen für dieselben Fallgruppen über längere Zeiträume. Eine ausgearbeitete Dogmatik bestärkt die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheide, also die Rechtssicherheit, besonders in gesetzlich nicht eindeutig geregelten Fragen. Dogmatik fördert und stabilisiert die Einheit der Rechtsordnung.

III. Entlastungsfunktion Die Anzahl möglicher und vertretbarer Lösungsansätze für bestimmte Regelungsprobleme ist oft erheblich. Gäbe es keine Dogmatik, so müssten in jedem Streitfall alle denkbaren Lösungen neu diskutiert werden. Die Dogmatik hält für die bekannten Rechtsfragen bewährte und anerkannte Lösungsmuster bereit. Die Gerichts­ praxis kann darauf zurückgreifen und deshalb darauf verzichten, bei jeder Entscheidung die Wertungsfragen hinsichtlich aller möglichen Lösungswege erneut zu prüfen. Die Dogmatik bewirkt also für die Alltagspraxis eine erhebliche Entlastung.

IV. Negationsverbot Dogmatische Sätze sind das Ergebnis vollzogener und bewährter kritischer Analysen und Abwägungen, die deshalb in Rechtsprechung, Lehre und Schrifttum Anerkennung gefunden haben. Sie können deshalb bei rationaler Aufgabenerfüllung in der Praxis nicht einfach negiert werden. Wer abweichend von der Dogmatik entscheiden will, ist dafür begründungspflichtig, muss also seine „besseren“ Argumente darlegen, wenn er fachlich ernstgenommen werden will. Es gilt das „Negationsverbot“. Eine Abweichung von der herkömmlichen Dogmatik ist im Interesse der Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung (Rechtssicherheit) nicht schon dann gerechtfertigt, wenn für die abweichende Lösung gleich gute Gründe sprechen. Die Argumente für die Abweichung müssen zusätzlich den Bruch mit der bewährten Lehre, also auch den Verlust an Vertrauen der Rechtsgemeinschaft in die bestehende und bisher anerkannte Rechtsordnung rechtfertigen. Wer gegen die geltende Dogmatik entscheidet, trägt dafür also eine beträchtliche Argumentationslast. Die Dogmatik begrenzt so die Freiheit der Juristen bei der Rechtsanwendung im Umgang mit dem geltenden Recht, also mit dem Gesetzesrecht, dem Richterrecht und den Grundsätzen der Dogmatik selbst. Vor allem begrenzt sie die „Elastizität der Interpretation“ im Sinne der freien Rechtslehre, also die unbegrenzte Dehnbarkeit des geltenden Rechts durch Auslegung und Rechtsfortbildung. Rechtsdogmatik

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schließt auch die Dogmatik einer verfassungsgemäßen, an die Grundsätze der Demokratie und der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung gebundenen Rechtsanwendung ein. Sie bestimmt also maßgeblich das Verhältnis zwischen Programm (Gesetz, Rechts­ prinzipien, dogmatische Grundsätze) und Entscheidung (Urteil). Sie definiert die Bedingungen und Grenzen richterlicher Beurteilungsspielräume, die Zulässigkeit neuer Konstruktionen und Argumentationsmuster für die Lösung von Rechtsproblemen.71 In dieser Funktion kann die Dogmatik über die Grenzen des geltenden Rechts hinauswirken. Auch Argumente für notwendige Reformen geltenden Rechts können in der Dogmatik begründet sein, wie Art.  1 Abs.  2 des schweizerischen Zivil­ gesetzbuches belegt.72

V.  Kritik- und Fortbildungsfunktion Juristen gelten nach einer verbreiteten Auffassung als konservativ bis reaktionär. Sie lösen die Streitfälle von gestern mit den Gesetzen von vorgestern, weil sie das „immer schon so gemacht haben“. Das ist einer der gängigen Vorbehalte gegen juristische Dogmatik. Die Dogmatik hat jedoch gerade nicht die Aufgabe, traditionelle Lösungsmuster für immer zu zementieren. Indem sie das geltende Recht systematisch ordnet, schafft die Dogmatik zugleich die Voraussetzungen für eine immer neu erforderliche, differenzierte Analyse und Kritik der Rechtsordnung in allen ihren Teilbereichen. Widersprüchlichkeiten werden sichtbar, können aufgedeckt und beseitigt werden. Neue Lösungen lassen sich in das bestehende System einfügen oder geben Anlass, dieses weiter zu entwickeln. Erst die in der Dogmatik ausgebreitete Komplexi­ tät der rechtlichen Wertungsgesichtspunkte gestattet die Kontrolle der mit ihr erzielten Ergebnisse und Entscheidungen sowie eine sachgerechte Folgenorientierung. Eine ausgearbeitete Dogmatik ist also die Basis der Rechtskritik, der Rechtsfortbildung und der Rechtserneuerung. Ein Erkenntnisfortschritt auf wissenschaftlicher Grundlage ist ohne die Dogmatik nicht möglich, auch wenn er dann mit den besseren Argumenten gegen sie durchgesetzt werden muss. Die Dogmatik liefert die begrifflichen Instrumente für eine wissenschaftlich durchdachte juristische Praxis. Sie enthält die „gespeicherte Diskussion“ der jeweiligen Sachfragen aus der Geschichte und bietet zugleich damit Anregungen für deren Kritik und für die Entwicklung neuer Lösungsansätze. Hier liegt ein Grund für die Freiheit von Forschung und Lehre in der Rechtswissenschaft. Sie hat die Aufgabe, Widersprüche und Scheinargumente in der herrschenden Lehre zu erkennen und die Offenlegung der verdeckten rechtspolitischen Wertmaßstäbe und Gestaltungsziele, die hinter den Scheinargumenten stehen, zu erzwingen. Eine Ausrichtung der Rechtswissenschaft allein auf die jeweiligen Bedürfnisse der gegenwärtigen Rechtspolitik und Justizpraxis sowie die Orientierung des Rechtsunterrichts allein an den   N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S.  24.   Art.  1 Abs, 2 ZGB: Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. 71

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letztinstanzlichen Entscheidungen, wie das Mode ist, verfehlt den wissenschaftlichen Auftrag der Disziplin. Geschichtslose Dogmatik ist ein programmierter Irrweg, besonders im Hinblick auf die kritische Funktion der Jurisprudenz gegenüber einer Justiz, die den Wandel vom Rechtsstaat zum Richterstaat vorantreibt. Kritik und Änderung der Gerichtspraxis sind notwendige Bestandteile rechtswissenschaftlicher, also dogmatischer Arbeit.73

G.  Rechtsdogmatik und Rechtspolitik Damit kommen wir, nach langer Vorbereitung, zum eigentlichen Kern des Themas. Welche Schlüsse sind aus dem bisher Dargelegten zu ziehen?

I.  Was heißt Rechtspolitik? Rechtspolitik nennen wir die Gestaltung gesellschaftlichen und politischen Lebens durch staatlich gesetzte und durchgesetzte Normen. Die Steuerungs- und Gestaltungsfunktion des Rechts wird heute in der Rechtstheorie als die wichtigste Aufgabe des Rechts und jeder einzelnen Rechtsnorm allgemein anerkannt.74 Recht ist ein spezifisches Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung politischer Willensentscheidungen. Jede Rechtsnorm ist ein Stück normativ verfestigter („geronnener“) Politik.

II.  Rechtsdogmatik als „kristallisierte Rechtspolitik“ Rechtsdogmatik ist, wie gesagt, der Versuch, das jeweils geltende Recht widerspruchsfrei und mit rationaler Überzeugungskraft als ein einheitliches Wertungssystem zu erklären.75 Ihre wichtigste Leistung ist die Erfassung, Ordnung und Systematisierung des gesamten geltenden Rechts in Grundsätzen, die als „gültige“ Aussagen Beachtung verlangen und von den zur Rechtsanwendung wie zur Normsetzung berufenen Instanzen nicht beliebig negiert werden dürfen.76 Die Dogmatik fasst mithin die maßgebenden Prinzipien des Rechts auf einer Metaebene über den Einzelregelungen der verschiedenen Rechtsdisziplinen in gleichsam „kristalliner“ Klarheit, Durchsichtigkeit und Verdichtung zusammen. Sie bildet so die Basis, bietet die Ansatzpunkte und bezeichnet die Grenzen notwendiger oder erwünschter, systemkonformer Rechtsentwicklung. Rechtsdogmatik ist mehr als ein nur „klassifikatorisches“, formales Ordnungssystem. Alle dogmatischen Begriffe und Grundsätze speichern eine in der Rechtsordnung grundgelegte, von ihr vorausgesetzte Wertordnung.77 Meine Hypothese:   B. Rüthers, Richterrecht im Diskurs, RabelsZ 79 (2015), 142–161.   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  72 ff., 91 unter II. 75   Vgl. oben B. 5. 76   Vgl. oben F. 77   B. Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung – Zur Ethik und Ideologie im Recht, 1986; ders./ Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  72 ff. 73 74

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Die juristische Dogmatik ist wegen ihrer Abhängigkeit von der Normsetzung mindestens mittelbar ein Produkt und Instrument der Rechtspolitik.

Sie ist durch die Anerkennung als „herrschende Lehre“ so etwas wie das innere Gerüst, der juristische „Knochenbau“ jeder Gesellschafts- und Staatsordnung, der ihr den notwendigen dauerhaften Halt gibt oder doch geben soll. Sie repräsentiert in wissenschaftlich neutraler, generell-abstrakter Terminologie die Grundwerte und Regelungsziele der jeweiligen Rechtsordnung. Eine wertfreie, weltanschauungsfreie Dogmatik kann es nicht geben. Sie beruht nie allein auf formaler Logik, sondern sie zielt immer auf die Verfestigung bestimmter materialer Werturteile und Regelungsziele. Sie konserviert eine bestimmte Gesellschafts- und Staatsordnung. Carl August Emge (1886–1970) hat in seinem Juristenleben unter vier Reichen (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Staat, Bundesrepublik) wechselnde Erfahrungen mit der Dogmengeschichte gemacht. Auf deren Grundlage hat er in seinem davon geprägten Alterswerk „Die Philosophie der Rechtswissenschaft“ (1961) den letzten Abschnitt unter den Titel gestellt „Die juristische Dogmatik als Höchstform der Ideologie“.78 Er setzt dabei einen unwertfreien, unpolemischen Ideologiebegriff voraus. Alle Werturteile, die notwendig auf geglaubten, nicht im logischen Sinne beweisbaren Prämissen beruhen, fallen unter diesen rational bestimmten, erweiterten Ideologiebegriff. Im herrschenden Sprachgebrauch hat das Wort Ideologie eine polemische „Knüppelfunktion“: Ideologie, das sind die weltanschaulichen Irrtümer der anderen. Die eigenen Meinungen und Überzeugungen sind die „Wahrheit“.79 Emges These erscheint auf den ersten Blick für das in starre Denkgewohnheiten befangene Wissenschafts- und Dogmatikverständnis vieler Juristen provokativ und inakzeptabel. Sie ist jedoch geeignet, den offenen, kontroversen Diskurs über Wertungsprobleme, also die Kernfragen der Rechtswissenschaft, zu entkrampfen und zu fördern.

III.  Rechtspolitik und Folgenverantwortung Die Formulierung dogmatischer Aussagen ist auf mehrere Instanzen verteilt. Die Gesetzgebung kann mit ihren Normierungen in die Grundlagen der Rechtsordnung eingreifen und gültige dogmatische Grundsätze verändern oder auf heben, ohne dass dies in den neuen Vorschriften verbal deutlich werden muss. Die Gerichte letzter Instanz können mit ihren Fallnormen ebenfalls, oft unauffälliger als die Gesetzgebung, dogmatische Strukturen einschneidend verändern. Ich nenne beispielhaft die bereits erwähnte Mutlangen-Entscheidung des BVerfG oder die Gewährung von Geldersatz bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts durch den BGH, aber auch das gesetzesüberschreitende Richterrecht des BAG zum Kündigungsschutz sowie die Liquidation des „ultima-ratio“-Prinzips im Arbeitskampfrecht durch den 1. Senat beim BAG gegen den Großen Senat. Auch die Rechtswissenschaft wirkt mit ihren Vorschlägen zur Reform oder Fortbildung des Rechts in seinen Teilbereichen beratend an der Entwicklung der Dogmatik mit.   C. A. Emge, Die Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, §  18, 327 ff.  Näher dazu B. Rüthers, Die Wende-Experten – zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe am Beispiel der Juristen, 2.  Aufl. 1995, 42–75. 78

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Weiterentwicklung und Umbau der Dogmatik sind, gleich von wem sie ausgehen, rechtspolitische Tätigkeiten. Diese Teilnahme an der Rechtspolitik bedeutet für alle Beteiligten eine Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. Das gilt gleichermaßen für alle Normsetzer, d. h. für die Gesetzgebung wie für das Richterrecht, aber auch für die Reformvorschläge der Rechtswissenschaft.80 Bei der Einführung neuer dogmatischer Grundsätze, Begriffe und Rechtsfiguren gilt ein Folgenabwägungsgebot, denn die Urheber gestalten damit ein Stück gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit. Dogmatische Denkarbeit und Reforminitiative können auf die Folgenorientierung unter dem Aspekt einer professionellen Verantwortungsethik nicht verzichten. Dabei ist beispielhaft auf die Purzelbäume der Gesetzgebung und die Springprozessionen der Gerichtsbarkeit im Arbeitsrecht der letzten Jahre zu verweisen. Der „Fortschritt“ besteht hier vor allem darin, erkannte Fehlsteuerungen durch halb­ herzige Korrekturen oder neue Unklarheiten zu ersetzen. Recht setzt, wenn es seine Aufgaben erfüllen soll, Verlässlichkeit (Vorhersehbarkeit) und Akzeptanz in der Bevölkerung voraus. Diese „acceptatio legis“, das hat Otto Theisen, der verdiente Ehrendoktor der Trierer Fakultät, immer wieder betont, ist ein unverzichtbarer Baustein demokratischer Rechtskultur.

H.  Erosion der Dogmatik durch das Richterrecht? Von einem bedeutenden Richter des Supreme Court der USA stammt der Satz: „Selbstverständlich stehen wir als Supreme Court unter der Verfassung; aber was die Verfassung sagt, entscheiden wir.“81 Die Aussage gewinnt, übertragen auf die Rolle der obersten Gerichte der Bundesrepublik und Europas, zunehmend an Aktualität. Das gilt auch für das Verhältnis derJustiz zur Verfassung, zur Dogmatik und zur Rechtspolitik. Die Besonderheit der deutschen Entwicklung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist vielleicht dadurch zu erklären, dass die deutsche Rechtseinheit im 19. Jahrhundert erst mit der Reichsgründung 1871 ein vorrangiges Ziel der Politik wurde. Ein einheitliches Zivilgesetzbuch wurde, wie die Kontroverse zwischen v. Savigny und Kirchmann zeigt, noch kurz zuvor lebhaft bekämpft. Da zudem auch eine zentrale Auslegungsinstanz bis zur Gründung des Reichsgerichts 1879 nicht vorhanden war – die Justizhoheit lag bis dahin fast ausschließlich bei den Bundesstaaten –, kam dem „Juristenrecht“ der Rechtsfakultäten eine weit größere Bedeutung zu. Erst im Zusammenhang mit den großen Reichsjustizgesetzen zur Vereinheitlichung des Rechtswesens im Bismarckreich und der Schaffung des Reichsgerichts ging die Führungsrolle in der Wahrung der Einheit des Rechtswesens – entgegen den (romantischen?) Vorstellungen v. Savignys – von den Rechtsgelehrten auf das Reichsgericht über.

  Th. Wälde, Juristische Folgenorientierung, 1979, 12 ff.   „We are under a constitution, but the constitution is, what the judges say it is.“, C. E. Hughes, Addresses and Papers of Charles Evan Hughes, 1908, 139. 80 81

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Da die Gerichte nach Art.  20 Abs.  3 GG Diener von Gesetz und Recht, nach Art.  97 Abs.  1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind, nicht aber Herren und Neuschöpfer der Rechtsordnung sein sollen, kommt der Methodenwahl und Methodentreue der obersten Gerichte eine verfassungsrechtlich wie verfassungspolitisch herausragende Bedeutung zu. Ihre Bereitschaft, der Verfassung und dem Recht zu dienen, ist entscheidend für den Bestand und die Entwicklung des demokratischen Rechtsstaates. Die richterliche Rechtsfortbildung ist eine unverzichtbare, verfassungsrechtlich gebotene Aufgabe der Gerichtsbarkeit. Richterrecht ist ein notwendiger, wegen der rasant gewachsenen Veränderungsgeschwindigkeit der Gesellschaft ständig steigender Bestandteil der Rechtsordnung entwickelter Systeme. Es geht nicht um eine pauschale Kritik am Richterrecht und seinen Normsetzern. Nicht das Ob sondern das Wie der richterlichen Normsetzungen verdient Aufmerksamkeit. Dabei ist davon auszugehen, dass die Gerichte und ihre Richter das Gebot der verfassungsgemäßen, gesetzesgebundenen Rechtsanwendung grundsätzlich bejahen und zu vollziehen meinen. Schaut man allerdings auf die reale Entscheidungspraxis der Bundesgerichte, ihre methodischen Aussagen und deren praktischen Vollzug, so sind Bedenken und Zweifel schwerlich zu unterdrücken. In der Sache geht es nicht um formale Kleinigkeiten. Methodenfragen sind eben Verfassungsfragen. Es geht um die Grundsätze der Demokratie, des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung, also um die Machtverteilung im Staat. Die bereits erwähnte, vom Bundesverfassungsgericht und in seiner Nachfolge von allen Bundesgerichten lange praktizierte sogenannte „objektive“ Auslegung82 ist, wie inzwischen rational kaum noch zu bestreiten ist, das Gegenteil dessen, was sie mit ihrem Namen zu sein vorgibt. Sie öffnet den subjektiven Regelungsvorstellungen der jeweiligen Spruchkörper weite, bisweilen nahezu beliebige Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Richter entscheiden im Zweifelsfall, welche Antworten auf die anstehenden Rechtsfragen aus ihrer Sicht „objektiv vernünftig“ sind. Dass diese angeblich objektive Vernünftigkeit untrennbar von ihren subjektiven Vorverständnissen abhängt, wird übersehen oder verdrängt. Die Widersprüchlichkeit der Auslegungspraxis des BVerfG ist vielfach belegt.83 Darauf angesprochen, welche Methode das Gericht wirklich für zutreffend halte, hat Wolfgang Zeidler, damals Präsident des BVerfG, so geantwortet: „Ach wissen Sie, bei uns hat eigentlich jeder Fall seine eigene Methode.“ Ergebnisorientierte Beliebigkeit als methodisches Prinzip? Die Praxis des Gerichts spricht nicht gegen diese Auskunft des Präsidenten. Schaut man auf die methodische Praxis der übrigen Gerichtszweige, so wird diese Deutung eher bestätigt als widerlegt. Ein zur Ausbildung an ein Oberlandesgericht abgeordneter Richter hat mir seine Erfahrungen dort so geschildert: „Eine präzise umschriebene, verlässlich geübte Auslegungsmethode existiert in meinem Senat nicht. Es wird fast ausschließlich im Sinne eines Fallgruppenrechts argumentiert, bei dem der zu entscheidende Rechtsstreit mit früher entschiedenen Fällen verglichen wird. Fehlt ein vergleichbares früheres Judikat, so richtet sich das Bestreben nicht auf eine Einordnung des Streitfalles in die geltende Rechtsordnung nach vorhandenen, auch fernwirkenden gesetzli  Vgl. oben E. III. 4.   Hinweise bei Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  799 f.

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chen Wertungen oder Rechtsgrundsätzen. Vielmehr wird zielbewusst auf eine vermeintlich ‚objektiv vernünftige‘, ‚praktisch angemessene‘ Lösung hin argumentiert. Nicht die Ausarbeitung einer für diese Fallgruppe gesetzeskonforme, allgemeingültige Regel ist das Ziel, sondern der Nachweis einer Ausnahme, die unter keinen herkömmlichen Bewertungsmaßstab einzuordnen ist. Selbst die minimalen Bindungswirkungen der ‚objektiven Auslegung‘ werden häufig nicht einmal geprüft. Die Verfassungsrelevanz der Methodenwahl ist den Kollegen unbekannt oder wird nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts84 geleugnet. Die Sachgründe für die Kontroverse zwischen historischer und ‚objektiver‘ Methode sowie die Notwendigkeit einer Verknüpfung ihrer Kriterien werden nicht erwähnt. Die alternativen Folgen der Methodenwahl für die Inhalte der Rechtsordnung werden nicht einmal erkannt. Methodische Argumente, wenn sie überhaupt vorkommen, dienen in der Regel nur als Fassade um das vorgefasste Ergebnis mit einem rationalen Entscheidungsweg zu tarnen. Tatsächlich werden die verschiedenen Methoden von Fall zu Fall unterschiedlich gehandhabt. So bekommt jeder Fall seine eigene Methode. Auf diese Weise setzen sich diejenigen Argumente gegenüber allen sachlichen und methodischen Einwänden durch, die das vom Senat gewünschte Ergebnis stützen. Ein klares methodisches Konzept, ein Rangverhältnis der Auslegungsmittel bei der Gesetzesauslegung, Lückenfeststellung und -ausfüllung ist ganz überwiegend nicht erkennbar. Das gilt für alle Auslegungsmittel in ähnlicher Weise. Der Wortlaut einer Bestimmung ist, je nach Entscheidungsabsicht, eindeutig oder unklar, die Entstehungsgeschichte klar, unklar oder unbeachtlich, der historische Normzweck bindend, überholt, nicht feststellbar oder im Gesetz nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen. Das alles wird mit unverbindlichen ‚Küchenrezepten‘ wie ‚eindeutiger Wortlaut‘, ‚enge Auslegung von Ausnahmevorschriften‘, ‚Andeutungstheorie‘, ‚Lückensuche‘ und ‚typologische Rechtsfindung‘, notfalls mit der ‚Natur der Sache‘ oder dem ‚Wesen‘ garniert.“

Soweit der wörtliche Bericht des juristisch hochqualifizierten teilnehmenden Beobachters. Die oft bewusst eingesetzte, methodisch ungenaue Arbeitsweise hat, von den letzten Instanzen vorexerziert, inzwischen auch und erst recht die Instanzgerichte erfasst. Sie erweitert in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise die Normsetzungsmacht und die Eigenwertungsspielräume der Justiz gegenüber der Gesetzgebung. Sie trägt massiv zur Rechtsunsicherheit und zur Zersetzung einer verlässlichen Dogmatik bei. Der Schwund, ja der Niedergang verlässlicher Dogmatik durch schwankendes Richterrecht ist beispielhaft zu besichtigen an der wechselhaften Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in zahlreichen Bereichen, etwa zur Arbeitnehmerhaftung85, zum Kündigungsschutz86 und ganz besonders im Arbeitskampfrecht87. Die aus Gründen der Rechtssicherheit gebotene Vorhersehbarkeit der Judikate für den Rechtsverkehr ist in diesen Bereichen kaum noch vorhanden. Der Verlust der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit als ein Teil der Rechtsstaatlichkeit ist vom BAG mit zahlreichen Verstößen gegen zwingendes Verfahrensrecht und das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters „hausgemacht“.88   Vgl. BVerfGE 88, 145 (147) [1993].   Nachweise bei H. Brox/B. Rüthers, Arbeitsrecht, 15.  Aufl. 2002, 82 f. 86   B. Rüthers, Beschäftigungskrise und Arbeitsrecht, 1996, 57 ff.; ders., Kündigungsschutzrecht (Fn.  52). 87   B. Rüthers, Beschäftigungskrise (Fn.  85), 104 ff.; ders., Mehr Beschäftigung (Fn.  59). 88   Krasses Beispiel ist die „Flashmob“-Rechtsprechung des 1. Senats beim BAG und eine Kammer­ entscheidung des BVerfG; vgl. dazu B. Rüthers/C. Höpfner, Anmerkung zum „Flashmob“ – Urteil des BAG vom 22.9.2009 – 1 AZR 972/08, JZ 2010, 261–264 und B. Rüthers, Flashmob im Arbeitskampf 84 85

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Die Rechtswissenschaft hat sich dieser Entwicklung gegenüber weitgehend kritik­ los verhalten, ja überwiegend Beihilfe geleistet. Jurisprudenz und Justiz in Deutschland sind von einem klaren Methodenbewusstsein weit entfernt. Richtersprüche der letzten Instanzen werden vielfach wie geoffenbarte Wahrheiten angesehen und übernommen. Eine systematische Kritik an dem verbreitet praktizierten Methodensynkretismus ist selten geworden. Das ist angesichts der Erfahrungen der deutschen Juri­ sten mit den unbegrenzten Aus- und Einlegungen nach zahlreichen System- und Verfassungswechseln erstaunlich. Kaum ein Land und wenige Juristengenerationen konnten zwischen 1919 und 1990 so viel methodisches Know-how in der Umdeutung von ganzen Rechtsordnungen gewinnen wie die deutschen Juristen. Sie sind nach den Umwälzungen von 1919, 1933, 1945/49 und 1989/90 geradezu „WendeExperten“89 geworden. Vielleicht zeitigt die Verdrängung der zahlreichen Systemund Ideologiewechsel aus dem Rechtsunterricht in Deutschland hier ihre späten Früchte?

I. Fazit Die Überlegungen zum Thema „Rechtsdogmatik und richterliche Rechtspolitik“ haben begonnen mit der inzwischen zum Lehrsatz gewordenen, allgemein als gültig angesehenen Feststellung: „Das Bundesverfassungsgericht […] bestimmt also letztlich, was das Grundgesetz sagt.“90 Die in Deutschland herrschende Meinung folgt damit den Thesen, die in den USA von führenden Vertretern des Supreme Court bereits vor hundert Jahren zur „Dogmatik“ des Rechtsbegriffs und der Rechtsquellenlehre gehörten: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“91 „We are under a constitution, but the constitution is, what the judges say it is.“92 Die Übernahme dieser realistischen Sichtweise betrifft fundamentale Grundbegriffe der Rechts- und Verfassungsordnung. Sie verändert den Rechtsbegriff, die Rechtquellenlehre und die Verfassungsstruktur. Die oberste „Deutungsmacht“ der letzten Instanzen, auf nationaler Ebene des Bundesverfassungsgerichts, bedeutet eine fundamentale Umwälzung. Trifft Maurers Lehrsatz zu, dann sind nicht mehr die Parlamentsgesetze und die Art.  20 Abs.  3 und 97 Abs.  1 des Grundgesetzes die maßgeblichen Rechtsquellen, sondern die jeweils letzten, bisweilen wechselnden Entscheidungen des BVerfG, an denen sich die Rechtsanwender aller Stufen und die Rechtsunterworfenen zu orientieren haben. Nicht mehr das Grundgesetz, sondern die Lesarten des zuständigen Senats oder einer seiner „Kammern“ legen den maßgeblichen Verfassungsinhalt fest.93 Das Gericht wird bei Abweichungen vom Grundgesetz vom „Hüter der Verfassung“ zum „Verfassungsgeber“. Es setzt mit seinen gele– Anmerkung zu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats, 1 BvR 3185/09 v. 26.3.2014, JZ 2014, 738–742. 89   Rüthers, Wende-Experten (Fn.  79). 90   H. Maurer, Staatsrecht, 6.  Aufl. 2010, §  20 Rdnr.  9. 91   O. W. Holmes, The Path of Law, Harvard Law Review 10 (1897), 460. 92   Ch. E. Hughes, Addresses und Papers of Charles Evan Hughes, 1908, 139. 93  Dazu B. Rüthers, Wer herrscht über das Grundgesetz?, FAZ vom 18.11.2013, S.  7.

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gentlich fragwürdigen Entscheidungen (in den einschlägigen Sondervoten ist das nachzulesen) neues Verfassungsrecht,94 das alle Verfassungsorgane von Bund und Länder und nachgeordneten Gerichte und Behörden bindet (§  31 Abs.  1 BVerfGG). Das gilt auch (und besonders!) für mögliche verfassungswidrige Kammer-Entscheidungen.95 Die obersten deutschen und europäischen Rechtsquellen (Europäische Verträge, EMRK, Grundgesetz etc.) gelten nicht als unmittelbar verbindliche Normtexte, sondern statt ihrer die dazu ergangenen, oft schwankenden, rechtskräftigen Entscheidungen („Lesarten“) der zuständigen letzten Gerichtsinstanzen, also des EGMR, des EuGH, des BVerfG und der übrigen obersten Bundesgerichte.96 Dieses schwankende, schwer vorhersehbare Richterrecht der letzten Instanzen kann nicht verlässlich durch die juristische Dogmatik „domestiziert“ werden. Denn Dogmatik entsteht zwar aus dem Zusammenwirken von Rechtswissenschaft und Justiz. Dabei hat aber die Justiz wegen der Rechtskraft ihrer letztinstanzlichen Entscheidungen regelmäßig das „letzte Wort“.97 Rechtskräftige Entscheidungen letzter Instanzen schaffen oder prägen, „produzieren“ also bei einschneidenden richterlichen Rechtsänderungen oder Rechtsfortbildungen eine neue, die künftig „gültige“ Dogmatik in dem betroffenen Rechtsgebiet. Dogmatik entsteht wegen der Dynamik aller Lebensbereiche und Wertvorstellungen und der „hinkenden“ Gesetzgebung inzwischen oft, ja überwiegend aus Richterrecht. Das zeigt vor allem die Grundrechtsdogmatik, die maßgeblich von der Rechtsprechung des BVerfG und der europäischen Gerichtshöfe geprägt ist.98 Andererseits besteht auch für die Justiz ein Negationsverbot gegenüber der bestehenden Dogmatik bei rechtsändernden Entscheidungen, welche der bestehenden Dogmatik widersprechen. Abweichungen der Gerichte von ihr erfordern eine besonders sorgfältige Begründung, was nicht selten verkannt oder bewusst vernachlässigt wird, auch von höchsten Gerichten. Es besteht, wenn das beachtet wird, eine wechselseitige Domestizierung zwischen Dogmatik und Richterrecht, wobei die letzten Instanzen, wie erwähnt, das „letzte Wort“ haben, was die Jurisprudenz gerade deshalb zu kritischer Wachsamkeit verpflichtet. Diese kritische Begleitung der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist eine ihrer vornehmsten, verfassungsrelevanten Aufgaben. Bei der Definition und Wirkungsanalyse juristischer Dogmatik wird oft übersehen, dass sie einen Speicher von anerkannten oder auch gewünschten Wertvorstellungen darstellt. Werturteile sind, anders als Tatsachenfeststellungen, dem „Wahrheits­ beweis“ nicht in gleicher Weise zugänglich wie „theoretische Sätze“.99 Die Dogmatik 94   BVerfG v. 7.5.2013, 2 BvR 909/06 – Ehegattensplitting bei eingetragener Lebenspartnerschaft, BVerfGE 133, 377 = NJW 2013, 2257 mit Sondervotum von Landau/Kessal-Wulf unter A. 2 c) und e) sowie unter B. und C. 95   Vgl. z. B. etwa BVerfG v. 26. März 2014, 1 BvR 3185/09 – streikbegleitender Flashmob, NJW 2014, 1874 ff. 96  Näher B. Rüthers, Wer herrscht über das Grundgesetz? (Fn.  93); ders., Heimliche Revolution (Fn.  4 ), 77 ff., 95 ff., 103 ff. 97   B. Rüthers, Wer schafft Recht? – Methodenfragen als Macht- und Verfassungsfragen, JZ 2003, S.  995. 98   Rüthers, Heimliche Revolution (Fn.  4 ), 47–54. 99   Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie (Fn.  3 ), Rn.  315 ff.

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bietet also keine absoluten Wahrheiten. Sie ist immer Menschenwerk, irrtumsoffen, ideologisch und historisch wandelbar. Ihr Inhalt wird maßgeblich von den staatlichen Normsetzern (Legislative und Justiz), nicht primär oder gar allein von der Rechtswissenschaft bestimmt. Sie entsteht aus einem Zusammenspiel zwischen den drei genannten Institutionen. Das gilt auch für die in ihrer rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung oft verkannten oder verdrängten juristischen Methodenfragen.

Polyzentrismus im deutschen Kaiserreich? Das Verhältnis zwischen Reichs- und Landesverwaltung unter der Verfassung von 1871 von

Priv.-Doz. Dr. Margrit Seckelmann Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer

Inhalt I. Die Machtverteilung im deutschen Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Die zwei Seiten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Die Kompetenzverteilung nach der Reichsverfassung von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 II. Gesetzgebung und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 1. Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 2. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 III. Polyzentrismus als dynamische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Kompetenzverschiebungen im föderalen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2. Die Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 3. Der Ausbau der Reichsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 a) Die drei „Wellen“ des Behördenausbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 b) Der „Primat der Politik“ als kompetenzielles Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 c) Die Parlamentarisierung von 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 d) Die Parteien als neue Machtzentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 e) Der Einfluss der Verbände und des Adels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 f) Die unterschiedlichen Wahlrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 g) Die Rolle des „Reichslands“ Elsaß-Lothringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 4. Der Ausbruch der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 IV. Gegenreaktionen: Die Begriffe der Subsidiarität und des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 V. Nochmals: Georg Jellinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

Gab es einen Polyzentrismus1 im deutschen Kaiserreich? Darf man einen solchen Begriff avant la lettre überhaupt benutzen – und auch noch für eine Zeit, in der der 1   Dieser Aufsatz beruht auf dem Vortrag für den Workshop „Herausforderungen der polyzentrischen Verwaltung“ am Kulturwissenschaftlichen Kolleg, Konstanz, 7.–8.5.2015.

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diskursprägende Theoretiker der Reichverfassung, Paul Laband,2 sich darum bemühte, diese als ein geschlossenes (und letztlich auch statisches3) System zu begreifen?4 Man kann diesen Begriff vielleicht insoweit verwenden, als dass man damit ein Phänomen beschreibt, um dessen kategorielle Erfassung die zeitgenössische Staatsrechtslehre rang, nämlich die schleichenden Machtverschiebungen, die sich faktisch unter der formalen (Weiter-)Geltung des Verfassungstextes von 1871 vollzogen. Zu den Machtzentren, die sich gleich tektonischen Platten unter der Geltung der Rechtsverfassung verschoben, gehörten verschiedene, die durchaus im Widerspruch standen: das Reich und Preußen sowie die anderen Bundesstaaten, Kaiser und Bundesrat, Parteien und Verbände. Auf diese Zentren und die Beziehungen zwischen ihnen soll im Folgenden weiter eingegangen werden. Die Veränderungen der Kompetenzarchitektur, die sich gegenüber dem Verfassungstext vollzogen,5 wurden von der zeitgenössischen Staatsrechtslehre aufmerksam beobachtet – und ganz unterschiedlich beurteilt, je nachdem, ob der Blick aus Sicht eines Befürworters des Reichstags6 oder eines des Bundesrats7 auf die Phänomene gerichtet wurde oder ob ein Anhänger des immer stärker werdenden Kaisertums8 urteilte oder aber ein Verteidiger des Verfassungstextes9. Allerdings soll diese Debatte, die andernorts bereits intensiv untersucht worden ist,10 nicht im Mittelpunkt der hier angestellten Betrachtung stehen, sondern viel2  Zu Paul Laband (1838–1918) und zur Gerber-Labandschen juristischen Methode vgl. Michael Stoll­ eis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 bis 1914, München 1992, S.  341 ff. 3   So grundlegend Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt am Main 1997, S.  195. 4   Zur Frage einer „ahistorischen“ Verwendung von Begriffen Margrit Seckelmann, Regulierte Selbstregulierung – Gewährleistungsstaat – Kooperativer Staat – Governance: Aktuelle Bilder des Zusammen­ wirkens zwischen öffentlichen und privaten Akteuren als Analysekategorien für historische Koopera­ tionsformen, in: Peter Collin/Gerd Bender/Stefan Ruppert/dies./Michael Stolleis (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung in der westlichen Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2014, S.  27–55. 5   Schönberger (Fn.  3 ). 6   Namentlich von Albert Hänel (1833–1918), etwa in: ders., Deutsches Staatsrecht, Bd. I (Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt), Leipzig 1892, zu ihm Stolleis (Fn.  2 ), S.  355 ff. 7   Zur bayerischen Position vgl. namentlich Max von Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Band 1, 1.  Aufl., München 1884, S.  352 f. Zu Seydel (1846–1901) insbesondere Maren Becker, Max von Seydel und die Bundesstaatstheorie des Kaiserreichs, Frankfurt am Main 2009. 8   So etwa Adolf Arndt, Das Verordnungsrecht des Deutschen Reiches, Berlin/Göttingen 1884; ders., Das selbständige Verordnungsrecht. Zugleich eine Streitschrift für die historisch-kritische Methode, Berlin 1902. 9   Gerhard Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt und den Umfang des königlichen Verordnungsrechts nach preußischem Staatsrecht, 2.  Aufl., Tübingen/ Leipzig 1901. Zur Debatte zwischen Arndt (1849–1926) und Anschütz (1867–1948) vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt – Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 2.  Aufl., Berlin 1981, S.  222 ff. sowie Dian Schefold, Einleitung, in: Hugo Preuss, Gesammelte Schriften, Zweiter Band, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich (herausgegeben und eingeleitet von Dian Schefold in Zusammenarbeit mit Christoph Müller), Tübingen 2009, S.  48 f. Zur bayerischen Wahrnehmung vgl. Becker (Fn.  7 ); zu allem auch Schönberger (Fn.  3 ), S.  303 f. 10   Zu allem Schönberger (Fn.  3 ), S.  302 ff.

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mehr untersucht werden, welche Zentren sich in dieser Zeit herausbildeten und wie sich ihre Beziehung untereinander im Zeitverlauf gestaltete. Wenn daher insbesondere ein Staatsrechtslehrer gleichsam als ‚sachverständiger Zeuge‘ zitiert werden soll, nämlich Georg Jellinek, dann deswegen, weil dieser ein besonderes Augenmerk auf das richtete, was wir heute unter einer „polyzentrischen Verwaltung“ verstehen.11 Seine „Lehre von den Staatenverbindungen“ leitete er im Jahr 1882 mit folgenden Worten ein: „In wenigen Partien des öffentlichen Rechts herrscht eine solche Unklarheit, wie in der Lehre von den Staatenverbindungen. Das Wesen des Bundesstaates und des Staatenbundes, die Natur der Realunion, der juristische Charakter des Protectorates und der Suzeränetät u. s. w. sind so weit von wissenschaftlicher Klärung entfernt, dass sich über manche dieser Begriffe nicht einmal eine herrschende Meinung herausgebildet hat und sogar die wissenschaftliche Berechtigung des ganzen Gebietes nicht außer Frage steht.“12

I.  Die Machtverteilung im deutschen Kaiserreich 1.  Die zwei Seiten des Staates Jellinek entwickelte in seiner Staatslehre eine Dogmatik, die es ermöglichte, das Auseinanderfallen der politischen Phänomene und der juristischen Begrifflichkeiten zu erfassen. Seine Trennung zwischen der „Soziallehre vom Staat“ und der Staatsrechtslehre ist gemeinhin bekannt.13 Mit dieser Unterscheidung, die von Hans Kelsen eigentlich in polemischer Absicht als „Zwei-Seiten-Theorie“14 bezeichnet wurde, ge11   Eine Deutung der Einigungsprozesse in Deutschland und Italien im 19. Jhd. unter dem (insbesondere für Italien) formulierten Polyzentrismus-Paradigma findet sich bei Vito Francesco Gironda, Die Politik der Staatsbürgerschaft. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 2010, insbes. S.  14 f. Der Bezug auf Italien, ist im Blick auf die dort (insbesondere in Norditalien) seit dem Mittelalter existierenden städtischen Lebens- und Rechtswelten äußerst lohnenswert; gleichzeitig „entideologisiert“ dies den in Deutschland insbesondere mit dem Nationalsozialismus verbundenen Polykratie- und Polyzentrismusbegriff und macht ihn für andere Diskurse anschlussfähig (zur Polykratietheorie grundlegend ihr Begründer Franz [L.] Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, hier zitiert nach der 2.  Aufl., New York u. a. 1944, S.  116 ff., 128 ff.; vgl. auch Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz – Zur Struktur der „Neuen Staatlichkeit im Nationalsozialismus“, in: Sven Reichardt/Wolfgang Seibel [Hrsg.], Der prekäre Staat: Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011, S.  29–73, 35 f.). 12   Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Berlin 1882, S.  3, sic. 13   Hierzu und zu weiteren begrifflichen Entwicklungen Georg Jellineks (1851–1911) vgl. etwa Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000; Christoph Schönberger, Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille: Georg Jellinek und die Krise des staatsrechtlichen Positivismus um die Jahrhundertwende, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek: Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S.  3 –32. Zur Bedeutung von Jellineks Zwei-Seiten-Theorie zur Erfassung der Phänomene der Staatlichkeit um 1900 vgl. Margrit Seckelmann, Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871–1914, Frankfurt am Main 2006, S.  50 f.; Miloš Vec, Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, Frankfurt am Main 2006. 14   Hierzu und zum Folgenden vgl. Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Bielefeld 2015, S.  251 f.; zu Kelsen (1881–1973), der bekanntlich und erfreulicherweise in jüngerer Zeit wieder verstärkt rezipiert wird, vgl. aus der Fülle der Literatur u. a. Rudolf Aladár Métall, Hans Kelsen: Leben und Werk,

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lang es Jellinek, den Staat sowohl als Herrschaftsverband wie als politische Ordnung zu analysieren.15 Auch wenn Kelsen die kategoriale Scheidung zwischen einem sozialwissenschaftlichen und einem normativen Staatsbegriff seinerseits als bloße Setzung zu widerlegen versuchte:16 Jellineks Kategorien brachten die von den Zeitgenossen gleichsam ‚gefühlte‘ „Verwandlung des Machtstaats in einen Verfassungsstaat“17 auf den Begriff und erfreuten sich zeitgenössisch großer Beliebtheit.18 Eigentlich befand sich Jellinek in einer Situation, wie wir sie auch heute im Europäisierungsprozess sowie bei der Digitalisierung der Lebenswelt kennen: Die Umwelt des Menschen, seine politischen Bindungen und Kommunikationswege veränderten sich in einer Art, die die bisherigen Begriffe und Kategorien sprengte und die Wissenschaft vom Staats- und Völkerrecht wie auch andere Wissenschaften herausforderte. Daher wird auch gerne die Analogie zwischen der Reichsgründung und dem aktuellen Europäisierungsprozess hergestellt.19 Diese These trägt in gewisser Hinsicht und in anderer nicht. Sie trägt insoweit, als sich damals wie heute eine politische Ordnung jenseits der politischen Zusammenhänge konstituierte, denen sich die Zeitgenossen bislang zurechneten.20 Und diese Ordnung ist – ebenso wie das Deutsche Reich von 1871 – aus einer Wirtschafts- und Verteidigungsunion hervorgegangen, nämlich letztlich dem Zollverein von 1834 und dann dem Norddeutschen Bund von 1866, der in erster Linie ein von Preußen dominiertes Militärbündnis war. Wien 1969; Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986; ders., Hans Kelsen (1881–1973): „Jurist des Jahrhunderts“?, in: Helmut Heinrichs/ Harald Franzki/Klaus Schmalz/Michael Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S.  705–732; ders., Hans Kelsen (1881–1973), in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland – Österreich – Schweiz, Berlin 2015, S.  219–241; Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius, Der Rechts- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hrsg. v. dens., Tübingen 2006, S. VII–XXIX; Matthias Jestaedt, Einleitung, in: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre: Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Studienausgabe der 1.  Aufl. 1934, Tübingen 2008, S. IX–LXIV und die Beiträge in Stanley L. Paulson/Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 15   Georg Jellinek, Allgemeine Staatsrechtslehre, Berlin 1900, S.  11 und 20. 16   Vgl. insbesondere Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Tübingen 1922, S.  114; dazu insb. Peter Badura, Die Methoden der neuen allgemeinen Staatsrechtslehre, Erlangen 1959, S.  21 f. sowie 205 ff. 17   Stolleis (Fn.  2 ), S.  453. 18   Feichtinger (Fn.  14), S.  251. 19   Sehr frühzeitig so formuliert von Georg Hansen, Die exekutierte Einheit. Vom Deutschen Reich zur Nation Europa, Frankfurt a. M./New York 1991, S.  7 ff.; Bernhard Großfeld/Susanne Lühn, Deutsche Einigung 1871 und Europäische Integration 1993: Ein Vergleich, ZVglRWiss 92 (1993), S.  357–370; Karl Eckart Heinz, Europäische Zukunft – Bundesstaat oder Staatengemeinschaft? Das Beispiel des Bismarckreichs, DÖV 1994, S.  994–1000; Norbert Reich, A European Constitution for Citizens? Reflections on the Rethinking of Union and Community Law, European Law Journal 3 (1997), S.  131–164; Alexandra Böhmer, Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfassung von 1871. Vom dualistischen zum transnationalen Föderalismus, Berlin 1999. Vgl. zur Tragfähigkeit dieser These aber auch Michael Kuschnick, Integration in Staatenverbindungen. Vom 19. Jahrhundert bis zur EU nach dem Vertrag von Amsterdam, Berlin/New York 1999 sowie Christoph Schönberger, Unionsbürger. Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht, Tübingen 2005, S.  101. 20   Vgl. etwa Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S.  581–591.

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Und gerade aus der zentralen Rolle, die Preußen seinerzeit spielte, ist auch der Unterschied zu der heutigen polyzentrischen Ordnung der EU abzuleiten: Die Ordnung von 1871 hatte durchaus einen Hegemon, nämlich Preußen. Und so war Berlin, nicht nur als Hauptstadt des Deutschen Reiches, sondern auch als preußischer Regierungssitz durchaus vom politischen Brüssel unserer Tage zu unterscheiden. Allen Konstitutionalisierungsprozessen zum Trotz: Die EU wird nicht von einem institutionalisierten Hegemon gesteuert (und wenn dieses zumindest faktisch bejaht werden sollte, wäre dies sicherlich nicht Belgien).

2.  Die Kompetenzverteilung nach der Reichsverfassung von 1871 Definiert man Polyzentrismus als ein System mit mehreren politischen Zentren im Sinne von Hauptstädten, dann wird man mithin – ähnlich wie seinerzeit Jellinek – Schwierigkeiten bei der Subsumtion unter einen solchen Begriff bekommen. Sicherlich war das Deutsche Reich von 1871 ein Bund souveräner Fürsten, deren Residenzstädte die politischen Zentren ihrer jeweiligen Staatsgewalt waren. Und ebenso ­sicher war der Bundesrat das oberste Staatsorgan, dem gemäß Art.  6 Abs.  1 der Reichs­ verfassung 58 Vertreter der 25 Bundesstaaten angehörten. Der Bundesrat übte zusammen mit dem Reichstag, der – anders als in Preußen und vielen anderen Flächenstaaten – aus allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahlen (der wahlberechtigten Männer) hervorgegangen war, die Gesetzgebung aus (Art.  6 Abs.  1 RV),21 wobei ein Gesetzesvorschlag der Mehrheit in beiden Kammern bedurfte (alle Ausführungen beziehen sich auf die Zeit vor der [verspäteten] Parlamentarisierung von 1918). Aber es gab einen Fürsten, der – um Orwell zu zitieren 22 – „gleicher“ als die anderen war, und das war der preußische König, der laut Art.  11 Abs.  1 S.  1 RV unter dem Titel Deutscher Kaiser das „Präsidium des Bundes“ innehatte. Als König des mit 2/3 der Einwohnern des Deutschen Reiches größten Einzelstaates verfügte er im Bundesrat über die 17 preußischen Stimmen, zudem gab laut Art.  7 Abs.  3 RV die sog. „Präsidialstimme“ den Ausschlag. Nach der Verfassungsreform von 1911 kamen noch drei Stimmen für das „Reichsland Elsass-Lothringen“ hinzu, die von Preußen kommissarisch für dieses abgegeben wurden.23 Dem Kaiser oblag die völkerrechtliche Vertretung des Reichs, er hatte das alleinige Recht, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen (Art.  11 Abs.  1 S.  2 RV). Allerdings bedurfte er – Stichwort Polyzentrismus – für die Kriegserklärung der Zustimmung des Bundesrates, also der versammelten Fürsten, sofern nicht das 21  Allerdings gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Einzelstaaten (bspw. zwischen den mecklenburgischen Territorien und den süddeutschen Staaten), die ggf. ebenso schwer wiegen wie die Unterschiede zwischen dem Wahlrecht der Einzelstaaten und demjenigen zum Reichstag, vgl. etwa Erich Schlesinger, Staats- und Verwaltungsrecht des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, Schwerin 1908, S.  30 ff. 22   George Orwell, Animal Farm, London 1945. 23  Näheres dazu bei Sophie Charlotte Preibusch, Verfassungsentwicklungen im Reichsland ElsaßLoth­r ingen 1871–1918. Integration durch Verfassungsrecht?, Berlin 2006.

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Bundesgebiet oder dessen Küsten von außen angegriffen wurde(n) (Art.  11 Abs.  2 RV). Ebenso bedurfte er der Zustimmung des Bundesrats, d. h. erneut der Fürsten, und sogar der Genehmigung des Reichstags, mithin der Abgeordneten, sofern sich die Verträge mit fremden Staaten auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung bezogen (Art.  11 Abs.  1 S 2 i. V. m. Art.  4 RV). Gemäß Art.  12 RV stand es dem Kaiser zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen. Allerdings hatte die Einberufung nach Art.  13 RV grundsätzlich jährlich stattzufinden. Gemäß Art.  14 war der Bundesrat zudem immer dann zu berufen, sobald dies von einem Drittel der Stimmzahl verlangt wurde. Gesetzesvorlagen wurden aufgrund von Beschlüssen des Bundesrats im Namen des Kaisers dem Reichstag zugeleitet, wo sie unter Anwesenheit von Mitgliedern des Bundesrats oder von diesem ernannten Kommissaren vertreten wurden (Art.  16 RV). Der Vorsitz im Bundesrat und dessen Geschäftsführung standen dem Reichskanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen war (Art.  14 Abs.  1 RV) und der seinerseits jedes Mitglied des Bundesrates mit seiner Stellvertretung (schriftlich) beauftragen konnte (Art.  14 Abs.  2 RV). Üblicherweise war der preußische Ministerpräsident mit dem Reichskanzleramt betraut, dieses war aber verfassungsrechtlich nicht zwingend. Ein eigener ‚Verwaltungsunterbau‘ für den Reichskanzler bestand laut Reichsverfassung nicht, allerdings konnte dieser Staatssekretäre ernennen, die in der Regel zugleich Inhaber der entsprechenden Ministerämter in Preußen waren. Durch das Stellvertreter- oder Stellvertretungsgesetz von 187824 konnte der Reichskanzler vom Kaiser die Ernennung von Stellvertretern beantragen, die anstelle des Reichskanzlers die kaiserlichen Verfügungen gegenzeichnen konnten. Sie konnten sowohl für einzelne „Amtszweige“ als auch für alle „Geschäfte und Obliegenheiten des Reichskanzlers“ ernannt werden (was letztlich die faktische Etablierung eines verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen „Vizekanzlers“ erlaubte25). Insofern setzte sich die enge Verflechtung zwischen Preußen und dem Reich gerade auf der Ebene der Verwaltung fort. Man sieht: Es ist hochkomplex, insofern nimmt es nicht Wunder, dass sich Georg Jellineks Zeitgenossen die Zähne an der dogmatischen Erfassung ausbissen, zumal – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – das Verhältnis zwischen dem Reich und Preußen sowie zwischen dem Reich und den anderen Territorien ein dynamisches war. Insofern passt die Analogie zum Europäisierungsprozess zumindest in dieser Hinsicht, nur dass die Verfassungsurkunde von 1871 trotz aller Vorläufer der sog. „Inneren Reichsgründung“ durch Privatrechtskodifikationen vorgeschaltet war, was man für die EU kaum behaupten kann. Gleichwohl drängen sich Beschreibungen des Kaiserreichs auf, wie sie die europarechtliche bzw. politikwissenschaftliche Diskus­ sion derzeit bestimmen, beispielsweise der Verwaltungsverbund, das Mehrebenensystem oder sogar – horribile dictu – das Wort „Governance“.26   Gesetz, betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers vom 17. März 1878, RGBl. 1878, S.  7.   Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart u. a. 1969, S.  155 f. 26  Die Nachzeichnung der Governance-Diskussion würde alleine einen Aufsatz dieses Umfanges rechtfertigen, vgl. dazu ausgewählt Arthur Benz, Governance in Mehrebenensystemen, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 24

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Versteht man den Begriff des Polyzentrismus in einem weiteren Sinne, also unter der Governance-Perspektive, und fragt nach den „Machtzentren“27 des Kaiserreichs, so rückt beispielsweise die starke Rolle der Verbände, die neben den sich etablierenden Parteien enormes Gewicht und vor allem oft unmittelbaren Zugang zum Kaiser hatten, in den Blick. Insofern kann man fast fragen, ob man es überhaupt mit einem System zu tun hat, so viele Zentren tun sich bei näherer Betrachtungsweise auf. Hierauf wird gegen Ende des Aufsatzes noch einmal zu sprechen zu kommen sein.

II.  Gesetzgebung und Verwaltung 1.  Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Reichs Doch zunächst zum Verhältnis zwischen Reichs- und Landesverwaltung unter der Verfassung von 1871 bzw. zur Entwicklung dieses Verhältnisses bis 1918. Die Gesetzgebungskompetenzen des Reichs waren in 16 sog. „Titeln“ in Art.  4 RV aufgelistet. Sie umfassten zum einen Materien, die einer Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten bedurften. Dazu gehörte etwa das Eisenbahnwesen, bezeichnenderweise mit einer Art Abweichungsklausel für Bayern (Art.  4 Nr.  8 RV). Es kamen Gesetzgebungsgegenstände hinzu, die man auf Reichsebene regeln musste, sollte die Föderation überhaupt einen Sinn haben, hierzu gehörten die Bestimmungen über Staatsbürgerrecht, Passwesen und Fremdenpolizei (Art.  4 Nr.  1 RV). Daneben gab es Materien, die sich ebenfalls gleichsam aus der „Natur der Sache“ ergaben, wie das Kolonialwesen (ebd.). Und schließlich gab es auch solche Gegenstände, die der Norddeutsche Bund gleichsam ,mit in die Ehe gebracht hatte‘, wie „den Schutz des geistigen Eigenthums“ (Art.  4 Nr.  6 RV), denn das Deutsche Reich übernahm das Urheberrechtsgesetz des Norddeutschen Bundes von 1870 in die Reichsgesetze. Ähnliches galt für das Strafgesetzbuch.

2.  Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen Die Gesetzgebungszuständigkeiten des Reichs waren zwar begrenzt – bekanntlich fehlte zunächst die Reichszuständigkeit für das Bürgerliche Recht, anders als die für Baden-Baden 2005, 95–120, und die Beiträge in ders. (Hrsg.), Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, Wiesbaden 2004, sowie die weiteren Beiträge in Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (wie soeben genannt) sowie in ders./Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008; Hans-Heinrich Trute/Wolfgang Denkhaus/Doris Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, DV 37 (2004), S.  451–473 ; distanzierend Claus Offe: Governance – „Empty signifier“ oder sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm?, in: G. F. Schuppert/M. Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden 2008, S.  61–76; M. Seckelmann: Keine Alternative zur Staatlichkeit – Zum Konzept der „Global Governance“, VerwArch 98 (2007), S.  30–53. Zur Frage der Tauglichkeit des Governance-Begriffs für die Analyse historischer Kooperationsformen vgl. dies (Fn.  4 ), S.  27 ff. 27   Hans Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich: 1871–1918, 2.  Aufl., München 2005, S.  77. Ähnlich schon Hans Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs, 1871–1918, Göttingen 1970.

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das Handels- und Bankenrecht, und wurde erst 1873 aufgrund der „Lex Miquel-Lasker“ in Art.  4 RV eingefügt. Gleichwohl gingen die Gesetzgebungskompetenzen weit über die Verwaltungszuständigkeiten des Reichs hinaus; man sprach insoweit davon, dass diese „überschießend ausgestaltet“ seien.28 Das bedeutete in der Praxis, dass die Reichsgesetze in der Regel durch die Bundesstaaten als eigene Angelegenheit ausgeführt wurden. Bezüglich der in der Reichsverfassung nach Gegenständen aufgeführten Verwaltungskompetenzen des Reichs sprach man seinerzeit schon vom – heute für den Europäisierungsprozess wieder relevanten 29 – „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“.30 Das bedeutete, dass das Reich im Verwaltungsvollzug anfangs nahezu vollständig auf die Mitgliedstaaten angewiesen war. Allerdings erschien es formell schwächer als materiell. Denn – wie bereits erwähnt – hatte der Kaiser zum einen bestimmte eigene Kompetenzen (wie diejenigen für Heer, Flotte, Außen- und Kolonialpolitik, auch das Reichsland Elsass-Lothringen ist in diesem Zusammenhang zu nennen) und er (bzw. sein Reichskanzler) verstand sich darauf, sie weidlich zum Ausbau der Reichskompetenzen auszunutzen. Zum anderen hatte der Kaiser in seiner Eigenschaft als preußischer König natürlich alle Reservatrechte des Monarchen des größten Flächenstaates und konnte sich zudem – da er in der Regel den preußischen Ministerpräsidenten zum Reichskanzler berief – auch auf dessen ‚Verwaltungsunterbau‘ stützen. Doch auch die Kompetenzen im Patent-, Handels- und hinterher auch im allgemeinen Zivilrecht dienten nicht nur der von Michael Stolleis so bezeichneten „Inneren Reichsgründung“ durch Gesetze,31 sondern auch dem Auf bau eigener Reichsbehörden wie dem 1877 eingerichteten Kaiserlichen Patentamt,32 das als selbständige Reichsoberbehörde eingerichtet wurde und den „Rekurs“ als erste Rechtsschutzinstanz vor dem Weg zum Reichsoberhandels- und später Reichsgericht zuließ.33 Diese ersten Reichsbehörden entsprachen – trotz Aufsicht der Reichskanzlei bzw. später der zuständigen Reichsämter – ein wenig dem Typus der heutigen „unabhängigen Agenturen“. Denn sie bildeten zunächst als „Exekutivagenturen“ die eigentliche Reichsverwaltung, um einen aktuellen unionsrechtlichen Begriff zu entlehnen. In einer Zeit, in der sich die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem 28   Zur Debatte hierum vgl. insbesondere Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1987, S.  262 ff.; siehe auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S.  88 ff.; stärker die unitarischen Elemente betonend Ernst Rudolf Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidelberg 1987, S.  35–83, dort Rn.  26 ff. 29   Vgl. Art.  5 EUV. 30   Dreyer (Fn.  28), S.  262 ff.; Nipperdey (Fn.  28), S.  88 ff.; vgl. auch Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996, S.  36. 31   Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: ders. (Hrsg.), Konstitution und Intervention, Frankfurt am Main 2001, S.  195–225. 32  Dazu Seckelmann (Fn.  13), insbesondere S.  245 ff. 33   Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht“ in den 1870er Jahren. Start­ bedingungen, Methoden und Erfolge, Habilitationsschrift, unveröff. Ms. 2002; Birvaa Mandahbileg, Rechtsschutz durch richterliche Reichsbehörden als Vorstufe der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Unter besonderer Berücksichtigung des Bundesamts für das Heimatwesen und des Kaiserlichen Patentamts, Dissertation Univ. Heidelberg 1998; Seckelmann (Fn.  13), S.  245 ff.

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Recht erst entwickelte,34 setzten sie zunächst stark auf eine Einbindung gesellschaftlicher Expertise, die indes teilweise nach und nach zugunsten des Auf baus einer Behördenstruktur zurückgenommen wurde.35 Zumindest die frühe Verwaltung des Reichs von 1871 und diejenige seiner Mitgliedstaaten war mithin geprägt von Kollegialgremien in der öffentlichen Verwaltung, technischer Normsetzung durch Verbände,36 Staatsaufsicht über Selbstverwaltungskörperschaften und dem, was man heute als „Regulierte Selbstregulierung“ bezeichnen würde.37 Demgegenüber setzten allmählich Prozesse der Professionalisierung und Bürokratisierung ein, in den Kommunen gespiegelt durch die zunehmende Kommunalisierung und Selbstbewirkung öffentlicher Aufgaben, die man zunächst oftmals aufgrund von Konzessionsverträgen privaten Unternehmern überlassen hatte.38

III.  Polyzentrismus als dynamische Entwicklung 1.  Kompetenzverschiebungen im föderalen System In der Reichsverfassung von 1871, die ja in weiten Teilen diejenige des Norddeutschen Bundes von 1867 übernahm, befand sich einiges ‚Sprengpotential‘, das schon für sich ausgereicht hätte, für eine Verschiebung der Machtzentren untereinander zu sorgen. So sollte wohl die „föderale Konstruktion des neuen Staates“, also die Betonung der Rolle des Bundesrats, nach Bismarcks Vorstellung „ganz bewußt dazu dienen, die parlamentarisch-demokratischen Elemente in einen Rahmen zu stellen und so einzudämmen“.39 So war das in freier, geheimer und gleicher Wahl von allen volljährigen Männern gewählte „nationale Parlament“ zum einen ein Zugeständnis an die Nationalliberalen, um genug Stimmen für die Annahme der Reichsverfassung zu gewinnen; indem es die Nationalliberalen für die ‚kleindeutsche Lösung‘ gewann, half seine Aufnahme in die Reichsverfassung zugleich dazu, „Österreich auszuste34   Dieter Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987, S.  224–242. 35   Seckelmann (Fn.  13), S.  245 ff.; dies., Die Verwaltung technischen Wissens – Das kaiserliche Patent­ amt zwischen Bürokratisierung und internationaler Netzwerkbildung (1877–1914), in: Christian Kleinschmidt/Ray Stokes (Hrsg.), Verwaltung, Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (= Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 20), Baden-Baden 2008, S.  1–27. 36  Dazu Vec, (Fn.  13); Ina vom Feld, Staatsentlastung im Technikrecht. Dampf kesselgesetzgebung und -überwachung in Preußen 1831–1914, Frankfurt am Main 2007. 37  Dazu u. a. die Beiträge in Peter Collin/Gerd Bender/Stefan Ruppert/Margrit Seckelmann/ Michael Stolleis (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – Zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2011; dies. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat, Frankfurt am Main 2012; dies. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung in der westlichen Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2014. 38  Dazu Lorenz Jellinghaus, Zwischen Daseinsvorsorge und Infrastruktur. Zum Funktionswandel von Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2006; Margrit Seckelmann, Die historische Entwicklung kommunaler Aufgaben, in: der moderne staat (dms) 1 (2008), S.  267–284. 39   Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht. Untersuchungen zur Bundesstaatstheorie unter dem Grundgesetz, Tübingen 1998, S.  29.

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chen“.40 Da es aber zugleich eine „gefährliche Waffe […] in den Augen eines Konservativen wie Bismarck“41 war, bedurfte es aus seiner Sicht institutioneller Korrektive, zu denen in erster Linie das föderale Element zu rechnen ist, das insbesondere durch den Bundesrat repräsentiert wurde. Somit verkörperte sich in der parlamentarischen Gesetzgebung in gewisser Weise das unitarische Element, während Regierung und Verwaltung „Domäne der Gliedstaaten“ blieben „mit der preußischen Verwaltung als quasi kommissarischem Vertreter der Außen- und Verteidigungspolitik, den Regierungen der Bundesstaaten ansonsten als nahezu unbeschränkten Inhabern der internen Exekutivgewalt“.42 Dieses Spannungsverhältnis zwischen den parlamentarisch-unitarischen Prinzipien auf der einen und den exekutivisch-bundesstaatlichen auf der anderen Seite war auch in der Verfassung des Norddeutschen Bundes enthalten gewesen, in der sich auch schon abgezeichnet hatte, dass „der Bundesrat (als eher schwerfälliges föderales Organ)“ sich als unfähig erweisen würde, „als wirkliche Exekutive zu fungieren“, so dass „das Amt des Bundeskanzlers, ursprünglich von Bismarck nur als eine Art Geschäftsstellenleiter des Bundesrates konzipiert, sich schnell gegenüber dem Bundesrat verselbständigte und ein beträchtliches politisches Eigengewischt gewann“.43 Paul Laband selbst charakterisierte den Bundeskanzler aufgrund seiner Stellung im Bundesrat sogar nur als „preußischen Präsidialgesandten“.44 Allerdings sei, so beurteilt es aus heutiger Sicht Stefan Oeter, „die Offenheit der Verfassung“ nicht nur ihre Schwäche, sondern zugleich auch ihre Stärke gewesen, denn diese Offenheit habe eine Adaption der Reichsverfassung an die tatsächlichen Entwicklungen ermöglicht.45 Und so kam es in der Tat zu einem schleichenden Verfassungswandel, der zum einen die Rolle des Kaisers gegenüber dem Bundesrat und zum anderen das Verhältnis zwischen Preußen und dem Reich betraf und der alle Möglichkeiten der Reichverfassung auslotete. Hierzu gehörte namentlich die faktische Entwicklung eines „Gesetzesinitiativrechts des Deutschen Kaisers“ im Bundesrat, welches durch die Reichsverfassung zwar nicht vorgesehen war (und nur den Bundesstaaten zustand), was jedoch dadurch umgangen wurde, dass die von den zuständigen Reichsämtern vorbereiteten Anträge als sog. „Präsidialanträge“ formell „als preußische Anträge“ in den Bundesrat eingebracht wurden.46 Im Widerspruch (wenn vielleicht auch nicht in einem so offensichtlichen) zur Reichsverfassung befand sich auch die Entwicklung des Finanzrechts:47 In der Verfassung des Norddeutschen Bundes (und dann auch der des Reichs) war keine Rede von Bundessteuern gewesen, sondern die Konstruktion sah vor, dass die Matri­ kularbeiträge der Bundesstaaten für die Ausgaben des Präsidiums für „Militär, Mari­ ne und Konsulate“ genutzt werden sollte (Art.  70 S.  1 RV) und „daß die Finanzwirt  Oeter (Fn.  39), S.  29 f.   Oeter (Fn.  39), S.  30. 42   Oeter (Fn.  39), S.  30. 43   Oeter (Fn.  39), S.  30. 44   Paul Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 16. März 1895, Dresden 1895, S.  15 u. 22. 45   Oeter (Fn.  39), S.  30. 46   Schönberger (Fn.  3 ), S.  198 unter Verweis auf Laband (Fn.  4 4), S.  19; Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, Berlin/Leipzig 1932, S.  22. 47   Laband (Fn.  4 4), S.  23 ff. 40 41

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schaft des Bundes sich auf eine Abrechnung zwischen Preußen und den anderen Bundesstaaten zu beschränken habe“,48 wobei allerdings die Reichsverfassung eine Klausel enthielt, die sich darauf bezog, dass die Matrikularbeiträge so lange zu zahlen seien, „solange Reichssteuern nicht eingeführt sind“ (Art.  70 S.  2 RV). Dieses „solange“ wurde in der Praxis aber so interpretiert, dass es in Folge der Schutzzoll­ gesetzgebung und der sog. „Franckensteinschen Klausel“ zu einem Nebeneinander von Reichszöllen, einer Reichssteuer (Tabaksteuer) und Matrikularbeiträgen kam (§  8 des Zollgesetzes vom 9. Juli 1879, aufgehoben erst durch die Finanzreform von 1904). Diese Klausel lautete wie folgt: Solange die Einnahmen des Reichs aus Zöllen mehr als 130 Mio. Mark betrügen, sei der Überschuss an die Länder auszuzahlen, die es dann wieder dem Reich als Matrikularbeiträge zur Verfügung stellen sollten, was dazu dienen sollte, zum einen das Budgetrecht des Reichstags zu wahren und zum anderen das partikularistische Element zu stärken.49 Die Staatsrechtslehre des Kaiserreichs arbeitete sich an diesem schleichenden Verfassungswandel ab, der auch auf die Zeitgenossen so wirkte, als ob die Reichsverfassung „mit dem im Verfassungsgesetz vorgezeichneten Zustand“ kaum noch „eine Ähnlichkeit“ habe.50 Hierbei kreisten die Debatten unter anderem um folgende Punkte: 1. die Austarierung des unitarischen mit dem partikularen Prinzip, 2. die Frage, „ob der Zentralstaat seine Kompetenzen ohne Rücksprache mit den Einzelstaaten ausdehnen durfte (Kompetenz-Kompetenz)“,51 3. die Frage, ob das Reich ein Staatenbund oder ein Bundesstaat (und wer der Träger der Souveränität) sei, 4. wie das neuentstandene Gebilde ggf. sonst bestmöglich in rechtlichen Kategorien zu beschreiben sei (wobei der Gedanke des Staates als einer „juristischen Person“ Anhänger gewann52 ), 5. die Frage nach der Existenz ungeschriebener Reichskompetenzen53 und schließlich die Frage, wie überhaupt mit dem Umstand einer Auseinanderentwicklung zwischen dem Verfassungstext und dem realen Zustand (also der von Georg Jellinek so bezeichneten „Verfassungswandlung“54) umzugehen sei.55 Letzteres war vor allem für die Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus schwer zu beurteilen, die das „politische Element“56 aus methodischen wie inhaltlichen Gründen ausblendeten und versuchten, das „neue Staatsrecht zunächst als statisches und geschlossenes System, fähig zur Lückenfüllung“57 zu konstruieren. So blieb es Paul Laband letztlich nur, den Zwiespalt „zwischen ‚Verfassungszustand‘ und ‚Verfassungsgesetz‘“ zu konstatieren.58 Nicht nur Jellinek mit seiner Trennung zwischen dem „soziologischen“   Laband (Fn.  4 4), S.  23, Hervorhebung i. O.  Dazu Andreas Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, Frankfurt am Main 1999, S.  375 ff. sowie Julia Cholet, Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, Berlin 2012. 50  So Laband (Fn.  4 4), S.  15; dazu Schönberger (Fn.  3 ), S.  198. 51   Stolleis (Fn.  2 ), S.  366. 52   Stolleis (Fn.  2 ), S.  368 ff. 53   Stolleis (Fn.  2 ), S.  376 ff. 54   Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906. 55  Dazu Schönberger (Fn.  3 ), S.  183 ff., 201 ff. m. w. N.; Stolleis (Fn.  2 ), S.  376 ff. 56   Stolleis (Fn.  2 ), S.  377. 57   Stolleis (Fn.  2 ), S.  376. 58   Schönberger (Fn.  3 ), S.  199 m. w. N. 48 49

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und dem „juristischen Staatsbegriff “ (s. o.), sondern auch andere jüngere Autoren brachten indes nach 1900 das politische neben dem juristischen Element wieder in die Diskussion ein.59

2.  Die Soziale Frage Allerdings sollen diese Debatten in diesem Beitrag nicht isoliert betrachtet werden, sondern im Kontext der Frage nach den Machtzentren des deutschen Kaiserreichs von 1871. Und damit ist auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zurückzukommen, die die Diskussion darüber, wem denn die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ im Kaiserreich zukomme60 und ob dieses nun eher ein Staaten- oder ein Fürstenbund oder doch (schon) ein Bundesstaat sei,61 ein wenig akademisch werden ließen. Denn die „Soziale Frage“, die sich angesichts von Bevölkerungswachstum und Industrialisierung stellte, ließ die Kommunen und die klassischen Sozialfürsorge­träger62 wie die Kirchen und philantropischen Vereine, Wohlfahrtsverbände63 und Bürger­stiftungen64 zunehmend hilflos zurück, und erforderten letzten Endes neue Reichsämter. Vielen Autoren gilt daher auch die sogenannte „Konservative Wende“ von 1878/79, also die Auf kündigung des Bündnisses mit den Liberalen und die Hinwendung zu den Nationalkonservativen und ihrer Schutzzollpolitik, als die Wende hin zu mehr Bürokratisierung auf Reichsebene und somit gleichsam als eine „zweite Reichsgründung“.65 Diese These ist angesichts der zahlreichen Schwächen des seinerzeit so bezeichneten Bündnisses aus „Roggen und Eisen“ nicht unwidersprochen

59   So vor allem Heinrich Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung, in: Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktor-Promotion, Band 2, Tübingen 1908, S.  249–335. 60   Diese Frage prägte (wegen der Folgerungen für die Souveränität des Bundes wie seiner Mitgliedstaaten) bereits die Debatte im Norddeutschen Bund, vgl. Dorothea Steffen, Bürgerliche Rechtseinheit und Politischer Katholizismus, Paderborn u. a. 2008, S.  73 ff. 61   Carsten Kremer, Autonomie als Rechtsquelle. Die Diskussion über nicht-staatliche Rechtsetzungsbefugnisse in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Peter Collin/Gerd Bender/Stefan Ruppert/Margrit Seckelmann/Michael Stolleis (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat, Frankfurt am Main 2012, S.  3 –32, insbes. S.  22 ff. 62   Dazu statt vieler Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, (= Historische Zeitschrift, Beiheft 11), München 1989; Christoph Sachße, Der Wohlfahrts­ staat in historischer und vergleichender Perspektive, Geschichte und Gesellschaft 19 (1990), S.  478–490. 63  Dazu grundlegend Rolf G. Heinze/Thomas Olk, Die Wohlfahrtsverbände im System sozialer Dienstleistungsproduktion. Zur Entstehung und Struktur der bundesrepublikanischen Verbändewohlfahrt, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33 (1981), S.  94–114. 64  Hierbei gab es durchaus regionale bzw. städtische Unterschiede vgl. u. a. Hans-Ulrich Thamer/ Jochen-Christoph Kaiser (in Zusammenarbeit mit Gabriele Bussmann-Strelow/Julia Paulus/Paul Brandmann und Michael Funk), Kommunale Wohlfahrtspolitik zwischen 1918 und 1933 im Vergleich (Frankfurt, Leipzig, Nürnberg), in: Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der ‚Sozialstadt‘ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S.  325–370; Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungs­ politik am Beispiel Münchens 1910–1933, Göttingen 1998. 65   Im Anschluss an Jürgen Kocka, Das Problem der Nation in der deutschen Geschichte 1870–1945, in: ders. (Hrsg.), Geschichte und Auf klärung, Göttingen 1989, S.  82–100.

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geblieben.66 Gleichwohl lässt sich festhalten, dass die aufgrund des sog. „Aktienschwindels“ entstandene Wirtschaftskrise von 1873 für das Deutsche Reich durchaus insoweit Folgen hatte, als sie 1878/79 den Beginn des sogenannten „Interventions­ staates“ einleitete, der durchaus als ein Katalysator bürokratischer gegenüber selbstregulativer Steuerung wie auch für den Ausbau von Reichskompetenzen gesehen werden kann. Hans-Peter Ullmann hat hierfür das Bild einer zunehmenden „Durchstaatlichung“67 gewählt, und diese bedeutete dann auch eine ‚Durchreichlichung‘, um im Bild zu bleiben. An dieser Stelle kann man tatsächlich ein wenig an den Europäisierungsprozess denken, denn neue Gebiete der Staatstätigkeit entstanden, für die ungeschriebene Verwaltungskompetenzen der Reichsebene aus der „Natur der Sache“ in Anspruch genommen wurden. Diese führten wiederum zu neuen Reichsbehörden.

3.  Der Ausbau der Reichsbehörden a)  Die drei „Wellen“ des Behördenausbaus Das Reich kannte 1871 nur den Reichskanzler als Exekutivorgan, der vom Reichskanzleramt unterstützt wurde, das von einem Staatssekretär geleitet wurde. Eine Sonderrolle spielte von je her das Auswärtige Amt, das 1871 aus der entsprechenden Vorläuferorganisation des Norddeutschen Bundes entstanden war und bei dem die Mitgliedstaaten des Deutschen Reichs traditionell ein starkes Mitspracherecht hatten und aus dem im Jahr 1872 die Kaiserliche Admiralität ausgegliedert wurde.68 Auf den Gebieten, in denen das Reich über Kompetenzen verfügte, wurden aus dem Reichskanzleramt nach und nach Behörden ausgegliedert, die teilweise zuvor Abteilungen in der Rechtskanzlei gebildet hatten. Hierzu gehörte im Jahre 1873 das Reichseisenbahnamt, im Jahr 1876 das Reichspostamt sowie das Reichsamt für Elsass-Lothringen (aus dem 1879 ein eigenes Ministerium wurde), im Jahr 1877 das Reichsjustizamt,69 im Jahr 1879 das Reichsschatzamt, also der Vorläufer des heutigen Finanzministeriums. Die verbliebenen Aufgaben des Reichskanzleramts übernahm am 24. Dezember 1879 das Reichsamt des Innern, das insoweit seine Nach­folge antrat. Damit war gleichsam die erste Phase des Ausbaus der Reichsbehörden abgeschlossen. Diesen Ämtern standen Staatssekretäre oder Unterstaatssekretäre vor. Diese waren dem Reichskanzler gegenüber weisungsgebunden und bildeten mit ihm zusammen die „Reichsleitung“, welches aber kein feststehender verfassungsrechtlicher Begriff war. Neben die Obersten Reichsbehörden traten Reichsoberbehörden wie das 1877 eingerichtete Kaiserliche Patentamt, auf das mit dem Patentgesetz für das Deutsche   Nachweise hierzu bei Ullmann (Fn.  27), S.  77.   Ullmann (Fn.  27), S.  78. 68  Dazu Eckart Conze, Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, München 2013. 69   Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Frankfurt am Main 1995. 66 67

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Reich von 1877 sämtliche Zuständigkeiten der bisherigen (sofern existierenden) mitgliedstaatlichen Patentstellen und -ämter übertragen wurden.70 Daneben wurden Institutionen geschaffen, die Forschung mit behördlichen Aufgaben kombinierten. Dazu gehörte die 1887 eingerichtete Physikalisch-Technische Reichsanstalt, die für die Festlegung einheitlicher Maße und Messmethoden in der Physik und den Nachbarwissenschaften zuständig war. Diese Anstalt kann als die erste deutsche außeruniversitäre Forschungseinrichtung angesehen werden und bildete eines der Vorbilder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften von 1911, der Vorläuferin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft.71 Im Zuge der Flotten- und Kolonialpolitik Wilhelms II. kam es zu einer Art ‚zweiter Welle‘ des Ausbaus der Reichsbehörden. Die Kaiserliche Admiralität wurde im Jahr 1889 in das Reichsmarineamt überführt. 1907 wurde aus der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt das Reichskolonialamt. Eine ‚dritte Welle‘ erfolgte dann in der Kriegswirtschaft, die hier jedoch außer Betracht bleiben soll. In dieser wurden Behörden wie das Reichsernährungsamt (als solches von 1918), das Reichswirtschaftsamt (1917) und das teilweise aus diesem hervorgehende Reichsarbeitsamt von 1918 geschaffen. Mit dem Ausbau der Reichsverwaltung nahm nach und nach auch deren Abhängigkeit von der preußischen Verwaltung ab, die jedoch weiterhin eine zentrale Rolle im Reich spielte und zwischen der und der Reichsverwaltung eine große personelle Mobilität herrschte. So wurde etwa der Präsident des Reichseisenbahnamtes, Albert Maybach, ab April 1878 zunächst kommissarisch und dann vollamtlich – mit der Leitung des neu geschaffenen preußischen Ministeriums der öffentlichen Arbeiten betraut, das die preußischen Staatseisenbahnen unter sich hatte.

b)  Der „Primat der Politik“ als kompetenzielles Argument In der Debatte um die Inhaberschaft der „Kompetenz-Kompetenz“ wurde von der Reichsebene stets der „Primat der Politik“72 für sich in Anspruch genommen, der auch den Ausbau der Reichsverwaltung insbesondere in den Gebieten der Kolonialund Flottenverwaltung rechtfertigen sollte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint einmal mehr die Außenpolitik des Reichs als eine Rechtfertigung der Innenpolitik. Ein solches Vorgehen wurde von Hans Ulrich Wehler insbesondere Bismarck zugeschrieben,73 wurde aber auch nach diesem und auch direkt durch Kaiser Wilhelm II. fortgeführt. Der berühmte „Platz an der Sonne“, den Wilhelm II. forderte, und seine   Seckelmann (Fn.  4 ), S.  182 sowie 245 ff.  Dazu die Beiträge in Bernhard vom Brocke/Hubert Laitko (Hrsg.), Die Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip, Berlin, New York 1996. 72   Andreas Dietz, Das Primat der Politik in kaiserlicher Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr – Rechtliche Sicherungen der Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden zwischen Politik und Militär, Tübingen 2011. 73   Hans Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1969; ähnl. ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 1995. 70 71

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Außenpolitik erscheinen somit auch als Forderung nach einem Platz an der kompetenziellen Lichtquelle. In diesem Zusammenhang wurden Kaiser und Reichskanzler reichspolitisch immer mächtiger. Dieser Umstand wurde auch kaum noch vernebelt durch die Tatsache, dass Bismarck mit dem Begriff des Kanzlers schon für die Verfassung des Norddeutschen Bundes und dann des Reichs von 1871 bewusst einen altertümlichen ­Begriff aus dem Reich vor 1806 gewählt hatte, der deutlich weniger mächtig als der in der Paulskirchenverfassung vorgesehene Begriff des „Ministerpräsidenten“ des Reichs war. Der altehrwürdige Kanzlerbegriff suggerierte nicht nur zugleich Bescheidenheit wie Kontinuität zum Ancien Régime, er datierte auch aus einer Zeit, die nicht die 1848 angedachte parlamentarische Verantwortlichkeit dieses Exekutiv­ organs kannte. Allerdings hatte schon die Verfassung des Norddeutschen Bundes bei den Verfassungsberatungen eine Ergänzung durch die sog. „Lex Benningsen“ hinnehmen müssen, die dahin ging, dass der Reichskanzler die Verantwortung für die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers durch seine Gegenzeichnung einging, die Wirksamkeitsvoraussetzung für jene war (Art.  17 Satz  2 der Verfassung des Norddeutschen Bundes bzw. der Reichsverfassung). Diese Bestimmung wurde von den Nationalliberalen wie von Bismarck gänzlich unterschiedlich interpretiert, da die Folgerungen dieser Verantwortungsübernahme nicht weiter spezifiziert wurden. Hier ist der Carl Schmittsche Begriff vom „dilatorischen Formelkompromiss“74 tatsächlich einmal angebracht, aber nicht für die Weimarer Reichsverfassung, sondern gerade für die von Schmitt dieser verklärend gegenüber gestellten Verfassung des deutschen Kaiserreichs von 1871. Letztlich führte diese Bestimmung zu einer Stärkung des Kanzlers und zu dessen institutioneller Unterstützung durch das Reichskanzleramt (zuvor Bundeskanzleramt) und durch die aus diesem hervorgehenden Reichsämter.75 Da aber die „Funktionen des Reichskanzlers von denen des preußischen Ministerpräsidenten“76 faktisch nicht zu trennen waren, konnte es nicht passieren, dass die preußische Linie mit der des Reichs auseinanderfiel, da – Stichwort Präsidialanträge – zahlreiche preußische Gesetzesanträge im Bundesrat von Reichsbehörden vorbereitet wurden (da, wie Paul Laband ebenso spöttisch wie zutreffend bemerkte, Preußen keinerlei Verwaltung für die in seinen Anträgen behandelten Marine-, Handelssowie Post- und Telegrafenfragen hatte).77

74   Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S.  31 f. Ernst Rudolf Huber bezeichnete die fragliche Lösung von 1870/71 übrigens als einen „konstruktiven Kompromiß“, vgl. ders. (Fn.  28), S.  45 (vgl. auch ebd., S.  43: Die Reichsverfassung enthalte eben keinen „dilatorischen Formelkompromiss“, bei dem „die Gegenspieler die Frage nach dem wirklichen Träger der Macht aus Opportunismus in der Schwebe und im Zwielicht gelassen hätten“). 75   Heinrich Otto Meisner, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundeskanzleramt (1867–1871), in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2.  Aufl., Königstein 1981, S.  78; Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck, 1867–1890, Münster 1957. 76  So Laband (Fn.  4 4), S.  21. 77   Laband (Fn.  4 4), S.  19 ff.

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c) Die Parlamentarisierung von 1918 Erst durch das Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 191878 im Rahmen der sog. „Oktoberreformen“ kurz vor Kriegsende kam es zu einer Spezi­ fizierung und Verrechtlichung der Kanzler-Verantwortung, die nun ausdrücklich zu einer Verantwortung gegenüber dem Parlament wurde. Aufgrund des neu eingefügten Art.  15 Abs.  3 der Verfassung konnte der Reichstag den Reichskanzler zum Rücktritt zwingen, indem er ihm das Misstrauen aussprach.79 Der Kaiser musste dann den Kanzler entlassen. Offen geblieben war allerdings, wer für den Vorschlag und die Ernennung eines neuen Kanzlers zuständig war, diese lag wohl weiterhin beim Kaiser.80

d)  Die Parteien als neue Machtzentren Bis zur Parlamentarisierung von 1918 spielten die Abgeordneten mithin gegenüber Kaiser, Reichskanzler und Bundesrat eine zunächst untergeordnete, dann aber eine, durch eine zunehmende öffentliche Wahrnehmung verstärkte, immer wichtigere Rolle. Zudem gewann die nach dem Ende der Geltung des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 als solche bezeichnete Sozialdemokratische Partei immer mehr Wähler und stellte 1912 erstmals die stärkste Reichstagsfraktion. Damit trat nicht nur eine oppositionelle Kraft hervor, sondern, dem Selbstverständnis der SPD entsprechend, eine ganze Klasse. Denn die SPD war die politische Vertretung des sozialdemokratischen Milieus. Insbesondere die protestantische Arbeiterschaft war dicht organisiert in Vereinen, die zu den bisherigen Organisationen des politischen Katholizismus, aus denen sich insbesondere die deutsche Zentrumspartei rekrutierte, hinzutraten. Auch in diesem neuen Parteientypus, den entstehenden Massenparteien, die sich zudem wie das Zentrum nach Rom oder die Sozialdemokratie „international“, also durchaus aus Deutschland heraus, orientierten, kann man politische Machtzentren sehen; nicht zuletzt deswegen versuchte Bismarck sie durch Sozialistengesetz (von 1878–1890) einerseits81 und Kulturkampf andererseits82 kleinzuhalten.

  RGB. 1918, S.  1274.   Zugleich wurde aus Art.  17 RV der Passus „welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt“ gestrichen. 80   Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung: 1914–1919, Stuttgart 1978, S.  589 f. 81   Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das am 19. Oktober 1878, RGBl. 1878, S.  35. Dazu u. a. Christof Rieber, Das Sozialistengesetz und die Sozialdemokratie in Württemberg 1878–1890, Stuttgart 1984; Rainald Maaß/Elmar Matthias Hucko, Entstehung, Hintergrund und Wirkung des Sozialistengesetzes, JuS 1990, S.  702–706. 82   Dazu u. a. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, 2.  Aufl., Göttingen 2011. 78

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e)  Der Einfluss der Verbände und des Adels Ein anderes Machtzentrum waren die Verbände, die insbesondere zur Zeit des persönlichen Regiment Wilhelms II.83 das Ohr des Kaisers hatten, ohne dem Parlament rechenschaftspflichtig zu sein. Die sogenannte „Kamarilla“ Wilhelms II. war ein Bündnis aus Großjunkern, teilweise auch Hamburger Reedern, die den Kaiser in seiner Flottenpolitik unterstützten und sich im Gegenzug den ein oder anderen Gefallen von ihm erbitten konnten. Noch deutlicher wurde die Rolle des von Heinrich August Winkler so bezeichneten „Organisierten Kapitalismus“84 dann in der Kriegswirtschaft ab 1914, die aber eine eigene Abhandlung rechtfertigen würde. Allerdings führte der Krieg letztendlich auch weitgehend zu einem Ende der Adelsvorrechte, die ohnehin nicht mehr zur kapitalistischen Wirtschaftsform passen wollten. Die Anhänger der Theorie vom „deutschen Sonderweg“85 bzw. der Modernisierungstheorie86, sehen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Folge der im Deutschen Reich besonders lange andauernden und weitgehenden Vorrechte des Adels in einer sich immer stärker industrialisierenden Wirtschaft. Auch wenn diese Ansicht im Zeichen von Christopher Clarks „Sleepwalkers“ 87 wieder in Zweifel gezogen wurde, so vermag sie doch – neben dem Ausbau innerer Kompetenzen – die Flottenpolitik Wilhelms II. zu erklären.88

f)  Die unterschiedlichen Wahlrechte Ein anderer Punkt, der hinzukommt und ebenfalls zum Thema Polyzentrismus gehört, sind die zahlreichen Ungleichzeitigkeiten des deutschen Kaiserreichs, zu denen hier nicht nur die Frage der Adelsvorrechte, sondern auch das preußische Drei­ klassenwahlrecht gerechnet werden soll, welches, wie erwähnt, im auffälligen Wi-

83   Dazu u. a. Loth (Fn.  30), S.  123 ff.; Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Frankfurt am Main 1995, S.  167–172. 84   Heinrich August Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1997. 85   David Blackbourn/Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürger­ liche Revolution von 1848, Frankfurt am Main u. a. 1980; ähnlich Fritz K. Ringer, The decline of the German mandarins: the German academic community 1890–1933, Cambridge/Mass. 1969; aus der Vielzahl der Kritik an der Theorie vgl. Helga Grebing, Der „deutsche Sonderweg“ in Europa 1806–1945. Eine Kritik, Stuttgart u. a. 1986 und die Beiträge in Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität?, München 1982. 86   In diesem Sinne (reaktionäre Politik vs. sich modernisierende Gesellschaft) etwa Volker Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (= Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 16), 10. neu bearb. Aufl., Stuttgart 2003. Zu Modernisierungstheorien grds. Thomas Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders./Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S.  203–232. 87   Christopher Clark, The Sleepwalkers, How Europe Went to War in 1914, London u. a. 2012. 88   Insofern kann die These Fritz Fischers von der deutschen Kriegsschuld (vgl. ders., Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961) auch nach Clark (Fn.  87) nicht als gänzlich überholt gelten, sondern muss allenfalls in Teilen modifiziert werden.

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derspruch zum allgemeinen Männerwahlrecht im Reich stand.89 Das war deswegen besonders relevant, da, wie erwähnt, in etwa 2/3 der Reichsbewohner ihren Wohnsitz in Preußen hatten. Wie bereits angedeutet, hatte Bismarck dieses Auseinanderfallen zwischen den wahlrechtlichen Bestimmungen in Preußen und denjenigen auf Reichsebene wohl bewusst zugelassen, um genügend Bündnispartner für die Reichseinigung zu gewinnen.90

g)  Die Rolle des „Reichslands“ Elsaß-Lothringen Auch die Rolle des „Reichslands“ Elsaß-Lothringen, in dem der Kaiser besondere Rechte besaß, spielt bezüglich der Frage nach den (Macht-)Zentren des Kaiserreichs eine Rolle, die hier jedoch nicht weiter vertieft werden soll, da eine angemessene Abhandlung dieses Themas den Schwerpunkt des Aufsatzes deutlich verschieben würde.91

4.  Der Ausbruch der Revolution Die Parlamentarisierung kurz vor Kriegsende, die verschiedentlich (etwa von Max Weber 92 ) bereits zuvor eingefordert worden war, kam dann auch zu spät, um das Ende der Monarchie verhindern zu können. Am 9. November gab bekanntlich Reichskanzler Max von Baden aus Sorge vor einer weiteren Eskalation der Arbeiter- und Matrosenaufstände ohne Rücksprache mit dem Kaiser dessen Abdankung bekannt und übertrug die Reichskanzlerschaft auf den Vorsitzenden der stärksten im Reichstag vertretenen Partei, Friedrich Ebert. Philipp Scheidemann rief am selben Tag die Republik aus und der Kaiser begab sich am Folgetag (10. November 1918) ins Exil.

IV. Gegenreaktionen: Die Begriffe der Subsidiarität und des Föderalismus Und an dieser Stelle ist noch einmal auf die Reflexion in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre über die bestehende kompetenzielle Lage und die Kompetenzveränderungen zu sprechen zu kommen. Die Staatsrechtslehre hatte sich mit dem Problem

 Dazu Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. 90   Das gibt letztlich – mit Einschränkungen – auch Ernst Rudolf Huber zu, demzufolge Bismarck aber ohnehin ein Gegner des preußischen Dreiklassenwahlrechts gewesen sei (vgl. Huber [Fn.  28], S.  55, dort insb. Fn.  50). 91   Hierzu grundlegend Preibusch (Fn.  23). 92   Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland [1918], abgedruckt in: Max Weber Studienausgabe, Abteilung I, Band 15, S.  202 ff., dort insb. Kapitel 7; allerdings bezog sich Webers Forderung wohl auf eine Parlamentarisierung des Bundesrats, vgl. Schönberger (Fn.  3 ), S.  261. 89

Polyzentrismus im deutschen Kaiserreich?

363

auseinanderzusetzen, den seit Jean Bodin93 als unteilbar definierten Souveränitäts­ begriff mit den neuen Verhältnissen in Übereinstimmung zu bringen. Denn das Reich war nach der Verfassung von 1871 als eine Art „Oberstaat“ kon­ struiert worden, an den „die mediatisierten Unterstaaten, gewisse Pflichten übernehmend, Hoheitsrechte delegierten“.94 Klassisch wurde die Souveränität im Deutschen Reich dem Bundesrat zugeschrieben, in welchem die Mitgliedstaaten (22 souveräne Fürstenstaaten und drei Freie Hansestädte95) repräsentiert waren.96 Jedoch stellte sich angesichts der neuen Gebiete, die nach einer Regelung, etwa der „Sozialen Frage“ verlangten, das Problem, wem eigentlich die sogenannte „Kompetenz-Kompetenz“, also die Kompetenz zur Erweiterung des Kompetenz­katalogs in der Reichsverfassung bei „Neuerungen in den Gewerbe- und Verkehrsverhältnissen“97 zustand. Im Rahmen der Debatte um die Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuchs wurde diese Frage dann ausdrücklich adressiert. Dabei erwiesen sich die Zeitgenossen zwischen der von ihnen für wünschenswert gehaltenen weiteren Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Regelungen im Sinne der Schaffung eines einheitlichen Marktes und der Bewahrung ihrer althergebrachten landsmannschaftlichen und korporativen Rechte als hin- und hergerissen.98 Auch hier kommen einem unwillkürlich Parallelen zum heutigen Europäisierungsprozess in den Sinn. Auch herrschte jenseits des preußischen Protestantismus ein deutliches Misstrauen gegenüber dem Reich als Staat und seinem Ausgreifen in immer weitere Lebensbereiche vor. Daher wurde beispielsweise von der katholischen (Sozial-)Lehre stets die Subsidiarität des Staates gegenüber der Familie und anderen Verbänden betont. In dem von ihr aus mittelalterlichen Korporationsvorstellungen entwickelten Föderalismusbegriff habe sie, so Dorothea Steffen, „Modelle der staatlichen, politischen, gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Ordnung“ verbinden können, „die eine Vielzahl von Macht- und Entscheidungszentren beziehungsweise eine weitgehende Autonomie kleiner korporativer Einheiten und eine gesicherte Stellung der Kirche vorsahen“.99 Dadurch sei es ihr gelungen, dem als „staatsabsolutistisch“ gekennzeichneten „geschlossenen liberalen Weltbild eine ebenso geschlossene Alternative“ entgegenzusetzen.100 Vielleicht lässt sich sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Bewegung hin zu einer „Verreichlichung“, die vor allem von Preußen aus betrieben wurde, die Ausbildung konkurrierender Konzepte – wie des Föderalismus – geradezu provozierte. Ähnlich ‚erfolgreich‘ wie das Modell des Föderalismus waren diejenigen Begriffe, auf die Georg Jellinek in der eingangs erwähnten „Lehre von den Staatenverbindungen“ die „staatsrechtlichen“101 Staatenverbindungen letztlich hinauslaufen ließ: Bun  Jean Bodin, Les Six Livres sur la République, Paris 1576.   Hans Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, 1871–1918, Göttingen 1994, S.  60. 95   Auf die Sonderrolle des „Reichslands Elsaß-Lothringen“ kann hier nicht vertieft eingegangen werden, dazu u. a. Wehler (Fn.  94), S.  60. 96   Wehler (Fn.  94), S.  60. 97   O. Schilling, Aphorismen zu dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich (Allgemeiner Theil), Köln 1888, S.  3 –5; dazu Steffen (Fn.  60), S.  175 f. 98   Für den politischen Katholizismus schön nachzulesen bei Steffen (Fn.  60) passim. 99   Steffen (Fn.  60), S.  172 f. 100   Ebd., S.  173. 101   Im Gegensatz zu den völkerrechtlichen Staatenverbindungen, vgl. Jellinek (Fn.  12), S.  315. 93

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Margrit Seckelmann

desstaat oder Staatenbund, wobei er den Bundesstaat als denjenigen Begriff favorisierte, der die Dynamik der Kräfteverschiebungen im Reich hinreichend abbilden konnte.102

V.  Nochmals: Georg Jellinek So wie Georg Jellinek und seine Zeitgenossen vor dem Problem standen, die Staatenverbindungen ihrer Zeit – und die Staatlichkeit überhaupt – zu erfassen, so steht die heutige Staatsrechtslehre angesichts der European Governance vor ähnlichen definitorischen Problemen. Ob und wie es ihr gelingen wird, die neuartigen Phänomene unter die nun ‚klassisch‘ gewordenen Legitimations- und Kooperationsformen wie etwa Aufsicht, Weisung, Kooperation und Koordination zu fassen, wird die Zukunft erweisen – gegebenenfalls werden andere zu entwickeln sein, die sie ergänzen oder an ihre Stelle treten werden. Wie sie zu sein haben, das hat erneut Georg Jellinek zutreffend beschrieben: „Die Begriffe, nach welchen wir suchen, müssen aber scharf, bestimmt, fest und gegeneinander abgegrenzt sein. Bis auf den heutigen Tag hört man immer wieder, dass die Grenzen zwischen Staatenbund und Bundesstaat fließend sind, dass es mannigfaltige Uebergänge in den Staatenverbindungen von der einfachen Allianz bis zum Einheitsstaate gibt. Auch diese Behauptung ist eine Folge einer Verwechselung politischer mit juristischen Gesichtspunkten. Rechtsbegriffe sind allemal kantig, das Verschwimmen des einen in den anderen wäre der Tod der Wissenschaft, der Tod des Rechtslebens.“103

  Ebd. S.  316.   Ebd. S.  15, sic.

102 103

Dehnungen der Gewaltenteilung Politische Grenzüberschreitungen im modernen Staat. Überlegungen aus Sicht der politikwissenschaftlichen Institutionenlehre von

Prof. Dr. Everhard Holtmann, Universität Halle/Saale Inhalt I. Machtkontrolle, Funktionalität, Kooperation: drei zweckrationale Zuschreibungen an Norm und Praxis der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 2. Von der kontrollierenden Machtteilung zur sachgemäßen Aufgabenteilung – Der Wandel der Idee der Gewaltenteilung im Verlauf des Formen- und Funktionswandels des modernen Staates . . . . 367 3. Gewaltenteilung im „informalen Verfassungsstaat“: funktionales Erfordernis oder Gefährdung von Rechtsstaat und Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 II. Gewaltenteilung als variables Feld politischer Steuerung - politikwissenschaftliche Annäherungen . . . 371 III. Dynamische Bewegung im Schatten des Rechts: Vom Handeln der Akteure in „ihren“ Institutionen 375 1. Formale Regeln und informales Handeln: Institutionen und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2. Defensive und expansive Positionierung von Staatsorganen – unterschiedliche Handlungsrationalitäten im Spannungsfeld dynamischer Gewaltenteilung . . . . . 378 3. Auch ohne Rechtsform strukturbildend: geschaffene Tatsachen ,stiller‘ Gewaltendehnung . . . . . . 379 IV. Nicht-prekäre und prekäre Erscheinungsformen dynamischer Gewaltenteilung im demokratischen Verfassungsstaat – Beispiele in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 V. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

I.  Machtkontrolle, Funktionalität, Kooperation: drei zweckrationale Zuschreibungen an Norm und Praxis der Gewaltenteilung 1.  Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip Die Gewaltenteilung stellt eine Staatsfundamentalnorm des Grundgesetzes dar. Als ein „tragendes Organisationsprinzip“ (so das Bundesverfassungsgericht) des bundes-

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deutschen Regierungssystems ist sie unstrittig.1 Durch die „Ewigkeitsklausel“ des Artikels 79 GG bewehrt, steht sie auch nicht zur Disposition verfassungsändernder Mehrheiten. Die Garantie geteilter staatlicher Gewalt wird in allen modernen Demokratietheorien als selbstverständlich vorausgesetzt. Das Prinzip Gewaltenteilung gilt als normativ ausdiskutiert und gehört, wie etwa auch die Grundrechte, zu dem von Ernst Fraenkel so definierten nicht-kontroversen Sektor der Verfassung.2 Die Ausübung der Staatsgewalt können sich mehr als ein Staatsorgan teilen, und zwar nicht zwingend in strikt getrennter Form. Artikel 20 Abs.  2 GG bestimmt lediglich, die Staatsgewalt werde „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“. Eine ausschließliche Zuordnung je einer Gewalt zu je einem Organ allein ist damit meines Erachtens nicht präfixiert. Für tatsächliche, formelle und informelle Modi der Gewaltenkooperation, wie sie in parlamentarischen Demokratien regelmäßig vorkommt und wie sie exemplarisch im Prozess der Haushaltsaufstellung und -beratung zu besichtigen ist,3 lässt das Grundgesetz vielmehr Raum. Dem heutigen rechtswissenschaftlichen Verständnis zufolge unterliegen dem Prinzip staatlicher Gewaltenteilung drei normative Dimensionen: zum einen die Vorstellung einer wechselseitigen Kontrolle „überschießender“ Staatsmacht (Machtaspekt), zum anderen die Überlegung, dass Staatsaufgaben auf die Gewalten zweckdienlich aufgeteilt sein sollten (Funktionsaspekt), und schließlich drittens die Erwartung, dass durch ein Zusammenwirken der Gewalten Problemlösungen optimiert werden können (Kooperationsaspekt). Warum und in welcher Weise die staatlichen Gewalten, dieses dreifache Verfassungsversprechen praktisch umsetzend, in einer modernen Demokratie wie der deutschen Bundesrepublik, die durch eine vertikal wie horizontal besonders dichte Politikverflechtung gekennzeichnet ist, untereinander in einem steten Spannungsverhältnis stehen, wobei die Grenzen zwischen ihnen fortwährend verschoben werden, ist Thema dieses Beitrags. Dabei werden zunächst spezifisch rechts- und politikwissenschaftliche Zugangsweisen erörtert. Sodann werden mithilfe einer integralen Zusammenführung beider disziplinären Ansätze die Bedingungen aufgezeigt, kraft welcher im Feld der Gewaltenteilung dynamische Praxen wirken, die im Verhältnis der geteilten Gewalten Asymmetrien herbeiführen. Schließlich werden konkrete „prekäre“ und „nicht prekäre“ Ausprägungen solcher Asymmetrien benannt, die als Ausgangspunkt für künftige empirische Untersuchungen dienen können.

  BVerfGE 3, 225 (247) [1953]; ständige Rechtsprechung.   E. Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung [1963], in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, 89. 3   E. Holtmann, Strategisches Politikmanagement (SPM) und parlamentarische Mitwirkung, Gutachten (unveröff.), 2015. 1 2

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2.  Von der kontrollierenden Machtteilung zur sachgemäßen Aufgabenteilung – Der Wandel der Idee der Gewaltenteilung im Verlauf des Formen- und Funktionswandels des modernen Staates Am Anfang der neuzeitlichen Gewaltenteilungstheorie stand die gesellschaftliche Einforderung von staatlicher Machtkontrolle. Historisch wurde die Verfassungsformel der Gewaltenteilung im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft aus dem emanzipa­ torischen Anspruch heraus geboren, staatliche Macht, die auch in aufgeklärt absolutistischer Formgestalt noch selbstsouverän agierte, einer unabhängigen und rechtswirksamen, d.h. der Geltung formalen Rechts verpflichteten Kontrolle zu un­terzie­hen. Der Türöffner hierfür war ein entpersönlichtes Verfassungs- und Gesetzesrecht. In der historischen Kraftprobe zwischen dem absolutistischen Fürstenstaat und dem liberalen Bürgertum bot dieser institutionelle Denkansatz für die Reformkräfte den Hebel, um das auf die Person des Monarchen zugeschnittene, vormoderne Regiment zurückzudrängen. Als Ergebnis eines in den deutschen Territorialstaaten Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzenden Modernisierungsprozesses, in dessen Verlauf zunächst die Verwaltung aus der Gerichtsbarkeit herausgelöst wurde, die Justiz ihre Unabhängigkeit gewann, die Gesetzgebung und das Budgetrecht auf frei gewählte Vertretungskörperschaften übergingen und schließlich die Exekutive dem Parlament verantwortlich wurde,4 schälte sich aus der ursprünglich auf personalen Loyalitätsbeziehungen gründenden Herrschaftsform der Monarchie allmählich ein Regimetypus heraus, der das Institutionengefüge einer echten Gewaltenteilung konstitutionell verankerte. In dem Maße, wie die Staatspraxis sich im modernen Staat funktional ausdifferenzierte, wurde in der rechtswissenschaftlichen Gewaltenteilungstheorie die vormals einseitig auf den Aspekt der Machtkontrolle fixierte Sichtweise aufgegeben. In der jüngeren deutschen Staatsrechtslehre wird unter Gewaltenteilung ein Funktions­ zusammenhang verstanden. Sekundiert von der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts, ist „Funktionalität“ zu einem Maßstab für Qualität und Zuständigkeit der einzelnen Gewalten und ihres Zusammenwirkens geworden.5 Dem rechtsstaatlichen Legalitätsprinzip zufolge, ist alle Staatsgewalt generell „in Rechtspflichten eingebunden“.6 In Verbindung mit dem Gewaltenteilungsprinzip bedeutet dies, dass „jedes Staatsorgan nur im Rahmen rechtlich zugewiesener Kompetenzen und nach vorgegebenen Rechtsregeln handeln“ kann.7 In der Rechtswissenschaft entwickelte Positionen wie diese deuten an, dass sich das Gewaltenteilungsverständnis des bundesdeutschen Grundgesetzes über den klassischen Normvorbehalt der bloß beschränkenden Kontrolle und Hemmung staatlicher Macht hinausentwickelt hat und zu einem Modell funktionaler und verantwortlicher, d.h. sach4   T. Ellwein, Entwicklungstendenzen der deutschen Verwaltung im 19. Jahrhundert, in: ders./J. J. Hesse/R. Mayntz/F. W. Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. I, 1987, 13. und ders., Perioden und Probleme der deutschen Verwaltungsgeschichte, VerwArch 87 (1996), 1. 5   K.-P. Sommermann, in: H. von Mangoldt/F. Klein/C. Starck (Hrsg.), Bonner Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 4.  Aufl. 2000, Art.  20 II Rn.  187 f.; BVerfGE 68, 1 (86) [1984]. 6   M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: E. Benda u.a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1984, 129 (137). 7   Ebd., 139.

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angemessener und demokratisch legitimierter Verteilung von Zuständigkeiten erweitert worden ist. Dass die Teilung der Gewalten auch zur Mäßigung der Staatsmacht und zum Schutz individueller Freiheit nach wie vor unverzichtbar ist, steht dabei nicht infrage. Die funktionelle Aufladung des Gewaltenteilungsprinzips wird des Weiteren in der Weise präzisiert, dass dieses Prinzip mit den Kriterien Effizienz und Kooperation in einen Sinnzusammenhang gestellt wird: „Trennung der Gewalten bedeutet auch, dass die der Erfüllung der Staatsaufgaben dienenden Funktionen nach zweckgerichteten Maßstäben auf die verschiedenen Staatsorgane verteilt werden; damit diese ihre Aufgaben sachgerecht erfüllen können, müssen ihre Zuständigkeiten klar definiert und abgegrenzt werden. […] Das Zusammenwirken mehrerer Organe […] kann die Qualität der Arbeitsleistung noch erhöhen.“8

Ernst Wolfgang Böckenförde zufolge, ist „aus der ‚séparation des pouvoirs‘ […] eine ,séparation des fonctions‘ geworden“.9 Die funktionelle Wendung der Rechtsidee von der Macht(ver)teilung zur Aufgaben(ver)teilung vollzieht den realhistorischen Wandel der Staatsfunktionen nach, der sich im Zuge der Umformung des Staates von einem ,machtvoll‘ intervenierenden Ordnungs- und Eingriffsstaat zu einem sozial ausgleichenden, planenden und gestaltenden Daseinsvorsorgestaat ergeben hat.10 In enger verbaler Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in der deutschen Staatsrechtslehre zu Zwecken einer zeitgemäßen Deutung der Anforderungen von Gewaltenteilung der Begriff der funktionsgerechten Organstruktur eingeführt worden: „Ein verfassungsgerechtes Gewaltenteilungssystem erfordert, dass die Staatsfunktionen so verteilt sein müssen, dass die Staatsaufgaben und Entscheidungen auch von solchen Organen erledigt und getroffen werden, die nach ihrer inneren Struktur, Besetzung, Arbeitsweise, dem zu beobachtenden Entscheidungsprozess usw. für die betreffende Aufgabe legitimiert und gerüstet sind, effizient zu entscheiden.“11

Die Gefahr einer funktionalistisch verkürzten, d.h. ihren Wertbezug einbüßenden Verengung der Gewaltenteilungsnorm wird nach diesem Verständnis durch die implizite gegebene Kopplung von Ergebnisoptimierung und Legitimationsprinzip aufgefangen. Für Hans-Jochen Vogel etwa trägt die plurale Struktur der beteiligten Organe dem Erfordernis der demokratischen Legitimation politischer Herrschaft Rechnung. Vogel sieht eine Gewährleistung der Gewaltenteilung darin, dass die Qualität staatlicher Entscheidungen dadurch verbessert wird, „dass an ihrer Vorbereitung mehrere Organe mitwirken, die unterschiedliche Aspekte und Interessen zur Geltung kommen lassen“. Kooperierende Gewalten böten die Chance etwas zu un  E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: ders. u.a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1984, 477 (492 f.). 9   Zit. bei F. Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, DÖV 1980, 545 (547). 10   So auch Benda (Fn.  8 ), 493. 11   Ossenbühl (Fn.  9 ), 549 – In der Referenzentscheidung hatte das BVerfG allerdings den traditionellen Gedanken der Machthemmung noch deutlich hervorgehoben: Das dem Gewaltenteilungsgrundsatz des Grundgesetzes inhärente Erfordernis der „Verteilung von politischer Macht und Verantwortung sowie der Kontrolle der Machtträger“ wolle „auf eine Mäßigung der Staatsgewalt insgesamt hinwirken“ (BVerfGE 68, 1 [86] [1984]). 8

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ternehmen, was „die Richtigkeit und Angemessenheit der Entscheidung wahrscheinlicher macht“.12 Auch bei einer dank geteilter und zugleich kooperierender Gewalten gesteigerten Funktionsfähigkeit der Gewaltentrias gilt: Die Legitimationskette politischer Entscheidungen schließt sich nicht selbstreferentiell im abgehobenen Zirkel der teilhabenden Staatsorgane, sondern sie ist über diese Organe an das Mandat des souveränen Volkes angebunden. Für Helmuth Schulze-Fielitz ist der Gedanke der Machtverteilung auch deshalb ein „Ausfluss des Demokratieprinzips“, weil die gewaltenteilige Ausübung der Staatsgewalt die Umsetzung des Volkswillens gewährleiste.13 Dank dieser zweifachen Fortentwicklung in der Rechtsauslegung der Gewaltenteilungsnorm – die Gewalten wirken um funktionaler Zwecke willen zusammen, und sie können eine materielle Gewaltenfunktion verfassungsgemäß gemeinsam wahrnehmen – wird zum einen die Behauptung gegenstandslos, parlamentarische Regierungssysteme wie das bundesdeutsche seien mit der reinen Lehre der Gewal­ tenteilung unvereinbar, weil in diesen Systemen eine funktional gesonderte Gewalt, nämlich die Gesetzgebungsfunktion, partiell durch mehr als ein gewaltenteiliges Or­ gan, nämlich Bundestag und Bundesrat, gemeinsam ausgefüllt wird. Zum anderen wird der empirischen Evidenz Rechnung getragen, dass infolge des kooperierenden „Ineinandergreifen[s] der drei Gewalten“ die Trennlehre „nirgends rein verwirklicht“ ist.14 Auch in Staatsordnungen, welche wie die unsrige die Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip anerkennen, sind nach Erkenntnis der Karlsruher Verfassungsrichter „gewisse Überschneidungen der Funktionen und Einflussnahmen der einen Gewalt auf die andere gebräuchlich“ (ebd.). Man kann hinzufügen: Genau diese Überschneidungen und Einflussnahmen sind es, die sich auch als Überdehnungen und Grenzüberschreitungen im Verhältnis der Gewalten bemerkbar machen. Unter Juristen umstritten ist heute allenfalls, wie weit der verfassungsrechtliche Status des kooperativen Elements der Gewaltenteilung reicht. Während einer Rechtsauffassung zufolge der integrierenden Zusammenarbeit von Gewalten kein gleicher Verfassungsrang wie den traditionellen Zielen der Machthemmung und Machtba­ lance zuzuweisen ist15, tendiert eine entgegengesetzte Position zu der Meinung, überhaupt nur solche Elemente der Verfassungsordnung hätten gewaltenteilenden Charakter, „die ein institutionalisiertes System der Kooperation“ integrieren.16

  H.-J. Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung? Zu neueren Entwicklungen im Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander, NJW 1996, 1505 (1505). Ebenfalls Vogel stellt an gleicher Stelle die Begriffe „Machtlegitimation, Machtbeschränkung und Ergebnisoptimierung“ in einen direkten Zusammenhang (1506). 13   H. Schulze-Fielitz, Artikel 20 GG, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 1998, Art.  20 (Rechtsstaat) Rn.  62. 14   BVerfGE 3, 225 (247) [1953]. 15   Zwar wird zugestanden, dass im Grundgesetz das ältere, machthemmende Gewaltenteilungsverständnis „zugunsten eines aufgabenteiligen Kooperationsmodells in weiten Teilen durchbrochen sei“. Trotzdem könne eine „Notwendigkeit, den Grundsatz der Mäßigung von Macht durch Teilung und Kontrolle mit einem integrierenden ‚Wirksystem‘ aufzuladen“, nicht gesehen werden (A. von Arnauld, Gewaltenteilung jenseits der Gewaltentrennung. Das gewaltenteilige System in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, ZParl 2001, 678 (683). 16   von Arnauld (Fn.  15), 682, mit Verweis auf W. Leisner 1969, 279. 12

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3.  Gewaltenteilung im „informalen Verfassungsstaat“: funktionales Erfordernis oder Gefährdung von Rechtsstaat und Demokratie? Dieser Ende der 1960er Jahre formulierte Hinweis auf eine gebotene Institutionalisierung der Kooperation der Gewalten ist aus heutiger Sicht insofern von Bedeutung, als damit der Blick auf die Informalisierung als einer Schlüsselgröße der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in Politik und Verwaltung gelenkt wird. Dass Informalität eine ständige Begleiterscheinung staatlich-politischer Entscheidungen ist, wird durch eine Fülle politikwissenschaftlicher Arbeiten, die unter anderem in der Politikfeldanalyse, der neueren Parlamentsforschung17, der Koalitionsforschung18 und auch der Untersuchung von Entscheidungspraxen im europäischen Mehrebenen­ system19 angesiedelt sind, zur Genüge bestätigt. Die Position, welche die heutige Staatsrechtslehre gegenüber dem wachsenden Gewicht informaler Politik grundsätzlich bezieht, ist nicht einheitlich. Helmuth Schulze-Fielitz, der den Begriff des „informalen Verfassungsstaats“ geprägt hat, beschreibt dessen Praxis als eine funktionale Varietät von „Regeln, die in unmittelbarem Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Normen stehen, die sie stützen, ergänzen, praktikabel machen, „mit Leben erfüllen“, aber auch „in einem Alternativverhältnis zur Verfassung stehen (und diese möglicherweise konterkarieren)“ können.20 Ein integraler Teil dieser informalen Staatswirklichkeit ist auch das dynamische Zusammenspiel und Widerspiel der geteilten Gewalten. Kritischer fällt die Einschätzung Dieter Grimms aus. Grimm räumt ein, dass Verhandlungssysteme, welche die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat informal umformen, ihre Ursache in gesteigerten Leistungserwartungen an die staatliche Sphäre haben. Viele der Aufgaben, die mit dem Wandel des Staates „vom Garanten einer als gerecht vorausgesetzten Gesellschaftsordnung zu einer umfassenden Planungs-, Entwicklungs- und Serviceagentur für die Gesellschaft“ zusammenhingen, ließen sich nicht „mit dem spezifisch staatlichen Mittel von Befehl und Zwang lösen“.21 Die Aufgabenerfüllung ist daher auf Wege und Modi des Aushandelns verwiesen. Andererseits könne das Regieren und Verwalten mittels Absprachen sich für Demokratie und Rechtsstaat abträglich auswirken, zumal dann, wenn der Staat mit Privaten verhandelt: Die Folge könne sein, dass politische Verantwortlichkeiten unklar werden, dass Art und Umstände der Entscheidungsfindung undurchschaubar bleiben und dass das Gleichheitsgebot verletzt wird, wenn die Berücksichtigungschancen der divergierenden Interessen ungleich einbezogen werden. Benannt werden damit grundsätzliche Legitimations- und Einflussprobleme, die das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat auch in der vertikalen Dimension der Gewaltenteilung berühren.   M. Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung, 2001.   S. Kropp, Regieren in Koalitionen, 2001 und dies., Regieren als informaler Prozeß, APUZ 2003, 23–31; S. Kropp/S. Schüttemeyer/R. Sturm, Koalitionen in West- und Osteuropa, 2002. 19   S. Kropp/A. Buzogány, Europäisierung informaler Regierungskontrolle, 2015 (i.E.). 20   H. Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, 18. 21   D. Grimm, Das Grundgesetz nach 50 Jahren – Versuch einer staatsrechtlichen Würdigung, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft, 1999, 39 (55). 17

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Grimm sieht in der Bundesrepublik nahezu „alle Vorkehrungen, die die Verfassung zur Gewährleistung des Demokratieprinzips und des Rechtsstaatsprinzips trifft, […] durch den paktierenden Staat unterlaufen“.22 Seine Forderung geht dahin, die Verfassung auf diesen „paktierenden Staat“ besser einzustellen, und zwar durch „prozedurale Anforderungen“, welche angemessene „Teilnahmerechte, Publikationspflichten und Kontrollmöglichkeiten begründen“.23 Wie die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Besetzung informeller Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat indessen verdeutlicht, sind der Transparenz prozeduraler Regelungen, die sich als Machtkontrolle verstehen lässt, durch die Erfordernisse des effizienten Zusammenwirkens gewaltenteilig aufgestellter staatlicher Organe Grenzen gesetzt.24 Dennoch stellt sich die von Grimm aufgeworfene Frage, ob durch informelle Praxen die oben erwähnte Gewähr einer angemessenen institutionellen Einfriedung der Kooperation von politischen Entscheidern auch dort gegeben ist, wo staatliche Stellen mit privaten Akteuren verhandeln. Die wachsende Bedeutung informalen Handelns unterzieht die Verfassungskonstruktion der horizontalen Gewaltenteilung e­ iner besonderen Belastungsprobe, wenn sich mit staatlicher Beteiligung bzw. Billigung Verhandlungssysteme jenseits des Staates etablieren, die von gewaltenübergreifenden Akteursrunden aus Fachpolitikern, Fachbeamten und Vertretern privater Interessen­ organisationen – Grimm spricht hier von „parakonstitutionellen Entscheidungsträgern“25 – getragen werden. In das Blickfeld der Betrachtung des gewaltenteilig angelegten Regierens und Verwaltens rücken somit bestimmte Akteurskonstellationen und deren besondere Verhandlungslogiken, die seit längerem ein Untersuchungs­ gegenstand der Politikwissenschaft sind.

II.  Gewaltenteilung als variables Feld politischer Steuerung – politikwissenschaftliche Annäherungen Trotz der in der Politikwissenschaft bis heute weit verbreiteten Prüderie gegenüber Fragen der Gewaltenteilung liefern einzelne Traditionsstränge des Faches sowie aktuelle theoretische Erklärungsansätze samt daraus geleiteter empirischer Studien immerhin Anknüpfungspunkte, die sich für ein systematisches Erschließen unseres Themas fruchtbar machen lassen. Den frühen Arbeiten Winfried Steffanis verdanken wir die Klarstellung, dass parlamentarische Regierungssysteme mit ihrer besonderen Anordnung kooperierender Gewalten einen verfassungspraktischen Modus pflegen, welcher die Trennlehre der älteren Gewaltenteilungs-Orthodoxie beiseite rückt.26 An die Stelle einer dualisti  Grimm (Fn.  21), 57.  Ebd. 24   In seiner Entscheidung vom 22. September 2015 führt das BVerfG aus: „Zur Vorbereitung eines politischen Kompromisses zwischen Bundestag und Bundesrat darf sich der Vermittlungsausschuss formeller und informeller Gremien bedienen, die nach anderen Kriterien als dem der Spiegelbildlichkeit [analog zu Parlament und Ausschüssen, E.H.] zusammengesetzt sind“ (2 BvE 1/11). 25   D. Grimm, Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, 2001. 26   W. Steffani, Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, 1991; ders., Gewaltenteilung und Parteien im Wandel, 1997. 22

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schen Trennung zwischen der Legislative und der Exekutive tritt das Gegenüber von Regierungsmehrheit im Parlament und parlamentarischer Opposition. Steffani zufolge existiert dieser Typus demokratischen Regierens nicht nur faktisch, sondern nach der Verfassungsordnung des Grundgesetzes auch secundum legem constitutionis.27 Es ist wesentlich Steffanis Verdienst, den „missverstandenen Montesquieu“, wie er in der Dogmatik einer rigiden „Triviallehre“28 der Gewaltentrennung teilweise bis heute fortlebt, korrigiert zu haben. Die von einer Parlamentsmehrheit getragene Regierung und die ihr gegenüber stehende Minderheit der Opposition erfüllen jeweils einen eigenen Part im gewaltenteiligen parlamentarischen System, das „die Machtausübung einem System wechselnder Kontrollen“ unterwirft und zugleich die Gewaltenkooperation so organisiert, dass sie „zur freiheitssichernden Ganzheit hin“ ausgerichtet ist.29 Im Verständnis Steffanis bleibt das Ensemble der Gewaltenteilung auf Aspekte der parlamentarisch-gouvernementalen Machtkontrolle und Machtkooperation hin ausgelegt.30 Diese traditionelle Perspektive ist gegen Ende der 1960er Jahre in mehr­ facher Hinsicht erweitert worden, und zwar durch den Blickwechsel von Machtfragen auf Fragen einer das Verhältnis der Gewalten bestimmenden aufgabenbezogenen politischen Steuerung, ferner durch die analytische Erschließung der Akteursdimension sowie durch Aufzeigen des inzwischen geläufigen Sachverhalts, dass die Austauschbeziehungen zwischen den Gewalten bzw. ihren Organen großenteils informal ausgestaltet sind. Rolf-Richard Grauhan hat aufgezeigt, dass die triviale Vorstellung strikt getrennter Gewalten von Gesetzgebung und Vollzug nicht nur durch die Handlungslogik des politischen Verbunds von Parlamentsmehrheit und Regierung widerlegt wird, sondern außerdem auf das dynamische Wechselspiel, das zwischen Legislative und Exekutive herrscht, nicht anwendbar ist. An sich wäre, so Grauhan, die „legislatorische Programmsteuerung“ durch das den Volkswillen repräsentierende Parlament, welches seiner Gesetzgebungsfunktion souverän nachkommt, das diesem demokratischen Verfassungsorgan normativ angemessene Modell politischer Führung. Prä-­   „Die ehemals voneinander ‚getrennten‘ Verfassungsorgane (Regierung und Parlament) werden folglich in allen parlamentarischen Systemen durch die Realität der Verfassungsinstitutionen Regierungsmehrheit und Opposition überlagert“ (W. Steffani, Regierungsmehrheit und Opposition, in: E. Holtmann [Hrsg.], Politik-Lexikon, 3.  Aufl. 2000, 584 [585]). Dies ist auch in der Staatsrechtslehre längst die herrschende Meinung: Für Peter Badura z.B. ist ein parlamentarisches Regierungssystem schlicht eine „Erscheinungsform der Gewaltenteilung“ (P. Badura, Staatsrecht, 1996, 269). Dieter Grimm zufolge handelt es sich bei der Verschränkung von Regierungsmehrheit im Parlament und ­Regierung „um eine zwangsläufige Konsequenz verfassungsrechtlich vorgegebener Strukturen, die deswegen auch nicht sinnvoller Gegenstand verfassungsrechtlicher Kritik sein kann“ (D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 1, 3.  Aufl. 1995, 645). Die gegenteilige Auffassung Schuett-Wettschkys, dass Artikel 20 II GG eine der älteren Trennlehre entlehnte „Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung“ normiert habe (E. Schuett-Wettschky, Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung? in: K. Dicke [Hrsg.], Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland, 2001, 67 [68]), ist aus dem Wortlaut der Verfassung nicht herauszulesen. 28   H. Rausch, Gewaltenteilung, in: E. Holtmann (Hrsg.), Politik-Lexikon, 3. Auflage 2000, 224 (225). 29   Steffani (Fn.  26), 19, 29. 30  Für Steffani ist Gewaltenteilung „im Kern“ die „machtbegrenzende Herrschaftskontrolle von staatlicher Gewalt“ (Fn.  26), 19. 27

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legislative Funktionen wie die Thematisierung von Problemen („Agenda Setting“) sowie die Initiierung und Entwicklung von Programmen obliegen indes längst der Ministerialverwaltung. Auch deshalb erweist sich ein gedachter Zustand geteilter Gewalt, der Rechtsetzung und Vollzug klar scheidet, als wirklichkeitsfern. Das von Grauhan entwickelte alternative Muster „exekutiver Führerschaft“ ist zwar insoweit realitätsnäher, als es den Erfordernissen eines effizienten und sachlich effektiven Gesetzgebungsverfahrens eher angemessen erscheint. Es birgt jedoch das Risiko einer sich verselbständigenden Verwaltung und damit ein Risiko mangelnder demokratischer Legitimation. Um dieses Dilemma aufzulösen, schlug Grauhan seinerzeit eine dritte Variante, das sogenannte „korrelative Führungsmodell“, vor. Der Bestand an „kompakter“ politischer Führung, in dem zentrale Zuständigkeiten der Ersten und der Zweiten Gewalt zu Lasten der Parlamente verschmelzen, sollte auf die beiden Organe neu verteilt werden: Der Regierung und ihrer Verwaltung sollten Initiierung und konzeptionelle Entwicklung von Programm-Alternativen übertragen werden. Das Parlament seinerseits sollte unter den vorgelegten Gesetzentwurf-Varianten eine Entscheidung treffen und deren administrative Ausführung kontrollieren können.31 Empirische Studien zeigen, dass sich die politische Funktion einer Ministerialbürokratie nicht auf bloßes Anstoßen und Entwickeln von Programmen einschränken lässt. So nehmen beispielsweise Fachbeamte an den Beratungen der Parlamentsausschüsse regelmäßig teil, und so können sie auch die Auswahl aus den von ihnen zuvor materiell erarbeiteten Lösungsalternativen beeinflussen. Politisch steuernd agiert die Verwaltung überdies bereits in der vorparlamentarischen Phase. Wird etwa ein Ressort des Bundes mit der Erarbeitung einer Gesetzesnovelle beauftragt, lotet die ministeriale Arbeitsebene schon in diesem frühen Stadium über informelle Kanäle auf der Länderebene aus, ob und in welcher Form ein Entwurf in den Dickichten des Zwangsverhandlungssystems des deutschen kooperativen Föderalismus überhaupt mehrheitsfähig ist.32 Grauhans Verdienste um die Erforschung der Gewaltenteilung schmälern diese Einwände freilich nicht. Seine modellhafte Beschreibung einer Dynamik der Gewalten, die nicht in schieren Machtinteressen gründet, sondern deren Treiber eine funktionale, nämlich sachlogisch begründete politisch-administrative Arbeitsumverteilung im Kernbereich des Regierens ist, welche die klassischen Grenzen der Gewalten ständig überschreitet, hat spätere empirische Forschungen, die sich mit einzelnen Stadien des Gesetzgebungszyklus befassen und deren je besondere informale Verfahrensweisen erschlossen haben, zweifellos angeregt. Die von Grauhan gewiesene Perspektive der Erforschung politischer Steuerung, welche den informalen mit dem funktionalen und dem akteurzentrierten Aspekt bereits verknüpft, hat sich hernach als heuristisch äußerst anregend erwiesen. Seither in der Verwaltungspolitologie entwickelte Fragestellungen, die auf das informale Element des Politikprozesses abheben und zudem berücksichtigen, dass Parlamente, Regierungen und Verwaltungen selten als unitarische Akteure auftreten, sind sowohl von der   R.-R. Grauhan, Modelle politischer Verwaltungsführung, PVS 1969, 269 passim.   E. Holtmann, Gesetzgebung in der Wohnungspolitik des Bundes, in: ders./H. Voelzkow (Hrsg.), Zwischen Wettwerbs- und Verhandlungsdemokratie, 2000, 105–127. 31

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neueren Parlamentsforschung33 als auch von der vergleichenden Koalitionsforschung34 aufgenommen worden. Dank dieser Forschung wissen wir inzwischen auch sehr viel genauer, dass der Einzugsbereich der Gewaltenteilung nicht nur auf Inter-Organ-Beziehungen zwischen den drei staatlichen Gewalten beschränkt ist. Mitspieler im Feld sind vielmehr auch jene gewaltenteiligen Unterorgane, die als Beteiligte von Intra-Organ-Beziehungen mitwirken, wie zum Beispiel Fraktionen und deren Untergliederungen im Parlament.35 Ebenso wissen wir inzwischen, wie bedeutsam für den politischen Entscheidungsprozess bestimmte „informale Gleitzonen“ sind, die sich im Umfeld und in den Zwischenräumen der formal zuständigen Organe herausgebildet haben. In diesen Gleitzonen haben sich diverse informale Gremien koalitionspolitischer Entscheidungsvorbereitung, wie zum Beispiel Koalitionsausschüsse, Konsensrunden, Bündnisse, Aktionen und sogenannte Spitzengespräche, oder auch formale Hybride wie Ad-hoc-Ausschüsse, beratende Kommissionen von Regierungen und Parlamenten sowie ständige Konferenzen etabliert. In solchen Gremien werden Zuständigkeiten der parlamentarischen und der exekutiven Staatsgewalt, teilweise unter Beiziehung nichtstaatlicher Akteure, zu kooperativen Formen neuen Typs zusammengeschaltet. Für die Institution der Gewaltenteilung hat die empirisch nachweisbare „Kombination von parlamentarischen Strukturen und Verhandlungssystemen“36 einschneidende Folgen: Wo der Staat mit korporativen Akteuren der Gesellschaft in neu entstandenen Netzwerken dauerhaft kooperiert, wird der ausschließlich staatszentrierte Geltungsbereich der in der Verfassung verankerten Gewaltenteilungsnorm unweigerlich aufgesprengt. Im kooperierenden Staat, der die Grenzen seiner Tätigkeiten und Zuständigkeiten zur Gesellschaft hin teilweise öffnet, wird ein Kernelement der Polity somit faktisch zur Disposition gestellt. Auf eben dieses rechtsstaatliche und demokratiepolitische Problem zielt auch die oben erwähnte kritische Einrede Dieter Grimms. Dass die politikwissenschaftliche Forschung ihre Befunde über kooperative Politik und Governance nicht selbst einer Folgenabschätzung für die Gewaltenteilung unterzieht, muss verwundern. Denn tatsächlich ist es ja so, dass mit der fortwährenden Dekonstruktion der formalen Gewaltenteilung im verhandelnden Staat auch das Uranliegen der klassischen Gewaltenteilungstheorie, nämlich die freiheitssichernde Kontrolle politischer Macht, neuerlich infrage steht. Denn dass informale Politik sich wirksamer Machtkontrolle durchaus entziehen und mitunter eine demokratisch prekäre Gestalt annehmen kann, darf angesichts vorliegender Forschungsbefunde als gesichert gelten. Der verhandelnde Staat der Bundesrepublik Deutschland mag funk­ tionsgerecht sein. Aber wo er im gewaltenteiligen Zusammenspiel der Verfassungsorgane und mit Verfassungsrang ausgestatteten Akteure seinen angemessenen Platz 33  Vgl. M. Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung, 2001; ferner E. Holtmann/W. J. Patzelt, Kampf der Gewalten? Parlamentarische Regierungskontrolle – gouvernementale Parlamentskontrolle, 2004, mit einschlägigen Beiträgen. 34  Vgl. Kropp 2001 und 2003 (Fn.  18), ferner Kropp/Schüttemeyer/Sturm (Fn.  18). 35   Zu dieser Klassifizierung vgl. von Arnauld (Fn.  15), 686; zu Fraktionen S. Schüttemeyer, Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 bis 1997, 1998. 36   A. Benz, Postparlamentarische Demokratie? – Demokratische Legitimation im kooperativen Staat, in: M. T. Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des Westens?, 1998, 201.

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findet, bedarf erst noch weitergehender politik- und rechtswissenschaftlicher Reflexion.

III.  Dynamische Bewegung im Schatten des Rechts: Vom Handeln der Akteure in „ihren“ Institutionen 1.  Formale Regeln und informales Handeln: Institutionen und Akteure Welches sind nun die Bedingungen, unter denen sich eine dynamische Gewalten­ teilung entfaltet? – Die machtkontrollierende Schutzfunktion des konstitutionellen Prinzips der Gewaltenteilung war schon in ihrer frühen theoretischen Ausprägung nach zwei Richtungen hin ausgelegt: Vertikal sollten durch Aufteilung der einen Staatsgewalt auf die Bereiche von Gesetzgebung, Vollzug und Rechtsprechung die Freiheit und Rechtssicherheit der Bürger gegen Willkürakte und selbstherrliches Auftreten der Staatsmacht geschützt werden. Horizontal sollten sich die geteilten Gewalten zugleich untereinander hemmen und mäßigen, um ein legales Übergewicht eines Staatsorgans zu verhindern. Diesen Zwecken dient die Institution des formalen Rechts. Eine angemessene Aufteilung und Kontrolle der Befugnisse der öffentlichen Gewalten glaubt man traditionell mit der Durchsetzung einer abstrakten und entpersönlichten Gesetzesherrschaft abgesichert. „Eine dieser hergebrachten Erwartungen an das gesetzte Recht – vielleicht die wichtigste – richtete sich an seine Stabilität“.37 In der älteren Staatslehre und Rechtstheorie – und noch lange darüber hinaus – hielt man die Staatsgewalt in ihren kraft Gesetz gezogenen Grenzen für hinreichend gebändigt. Die Rationalisierung staatlicher Herrschaft vermittels des Rechts schien Kontrolle der Macht genug zu sein: Eine staatliche Institution tut recht, wenn sie legal handelt. Dieses Element einer rechtsstaatlich abgesicherten Kontrolle geteilter politischer Macht, das für das Modell demokratischer Herrschaft schlechthin konstitutiv ist, war gleichwohl bemerkenswerterweise „in der Theorielinie von Schumpeter bis Dahl aus der vergleichenden Demokratieforschung weitgehend verschwunden“.38 Es blieb der nach 1990 entstehenden politikwissenschaftlichen Transformationsforschung vorbehalten, den Gedanken einer institutionell abgesicherten Machtteilung und Machtkontrolle wieder aufzunehmen.39 Doch dass sich gerade in konsolidierten Demokratien infolge der „arbeitenden“ Gewaltenteilung, ungeachtet verfassungsrechtlicher Absicherung dieses Prinzips, besondere und häufig informale Gewichtsverschiebungen im Verhältnis der staatlichen Organe einstellen, welche zu einer politisch prekä-

37   W. Zeh, Gesetzesfolgenabschätzung – Politikgestaltung durch Gesetze?, in: W. Jann u.a. (Hrsg.), Politik und Verwaltung auf dem Weg in die transindustrielle Gesellschaft, 1998, 365 (366). 38   W. Merkel/A. Croissant, Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien, PVS 41 (2000), 3 (5). 39   Eine Erklärung hierfür ist die Entdeckung des Subtypus „illiberale Demokratie“ als einer Variante demokratisch defizitärer transformatorischer Regimebildung, für welche das Fehlen jeglicher horizontaler Gewaltenkontrolle, und hier insbesondere die Trennung der Jurisdiktion von Legislative und Exekutive, kennzeichnend ist (ebd., 6, 18 u.ö.).

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ren Imbalance der Gewalten führen können, ist auf Seiten der Politikwissenschaft bis heute weithin ohne Beachtung geblieben.40 Als ein gefestigter Erfahrungsbestand darf gelten: Institutionelle Sicherungssysteme als solche sind zur Überwachung der Macht nicht ausreichend, selbst dann, wenn sie Macht rechtlich einhegen. Formale Institutionen stellen lediglich ein Regelwerk bereit, das weit gerahmte Handlungsvorgaben macht. Für die politisch-administrative Feinsteuerung, für variierende Lösungen im Einzelfall sowie für „institutionelles Lernen“ bleiben jedenfalls beträchtliche Freiräume. Dies ist auch gar nicht anders möglich. Denn wären die Institutionen nicht ,biegsam‘ konstruiert, verlören sie alsbald ihre Fähigkeit, sich gesellschaftlichem Wandel zu öffnen und auf neue Problemlagen flexibel zu reagieren. Eben deshalb wird in der modernen Gewaltenteilungslehre das Postulat der Machtbeschränkung und Machtkontrolle nicht absolut gesetzt, sondern um die normativ gleichrangigen Erfordernisse sachgerechter bzw. funktionaler und kooperativer, d.h. gewaltenübergreifender Problembearbeitung ergänzt. Die drei normativen Vorgaben von Kontrolle, Sachgerechtigkeit und Kooperation stellen in der deutschen Verfassungsordnung und politisch-administrativen Praxis Eckwerte eines horizontal und vertikal über mehrere Stufen verknüpften Gefüges gewaltenteiligen staatlichen (und para-staatlichen) Organhandelns dar. Da es fortwährend um Handeln geht, das von häufig konkurrierenden Interessen geleitet ist und anteilig über staatliche Macht verfügt, verharrt die Trias der Gewalten nicht in einem statischen Verhältnis, sondern verschiebt sich untereinander dynamisch. Der Verweis auf die Handlungsdimension ist ein Teil der Antwort auf die Frage, weshalb es zu einer Dynamisierung im Verhältnis geteilter Gewalten, einschließlich der Grenzüberschreitungen und Überdehnungen zugunsten der einen und auf Kosten der anderen kommt. Eine solche Dynamik entsteht nicht gleich einer Naturgewalt aus der bloßen Existenz der gewaltenteilig aufgestellten Institutionen und der ihnen jeweils eingeschriebenen Zwecksetzungen und Regeln als solchen. Wie Institutionen generell, sind auch die Institutionen der Gewaltenteilung selbst nicht mehr als „wartende Instrumente“, derer sich handelnde Personen bedienen. Es sind Akteure, wie sie von der durch die moderne Institutionentheorie geprägten Politikwissenschaft in den Fokus gerückt werden, welche mit „ihren“ Institutionen eine aktive, d.h. eine deren Handlungsrepertoire aktivierende und gelegentlich eben auch überdehnende Verbindung eingehen. Der neoinstitutionellen Theorie zufolge verfügen Akteure über alternative strategische Handlungsoptionen, die sie regelkonform, aber auch regeltranszendierend einsetzen können: „The logic of appropriateness is by no means limited to repetitive, routine worlds.“41 Auch unseren Annahmen zur institutionellen Verankerung und institutionalisierten Beweglichkeit von Gewaltenteilung liegt ein Verständnis von „Institution“ zugrunde, das die Struktur- und die Handlungsdimension miteinander verbindet. Insoweit wird der statische Institutionenbegriff erweitert, welcher der hergebrachten Gewaltenteilungsdoktrin unterliegt. Mit dem Institutionenbegriff der kulturalistisch   Eine seltene Ausnahme stellt S. Kropp/H.-J. Lauth, Gewaltenteilung und Demokratie, 2007, dar.   J. March/J. Olsen, Institutional Perspectives on Governance, in: H.-U. Derlien/U. Gerhardt/ F. Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse, 1994, 249 (253). 40 41

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orientierten Sozialwissenschaften, der unter Institution ausschließlich sozial orientierende Verhaltensmuster versteht42, ist die hier verwendete Auffassung von Institution jedoch nicht identisch. Wir bevorzugen vielmehr einen Begriff, der von der traditionell engen Version die definitorischen Merkmale „formale rechtliche Norm“ und „formale Organisation“ übernimmt und diese um eine handlungstheoretische Komponente erweitert. Zu den Institutionen in diesem Sinne rechnen wir die Staatsorgane, ferner die zwischen dem politischen Sektor und der Gesellschaft vermittelnden (intermediären) Einrichtungen, einschließlich der „durch Verfassung oder Gesetz vereinbarten Spielregeln politischer Herrschaft“.43 Im politischen System der Bundesrepublik Deutschland zählen dann zu den politischen Institutionen i.e.S. außer der Verfassung die staatlichen Organe, die Verfassungsrang besitzen, also Parlamente, Regierungen und Verwaltungen des Bundes und der Länder, einschließlich ihrer Unterorgane wie Fraktionen, Abgeordnete und einzelne Ministerien, ferner, aufgrund der hierzulande geteilten Exekutive, der Bundespräsident, außerdem die Gerichtsbarkeit, schließlich auch Rechnungshöfe, Bundesbank und politische Parteien. Letztere sind zwar nichtstaatlich, haben aber aufgrund ihrer verfassungsrechtlich und gesetzlich normierten öffentlichen Aufgaben eine staatsnahe Organqualität. Zu politischen Institutionen im erweiterten Sinne lassen sich zusätzlich korporative Akteure rechnen, die, wie zum Beispiel Wirtschaftsverbände oder Nichtregierungsorganisationen, bei der Bearbeitung sachlicher oder sektoraler Probleme partiell öffentliche Funktionen übernehmen.44 Mit dieser Auflistung bewegen wir uns innerhalb des Institutionenspektrums der klassischen Regierungslehre sowie des etwas weiteren Radius, wie ihn die Governance-Forschung zieht.45 Eine institutionentheoretisch angeleitete Perspektive, welche Institutionen und Akteure als handelnde Verbindungen begreift, bewahrt im Übrigen davor, den hier in Frage stehenden Vorgang dynamischer Gewaltenteilung ungebührlich zu dämonisieren. Der kritische Blick auf machtaktive Staatsorgane bleibt nicht vordergründig auf den die Organmacht ausübenden Personen haften, indem etwa deren persönliche „Führungskunst“ herausgehoben oder ihr „Machthunger“ gegeißelt wird. Immer gilt der Blick stattdessen auch der jeweils beteiligten Institution. Denn diese ist es, die das ihr zugehörige staatliche Personal mit Befugnissen ausstattet, den Wirkungskreis der in ihrem Namen bevollmächtigt Handelnden förmlich festlegt und deren Vorgehen eine allgemein verbindliche Legitimität verleiht. Die akteurzentrierte Sicht auf die Institutionen hat Konsequenzen für die Einschätzung der Wirkungslogik, die in das hierzulande gegebene Modell der Gewaltenteilung eingebaut ist. Wie oben erwähnt, hatte dieses Modell in seinem klas42   Aus dieser Sicht sind Institutionen die „established forms“ für Aktivitäten sozialer Gebilde (so L. von Wiese, Artikel „Institutionen“, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5, 1939, mit Bezug auf McIver [1939]). – Parsons (1945) spricht von „patterns which define the essentials of the legitimately expected behavior of persons performing structurally important roles in the social system“ (The problem of controlled institutional change, in: American Journal of Orthoosychiatry, vol. XV No. 3, July 1945, 397). Ähnlich March/Olsen: „life is organized by a set of shared meanings and practices“ (Fn.  41), 250. 43   M. G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, 1995, 429. 44  Hierzu E. Holtmann, Parteienstaat in Deutschland, 2012, 50 f. 45   A. Benz, Der moderne Staat, 2001.

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sischen Verständnis auf die Selbstheilungskraft formaler Institutionen gesetzt. Heute ist klar: Die erforderliche Kontrolle staatlicher Macht greift nicht schon automatisch dadurch, dass in die Verfassungsarchitektur der politischen Ordnung Vorschriften aufgenommen werden, welche ein Gleichgewicht der Macht formal rechtlich absichern. Formale Organkompetenzen, selbst wenn sie überlegt verteilt worden sind, bieten keine hinreichende Gewähr dafür, dass im Falle von Grenzstreitigkeiten zwischen Organen eine quasi-mechanische Selbstauslösung von Machtkontrolle erfolgt. In jedem Fall liegt es in der Macht von Akteuren, Verschiebungen im Feld der Gewaltenteilung anzustoßen oder abzuwehren. Schlüsselpersonen in diesem Machtspiel sind diejenigen, die im Staatsapparat einen professionellen Status einnehmen, sei es als Berufspolitiker, als Richter oder als politischer Bürokrat.46 In seiner Rolle als Amtsperson kann ein solcher Akteur auf das Handlungsrepertoire „seines“ Organs zurückgreifen. Es sind also stets handelnde Personen, die sowohl bei Grenzübertritten in den Gefilden der Gewaltenteilung aktiv beteiligt sind wie auch umgekehrt die institutionell eingebauten Alarmsysteme zur Abwehr solcher Übergriffe auslösen. Akteure, die „in amtlicher Eigenschaft“ handeln, und nicht schon die Institutionen als solche, sind also gleichzeitig beides: originäre Urheber der Entgrenzung politischer (Über)Macht und Gewährsträger der Bändigung dynamischer Machtaneignung.

2.  Defensive und expansive Positionierung von Staatsorganen – unterschiedliche Handlungsrationalitäten im Spannungsfeld dynamischer Gewaltenteilung Konfliktfrei oder gar harmonisch verläuft dieser Prozess naturgemäß nicht. Da Machtbehauptung defensiv und Machterweiterung offensiv angelegt ist, werden mit diesen beiden Stoßrichtungen je unterschiedliche Rationalitäten politisch-administrativen Handelns transportiert. Je nachdem, ob der Schirm der Legalität für das Verteidigen eigener Organzuständigkeiten gegenüber ,begehrlichen‘ Mitgewalten aufgespannt wird oder aber rechtliche Deckung für eine Aneignung weiterer Kompetenzen geben soll, variiert die rationale Wahl der Argumentations- und Handlungsstrategie: Zwecks Wahrung des Besitzstands wird das eigene „gute Recht“ geltend gemacht. Geht es darum, in den Zuständigkeitsbereich anderer Organe hineinzuwirken, wird solch expansives Vorgehen als durch die Legalität gedeckt oder funktional zwingend ausgegeben. Kennzeichnend für informales Staatshandeln im Sektor der Gewaltenteilung ist, dass es sich zwar im Rahmen der Legalität bewegt, aber selbst nicht zwingend zu einer Verrechtlichung strebt. Jedoch bleiben faktische Grenzüberschreitungen zwischen Gewalten nicht immer auf der Stufe rein informaler Praxen stehen. Mitunter nehmen sie auch die Gestalt neuen Gesetzesrechts an. Denn aus Sicht der Verursacher hat eine Verrechtlichung den Vorteil, dass realisierte Verschiebungen in den Einfluss­ zonen geteilter Gewalten legal besichert werden. Andererseits eröffnet sich für ein Staatsorgan, das seine Organgewalt unterlaufen sieht, neben der Organklage damit auch die Chance, auf eine förmliche Revision der neuen Gesetzeslage über den Weg der abstrakten Normenkontrolle hinzuwirken. 46   Zum Typus des „klassischen“ und „politischen Bürokraten“ R. Putnam, Die politischen Einstellungen der Ministerialverwaltung in Westeuropa, PVS, 17 (1976), 23–61.

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Der Wille zu einem freiwilligen political self restraint ist, nicht überraschend, in diesem Kampf der Gewalten in Politik und Verwaltung unterentwickelt. Stattdessen sind die Akteure bestrebt, Gewicht und Einfluss der eigenen Organgewalt möglichst auszuweiten. Da Verschiebungen im Innenverhältnis der Gewalten in der Regel ein Nullsummenspiel sind, geht dies fast immer zu Lasten jeweils anderer Organe, wenn auch keineswegs automatisch zum Nachteil von individuellen Freiheitsräumen der Bürger. „Organisches“ Expansionsstreben gründet, wie angemerkt, nicht ursächlich in persönlichen Ambitionen beteiligter Personen, sondern es hat strukturelle Wurzeln. Es resultiert aus der spannungsreichen Funktionslogik, die allen drei genannten staatlichen Institutionen und ihrer Bezogenheit aufeinander eigen ist. Das Spannungsverhältnis wird nicht zuletzt dort deutlich, wo Organen gestaltende Aufgaben gemeinsam übertragen sind: Die Parlamentsmehrheit bildet mit der Regierung eine politische Handlungseinheit, eine planende Verwaltung47 übernimmt politische Aufgaben bei der Programmformulierung, Gerichte entwickeln das Recht durch Richterrecht fort, und anderes mehr. Geteilte Gewalt, die arbeitet, bleibt jedenfalls nicht in einem statischen Zustand, sondern sie entwickelt sich dynamisch. Kein Zweifel: Offene Rechtsverstöße im Zuge gewaltenüberschreitenden Organhandelns, wie sie beispielsweise in der Spiegel-Affäre von 1962 auftraten, sind in der Bundesrepublik (glücklicherweise) extrem selten. Doch kann ein funktionierender Rechtsstaat nicht überall präventiv verhindern, dass von einem staatlichen Organ Versuche ausgehen, die Zuständigkeit anderer Organe einzuschränken, sich deren Kompetenzen (teilweise) einzugliedern oder diese Organe zu übersteuern. Wer als Staatsorgan im Namen des Gesetzes handelt, hat die Regelvermutung, sein Tun sei rechtmäßig und angemessen, erst einmal für sich. „Cosi fan tutte“ – so machen es durchaus alle drei Gewalten.

3.  Auch ohne Rechtsform strukturbildend: geschaffene Tatsachen ,stiller‘ Gewaltendehnung Eine mögliche, aber nicht zwangsläufige Folge von dynamischer Gewaltenteilung ist, dass sich unterhalb der Schwelle offener Rechtsverletzung eine andere und neuerlich rechtsverbindliche Machtbalance einpendelt. Werden neue Lagen im Verhältnis der Gewalten auf gesetzlichem Wege geschaffen, können sie durch höchstrichterliches Votum kassiert oder mit zeitlicher Verzögerung abgesegnet werden. Für einen bestätigenden Entscheid steht beispielsweise die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall der Trassenplanung der ICE-Südumfahrung Stendals, womit weite Parlamentsbefugnisse bei der Einzelfallgesetzgebung bekräftigt worden sind.48 Andere Formen von Gewaltenverknüpfung sind aus funktionalen Gründen derart alternativlos, wie zum Beispiel die Handlungseinheit von Parlamentsmehrheit und Regierung, dass die diese Handlungseinheit tragenden informalen Praxen nicht zwingend formales Recht werden. Auch die Frage, ob der Bundespräsident über ein materielles   Grauhan (Fn.  61).   BVerfG, 2 BvK 38/94, 17. Juli 1996. Demzufolge sind auch „Detailpläne im Bereich der anlagenbezogenen Fachplanung“, die „üblicherweise“ der Verwaltung vorbehalten sind, „einer gesetzlichen Regelung zugänglich“ (ebd., 26). 47

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Prüfrecht bei der Unterzeichnung ihm vorgelegter Gesetze verfügt, bleibt bislang in einem rechtlich ungeklärten Schwebezustand. Geschaffene Tatsachen von ,stiller‘ Gewaltendehnung bzw. Gewaltenübertretung und Zweifelsfälle, die hinsichtlich der Grenzziehung zwischen den Gewalten bestehen, werden jedenfalls nicht immer in Formen des Rechts gegossen oder durch die angerufene Gerichtskontrolle in die Schranken verwiesen. Die Dynamik der Gewaltenteilung wirkt, wenn sie neue Fakten schafft, strukturbildend, auch dann, wenn sie informal bleibt. Aus Vorstößen einzelner Gewalten können, wie am Beispiel Deutschlands im folgenden Kapitel IV noch zu zeigen sein wird, dauerhaft neue Konstellationen staatlicher Machtverteilung erwachsen. Werden die Grenzverschiebungen nicht korrigiert, dann kommt es zu mitunter folgenreichen „Asymmetrien“ in der Anordnung der Gewaltenteilung. Dieser Vorgang wirft Fragen auf: Wie und mit welchen Folgen haben sich die staatlichen Organe im Feld der gewaltenteiligen Anordnung konkret neu positioniert? Sind die beobachtbaren Entwicklungen demokratieverträglich? Bedarf es einer Nachjustierung einschlägiger Regelungen des Verfassungs- und/oder Gesetzesrechts?

IV.  Nicht-prekäre und prekäre Erscheinungsformen dynamischer Gewaltenteilung im demokratischen Verfassungsstaat – Beispiele in der Bundesrepublik Wo lassen sich nun Dehnungen bzw. Überdehnungen oder Übertretungen der Gewaltenteilung im Staat der Bundesrepublik konkret verorten? – Wir schlagen vor, dabei zwischen „nicht-prekären“ und „prekären“ Erscheinungsformen dynamischer Gewaltenteilung zu unterscheiden. Eine verfassungs- bzw. demokratiepolitische Prekarität ist dann gegeben, wenn (a) Kompetenzen einer oder mehrerer Gewalten im Kern beschnitten werden und/oder (b) Verfahren politisch-administrativer Entscheidungen, die öffentlich verbindlich sind, aus der staatlichen Sphäre auswandern und folglich vom Geltungsbereich des öffentlichen Rechts nicht mehr oder nur unzureichend erfasst werden. Eine klassifikatorische Zuordnung gestaltet sich freilich schwierig, da die Reichweite der sogenannten Kernbereiche von Parlament, Regierung und Verwaltung nicht immer eindeutig definiert werden kann. Immer wieder ist deshalb ein klärendes Votum der Verfassungsrichter gefragt. Die Sachlage wird noch komplizierter, weil die Grenze zwischen nicht-prekären und prekären Formen dynamischer Gewaltenteilung nicht ein für alle Mal und auf unbefristete Dauer festgeschrieben werden kann. Zur Dynamik in diesem Feld gehört auch, dass an sich nicht-prekäre Grenzübertretungen unter Umständen prekäre Gestalt annehmen, also einen Qualitätswandel durchmachen können. Dies lässt sich im Feld von Politik und Verwaltung, welches durch die Pole parlamentarischer Regierungskontrolle und gouvernementaler Parlamentskontrolle markiert wird,49 gut veranschaulichen. Beispiele hierfür sind: die Spannungslage zwischen dem Mehrheitswillen der Fraktion und dem freien Mandat; die untergesetzliche Rechtsetzung seitens der Exekutive mittels Rechtsver  Holtmann/Patzelt (Fn.  33).

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ordnung einerseits und umgekehrt eine parlamentarische Feinsteuerung der Exekutive mittels detaillierter (planerischer) legislatorischer Ausführungsbestimmungen andererseits (siehe die oben erwähnte höchstrichterliche Entscheidung zur Südumfahrung Stendal); faktische gouvernementale Umgehungen des Parlamentsvorbehalts, wie etwa bei bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr.50 Auch die kombinierte Anwendung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nach Artikel 65 GG und einer „auflösungsgerichteten Vertrauensfrage“ nach Artikel 68 GG lässt sich unseres Erachtens hier einordnen. Wohl entfaltet die Richtlinienkompetenz ihre Wirkung hauptsächlich dann, wenn sie nicht angewendet wird, d.h. eine förmlich unerklärte Autoritätsreserve des Regierungschefs bleibt.51 Jedoch kann es, wie der politische Konflikt um eine eventuelle Auf hebung des Waffenembargos gegen die Volksrepublik China im April 2005 vorgeführt hat, zwischen Bundeskanzler und Bundestag zu Kraftproben kommen, bei welchen die besondere Loyalitätsbeziehung zwischen parlamentarischer Regierungsmehrheit und Regierung zeitweise überlagert wird durch den Konflikt zwischen Richtlinienkompetenz und dem Wesentlichkeitsvorbehalt des Parlaments (gemäß der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie bleiben dem Bundestag wesentliche Entscheidungen selbst vorbehalten). Als Kanzler Schröder am 27. Juli 2005 letztmalig die Vertrauensfrage stellte, wurde diese nicht abermals mit einer Sachfrage verknüpft. Das war ein Signal dafür, dass es Schröder darum ging, über die „unechte“ Vertrauensfrage den Weg für eine vorgezogene Neuwahl des Bundestages freizumachen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. August 2005 ist aus Sicht des hier behandelten Themas der Gewaltenteilung insofern aufschlussreich, als die Karlsruher Richter die kombinierte Anwendung parlamentarischer und exekutivischer Machtmittel positiv beschieden. In der Entscheidung wurden Richtlinienkompetenz und Vertrauensfrage dargestellt als Bestandteile einer identischen Akteurkonstellation von Parlamentsmehrheit und Regierung: Handlungsfähigkeit, stellte das Gericht unter anderem fest, bedeute „nicht nur, dass der Kanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtlinien der Politik bestimmt und dafür die Verantwortung trägt, sondern hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages hinter sich weiß“.52 Diese Variante dynamischer Verknüpfung von Gewalten ist nicht-prekär, weil das BVerfG grundsätzlich ein Recht des Kanzlers, eine „auflösungsgerichtete Vertrauensfrage“ zu stellen, bestätigt hat. Teilweise werden Dehnungen bzw. Grenzüberschreitungen im Gewaltenteilungsgefüge durch die von politischen Parteien übernommenen Scharnier- bzw. Klammerfunktionen produktiv aufgefangen, so zum Beispiel innerhalb der Aktionseinheit von Regierung und Regierungsmehrheit im Parlament oder auch in der Praxis des Verhandlungsmodus zwischen Bundestag und Bundesrat. Aber auch prekär zugespitzte Überdehnungen sind kennzeichnend für dieses Feld der parteipolitischen gesteuerten Tagesordnung in der bundesdeutschen parlamentarischen Demokratie, so wenn etwa 50   Zu Reichweite und Grenzen einer diesbezüglichen „exekutiven Eilkompetenz“ siehe das Karlsruher Urteil vom September 2015 (hierzu Süddeutsche Zeitung vom 24.09.2015). 51   E. Holtmann, Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers – kein Phantom? in: ders./W. J. Patzelt, Führen Regierungen tatsächlich?, 2008, 73 ff. 52   BVerfGE 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05, Leitsätze.

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eine Fraktionsführung sich anschickt, von der Regierungslinie abweichende Abgeordnete („dissenters“) durch Druck und Sanktionen (wie einer Rückziehung aus einem Ausschuss) zu disziplinieren. Für die Funktionsfähigkeit des politischen Systems erheblich bedeutsamer ist die Scharnierfunktion von Parteien im kooperativen Föderalismus. Die politikwissenschaftlichen Einschätzungen hierzu sind allerdings teilweise kontrovers. In seiner richtunggebenden Studie über „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ hat Gerhard Lehmbruch die gewaltenüberschreitende Maklerfunktion von parteipolitischen Akteuren eher negativ eingeschätzt. Parteipolitik erzeugt Lehmbruch zufolge einen „Strukturbruch“ zwischen den zwei im Grunde „inkompatiblen“ Entscheidungsmustern des Parteienwettbewerbs (im Bundestag) und des bundesstaatlichen Aushandelns (im Bundesrat). Hierdurch würden Selbstblockaden im politischen System gefördert. Dieser These haben andere Autoren entgegengehalten, dass infolge der strukturellen Verknüpfung von Parteienwettbewerb und Bundesstaat die Fähigkeit, unter gegebenen Bedingungen hochgradiger Politikverflechtung angemessene Problemlösungen auszuhandeln, im Gegenteil eher gesteigert worden ist.53 Mit einer positiven Einschätzung der Steuerungsressourcen, über welche der Akteur Partei verfügt, wird der Blick darauf gelenkt, dass Parteipolitik als eine politische Größe betrachtet werden kann, welche imstande ist, eingetretene Schieflagen im Verhältnis der Gewalten funktional und legitimatorisch auszubalancieren, und zwar gerade aufgrund der besonderen Logik des Parteienwettbewerbs. Die nachstehende Abbildung veranschaulicht, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, prekäre und nichtprekäre Ausprägungen dynamischer Gewaltenteilung: Konkrete Beispiele dynamischer Gewaltenteilung [f = formell; if = informell], Holtmann (2015) nicht prekär

prekär

– Regierung und Regierungsmehrheit im Parlament (f/if ) – Mehrheitswille der Fraktion und Ab­weichler (f/if ) (mit der prekären Kom­ponente fraktionsinterner Sanktionen) – Aufstellung und Beratung des Haushalts (f/if ) – Nachgesetzliche Rechtsetzung seitens der Exekutive (RVO) (f ) – Kombination von Richtlinienkompetenz (Art.  65 GG) + Vertrauensfrage (Art.  68 GG) als Steuerungsmittel eines Bundeskanzlers in der Kanzlerdemokratie – Einführung des Neuen Steuerungs­modells (NSM/ NPM) im Zuge von Verwaltungsreformen (f/if )

– Umgehung des Parlamentsvorbehalts – Rechnungshöfe als „Vormünder“ der Parlamente (f/if ) – Intention zur Selbstschließung (Inklusion) exekutiver und justizieller Positionseliten (f ) – Para-staatliches Aushandeln von sektoralen Problemlösungen im „kooperativen“ Staat (if ) – Delegation von Gesetzesvorbereitung in private Anwaltssozietäten (if ) – Der „Deal“ im Strafprozess

53   W. Renzsch, Bundesstaat oder Parteienstaat: Überlegungen zu Entscheidungsprozessen im Spannungsfeld von föderaler Konsensbildung und parlamentarischem Wettbewerb in Deutschland, in: Holtmann/Voelzkow (Fn.  32) und Holtmann (Fn.  32); tendenziell ebenso Benz (Fn.  36).

Dehnungen der Gewaltenteilung

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V. Schlussbemerkung Die Dynamik der Gewaltenteilung lässt sich nicht gänzlich beseitigen, sondern allenfalls in ihren prekären Auswüchsen durch das Bundesverfassungsgericht förmlich – und mitunter auch durch Selbstkontrolle der Akteure faktisch – korrigieren. Wo die Balance zwischen den Gewalten dennoch in eine prekäre Schieflage gerät, könnte an folgende Kontrollmechanismen gedacht werden: erweiterte parlamentarische Mitsteuerungsrechte, obligatorische Präsenz von Parlamentsbeobachtern bei exekutiv ausgehandelten Problemlösungen, größere Transparenz von Verfahren und eine dem Parlament gegenüber frühzeitig offengelegte Programmfolgenabschätzung seitens der staatlichen Verwaltung.

e-privacy Von der Digitalisierung der Kommunikation zur Digitalisierung der Privatsphäre von

Prof. Dr. Christoph Gusy, Dr. Johannes Eichenhofer und Laura Schulte, Universität Bielefeld Inhalt I. Einführung in die Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 1. Das „alte“ Privacymodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2. Neue Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 3. Rechtliche Bedingungen des Privacyschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 II. Wandel der Privatheit oder Privatheitsverluste? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 III. Privatheit durch Aushandlung und durch Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1. Privatsphärenkonforme Rechts- und Technikgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Privatsphärenschutz durch (Netz-)Nutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3. Grenzen des Aushandlungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 IV. Regulierung des Privatheitsschutzes – Regulierung der Privatheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 1. Regulierungsauftrag und -aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2. Kriterien der Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 V. E-privacy oder post-privacy? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 1. Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 2. Leistungen des Privaten und Abgrenzungsmaßstab Entscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . 405 VI. Zusammenfassung und Ausblick – Vom Datenschutz zur Kommunikationsnetzregulierung? . . . . . . 407

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I.  Einführung in die Fragestellungen 1.  Das „alte“ Privacymodell Privacy1-Schutz ist zentral für die Selbstbestimmung beim Zugang zu eigenen Räumen, Informationen und Kommunikationssphären.2 Im Netz macht diese Autonomie den maßgeblichen Unterschied zwischen Massen- und individueller privater Kommunikation aus.3 Was im forum internum verbleibt, ist rechtlich nahezu stets irrelevant.4 Im forum externum kann privacy-Schutz zumindest als Schutz vor Kommunikation, Schutz in der Kommunikation (also von Kommunikationsinhalten) und Schutz der Kommunikation (also von Kommunikationsumständen) wirken. Die Möglichkeit der Menschen zur Wahrung und Sicherung von Privatheit durch eigenes Handeln ging verloren, seit die Kommunikation medial erfolgte. Dies war schon vor der Einführung des Internet und der hiermit verbundenen neuen Kommunikationswege (z.B. E-Mails, Chats etc.) der Fall. Historischer Vorläufer war das Medium Telefon. Schon damals fanden sich die Phänomene der Kommunikation per Distanz5 in Echtzeit, der Notwendigkeit technischer Übermittlung der Kommunikation und der ganze oder teilweise Kontrollverlust der Teilnehmer über Kommunikationsmedien, -wege und die Bedingungen ihrer Vertraulichkeit. Hinsichtlich des Telefonierens stellt sich der privacy-Schutz als Regulierungsaufgabe, welche letztlich durch die Übertragung des Postgeheimnisses bzw. die Statuierung des Fernmeldegeheimnisses erfolgte.6 Ergänzt wurde dieses durch den grundrechtlich zentralen

1   Die Bezeichnungen privacy und Privatheit werden im Folgenden synonym verwandt, mithin sind hier mit den unterschiedlichen Begriffen keine differenten Konzepte verbunden. Der Terminus e-Privacy steht im Zusammenhang mit online stattfindender Kommunikation. Ob und inwiefern zwischen Privatheit bzw. privacy und e-privacy konzeptionelle Unterschiede bestehen, gilt es vorliegend herauszuarbeiten. 2   Zum Schutz des Zugangs zu eigenen Informationen durch Art.  2 Abs.  1 i.V.m. Art.  1 Abs.  1 GG etwa BVerfGE 80, 367 (374) – Tagebuch [1989]. Zum Schutz des Zugangs zur eigenen Wohnung durch Art.  13 GG etwa BVerfGE 109, 279 (313 ff.) – Großer Lauschangriff [2003]. Zum Schutz des Zugangs zu eigenen Kommunikationssphären durch Art.  10 GG etwa BVerfGE 113, 348 (392) – Vorbeugende Telekommunikationsüberwachung [2005]. Ähnlich wie hier die grundlegende Systematisierung des „Privaten“ von Rössler, Der Wert des Privaten, 2001, S.  144 ff., die zwischen lokaler, informationeller und dezisionaler Privatheit differenziert. 3  Zu diesem Unterschied etwa Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, 6.  Aufl. 2010, Art.  10 Rn.  43 f. Zu den Schwierigkeiten der Aufrechterhaltung dieser Abgrenzung im digitalen Zeitalter s. Bäcker, Die Vertraulichkeit der Internetkommunikation, in: Rensen/Brink (Hg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S.  99 (104). 4   Ausnahmen können allenfalls gelten bei Maßnahmen zur ertäuschten oder erzwungenen Veröffentlichung solcher Informationen. 5   Zu dieser „Privatheit auf Distanz“ bereits Gusy, a.a.O. (Fn.  3 ), Art.  10 Rn.  14 ff. Zu Beispielen für die Kommunikation auf Distanz im digitalen Zeitalter und dem Versuch einer Einordnung des sog. „Cloud-Computing“ s. Schwabenbauer, Kommunikationsschutz durch Art.  10 GG im digitalen Zeit­ alter, AöR 137 (2012), S.  1 (11 f.). Zur Vielgestaltigkeit der Kommunikation über das Internet auch Hoffmann-Riem, Regelungsstrukturen für öffentliche Kommunikation im Internet, AöR 137 (2012), S.  509 (510 ff.). 6  Zur Entwicklung etwa Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 166. Lfg. 2014, Art.  10 Rn.  36 ff. m.w.N.; Gusy, a.a.O. (Fn.  2 ), Art.  10 Rn.  12 f. m.w.N.

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Schritt der Verstaatlichung der Telekommunikationsunternehmen mit der Monopoli­ sierung, etwa bei der Post.7 Daraus folgten grundrechtlich sodann: – Die Bindung des Netzeigentümers (Post) und des Netzbetreibers (Post) an die Grund­rechte als Ausprägung der Staatsgewalt. – Die weitgehende Trennung der unterschiedlichen (staatlichen) Telefonnetze und damit die räumliche Trennung der national differenzierten Schutz- und Zugriffsmöglichkeiten. – Die Konstruktion des Telefonnetzes als formell geheimer Raum und damit als „Privatsphäre im formellen Sinne“: Telekommunikation war als solche und damit unabhängig von konkreten Inhalten geschützt.8 – Das Verbot des Eindringens, Aufzeichnens und des Abhörens der Telekommunikation durch die Netzunternehmen.9 – Das Verbot des sich Zutrittverschaffens durch sonstige staatliche Stellen, insbesondere durch Sicherheitsbehörden.10 Der Schutz der Privatsphäre erfolgte so durch die Statuierung einer formellen Sphäre einerseits und Verbotsnormen andererseits.11 Er erfolgte durch Verbote, die Wahrung der Privatsphäre durch Unterlassen. In diesem Sinne lag ein Teil der Privatsphäre der Staatsgewalt voraus, sie war eine rein negative Sphäre, geschützt durch Verbotsnormen und Unterlassungsansprüche. Regelungsaufgaben in diesem Rahmen stellten sich allenfalls beim Eindringen Dritter – etwa unbefugter Privatpersonen – in die geschützte Sphäre. Doch war auch dies eher eine Frage der Privatsphäre-Schranken als des Privatsphäre-Schutzbereichs. Zu einem Regulierungsauftrag12 hinsichtlich der Privatsphäre kam es demnach nicht.

2.  Neue Herausforderungen Privatsphäre und ihre Freiheit waren Freiheit vom Staat und vom Recht; also eine formelle Sphäre, welche dem Gesetzgeber und seinen Regulierungsaufgaben ebenso vorauslag wie der Exekutive und ihrer Überwachungstätigkeit. Jenes alte Modell des Grundrechtsschutzes durch Eingriffsverbote hat seine Existenzberechtigung zwar nicht vollständig eingebüßt. Es hat jedoch einen erheblichen Teil seiner Reichweite und seiner Relevanz verloren. Hierfür waren maßgeblich: – Die Privatisierung der Netze bzw. ihrer Eigentümer, welche diese dem staatlichen Eigentum und damit der staatsgerichteten Unterlassungspflicht entzog. 7   Zur Geschichte der Verstaatlichung und anschließenden (Re-)Privatisierung der Post s. Hadamek, Art.  10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost, 2002, S.  43 ff. 8   So bereits Gusy, a.a.O. (Fn.  3 ), Art.  10 Rn.  16. 9   Einfachgesetzlich normiert in den §§  88 ff. TKG. 10   Ausnahmsweise kann ein solches Eindringen gerechtfertigt sein, etwa nach den §§  100a StPO, §§  17 f., 20a, b NRWPolG. 11   Exemplarisch hierfür steht noch heute Art.  10 GG. Er statuiert eine formelle Privatsphäre, deren Schutz unabhängig von den Kommunikationsinhalten stattfindet. Auch wenn nur öffentlich bekannte Informationen ausgetauscht werden, ist die Kommunikation als vertrauliche geschützt. S. Gusy, a.a.O. (Fn.  3 ), Art.  10 Rn.  15. 12   Zum Begriff der Regulierung Lepsius, in: Fehling/Ruffert (Hg.), Regulierungsrecht, 2010, §  19 Rn.  27 f.

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– Die Privatisierung der Netzbetreiber, also der Telekommunikationsunternehmen, denen gegenüber gleichfalls der Anwendbarkeits- und damit Wirkungsverlust der tradierten Garantien folgte. – Die Internationalisierung der Netze über Staatsgrenzen hinaus, welche diese zwar möglicherweise nicht dem staatlichen Recht, wohl aber der staatlichen Rechtsdurchsetzung partiell entzog. Soweit das Eigentum oder der Betrieb von Übertragungsanlagen an andere Staaten oder ausländische Unternehmen überging, erhielten diese neue Zugriffsmöglichkeiten oder gar -rechte auch außerhalb der Reichweite der inländischen Grundrechte.13 – Die (partielle) Umstellung der Netzkommunikation durch Funkbetrieb, der seinerzeit verstärkte Zugriffsmöglichkeiten eröffnete. Damit schwanden das Netz, die in ihm gepflegten Kommunikationen und deren Inhalte aus dem Anwendungsbereich der formalisierten Privatsphärengarantien durch Unterlassungsansprüche. Das galt jedenfalls, soweit die tradierten Garantien des Telekommunikationsgeheimnisses auf die neuen Netzeigentümer und -betreiber nicht einfach übertragen wurden. Dies war regelmäßig nicht (oder jedenfalls nicht ohne Modifikationen) der Fall. Sie waren ihrem Anwendungsbereich nach – grundsätzlich staatszentriert, – auf Unterlassungsansprüche ausgerichtet – sowie nur in den Grenzen der nationalen Rechts- und Rechtsdurchsetzungssysteme anwendbar, galten also weder im Weltraum noch auf hoher See oder auf dem Territorium anderer Staaten. Recht und Rechtsdurchsetzung sind (notwendig auch) standortgebunden. Telekommunikation, -snetze und -snetzbetrieb sind es nicht mehr. Damit fällt der tradierte Grundrechtsschutz zwar nicht weg, läuft aber zunehmend leer. Die formell begründete Privatsphäre kann durch Unterlassungsansprüche gegen den Staat nicht mehr geschützt werden, wenn die Medien im Eigentum Dritter stehen, von diesen betrieben werden und ihre Wege den räumlichen Geltungsbereich der Grundrechtsgarantien verlassen.14 Dies bewirkt nicht nur die Notwendigkeit einer Transformation des rechtlichen Schutzes, sondern zugleich der Konstituierung jener Privatsphäre selbst. Sie ist nicht mehr bloß und einfach „da“, weil ein Medium formell geschützt ist, auf dem sie sich entfalten kann. Und sie kann auch nicht mehr einfach negativ durch Verbotsnormen geschützt sein, weil das Verbot stets voraussetzt, was jeweils konkret zu schützen ist – also die Privatsphäre selbst. Demnach stellt sich die hier allseits anerkannte staatliche Schutzpflicht15 primär als Regulierungsauftrag dar. Was dem Staat früher vorauslag, hat er jetzt erst herzustellen. 13   Vgl. zum Problem der Bindung ausländischer Staaten an die deutschen Grundrechte die Gutachten für den NSA-Untersuchungsausschuss von Aust, Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung am 5.6.2014; Bäcker, Erhebung, Bevorratung und Übermittlung der Telekommunikationsdaten durch die Nachrichtendienste des Bundes, Stellungnahme zur Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses am 22.5.2014; Hoffmann-Riem, Stellungnahme zur Anhörung des NSA-Untersuchungsausschusses am 22.5.2014; Papier, Gutachterliche Stellungnahme vom 16.5.2014. Alle Gutachten können auf der Homepage des Bundestages abgerufen werden unter: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/ua/1untersuchungsausschuss/-/280848 (zuletzt abgerufen am 14.4.2015). 14   Siehe hierzu bereits Gusy, a.a.O. (Fn.  3 ), Art.  10 Rn.  53. 15   S. dazu etwa Hermes, in: Dreier (Hg.), GG, 3.  Aufl. 2014, Art.  10 Rn.  92 ff.; Gusy, a.a.O. (Fn.  3 ), Art.  10 Rn.  61 ff. (beide m.w.N.).

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Dazu bedarf es jetzt der Definition und der Abgrenzung, also eines Leitbildes16 von Privatheit. Der bloße Verweis auf eine formell geschützte Sphäre reicht jedenfalls dann nicht mehr aus, wenn man dritten Eigentümern oder Betreibern nicht einfach den Zugriff auf ihre eigenen Netze untersagen und diese Untersagung zugleich durchsetzen kann. Letzteres ist weder möglich noch intendiert.

3.  Rechtliche Bedingungen des Privacyschutzes Dadurch wandeln sich nicht nur die rechtlichen Bedingungen des Privatheitsschutzes: (1)  Ihr Schutz kann nicht mehr allein durch staatsgerichtete Unterlassungspflichten oder Verbotsnormen geschehen. Vielmehr müssen diese an die neuen Träger und Gefährder der Medien gerichtet und mit deren jeweils kollidierenden Rechtsstellungen abgewogen werden. Dies kann im Ergebnis zu neu dimensionierten – teils schwächeren, teils stärkeren – Abwehrrechten gegen Dritte führen. Diese müssen sich – sollen sie sinnvoll sein – auch an den staatlichen Rechtsdurchsetzungsmechanismen orientieren. Ein Anspruch, der sich gegen Dritte richtet, kann jedenfalls dann, wenn diese die freiwillige Befolgung verweigern, vom Staat nicht allein durch Unterlassen durchgesetzt werden. Die Privatsphärengarantie ist in diesem Sinne nicht mehr „self-executing“. (2)  Ihr Schutz kann nicht mehr allein durch Regelungsabstinenz erfolgen. Im Gegenteil: Die Privatsphäre in den neuen Medien ist alles andere als ein rechtsfreier Raum. An die Stelle des alten Verbots der Rechtssetzung treten Schutzrechte oder sogar Schutzpflichten. Diese können allerdings nur durch Recht ausgeübt werden.17 Die Privatsphäre wird so ansatzweise „verrechtlicht“: Umfang und Schutzrichtung unterliegen neuen Begründungs- und Abgrenzungsforderungen durch Recht. Wo daneben noch der alte Privatsphärenschutz durch Unterlassungsansprüche Relevanz behält, können beide Pflichten – Handlungspflicht durch Regulierung und Unterlassungspflicht – sogar nebeneinander und ggf. in Konkurrenz, wenn nicht gar Widerspruch zueinander treten.18 Der Schutzumfang ergibt sich nicht mehr aus einem rechts- und damit einem regulierungsfreien Raum, also aus dem „Nicht-Recht“. Er kann vom Recht daher auch nicht mehr einfach vorausgesetzt werden. Ein Privatsphärenschutz, der rechtlich begründet wird und ggf. werden muss, begründet auch sein Objekt, die Privatsphäre, deren Gegenstände, Inhalte und Umfang jedenfalls mit. Zugespitzt lässt sich formulieren: Die Privatsphäre wird – soweit sie rechtlich relevant wird – zu einem Produkt des Rechts. Sie liegt ihm nicht mehr bloß voraus, sondern wird dessen Aufgabe, Gegenstand und Folge. Das Verhältnis des Rechts zum Privatsphärenschutz wandelt sich so von einem „negativen“ zu einem „positiven“. 16   Zum Begriff des Leitbildes s. etwa Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S.  228 ff.; Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsauslegung, AöR 134 (2009), S.  157 ff. 17   Zum Grundrechtsschutz durch den Gesetzgeber Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewand, 2000. 18   Dies war ein zentraler Ertrag der Arbeit von Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976.

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Da es neben der Privatsphäre auch andere Rechte und zudem nicht-private Bereiche gibt, bedarf es der Zuordnung und Abgrenzung. Damit stellen sich für den Gesetzgeber Fragen, die früher wegen des negativen Regelungskonzepts irrelevant waren und bleiben konnten: Was ist privat? Wann ist ein Schutzgut privat? Inwieweit soll es als Teil der Privatsphäre geschützt sein? Gibt es Bereiche der Privatsphäre, die unterschiedlich geschützt sein sollen? Und nach welchen Grundsätzen können derartige Abwägungen erfolgen? Daraus können sich Ausgestaltungsaufgaben für die Legislative, aber auch neue Aufgaben für Rechtsanwendung und -auslegung ergeben, wenn der Schutz privater Bereiche anerkannt ist und dieser innerhalb des so vorgezeichneten Rahmens konkretisiert werden soll. Zudem kann gelten: Wenn es tatsächlich unterschiedliche Bereiche von Privatheit – unterschiedliche Schutzbedürfnisse, aber auch unterschiedliche Einschränkungsbedürfnisse – gibt, dann erscheint die rechtliche Garantie der Privatsphäre als Rahmenrecht,19 welche ihrerseits ausgestaltungs-, konkretisierungs- und abwägungsbedürftig ist. Kurz: Der Umstand, dass sich das Recht der Privatheit als Rahmenrecht darstellt, ist insoweit vergleichbar etwa dem Eigentum und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Doch bedarf eine solche Aufgabe der Kriterien für die Beantwortung der Fragen: Was ist privat? Was ist schutzwürdige und schutzbedürftige Privatheit? Und wie kann dieser Schutz ausgestaltet werden? Die Notwendigkeit solcher Kriterien ergibt sich für Rechtssetzung und -anwendung in dem Moment und dadurch, dass Recht und Privatheit in ein positives Verhältnis zueinander gelangen. Was früher offen bleiben konnte, muss nun gestaltet und dazu zunächst geklärt werden. In diesem Moment wird die Frage nach der Privatsphäre zur Aufgabe des Rechts und der Rechtswissenschaft. Stand das staatliche Recht also früher tendenziell unter dem Verdacht, Eingriffe in die Grundrechte zu bewirken, so ist Privatheit heutzutage ohne ihre Ausformung und Schutz durch das Recht nicht mehr denkbar.

II.  Wandel der Privatheit oder Privatheitsverluste? Solche Kriterien sind Vorbedingungen sinnvoller Ausgestaltung und Konkretisierung der Privatsphäre. Sie stellen die Frage nach den Bedingungen, aber auch den notwendigen Mechanismen des Heimlichkeitsschutzes. Vorab gilt es daran zu erinnern: Ein Ausgangspunkt der Neuerung war der Kontrollverlust der Kommunika­ tionsteilnehmer über die technischen Medien,20 die Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Geheimhaltung. Dieser führte zur formalisierten Statuierung der Heim19  Vgl. Amelung, Der Schutz der Privatsphäre im Zivilrecht, 2002, S.  8. Da der Inhalt eines Rahmenrechts im Gegensatz zu anderen Rechten nicht absolut feststeht, indiziert ein Eingriff in das Rahmenrecht nicht die Rechtswidrigkeit des Eingriffs. Diese muss vielmehr vom Geschädigten eigens dargelegt und im Rahmen einer Güterabwägung jeweils festgestellt werden – vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 18.2.2010, 1 BvR 2477/08 = NJW 2010, 1587. Kritisch zur Rechtsfigur des Rahmenrechts etwa Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13.  Aufl. 1994, §  80 III 2. 20   Den Zusammenhang zwischen Privatheit und dem Anspruch auf Kontrolle verdeutlicht die Definition Westins: „Privacy is […] the control we have over information about ourselves.“ – vgl. Westin, Privacy and Freedom, 1968, S.  482 – zitiert nach Rössler, a.a.O. (Fn.  2 ), S.  22. Ähnlich Altman, Privacy: A conceptual analysis, in: Environment and Behavior, Vol. 8 No. 1 (1976), S.  7 (8): Privacy als „selective control of access to the self or to one’s group.“

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lichkeitssphäre des Telekommunikationsgeheimnisses. Die seitdem stattgefundene technologische Weiterentwicklung hat diesen Kontrollverlust jedenfalls nicht rückgängig gemacht, möglicherweise sogar verstärkt.21 Dies bedeutet zugleich: Der Schutz der Privatsphäre in den neuen Medien kann nicht allein eine Aufgabe der Teilnehmer sein. Sie sind nur in Ausnahmefällen selbst in der Lage, die notwendigen Bedingungen ihres Privatsphärenschutzes zu erkennen 22 und ggf. eigenständig zu verwirklichen. Dies schließt eine Mitwirkung der Teilnehmer selbst an der Gestaltung der Bedingungen ihrer Privatheit umgekehrt nicht von vornherein vollständig aus, sofern ihnen die dafür vorhandenen Kenntnis- und Kontrollmöglichkeiten in zumutbarer Weise eingeräumt werden.23 Nicht hierzu zählt jedenfalls gegenwärtig der Verweis auf die Möglichkeit, die eigene Privatsphäre durch Unterlassung der Nutzung neuer Medien zu schützen.24 Dies könnte allenfalls der Fall sein, sofern die Entscheidung über die Nutzung des Netzes eine solche zwischen rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Alternativen wäre. Dies ist jedoch mittlerweile nicht mehr der Fall. Die Netzkommunikation ist zwar nahezu nirgends rechtlich notwendig, der Weg ins Internet also kaum je erzwungen. Noch gibt es andere Möglichkeiten der Teilnahme am Rechtsverkehr wie am sozialen Leben. Der erkennbare Trend geht jedoch in das Netz und weg von den Alternativen. Dafür sprechen nicht nur faktische wie auch soziale Entwicklungen, sondern auch recht­ liche Vorgaben. Inzwischen ist die e-Kommunikation weitestgehend als rechtlich gleichwertig anerkannt.25 Rechtlich relevante Informationen, Erklärungen und dazu notwendige Vorbedingungen oder Zwischenschritte können mittlerweile – von Fällen ganz außergewöhnlicher Formvorbehalte abgesehen – auch elektronisch vorgenommen werden.26 Rechtliche Nachteile durch die Netznutzung entstehen inzwischen annähernd nirgends mehr. Stattdessen geht die Entwicklung in Richtung recht­licher bzw. wirtschaftlicher Vorteile. Dafür sprechen u.a. die Schnelligkeit der Übermittlung, die Dokumentierbarkeit des übermittelten Inhalts und die Indizwirkung für den Zugang übermittelter Informationen im Netz. Und schon aus Gründen der Kostenersparnis werden zahlreiche Sendungen elektronisch ausgeführt, Informa  Das Problem des Kontrollverlusts wird etwa von Bull artikuliert, s. ders., Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2.  Aufl. 2011, S.  36 ff. Diese Kritik gewinnt in Zeiten von „Big Data“ immer mehr Gewicht – vgl. hierzu etwa Mayer-Schönberger/Cukier, Big Data: A Revolution that will transform how we live, work and think, 2013. 22   Namentlich wenn die Eingriffe in das Recht auf Privatsphäre heimlich vorgenommen werden. Hierzu Schwabenbauer, Heimliche Grundrechtseingriffe, 2013. Zum Streit, ob die Heimlichkeit das Eingriffsgewicht erhöhe oder senke, pointiert Dreier, in: ders. (Hg.), GG, 3.  Aufl. 2014, Art.  2 I Rn.  87. 23   Nur insoweit kann sich das Konzept des „Selbstdatenschutzes“ als wirksam erweisen. Zu diesem Konzept etwa Wagner/Brink, in: Wolff/ders. (Hg.), Datenschutzrecht in Bund und Ländern, 2013, Syst. D Rn.  88; Schulz, in: ebd., §  3a Rn.  50; s. auch http://www.forum-privatheit.de/forum-privatheit-de/ texte/veroeffentlichungen-des-forums/themenpapiere-white-paper/Forum_Privatheit_White_Paper_ Selbstdatenschutz_2.Auflage.pdf. 24  So bereits Worms/Gusy, Verfassung und Datenschutz. Das Private und das Öffentliche in der Rechtsordnung, DuD 2012, S.  91 (97 f.). 25   Siehe zum Einsatz in der Verwaltung etwa Britz, Elektronische Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Assmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2.  Aufl. 2012, §  26; zur „elektronischen Kommunikationsinfrastruktur der Verwaltung“ Ladeur, in: ebd., §  21 Rn.  85 ff. 26  Aus jüngerer Zeit zum elektronischen Verwaltungsakt Siegel, Der virtuelle Verwaltungsakt VerwA 2014, S.  241, der zugleich auf zahlreiche rechtliche Risiken und Gestaltungsaufgaben hinweist. 21

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tionen nur noch oder nahezu ausschließlich in das Netz gestellt und Nutzer darauf verwiesen. Jedenfalls in dem Moment, in dem alternative Kommunikations- oder Publikationsorgane abgeschafft oder eingestellt werden, wird die Netznutzung faktisch alternativlos. Und immer häufiger ist sie dann auch rechtlich alternativlos. Vorlesungsverzeichnisse in Universitäten, Stunden- und Vertretungspläne in Schulen, Fahrpläne und Abweichungen davon bei öffentlichen Verkehrsmitteln, Öffnungs­ zeiten von Behörden und Serviceeinrichtungen, Rechtstexte und Benutzungsbedingungen u.a. m. stehen im Internet – und immer häufiger nirgends anders mehr. Zugleich werden rechtlich vorgeschriebene Kommunikationsvorgänge immer häufiger in das Netz verlegt: Die Pflicht zur Abgabe von Steuererklärungen 27 in elektronischer Form ist inzwischen für Steuerberater allgemein eingeführt, für jedermann hingegen erst im Erprobungsstadium. Anreize für solche Neuerungen sind jedenfalls nicht ausschließlich Wünsche der Nutzer, sondern auch Kosten(einsparungs)interessen der Anbieterseite. Für sie ist die elektronische Kommunikation rentabler, und zwar nicht nur gegenüber den älteren Formen, sondern auch gegenüber für Übergangsphasen vielfach noch angebotenen Alternativlösungen aus „alten“ und „neuen“ Kommunikationsformen. Dies alles ist keineswegs per se und in toto schlecht. Im Gegenteil: Aus dem beschriebenen Wandel ergeben sich zahllose neue Möglichkeiten und Chancen für die Nutzer. Und die allermeisten von ihnen nutzen diese Möglichkeit auch nicht aus Zwang oder wegen des vollständigen Mangels an Alternativen, sondern aus Gründen eigener erkennbarer Vorteile. Doch zeigt sich gleichfalls: Aus der hier beschriebenen Perspektive des Privatheitsschutzes ist es keineswegs der Nutzer allein, der über die Modalitäten seines Schutzes entscheidet. Maßgebliche Entscheidungen werden auf der Anbieterseite getroffen. Und sie bewirken jedenfalls einen Kontrollverlust der Nutzer hinsichtlich der Bedingungen, Chancen und Risiken ihres Privatsphärenschutzes. Daran ändert auch das inzwischen verbreitete Bewusstsein,28 wonach der Preis der Teilhabe an den Segnungen der Netzkommunikation im Verlust von Privatheit, personenbezogenen Informationen und dem Kontrollverlust über den Zugang zur eigenen Privatsphäre besteht, vergleichsweise wenig. Denn jedenfalls die Höhe dieses Preises im Einzelfall ist für den Nutzer kaum je zu ermitteln – ebenso wenig wie mögliche privatheitskonforme Alternativangebote. Der durch Netznutzung bedingte Privatheitsverlust ist somit für die Nutzer – (auch) fremdbestimmt, – kaum kalkulierbar und – immer weniger vermeidbar. Unter solchen Umständen ist der Verzicht auf die Netznutzung keine tatsächlich und rechtlich gleichwertige Alternative zur Erhaltung der eigenen Privatsphäre mehr.

  Zur elektronischen Steuererklärung s. etwa Wissenschaftlicher Arbeitskreis des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts der Steuerberater e.V. (DWS-Institut), Verfahrensrechtliche Probleme der elektronischen Steuererklärung, DStR 2006, S.  1588 ff. 28   Vgl. dazu bereits Worms/Gusy, a.a.O. (Fn.  24), S.  91. 27

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Dies alles ist nicht notwendigerweise eine Niedergangs- bzw. Verlustgeschichte. Und es besteht auch kein Grund, die genannte Entwicklung insgesamt zu beklagen, zu verteufeln oder ihre Rückgängigmachung zu fordern. Es gilt, technische Entwicklungen mit den Rechten der Betroffenen kompatibel zu gestalten. Es geht also nicht um die Frage nach dem „Ob“, sondern diejenige nach dem „Wie“ der Gestaltung. Und es geht nicht primär darum, die hier nur angedeuteten Entwicklungen als Bedrohung zu sehen, sondern um ihre Deutung als Chance – für Technik, Technikgestaltung, Recht und Rechtsgestaltung im Interesse aller Beteiligten und Betroffenen.29

III.  Privatheit durch Aushandlung und durch Regulierung 1.  Privatsphärenkonforme Rechts- und Technikgestaltung Chancen für wen? Technikentwicklung erfolgt nicht allein nach Kriterien der Technik. Vielmehr unterliegt sie äußeren Rahmenbedingungen, die sich aus Chancen von und Anforderungen an Entwicklungen darstellen. Solche Rahmen ergaben sich eben nicht allein aus den Binnenrationalitäten der Technik, sondern auch aus technikexternen Vorgaben etwa politischer, ökonomischer, sozialer bzw. ästhetischer Art. Sie können sich für die Technikentwicklung als begünstigende, hemmende oder aber richtungsweisende Bedingungen darstellen – Technikentwicklung kennt fast stets eine Vielzahl möglicher Richtungen. Es liegt nahe, solche Rahmenbedingungen primär den Unternehmen, Institutionen und Akteuren zuzuweisen, welche die Technikentwicklung selbst vornehmen und finanzieren, also auch finanzielle Risiken übernehmen. Eine solche Überantwortung der Entwicklung an die Entwickler- und Anbieterseite allein würde dazu führen, dass der Schutz der Privatsphäre nicht nur ihrer selbst willen erfolge, sondern in ein Bündel anderer Erwägungen eingehe und letztlich als Resultante dadurch notwendiger Abwägungen innerhalb weitaus umfassender Zielbündel erscheinen würde. Sie würde zu einem Faktor unter mehreren, und zwar einem solchen, der aus der Sicht der Anbieter zu möglichen Kostensteigerungen, Vorteilsausfällen und Konkurrenznachteilen gegenüber weniger privatsphärensensiblen Mitbewerbern führen könnte. Dass eine solche Zuweisung an die Entwickler- und Betreiberseite allein die ursprünglich als Selbstbestimmungsrecht verfasste Privatsphäre für ihre Träger zu einem Ergebnis von Fremdbestimmung verwandeln würde,30 liegt ebenso auf der Hand wie der Umstand, dass eine solche Zuweisung für eine privatsphärenkonforme Rechts- und Technikgestaltung allein nicht zureichend sein kann.

29   S. zum Folgenden Lamla, Kultureller Kapitalismus im Web 2.0. Zur Analyse von Segmentations-, Intersektions- und Aushandlungsprozessen in den sozialen Welten des Internets, Zeitschrift für Qualitative Forschung 11 (2010), S.  11 ff.; ders., „Consumer Citizen“. Privatheit und Öffentlichkeit in der Verbraucherdemokratie, in: Seubert/Niesen (Hg.), Die Grenzen des Privaten, 2010, S.  219 ff. Siehe auch Bieber/Eifert/Groß/Lamla, Soziale Netzwerke in der digitalen Welt, in: dies. (Hg.), Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht, 2009, S.  11 ff. 30   Die Parallele zur älteren Diskussion um die Rolle der AGB im Privatrecht liegt nahe. Dazu etwa Pfeiffer, in: Wolf/Lindacher/ders., AGB-Recht, 6.  Aufl. 2013, Einl. Rn.  7.

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2.  Privatsphärenschutz durch (Netz-)Nutzer Näher liegt die Zuweisung an die Nutzer, um deren Privatsphäre es immerhin geht. Aus ihrer Sicht ist Privatheitsschutz Autonomie über den Zugang zu geschützten Informationen und Bereichen. Diese Autonomie wird im Kontakt zu Kommunikationspartnern nur selten allein ausgeübt, sondern ist in diesem Bereich auch Gegenstand von Aushandlungen.31 Dies entspricht älteren Privatheitsmodellen, welche ebenfalls Aushandlungslösungen zugrunde legen. Wer eine Wohnung betreten und was er dort tun darf, entscheidet der Wohnungsinhaber selbst – ggf. nach Aushandlung. Maßgeblich dafür sind wesentlich Kommunikationsvorgänge und -umstände, welche für die Entscheidung motivierend waren. Ein wesentlicher Umstand hierfür sind die Verhaltenserwartungen, welche der Wohnungsinhaber an die Einlass begehrende Person richtet oder richten kann. Solche Erwartungen bestehen zentral aus der Prognose dessen, wie der andere sich verhalten wird, und der (subjektiv angenommenen) Wahrscheinlichkeit, mit welcher solche Erwartungen eintreffen werden bzw. durchgesetzt werden können. Zusammenfassend können diese Erwartungen als Vertrauen32 bezeichnet werden.33 Vertrauen entsteht jedenfalls nicht allein aus Kommunikationsinhalten, sondern wesentlich auch aus sonstigen Kommunikationsumständen.34 Solche Vertrauensbeziehungen können auch im Netz aufgebaut werden – ebenso wie in anderen elektronischen Medien auch. Wer mit wem telefoniert und dabei private („vertrauliche“) Informationen austauscht, ist auch eine Frage des Vertrauens. So können etwa Nutzer sozialer Netzwerke untereinander Vertrauen erwerben, stabilisieren und enttäuschen.35 Dies geschieht gewiss auf andere Weise als in der face-to-face-Kommunikation. Welches die dafür notwendigen Bedingungen und Formen sind, ist Gegenstand neuerer Untersuchungen36 Sie zeigen: Aushandlungsprozesse im Netz sind möglich und können Bedingungen für privatsphärenkonforme elektronische Kommunikation per Distanz schaffen. Auch diese bedürfen der notwendigen rechtlichen, technischen und sozialen Rahmenbedingungen, die gleichfalls gegenwärtig erforscht werden. Sind sie hinreichend geklärt und umgesetzt, so können die Privatsphäre und ihr Schutz den Beteiligten selbst überantwortet werden. Privatheitsschutz ist dann Schutz durch die 31   Zu den Prozessen der Aushandlung von Privatheit s. Ellison/Vitak/Steinfield/Gray/Lampe, Negotiating Privacy – Concerns and Social Capital Needs in a Social Media Environment, in: Trepte/ Reinecke (Hg.), Privacy Online. Perspectives on Privacy and Self-Disclosure in the social web, 2011, S.  19 ff.; Lamla, Kultureller Kapitalismus a.a.O. (Fn.  29), S.  11 ff. 32   Zum Begriff des Vertrauens aus rechtswissenschaftlicher Sicht etwa Hof/Kummer/Weingart/Maasen/Wesche, Recht und Verhalten – Verhaltensgrundlagen des Rechts – zum Beispiel Vertrauen, 1994; aus jüngerer Zeit etwa Jandt, Vertrauen im Mobile Commerce: Vorschläge für die rechtsverträgliche Gestaltung von Location Based Services, 2008, S.  41 ff. 33   Dazu am Beispiel des „privacy-tuning“ Trepte/Reinecke, The social web as a shelter for Privacy and authentic Living, in: dies. (Hg.), a.a.O. (Fn.  31), S.  61 (70 f.). 34   Zum Entstehen von Vertrauen etwa Jandt, a.a.O. (Fn.  32), S.  52 ff.; siehe auch die Milieustudie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) von 2012 – abruf bar unter: https://www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-milieu-studie/ (zuletzt abgerufen am 14.4.2015). 35   In diesem Sinne auch Trepte/Reinecke, a.a.O. (Fn.  31), S.  61 (70 f.). 36  Exemplarisch Trepte/Dienlin/Reinecke, Risky behaviours: How online experiences influence privacy behaviors, in: Stark/Quiring/Jackob (Hg.), Von der Gutenberg-Galaxis zur Google-Galaxis, 2014, S.  225 ff.; Trepte/Reinecke, a.a.O. (Fn.  31), S.  61.

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Berechtigten selbst, in deren Interesse die Privatsphäre garantiert ist. Und ihre Selbstbestimmung ist sodann Schutzbereich und Ausübung ihrer Privatsphäre. Aus rechtlicher Sicht ist dies die Zuweisung von Bedingungen und Modalitäten der Rechtsverwirklichung an die Berechtigten selbst und damit ein gleichsam liberales Modell.37 Es knüpft an etablierte Formen von Freiheit und Freiheitsverwirklichung an und beschränkt Dritte, namentlich die öffentlichen Hände, auf die Setzung und Durchsetzung dafür notwendiger und angemessener Rahmenbedingungen.

3.  Grenzen des Aushandlungsmodells Doch stößt eine solche Verweisung des Privatsphärenschutzes an die Nutzer selbst auch auf Grenzen. Dies gilt namentlich dort, wo die notwendigen Vorbedingungen für derartige individuelle und gesellschaftliche Aushandlungsmodelle zum Privatheitsschutz nicht vorliegen. Dass Aushandlungsmodelle nicht unter allen denkbaren sozialen Voraussetzungen realisierbar sind, ist inzwischen ebenso Gemeingut wie die Einsicht, dass nicht stets Aushandlungsergebnisse als Ausübung und Folge gleicher Freiheit die Freiheitskonformität auch des Ergebnisses sichern. Was zwischen Nutzer und Nutzer funktionieren kann, stößt jedenfalls dann und dort an seine Grenzen, wo die rechtlichen, ökonomischen oder sozialen Voraussetzungen für Aushandlungen nicht gegeben sind. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn – die Marktteilnahme extrem asymmetrisch ist, wenn also etwa eine Marktseite monopolistisch oder oligopolistisch verfasst ist, die andere hingegen durch eine breite Streuung der Teilnehmer zersplittert ist, – die Marktteilnehmer unterschiedlicher Seiten über extrem unterschiedliche Informationen hinsichtlich der Bedingungen, Modalitäten oder Folgen ihrer jeweiligen Marktteilnahme verfügen, – die Marktteilnehmer unterschiedliche rechtliche Startbedingungen aufweisen, etwa im Hinblick auf einseitige Sonderrechte (etwa z.B. die Zulassung von Konditionenkartellen), – der Grad der Angewiesenheit auf die Leistung auf der einen Marktseite wesentlich höher ist als auf der anderen, – der Grad der Organisierbarkeit der Interessen einer Marktseite wesentlich höher ist als derjenige der anderen Seite. Dabei kommt es nicht allein auf die rechtlichen, sondern auch auf die tatsächlichen Bedingungen von Organisationschancen an.38 Nach den genannten Maßstäben ist die Marktteilnahme bei den elektronischen Kommunikationsdienstleistungen vielfach extrem asymmetrisch. Das gilt jedenfalls im Verhältnis der Nutzer zu den großen Anbietern und Veranstaltern des Netz­ zugangs und der Netznutzung (google, facebook u.a.) wie aber auch im Verhältnis zu einzelnen Anbietern im Netz (amazon u.a.). Hier finden sich auf Anbieterseite monopolistische oder jedenfalls oligopolistische Züge. Es besteht eine extrem ungleiche   Zur „liberalen Tradition“ der Privatheit etwa Rössler, a.a.O. (Fn.  2 ), S.  41 ff.; Seubert, Einleitung, in: dies./Niesen (Hg.), a.a.O. (Fn.  29), S.  9 (12 ff.). 38   Zu den beiden zuletzt genannten Aspekten nach wie vor grundlegend Olson, Die Logik des kollektiven Handelns, 5.  Aufl. 2004. 37

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Verteilung der Angewiesenheit der Nutzer auf die Leistungen der Unternehmen einerseits im Verhältnis zu derjenigen der Unternehmen auf die einzelnen Nutzer andererseits. Schon infolge der transnationalen Strukturen des Marktes sind die Möglichkeiten der Selbstorganisation der Nutzer und ihrer dadurch potentiellen Chancen der Durchsetzung ihrer Belange äußerst eingeschränkt. Und überhaupt ist die Rechtsdurchsetzung gegenüber den transnational agierenden Akteuren eine kaum durchschaubare Aufgabe39 und unterscheidet sich erheblich von derjenigen der nahezu notwendig standortgebundenen Nutzer. Besonders bedeutsam ist zudem die Einseitigkeit der Informationslage: Über Vorgänge im Netz – jenseits der einzelnen Informationseingabe – haben die Normalnutzer keinerlei Kenntnis.40 Sie haben damit auch keinerlei Kenntnis hinsichtlich der dort vorhandenen Gefährdungen ihrer Privatsphäre wie auch umgekehrt hinsichtlich der dort vorhandenen Möglichkeiten des Selbstschutzes ihrer Privatsphäre. Vielmehr sind sie den Unternehmen und ihren zudem wenig transparenten Geschäftsbedingungen weitgehend ausgeliefert. Hier ist der Weg von der informationellen Selbstbestimmung zur informationellen Fremdbestimmung kurz – ein Umstand, welcher durch die „Einwilligungslösung“ im Netz allenfalls bemäntelt, aber nicht behoben wird. Das gilt umso mehr, als die übliche Freiheit des Verbrauchers angesichts mangelnder Verhandlungsmöglichkeiten, nämlich das Ausweichen zur Konkurrenz, im Netz kaum möglich ist. Die Relevanz möglicher, transparenter und insgesamt kundenfreundlicher Konkurrenzangebote dort ist nahe null. Privatheitsschutz als Selbstschutz der Nutzer ist im Netz jedenfalls in solchen Beziehungen auf der Verliererstraße. Es ist auch dies, was das BVerfG meint, wenn es als Schutzgüter der Privatheit sowohl das freie Individuum als auch die freie Gesellschaft nennt.41 Dabei ist zu berücksichtigen (und dem BVerfG sehr wohl bewusst): Die Freiheit Aller allein stellt noch nicht zwingend eine freie Gesellschaft her. In ihr wird die Freiheitsfrage unmittelbar zur Verteilungsfrage. Und das größtmögliche Maß an Autonomie einzelner Gesellschaftsmitglieder zulasten der anderen begründet keine freie Gesellschaft. Umgekehrt ist eine freie Gesellschaft allenfalls die notwendige, aber keine hinreichende Bedingung individueller Freiheit. Hier entsteht für den Einzelnen die Frage nach der Zugänglichkeit der Teilhabe an der gesellschaftlichen Freiheit: Auch die rechtlich freie Gesellschaft hat ihre sichtbaren und unsichtbaren Zutrittsschwellen. Unter den beschriebenen Prämissen wandelt sich die Aufgabe der Freiheitssicherung von der gesellschaftlichen zur politischen; sie wird zur staatlichen Aufgabe, wenn nicht gar zur Regulierungspflicht.42 Wo gesellschaftliche Selbstregulierung rechtlich oder politisch unhaltbare Folgen auslöst, ist Fremdregulierung notwendig. Und spätestens in diesem Sinne wird die Frage nach dem Privatsphärenschutz zu einer solchen der 39  Überlegungen in Bezug auf eine „Global Internet Governance“ etwa bei https://www.cigionline.org/activity/global-commission-internet-governance (zuletzt abgerufen am 14.4.2015); siehe auch Uerpmann-Wittzack, Internetvölkerrecht, AVR 2009, S.  261 ff.; Fischer-Lescano, Der Kampf um die Internetverfassung. Rechtsfragen des Schutzes globaler Kommunikationsstrukturen vor Überwachungsmaßnahmen, JZ 2014, S.  965 ff. 40   Siehe zu diesem Problem erneut Schwabenbauer, a.a.O. (Fn.  22). 41   BVerfGE 65, 1 (41) – Volkszählung [1983]. 42   Klassisch BVerfGE 81, 242 – Handelsvertreter [1990].

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Politik und des Verfassungsrechts, in einem weiteren Sinne des Öffentlichen Rechts, aber auch der Politikwissenschaft und der Staatsrechtswissenschaft. Sie kann zur Selbstregulierung in unterschiedlichen Verhältnissen stehen, also Regulierungsaufgaben übernehmen, aufteilen, organisieren, garantieren oder moderieren. Doch steht fest: Einem demokratischen, auf die Vorgaben des Grundgesetzes verpflichteten Gemeinwesen kann die Übertragung notwendiger Regulierungsaufgaben auf dafür erkennbar ungeeignete gesellschaftliche Instanzen nicht genügen. Vielmehr ist hier (auch) Fremdregulierung gefordert. Wohlgemerkt: Das gilt nicht überall und für jede Vertrauensbeziehung im Netz. Hier gibt es auch Bereiche, die funktionsfähig sind oder jedenfalls gemacht werden können (s.o.). Anderes gilt jedoch, wo die Voraussetzungen für eine angemessene Verteilung von Interessen und Rechten von vornherein nicht gegeben sind und daher Fremdregulierung notwendig ist. Zur Durchsetzung des Privatsphärenschutzes im Netz sind also akteurs- und sachspezifisch unterschiedliche Verfahren, Regulierungsformen und -instanzen teils sinnvoll, teils notwendig. Dabei schließen Regulierungsmodelle Aushandlungsmodelle ebenso wenig völlig aus wie umgekehrt Aushandlungsmodelle die Regulierungsmodelle. Es kann auch Ziel freiheitskonformer Regulierung sein, freiheitskonforme Aushandlungsbedingungen zu schaffen. Solche Mischmodelle wechselseitiger Ergänzung lassen beide nicht als bloße Alternativen, sondern auch als eine denkbare Kombination miteinander erscheinen.

IV.  Regulierung des Privatheitsschutzes – Regulierung der Privatheit? 1.  Regulierungsauftrag und -aufgabe Der Regulierungsauftrag geht über das „Wie“ des Privatheitsschutzes weit hinaus. Es geht nicht allein um die Frage nach einem Nachvollzug schon vorgegebener Privatheit durch Recht. Vielmehr bezieht sich der Auftrag des Rechts primär auf die Frage nach der Anerkennung des Privaten als Rechtsgut, also nach dem „Ob“ seiner In­ tegration in die Rechtsordnung. Daneben geht es aber auch um den Umfang ihres rechtlichen Schutzes, namentlich in Abgrenzung zu kollidierenden Belangen. In­ soweit geht es auch um das „Wie“ der rechtlichen Ausgestaltung des Privatheits­ schutzes. Dieser Befund stellt an die Schutzbedürfnisse und -richtungen der Privatheit neue Fragen, ist aber hinsichtlich ihrer älteren Dimensionen nicht völlig neu. Auch schon traditionell stellt sich die Frage nach der Anerkennung bestimmter Sphären als „privat“,43 aber auch der Bestimmung und Zuordnung privater Bereiche zueinander, etwa hinsichtlich geteilter Privatsphäre – mehrere Personen bewohnen gemeinsam eine Wohnung – oder hinsichtlich kommunikativer Privatsphären (also des Schutzes privater Kommunikationsmittel, -wege und -inhalte auch zwischen den Beteiligten selbst). Weiter stellte sich schon traditionell die Frage nach der Zuordnung privater 43   Zur Sphärentheorie etwa Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, 72. EL Stand 07/2014, Art.  2 Abs.  1 Rn.  157 ff. Gusy, Grundrechtsschutz des Privatlebens, in: Zehetner (Hg.), Festschrift für HansErnst Folz, 2003, S.  103 ff.

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und öffentlicher Sphären.44 Diese basiert immer weniger auf einer kategorialen Entgegensetzung, wie etwa die Diskussion um den partiellen Schutz privater Lebens­ äußerungen in der Öffentlichkeit zeigt.45 Die Aufgabe einer Regulierung der Privatheit ist daher keine völlig neue, sondern auch unter dem Aspekt der e-privacy eine unter allerdings neuen Vorzeichen. Aus juristischer Sicht war und ist diese gewandelte Kontinuität in der Qualifikation von Privatheit als Rahmenrecht bereits angelegt. Das eigentlich Neue dieser Aufgabe liegt hier zunächst in der Nebenordnung von Privatsphären im Verhältnis zueinander oder aber in der Abgrenzung und Zuordnung des Privaten zum Öffentlichen. Solche Aufgaben stellten sich zwar schon in der Vergangenheit. Das Neuartige liegt eher darin, dass Kriterien der Privatheit entwickelt werden müssen hinsichtlich (1) objektivierter Informationen, welche privat sein können, die aber (2) auf Medien gespeichert, verarbeitet oder transportiert werden, die nicht unter der Kontrolle des Trägers der möglichen Privatheit stehen, und die (3) zugleich nicht als formell geschützte Sphäre konstituiert und dadurch unzugänglich für Verarbeiter und Dritte wären. Abgekürzt gesprochen: Es geht um den Schutz der Informationen des Einen auf den technischen Anlagen Anderer. Das Zusammentreffen jener drei Elemente begründet die Besonderheiten des rechtlichen Schutzes der e-privacy sowohl gegenüber der alten Privatheit außerhalb der IT wie aber auch gegenüber dem tradierten Telekommunikationsgeheimnis (dazu o. I.). Was ist dort wie und in welchem Umfang geschützt? Rechtsfragen richten sich dabei sowohl an die Anerkennung bestimmter Informationen als „privat“ wie aber auch an den Umfang ihres Schutzes in Abgrenzung zu anderen privaten Sphären, den Rechten von Netzeigentümern, IT-Betreibern und der Öffentlichkeit. Die Zahl der dabei zu berücksichtigenden Dimensionen ist damit hoch. Doch sind derartige Ausgestaltungsaufträge und -aufgaben aus anderen Rahmenrechten wie etwa dem Eigentum46 oder dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht47 durchaus geläufig. Sie richten sich nicht allein an den Gesetzgeber, der tendenziell eher generell-abstrakt handelt; sondern daneben auch an Rechtsanwendung und Rechtsprechung, welche eher einzelfallorientiert handeln können, schließlich aber auch an die Rechtswissenschaft. Sie alle sind im Rahmen ihrer allgemeinen Aufgabenverteilung teils berechtigt, teils verpflichtet, an der Konkretisierung, Zuordnung und Abgrenzung mitzuwirken. Umso mehr bedarf es dafür jedoch der Kriterien, nach denen die verpflichteten Instanzen gemeinsam arbeitsteilig zu handeln haben. Diese lassen sich – im Unterschied zu anderen grundrechtlichen Gestaltungsaufträgen – nur ganz ansatzweise durch Verfassungsauslegung ermitteln. Eine explizite Garantie der Privatheit enthält das Grundgesetz nicht, sie findet sich aber insoweit wortgleich in Art.  8 EMRK und Art.  7   Zur Unterscheidung s. etwa Di Fabio, a.a.O. (Fn.  43), Rn.  158 f.; Gusy, a.a.O. (Fn.  42), S.  104 ff.   Am Beispiel der offenen Videoüberwachung etwa Klar, Der Rechtsrahmen des Datenschutzrechts für Visualisierungen des öffentlichen Raums – ein taugliches Konzept zum Schutz der Betroffenen­ interessen?, MMR 2012, 788. Zur entgegengesetzten amerikanischen Rechtsprechung, welche jeden Privatheitsschutz in der Öffentlichkeit ablehnt s. Wittmann, Der Schutz der Privatsphäre vor staatlichen Überwachungsmaßnahmen durch die US-amerikanische Bundesverfassung, 2014, S.  803 ff. 46   Dabei kann es um den Schutz des Eigentums für Inhaber von Nutzungsrechten sowohl gegen Dritten als aber auch gegenüber dem Eigentümer selbst gehen, so auch BVerfGE 37, 132 – Vergleichsmiete I [1974]. 47   Vgl. hierzu etwa Larenz/Canaris, a.a.O. (Fn.  19), §  80 III. 44 45

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EuGrCh („Privatleben“).48 Beide sind für das Verständnis des Grundgesetzes wichtig, jedoch ihrerseits noch eher wenig konkretisiert. Zum Grundgesetz findet sich am ehesten eine elaborierte Dogmatik wichtiger Teilbereiche des Privaten (Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung, Telekommunikationsgeheimnis, Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme u.a.).49 Sie beschreiben gewiss wichtige Dimensionen der Privatheit; diese selbst erscheint in der deutschen Diskussion bislang allerdings am ehesten als Oberbegriff jener einzelnen Garantien, die als solche differenziert ausgebildet, deren Zusammenschau aber noch elaborierungsbedürftig ist. Das Privatleben wird hier vorzugsweise eigenständig diskutiert unter dem Aspekt seines „unantastbaren Kernbereichs“,50 der hinsichtlich seiner Anerkennung nahezu unumstritten, hinsichtlich seiner Konkretisierung und Zuordnung zu anderen Rechtsgütern allerdings Gegenstand auch ganz grundsätzlicher Kontroversen ist.51 Und das Private ist rechtlich weder mit seinem Kernbereich identisch noch rechtlich unantastbar. Die Teile sind mit international anerkannt hoher Qualität vorhanden, das Ganze steht noch aus.52 Deduktiven Methoden sind daher in Deutschland von vornherein Grenzen gezogen. Vielmehr kann gelten: In den Menschenrechtsgarantien wirkt der explizite Privatheitsschutz als Differenzierungsauftrag, im Grundgesetz wirken dessen verstreute Privatheitsgarantien eher als Syntheseauftrag.

2.  Kriterien der Privatheit Umso eher stellt sich die Notwendigkeit einer Herausarbeitung anderer Kriterien zur Konkretisierung des Privaten. Als gemeinsamer Grundkonsens lässt sich eigentlich nur herausstellen: Privatheitsschutz ist mehr und anderes als der Hinweis auf die allgemeinen tatsächlichen oder rechtlichen Grenzen öffentlicher oder privater Kontrolle. Gewiss: Kon­ trollinstanzen, auch die öffentliche Gewalt, können nicht überall und insbesondere nicht überall gleichzeitig sein. Daraus können sich regional oder temporär kontroll­ freie Zonen ergeben. Doch ist dieser Restbestand als Konsequenz ineffizienter, defizitärer oder mangelnder Kontrollressourcen zwar in manchen Bereichen privatisiert oder jedenfalls privatisierbar, aber deshalb noch keine rechtlich anerkannte, schutzwürdige oder geschützte Privatheit. Und sie würde zudem durch technisch bedingte Fortschritte von Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten von vorn­ herein als Auslaufmodell erscheinen. 48   Zum Recht auf Privatleben nach diesen Bestimmungen etwa Schiedermair, Der Schutz des Privatlebens als internationales Grundrecht, 2012. 49   Vgl. etwa Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976; Schmitt-Glaeser, Schutz der Privatsphäre, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 4, 1.  Aufl. 1989, §  129. 50   Grundlegend: BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes [1957]. In BVerfGE 27, 1 (6) – Mirkozensus [1969] wird dieser „Kernbereich“ auch als „Innenraum“ bezeichnet, in dem ein Mensch „sich selbst besitzt“ und „in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt.“ Siehe zu dieser Rechtsfigur auch Barrot, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2012. 51   Ansätze bei Warntjen, Heimliche Zwangsmaßnahmen und der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2007. Kritisch Dammann, Der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2011. 52  So Nettesheim, Grundrechtsschutz der Privatheit, VVDStRL 70 (2011), S.  7 ff.

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Kriterien der Privatheit sind daher eher induktiv als deduktiv zu ermitteln. Dazu finden sich unterschiedliche Ansätze: (a) Eher individualzentriert sind anthropologisch-psychologisierende Ansätze.53 Sie gehen davon aus, dass Privatheit eine Eigenschaft der Individuen ist, die ihnen durch Abstammung oder psychische Ausstattung zukommt. Privat ist der Mensch am ehesten mit und durch sich selbst in derjenigen Ausstattung, die ihm eigen bzw. „eigentümlich“ ist. Dies beschreibt auch ihre Funktion: Im Privaten kann der Mensch den Kern seiner Individualität finden und leben. Dessen Bezeichnung sowie die Konkretisierung der privaten Dimensionen werden ganz unterschiedlich vorgenommen. ­Tabuzonen, Schamgrenzen54 oder Intimsphären begründen unterschiedliche Annäherungen an derartige Privatheitskonzepte, bedürfen allerdings ihrerseits der Konkretisierung und sind hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit zumindest über­ prü­ fungsbedürftig. Außerhalb solcher eher eng gezogenen, vielfach räumlich gedachten Grenzen findet sich bisweilen die Formulierung von der „Integrität der Selbstdarstellung“,55 die auf eine Ausweitung des Privaten über jene Räume hinaus angelegt ist, zugleich aber auch bereits Elemente der nachfolgenden Privatheitskonzepte thematisiert. Zugleich wird damit aber auch eine zentrale Privacyfunktion herausgestellt. Im privaten Bereich bleibt oder gelangt der Mensch zur Übereinstimmung mit sich selbst, er bildet seine Integrität und Identität, sein „Selbst“ heraus. Es ist der Bereich der Selbstbesinnung, -findung und -definition56 ; moderner gesprochen der Ort der Entschleunigung,57 des zu sich selbst Findens und der Reflexion von Verhaltensmöglichkeiten und -alternativen. Kurz: Ein Ort der Freiheit neben anderen Freiheiten und Freiheitsorten. Juristische Anklänge an sie finden sich bereits in älteren Theorien unterschiedlicher „Sphären“ (Öffentlichkeits-, Privat-, Intimsphäre). Als e-privacy garantiert sie am ehesten Schutz vor unfreiwilliger Netzöffentlichkeit, also die Freiheit vom Netz und von bestimmten Inhalten, welche sich auf Tabu- oder Intimbereiche beziehen. (b) Eher gesellschaftszentriert sind soziologisch-rollenorientierte Ansätze.58 Sie konstituieren privacy von ihrer gesellschaftlichen bzw. gesellschaftsbildenden Funktion her.   Vgl. etwa Westin, a.a.O. (Fn.  20), S.  32 ff. für den eine der vier Funktionen von Privatheit in der Ermöglichung von „emotional release“ besteht. Aus der psychologischen Literatur ist hervorzuheben Pedersen, Psychological Functions of Privacy, in: Journal of Environmental Psychology (1997), S.  147 ff.; ders., Model Types of Privacy by Privacy Functions, in: Journal of Environmental Psychology (1999), S.  397 ff. 54   Sofsky, Verteidigung des Privaten, 2007. 55  Nach Dreier, a.a.O. (Fn.  22), Art.  2 I Rn.  23 m.w.N. ist Persönlichkeitsschutz in erster Linie Integritätsschutz. Allgemein zum Recht auf Selbstdarstellung s. Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung. Eine Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art.  2 I GG, 2007, S.  4 4 ff., 51 ff. (zum Zusammenhang zwischen informationeller Selbstbestimmung und effektiver Selbstdarstellung); Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S.  396 ff. 56   In diesem Sinne auch Dreier, a.a.O. (Fn.  22), Art.  2 I Rn.  71 m.w.N. Diese Funktion von Privatheit bezeichnet Westin, a.a.O. (Fn.  20), S.  32 f. als „emotional release“. 57   Zur Gegenentwicklung Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 2005. 58   Sie werden in der Rechtswissenschaft vielfach vorausgesetzt. S. etwa Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S.  55 ff.; Mallmann, Zielfunktionen des Datenschutzes: Schutz der Privatsphäre – Korrekte Information, 1977 mit zahlreichen Nachweisen zur amerikanischen Literatur; zusammenfassend Benda, Privatsphäre und Persönlichkeitsprofil, in: Leibholz u.a. (Hg.), Menschenwürde 53

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Danach ist Privatheit gesellschaftlich bedingt und verfasst: Sie findet in der Gesellschaft ihren Anfang und ihren Grund und nicht erst ihr Ende. In diesem Sinne ist Privatheit eine Modalität der Ausgestaltung sozialer Beziehungen. Entsprechend ihrem Grundansatz denkt diese Richtung Dritte und Gesellschaft somit auch als Bedingung und Element des Privaten, nicht hingegen ausschließlich als deren Grenze und Ende mit. Das Private ist eine Modalität der Ausgestaltung sozialer Kommunikation sowie Interaktion und damit von Gesellschaft.59 Das Private und das Öffentliche erscheinen so zwar als unterscheidbar, aber zugleich als tendenziell verschränkt oder am ehesten skalar abgrenzbar. Als dafür maßgebliches Kriterium dienen vorzugsweise Kontrolltheorien60 : Privat erscheint der Bereich, in welchem die Kontrolle über Zugang zu und Gestaltung von Interaktion bei den Beteiligten selbst liegt, öffentlich ist hingegen derjenige Bereich, wo ihnen diese Kontrolle entzogen und (auch) anderen offensteht. Dies ist allerdings kein strikter Gegensatz; vielmehr ermöglicht gerade jene Zuweisung Übergangs- und Mischformen, individuelle und kommunikative Privatheit sowie die Identifizierung von mehr oder weniger privaten bzw. mehr oder weniger öffentlichen Bereichen. Privat oder öffentlich sind demnach End- und Übergangsstufen der Ausgestaltung partiell gleicher, partiell aber auch unterschiedlicher sozialer Relationen, die eben öffentlicher oder aber privater ausgestaltet werden können. Bestimmend für ihren Charakter ist die Zuordnung von Entscheidungsbefugnissen über die Ausgestaltung der Kommunikation an die Beteiligten selbst: Je höher ihr Grad an Mit­w irkung(smöglichkeit), umso privater ist ihre Beziehung. Damit erhält die Privatheit zugleich eine soziale und gesellschaftskonstituierende Dimension: Sie ist der Bereich, in welchem die Einzelnen die ihnen zugewiesenen Entscheidungsmöglichkeiten finden, ausüben, ändern, revidieren und auf heben können, ein Ort der Reflexion und Kommunikation über Systemzugehörigkeiten und -grenzen, der Distanzierung(-smöglichkeit) von Rollenzuweisungen und -erwartungen. Dieser Bereich wird bisweilen auch als „Rückzugsraum“61 bezeichnet und begründet so zumindest terminologisch eine gewisse Nähe zu den zuvor beschriebenen individualistischen Ansätzen. Dadurch entsteht nicht nur (irgendeine) Gesellschaft, sondern eben eine freie Gesellschaft. Insoweit steht diese privacy-Konzeption in einem engen Zusammenhang mit der Anerkennung von Freiheit als gesellschaftlicher Freiheit und Freiheit der Gesellschaft. Ihrer beider Anerkennung erfolgt demnach nicht zufällig zeitlich parallel, sondern miteinander verschränkt und aufeinander bezogen. Hier finden sich Anklänge in Formulierungen wie „informationelle Selbstbestimmung“, Privatheit als „Recht auf Selbstdarstellung“ sowie Anerkennung semi-öffentlicher und freiheitliche Rechtsordnung, FS Geiger, S.  23 (37); Schmitt-Glaeser, a.a.O. (Fn.  49), §  129 Rn.  14; Amelung, a.a.O. (Fn.  19), S.  23 ff. 59   Siehe dazu den demnächst erscheinenden Sammelband von Rössler/Mokrosinska, Social Dimensions of Privacy. 60  Vgl. etwa Westin, a.a.O. (Fn.  20); Altman, a.a.O. (Fn.  19); zu diesen Kontrolltheorien Rössler, a.a.O. (Fn.  2 ), S.  22 ff. 61   So soll nach BVerfGE 27, 1 (6) – Mikrozensus [1969] das Wohnungsgrundrecht des Art.  13 GG jedem Menschen einen Raum zugestehen, in dem er das Recht hat „in Ruhe gelassen zu werden“. Nach Auffassung von Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 30.  Aufl. 2014, Rn.  394 begründet das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein „Recht auf Selbstbewahrung“, d.h. ein Recht, sich „zurückzuziehen, abzuschirmen, für sich und allein zu bleiben“. Von „Rückzugsbereichen“ spricht etwa Albers, a.a.O. (Fn.  55), S.  369.

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Anlagen oder Räume. Als e-privacy kann sie etwa Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme62, Kontrolltheorien63 und Surveillance-Ansätze64 begründen oder erklären. (c)  Ein eher rechtlich zentrierter Ansatz legt Anerkennungs- oder Schutzwürdigkeitstheorien zugrunde.65 Er sucht weniger nach den Vorgaben als nach den Inhalten des Rechts. Das Interesse richtet sich nicht primär darauf, was das Recht schützen soll, sondern vielmehr darauf, was das Recht schützt. Gesucht wird nach rechtlich anerkannten Sphären, Rechts- oder Vertrauensverhältnissen, welche nicht nur als solche geschützt sind, sondern zudem einen besonderen Vertraulichkeitsschutz genießen sollen. Grundlagen solchen Schutzes können ganz unterschiedliche Rechtsquellen sein, die sich aus allgemeinen oder speziellen Gesetzen, aber auch aus Gerichtsentscheidungen oder Auslegungsmaximen ergeben können. Aus ihnen wird sodann versucht, induktiv Privatheitsdimensionen zu ermitteln, welche ganz unterschied­ liche Inhalte, Schutzrichtungen und -intensitäten aufweisen können.66 Privatheit ist so die Summe zahlreicher Einzelrechte, die ihrerseits privat sind. Zugleich erscheint hier das Recht in einer gewandelten Bedeutung: Nicht mehr allein als Schutzmechanismus der Privatheit, sondern zugleich als deren konstituierendes Element. Privat ist, was durch Recht als privat geschützt ist; nicht nur ihre Abgrenzung und Zuordnung zu sonstigen Rechten, sondern auch ihr Inhalt ist rechtlich begründet. Privat ist, was die Gesetze als privat qualifizieren und schützen. Ganz ohne vorrechtliches Konzept kommt dieser Ansatz aber nicht aus. Denn es bedarf eines Kriteriums dafür, wie rechtlicher Privatheitsschutz von anderen Rechtsgütern abgegrenzt werden kann. Nicht jedes Recht ist Teil der Privatsphäre und diese ist zugleich mehr als die Summe aller jener Rechte, die keinem sonstigen Rechtsgut zugeordnet werden können. Als derartiges Kriterium erscheint der Schutz von Vertraulichkeit, also die Einschränkung der Befugnis Dritter, in geschützte Sphären oder Beziehungen mit den Mitteln von Zwang oder heimlicher Täuschung einzudringen. Dazu können Zutrittsbeschränkungen (bei Wohnungen) 67, die Begrenzung von Trennungs- oder Auflösungsrechten (bei Familien oder privaten Vereinigungen) 68, der Informationserhebung (in der Privatsphäre) 69 sowie ihrer Verarbeitung, Weitergabe oder Veröffentlichung70 zählen. Nicht maßgeblich ist hingegen die Intensität des Schutzes, die vom bloßen Vorbehalt gesetzlicher Regelung (s. etwa §  13 Abs.  2 Nr.  1 BDSG) bis 62   BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchungen [2007]. Siehe dazu etwa Gusy, Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Neuer Grundrechtsname oder neues Grundrechtsschutzgut?, DuD 2009, S.  33 ff. 63   Vgl. etwa Westin, a.a.O. (Fn.  20). 64   Zum Verhältnis von Sicherheit(-stechnologie) und Privatheit s. die Forschung des Projekts SurPRISE, erste Ergebnisse abruf bar unter: http://surprise-project.eu/ (zuletzt abgerufen am 14.4.2015). 65   Dazu am Beispiel der amerikanischen Rechtsprechung in Gestalt der „reasonable expectation of privacy“-Formel ebenso aktuell wie umfassend Wittmann, a.a.O. (Fn.  45), S.  61 ff. (83 ff.) (145). Krit. zu solchen Ansätzen Wittmann, ebd., S.  107: „Zirkelschluss“. 66   Zur induktiven Methodenlehre Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014. 67   Vgl. hierzu etwa die Voraussetzungen einer Wohnungsdurchsuchung in §  102 StPO. 68   Eine Trennung können die Ehegatten gemäß §  1567 BGB nur selbst veranlassen. Ein Verein wird gemäß §  41 BGB durch Beschluss der Mitgliederversammlung aufgelöst. 69   Vgl. hierzu etwa die Voraussetzungen §§  100a StPO, §§  16–18, 20a, b NRWPolG. 70  Vgl. zur Zulässigkeit der Speicherung und Übermittlung der von Polizeibehörden erhobenen Daten etwa §§  22 ff., 27 ff. NRWPolG.

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zur Behauptung ihrer Unantastbarkeit (s. etwa §  16 NRWPolG) reichen kann. Ein solches Konzept ist überaus flexibel, weil es je nach gesetzlicher Gestaltungsnotwendigkeit und -möglichkeit ganz unterschiedliche Personen, Gruppen, Handlungen und Kommunikationsvorgänge einbeziehen kann und einbezieht. Es ist gleichfalls offen, weil es ganz unterschiedliche Schutzrichtungen eröffnet: Nicht jede als privat geschützte Handlung ist jedem Dritten gegenüber gleichermaßen geschützt. Insoweit können Privatheit und ihr recht­licher Schutz auch relativ sein. Die Leistung eines solchen rechtlichen Schutzes liegt primär in der Begründung und Erhaltung von Distanz zwischen Individuum und Gesellschaft, Individuum und Staat sowie Staat und Gesellschaft als Freiheitsbedingung. Sie richtet sich gegen Vergesellschaftung bzw. Verstaatlichung und ermöglicht zugleich individuelle und gesellschaftliche Freiheit71 im freien Staat, dem hier die notwendigen Regulierungsaufgaben zukommen. Dem entspricht im geltenden Recht der Befund des Privatheitsschutzes als Rechtsbündel72. Für die e-privacy stellt sich diese Theorie mehr als Regulierungsaufgabe denn als Regulierungsvorgabe dar. Sie markiert eher Ziele als Mittel und ist dadurch einerseits inhaltlich offen, andererseits aber gegenständlich und zeitlich besonders entwicklungsfähig. Nach den genannten Auffassungen ist Privatheit demnach nicht bloß Selbstzweck, sondern nimmt auch Funktionen außerhalb ihrer selbst ein. Sie erbringt unterschiedlich definierte Leistungen zwischen Menschen, in der und für die Gesellschaft. Nach diesem Verständnis kann Privatheit auch eine Ressource des Politischen sein. Sie ist also nicht notwendig apolitisch oder unpolitisch, möglicherweise sogar antipolitisch, sondern kann jedenfalls auch gemeinschaftsbildend, -fördernd und -gestaltend wirken. Die genannten Richtungen stehen nebeneinander und bezeichnen möglicherweise weniger unterschiedliche Phänomene als vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Phänomen. In diesem Sinne sind sie auch weder exklusiv zu begreifen noch ist die eine oder andere Richtung aus der Sicht konkurrierender Ansätze falsifizierbar. Jedenfalls gegenwärtig ist daher nicht zu erkennen, dass es für die Rechtsordnung einzelne allein „wahre“ Vorgaben gäbe, die ausschließlich und unter Verwerfung anderer Ansätze linear rezipiert und umgesetzt werden könnten. Die Frage nach der Bestimmung der jeweiligen Aspekte ist daher keine allein wissenschaftliche, sondern auch eine politische. Hier geht es um soziale Anerkennung in der Gesellschaft und daraus resultierende Aushandlungsaufgaben in der Gesellschaft und zwischen den politisch verantwortlichen Akteuren und Instanzen. Letztere sind für die Aufgaben der sozialen und der Rechtsgestaltung unentbehrlich; eine bloße Rückverweisung an die Beteiligten selbst würde die hier notwendigen Aushandlungsprozesse und -aufgaben verfehlen.73 Die Gestaltung ist demnach eine Aufgabe auch der dazu berufenen politischen Instanzen: Ihnen obliegt die Wahl des für sie maßgeblichen privacy-Ansatzes – oder mehrerer nebeneinander – durch Rechtssetzung oder -anwendung im Rahmen der ihnen vorgegebenen Kompetenzordnung. Insoweit ist nicht allein die Frage nach der Begrenzung, sondern schon diejenige nach der Bestimmung und Gestaltung des Privatheitsschutzes eine Aushandlungsaufgabe für die   Zu deren Verhältnis o. I. Einl.   Von Privatheit als einem „cluster of rights“ spricht etwa Thompson, The Right to Privacy, in: Philosophy and Public Affairs, Vol. 4 No. 4 (1975), S.  295 (306). 73   Dazu o. III. 71

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Regulierungsinstanzen. Ihre Aufgabe besteht daher in der Bestimmung der maßgeblichen Privatheitsansätze und in deren Verrechtlichung, d.h. der Bestimmung ihres Schutzinhalts und -umfangs sowie in dessen Verbindlichmachung für beteiligte und betroffene Akteure. Dass es sich insoweit hinsichtlich der neuen Fragestellung der e-privacy auch um neue Gestaltungsanforderungen handelt, die jedenfalls nicht allein durch bloße Fortschreibung tradierter Institute und Rechtsfiguren gelöst werden können, ergibt sich bereits aus der Unterschiedlichkeit der (Wirkungen der) rechtlichen Vorgaben und Anforderungen.

V.  E-privacy oder post-privacy? 1.  Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit? Dies alles ist hier bislang allein theorieimmanent aus der Sicht der unterschiedlichen privacy-Konzepte betrachtet worden. Damit ist allerdings eine zentrale Fragestellung noch gar nicht angesprochen worden: Nämlich diejenige danach, ob jene in der Vergangenheit und Gegenwart entwickelten Konzepte in der Zukunft überhaupt noch gelten können; ob sie also auch für die kommenden Realitäten einer digitalisierten Welt noch adäquate Deutungsmuster liefern. Fraglich ist, ob die vorausgesetzte Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Handlungen und Sozialbereichen die zukünftige Welt noch angemessen abbilden kann. Von der Antwort hierauf hängt letztlich die Frage ab, ob in Zukunft überhaupt ein Bedarf nach e-privacy besteht; letztlich also, ob Privatheit als ein zutreffendes und zukunftsfähiges Konzept mit Anspruch auf angemessene Deutung der Realität begriffen werden kann.74 Diese Frage, namentlich die Unterscheidbarkeit von öffentlichen und privaten Bereichen, ist in neuerer Zeit Gegenstand grundsätzlicher Diskussionen. Dabei geht es sowohl um die Frage nach der Möglichkeit ihrer Unterscheidung wie aber auch um diejenige nach der Notwendigkeit einer gegenseitigen Abgrenzung. Die Möglichkeit bestreitet, wer den Relevanzverlust der Unterscheidung behauptet.75 Die These besagt, dass die Unterscheidung des Öffentlichen vom Privaten keine gesellschaftliche Bedeutung mehr aufweise und deshalb keiner Abgrenzung und Zuordnung mehr bedürfe. Entweder sei alles (potentiell) öffentlich, so dass das Private verschwinde. Oder aber beide Sphären verlören ihre Unterscheidbarkeit, so dass aus dem früher Öffentlichen und dem früher Privaten überwölbende gemeinsame Dimensionen entstanden seien.76 In beiden Fällen würde eine rechtliche Differenzierung von „öffentlich“ und „privat“ trennen, was sozial längst zusammen gewachsen sei, und   Skeptisch hierzu die sog. „Post-Privacy“-Theorie, vgl. etwa Heller, Post-Privacy – Prima Leben ohne Privatsphäre, 2011. 75   So im Hinblick auf den Versuch einer einheitlichen Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in Netz-Kontexten und zugunsten individueller bzw. multipler Grenzziehungen Weiß/ Groebel, Privatheit im öffentlichen Raum – Medienhandeln zwischen Individualisierung und Entgrenzung, 2002. 76   In diesem Sinne erscheint post-privacy nicht einfach als totale Öffentlichkeit, sondern als eine neue, noch keineswegs vollständig entdeckte und erschlossene Sphäre jenseits des Öffentlichen und des Privaten. 74

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somit die vorausliegende gesellschaftliche Wirklichkeit und deren Regelungsnotwendigkeiten verkennen. Daneben steht die These von der fehlenden Notwendigkeit einer Differenzierung des Privaten vom Öffentlichen. Ihr Ausgangspunkt liegt darin, dass eine Unterscheidung obsolet werde, da immer mehr Menschen sich in die Öffentlichkeit begäben und daher selbst auf den Schutz der Privatsphäre verzichteten. Wenn aber die (potentiellen) Träger eines Rechts auf dessen Schutz verzichteten, so bedürfe es auch eines solchen Schutzes durch Recht, Rechtssetzung und deren Instanzen immer weniger. Der Schutz eines Rechts gegen den Willen seiner Träger sei ein Widerspruch in sich. Dies gelte namentlich dann, wenn es sich bei dem Recht um ein Selbstbestimmungsrecht handele. Die Menschen, die in die Öffentlichkeit gingen, hätten ihre Selbstbestimmung nicht verloren, sondern auf Privatheit und damit auf den Schutz einer der Öffentlichkeit entzogenen Sphäre verzichtet. Rechtsschutz der Privatheit sei demnach aus gesellschaftlicher Sicht nicht mehr möglich und aus individueller Sicht nicht mehr notwendig. Diese Fragestellungen sollten nicht perhorresziert werden. Schon gar nicht erscheinen sie als Alternative von „gut“ und „böse“. Weder ist Privatheit einfach gut noch Öffentlichkeit einfach schlecht. Beide sind vielmehr Bausteine einer Gesellschaft bzw. eines Gesellschaftsbildes, die nebeneinander stehen und zahlreiche Verschränkungen und Überschneidungen aufweisen.77 Eine sinnvolle Theorie des Privaten bedarf einer sinnvollen Theorie des Öffentlichen78 – und umgekehrt. Dabei liegen die Leistungen und Potentiale einer Seite nicht allein in der Negation der jeweils anderen; vielmehr erbringen beide Seiten positive Leistungen für Individuen, Gesellschaft und Politik. Diese sind jedoch weder exklusiv noch unbegrenzt steigerbar. Jedenfalls aus der herkömmlichen Perspektive gilt: Der Weg von Menschen in die (vollständige) Öffentlichkeit ist für Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft ebenso nachteilig wie der vollständige Rückzug aller in die Privatsphäre. In diesem Sinne ist weder Privatheit per se gut und Öffentlichkeit per se schlecht – noch umgekehrt. Richtigerweise stehen demnach Privat- und Öffentlichkeitssphäre nebeneinander in einem Mischungsverhältnis, das von Person zu Person und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich verfasst sein kann. Zu diesem Mischungsverhältnis zählt namentlich die Möglichkeit des Wechsels von einem Bereich in den anderen.

2.  Leistungen des Privaten und Abgrenzungsmaßstab Entscheidungskompetenz Damit rückt der zentrale Unterschied von Öffentlichkeit und Privatheit in den Blick. Er liegt nicht notwendig in dem Grad der Kenntnisnahme oder Einwirkung Dritter auf bestimmte Handlungen oder Sphären. Er liegt vielmehr in der Zuweisung der Entscheidungskompetenz über die Zugänglichkeit bestimmter Sphären, Informationen und Kommunikationen für Dritte.79 Sie ist in der Privatsphäre in höherem Maße   Hinweise bei Worms/Gusy, a.a.O. (Fn.  24), S.  92.   Grundlegend und nach wie vor wichtig, wenn auch in zahlreichen Fragestellungen überholt Habermas, Strukturwandel des Öffentlichen, 1968. Offen ist eine vergleichbare Theorie des Strukturwandels des Privaten. 79   Dazu o. II. Wandel der Privatheit oder Privatheitsverluste? Exemplarisch für eine solche Zugangs77 78

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(wenn auch wohl niemals ausschließlich) individualisiert als in der Öffentlichkeitssphäre. In diesem Sinne bezeichnet Privatheit den Grad der Mitbestimmung der jeweils betroffenen Individuen oder Gemeinschaften über den Grad ihres Eintritts in die Öffentlichkeit und des Zutritts der Öffentlichkeit in sie. Diese Mitbestimmungschance bezieht die Möglichkeit einer Teilhabe an denjenigen Leistungen ein, welche Privatheit für Einzelne und Gesellschaft erbringen kann. Die Zukunftsfähigkeit von Privatheit (und Öffentlichkeit) hängt demnach u.a. von der Antwort auf zwei Fragen ab: Werden die Leistungen der Privatheit in Zukunft noch benötigt? Und wird die Individualisierung der Entscheidung über deren Zugänglichkeit in Zukunft noch benötigt? Die Antwort auf die erste Frage hängt weniger davon ab, wie man den Ort des Zugangs zu jenen Leistungen nennt. Es mag auch Modalitäten einer Teilhabe geben, welche ohne die privacy-Formel auskommen. Gegenwärtig sind jene funktionellen Äquivalente in der post-privacy-Diskussion noch nicht ausgemacht, möglicherweise aber auch noch nicht hinreichend gesucht worden. Wenn solche Äquivalente ausgemacht werden könnten,80 wäre eine Diskussion über eine Abkehr von Privatheitsformeln jedenfalls möglich. Wohlgemerkt wäre dies dann aber nur eine Abkehr von jenen Formeln, nicht aber von deren Zwecken und Leistungen. Eine Abwendung von dem Phänomen selbst wäre erst dann erreichbar, wenn auch die genannten Leistungen der Privatsphäre in Zukunft als verzichtbar angesehen würden. Die Diskussion hierüber hat jedoch bislang kaum begonnen. Dass sie pauschal für verzichtbar erklärt werden (können), ist aber eher unwahrscheinlich. Die gegenwärtig stark zunehmenden Diskussionen etwa um den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, das Recht auf Anonymität im Netz81, die Voraussetzungen und Grenzen von Transparenz82 sowie den Schutz von Urheber- und Leistungsrechten83 deuten eher darauf hin, dass hier möglicherweise das Rechtsbündel, welches bislang als Privatheit bezeichnet wurde, neu geschnürt wird; nicht hingegen, dass jene Garantien und Leistungen in Zukunft entbehrlich wären. Hier entsteht neuer Forschungs-, Aushandlungs- und Regulierungsbedarf. Die dabei offenen Fragen und Prämissen sind allerdings bislang allenfalls umrissen, jedenfalls noch nicht geklärt. Aber diese Klärung wäre notwendige Voraussetzung für die fehlende Notwendigkeit oder Möglichkeit von e-privacy. Und dann bliebe dort noch die andere Frage nach der Entscheidungszuständigkeit über den Zugang zu bestimmten Persönlichkeits- und Sozialbereichen. Entprivatisierung würde hier zugleich einen (relativen) Autonomie- bzw. Kontrollverlust der Betroffenen betheorie etwa Gavison, Privacy and the Limits of Law, The Yale Law Journal, Vol. 89 No. 3 (1980), S.  421 ff. 80   Ein Aspekt kann hier jedoch bereits festgehalten werden: Der Verweis, wer Privatsphäre wolle insoweit dem Netz fern bleiben müsse bzw. könne, überzeugt nicht, wo und wenn gleichzeitig die Verlagerung des Lebens in das Netz propagiert wird („Lebe Dein Leben im Netz!“). Dass Öffentlichkeit in Zukunft online, Privatheit hingegen offline (und damit niemals e-privacy) stattfindet, ist dann keine sinnvolle Alternative. Umgekehrt verbleibt das Leben im Netz aber auch nicht allein dort, sondern kann unmittelbar in das sonstige Leben hineinwirken, wie u.a. neuere Mobbingdebatten zeigen. 81   Vgl. dazu etwa Bäumler/v. Mutius, Anonymität im Internet: Grundlagen, Methoden und Tools zur Realisierung eines Grundrechts, 2003. 82   Vgl. dazu Gusy, Der transparente Staat, DVBl. 2013, S.  941 ff.; ders., Informationszugangsfreiheit – Öffentlichkeitsarbeit – Transparenz, JZ 2014, S.  171 ff. 83   Vgl. zur Problematik des Urheberrechts im Wandel des digitalen Zeitalters etwa Kröger, Informationsfreiheit und Urheberrecht, 2002, S.  1 (21 f.); Krujatz, Open Access, 2012, S.  65 ff.

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wirken. Auch hier bleiben zwei Antwortalternativen: Entweder finden sich jenseits der Privatsphäre neue Formen der Individualisierung solcher Entscheidungskompetenzen – dann wäre die Abkehr von der Privatheit erneut eher eine solche von Worten als von den Gegenständen selbst. Oder aber das Ende der Privatheit bedeutet zugleich den Kompetenzverlust der Betroffenen. Dann stellt sich die Frage, inwieweit das dadurch begründete Maß an Fremdbestimmung über den Zugang zu den Leistungen der Privatheit mit den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für freie Menschen und eine freie Gesellschaft vereinbar wären oder ob auch diese Grundentscheidungen neu ausgehandelt werden müssen. Dies wäre dann aber mehr als der Verlust von Privatheit, die mit der Freiheit der Gesellschaft und ihrer rechtlichen Garantie traditionell in einem engen Zusammenhang steht.84 Der Streit um die „post-privacy“ ist also mehr als ein Streit um Worte: Es geht um die Verteilung von Leistungen, Entscheidungs- und Kontrollzuständigkeiten und letztlich die Frage danach, welche Gesellschaft wir wollen. Und sie ist nicht bloß eine Debatte im Netz und über das Netz, sondern eine Selbstverständnisdebatte der verfassten Gesellschaft insgesamt. Und der Verweis auf die post-privacy und ihr mögliches Recht in der vollständig anders konstituierten Gesellschaft ist zumindest einstweilen noch Zukunftsmusik.

VI.  Zusammenfassung und Ausblick – Vom Datenschutz zur Kommunikationsnetzregulierung? Jedenfalls unter den gegenwärtigen Prämissen ist Regulierung also notwendig. Sie ist sachlich und rechtlich aufgetragen. Sie erfährt ihren Anlass aus der informationsrechtlich eher neuen Aufgabe der Konstituierung von Privatheit in Netzen, welche selbst im Eigentum anderer stehen und durch diese betrieben werden. Diese Zuordnungsnotwendigkeit erfordert Aushandlungsprozesse über Schutzwürdigkeit und -bedürf­tig­keit der Netze, ihres Betriebs, ihrer Nutzung und dabei entstehender Kollisionen und Konkurrenzen von Ansprüchen. Mittelbar entsteht dadurch zugleich die Notwendigkeit einer Diskussion sowohl des Inhalts und Umfangs der Privatheit als Rechtsgut wie aber auch ihres Schutzes durch die Rechtsordnung. Beide sind in Deutschland nicht notwendig identisch. Dies ermöglicht auch Binnendifferenzierungen: Nicht alles, was als privat anzusehen ist oder angesehen werden kann, muss stets einen identischen Schutz genießen. Einen formell egalitären Schutz aller Dimensionen eines Rechts kennt die deutsche Rechtsordnung namentlich im Abwägungsbereich auch andernorts nicht; und sie kennt ihn schon gar nicht im Anwendungsbereich von Rahmenrechten. Hier entsteht Raum für schutzbereichsimmanente Differenzierungen nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht, etwa im Hinblick auf besondere Schutzbedürfnisse, besondere Eingriffstiefen oder besondere Rückwirkungen von Einschränkungen.85 Gerade für Rahmenrechte bzw. Rechtsbündel gilt: Die Notwendigkeit ihrer Abgrenzung und   Dazu o. I. Einl.   Solche Notwendigkeiten oder jedenfalls Möglichkeiten sind aufgezeigt bei Hoffmann-Riem, Informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft – auf dem Wege zu einem neuen Konzept des Datenschutzes, AöR 123 (1998), S.  513 ff. S. auch – trotz partiell anders klingender Formulierungen – Bull, a.a.O. (Fn.  21). Dabei kann das Kriterium der Eingriffsschwere neben anderen ein Rolle spielen, 84 85

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Zuordnung zu anderen Rechtspositionen wirkt notwendig auch auf ihre inhaltliche Ausgestaltung zurück. Dies gilt auch für die Privatheit. Derartige Regulierungsnotwendigkeiten sind im Anwendungsbereich des Privatheitsschutzes vergleichsweise neu. In der Rechtsordnung insgesamt ist das Phänomen jedoch an zahlreichen anderen Stellen geläufig.86 Dort finden sich auch Regulierungsmodelle, welche auf ihre Übertragbarkeit überprüft werden können und müssen. Ausgestaltungsfragen des Netzeigentums und des Netzbetriebs sind der Alltag des Regulierungsgeschäfts. Dafür enthält die Rechtsordnung Ausgestaltungsmodelle und Regelungsvarianten. Hier bietet das Regulierungsrecht eine Vielzahl von Rechtsformen und Gestaltungs­ alternativen an. Sie können entweder daran anknüpfen, die Netze als öffentliche Einrichtungen zu verfassen und sodann einem öffentlich-rechtlichen Nutzungsregime zu unterstellen – wie etwa von Privaten gebaute und betriebene Straßen – oder aber sie als private und privatrechtliche zu verfassen, welche allerdings besonderen Nutzungsbedingungen unterliegen – wie etwa Energie- oder bestimmte Versorgungsnetze – oder aber einen allein privatrechtlichen Interessenausgleich vornehmen – wie bei der Monopolkontrolle bestimmter Unternehmen. Alle diese Varianten gehen von dem tradierten Netz und den etablierten Formen des Betriebs im Netz aus. Als ganz grundsätzlich andere Regelungsvarianten ließen sich zumindest theoretisch auch denken, rechtliche Rahmenbedingungen und tatsächliche Anreize für einen funk­ tionierenden Wettbewerb um Netze und in Netzen zu schaffen oder aber eine staatlich regulierte und ggf. finanzierte Alternative zum bestehenden Netz zu schaffen. Über die schon vorhandenen Ansätze hinaus dürfen die Besonderheiten der Regulierung von Informationsnetzen nicht in Vergessenheit geraten. Sie können einerseits aus den Anforderungen des privacy-Schutzes folgen, also dem Umstand, dass der Umgang mit Informationen zu regeln ist, deren Kenntnisnahme bereits einen Privatheitsverlust darstellen kann. Das kann sogar schon dann gelten, wenn nicht erst der Kommunikationsinhalt selbst, sondern bereits die Kenntnisnahme von der Tatsache ihres Stattfindens einen Rechtseingriff darstellen kann. Die andere Besonderheit liegt darin, dass – im Unterschied zu sonstigen Netzen – das World Wide Web von Anfang an ein Netz war, dessen Vorteil gerade in dessen Universalität gesehen wird. Die bisweilen beschworene Gefahr seiner „Balkanisierung“ kann sich sowohl aus der technischen Abtrennung von Netzen mit limitierten Zu- und Übergängen wie aber auch aus der Differenzierung der Nutzungsregime in den unterschiedlichen Staaten ergeben. Und dann ist da noch die Aufgabe der Rechtsdurchsetzung im Netz. World wide ist nur das Netz. Die Staaten und ihre Rechtsdurchsetzungsmechanismen sind standortgebunden. Die Regulierungsaufgabe stellt sich demnach nicht allein als solche der Rechtssetzung, sondern auch der Rechtsdurchsetzung. In anderen Netzen als dem Internet sind besondere Netz- oder Regulierungsagenturen eingerichtet worden, welche (wie

zu ihm Gusy, Die „Schwere“ des Informationseingriffs, in: Baumeister/Ruthig u.a. (Hg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, FS für Schenke 2011, S.  395 ff. 86   Zum Stand der Diskussion näher Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, Gutachten D zum 66. DJT, 2006; Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010.

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etwa die Bundesnetzagentur) 87 Nutzungsregime erforschen, anwenden und durchsetzen. Solcher Stellen wird es möglicherweise auch im Netz bedürfen – als neuer Zweig der bestehenden Netzregulierer oder aber als neuer Zweig von Datenschutzbehörden, die so über ihre tradierten Aufgaben hinaus für Datenschutz, Informa­ tionsfreiheit und Informationsrecht in einem umfassenden Sinne zuständig würden.

87   Zu ihr näher Gärditz, Die Bundesnetzagentur – eine Einführung, Bonner Rechtsjournal 2010, S.  84 ff.

Rechtsvergleichende Betrachtungen zur Energiewende* von

Prof. Dr. Johannes Saurer, LL.M. (Yale), Universität Tübingen Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 II. Erforschung der Energiewende als interdisziplinäres Unterfangen und die Rolle der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 III. Länderstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 1. Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 2. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 3. Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 4. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 5. Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 IV. Querschnittsbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 1. Varianz der Transformationspfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 2. Pfadabhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 3. Risikoentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 4. Verfassung des politischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 5. Funktionen des EU-Rechts: Rahmensetzung und Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430

I. Einleitung Der Transformationsprozess der Energiewende steht in einem globalen Problemzusammenhang. Mit der Endlichkeit fossiler Ressourcen,1 der Erwärmung der Erd­ atmosphäre durch eine Überkonzentration von Treibhausgasen,2 den technologi*  Schriftliche Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 19. Juni 2015 an der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen gehalten hat. 1   Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, Energiestudie 2014, 2014, 15 ff.; D. Meadows/D. H. Meadows/E. Zahn/P. Milling, The Limits to Growth, 1972, 54 ff. 2   Intergovernmental Panel on Climate Change, Fifth Assessment Report, Climate Change 2014 – Synthesis Report, www.ipcc.ch (Abruf 3.9.2015), 2 ff.; PBL/JRC, Trends in global CO2 emissions 2013, www.pbl.nl (Abruf 20.9.2014); näher sogleich unter II.

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schen Risiken bei der Energieerzeugung,3 den spezifischen Anforderungen beim Kapazitätsausbau erneuerbarer Energien4 und den Geboten der Energieeffizienz5 sind weltweit alle Ökonomien, Zivilgesellschaften und Rechtsordnungen konfrontiert. Normativ erheben sich die Handlungsvorgaben des internationalen6 und supranationalen7 Klimaschutzrechts. Vor diesem Hintergrund untersucht der folgende Beitrag die rechtliche Neugestaltung ausgewählter nationaler Energiesektoren und beschränkt sich dabei auf Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union.8 Nach einer methodischen Grundlegung (dazu II.) werden fünf Schlaglichter auf nationale Konturen der Energiewende geworfen, nämlich zunächst in Deutschland, dann in Frankreich, Polen, Italien und Großbritannien (dazu III.). Die abschließenden Querschnittsbetrachtungen werden zeigen, dass die EU zwar das Ziel der Verwirklichung eines Energiebinnenmarkts verfolgt, dass aber gleichzeitig unter dem europäischen Dach ein erstaunlicher energierechtlicher Rechtspluralismus herrscht (dazu IV.).

II.  Erforschung der Energiewende als interdisziplinäres Unterfangen und die Rolle der Rechtswissenschaft Die Erforschung der Energiewende ist ein genuin interdisziplinäres Unterfangen. So hat die internationale Klimaforschung über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweg eine bemerkenswerte Forschungshypothese immer weiter plausibilisiert,9 et­   S. für einen thematischen Querschnitt R. Breuer, Anlagensicherheit und Störfälle, Vergleichende Risikobewertung im Atom- und Immissionsschutzrecht, NVwZ 1990, 211 ff.; W. Köck, Risikovorsorge als Staatsaufgabe, AöR 121 (1996), 1 ff.; U. Ramsauer/H. Wendt, Einsatz der Fracking-Technologie insbesondere aus der Sicht des Gewässerschutzes, NVwZ 2014, 1401 ff.; Europäische Kommission, Mitteilung zur Zukunft der CO2-Abscheidung und -Speicherung in Europa, COM(2013) 180 final, Ziff.  3.2. 4   REN21, Renewables 2015 Global Status Report, 2015, 27 ff.; International Energy Agency, World Energy Outlook 2014, 2014, 239 ff. 5   International Energy Agency, Capturing the Multiple Benefits of Energy Efficiency, 2014, S.  18 ff.; M. Knauff, Energieeffizienz als Verwaltungsaufgabe, Die Verwaltung 47 (2014), 407 ff. 6   Vgl. in deutschsprachiger Übersetzung BGBl II 1993, 1783 – 1812 (Klima-Rahmenübereinkommen von Rio 1992); BGBl 2002 II, 966–997 (Kyoto-Protokoll 1997). 7   Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Auf hebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG, ABl. 2009, L 140/16; Richtlinie 2012/27/ EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Energieeffizienz, zur Änderung der Richtlinien 2009/125/EG und 2010/30/EU und zur Auf hebung der Richtlinien 2004/8/ EG und 2006/32/EG, ABl. 2012, L 315/1. 8   Zu rechtsvergleichenden Forschungsansätzen mit Blick auf Nicht-EU-Staaten s. H. Machado-Filho, Climate Change Policy and Legislation in Brazil, in: Hollo/Kulovesi/Mehling (Hrsg.), Climate Change and the Law, 2013, 639 ff.; J. Saurer, Das Klimaschutzrecht der USA seit dem Amtsantritt von US-Präsi­ dent Barack Obama, JZ 2015, 401 ff.; die Beiträge in A. M.-Z. Gao/C. T. Fan (Hrsg.), Legal Issues of Renewable Energy in the Asia Region, 2014. 9   G. S. Callendar, The Artificial Production of Carbon Dioxide and Its Influence on Temperature, Quarterly Journal Royal Meteorological Society 64 (1938), 223 ff.; R. Revelle/H. E. Suess, Carbon Dioxide Exchange Between Atmosphere and Ocean and the Question of an Increase of Atmospheric CO2 during the Past Decades, Tellus IX (1957), 1 (1) mit Nw. zu den vorhergehenden Arbeiten von T.C. Chamberlin und S. Arrhenius aus der Zeit um 1900; Meadows/Meadows/Zahn/Milling (o. Fn.  1), 72 f.; M. C. MacCracken/F. M. Luther (Hrsg.), Detecting the climatic effects of increasing carbon dioxide, 1985. 3

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wa durch die Langzeitstudie von Charles David Keeling auf dem Vulkan Mouna Loa auf Hawaii.10 Danach sammeln sich überschüssige CO2-Emissionen und andere Gase in der Erdatmosphäre ohne in das Weltall abgegeben oder anderweitig absorbiert zu werden.11 Die Erfassung der Klimageschichte der Menschheit in Messergebnis­sen zeigt, dass es parallel zur fortschreitenden Industrialisierung seit Ende des 19. Jahr­hun­ derts zu einem globalen Temperaturanstieg kommt.12 In der Geologie wird der Prozess des Klimawandels auch erdgeschichtlich gedeutet. Nach einer neueren Theorie markiert die Erderwärmung der Gegenwart den Beginn eines neuen Erdzeitalters.13 Das „Anthropozän“ soll jenes Erdzeitalter sein, in dem der Mensch entscheidenden Einfluss auf Gestalt und Klima der Erde nimmt.14 Die Umweltökonomie erläutert et­ wa den Zusammenhang zwischen preisbasierten Steuerungsmechanismen, individuellen Präferenzentscheidungen, dem Verbrauch von Energieressourcen und technologischen Innovationen.15 Die Sozialwissenschaften schließlich zeigen die maßgeb­li­ chen gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge, etwa wie 2011 nach dem Atom­un­g lück von Fukushima das planmäßige politische Handeln im Energiesektor durch ein konkretes Katastrophenszenario überlagert wurde.16 Was aber ist die Rolle der Rechtswissenschaft? Sie kann zweierlei leisten: Erstens kann sie im Sinne der Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft17 verdeutlichen, dass das Recht das wesentliche gemeinsame Handlungsmittel ist, wenn konkurrierende politische Gemeinschaften neben und miteinander an einer Transformationsaufgabe von globaler Bedeutung arbeiten.18 Zweitens kann sie im Sinne der Rechts10   C. D. Keeling/R. B. Bacastow/A. E. Bainbridge/C. A. Ekdahl/P. R. Guenther/L. S. Waterman, Atmospheric carbon dioxide variations at Mauna Loa Observatory, Hawaii, Tellus XXVIII (1976), 538 ff.; zur Fortführung der Keeling Curve s. www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/ (Abruf 3.9.2015). 11   M. Latif, Globale Erwärmung, Jahresband der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe 2012, 43, 46 f.; Revelle/Suess (o. Fn.  9 ), 1 (1). 12   Callendar (o. Fn.  9 ), 223 ff.; Revelle/Suess (o. Fn.  9 ), 1 (1); W. Behringer, Kulturgeschichte des Klimas, 2007, S.  243 ff. 13  S. P. J. Crutzen, Geology of mankind, Nature 415 (2002), 23; J. Zalasiewicz/M. Williams/A. Haywood/M. Ellis, The Anthropocene: a new epoch of geological time?, Philosophical transactions of the Royal Society A 369 (2011), 835 ff. 14   J. Zalasiewicz/M. Williams/W. Steffen/P. Crutzen, The new world of the Anthropocene, Environ. Sci. Technol. 44 (2010), 2228 ff.; J. Kersten, Das Anthropozän-Konzept, 2014, S.  15 ff.; S. C. Aykut/A. Dahan, Gouverner le climat?, 2014, 581 ff. 15   N. Johnstone/I. Hašcˇ icˇ/D. Popp, Renewable Energy Policies and Technological Innovation: Evidence Based on Patent Counts, Environmental and Resource Economics 45 (2010), 133 ff.; S. Rexhäuser/A. Löschel, Invention in energy technologies: Comparing energy efficiency and renewable energy inventions at the firm level, Energy Policy 83 (2015), 206 ff. 16   O. Renn, Wissen und Moral – Stadien der Risikowahrnehmung, APuZ 46–47/2011, 3 ff.; Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung, Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft, Abschlussbericht v. 30.5.2011, http://www.bmbf.de (Abruf 14.9.2015), S.  11 f. 17   Zum Grundansatz G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, hrsg. v. R. Dreier/S. L. Paulson, 1999, 11 f.; P. W. Kahn, Freedom, Autonomy, and the Cultural Study of Law, Yale Journal of Law & the Humanities 13 (2001), 141 ff.; J. Saurer, Das Recht als symbolische Form und Gegenstand der praktischen Philosophie: Zur Rechts- und Staatsphilosophie Ernst Cassirers, ARSP 95 (2009), 490, 494 ff. 18   B. Simma, From Bilateralism to Community Interests in International Law, 250 Recueil des Cours (1994-VI), 217, 239 f.; dazu N. Schrijver, The Impact of Climate Change: Challenges for International Law, in: Fastenrath u.a. (Hrsg.), From Bilateralism to Community Interest: Essays in Honour of

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wissenschaft als Normwissenschaft19 untersuchen, welche normative Ausgestaltung die einzelnen Rechtsgemeinschaften der Energiewende geben, welche öffentliche Handlungsmacht sie begründen, welchen Handlungspflichten Bürger und Unternehmen unterworfen werden und welche subjektiven Rechtspositionen ihnen im Gegenzug zugeordnet werden.20 Zudem geht es auch darum, in rechtspolitischer Perspektive alternative rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen.21

III. Länderstudien 1. Deutschland Zunächst – um eine Vergleichsbasis zu gewinnen – eine Verständigung darüber, was wir in Deutschland unter der Energiewende verstehen. Energiewende steht für die Transformation des Energiesektors im Horizont eines ganzen Bündels von heterogenen Zielen. Die unter dem Eindruck des Atomunglücks von Fukushima gehaltene, weichenstellende Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 9. Juni 2011 nennt als Zielsetzungen: Drastische Reduzierung der CO2-Emissionen, Beendigung der Nutzung der Kernenergie, Ausbau erneuerbarer Energien, Sicherung volkswirtschaftlich verträgliche Energiepreise, eine leistungsfähige Infrastruktur, Energieeffizienz und Versorgungssicherheit.22 Obwohl der Begriff der „Wende“ eine 180-Grad-Kehre an einem bestimmten historischen Punkt suggeriert, ist genau dies bei der Energiewende nicht der Fall. Viel eher befinden sich Staat und Gesellschaft auf einem Transformationspfad, der lange vor dem 9. Juni 2011 betreten wurde und mal schneller und mal langsamer beschritten wird. Aus rechtlicher Sicht sind auf diesem Transformationspfad drei Wegmarken von besonderer Bedeutung. Eine erste Wegmarke liegt im Jahr 1990, dem internationalen Referenzjahr für die Reduktionsverpflichtungen des Kyoto-Protokolls. Damals hatte auf nationaler Ebene der deutsche CO2-Ausstoß im Zusammenwachsen von West- und Ostdeutschland sein historisches Höchstmaß erreicht. Die Elektrizität stammte zu etwa 50% aus der Verbrennung von Stein- und Braunkohle, zu einem knappen Drittel aus Atom­ energie und zu knapp 4% aus Wasserkraft, der damals wichtigsten erneuerbaren ResJudge Bruno Simma, 2011, 1278, 1296 und passim; S. Schiele, Evolution of International Environmental Regimes, 2014, insbes. 4 ff., 104 ff. 19   H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1.  Aufl. 1934), Studienausgabe 2008, hrsg. v. M. Jestaedt, 23; aktualisierend O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1, 41 ff. 20   S. den Forschungsansatz bei M. Burgi, Die Energiewende und das Recht, JZ 2013, 745 ff.; W. Durner (Hrsg.), Wasserrechtsfragen der Energiewende, 2013; G. Manssen, Das Erneuerbare-EnergienGesetz aus rechtlicher Sicht, in: Energiewende in der Industriegesellschaft, UTR 124 (2014), 13 ff.; P. Fest, Der Netzausbau im Recht der Energiewende, NVwZ 2013, 824 ff.; J. Scott, The Multi-Level Governance of Climate Change, in: Craig/de Búrca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, 2011, 805 ff.; R. Ismer, Klimaschutz als Rechtsproblem, 2014, 103 ff., 186 ff., 218 ff. 21   W. Kahl/J. Bews, Ökostromförderung und Verfassung, 2015, 32; E. Hofmann, Das Recht der Energiewende als Transformationskonzept: Beschleunigung um jeden Preis oder alles nur eine Frage der Zeit?, Die Verwaltung 47 (2014), 349, 360 ff. 22   Bundeskanzlerin Angela Merkel, „Der Weg zur Energie der Zukunft“, Regierungserklärung v. 9. Juni 2011, BT-PlPr 17/114 , 12960 (A) ff.

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source.23 Jedoch wurde 1990 auch im Windschatten der deutschen Einheit das erste Bundesgesetz zur Förderung erneuerbarer Energien erlassen – das Stromeinspeisungsgesetz.24 Eine zweite Wegmarke liegt im Jahr 2000. Im sogenannten Atomkonsens schlossen die großen Energieversorgungsunternehmen und die Bundesregierung eine Übereinkunft zum Ausstieg aus der Atomenergie, die später in Gesetzesform gegossen wurde. Der ursprüngliche Förderzweck des Atomgesetzes wurde in sein Gegenteil verkehrt. Die Zwecksetzung zielt nunmehr auf die geordnete Beendigung der „Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“.25 Zugleich wurde im Jahr 2000 das Erneuerbare Energien-Gesetz verabschiedet, das die Erzeuger von Strom aus Wasserkraft, Windkraft, solarer Strahlungsenergie, Geother­ mie, Deponiegas, Klärgas, Grubengas und Biomasse zur vorrangigen Einspeisung in das Stromnetz berechtigte und technologiespezifische Vergütungssätze festlegte.26 Eine dritte Wegmarke war im Jahr 2011 erreicht. Unter dem Eindruck des Reaktorunglücks von Fukushima in Japan wurde der Ausstieg Deutschlands aus der Atom­ energie zum Gegenstand eines All-Parteien-Kompromisses. Über die ältesten Atomkraftwerke wurde ein sofortiger Betriebsstop verfügt.27 Eine Zwischenbilanz der Energiewende in 2015 fällt ambivalent aus. Einerseits war das Erneuerbare Energien-Gesetz mit seiner differenzierten Anreizstruktur für Investitionen in Windkraft, Photovoltaik und Biomasse ein großer Erfolg: Die Anstoßwirkung für technologische Innovationen und sinkende Marktpreise bei der Anlagentechnik war signifikant.28 Der Anteil erneuerbarer Energien an der Strom­ produktion kletterte innerhalb eines Jahrzehnts aus dem einstelligen Bereich auf fast 30%.29 Andererseits gelang es trotz des Erfolgs des EEG nicht, die CO2-Emissionen entscheidend zu senken. Insoweit ist zu Recht vom „Paradox der Energiewende“ die Rede.30 Vielmehr hängt die Stromproduktion auch heute noch zu fast 50% an der Kohle.31 Deutschland gehört mit seinen Tagebauen in Nordrhein-Westfalen und Brandenburg zu den weltweit größten Förder- und Verbrauchernationen von Braun-

  International Energy Agency, Energy Statistics of OECD Countries, Ausgabe 2015, III.59.   Gesetz über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz (Strom­ einspeisungsgesetz) v. 7.12.1990, BGBl. I 1990, 2633. 25   §  1 Nr.  1 AtomG i.d.F. Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität v. 22.4.2002, BGBl. I 2002, 1351. 26   S. §  2 ff. Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) sowie zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes und des Mineralölsteuergesetzes v. 29.3.2000, BGBl. I 2000, 305. 27   Näher zum Zustandekommen der Anordnung des Moratoriums die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 18/4392, S.  6 f.; zur rechtlichen Bewertung nur VGH Kassel, ZUR 2013, 367; BVerwG, ZUR 2014, 236. 28   Hofmann (o. Fn.  21), 360 mit Überlegungen zu Reformperspektiven in der Förderstruktur a.a.O., 360 ff. 29   International Energy Agency (o. Fn.  23), III.59 geht in einer vorläufigen Annahme für 2014 von etwa 26% Erneuerbaren Energien aus, Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik, Wind­ energie Report Deutschland 2014, 2015, 5 von etwa 28%. 30   Agora Energiewende, Das deutsche Energiewende- Paradox: Ursachen und Herausforderungen, 2014, www.agora-energiewende.de (Abruf 1.9.2015). 31   International Energy Agency (o. Fn.  23), III.59. 23 24

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kohle.32 Hauptverwertungszweck ist dabei die Stromgewinnung, ebenso wie bei der Steinkohle, die aber heute überwiegend importiert wird.33

2. Frankreich Von hier aus zunächst ein Blick nach Frankreich. Die Energiepolitik ist hier entscheidend davon geprägt, dass das Land kaum über fossile Ressourcen verfügt. Nach dem Zweiten Weltkrieg speiste sich der nationale Energiemix überwiegend aus Kohle und Erdöl-Importen.34 Demgemäß war bei der französischen Initiative zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl die perspektivische Knappheit eigener Kohlevorräte ein zentrales Motiv.35 Vor diesem Hintergrund wurde die Unabhängigkeit in der Energieversorgung zu einer nationalen Aufgabe. Frankreich entschied sich für die fast vollständige Umstellung auf die Energieerzeugung mit Nukleartechnologie und damit für eine Energiewende eigener Art.36 Dabei stützt sich die anhaltend hohe öffentliche Zustimmung37 auf verschiedene kulturelle und politische Faktoren. In der französischen Wissenschaftsgeschichte spielt die Erforschung des Atoms eine zentrale Rolle.38 Nach dem Zweiten Weltkrieg war Frankreich zur Atommacht geworden und hatte mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat auch als postkoloniale Nation eine gewichtige Stellung auf der Weltbühne behalten.39 Von Mitte der 1970er Jahre an gingen in schneller Folge weit über 50 Atomreaktoren ans Netz.40 In allen Fällen war als Vorhabenträgerin die staatliche Energiegesellschaft Electricité de France beteiligt.41 Frankreich wurde hinter den USA, aber vor Japan, Deutschland und Russland zur weltweit zweitgrößten Erzeugernation von Atomstrom.42 Dessen Anteil an der Energieproduktion stieg im Stromsektor bis auf nahezu 80%.43 Die letzte französische Kohlezeche stellte 2004 die Förderung ein.44   Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (o. Fn.  1), 19.   Der Anteil importierter Steinkohle lag 2013 bei 87%, s. Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (o. Fn.  1), 19. 34   R. J. Lieber, Energy Policies of the Fifth Republic, in: Andrews/Hoffmann (Hrsg.), The Fifth Republic at Twenty, 1981, 311, 313. 35   M. Sutton, France and the Construction of Europe, 1944–2007, 2007, 37 ff. 36   Lieber (o. Fn.  34), 311, 318 ff. 37   M. Dürr, Le tournant nucleaire d’Électricité de France, in: Morsel (Hrsg.), Histoire générale de l’Électricité en France, Bd. 3, 1996, 693, 768 ff.; A. Evrard, Après Fukushima: quelle évolution des politiques énergétiques en Allemagne et en France, Annuaire Français des Relations Internationales, vol. XIV, 2013, 357, 359 ff. 38  S. H. Noëll, Au temps de la république bourgeoise, 1957, 267 ff. mit identitätsstiftender Rollenzuschreibung an die Nobelpreisträger/innen Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie; J. Teillac, La radio­ activité et la physique nucléaire, in: R. Taton, La science contemporaire, Bd. 2, 1964 (Ausgabe 1995), 332, 333 ff. 39   T. Judt, Postwar, 2005, 113, 249. 40   Dürr (o. Fn.  37), 744; Evrard (o. Fn.  37), 358. 41   Dürr (o. Fn.  37), 700 ff. 42   International Atomic Energy Agency, Annual Report 2010, S.  119. 43   International Energy Agency (o. Fn.  23), III. 58. 44   J.-M. Martin-Amouroux, Charbon, les métamorphoses d’une industrie, 2008, 1. 32 33

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Im Zeitalter der globalen CO2-Reduktionsverpflichtungen ergeben sich in einer Momentaufnahme positive Effekte. Die Pro Kopf-Emissionen von Kohlendioxid ­liegen um fast 50% unter denen Deutschlands. 2012 entfielen auf jeden Franzosen 5,5 Tonnen CO2, während jeder Deutsche statistisch etwa 10,04 Tonnen CO2 emittierte.45 Zudem ist der französische Strompreis vor allem bei Privathaushalten und nicht stromintensiven Unternehmen deutlich niedriger als in Deutschland.46 Jedoch zeigen sich in mittelfristiger Perspektive große Herausforderungen. Die gegenwärtige Generation der Atomreaktoren erreicht in den kommenden Jahren sukzessive das Ende der zulässigen Betriebsdauer. Nun gilt es, Rückbau und Entsorgung zu organisieren und ein Atommüll-Endlager festzulegen.47 Zudem verändert die weltweite Expansion erneuerbarer Energien die Kostenstrukturen auch bei der Energieerzeugung fundamental – zulasten der Kernenergie. Es kommt zum Tragen, dass die erneuerbaren Energien insbesondere wegen des weitgehend entfallenden Brennstoff bedarfs nur geringe Grenzkosten haben. Demgemäß erfüllt das französische Zukunftsprojekt eines „Kernkraftwerks der dritten Generation“ in Gestalt eines Druckwasserreaktors bislang technologisch und ökonomisch die Erwartungen nicht.48 Schließlich verlangt die einschlägige EU-Richtlinie auch von Frankreich einen deutlichen Ausbau erneuerbarer Energien.49 Vor diesem Hintergrund proklamiert die französische Regierung neuerdings verstärkt das Ziel einer „transition énergétique“, um den Ausbau von Windkraft, Photo­ voltaik und Biomasse zu erreichen. Die bereits etablierten Fördermechanismen wurden im August 2015 im „Loi relative à la transition énergétique pour la croissance verte“ zusammengefasst und erweitert.50 Dieses Artikelgesetz ergänzte unter anderem das Erneuerbare Energie-Kapitel im „Code de l’énergie“, der zentralen Kodifika­ tion des französischen Energierechts.51 Inhaltliche Schwerpunkte des neuen Gesetzes sind die graduelle Reduzierung des Anteils von Atomstrom auf 50% und massive Energieeinsparungen.52 Dies geschieht auch deshalb, weil Frankreich 2015 eine Schlüsselstellung im globalen Klimaschutzrecht einnimmt. Ende des Jahres findet in der französischen Hauptstadt ein besonders wichtiger Weltklimagipfel statt, dessen

  EEA greenhouse gas – data viewer, www.eea.europa.eu (Abruf 1.9.2015).   Eurostat, Half-yearly electricity and gas prices, second half of year, 2012–14 (EUR per kWh) YB15.png, www.ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained (Abruf 8.9.2015); ECOFYS/Fraunhofer ISI, Strompreise und ihre Komponenten – Ein internationaler Vergleich, 2014, 26 u. 28 (Abbildung 8 u. 9). 47   S. zum Forschungsprojekt für ein Endlager für atomare Abfälle im Osten Frankreichs die Projektbeschreibung unter www.cigéo.com (Abruf 14.9.2015). 48   S. C. Aykut/A. Dahan (o. Fn.  14), 560 f.; Le Monde v. 4.9.2015, S.  6, Nucléaire: La facture de l’EPR s’alourdit encore. 49   Nach der Erneuerbare Energien-Richtlinie RL 2009/28/EG (Fn.  7 ), Anhang 1, A. ist Frankreich gegenüber 2005 bis 2020 zu einer Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien am Energieverbrauch von 10,3 % auf 23% verpflichtet. 50   Loi no 2015-992 du 17 août 2015 relative à la transition énergétique pour la croissance verte, Journal officiel de la République Francaise v. 18.8.2015, Text 1/76. 51   Code de l’énergie, Version consolidée du code au 24 août 2014, Art.  1211 ff. 52   Engager la France dans la transition énergétique, Presseinformation v. 31.8.2015, www.senat.fr (Abruf 7.9.2015). 45

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Aufgabe es ist, ein Nachfolgeabkommen für das auslaufende Kyoto-Protokoll zu formulieren.53

3. Polen Im nächsten Schritt zum Energierecht in Polen, dem zweitgrößten Nachbarland Deutschlands. Hier stand die energiepolitische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter ganz anderen Vorzeichen als in Frankreich. Prägend war zunächst die Einbindung Polens in das politische System des Ostblocks. Dies be­ deutete im Energiesektor einerseits wie für andere Ostblockstaaten eine enge Versorgungsabhängigkeit von Erdgas und Erdöl aus der Sowjetunion, andererseits erfüllte Polen jedoch beim Export von Kohle eine Versorgungsfunktion.54 Der in den 1980er Jahren betriebene Bau eines Kernkraftwerks sowjetischer Bauart wurde 1990 auf­ geben.55 Seitdem hat sich im Energiesektor strukturell wenig verändert. Noch heute stammen fast 90% der polnischen Stromproduktion aus Stein- und Braunkohle.56 Im energierechtlichen Zielbündel werden Unabhängigkeit und Sicherheit der Energieversorgung großgeschrieben.57 Deshalb kritisiert Polen den Bau der Erdgaspipeline „North Stream“ zwischen Russland und Deutschland und seine damit verbundene Umgehung als Energie-Transitland.58 Unter den heimischen Energiequellen hat auch in die Zukunft hinein die Kohle die größte Bedeutung – obgleich die polnische Steinkohle am Weltmarkt gegenüber Russland, USA, China und Australien immer weniger konkurrenzfähig ist.59 Zudem steht Polen der Auspressung von Schiefergas mit der Förderungstechnik des Fracking grundsätzlich positiv gegenüber, die in den USA populär geworden ist.60 Wie aber möchte Polen die CO2-Reduktionsverpflichtungen des internationalen und supranationalen Rechts erfüllen? Einerseits durch ein Programm zum Einstieg in die Kernenergie.61 Der favorisierte Standort für das erste von zwei projektierten Kernkraftwerken liegt westlich der Stadt Danzig etwa 300 Kilometer entfernt zur deutschen Grenze, weitere denkbare Standorte noch deutlich näher. Wegen der grenz­ 53   21. Vertragsstaatenkonferenz zum Kyoto-Protokoll v. 30.11. bis 11.12.2015 in Paris, www.unfcc. int/meetinigs (Abruf 8.9.2015). 54   W. G. Davey, Energy issues and policies in Eastern Europe, Energy Policy 15 (1987), 59, 63. 55   World Nuclear Association, Nuclear Power in Poland, www.world-nuclear.org (Abruf 14.9.2015); D. Reiche, Restriktionen und Erfolgsbedingungen erneuerbarer Energien in Polen, 2003, S.  43 f. 56   International Energy Agency (o. Fn.  23), III.73. 57   J. C. Lowitzsch/K. Goebel, Zur Reform des polnischen Energierechts – Das „Energie-Dreipack“, ZNER 2013, 30, 32; C. Fräss-Ehrfeld, Renewable Energy Sources: a Chance to Combat Climate Change, 2009, 476 f.; M. Roth, Poland as a policy entrepreneur in European external energy policy: towards greater energy solidarity vis-à-vis Russia?, Geopolitics 16 (2011), 600, 607 ff. 58   C. Johnson/T. Boersma, Energy (in)security in Poland the case of shalegas, Energy Policy 53 (2013), 389, 397. 59   Vgl. zum status quo der Steinkohlesubventionen OECD Environmental Performance Reviews: Poland 2015, 84. 60   B. Uliasz-Misiak/A. Przybycin/B. Winid, Shale and tight gas in Poland – legal and environmental issues, Energy Policy 65 (2014), 68 ff. 61   World Nuclear Association, Nuclear Power in Poland, www.world-nuclear.org (Abruf 14.9.2015).

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überschreitenden Umweltauswirkungen verlangt das EU-Recht eine Strategische Umweltprüfung mit grenzüberschreitender Konsultation.62 Dies führte zu mehreren 10.000 Einwendungen aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Berlin.63 Daneben beginnt unter dem Einfluss des EU-Rechts zögerlich, aber stetig der Ausbau erneuerbarer Energien. Unter dem Druck eines bereits zum EuGH getragenen Vertragsverletzungsverfahrens64 wurde die Erneuerbare Energien-Richtlinie im Frühjahr 2013 endgültig umgesetzt.65 Mit knapper Mehrheit beschloss das polnische Parlament eine Förderstruktur mit Einspeisevergütungen für kleine Solaranlagen und einem Ausschreibungsverfahren für großformatige Produktionsformen.66

4. Italien Einen interessanten Kontrast bietet Italien. Italien entwickelte wie alle Industriestaaten mit dem Wachstum von Industrie und Tourismus und steigendem Lebensstandard einen enormen Energiehunger. Zwischen 1959 und 1990 vervierfachte sich der Energiebedarf,67 den Italien kaum aus eigenen Energiequellen zu befriedigen vermochte. Kennzeichnend war vielmehr eine hohe Importabhängigkeit – von Erdgas aus Algerien und Russland und von Strom aus Frankreich.68 Korrespondierend hierzu kletterte der Strompreis auf eines der weltweit höchsten Preisniveaus.69 Ungeachtet dessen beschloss Italien 1987 im Jahr nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl in einer Volksabstimmung den Ausstieg aus der Atomenergie; sukzessive gingen alle vier vom staatlichen Energieversorger ENEL betriebenen Atomkraftwerke vom Netz.70 Nach dem Jahr 2000 revidierten zunächst Regierung und Parlament diese Entscheidung. Jedoch bedeutete Fukushima 2011 ähnlich wie in Deutschland das endgültige Aus für die Atomenergie. Das rechtliche Mittel war dabei allerdings nicht ein Kabinettsbeschluss, sondern wie schon 1987 eine nationale Volksabstimmung. Dabei stimmte eine Mehrheit von 95% gegen den Wiedereinstieg in die Atomenergie und auch die von Art.  75 der italienischen Verfassung für ein abrogatives Refe-

62   Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. 2001, L 197/30, Art.  7. 63   S. nur Landtag Brandenburg, 5. WP, Plenarprotokoll 5/71 v. 27.2.2013, 5743. 64  Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 11.12.2014, Rs. C-320/13, ECLI:EU:C:2014:2441, Kommission/Polen, Nr.  18 ff. 65  Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 26.2.2015, IP/15/4499, „Energie: Kommission zieht Klage gegen Polen wegen Nichtumsetzung von EU-Vorschriften zurück“. 66   Zusammenfassung des Gesetzes v. 11.3.2015 unter www.energieagentur.nrw.de/polen-22349.asp (Abruf 7.9.2015); zu den Förderregelungen im Stadium des Gesetzesentwurfs Lowitzsch/Goebel (o. Fn.  57), 30, 32. 67   P. Malanima, Energy Consumption in Italy in the 19th and 20th centuries, 2006, 94 f. 68   F. Di Porto, Energy Law in Italy, 2011, 236. 69   S. Eurostat (o. Fn.  46); danach hat Italien in der EU-28 bei den Privathaushalten hinter Dänemark, Deutschland und Zypern die vierthöchsten, bei der Industrie hinter Zypern und Malta die dritthöchsten Energiepreise. 70   S. Esposto, The possible role of nuclear energy in Italy, Energy Policy 36 (2008), 1584, 1586; M. Ricotti, L’enigma del nucleare italiano, in: Caprara (Hrsg.), Energia per L’Italia, 2014, 225, 228 f.

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rendum71 verlangte Mindestbeteiligung der Mehrheit der Wahlberechtigten wurde erreicht. Unterdessen hat Italien im Bereich der erneuerbaren Energien beachtliche Erfolge erzielt: In Addition der traditionell bedeutenden Wasserkraft mit einem Anteil von knapp 20% und der neu entstandenen Anlagen zur Nutzung von Windenergie, Solar und Biomasse kamen die Erneuerbaren Energie im Jahr 2013 bereits auf einen Anteil von 35% der Stromerzeugung.72 Natürlich hat Italien günstige geographische Bedingungen – eine besonders hohe Zahl an Sonnenstunden und eine lange Küstenlinie mit Eignung für Off-Shore-Anlagen. Dies macht die italienische Energiewende aber noch nicht zu einem Selbstläufer. Vielmehr hängt der Ausbau der erneuerbaren Energien ebensosehr von einem rechtlich stabilen Förderrahmen ab. Italien hatte schon in den 1990er Jahren ein Fördersystem mit Grünstrom-Zertifikaten („Certificati Verde“) eingeführt. Für einen bestimmten Prozentsatz mussten heimische und ausländische Stromproduzenten die Herkunft aus erneuerbaren Energiequellen nachweisen.73 In den 2000ern wurde speziell für Solaranlagen das Einspeise-Vergütungssystem „Conto Energia“ aufgelegt.74 Heute hat die Photovoltaik in Italien weitgehende Eigenwirtschaftlichkeit erreicht, sodass der Wegfall der direkten Förderung in 2014 den Ausbau zwar gebremst, aber nicht gestoppt hat.75 Im Ergebnis konnte Italien den von der Erneuerbare Energien-Richtlinie bis 2020 geforderten Mindestanteil von 17% am Endenergie­ verbrauch schon im Jahr 2013 fast erreichen.76 Damit reüssierte das Land im „Energy Transformation Index“ des deutschen Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme, der sowohl die Etablierung erneuerbarer Formen der Stromerzeugung als auch den tatsächlichen Effizienzgrad in der Nutzung der Energie misst.77 Bei der ersten Ausgabe dieses „Energiewende-Rankings“ im Jahr 2013 belegte Italien unter den EU-Staaten den zweiten Rang hinter Schweden, aber vor Deutschland und Groß­ britannien.78

71  Nach M. Dogliani/C. Pinelli, Italien, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, 2007, §  5, Rn.  93 ist das Referendum nach Art.  75 das wichtigste Instrument der direkten Demokratie in der Verfassung Italiens; vgl. dazu noch E.-C. Hornig, Ist das abrogative Referendum in Italien ein konkordanzdemokratisches Verfahren?, in: Köppl/Kranenpohl (Hrsg.), Konkordanzdemokratie, 2012, 169 ff. 72   International Energy Agency (o. Fn.  23), III. 65. 73   Fräss-Ehrfeld (o. Fn.  57), 427 f. 74   Di Porto (o. Fn.  68), 295 f. 75  Mit Kritik wegen rückwirkender Förderungsänderungen Europäische Kommission, Country Report Italy 2015 – including an In-Depth Review on the prevention and correction of macroeconomic imbalances, SWD (2015) 31 final/2, 59. 76   Eurostat, Pressemitteilung 43/2015 v. 10. März 2015, hält für Italien für 2013 einen Erneuerbare Energien-Anteil von 16,7% des Bruttoendenergieverbrauchs fest. 77  Energy Transformation Index (ETI) – Neu entwickeltes Länder-Ranking zur Energiewende, Presseinformation 30/13 v. 26.11.2013, www.ise.fraunhofer.de (Abruf 8.9.2015). 78   Energy Transformation Index (ETI) (o. Fn.  77).

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5. Großbritannien Großbritannien ist auch das fünfte und letzte Länderbeispiel, das hier untersucht werden soll. England gilt gemeinhin als Ursprungsland der Industrialisierung. Hier wurde 1769 das Patent für die Dampfmaschine von James Watt erteilt – das wohl wichtigste technische Symbol der Industrialisierung.79 Im Zusammenwirken von Dampf und Steinkohle entstanden die Funktionsbedingungen für die industrielle Veränderung der Welt. Der Betrieb von Steinkohlegruben wurde möglich, die Holzkohle verschwand.80 Die Schwerindustrie entstand und die ersten Eisenbahnen begannen zu fahren.81 Blicken wir auf die Weltklimageschichte, so zeigt sich, dass der steile Anstieg der Temperaturkurve in Parallele zur Industrialisierung in England seinen Ausgang nahm. Die Kohle blieb bis in die Gegenwart der wichtigste Energieträger für die Strom­ erzeugung mit einem Anteil von zuletzt noch gut 35%.82 Nun jedoch kündigt sich eine Zeitenwende an. Im Februar 2015, im Wahlkampf für die Unterhauswahlen, legten die damaligen Koalitionsparteien der Regierung von David Cameron gemeinsam mit der oppositionellen Labour-Partei eine Erklärung zur Zukunft der Energiepolitik vor. Im Mittelpunkt stand das parteiübergreifende Versprechen, bis 2050 die Nutzung von Kohle zur Stromerzeugung vollständig zu beenden, soweit dabei CO2-Emissionen entstehen.83 In gewisser Weise schließt sich damit ein Kreis, da dort, wo im Zusammenwirken von Dampfmaschine und Steinkohle die Industrialisierung ihren Ausgang nahm, dieser Zusammenhang nun gelöst wird. Der britische Weg der Dekarbonisierung führt zum einen über erneuerbare Energien. Die größte Bedeutung hat dabei die Windkraft. Dazu besteht auf der Insel bei 2.500 km Küstenlinie reichlich günstige Gelegenheit. Bereits jetzt ist Großbritannien das Land mit den weltweit größten Erzeugungskapazitäten für Offshore-Wind­ enenergie. Investitionen in die Windenergie wurden zunächst in den 1990er Jahren durch die „Non Fossil Fuel Obligations“ (NFFO) unterstützt.84 An deren Stelle trat Anfang der 2000er Jahre in England und Wales das Quotenmodell der „Renewables Obligation“ (RO), während Schottland ein eigenes Quotenmodell etablierte.85 Das Quotenmodell wiederum wurde mit dem Energy Act 2008 weitgehend durch ein System der Einspeisevergütungen (Feed in Tariffs) abgelöst.86 Die Fördertatbestände 79   O.Wagenbreth/H. Düntzsch/A. Gieseler, Die Geschichte der Dampfmaschine, 2002, 23 ff.; C. MacLeod, Heroes of Invention, 2007, 125 ff.; R. C. Allen, The British Industrial Revolution in Global Perspective, 2009, 171 ff. 80   E. A. Wrigley, Energy and the English Industrial Revolution, 2010, 36 ff. 81   Wrigley (o. Fn.  80), 43; Allen (o. Fn.  79), 273 f. 82   International Energy Agency (o. Fn.  23), III. 81 weist für 2013 einen Anteil von 36,4% Kohleverstromung an der gesamten Energieerzeugung aus. 83  BBC Science & Environment v. 14.2.2015, “Party leaders make joint climate commitment”, www.bbc.com (Abruf 2.9.2015). 84   Eingehend zum Fördermodell der NFFO S. K. Richter, Grenzen der wirtschaftlichen Förderung regenerativer Stromeinspeisungen in Deutschland, 2000, 284 ff.; U. Roßegger, Förderung Erneuerbarer Energien zur Stromerzeugung in Deutschland und im Vereinigten Königreich, 2014, 61 f. 85  Näher A. Sohre, Strategien in der Energie- und Klimapolitik, 2014, 125; A. Pomada, Förderung Erneuerbarer Energie in Deutschland und im Vereinigten Königreich im Lichte des Europäischen Wirtschaftsrechts, 2011, S.  226 ff.; Roßegger (o. Fn.  84), 65 ff. 86   Zum Reformprozess m. w. Nw. G. Wood/S. Dow, What lessons have been learned in reforming

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gehen noch über das in Deutschland bekannte hinaus, sodass neben der Photovoltaik auch die Wärmeerzeugung erfasst wird.87 Indirekt werden die erneuerbaren Energien durch eine Befreiung von der britischen CO2-Steuer gefördert, die für den Zeitraum bis 2020 bei einem Preis von 18 Pfund pro Tonne CO2 eingefroren ist.88 Andererseits setzt Großbritannien im Einklang der großen politischen Parteien auf Atomenergie.89 Damit erweist sich nicht der politische Widerstand, sondern die Wirtschaftlichkeit als die größte Hürde auf dem Weg des Atomausbaus.90 Im bereits bestehenden Kernkraftwerk Hinkley Point an der englischen Südwestküste ist der Neubau eines Reaktors vorgesehen.91 Die geschätzten Stromgestehungskosten betragen mehr als das Doppelte des nationalen Börsenstrompreises. Vor diesem Hintergrund erweitert Großbritannien sein System der Einspeisevergütung auf die Atomenergie. Als Investitionsanreiz wird den ausländischen Investoren – der Electricité de France, dem französische Anlagenbauer Areva und zwei chinesischen Konzernen92 – ein Vergütungssatz garantiert, der entsprechend der Kostenstruktur das Doppelte des heutigen Marktpreises garantiert und über die Verbraucherpreise refinanziert wird. Die transnationale ökonomische Verflechtung ist dabei ähnlich stark wie bei den Windkraftanlagen vor der britischen Küste, denn das dort beim Anlagenbau führende Unternehmen ist der deutsche Siemens-Konzern.93

IV. Querschnittsbetrachtung Von dieser tour d’horizont durch die Nationalstaaten zu einer Querschnittsbetrachtung. Welche Konvergenzen und Divergenzen ergeben sich? Welche Schlussfolgerungen lassen sich ziehen? Dazu fünf Beobachtungen:

1.  Varianz der Transformationspfade Erstens: Zur Frage inwieweit sich die deutsche Energiewende tatsächlich im ausländischen Recht spiegelt. Alle Teilelemente des heterogenen deutschen Zielbündels – the Renewables Obligation? An analysis of internal and external failures in UK renewable energy poli­ cy, Energy Policy 39 (2011), 2228 ff. 87   The Guardian v. 12.4.2014, S.  48, Renewable heat incentive offers homeowners money to switch from oil. 88  Genauer Sohre (o. Fn.  85), 124 f.; E. Ares, Carbon Price Floor, House of Commons Library Standard Note SN/SC/5927, www.parliament.uk/briefing-papers/sn05927.pdf (Abruf 2.9.2015). 89   Department of Energy and Climate Change, Planning our Electric Future: A White Paper for Secure, Affordable and Low-carbon Electricity, 2011. 90   G. Harris/P. Heptonstall/R. Gross/D. Handley, Cost estimates for nuclear power in the UK, Energy Policy 62 (2013), 431 ff. 91   Harris/Heptonstall/Gross/Handley (o. Fn.  9 0), 431, 433; Department of Energy and Climate Change, Initial agreement reached on new nuclear power station at Hinkley, Press release of 21.10.2013, www. gov.uk (Abruf 2.9.2015). 92   Wall Street Journal v. 17.10.2013, Chinese Companies to Join EDF in U.K. Nuclear Build, www. wsj.com (Abruf 2.9.2015). 93   European Wind Energy Association, The European offshore wind industry – key trends and statistics 2014, 2015, 4 f.

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Dekarbonisierung, Atomausstieg, Ausbau erneuerbarer Energien, volkswirtschaftlich verträgliche Energiepreise, leistungsfähige Infrastruktur, Versorgungssicherheit, Ressourceneffizienz94 – finden sich auch im ausländischen Recht.95 Alle untersuchten Energiesektoren befinden sich in einer Transformation. Handlungsanleitend sind dabei Impulse des nationalen wie auch des supra- und internationalen Rechts. Beispielsweise handelt es sich beim deutschen Stromeinspeisungsgesetz von 1990 um einen auf nationaler Ebene begründeten Transformationsansatz,96 Umsetzungspflichten stehen etwa bei der Verabschiedung des Erneuerbare Energien-Pakets in Polen 2015 im Vordergrund.97 Jedoch nehmen die nationalen Transformationspfade einen je eigenen Verlauf. Die größte Schnittmenge besteht bei der Förderung erneuerbarer Energien. Die staatliche Steuerung des Ausbaus regenerativer Energien nach dem EEG findet im Ausgangspunkt gegenwärtig überall Entsprechungen. Allerdings variieren Fördermechanismen, Anreizstrukturen, Ausbauziele und Rechtstechnik der Förderung, wobei Modelle der Einspeisevergütung überwiegen.98 Die Ausbeutung heimischer fossiler Ressourcen geht überall stark zurück, Ausnahme ist die Braunkohleförderung in Deutschland und Polen.99 Die größten Unterschiede bestehen bei der Atomtechnologie.100 Während Frankreich seine traditionell affirmative Grundausrichtung beibehält, haben Deutschland und Italien den Ausstieg beschlossen. Im Kontrast hierzu ist der Ausbau in Großbritannien und Polen ein wichtiger strategischer Faktor mit Blick auf CO2-Reduktionsverpflichtungen und Versorgungssicherheit.

2. Pfadabhängigkeiten Zweitens ist die aufgezeigte Varianz der Transformationspfade das Resultat von Pfadabhängigkeiten.101 Alle untersuchten Rechtsordnungen zeigen, dass sich eine einmal getroffene Grundentscheidung für einen bestimmten Energieträger nur noch unter   S. o. III., 1.   S. o. III., 2.–5. 96   S. o. III., 1., insbes. Fn.  24. 97   S. o. III., 3. 98   Nur in Italien und Großbritannien gibt es teilweise noch quotenbasierte Modelle, s.o. III., 2.–5; vgl. auch die Gegenüberstellung verschiedener nationaler Fördersysteme bei J. Kröger, Die Förderung erneuerbarer Energien im Europäischen Elektrizitätsbinnenmarkt, 2015, 131 ff.; gegenläufig die Präferenz für Ausschreibungsverfahren in den Leitlinien der Kommission für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2014–2020, ABl. 2014, C 200/1, Ziff. (109), (126). 99   Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (o. Fn.  1), 102 f.; S. C. Aykut/A. Dahan (o. Fn.  14), 566 f. 100   K. Tews, Europeanization of Energy and Climate Policy: The Struggle Between Competing Ideas of Coordinating Energy Transitions, Journal of Environment & Development 24 (2015), 267, 269; Evrard (Fn.  37), 359 ff. 101   Zur Pfadabhängigkeiten im Recht aus verschiedenen Perspektiven O. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre, 2013, 241 ff.; M. Blauberger/T. Krüger/S. K. Schmidt, Die Pfadabhängigkeit internationaler Verrechtlichung: EU und WTO im Vergleich, Zeitschrift für internationale Beziehungen 19 (2012), 37 ff.; O. Hathaway, Path Dependence in the Law: The Course and Pattern of Legal Change in a Common Law System, Iowa Law Review 86 (2001), 601 ff. 94 95

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größter Mühe revidieren lässt. Dies gilt umso mehr je eindeutiger die Grundentscheidung ausgefallen ist. Die 80prozentige Dominanz der Nukleartechnologie in der Stromproduktion in Frankreich und die 90prozentige Dominanz der Kohle in Polen102 führen zu volkswirtschaftlichen Bindungen, die den tatsächlichen Gestaltungsfreiraum der Politik signifikant verkürzen. Zudem fällt es durchweg leichter, einen neuen Entwicklungspfad zu begründen als einen alten zu verlassen. So hat Deutschland beim Ausbau erneuerbarer Energien signifikante Erfolge erzielt, ist aber bei der Reduzierung der Kohleverstromung nicht weitergekommen.103 Auch Großbritannien betritt bei den erneuerbaren Energien Neuland, setzt aber gleichzeitig die tradierte Nutzung der Atomtechnologie fort.104 Pfadabhängigkeiten sind in der Demokratie ein strukturelles Problem. Sie binden die gegenwärtige Generation der Rechtsunterworfenen an Entscheidungen einer früheren Generation von Entscheidungsträgern. Das Ideal der Demokratie als Selbst-Gesetzgebung105 wird damit infrage gestellt. Umso sensibler hat eine Rechtsordnung zu sein, wenn es um die Zuordnung von Rechtspositionen geht, die geeignet sind, Pfadabhängigkeiten weiter zu verfestigen, etwa, wenn sich Individuen auf Bestandsschutzpositionen berufen, korporative Rechtsträger Vetopositionen im politischen Prozess geltend machen oder einmal betretene Entwicklungspfade für rechtlich abschließend erklärt werden sollen.106

3. Risikoentscheidungen Drittens ist die unterschiedliche Gestalt des Energierechts in den einzelnen Rechtsordnungen das Ergebnis abweichender Risikoentscheidungen.107 Denn bei der Festlegung der energierechtlichen Leitmaximen spielt die Projektion von Gefahren und Risiken, Katastrophen und Unfällen eine besondere Rolle. Dabei geht es einerseits um Risiken im „Normalmodus“ der Energieerzeugung, andererseits um das Risiko von „Störfällen“. Beispielsweise begegnen die EU-Mitgliedstaaten den Gesundheitsgefahren beim Regelbetrieb von Kohlekraftwerken mit strengen Grenzwert-Vor-

  S. o. II., 2. u. 3.   S. o. II., 1. 104   S. o. II., 5. 105   J.-J. Rousseau, Du Contrat Social ou Principes Du Droit Politique, 1762, Ausgabe von Charles E. Vaughan, Manchester 1955, Kap. I 8, E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3.  Aufl., Bd. 2, §  24, Rn.  3. 106   Vgl. im Kontext etwa BVerfG, NVwZ 2009, 1025 (Verfassungsmäßigkeit der Reform der Förderung von Biomasseanlagen nach dem EEG 2004/2009); BVerwG, NVwZ 2013, 576 (Verfassungsmäßigkeit der Kürzung der kostenlosen Zuteilung von CO2-Emissionsberechtigungen); „BDI und IG BCE legen Studie zur CO2-Reduktion des Stromsektors vor“, Medieninformation XIX/29 v. 4.6.2015, www.igbce.de (Abruf 14.9.2015) (zum Vorschlag des BMWi für einen „Klimaschutzbeitrag“ aus der deutschen Stromerzeugung); C.-F. Elmer/M. Faulstich/C. Hey, Der Klimabeitrag als Teil des Paradigmenwechsels der internationalen Klimapolitik, ifo Schnelldienst 14/2015 v. 30.7.2015, 18, 20 f. (Zurückweisung der Unvereinbarkeit von „Klimaschutzbeitrag“ und CO2-Emissionshandelssystem). 107   Tews (o. Fn.  100), 267, 285; zum Begriff U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtstaat, 1994, passim. 102 103

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gaben für Emissionen von Schwefeldioxid und Stickoxiden.108 Dagegen geht beim sogenannten „Fracking“ – der Erdgasförderung durch die Verpressung eines Chemikaliengemisches in tiefe Gesteinsschichten – die rechtliche Beurteilung des Gefahren­ poten­t ials des „Normalmodus“ für das Grundwasser auseinander. Während sich etwa das polnische Energierecht nach dem Vorbild der USA für das Fracking öffnet,109 zeichnet sich im deutschen Recht eine restriktive Zulassungspraxis ab.110 Bei der Atomtechnologie bildet der Störfall den wesentlichen Risikoreferenzpunkt. Die Risikoperzeption fällt unterschiedlich aus. In Deutschland und Italien bewirkte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 eine entscheidende Zäsur. Der Niederschlag von Radioaktivität quer über Europa machte den Störfall in der öffentlichen Meinung zu einem Ereignis der Innenwelt.111 25 Jahre später – 2011 – bedeutete die Reaktorkatastrophe in Japan – nunmehr in der Gleichzeitigkeit des Internet-Zeitalters – das endgültige Aus für die Atomenergie in Deutschland und Italien.112 Dagegen liegt den diametral entgegengesetzten, zugunsten der Atomtechnologie optierenden Strukturentscheidungen in Frankreich und Großbritannien die Einschätzung zu Grunde, dass die Risikoprognosen für die national zu verantwortende Reaktortechnik strukturell eigenständig zu treffen sind.113 Ähnlich ist es auch in Polen, wo 1989/1990 der Protest gegen die Atomtechnologie noch ein wichtiger Faktor in der Loslösung von der Sowjetunion gewesen war.114

4.  Verfassung des politischen Systems Viertens wird die konkrete Ausgestaltung der Energiewende entscheidend beeinflusst durch die Verfassung des politischen Systems. In Deutschland wirkte das Wahlsystem – genauer: das Verhältniswahlrecht – als Katalysator der Energiewende. Denn das Prinzip der proportionalen Repräsentation ermöglicht bei Bundes- und Landtagswahlen die parlamentarische Abbildung von qualifizierten Minderheiteninteressen.115 Hinzu kommt, dass das System der Verhältniswahl in der parlamentarischen Demokratie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu Koalitionsregierungen zwi108   Richtlinie 2001/80/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2001 zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in die Luft, ABl. 2001, L 309/1. 109   S. o. III., 3. und J. W. Burnett/R. W. Jackson/R. Blobaum, The State of Play in Poland’s Unconventional Shale and Oil Development, Development Policy Review 33 (2015), 395 ff.; auch zu den verfehlten Erwartungen hinsichtlich der erzielbaren Fördermengen. 110   S. o. III., 3. u. Ramsauer/Wendt (o. Fn.  3 ), 1401 ff.; A. Roßnagel, Die rechtliche Bewertung unkonventioneller Erdgasgewinnung durch Fracking in Deutschland – rechtliche Beiträge zu Konfliktbewälti­ gung, in: Ewer/Ramsauer/Reese (Hrsg.), Methodik – Ordnung – Umwelt, Festschrift Hans-Joachim Koch, 2014, 543 ff. 111   A. Evrard, Contre vents et marées, 2013, S.  162 ff. 112   S. o. II. u. III., 1. 113   S. o. II., 2. u. 5, insbes. Evrard (o. Fn.  37), 357, 359. 114   S. o. II., 3. u. G. Piotrowski, Grassroots Groups and Civil Society Actors in Pro-Democratic Transitions in Poland, COSMOS WP 2012/7, 24 f. 115   H. Dreier, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, JURA 1997, 249, 254; H. Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3.  Aufl., Bd. 3, §  45, Rn.  26.

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schen größeren und kleineren Parteien führt.116 Diese Faktoren ermöglichten, dass der politische Ausgangsstandpunkt der Energiewende schon früh eine parlamentarische Verankerung gefunden hatte, lange bevor daraus eine Mehrheitsposition wurde.117 So kam das Stromeinspeisungsgesetz Ende des Jahres 1990 aufgrund der gemeinsamen Initiative zweier einzelner Abgeordneter der Grünen und der CSU zustande.118 Mit dem Eintritt der Grünen in die Koalitionsregierung mit der SPD 1998 wurden der Atomausstieg und der Ausbau der erneuerbaren Energien zum Gegenstand eines Koalitionsvertrags.119 Demgegenüber ist die V. Republik Frankreichs als präsidentielle Demokratie auf den Grundsätzen des Mehrheitswahlrechts aufgebaut.120 Die Präsidentschaftswahl wird typischerweise zwischen den Kandidaten der Mehrheitsparteien des bürgerlichen und sozialistischen Lagers entschieden. Die Inhalte politischer Minderheiten werden im Präsidentschaftswahlkampf zumeist so repräsentiert, dass sie gegen Zusicherung entsprechender Wahlunterstützung Teil der politischen Plattform einer Mehrheitspartei werden. Beispielsweise hatte der amtierende Präsident François Hollande zugunsten der Partei der Grünen im Jahr 2012 die Schließung des ältesten französischen Atomkraftwerks Fessenheim im Elsass in seine Wahlplattform aufgenommen.121 Allerdings hat diese politische Bindung im Verlaufe der Präsidentschaft keine rechtspraktische Bedeutung erlangt. Es fehlt die Gebundenheit an das Kontinu­ um einer parlamentarischen Mehrheit, sodass sich die gegenläufigen Argumente – hohe Kosten der Stilllegung, volkswirtschaftlicher Bedarf nach niedrigen Energiepreisen – bislang durchsetzen.122 In Italien hat die Offenheit des politischen Systems für direktdemokratische Elemente123 die Transformation des Energierechts beeinflusst. Auch gegen den Willen der Regierung und der Mehrheit des Parlaments wurde zunächst 1987 und dann noch einmal 2011 im Wege der Volksabstimmung der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.124 Im britischen Westminster-Parlamentarismus treffen Mehrheitswahlrecht und parlamentarische Demokratie zusammen. Auch diese Konfiguration prägt die Ausgestaltung des Energierechts. Denn die Aufsehen erregende gemeinsame Er  Dazu nur D. Nohlen, Die Politik des Sonderweges. Wahlsysteme als Rechtsfrage, in: Armingeon (Hrsg.), Staatstätigkeiten, Parteien und Demokratie: Festschrift für Manfred G. Schmidt, 2013, 527, 535. 117   Vgl. die erfolglosen Anträge der Partei DIE GRÜNEN aus der Zeit des 7. Deutschen Bundes­ tages (1987–1990) BT-Drs. 11/2029, 11/2634, 11/4048, 11/6408. 118   DIE ZEIT v. 25.9.2006, Das unterschätzte Gesetz, www.zeit.de (Abruf 2.9.2015); zur Entstehungsgeschichte auch H. Klinger, Das Stromeinspeisungsgesetz vom 14.12.1990 – ein ordnungspolitischer Sündenfall, in: Baur/Müller-Graff/Zuleeg (Hrsg.), Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner, 1992, S.  541, 541 ff. 119   SPD/Bündnis 90/Die Grünen, Auf bruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, Koalitionsvereinbarung v. 20.10.1998, Abschnitt IV.3.1. 120   U. Kempf, Das politische System Frankreichs, 4.  Aufl. 2007, 233 ff.; O. Jouanjan, Frankreich, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, 2007, §  2 , Rn.  49, 64. 121  Le Monde v. 26.1.2012, François Hollande annonce 60 engagements pour la France, www. lemonde.fr (Abruf 2.9.2012) : „[Hollande] confirme la fermeture de la centrale de Fessenheim“. 122   Allerdings besteht der politische Wille zur Schließung fort, s. Le Figaro v. 2.3.2015, François Hollande persiste et signe sur Fessenheim, www.lefigaro.fr (Abruf 2.9.2015). 123   S. o. III., 4. sowie Dogliani/Pinelli, (o. Fn.  71), §  5, Rn.  93 ff. 124   S. o. III., 4. 116

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klärung der etablierten Parteien zum Kohleausstieg bis 2050 lässt sich auch als Versuch verstehen, den ansteigenden Umfragewerten und Wahlergebnisses der Grünen Partei zu begegnen.125 Demgemäß konnten die britischen Grünen am Wahltag im Mai 2015 nur einen einzigen der 650 Sitze im House of Commons gewinnen.126

5.  Funktionen des EU-Rechts: Rahmensetzung und Koordination Schließlich gilt es fünftens den Blick noch einmal auf das Unionsrecht zu lenken. Das EU-Recht spielt – so viel ist bereits klar geworden – im Energierecht eine eigenartige Rolle. Einerseits haben sich die Mitgliedstaaten im Vertrag von Lissabon auf einen gemeinsamen europäischen Energiemarkt verpflichtet. Zudem propagiert die Kommission unter dem Schlagwort der „Energieunion“ eine Stärkung der EU auf dem internationalen Parkett.127 In beiden Kontexten spielt der Ausbau der europäischen Energietransportnetze eine wichtige Rolle.128 Andererseits zeigt sich im Ländervergleich ein bemerkenswerter energierecht­ licher Rechtspluralismus. Die EU harmonisiert im Energierecht in weitaus geringerem Umfang als im Landwirtschaftsrecht, Produktsicherheitsrecht oder Fahrerlaubnisrecht.129 Der Grund hierfür liegt in der Kompromisshaftigkeit des Energierechtskapitels des AEUV.130 Die Ausgestaltung durch den Vertrag von Lissabon vermag die starken Interessengegensätze zwischen den Mitgliedstaaten kaum zu überbrücken. Zwar kann der Unionsgesetzgeber über den Energiebinnenmarkt und seine Infrastruktur, über Energieeffizienz und erneuerbare Energien gemäß Art.  194 Abs.  2 UAbs.  1 i.V.m. Abs.  1 AEUV grundsätzlich nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden. Jedoch verbrieft der AEUV auch das Recht jedes Mitgliedstaats, „die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Ener125   Bei den Europawahlen 2009 und 2014 hatte die Green Party über bzw. knapp unter 8% erzielt; Anfang 2015 hatten ihr Umfragen bis zu 11% Wählerstimmen vorausgesagt, s. The Guardian v. 20.1.2015, S.  20, Green party overtakes Lib Dems in new opinion poll, www.theguardian.com. 126   Der Gesamtstimmenanteil der Green Party lag dabei bei 3,8 %, s. BBC Election 2015 – Results (Abruf 2.9.2015). 127  Europäische Kommission, Mitteilung zur Rahmenstrategie für eine krisenfeste Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimaschutzstrategie, COM(2015) 80 final; dazu S. Andoura/J.-A. Vinois, Von der Europäischen Energiegemeinschaft zur Energieunion, Studien & Berichte des Jacques Delors Instituts Berlin, Nr.  107, 2015; S. Fischer/O. Geden, Die Grenzen der „Energieunion“, SWP-Aktuell 36 (April 2015), S.  2 f. 128   Verordnung 347/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2013 zu Leitlinien für die transeuropäische Energieinfrastruktur und zur Auf hebung der Entscheidung Nr.  1364/2006/EG und zur Änderung der Verordnungen 713/2009/EG, 714/2009/EG und 715/2009/ EG, ABl. 2013, L 115/39; Europäische Kommission, Mitteilung über die langfristige Vision für die Infrastruktur in Europa und darüber hinaus, COM(2013) 711 final; L. Giesberts/A. Tiedge, Vorhaben von gemeinsamem Interesse nach der TEN-E-Verordnung: Anforderungen, Verfahren, Rechtsschutz, EurUP 2013, 166 ff. 129   Tews (o. Fn.  100), 267, 268; D. Leuffen/B. Rittberger/F. Schimmelfennig, Differentiated integration, 2013, 20; T. A. Börzel, European integration between level and scope, Journal of European Public Policy 2005, 217, 219 f., 222. 130  Dazu J. Gundel, Die energiepolitischen Kompetenzen der EU nach dem Vertrag von Lissabon: Bedeutung und Reichweite des neuen Art.  194 AEUV, EWS 2011, 25 ff.; W. Kahl, Die Kompetenzen der EU in der Energiepolitik nach Lissabon, EuR 2009, 601 ff.

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giequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung“ gemäß Artikel 194 Abs.  2 UABs. 2 AEUV autonom zu bestimmen.131 Damit wird insbesondere die energierechtliche Schlüsselfrage nach der Zukunft der Atomtechnologie dem Unionsgesetzgeber faktisch entzogen und an die Mitgliedstaaten zurückgespielt. Die ambivalente Unentschlossenheit des EU-Rechts ist mithin keine Fehlfunktion, sondern Programm. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass das Nebeneinander konkurrierender Transformationspfade für das europäische Ganze und die Eigeninteressen der Mitgliedstaaten dauerhaft Schwierigkeiten bereiten wird. Das EU-Recht muss deswegen neben der aktiven Politikgestaltung im Energierecht eine weitere Aufgabe erfüllen, nämlich Koordination und Konfliktmediation zwischen den Mitgliedstaaten. Dies gilt zum einen für die transnationalen Umwelteinwirkungen. Europa ist ein so kleiner Kontinent, dass technologiebezogene Risikoentscheidungen von einer bestimmten Größe an zwangsläufig grenzüberschreitende Umwelteinwirkungen entfalten. Dabei ist die grenznahe Neuerrichtung von Energieerzeugungsanlagen ebenso relevant wie deren Stilllegung oder die Standortentscheidung über ein Endlager.132 Hier befindet sich das EU-Recht noch in einer Lernphase. Die bisher etablierte Konfliktmittlung durch grenzüberschreitende Konsultationen nach der UVP- und der SUP-Richtlinie erweist sich im Allgemeinen als wenig effektiv.133 Denn die nationalen Behörden tendieren rechtspraktisch dazu, Einwendungen aus dem Nachbarstaat eine nachgeordnete Bedeutung zuzumessen.134 Zu erwägen wäre eine Aufwertung der Anhörungsfunktion. Hierzu könnten entweder die Behörden der Nachbarstaaten oder eine supranationale Behörde mit dieser Kompetenz betraut werden.135 Zum anderen tritt das Binnenmarktziel in einen strukturellen Konflikt mit der nationalen Gestaltungsautonomie. Denn die seitens der Mitgliedstaaten präferierten Energiequellen sind kaum einmal aus sich heraus wettbewerbsfähig. Vielmehr geht die nationale Strukturentscheidung zugunsten eines bestimmten Energieträgers typischerweise mit der Einrichtung eines finanziellen Fördermechanismus einher. Der 131   Gleichsinnig Art.  192 Abs.  2 UAbs.  1 lit.  c) AEUV mit Anordnung des Einstimmigkeitsprinzips für umweltrechtliche Maßnahmen, welche „die Wahl eines Mitgliedstaats zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren“. 132  S. S. Koch, Die grenzüberschreitende Wirkung von nationalen Genehmigungen für umwelt­ beeinträchtigende industrielle Anlagen, 2010, 25 ff.; M. A. Glaser, Internationale Verwaltungsbeziehungen, 2010, 52 f.; G. Handl, Grenzüberschreitendes nukleares Risiko und völkerrechtlicher Schutz­ anspruch, 1992, 11 ff.; BVerwGE 75, 285, 287 – KKW Emsland; C. Küppers/S. Alt, Wissenschaftliche Beratung und Bewertung grenzüberschreitender Aspekte des französischen Endlagervorhabens „Cigéo“ in den Nachbarländern Rheinland-Pfalz, Saarland und Großherzogtum Luxemburg, Öko-Institut e.V., www.oeko.de (Abruf 8.9.2015). 133   S. o. III., 3.; s. außerdem die Beteiligungsvorgaben gemäß Art.  10 Richtlinie 2011/70/EURATOM des Rates v. 19.7.2011 über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, ABl. 2011, L 199/48. 134   Zu den Erfahrungen beim Neubau eines Atomkraftwerks in Polen s.o. III.3; außerdem die Resolution des Landtags des Saarlands v. 15.7.2015, LT-Drs. 15/1480 zum Zulassungsverfahren für das französische Endlager für atomare Abfälle im Osten Frankreichs (dazu bereits o. Fn.  47); M. Kment, Grenzüberschreitendes Verwaltungshandeln, 2010, 355 ff. 135  Zum Problem M. Ruffert, Perspektiven des Internationalen Verwaltungsrechts, in: Möllers/ Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, 395, 408; Ch. E. Linke, Europäisches Internationales Verwaltungsrecht, 2001, 136; Kment (o. Fn.  134), 300 ff.

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national subventionierte Strom fließt in den Energiebinnenmarkt und verzerrt dessen Preise zulasten aller anderen Anbieter. Dabei zeigt sich, dass der Energiebinnenmarkt in besonderer Weise eine normative Konstruktion ist.136 Denn bei einem so unabdingbar auf Gemeinwohlinteressen bezogenen Regelungsgegenstand wie der Energie ist ein genuin interventionsfreier Markt kaum vorstellbar.137 Eine Lösung der skizzierten Koordinationsprobleme auf Ebene der EU-Verträge ist bei realistischer Betrachtung nicht zu erwarten. Vielmehr wächst die Aufgabe der rechtlichen Koordination in immer mehr Fällen der Beihilfenaufsicht der Kommission138 und im Konfliktfall dem EuGH zu. Der EuGH hat schon mehrfach den Problem­bereich nationaler Fördersysteme für erneuerbare Energien bearbeitet. Im Preussen Elektra-Urteil zum deutschen Stromeinspeisungsgesetz,139 in Vent de Colère zum ­f ranzösischen140 und Ålands Vindskraft zum schwedischen Energierecht141 wurde die grund­sätzliche Zulässigkeit bejaht. Der nächste Konfliktfall auf der Agenda des EuGH ist das britische Fördersystem für Nukleartechnologie. Zwar hat die Kommission ihre beihilfenrechtliche Zustimmung erteilt.142 Jedoch hat die Republik Österreich gegen die Entscheidung der Kommission Nichtigkeitsklage erhoben.143 Die Entscheidung wird mit großer Spannung beobachtet. Denn weitere Mitgliedstaaten wie Polen und Tschechien planen ähnliche Umlagesysteme wie Großbritannien.144 Dagegen unterstützen andere EU-Staaten die Position Österreichs.145 Zudem bereiten mehrere Energieversorger mit Geschäftsschwerpunkt im Bereich Erneuerbarer Energien eine eigene Nichtigkeitsklage zum EuGH vor – darunter auch die Stadtwerke Bochum, Mainz und Tübingen.146 Die Stadtwerke befürchten, dass der Strom ihrer Windparks, Wasserkraft- und Photovoltaikanlagen wegen der britischen Subventionen für die Kern­ energie auf dem Energiebinnenmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Nun wird der EuGH entscheiden müssen, ob wegen des Beitrags zur CO2-Reduzierung eine 136  Vgl. O. Lepsius, Verfassungsrechtlicher Rahmen der Regulierung, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, §  4, Rn.  2 f., 6. 137   K. Talus, EU Energy Law and Policy, 2013, 269 ff.; G. Britz, Energie, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, §  9, Rn.  26 ff.; C. Franzius, Regulierung und Innovation im Mehr­ ebenensystem, Die Verwaltung 48 (2015), 175, 176 f. 138  S. insbes. Leitlinien der Kommission (Fn.  98); näher A. S. Bigot/P. Kirst, Neue Vorgaben für Umweltschutz- und Energiebeihilfen, ZUR 2015, S.  73 ff. 139   EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 – Preussen Elektra. 140   EuGH, Rs. C-262/12, ECLI:EU:C:2013:851 – Vent de Colère. 141   EuGH, Rs. C-573/12, ECLI:EU:C:2014:2037 – Ålands Vindkraft. 142   Beschluss 2015/658/EU der Kommission vom 8. Oktober 2014 über die vom Vereinigten Königreich geplante staatliche Beihilfe SA.34947 (2013/C) (ex 2013/N) zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C, ABl. 2015, L 109/44. 143   Umweltausschuss des Nationalrats, „Österreich macht weiter gegen Atomkraft mobil – Klage gegen staatliche Beihilfen für britisches Akw Hinkley Point C nahezu fertig“, Parlamentskorrespondenz Nr.  465 v. 5.5.2015, www.parlament.gv.at. 144   F. Cˇernoch/V. Zapletalová, Hinkley point C: A new chance for nuclear power plant construction in central Europe, Energy Policy 83 (2015), 165 ff. 145   Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 18/5240, S.  2 ; Der Standard v. 28.4.2015, Österreich-Klage gegen Hinkley Point fast am Ziel, www.derstandard.at (Abruf 15.9.2015) zur Unterstützung durch Luxemburg. 146   FAZ v. 15.7.2015, Stromanbieter klagen gegen britische Atomstrom-Subventionen, www.faz.net (Abruf 2.9.2015).

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rechtmäßige Beihilfe vorliegt, oder ob dies wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung des AEUV zur Atomenergie nicht der Fall ist.

V. Schluss Stellen wir abschließend die Ergebnisse des G7-Gipfels in Rechnung, der Anfang Juni 2015 im bayerischen Elmau stattgefunden hat. In der Schlusserklärung betonen die Staats- und Regierungschefs, dass „tiefe Einschnitte bei den weltweiten Treibhausgasemissionen erforderlich sind, einhergehend mit einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft im Laufe dieses Jahrhunderts“.147 Nach diesem Versprechen soll der weltweite CO2-Ausstoß im Zuge einer vollständigen „Dekarbonisierung“ bis zum Ende des 21. Jahrhunderts auf Null reduziert werden. Darin wird deutlich, dass die zuvor analysierten Transformationspfade allesamt noch am Anfang stehen. Zugleich öffnet sich ein weiter interdisziplinärer und internationaler Forschungshorizont. In dessen Konturierung ist die Rechtswissenschaft von besonderer Bedeutung. Denn die Befestigung und Fortführung der Transformation des Energiesektors hängt von kaum etwas mehr ab als von stabilen, aber zukunftsoffenen rechtlichen Grundlagen.

147  Think Ahead. Act Together. An morgen denken. Gemeinsam handeln. Abschlusserklärung G7-Gipfel, 7.– 8. Juni 2015, Arbeitsübersetzung, www.bundesregierung.de (Abruf 7.9.2015), 17.

Warum Verfassungsvergleichung? von

Prof. Dr. Brun-Otto Bryde, Universität Gießen Inhalt I. Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 1. Verständnis für fremde Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 2. Verständnis des eigenen Verfassungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 3. Kosten verfassungsvergleichender Ignoranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 II. Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 III. Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 IV. Die Bedeutung der Verfassungsvergleichung für Europarecht und Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

Bei einem bedeutenden Übersetzer – Karl Dedecius, dem großen Europäer aus Lodz, der den Deutschen die polnische Literatur nahe brachte – habe ich ein Wort gefunden, das die Bedeutung der Rechtsvergleichung sehr schön umschreibt: „Und der Berg Sinai, von dem wir gern im Singular sprechen, erweist sich bei näherer Betrachtung der Geographie als ein Plural, ein vielgipfeliger Gebirgsstock“1. Einerseits ist nicht falsch, vom Gesetzesberg Sinai im Singular zu sprechen: das Nachdenken über menschliches Zusammenleben unter dem Maßstab der Gerechtigkeit ist ein weltweites Anliegen, deshalb können wir von anderen Versuchen, das menschliche und staatliche Zusammenleben zu organisieren, lernen. Aber dabei sind sehr unterschiedliche Lösungen gefunden worden; die Wirklichkeit ist eben vielgipfelig. Für mich ist dieses Bild vor allem die Aufforderung zwei entgegengesetzte Formen von Ethnozentrismus zu vermeiden: einerseits den gerade unter Juristen verbreiteten Irrglauben, die Lösungen der eigenen Rechtsordnung seien die einzig sinnvollen. Ein bisschen mehr Bewusstsein dafür, dass es auch ganz anders geht, ist oft hilfreich. Der umgekehrte Fehler wird gemacht, wenn man die Fremdheit fremder Rechte übertreibt, und nicht erkennt, dass sie oft ganz ähnliche Lösungen präsentieren.   Karl Dedecius, Lebenslauf aus Büchern und Blättern, 1990, S.  268.

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I. Verstehen Es ist nicht sehr schwer, nachzuweisen, wie viel man von der Verfassungsvergleichung profitieren kann. Der beste Zugang ist dabei vielleicht ein negativer: nämlich der Nachweis, wie schädlich eine – nicht nur in Deutschland – verbreitete Unkenntnis ausländischer Verfassungen sowohl für das Verständnis der eigenen wie fremder Rechtsordnungen und Gesellschaften ist.

1.  Verständnis für fremde Ordnungen Für ein Verständnis anderer Staaten ist die Kenntnis ihrer Verfassung immer wichtig. Es ist zum Beispiel erschreckend, mit welcher Unkenntnis der amerikanischen Verfassung deutsche Medien die amerikanische Politik kommentieren. Beiträge, in denen behauptet wird, Präsident Obama habe versagt, weil er seine Versprechen nicht erfüllt habe, sind Legion, und alle sehen den amerikanischen Präsidenten implizit in einer Rolle, in der er gerade nicht ist, der eines Regierungschefs eines parlamentarischen Systems, der eine parlamentarische Mehrheit kontrolliert. Dass der amerikanische Präsident keine Kontrolle über den Kongress hat und gegen eine entschlossene und obstruktive Opposition, wie sie ihm gegenüber von Anfang an von den Republikanern ausgeübt wird, kein Gesetzgebungsprogramm durch­set­zen kann, wird schlicht übersehen. Auch dass selbst eine Mehrheit, wie sie die Demokraten in den ersten beiden Jahren der Präsidentschaft hatten, nicht reicht, wenn im Senat die archaischen Obstruktionsmöglichkeiten der Minderheit exzessiv benutzt werden, scheint den deutschen Kommentatoren, seltsamerweise auch Auslandskorrespondenten, weitgehend unbekannt zu sein. Und wenn der Präsident dann die Möglichkeiten nutzt, die ihm sein Amt mit Hilfe exekutiver Befugnisse bietet, wie sie wiederum der Regierungschef eines parlamentarischen Systems nicht hätte, wird ihm schnell autoritäres Verhalten vorgeworfen, obwohl er sich völlig im Rahmen seiner Befugnisse bewegt. Die zutreffende Einschätzung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des internationalen Partners ist dabei nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, und das gilt nicht nur für das Staatsorganisationsrecht: nicht alle Teilnehmer der Diskussion über Investitionsschutzverträge (interessierte Lobbyisten aber durchaus) dürften die amerikanische Rechtsprechung zum Eigentumsschutz (Taking) kennen, die seit der grundlegenden Entscheidung zum regulatory taking2 „Enteignung“ auch dort findet, wo das deutsche Recht zulässige Sozialbindung oder Berufsregelung annimmt. Der zunächst einmal harmlos und selbstverständlich klingende Schutz ausländischer Investoren vor „Enteignung“ gewinnt damit eine ganz andere Qualität, vor allem da Investitionsschutzverträge in der Regel die amerikanische Rechtssprache übernehmen.3   Pennsylvania Coal Co. v. Mahon, 260 U.S.  393 (1922).   Kanadische Juristen sehen daher auch im NAFTA-Vertrag eine implizite Verfassungsänderung, die die bisherigen sozialstaatlichen Gestaltungsbefugnisse des kanadischen Gesetzgebers in Wirtschaftsund Sozialpolitik beseitigt: Tsvi Kahana, Canada, in: Oliver/Fusaro (Hrsg.), How Constitutions Change, 2013, S.  9, 30 ff. m.w.N. 2 3

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2.  Verständnis des eigenen Verfassungssystems Aber auch das eigene System kann man besser verstehen, wenn man es mit anderen vergleicht. Genau genommen ist jeder Erkenntnisakt (auch) ein – allerdings oft unbewusster – Vergleichsvorgang. So nennen wir unser System überhaupt nur „parlamentarisch“, weil wir es mit gewaltenteilenden Systemen vergleichen, in denen die Regierung nicht vom Parlament gewählt wird und in ihrer Existenz nicht von seinem Vertrauen abhängig ist (Präsidialsystem, Direktoratsverfassung). Und der Begriff des Bundesstaates wird in der Regel überhaupt nur aus dem Vergleich mit dem Einheitsstaat einerseits und dem Staatenbund andererseits definiert. Wenn alle Verfassungsordnungen gleich oder zumindest ähnlich wären, gäbe es wahrscheinlich diese Worte gar nicht. Dabei würde es dem Verständnis der deutschen Verfassungsordnung helfen, wenn solche Vergleichung nicht nur unbewusst und oberflächlich wäre, sondern tatsächlich zum Erkenntnisgewinn eingesetzt würde. Beim Vergleich mit dem Präsidialsystem wird beim parlamentarischen System nämlich häufig nur verkürzt das Recht des Parlaments, die Regierung zu wählen und zu stürzen hervorgehoben, mit der Folge dass die Volksvertretung im parlamenta­ rischen System im Vergleich zum Präsidialsystem als besonders stark erscheint. Faktisch ist es aber umgekehrt: weil in diesem System die Führung der Mehrheitsparteien die Regierung bildet, kontrolliert die Regierung mit Hilfe der ihr gegenüber ­loyalen Parlamentsmehrheit das parlamentarische Geschäft, insbesondere das Gesetz­ gebungsprogramm. Diese schlichte Grundwahrheit des parlamentarischen Regierungssystems wird in Deutschland immer wieder übersehen, von Zeitungskommentatoren, die mehr Mut zur effektiven parlamentarischen Kontrolle verlangen – die man nur von der Opposition erwarten kann, aber auch vom Bundesverfassungsgericht, wenn es eine völlig überzogene Hoffnung in die Kontrolle der Europapolitik durch das Parlament setzt.4 Die Beteiligung des Parlaments ist in der Tat wegen seiner Öffentlichkeitsfunktion wichtig, aber die Annahme, die Europapolitik ließe sich nicht über das Europaparlament sondern über die nationalen Parlamente demokratisieren, geht an dieser Tatsache schlicht vorbei.5 Auch manche Missverständnisse über den deutschen Bundesstaat ließen sich vermeiden, wenn man sich dessen Struktur gerade im Vergleich klar machte. Das deutsche bundesstaatliche System des Verwaltungs- oder Vollzugsföderalismus mit Beteiligung der einzelstaatlichen Exekutiven an der Legislative des Gesamtstaates ist nicht durch irgendwelche modernen Fehlentwicklungen eine antiparlamentarische Veranstaltung geworden, sondern ist es vom System her und war schon von Bismarck als solches gedacht.6 Anders als im amerikanischen (Trennungs-)Föderalismus, in dem die Einzelstaaten wichtige zentrale Gesetzgebungszuständig­ keiten (bis zum Zivil- und Strafrecht) und eigene Steuerkompetenzen haben, und  BVerfGE 123, 267 (356, 432 ff.) – Lissabon [2009]; 129, 124 (179 ff.) – Euro-Rettungsschirm [2011]. 5   Zur Kritik: Brun-Otto Bryde, Transnational Democracy, Fs. f. Simma Oxford 2011, S.  211, 222 f. 6   Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II, 1993, S.  85 ff., 92. 4

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Union und Staaten jeweils die eigenen Gesetze mit eigenen Verwaltungen und Gerichten ausführen und durchsetzen, ist für den Vollzugsföderalismus eine Verzahnung von horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung kennzeichnend, in der die Legislativfunktion weitgehend bei der Zentrale, die Exekutivfunktion auf den nachgeordneten Ebenen liegt.7 Dieses System institutionalisiert in einer klassischen Formulierung von Ellwein – einen „Verschiebebahnhof für parlamentarische Verantwortlichkeiten“8. Die Bundesrepublik ist daher allenfalls ein hinkendes parlamentarisches System. Anders als im parlamentarischen Modell vorausgesetzt, kann die „Legislative“ die „Exekutive“ überhaupt nicht kontrollieren. Die Bundesgesetze werden nicht von der Bundesregierung sondern von Landesexekutiven ausgeführt, über die der Bundestag keine Kontrolle hat, die Landesregierungen aber können sich ihren Parlamenten gegenüber auf verbindliche Bundesvorgaben berufen. Anders als im klassischen Westminster-Modell ist aber auch die Führungsfunktion der Regierung gegenüber dem Parlament eingeschränkt, da die zweite Legislativkammer exekutiv durch die Landesregierungen besetzt wird. Das ist im Vollzugsföderalismus, was Befürworter von Senatsmodellen übersehen, konsequent. Da die Länder die Bundesgesetze ausführen, ist es sinnvoll, sie an deren Verabschiedung zu beteiligen; die Rolle des Bundesrats ist aus Sicht der Verfassungsvergleichung vergleichbar mit dem Vetorecht des amerikanischen Präsidenten. Diese Konstruktion der 2. Kammer bringt die Bundesregierung bei der Durchsetzung ihres Gesetzgebungsprogramms aber in eine Lage, die der der Exekutive im Präsidialsystem vergleichbar ist. Seit vielen Legislaturperioden hat die jeweilige Bundesregierung keine Mehrheit im Bundesrat, erstaunlicherweise nicht einmal die große Koalition.9 Auch das lässt sich im internationalen Vergleich besonders gut verstehen.

3.  Kosten verfassungsvergleichender Ignoranz Wie hilfreich eine bessere Kenntnis der Verfassungsvergleichung wäre, hat zum Beispiel das Lissabon-Urteil10 gezeigt. Dieses stellt die Offenheit für die Weiterentwicklung der europäischen Demokratie geschickt und subtil, im Ergebnis aber radikal in Frage. Das werden die beteiligten Richter zwar leugnen, weil das Urteil ausdrücklich anerkennt, dass supranationale politische Herrschaft nicht schematisch den innerstaatlich geltenden verfassungs­ staatlichen Anforderungen unterliegt und deshalb nicht umstandslos an den kon­k reten Ausprägungen des Demokratieprinzips in einem Vertrags- oder Mitgliedstaat gemes7   Zu den beiden Modellen: Michael Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, 1977, S.  224 ff. 8   Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 3.  Aufl. 1973, S.  74. 9   Verantwortlich für diese Schwäche der Bundesregierung im Bundesrat auch bei überwältigender Mehrheit im Bundestag sind zwei Rechtsvorschriften und eine Tradition: Stimmen eines Landes dürfen nur einheitlich abgegeben werden (Art.  51 Abs.  3 GG), Enthaltungen zählen als Neinstimmen (Art.  52 Abs.  3 GG) und in Koalitionsverträgen wird bei Meinungsverschiedenheiten die Enthaltung im Bundesrat vereinbart. Das erlaubt kleinen Koalitionspartnern die Mehrheit für Zustimmungsgesetze zu verhindern. 10   BVerfGE 123, 267 – Lissabon [2009].

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sen werden darf.11 Aber wie diese andersgeartete Gestaltung aussehen könnte, wird nicht deutlich, sondern das Urteil entwirft im Gegenteil ein idealtypisches Modell demokratischer Legitimation, das nirgendwo auf der Welt verwirklicht ist – eine Art Westminster-Modell mit Verhältniswahlrecht – und ganz sicher in einer kontinentweiten Demokratie nicht verwirklicht werden kann.12 Nur unter den Voraussetzungen dieses Legitimationsmodells sind nach Auffassung des Gerichts aber weitere entscheidende Kompetenzübertragungen nach Europa zulässig. Ein zentrales Defizit, das die Fähigkeit des Europaparlaments zur demokratischen Legitimation begrenzt, ist aus Sicht des Senats dabei seine ponderierte Zusammensetzung als Verletzung des Grundsatzes „one man one vote“: ein deutscher Abgeordneter vertritt weniger Menschen als ein maltesischer.13 Damit wird, wie inzwischen vielfach dargetan14, die Verfassungsvergleichung völlig ignoriert. Der Grundsatz „one man one vote“ gilt, so wie ihn das Lissabon-Urteil versteht, in keinem einzigen Bundesstaat, da in diesen – aber auch in regional differenzierten Einheitsstaaten – immer ein Kompromiss zwischen gleicher Vertretung Aller und angemessener Vertretung der Teile, zum Beispiel auch von Minderheiten gefunden werden muss. In der Regel erfolgt das in Zwei-Kammer-Systemen und da erst beide Kammern zusammen Gesetzgeber sind, wiegen im Ergebnis die Stimmen der Einwohner kleiner Teilstaaten überall stärker, oft – zum Beispiel in den USA oder der Schweiz – extrem. Wieso man zum genau gleichen Ergebnis nicht in einem ponderierten Einkammersystem kommen kann, bleibt ein Rätsel. Das Urteil sieht das Problem und versucht es mit einer Unterscheidung von Parlament als Volksvertretung, die Proporz erfordert, und zweiten Kammern als bloßen Staatenvertretungen zu lösen.15 Aber genau hier wird mit deutscher Brille verkannt, dass in den meisten Bundesstaaten auch die Zweite Kammer anders als der deutsche Bundesrat echtes Parlament ist.16 Ein Blick ins Ausland hätte den Senat auch lehren können, dass es sogar in Einkammersystemen gute Gründe und Beispiele für eine ponderierte Zusammensetzung gibt,17 und dass in einer kontinentweiten Demokratie wie Indien auch die erste, im Prinzip proportional zusammengesetzte Kammer von diesem Prin­zip partiell abweicht.18 Ein älteres Beispiel sind die Entscheidungen zum Ausländerwalrecht und hier insbesondere der Satz im Urteil zu den Hamburger Bezirken: „eine Wahl, an der Ausländer teilnehmen, kann demokratische Legitimation nicht begründen“.19 Dieser Satz bleibt für mich schon deshalb unbegreiflich, weil dem entscheidenden Senat   BVerfGE 123, 267 (365) – Lissabon [2009].   BVerfGE 123, 267 (367) – Lissabon [2009]. 13   BVerfGE 123, 267 (371) – Lissabon [2009]. 14   Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), 535; Brun-Otto Bryde, Transnational Democracy, Fs. f. Simma, Oxford 2011, S.  211, 220 ff. 15   BVerfGE 123, 267 (375) – Lissabon [2009]. 16   Christoph Möllers, FAZ 16.7.2009. 17   Beispiele bei Brun-Otto Bryde, Demokratisches Europa und Europäische Demokratie, Fs. f. Zuleeg, 2005, S.  131; ders., Transnational Democracy, Fs. f. Simma, Oxford 2011, S.  211, 222 f. 18   Philipp Dann, Federal Democracy in India and the European Union, VRÜ 44 (2011), S.  160. 19   BVerfGE 83, 60 (81) – Ausländerwahlrecht [1990]. 11

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bekannt war,20 in wie vielen Demokratien – überwiegend solchen mit älterer demokratischer Tradition als Deutschland – es ein solches Wahlrecht schon damals gab.

II. Verfassungspolitik Mit den Kosten verfassungsrechtlicher Ignoranz haben wir den Raum zweckfreien Forschens über fremde Verfassungsordnungen bereits verlassen. Die Unkenntnis fremder Verfassungsordnungen kann zu juristischen Fehlern in der eignen führen. Aber die Bedeutung der Verfassungsvergleichung geht darüber hinaus. Man kann aus den Erfahrungen fremder Rechtsordnungen lernen, und zwar sowohl für die Rechtspolitik wie die Verfassungsinterpretation. Die Fruchtbarkeit des Blicks auf fremde Vorbilder sollte eigentlich nicht nachgewiesen werden. Rechtsentwicklung ist immer auch ein bewusster oder unbewusster Rezeptionsprozess. Für das Zivilrecht ist das historisch nicht zweifelhaft, aber auch bei Prozessen der Verfassunggebung spielen ausländische Vorbilder eine Rolle. Das ist nicht immer unproblematisch, da die Angemessenheit ausländischer Lösungen oft nicht hinterfragt wird. Das gilt vor allem, wo es weniger um Rezeption als Imposition, zum Beispiel durch eine Kolonialmacht, oder auch sonst um die unkritische Übernahme eines dominanten ausländischen Vorbilds geht. Auch bei neueren Verfassunggebungsprozessen ist eine solche einseitige Abhängigkeit von oft unpassenden ausländischen Vorbildern nicht völlig überwunden, aber die Instrumente zu ihrer Überwindung sind vorhanden und liegen auch in der Verfassungsvergleichung. Besondere Bedeutung für die Internationalisierung des Verfassungsrechts21 hat dabei die Entwicklung des Menschenrechtsvölkerrechts seit Ende des 2. Weltkrieges und das Entstehen einer supranationalen Integrationsgemeinschaft. Die Verbreitung regionaler und weltweit geltender Menschenrechtsverträge hatte erheblichen Einfluss auf die Verfassunggebung in vielen Ländern. So spielten bei der Formulierung von Grundrechtskatalogen in Verfassungstexten insbesondere im weltweiten Reform- und Demokratisierungsprozess der 80er und 90er Jahre die internationalen Menschenrechtspakte eine zentrale Vorbildrolle. In den osteuropäischen Staaten wurde das Recht des Europäischen Menschenrechtsraums, dem man beizutreten gedachte, von vornherein in die neuen Verfassungstexte integriert,22 in anderen Erdteilen sind die internationalen Menschenrechtspakte als Vorbild wichtiger.23 20  Das Gericht hatte ein Gutachten des Max-Planck-Instituts eingeholt: Isensee/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, S.  284 ff.; vgl. auch Brun-­ Otto Bryde, Stellungnahme für den Landtag Schleswig-Holstein, ebendort S.  238, 251 ff. 21   Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 42 (2003), 61, 68 ff. 22   Wolfgang Kahl, Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen, 1994, S.  69 ff. 23   John Kabudi, Human Rights Jurisprudence in East Africa (VRÜ-Beihefte 15), 1995, 25 ff.; Heinrich Scholler, Die neue äthiopische Verfassung und der Schutz der Menschenrechte, VRÜ 1997, 166 ff.; John Dugard, International Human Rights, in: van Wyk/Dugard/de Villiers/Davis, Rights and Consti­ tutionalism: the New South African Legal Order, 1995, S.  193 ff.; Brun-Otto Bryde, Der Verfassungsstaat

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Nicht nur durch den Rückgriff auf internationale Pakte, sondern auch durch die vergleichende Betrachtung einer Fülle ausländischer Erfahrungen lässt sich Abhängigkeit vermeiden. Vielleicht das beste Beispiel ist Süd-Afrika, wo der Vergleichung eine besondere Funktion zukam.24 Für den mühsamen Verhandlungsprozess des friedlichen Übergangs von der Apartheid war die Verarbeitung ausländischer Erfahrungen von fundamentaler Bedeutung. Sie war nicht einfach nur ein Hilfsmittel sondern geradezu Voraussetzung, dass die antagonistischen Parteien zu Kompromissen gelangen konnten: der internationale konstitutionalistische Konsens saß virtuell als Schiedsrichter mit am Tisch. Es war nämlich eine Bedingung dieses Prozesses, dass eine Verfassung entstand, die bestimmte international gültige konstitutionelle Prinzipien beachtete: und das Verfassungsgericht war aufgerufen, zu überprüfen, ob diese eingehalten wurden. Das war nur möglich, wenn sowohl bei der Verfassunggebung wie bei der Überprüfung durch das Verfassungsgericht auf höchstem vergleichenden Niveau gearbeitet wurde.25 Der Blick ins Ausland in der Verfassungspolitik braucht sich nicht auf den Sonderfall der Verfassunggebung zu beschränken. Auch für begrenztere Reformschritte – Wahlrechtsreformen, direkt-demokratische Elemente, die Einführung eines Verfassungsgerichts oder anderer Formen gerichtlicher Kontrolle – ist der Blick auf die Erfahrungen anderer Länder lehrreich – übrigens nicht nur für Anleihen bei erfolgreichen Modellen sondern auch für das Vermeiden der Fehlerwiederholung. Es gibt Institu­t ionen wie das Verfassungsgericht oder den Ombudsmann,26 die geradezu eine internationale Karriere gemacht haben. Die Fruchtbarkeit der Verwertung ausländischer Erkenntnisse hängt dabei allerdings davon ab, wie sie erfolgt. Rechtliche Institutionen, die unter bestimmten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte Wirkungen haben, können unter anderen Bedingungen ganz anders wirken. Verfassungsvergleichung darf daher nie nur bloßer Textvergleich sein, sondern muss immer auch einen rechtssoziologischen Blick haben. In der internationalen Beratungspraxis wird hier viel gesündigt.27 Was in der Vergangenheit die koloniale Imposition der Verfassungsinstitutionen des Mutterlandes war, ist heute oft die Durchsetzung ausländischer Berater, die oft ebenso einäugig wie früher die Kolonialmächte nur ihr eigenes Modell im Blick haben. Verfassungsvergleichung kann genau diese Gefahr verhindern, indem sie die Fixierung auf ein Modell verhindert und die Fülle möglicher Lösungen in den Blick nimmt.

in Afrika, in: Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates (Kolloquium zum 65. Geburtstag von P. Häberle), 2001, S.  203, 212 ff. 24   Heinz Klug, Constituting Democracy: Law Globalism, and South Africa’s Political Reconstruc­ tion, 2000; Francois Venter, Globalization of constitutional Law through Comparative Constitution Making, VRÜ 41 (2008), 16. 25   Constitutional Court CCT 23/1996 – First Certification Judgement. 26   Michael Frahm, Australasia and Pacific Ombudsman Institutions, 2013. 27   Laura Nader (2007), Promise or Plunder? A Past and Future Look at Law and Development, Global Jurist 7, Issue 2 (Frontiers), Article 1, 9.

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III. Verfassungsinterpretation Während der verfassungsvergleichende Blick in der Rechtspolitik zwar zu Problemen führen kann, aber seine Legitimation letztlich nicht in Frage steht, da die Entscheidungen eindeutig verteilt sind, ist die Diskussion um die Nutzung der Verfassungsvergleichung als Auslegungsmethode kontroverser. Vor allem in den USA wurde dieser Streit mit Leidenschaft geführt. Ausgangspunkt war die Berufung der Mehrheit des Supreme Court (formuliert von den Richtern Kennedy und Stevens) auf die internationale Entwicklung, insbesondere auch die Rechtsprechung des EGMR, zur Verwerfung der Todesstrafe für Jugendliche28 und Behinderte29 und der Bestrafung von Homosexualität 30 mit einer wütenden Replik von Scalia.31 Auch wenn diese Diskussion bei ausländischen Beobachtern eher Verwunderung ausgelöst hat 32 – wenn man, was amerikanische Gerichte häufig tun, eine student case note zitieren kann, warum soll es dann unzulässig sein, zur Kenntnis zu nehmen, was ausländische Gerichte zu einem Thema sagen – kann man nachvollziehen, dass diese Frage Emotionen auslöst. Das Verfassungsrecht eines Staates ist nämlich besonders mit seiner nationalen Identität verbunden: dass ausländische Vorbilder auf seine Auslegung Einfluss haben sollen, erscheint national eingestellten Juristen dann als ungehörig. Und auch wenn man weniger ideologisch an die Frage herangeht, ist es jedenfalls nicht selbstverständlich, dass die Auslegung einer Verfassung für die Auslegung einer anderen Verfassung Bedeutung haben soll. Aber auf der andern Seite ist das Verfassungsrecht methodisch für ausländische Einflüsse besonders offen. Das gilt wiederum schon wegen der völkerrechtlichen Menschenrechtsformulierungen. Diese beeinflussen nationales Verfassungsrecht nicht nur, wo sie wörtlich rezipiert werden. In Verfassungsordnungen ohne oder mit nur rudimentärem Grundrechtskatalog werden sie teilweise unmittelbar als Verfassungsrecht behandelt und füllen so die Lücke. Das internationale Menschenrechtsrecht findet schließlich Eingang in das nationale Recht mittels menschenrechts­­ konformer Auslegung, wie sie z.B. 1988 von Commonwealth Richtern in den Bangalore-Prinzipien beschlossen wurde.33 Diese Art der Inkorporation wurde dann in Großbritannien mit dem Human Rights Act gesetzlich fixiert.34 Auch das Grundgesetz konnte zwar noch nicht die Menschenrechtskonventionen verwerten, aber die kurz zuvor verabschiedete Universelle Erklärung der Menschenrechte hat die Formulierung von Art.  1 Abs.  3 GG mitbeeinflusst, was zu einer inter  Roper v. Simmons 125 S.Ct 1183 (2005).   Atkins v. Virginia 539 U.S.  558 (2003). 30   Lawrence v. Texas 536 U.S.  304 (2002). 31   Roper v. Simmons 125 S.Ct 1183 (2005) 1226. 32   Vgl. die Beiträge in Markesinis/Fedke (Hrsg.), Judicial Recourse to Foreign Law, 2006 (darin mein Beitrag: The Constitutional Judge in the International Constitutionalist Dialogue, S.  295 ff.). 33   Michael Kirby, The Impact of International Human Rights Norms: A Law Undergoing Evolution, Western Australian Law Rev. 25 (1995), 130. 34   Lord Irvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain under an Incorporated ­Convention on Human Rights, Public Law 1998, 221, 232 ff.; Marius Baum, Rights Brought Home, EuGRZ 2000, 281, 295 f. 28 29

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pretatorischen Öffnung des deutschen Verfassungsrechts für die internationale Menschenrechtsentwicklung führen muss.35 In diesem durch die Rezeption internationaler Menschrechtsvorgaben bestimmten Verfassungsrechtskreis ist die Grundrechtsdogmatik internationalisiert. Auslegungsvorschläge und Präzedenzfälle werden grenzüberschreitend ausgetauscht. Es ist bei der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fälle ganz natürlich, auf das Fallrecht der internationalen Gerichte aber auch ausländischer Gerichte zurückzugreifen, um Rechtsfragen zu klären. Die Offenheit der Verfassungsinterpretation ist aber noch grundsätzlicher. Der Verfassungsrichter wendet insbesondere bei der Arbeit mit Grundrechten oder Verfassungszielen offene, auslegungsbedürftige Prinzipien an. Nachdenken über Menschenwürde wird sich überall auf der Welt häufig auch auf Kant beziehen und die Diskussion von Gleichheitsproblemen beginnt nicht selten bei Aristoteles. Die Tatsache, dass fremde Interpretationen für eine fremde Verfassung ergangen sind, bleibt natürlich ernst zu nehmen. Das bedeutet, dass in der Regel der Blick auf die Interpretation anderer Gerichte nur ein informierender sein kann, keiner der die eigene Interpretation bestimmt. Und eine Erweiterung des Horizonts ist immer hilfreich. Aber das gilt eben nur in der Regel. Ausländische Erfahrungen können auch ein genuines rechtliches Argument werden. Brücke ist zum Beispiel das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Wenn ausländische Erfahrungen zeigen, dass eine Maßnahme ungeeignet oder nicht erforderlich ist, kann das ihre Verhältnismäßigkeit in Zweifel ziehen. Allerdings wird dieses Argument in der Praxis zwar häufig angeführt, ist aber selten erfolgreich. Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist große Zurückhaltung gegenüber dem Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers nötig, und angesichts der nie völlig vergleichbaren wirtschaftlichen und so­ zialen Gegebenheiten in zwei verschiedenen Ländern wird die Annahme des Gesetzgebers, ein im Ausland funktionierendes Modell werde dies im Inland nicht tun, oder man könne mit einer Vorschrift erfolgreich sein, die im Ausland versagt hat, häufig nicht zu widerlegen sein. Ausländisches Verfassungsrecht ist auch dann von unmittelbarer Bedeutung, wenn die Verfassung selbst auf ausländische Standards verweist. Verfassungen, die die Formulierung der Menschenrechtspakte in die eigene Verfassung übernehmen, verwenden dabei für die Einschränkungsklausel nicht selten die Formulierung des internationalen Paktes, nach der nur in einer „demokratischen Gesellschaft“ notwendige Einschränkungen zulässig seien. Im internationalen Pakt ist dies notwendigerweise ein Standard, der auf internationalen Vergleich zielt, aber diesen Charakter ändert er nicht, wenn er in eine nationale Verfassung übernommen wird. Ein weiteres Bespiel könnten Grenzen der verfassungsändernden Gewalt sein. Als das Grundgesetz 1949 in einer historischen Ausnahmesituation solche Grenzen einführte, stand es damit noch ziemlich allein, inzwischen sind solche Grenzen häufig.36 35   Mit grundlegender Klarheit, die später gelegentlich verloren ging: BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung [1987]. 36   Vicky Jackson, Unconstitutional Constitutional Amendments, Fs. f. Bryde, 2003, S.  47 ff.; dass die „meisten“ Verfassungen heute solche Schranken enthalten, wie Dawn Oliver/Carlo Fusaro, Comparative Analysis, in: dies. (Hrsg.), How Costitutions Change, 2013, S.  391 meinen, dürfte dennoch übertrieben sein.

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Wenn Gerichte aber dem verfassungsändernden Gesetzgeber Grenzen ziehen, bedarf das besonderer Zurückhaltung. Dafür bietet sich ein vergleichender Maßstab an. Wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber an Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat oder Menschwürde gebunden wird, dann ist das Argument, dass die gewählte Lösung in anderen demokratischen Gesellschaften anerkannt ist, immer ein gutes Argument zur Verteidigung.37 Die Bedeutung der 5. Auslegungsmethode38 geht also über den der erfreulichen Horizonterweiterung hinaus.

IV.  Die Bedeutung der Verfassungsvergleichung für Europarecht und Völkerrecht Die völker- und europarechtliche Entwicklung internationaler Menschenrechtsverbürgungen ist nicht nur Antrieb für die Internationalisierung von Verfassungspolitik und Verfassungsauslegung. In diesem Prozess gewinnt vielmehr auch die Verfassungsvergleichung Bedeutung für das internationale Recht. Am deutlichsten ist dies im Europarecht. Der EuGH hat die ungeschriebenen Grundrechte zunächst durch Verfassungsvergleichung gewonnen, diese sind inzwischen – auf der Basis intensiver Verfassungsvergleichung in die Grundrechtecharta übernommen worden und beeinflussen nunmehr wiederum die Verfassungsrechtsprechung der Mitgliedstaaten.39 Auch für die völkerrechtlichen Menschenrechtspakte ist die Verfassungsvergleichung von Bedeutung. Sie sind ebenfalls das Ergebnis eines vergleichenden Blicks in unterschiedliche Rechtsordnungen. Ihre Auslegung durch Gerichte, die mit Richterinnen aus unterschiedlichen Rechtstraditionen besetzt sind, ist ein ständiger verfassungsvergleichender Vorgang. Wird dieser nicht ernst genommen, entstehen leicht Defizite. Darüber hinaus fördert die Tatsache, dass mit den Menschenrechtsverträgen gleichlautende Formulierungen nunmehr in vielen Ländern der Erde als nationales Verfassungsrecht bearbeitet und ausgelegt werden, auch die Wirksamkeit von völkerrechtlichen Menschenrechten: Es entsteht auf diese Weise nämlich weltweit ein Fallrecht und eine Dogmatik, die die internationalen Gerichte und Überwachungsgremien mangels Fallmaterials kaum zur Entstehung gebracht hätten, an das sie aber nun ihrerseits bei ihrer Arbeit anknüpfen können.

V. Schluss Wissenschaftler brauchen zwar grundsätzlich keine Legitimation dafür, sich mit irgendeinem Gegenstand zu beschäftigen: Neugier reicht. Man muss also Verfassungsvergleichung nicht damit rechtfertigen, dass man aus der Vergleichung für das eigene 37   So konsequent bei der Auslegung von Art.  79 Abs.  3 GG Karl E. Hain, VMKS, Art.  79 Abs.  3 Rn.  58. 38   Peter Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, JZ 1989, 913. 39   Vgl. das Spanische Verfassungsgericht in der Entscheidung Pleno Sentencia 53/2000 v. 27.2.2002.

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System lernen oder sie bei der Verfassungsinterpretation einsetzen kann. Aber die Internationalisierung des Verfassungsrechts erlaubt eine provinzielle Verengung der verfassungsrechtlichen Arbeit nicht mehr.

Debatte: Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts?

Steuerrecht und Verfassungsrecht von

Prof. Dr. Andreas Musil, Universität Potsdam Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 II. Das Verfassungsrecht in der steuerrechtlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 1. Entwicklungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 2. Der Gleichheitssatz als magna charta des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 3. Versuch der Aktivierung der Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 4. Das Rückwirkungsverbot als Dauerproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 III. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 1. Das Bundesverfassungsgericht und das Steuerverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2. Tendenzen einer Anbindung des Gleichheitssatzes an die allgemeine Dogmatik . . . . . . . . . . . . 452 IV. Möglichkeiten einer Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1. Das Folgerichtigkeitsgebot - keine Forderung nach Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 2. Die Freiheitsrechte – kein trag fähiger Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 3. Keine Folgerichtigkeit in der Zeit – Rückkehr zur allgemeinen Rückwirkungsdogmatik . . . . . . . 454 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

I. Einleitung Wird man gefragt, wie das Verhältnis von Verfassungsrecht und Steuerrecht in der Rechtswissenschaft diskutiert werde, kann man keine einfache Antwort geben. Wer sich in der Teildisziplin des Steuerrechts bewegt und an den entsprechenden Diskursen teilnimmt, hat den Eindruck, dass es einen weittragenden Konsens über die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Einhegung der gesetzgeberischen Tätigkeit im Bereich des Steuerrechts gibt.1 Angesichts eines von vielen geteilten Befundes, das Steuerrecht sei unsystematisch, zerklüftet und rechtsstaatlich defizitär, erscheint vielen das Verfassungsrecht als Mittel, vielleicht sogar Waffe, um gesetzgeberischen Fehlentwicklungen entgegenzutreten. Diese Auffassung findet Anhänger nicht nur 1   Siehe statt vieler Tipke, Mehr oder weniger Gestaltungsfreiheit für den Steuergesetzgeber?, StuW 2014, 273 ff.

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im Kreise der Wissenschaft, sondern auch in weiten Bereichen von Berater- und Richterschaft. Gleichzeitig wird in Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die das Steuerrecht nur als Teildisziplin des Öffentlichen Rechts von außen wahrnehmen, deutlich, dass diese den Eindruck einer steuerverfassungsrechtlichen Sonderdogmatik artikulieren. Sie verstehen nicht, warum ein einzelnes Fachgebiet den Anspruch erhebt, andere verfassungsrechtliche Regeln zu haben als andere Disziplinen.2 Daraus wird zum Teil die Forderung abgeleitet, das Steuerrecht solle den Weg der Sonderdogmatik wieder verlassen und gewissermaßen in den Schoß der Staatsrechtswissenschaft zurückkehren. Andere sehen eher eine Vertiefung des Grabens als Lösung an, um ein zu starkes Ausstrahlen einer als nicht sachgerecht empfundenen Teildogmatik, etwa mit Blick auf den Gleichheitssatz, auf andere Sachmaterien zu verhindern. Die Kernfrage, die der unübersichtlichen Diskussionslage zugrunde liegt, richtet sich auf das richtige Maß an dirigierender Kraft, die das Grundgesetz gegenüber dem (Steuer-)Gesetzgeber entfaltet und entfalten soll. Umgekehrt gewendet geht es um den Gestaltungsspielraum, den der Steuergesetzgeber vor dem Hintergrund der Grundrechte und des Rechtsstaatsgebotes des Grundgesetzes wahrnehmen kann. Diese Diskussion hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Steuerrecht in der Tat gegenüber der allgemeinen Verfassungsdiskussion verselbständigt. Teilweise wird der Anschluss an die allgemeine Verfassungsdiskussion von wichtigen Akteuren des Steuerrechts gar nicht mehr gesucht. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, diskursive Brücken zu bauen und den Boden für einen argumentativen Austausch zu bereiten. Daran will der vorliegende Beitrag mitwirken. Zudem soll gezeigt werden, dass es nicht – wie häufig behauptet wird – um eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums geht, sondern umgekehrt um eine Rückführung der behaupteten verfassungsrechtlichen Restriktionen auf das ansonsten übliche Maß. Im Folgenden wird zunächst die Diskussionslage im steuerverfassungsrechtlichen Schrifttum, wie sie sich dem Verfasser darstellt, nachgezeichnet (II.). Sodann wird die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Debatte beleuchtet (III.). Auf dieser Grundlage kann gefragt werden, auf welche Weise die verfassungsrechtliche Diskussion wieder harmonisiert und entstandene Gräben überbrückt werden können. Dies wird anhand einiger Grundsatzfragen des Steuerverfassungsrechts inhaltlich exemplifiziert (IV.).

II.  Das Verfassungsrecht in der steuerrechtlichen Diskussion 1. Entwicklungsphasen Die darzustellende steuerverfassungsrechtliche Diskussion ist kein statischer Zustand, sondern kann als diskursive Entwicklung nachgezeichnet werden. Zudem sind die 2   So etwa Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, 175 (184); Lepsius, Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht, JZ 2009, 260 (261 f.); ders., Constitutional Review of Tax Laws and the Unconstitutionality of the German Inheritance Tax, in: German Law Journal, Vol 16 No. 05 (2015), 1191 ff.

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vertretenen Meinungen alles andere als homogen oder auch nur kompatibel. Jedoch lassen sich durchaus einige Fixpunkte der inhaltlichen Auseinandersetzung identifizieren. Hauptakteure der Diskussion waren und sind die Vertreter der Steuerrechtswissenschaft, allerdings spielt insbesondere die Finanzgerichtsbarkeit und hier der Bundesfinanzhof ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die folgende Betrachtung soll sich auf rechtsstaatliche und grundrechtliche Aspekte konzentrieren, die Finanzverfassung bleibt außer Betracht. Bis in die 1970er Jahre galt das Verfassungsrecht im steuerrechtlichen Kontext als wenig wirkmächtig. Die Anwendbarkeit der Freiheitsgrundrechte war durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsrechts auf Fälle erdrosselnder Wirkung und damit auf Randbereiche reduziert.3 Der Gleichheitssatz wurde im Sinne einer Willkürkontrolle angewandt.4 In dieser Situation unternahmen es einige Vertreter der Steuerrechtswissenschaft, das wissenschaftliche Fundament der Disziplin und auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen derselben zu konsolidieren. Die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft wurde gegründet; diese sah sich bald als Hüterin und Entwicklerin der Teildisziplin Steuerrecht und als Forum des Austauschs zwischen Theorie und Praxis. Inhaltlich stand auch der Ausbau verfassungsrechtlichen Schutzes der Steuerbürger vor zu weitgehenden Eingriffen des Fiskus und insbesondere des Steuergesetzgebers in ihre Rechte im Vordergrund. Die Bemühungen mündeten in einigen, mitunter auch kon­kurrierenden Kodifizierungsvorhaben, die das gesamte Steuerrecht einer rationaleren und verfassungsgemäßeren Ausgestaltung zuführen sollten.5 Die Bundestagswahl 2005 markiert einen gewissen Wendepunkt in dieser Entwicklung. Die Politik erteilte in deren Folge der Idee einer umfassenden und rationalen Kodifikation des Steuerrechts eine Abfuhr. Die mit viel Aufwand erarbeiteten Gesetzentwürfe der Wissenschaft wurden auch von den politischen Vertretern konservativ-liberaler Gesellschaftsvorstellungen nicht weiter rezipiert.6 Mittlerweile darf diese Phase der Entwicklung der Steuerrechtswissenschaft als überwunden angesehen werden.7 Gleichwohl lebt die Idee einer Konstitutionalisierung des Steuerrechts und einer Zurückdrängung einer zu weitreichenden Gestaltungsmacht des Gesetz­ gebers fort.8

  Ständige Rspr. des Ersten Senats, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88, BStBl. II 1995, 758, siehe auch BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1978 – 1 BvR 335, 427, 811/76, BVerfGE 50, 57 (77). 4   Siehe etwa BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1978 – 1 BvR 335, 427, 811/76, BVerfGE 50, 57 (77). 5  Zusammenfassend Kube, Entwürfe für ein neues Einkommensteuergesetz, BB 2005, 743 ff. 6   So ließ die Unternehmensteuerreform 2008 die Vorschläge weitgehend unbeachtet, vgl. Unternehmensteuerreformgesetz vom 14. August 2007, BGBl. I 2007, 1912. 7  Vgl. eindrücklich Piltz, Voraussetzungen für das Gelingen einer Steuerreform – Ursachen des Scheiterns bisheriger Reformüberlegungen, in: DStJG 37 (2014), 405 ff.; siehe auch die anderen Beiträge in diesem Band zum Thema „Erneuerung des Steuerrechts“. 8   So etwa Seiler in seinem jüngst gehaltenen Referat vor der Staatsrechtslehrervereinigung in Speyer zum Thema „Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegen­ bewegungen – Steuerrecht“, Thesen abruf bar unter www.staatsrechtslehrer.de. 3

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Allerdings werden mittlerweile auch solche Strömungen immer stärker sichtbar, die die bisherige Diskursrichtung als zu einseitig ansehen.9 Zudem wird bemängelt, dass das Steuerrecht eine Sonderdogmatik ausgebildet habe, die sich nicht mehr an die allgemeine Verfassungsrechtsdogmatik anschließen lasse. Eine Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln des Öffentlichen Rechts tue not.

2.  Der Gleichheitssatz als magna charta des Steuerrechts Wer die Besonderheiten des Steuerverfassungsrechts verstehen will, muss zunächst den Gleichheitssatz in den Blick nehmen. Aufgrund seiner überragenden Bedeutung für das Steuerverfassungsrecht wurde er auch als magna charta des Steuerrechts bezeichnet.10 Der Eindruck der Sonderdogmatik ereilt den nur mit der allgemeinen Grundrechtsdogmatik Vertrauten schon bei der Sichtung erster Beispielskonstella­ tionen aus dem Bereich der Einkommensteuer. So ist nicht auf den ersten Blick einsichtig, dass der Gleichheitssatz die Abziehbarkeit von für den Erwerb notwendigen Aufwendungen fordere, oder dass indisponible Privataufwendungen aufgrund des Gleich­heitssatzes von der Bemessungsgrundlage abziehbar sein müssten. Es bedarf mehrerer Ableitungsschritte, um die genannten Ergebnisse zu erzielen. So lässt sich die gesetzgeberische Statuierung von Steuerzahlungspflichten mit dem Leistungs­ fähigkeitsprinzip begründen, das besagt, dass jeder nur entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit (= Zahlungsfähigkeit) zur Steuerzahlung heranzuziehen ist.11 Das Leistungsfähigkeitsprinzip bedarf allerdings der Konkretisierung, soll es als gleich­heitsrechtlicher Maßstab angewendet werden. In der Steuerrechtswissenschaft werden dem Prinzip deshalb bereichsspezifische Unterprinzipien entnommen, die die Rechtsanwendung leiten sollen. Genannt seien für das Einkommensteuerrecht das objektive und subjektive Nettoprinzip.12 Das erstgenannte verlangt die erwähnte Abziehbarkeit von Erwerbsaufwendungen, das zweite die Abziehbarkeit indisponiblen Privataufwands. Namentlich Klaus Tipke und ihm folgend die von ihm begründete sogenannte „Kölner Schule“ hat diese Prinzipienorientierung zu einer aus dem Gleichheitssatz zu folgernden Systemorientierung der gesamten Steuerrechtsordnung weiterentwickelt.13 Die Prinzipien und Unterprinzipien werden zu einem mit Gerechtigkeitsvorstellungen angereicherten Gesamtsystem verdichtet, aus dem sich eine gute und verfassungskonforme Steuerrechtsordnung qua Auslegung ableiten lassen soll. Die Prinzipien selbst, also auch objektives und subjektives Nettoprinzip, genießen damit faktisch Verfassungsrang. Jede Änderung des Einkommensteuergesetzes, die beispielsweise die Abziehbarkeit von Erwerbsaufwand oder indisponiblem Privatauf  Siehe allgemein Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, passim.  So Herzog, in: Bund der Steuerzahler, VI. Deutscher Steuerzahler-Kongreß 1991, 11; siehe auch Weber-Grellet, Steuerrecht im modernen Verfassungsstaat, Köln 2001, 32. 11  Grundlegend Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Köln 1983, passim. 12   Siehe dazu Hey, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  8 Rn.  42 ff. 13   Siehe etwa Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band I, 2.  Aufl. Köln 2000, 111, 312 ff.; Lang, Das Anliegen der Kölner Schule: Prinzipientreue des Steuerrechts, StuW 2013, 53–60. 9

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wand beschränkt oder reglementiert, ist verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Diese Vorgehensweise hat in der Steuerrechtswissenschaft, aber auch in Teilen der Steuerrechtspraxis und Rechtsanwendung Gefolgschaft gefunden. Deshalb nimmt es nicht Wunder, dass es manchem, der sich beruflich vorwiegend mit dem Steuerrecht und weniger mit der Grundrechtsdogmatik im Allgemeinen beschäftigt, als selbstverständlich erscheint, wenn die meisten Gesetzesänderungen dem prinzipienorientierten Systemmaßstab nicht genügen. Das Verfassungswidrigkeitsverdikt für solche Gesetze, die nicht Ausfluss einer übergeordneten gestalterischen Kraft, sondern eines politischen Aushandlungsprozesses sind, ist geradezu vorgezeichnet. Schon angesichts dieses Befundes muss man Zweifel haben, ob diese Herangehensweise an das Steuerverfassungsrecht zutreffend sein kann. Die Forderung nach Systemgerechtigkeit als Grundlage der verfassungsrechtlichen Beurteilung ist in dieser Form aber auch theoretisch abzulehnen. Sie geht von der nicht zu verifizierenden These aus, dass sich aus den genannten Prinzipien ein verfassungsrechtlich maßstäbliches Gesamtsystem ableiten lässt. Eine solche Vorstellung widerspräche der Funk­ tion der Grundrechte, den Gesetzgeber zwar in seiner Tätigkeit Schranken zu unterwerfen, diesen aber nicht grundlegend vorab an bestimmte – meist politisch vor­ geprägte – Wertentscheidungen rückzubinden. Eine derart enge Rückbindung lässt sich dem Grundgesetz gerade nicht entnehmen. Eine andere Frage ist dann, wie weit die gleichheitsrechtlichen Restriktionen stattdessen reichen. Hier hält die allgemeine Gleichheitsdogmatik hinreichende Maßstäbe bereit. So enthält der Gleichheitssatz nach gefestigter Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mittlerweile nicht nur ein Willkürverbot, sondern gebietet mitunter eine vom Verhältnismäßigkeitsprinzip geleitete Prüfung eines sachlichen Grundes für eine Ungleichbehandlung.14 Bei der notwendigen Vergleichsgruppenbildung kann ein Rückgriff auch auf bereichsspezifische gesetzgeberische Grundentscheidungen erfolgen. Das Nettoprinzip hat bei dieser Lesart zwar keinen Verfassungsrang, entfaltet aber eine eingeschränkte Selbstbindung, solange und soweit der Gesetzgeber diese Grundentscheidung im Kontext einer konkreten Norm als Regelfall normieren will. Dies ist Inhalt des sogenannten Folgerichtigkeitsgebots. Folgerichtigkeit bedeutet wohlgemerkt etwas anderes als Systemgerechtigkeit, wie noch zu zeigen sein wird.15 Es geht nicht um eine Stringenz eines Gesamtsystems, sondern um gesetzgeberische Entscheidungsrationalität bezogen auf die Einzelnorm.

3.  Versuch der Aktivierung der Freiheitsrechte Schon früh wurde in der Steuerrechtswissenschaft ein freiheitsrechtlicher Weg der Konstitutionalisierung des Steuerrechts beschritten. Namentlich Paul Kirchhof hat versucht, die bislang als Allgemeingut geltende Aussage von der Maßstabsarmut der 14   Siehe ausführlich und m. w. N. BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12, BGBl. I 2015, 4; BStBl. II 2015, 50, Rn.  121 ff. 15  Siehe etwa Wernsmann, Konstitutionalisierung des Steuerrechts und Gegenbewegungen, DVBl. 2015, 1085 (1089); Thiemann, Rechtmäßigkeit der Besteuerung von Erstattungszinsen nach §  233a AO, FR 2012, 673 (677 ff.).

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Freiheitsrechte für das Steuerrecht zu entkräften.16 Vor allem mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Schutz des Erworbenen hat er versucht darzulegen, dass die Eigentumsfreiheit des Art.  14 Abs.  1 GG hierfür hinreichende Maßstäbe bereithalte. Der These, Art.  14 Abs.  1 GG schütze nur gegen eine erdrosselnde Besteuerung, ist er schon früh entgegengetreten. Vielmehr sei der Schutzbereich der Eigentums­ freiheit im Sinne einer Eigentümerfreiheit als Handlungsfreiheit im vermögensrechtlichen Bereich zu verstehen. Erworbenes und hinreichen konsolidiertes Vermögen sei auch als solches vom Schutzbereich erfasst. Maßstab der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung sollte ein sogenannter Halbteilungsgrundsatz sein, der es gebiete, dass der Staat dem Einzelnen im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums („und zugleich“) höchstens die Hälfte des Erworbenen im Rahmen der Überwälzung von Abgabenlasten wieder entziehe. Dieser Halbteilungsgrundsatz hat im Rahmen eines obiter dictum auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefunden.17 Mittlerweile darf der Halbteilungsgrundsatz, nicht aber die Forderung nach freiheitsrechtlicher Fundierung von Schranken für den Steuergesetzgeber, in der Steuerrechtswissenschaft als überwunden gelten. Der Halbteilungsgrundsatz mag Ausdruck einer vertretbaren wirtschaftlichen Grundhaltung zum Verhältnis von Gemeinwohl und Eigennutz sein, aus dem Grundgesetz ist er nicht ableitbar.18 Ohne einen derartigen Maßstab bleiben die Freiheitsrechte zumindest mit Blick auf die Belastungswirkungen von Steuern, nicht hingegen gegenüber der Verfolgung von sachpolitisch motivierten Lenkungszwecken, weitgehend wirkungslos. Zwar mag noch zu argumentieren sein, dass die Normierung von Steuerzahlungspflichten aus Anlass des Hinzuerwerbs in das Eigentumsrecht eingreife, weil der Betroffene nun gezwungen sei, einen Teil des von Art.  14 Abs.  1 GG geschützten Erworbenen wieder herauszugeben.19 Spätestens bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung versagt jedoch die sonst so wirkmächtige Begrenzungskraft der Freiheitsrechte. Dies liegt an der allgemeinen Zweckbestimmung der Steuer als Mittel der Einnahmeerzielung. Gegenüber diesem Einnahmezweck müssen abwägungsrelevante Einzelinteressen regelmäßig zurücktreten. Zwar ist es richtig, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, die Angemessenheit könne zu verneinen sein, wenn sich die Statuierung von Steuerlasten vor dem Hintergrund der globalen Situation der Staatsfinanzen nicht mehr rechtfertigen lasse.20 Ein solches Verdikt wird man jedoch nur im Ausnahmefall aussprechen können. Letztlich schützen die Freiheitsrechte, und hier insbesondere das Eigentumsgrundrecht, nach wie vor wirkungsvoll nur gegen erdrosselnde Steuern.21   Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), 213 (226 ff.).   BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138). 18   So bereits das Sondervotum von Böckenförde zu BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (157); nun auch BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (109 f.). 19   So insbesondere der Zweite Senat des BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (110 ff.). 20   BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (115). 21   Derartige Steuern kommen allerdings äußerst selten vor: Zu dem Fall einer erdrosselnden Kampfhundesteuer, in dem das Gericht allerdings bereits die Gesetzgebungskompetenz verneint, siehe BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2014, 9 C 8/13, BVerwGE 150, 225. 16 17

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Auch ein Versuch, die Begrenzungswirkung zu erhöhen, indem man der Steuerrechtsordnung einen einheitlichen Belastungsgrund entnehmen will, der durch die Steuerrechtsordnung umzusetzen ist, erscheint wenig erfolgversprechend. Einen solchen allgemeinen Belastungsgrund gibt es nicht. Vielmehr knüpft der Gesetzgeber an verschiedene Ausprägungen von Zahlungsfähigkeit an und darf dies auch tun. Diese Gründe der Zahlungsfähigkeit mögen partiell finanzwissenschaftlich verknüpft sein, die Rückführung auf einen einzigen Grund, nämlich den Hinzuerwerb, überzeugt nicht. Etwa vorkommende „Doppelbelastungen“ des Vermögens mit Steuerzahlungspflichten unterschiedlicher Provenienz sind deshalb nicht ohne Weiteres unzulässig, sondern nur, wenn sich im konkreten Einzelfall nachweisen lässt, dass tatsächlich an dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit angeknüpft wird. Das ist beispielsweise bei Einkommensteuer und Erbschaftsteuer, aber auch bei Einkommensteuer und Vermögensteuer, grundsätzlich nicht der Fall.22

4.  Das Rückwirkungsverbot als Dauerproblem Steuerverfassungsrechtliche Kontroversen entspinnen sich seit langem auch um die Reichweite und Bedeutung des Rückwirkungsverbots.23 Hier hat in der Vergangenheit die Neigung zur Herausbildung einer Sonderdogmatik im Steuerrecht bestanden, die es zu hinterfragen gilt. Generell wird in der allgemeinen Verfassungsrechtsdogmatik zwischen echter und unechter Rückwirkung unterschieden.24 Die Un­ terscheidung wirkt sich auf den verfassungsrechtlichen Zulässigkeitsmaßstab aus. Wäh­rend echte Rückwirkungen oder eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen regelmäßig unzulässig sind, kann eine unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich zulässig sein. Im steuerrechtlichen Schrifttum wird demgegenüber seit langem ein sogenannter dispositionsbezogener Ansatz vertreten. Der Steuerpflichtige treffe wirtschaftliche Dispositionen auch mit Blick auf die Ausgestaltung der geltenden Steuerrechtsordnung und bilde ein Vertrauen in den Fortbestand der geltenden Regelungen aus. Dieses Vertrauen sei grundsätzlich schutzwürdig und müsse sich nicht nur auf die Zulässigkeit echt rückwirkender Rechtsänderungen, sondern auch tatbestandlich rückanknüpfende künftige Regelungszeiträume auswirken. Die Normierung einer unechten Rückwirkung wird durch diesen Ansatz erschwert.25 In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gegeben, die zu einer Neujustierung der Rückwirkungsdogmatik im steuerlichen Bereich geführt hat. Die Zulässigkeitsanforderungen für eine unechte Rückwirkung wurden erheblich verschärft.26 Dem ist die Literatur teils mit Zustimmung, 22   Zur Vermögensteuer Musil, Verfassungsrechtliche Grenzen einer möglichen Vermögensbesteuerung, DB 2013, 1994 ff. 23  Grundlegend Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, Köln 2002, passim. 24  Zusammenfassend Schnapp, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art.  20 GG, Rn.  41 ff.; SchulzeFielitz, in: Dreier, Art.  20 GG, Rn.  151 ff. 25   Vgl. m. w. N. etwa Drüen, Rechtsschutz gegen rückwirkende Gesetze – Eine Zwischenbilanz, StuW 2006, 358 (361). 26   Siehe die drei Entscheidungen aus dem Jahre 2010, BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvL

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teils mit Skepsis begegnet.27 Die geäußerte Skepsis ist berechtigt, da die beschrittene Rechtsprechungslinie die Gefahr einer zu starken Beschneidung gesetzgeberischer Handlungsspielräume in der Zeit beinhaltet. Insbesondere darf ein zu engmaschig ausgestalteter Vertrauensschutz nicht dazu führen, dass ein späterer Gesetzgeber an die Grundentscheidungen eines früheren gebunden wird. Das wird vor allem bei Regierungswechseln besonders bedeutsam. Ein besonderes Problem stellt sich hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Restriktionen für rückwirkend klarstellende Gesetze, deren klarstellender Charakter zwischen den Beteiligten strittig ist. In der Tat hat es in der Vergangenheit Fälle gegeben, die aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklich erschienen. Der Gesetzgeber legte einem aus seiner Sicht nur klarstellenden Gesetz Rückwirkung auch für lange zurückliegende Zeiträume bei, um im Nachhinein einen Konflikt – meist zwischen Finanzverwaltung und Rechtsprechung – um die zutreffende Auslegung der Altregelung verbindlich zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass der klarstellende Charakter einer Norm von der Rechtsprechung zu beurteilen sei und der Gesetzgeber sich hierüber nicht hinwegsetzen könne.28 Diese Lösung erkauft die Erreichung des an sich legitimen Ziels einer Verbesserung rechtsstaatlichen Schutzes für den Bürger mit einer zu starken Akzentuierung der Rechtsprechungskompetenzen gegenüber dem Gesetzgeber.29 Sie sollte nachjustiert werden.

III.  Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts 1.  Das Bundesverfassungsgericht und das Steuerverfassungsrecht An einigen Stellen wurde die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bei der Entwicklung des Steuerverfassungsrechts bereits angerissen. Im Folgenden soll der Versuch einer Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Steuerrechts unternommen werden. Dieser muss notwendigerweise holzschnittartig erfolgen. Außer Betracht bleiben hierbei Aspekte des Steuerverfahrensrechts und steuerlicher Lenkungsnormen, weil hier häufig eine Kongruenz zwischen Steuerverfassungsrecht und der allgemeinen Verfassungsrechtsdogmatik festzustellen ist. Von Interesse ist hier vor allem die Belastungsdimension der Steuern als solche. Betrachtet man die Rechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz, so lässt sich feststellen, dass das Gericht die in der Literatur vertretene Prinzipienorientierung und die daraus abgeleitete Systemorientierung des Steuerrechts nicht mitvollzieht.30 14/02, 2/04, 13/05, BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvL 1/03, 57, 58/06, BVerfGE 127, 1; BVerfGE 127, 31; BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvR 748, 753, 1738/05, BVerfGE 127, 61. 27  Siehe etwa Desens, Die neue Vertrauensschutzdogmatik des Bundesverfassungsgerichts für das Steuerrecht, StuW 2011, 113 ff.; Musil/Lammers, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rückwirkung von Steuergesetzen am Beispiel der §§  17, 23 EStG, BB 2011, 155 ff. 28   BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1. 29  So auch das Sondervotum von Masing zu BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (29 ff.), sehr kritisch auch Lepsius, Zur Neubegründung des Rückwirkungsverbots aus der Gewaltenteilung, Besprechung von BVerfG, Beschluss vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, JZ 2014, 488 ff. 30  Ebenso Wernsmann (Fn.  15), 1089.

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Vielmehr vollzieht das Gericht die Gleichheitsprüfung in zwei Schritten. Die grundlegende Belastungsentscheidung des Gesetzgebers, die sich in der Wahl des Steuergegenstands und der Festlegung des Tarifs manifestiert, unterliegt nur der verfassungsrechtlichen Willkürkontrolle. Dichter wird der Kontrollmaßstab bei der Beurteilung der weiteren gesetzgeberischen Umsetzung der getroffenen Belastungsentscheidung. Hier kann die Gleichheitskontrolle auch mit Verhältnismäßigkeitserwägungen unterlegt sein.31 Zudem greift das Bundesverfassungsgericht immer wieder auf den Folgerichtigkeitsgrundsatz zurück, um eine gewisse Selbstbindung des Gesetzgebers zu begründen.32 So hat das Gericht zwar immer offengelassen, ob das objektive Nettoprinzip Verfassungsrang besitze, dem Prinzip aber zumindest im Zusammenhang mit dem Folgerichtigkeitsgebot eine gewisse dirigierende Kraft zugewiesen.33 In der Vergangenheit sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Gleichheitssatz teilweise als zu großzügig, teilweise als zu streng eingestuft worden. Es wurde auch bemängelt, das Gericht finde keine einheitliche Linie. Dem ist indes entgegenzuhalten, dass der Gleichheitssatz, wenn er nicht als systemgeprägt verstanden wird, keine einheitliche Linie beinhalten kann. Vielmehr ist nach den zutreffenden Vergleichsgruppen zu suchen und dem folgend eine Beurteilung der Gleichbzw. Ungleichbehandlung vorzunehmen. Im Zuge dessen hat das Gericht in den vergangenen Jahren einige wichtige Gesetze scheitern lassen, wie etwa die Abschaffung der Entfernungspauschale34 oder die Einschränkung des häuslichen Arbeitszimmers.35 In anderen Fällen wurden die Erwartungen vieler Steuerverfassungsrechtler nicht erfüllt, etwa als das Gericht eine Vorlage des Bundesfinanzhofs zur Mindestbesteuerung nicht annahm.36 Insgesamt kann aber der Befund einer ausgewogenen und austarierten Rechtsprechung gezogen werden, die sich immer um Anschlussfähigkeit zur allgemeinen Gleichheitsdogmatik bemüht hat. Im Bereich der Freiheitsgrundrechte war die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst restriktiv. Nur bei erdrosselnder Besteuerung konnten sie eine Schutzwirkung zugunsten der Steuerpflichtigen entfalten. Der Erste Senat war und ist der Auffassung, dass namentlich die Eigentumsfreiheit des Art.  14 Abs.  1 GG nicht das Vermögen als solches schütze, so dass im Zuge der Statuierung von Steuerzahlungspflicht schon kein Grundrechtseingriff vorliege.37 Der Zweite Senat hat in mehreren Entscheidungen abweichend hiervon festgehalten, ein Grundrechtseingriff könne auch jenseits erdrosselnder Wirkung vorliegen.38 Allerdings wurde der zwischenzeitlich im Rahmen eines obiter dictum statuierte Halbteilungsgrundsatz wie31   So etwa BVerfG, Beschluss vom 21. Juli 2010 – 1 BvR 611, 2464/07, BVerfGE 126, 400 (416 f.) m. w. N.; BVerfG, Urteil vom 6. März 2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 (126). 32   BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvL 2/99, BVerfGE 116, 164 (180 f.) m. w. N. 33   BVerfG, Urteil vom 9. Dezember 2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210 (242). 34   BVerfG, Urteil vom 9. Dezember 2008 – 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08, BVerfGE 122, 210. 35   BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010 – 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268. 36   BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2010 – 2 BvL 59/06, BVerfGE 127, 335. 37   Ständige Rspr. des ersten Senats, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88, BStBl. II 1995, 758. 38   Siehe insbesondere BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (110 ff.).

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der fallen gelassen. Die stattdessen vorzunehmende Verhältnismäßigkeitsprüfung bleibt – wie bereits ausgeführt – in den meisten Fällen ohne durchgreifende Schutz­ wirkung. Generell kann festgehalten werden, dass das Bundesverfassungsgericht jenseits des Steuerverfahrensrechts und des Feldes steuerlicher Lenkung kaum auf Freiheitsrechte zurückgreift, um verfassungsrechtliche Restriktionen für den Steuergesetzgeber zu formulieren. Ganz anders ist der Befund im Bereich der Rückwirkungsdogmatik. Hier hat sich das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren geradezu als Motor für eine Neujustierung der Dogmatik erwiesen. Beginnend mit drei Entscheidungen aus dem Jahre 2010 wurde der Rückwirkungsschutz zugunsten der Steuerpflichtigen ausgeweitet.39 Zwar hielt das Gericht formal an der Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung fest und betonte auch, dass weiterhin eine veranlagungszeitraumbezogene Betrachtung nötig sei. Gleichzeitig wurden die materiellen Anforderungen an die Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung und auch die Voraussetzungen für deren Vorliegen verschärft. So wurde der Rückwirkungsschutz auch auf solche Vermögenswerte ausgeweitet, deren steuerfreie Bildung vor dem Zeitpunkt der gesetzgeberischen Neuregelung erfolgt war. Dies führt dazu, dass insbesondere bei steuerlichen Dauertatbeständen wie etwa Veräußerungstatbeständen im Zuge einer Gesetzesänderung eine wertmäßige Aufteilung zu erfolgen hat, um eine periodenbezogene Entlastung zu erreichen. Das schränkt den gesetzgeberischen Handlungsspielraum erheblich ein. Weiterhin soll auch bei der unechten Rückwirkung immer eine Interessenabwägung zwischen Vertrauensschutzaspekten und dem gesetzgeberischen Interesse an der rückwirkenden Besteuerung notwendig sein.40 Die Sonderrechtsprechung zu rückwirkenden Klarstellungen wurde bereits dargestellt. Insgesamt hat man bei dieser Thematik den Eindruck, dass das Bundesverfassungsgericht die Rückwirkungsrechtsprechung als Mittel sieht, um speziell im Steuerrecht dem Gesetzgeber stärkere Fesseln anzulegen.

2.  Tendenzen einer Anbindung des Gleichheitssatzes an die allgemeine Dogmatik Besondere Aufmerksamkeit hat jüngst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaft- und Schenkungsteuer erregt.41 Das Gericht hielt die Regelungen über die Privilegierungen des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht in Teilen für verfassungswidrig. Im Übrigen wurden die entsprechenden Vorschriften aber in weiten Teilen für verfassungskonform erklärt. Im hier interessierenden Zusammenhang ist die Entscheidung vor allem wegen ihrer allgemeinen gleichheitsdogmatischen Herangehensweise von Interesse. Es fällt auf, dass das Folgerichtigkeitsgebot zwar erwähnt wird. In der Folgeprüfung wird aber entsprechend der all39   BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvL 14/02, 2/04, 13/05, BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvL 1/03, 57, 58/06, BVerfGE 127, 1; BVerfGE 127, 31; BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 – 2 BvR 748, 753, 1738/05, BVerfGE 127, 61. 40   BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302. 41  BVerfG, Urteil vom 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12, BGBl. I 2015, 4; BStBl. II 2015, 50, Rn.  121 ff. Siehe dazu die Besprechungen von Kube und Lepsius, in: German Law Journal 16 (2015) no. 5 (www.germanlawjournal.com).

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gemeinen Gleichheitsdogmatik auf der Grundlage der sogenannten „neuen Formel“ auf das Vorliegen eines sachlichen Grundes für die Ungleichbehandlung zweier Vergleichsgruppen unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abgestellt. Dem Gericht geht es erkennbar darum, die Rückbindung der Gleichheitsprüfung an die allgemeine Grundrechtsdogmatik herauszustellen. Das Folgerichtigkeitsgebot soll nicht als eigenständiges Verfassungsprinzip, sondern als Teil der gleichheitsrechtlichen Anforderungen verstanden werden. Insbesondere stellt es die gleichheitsrechtliche Verknüpfung zwischen der Belastungsgrundentscheidung und der konkreten Ausgestaltung der einzelnen steuerlichen Norm her. Diese Akzentuierung ist zu begrüßen.

IV.  Möglichkeiten einer Harmonisierung 1.  Das Folgerichtigkeitsgebot – keine Forderung nach Systemgerechtigkeit Vor dem Hintergrund der skizzierten Akzentuierung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollte es ein Anliegen auch der Steuerrechtswissenschaft sein, die Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes auf ihre allgemeinen grundrechtsdogmatischen Wurzeln zurückzuführen. Das bedeutet nicht, dass es keine sachmateriebezogenen Besonderheiten geben könnte. Es soll lediglich vermieden werden, unter Statuierung eines Erfordernisses der Systemgerechtigkeit das grundrechtliche Schutzniveau von den sonst gültigen Standards abzukoppeln. Hierfür findet sich im Grundgesetz keine Stütze. Der politische Prozess der Findung einer gerechten Lösung muss in weitem Umfang dem Gesetzgeber überlassen bleiben. Im Folgenden sei skizziert, wie die bereichsspezifisch konkretisierte Gleichheitsdogmatik im Steuerrecht aussehen könnte. Ausgehend von dem Erfordernis der Lastengleichheit ist der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstands und der Festsetzung der Belastungshöhe in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht nur einer Willkürkontrolle unterworfen. Auf der zweiten Stufe muss diese Belastungsentscheidung jedoch gleichheitskonform umgesetzt werden, weil durch die Belastung die Steuerschuldner in eine Gleichheitsrelation zueinander gebracht werden. In diesem Sinne rückt das Folgerichtigkeitsgebot in das Zentrum der Betrachtung. Es besagt nicht, dass alle Steuerpflichtigen im Sinne eines kohärenten Systems gleich zu belasten wären. Vielmehr hat der Gesetzgeber die einzelne Norm eingedenk seiner zuvor getroffenen grundsätzlichen Belastungsentscheidung auszugestalten. Dies folgt daraus, dass die zuvor getroffene Belastungsgrundentscheidung den Kreis der Steuerpflichtigen als Vergleichsgruppe vordeterminiert und so eine Vergleichbarkeit dieser Personengruppe schafft. Aus dem Gesetz muss sich ableiten lassen, ob es sich im Rahmen der Belastungsentscheidung bewegen soll, oder ob es sich aus bestimmten Gründen um eine Abweichung von der grundlegenden Belastungsentscheidung handelt.42 Umgekehrt erwachsen aus dem so konturierten Folgerichtigkeitsgebot maßvoll ausgestaltete Schranken für den Gesetzgeber, indem er wie sonst auch im Rahmen 42

  Siehe auch Thiemann (Fn.  15), 677 ff.

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der Vergleichsgruppenbildung auf das Vorhandensein eines sachlichen Grundes für Ungleichbehandlungen verpflichtet wird. So ist es begründungspflichtig, wenn bestimmte beruflich veranlasste Aufwendungen nicht zum Abzug bei der Einkommensteuer zugelassen werden, wenn dies bei anderen Aufwendungen ohne Weiteres der Fall ist. Lässt sich für die Abweichung keine tragfähige Begründung finden, liegt ein Gleichheitsverstoß vor.

2.  Die Freiheitsrechte – kein trag fähiger Maßstab Schon die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Freiheitsrechte nach wie vor im Bereich des Steuerrechts kaum wirkungsvolle Schutzmechanismen entfalten. Angesichts des legitimen Zwecks der Einnahmeerzielung geht die Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig ins Leere.43 Vor diesem Hintergrund sind die Meinungsverschiedenheiten über die Reichweite des Schutzbereichs der Eigentumsfreiheit und entsprechende Eingriffstatbestände eher von akademischer Bedeutung. Wenig erfolgversprechend erscheint es auch, aus dem Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Regelungen und steuersystematischen bzw. finanzwissenschaftlichen Grundaussagen verfassungsrechtlich bedeutsame Maßstäbe zu entwickeln. Vielmehr sind die normativen Aussagen ausschließlich aus dem Text der Verfassung abzuleiten. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend in der Vergangenheit – von den genannten Ausnahmen abgesehen – den Freiheitsrechten kaum Begrenzungen für den Steuergesetzgeber entnommen.

3.  Keine Folgerichtigkeit in der Zeit – Rückkehr zur allgemeinen Rückwirkungsdogmatik Von besonderer Brisanz ist derzeit die vom Bundesverfassungsgericht angestoßene Fortentwicklung der Rückwirkungsdogmatik. Es entsteht der Eindruck, dass der Gesetzgeber zu einer gewissen „Folgerichtigkeit“ in der Zeit verpflichtet werden soll. Auf der Grundlage einer dispositionsfreundlichen Sichtweise sollen Folgeänderungen bestehender Gesetze erschwert werden, und zwar nicht nur mit Blick in die Vergangenheit, sondern auch bezogen auf eine zukunftswirksame Änderung. Insbesondere soll der Gesetzgeber verpflichtet sein, bis zur Neuregelung bereits steuerfrei realisierte Wertsteigerung mit Wirkung für die Zukunft abzusichern. Dem ist nicht zu folgen. Auch die statuierten Anforderungen an die Abwägung bei unechter Rückwirkung berücksichtigen die Notwendigkeit gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit zu wenig. Gerade in zeitlicher Hinsicht ist die Sicherung von Gestaltungsspielräumen eine unverzichtbare Grundbedingung demokratischer Entscheidungsprozesse. Schließlich ist es zwar zutreffend, dass der Gesetzgeber in der Vergangenheit das Instrument der rückwirkenden Klarstellung in manchen Fällen nicht sachgerecht angewandt hat. Die nun vom Bundesverfassungsgericht gefundene Lösung, die die 43  Dazu Kube, Verhältnismäßigkeit von Steuern und Abgaben, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit – zur Tragfähigkeit eines verfassungsrechtlichen Schlüsselkonzepts, 2015, 157 ff.

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Interpretationsbefugnis weitgehend auf die Rechtsprechung verlagert, geht allerdings über das zur Problemlösung Erforderliche hinaus. Generell sollte das Bundesverfassungsgericht im Bereich der Rückwirkungsdogmatik den beschrittenen Sonderweg verlassen und zur auch sonst geltenden Rückwirkungsrechtsprechung zurückkehren. Jedenfalls bietet sich eine Übertragung der zum Steuerrecht gefundenen Rechtsprechungsgrundsätze auf andere Sachmaterien nicht an.

V. Fazit Die Steuerrechtswissenschaft und die Gerichte, hier insbesondere das Bundesverfassungsgericht, haben in den vergangenen Jahrzehnten die verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtlichen Schranken gesetzgeberischer Tätigkeit wesentlich fortentwickelt. Dabei wurde teilweise der Weg einer Sonderdogmatik beschritten, meist aus dem Bestreben heraus, dem Gesetzgeber Fesseln anzulegen, um Rechte der Steuerbürger zu schützen. Der Weg der Sonderdogmatik ist jedoch mit Problemen behaftet. Zwar ist das Schutzinteresse zugunsten der Steuerbürger legitim. Das Schutzniveau darf jedoch kein grundsätzlich anderes sein als bei anderen Sachmaterien. Die Regeln des politischen Prozesses und der politischen Aushandlung sind im Steuerrecht keine anderen als in anderen Lebensbereichen. Politische Entscheidungen sind hierbei keine zwingend rationalen oder sachgerechten. Dies ist aber im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie hinzunehmen. Politische Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten sind politisch als solche zu benennen, nicht aber notwendigerweise mit einem Verfassungswidrigkeitsverdikt zu belegen. Die Lösung steuerpolitischer Konflikte mit Mitteln des Verfassungsrechts führt zu Erstarrungen, die politische Entscheidungen – gerade in zeitlicher Perspektive – behindern. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die mit Sonderdogmatiken verbundenen Nachteile in zunehmendem Maße gesehen werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich schon lange um eine abgewogene Haltung zu Spezialerfordernissen des Sachgebiets Steuerrecht bemüht. Diese Bemühungen wurden mit Blick auf den Gleichheitssatz jüngst noch verstärkt. Bei der Rückwirkungsdogmatik allerdings bedürfen die vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Lösungen der Nachjustierung. Im Spannungsfeld zwischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einerseits und Schutz der Steuerbürger andererseits geht es um eine ausgewogene Balance, die dem auch sonst vom Grundgesetz gespannten Rahmen entspricht.

Das Steuerverfassungsrecht als dogmatisches Referenzgebiet des allgemeinen Verfassungsrechts von

Prof. Dr. iur. utr. Ulrich Palm, Universität Hohenheim Inhalt I. Entwicklung der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 II. Kategorien der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 III. Begriff der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 1. Rechtstheoretischer Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 2. Funktionen der Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 3. Besonderheiten der verfassungsrechtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 IV. Innovationen des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik . 463 1. Bereichsspezifische Anwendung des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 2. Gebot der Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 a) Selbstbindung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 b) Perspektive der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 c) Kritik an der Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 d) Verfassungspolitische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 e) Dogmatische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 3. Strukturelles Vollzugsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474

I.  Entwicklung der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik Das Steuerverfassungsrecht hat in den vergangenen 25 Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar von Anfang an zum Steuerrecht zu entscheiden,1 ließ dieses Gebiet dogmatisch jedoch in weiten Teilen unbearbeitet. Die Legislative war bei der Gestaltung der Steuergesetze kaum begrenzt. Demgemäß bezeichnete Klaus Vogel den Steuereingriff in der Erstauflage   Vgl. insbesondere BVerfGE 6, 55; 6, 386.

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des Handbuchs des Staatsrechts noch als „Ozonloch des Rechtsstaates“.2 Auch wenn dieses Bild zugespitzt sein mochte, waren normative Auswirkungen einer steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik in der Rechtsprechung des Gerichts bis dahin nur sehr spärlich zu verzeichnen.3 Demgemäß wurde auch der Finanzgerichtsbarkeit damals eine „Verfassungsabstinenz“ attestiert.4 Ganz anders fällt hingegen der Befund von Christian Waldhoff aus, wenn er 17 Jahre später in der dritten Auflage des Handbuchs eine verstärkte verfassungsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers und eine „kontinuierliche Effektuierung“ der steuerverfassungsrechtlichen Maßstäbe feststellt.5 Da der relevante Normtext in der Zwischenzeit nicht verändert wurde, hat sich demnach ein – rechtsendogener6 – Wandel vollzogen, den man mit Josef Esser als „Rechtsschöpfung“ qualifizieren kann. „[…] Auf der anderen Seite können auch principles, die als bloße guides des Rechtsdenkens entstanden sind (rhetorische und doktrinäre Maximen), durch ihre richterliche Ausprägung in einer Rechtsüberlieferung den Charakter von positiven Rechtsnormen erhalten (echte Rechts,schöpfung‘). […]“7.

Das Bundesverfassungsgericht hat insofern nicht nur dogmatische Sätze der Steuerrechtswissenschaft übernommen und im Rang von Verfassungsrecht normativ verbindlich gemacht, sondern selbst8 – insbesondere als Paul Kirchhof steuerrechtlicher Berichterstatter des Zweiten Senats war 9 – die Entwicklung der Dogmatik vorangetrieben.

II.  Kategorien der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik Die Neuerungen können dabei – worauf Oliver Lepsius aufmerksam macht10 – auf unterschiedlichen dogmatischen Ebenen angesiedelt sein. Zum einen finden sich „bereichsspezifische Anwendungen allgemeiner Grundsätze auf das Steuerrecht“. Ein bereits bestehendes dogmatisches Prinzip der Verfassung wird in diesem Fall – im Wege eines „top-down-approaches“ – modifiziert und für das Steuerrecht handhabbar gemacht. Zum anderen können im Rahmen der steuerverfassungsrechtlichen Rechtsprechung neue dogmatische Prinzipien entwickelt werden, so dass eine „verfassungsrechtliche Sonderdogmatik“ entsteht. Es stellt sich dann die Frage, ob die   Vogel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IV, 1990, §  87 Rn.  88.  Vgl. Wernsmann, DVBl. 2015, 1085. 4   Umbach/Clemens, in: dies. (Hrsg.), BVerfGG, 1992, Rn.  9. 5   Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3.  Aufl., 2007, §  116 Rn.  98, 104; vgl. auch die Neubewertung bei Vogel, Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, 1999, 23. 6  Vgl. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein …, 2006, 55 f. 7   Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 94. 8   Vgl. zur möglichen Beteiligung der Rechtsprechung an der Dogmatik Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Taschenbuchausgabe, 7.  Aufl., 2012, 313. 9   Vgl. die Zusammenfassung der Dogmatik in P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000; ders. AöR 128 (2003), 1 ff. 10  Vgl. den Tagungsbericht zum 5. Steuerwissenschaftlichen Symposium beim Bundesfinanzhof Schüler-Täsch/Schulze, DStR 2015, 1137, 1138 zum dort von Oliver Lepsius gehaltenen Referat, der die nachfolgenden in Anführungszeichen gesetzten Begriffe verwendet. 2 3

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Neuerungen – im Sinne eines „bottom-up-approaches“ – verallgemeinerungsfähig sind und auch auf nichtsteuerliche Rechtsgebiete übertragen werden können. Zusammenfassend lassen sich somit drei Kategorien an dogmatischen Innova­ tionen im Bereich des Steuerverfassungsrechts ausmachen: 1. steuerrechtliche Modifikationen allgemeiner verfassungsrechtlicher Prinzipen; 2. verfassungsrechtliche Prinzipien, die auf dem Gebiet des Steuerrechts ent­w ickelt wurden und verallgemeinerungsfähig sind; 3. steuerverfassungsrechtliche Prinzipien, die nicht verallgemeinerungsfähig sind. Im Folgenden soll die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet des Steuerrechts anhand dieser Einordnung beleuchtet und zugleich kritisch hinterfragt werden. Es lässt sich dann die Schlussfolgerung ziehen, inwieweit das Steuerverfassungsrecht als Referenzgebiet für das Verfassungsrecht dienen kann. Die Ausführungen werden sich dabei auf den Gleichheitssatz konzentrieren, dem in diesem Rechtsgebiet herausragende Bedeutung zukommt.11 Die freiheitsrechtlichen Innovationen des Bundesverfassungsgerichts, die insbesondere den Schutz von Ehe und Familie12 und die Frage nach einer Obergrenze der steuerrechtlichen Gesamtbelastung13 betreffen, sind steuerrechtsspezifisch und bilden daher grundsätzlich keinen Anknüpfungspunkt für das allgemeine Verfassungsrecht.

III.  Begriff der Rechtsdogmatik 1.  Rechtstheoretischer Zusammenhang Bevor die steuerverfassungsrechtlichen Prinzipien behandelt werden, bedarf es jedoch der Klärung, was unter Rechtsdogmatik zu verstehen ist. Die Aufgabe ist anspruchsvoller, als es zunächst den Anschein haben mag. Obgleich der Begriff zum juristischen Sprachgebrauch gehört und in der Rechtswissenschaft regelmäßig verwendet wird, ist sein Inhalt ungesichert. Eine einheitliche Definition des Terminus findet sich nicht.14 Da eine Aufarbeitung an dieser Stelle nicht geleistet werden kann und zugleich die Zwecke dieser Abhandlung eine exakte Begriffsabgrenzung nicht voraussetzen, muss hier eine kurze funktionelle Bestimmung genügen. Indes sollte dabei eines klar sein. Es handelt sich um eine Weichenstellung, die maßgeblichen Einfluss auf die abschließende Bewertung der Innovationen hat. Die Dogmatik obliegt Rechtsprechung und Literatur. Der Gesetzgeber ist hieran grundsätzlich nur mittelbar beteiligt, indem er aufgrund seiner demokratischen Gestaltungsmacht mit dem Gesetz die „maßgeblichen Daten“ für die Dogmatik15 setzt. Welche Funktionen der Dogmatik zukommen, hängt deshalb von der rechtstheore Vgl. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2.  Aufl., 2000, VIII.   Vgl. BVerfGE 82, 60, 85 f.; 87, 153, 169; 99, 216, 233; 99, 246, 259 f.; 107, 27, 48 f. 13   Vgl. BVerfGE 93, 121, 137 f. einerseits; E 115, 97, 114 ff. andererseits. 14  Vgl. Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, 37 ff.; Alexy (Fn.  8 ), 307; Wahl, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, 121, 122; Waldhoff, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 17, 21 ff., 26; Lepsius, Rescriptum 2 (2013), 71, 72; Bumke, JZ 2014, 641. 15  Vgl. Timm, NJW 1995, 3209, 3210. 11

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tischen Perspektive ab, die man einnimmt. Jede Rechtsordnung bewegt sich im normativen Spannungsfeld der „Polarität von auctoritas und ratio“.16 Begreift man das Recht „als vernünftige Ordnung menschlichen Zusammenlebens“, wirkt sich die Dogmatik nachhaltiger aus, als wenn man den Begriff des Rechts mehr oder weniger mit dem „Willen des Gesetzgebers“ gleichsetzt.17 Der Gestaltungsanspruch des Rechtsanwenders wächst dabei grundsätzlich, je weiter man sich vom letzten Standpunkt fort- auf den ersten zubewegt. Eng hiermit verknüpft ist die methodische Grundfrage,18 ob der „Wille des Gesetzgebers“ oder der „Wille des Gesetzes“ das Auslegungsziel bilden sollte.19 Demokratietheoretisch spricht auf den ersten Blick viel dafür, die subjektive der objektiven Auslegung vorzuziehen, zumal der Einwand, dass der „Wille des Gesetzgebers“ nur eine realphysische Fiktion sei, nur bedingt greift.20 Allerdings verliert das demokratische Argument an Gewicht, je älter das Gesetz ist.21 Vor allem aber ist gegen die subjektive Theorie anzuführen, dass sich eine strikte Disparität von Sollen und Sein – der sie implizit zuneigt – rechtstheoretisch nicht aufrechterhalten lässt.22 Rechtsnormen wirken auf die Wirklichkeit nicht nur ein. Ihre Funktion können sie nur erfüllen, wenn sie die Realität in sich aufnehmen. Erst hierdurch lässt sich Norma­ tivität erreichen.23 Rechtsnormen ordnen daher nicht nur die Wirklichkeit, sondern sind durch diese selbst „bedingt und strukturiert“.24 Die juristische Methode kommt deshalb ohne empirische Argumente nicht aus.25 Die Rechtsnorm lässt sich somit nicht auf den bloßen Normtext reduzieren oder durch Normlogik ausfüllen. Sie ist dynamisch – und nicht statisch – zu begreifen. Die Rechtssätze allein bilden das „Rechtssystem“ demnach noch nicht ab, wie es angesichts ihrer prinzipiell zukunftsbezogenen Regelungsgegenstände auch nicht anders sein kann. Selbst wenn man Veränderungen der Wirklichkeit – wie den gesellschaftlichen Wandel und technische Entwicklungen – außen vor lässt, stellen sich bei der Rechtsanwendung deshalb regelmäßig Fragen, die der Gesetzgeber nicht abschließend beantwortet hat und meist auch nicht beantworten konnte. Damit wird der Aufgabenbereich der Rechtsdogmatik rechtstheoretisch umrissen. Die Dogmatik dient – sofern sie in der Rechtsanwendung umgesetzt wird – der „operativen Schließung des Rechtssystems“26 und macht „Gerechtigkeitsfragen in ihren Einzelberei  Esser (Fn.  7 ), 134 f.; vgl. auch Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, 39 f.  Vgl. Alexy (Fn.  8 ), 309. 18   Vgl. zum Zusammenhang Dogmatik und juristischer Methodenlehre W. Hassemer, in: Kirchhof/ Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, 3, 5. 19  Vgl. R. P. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, 31 ff.; Waldhoff, in: Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, 75, 86 f. 20  Vgl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 354 f. 21  Vgl. Seiler, Auslegung als Normkonkretisierung, 2000, 23 f. 22  Vgl. Waldhoff (Fn.  19), 75, 87. 23  Vgl. Kirste, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 134, 151; von der Pfordten, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 261, 273 f.; Palm, Person im Ertragsteuerrecht, 2013, 122 ff. 24   F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2.  Aufl., 1994, 17, 123 f.; vgl. auch Zippelius, Rechtsphilosophie, 6.  Aufl., 2011, 34. 25   Alexy (Fn.  8 ), 285 f. 26   Di Fabio, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, 63, 65. 16 17

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chen juristisch operational“27. Demgemäß wird die Normativität als Gegenstand der Rechtsdogmatik bezeichnet.28

2.  Funktionen der Rechtsdogmatik Normativität lässt sich aber nur erreichen, wenn die Rechtsanwendung an einem Maßstab ausgerichtet ist. Die willkürliche Entscheidung findet – rechtstheoretisch – keine Anerkennung und widerspricht – rechtsdogmatisch – dem Prinzip der Rechtssicherheit. Da in dem der Dogmatik zugewiesenen Bereich eine Vorgabe des Gesetzgebers gerade fehlt, nimmt sie für sich in Anspruch, der Vernunft zu folgen. Die „ratio“, die sich rechtstheoretisch zunächst der „auctoritas“ beugt, weil ein eindeutiger Gerechtigkeitsmaßstab nicht besteht,29 tritt an dieser Stelle – „rechtsnormakzessorisch“30 – wieder auf den Plan. Der Dogmatik wird dementsprechend die „Rationalisierung rechtlicher Ordnungsprobleme und -lösungen“ zur Aufgabe gemacht.31 Hieran schließen sich weitere Eigenschaften an, die der Dogmatik zugeschrieben werden. Die Dogmatik strukturiert und ordnet den Rechtsstoff. Sie ist axiologisch angelegt und entwickelt Prinzipien, die in ein System eingeordnet werden.32 Weil die Dogmatik rational ist, soll ihr zugleich Neutralität zukommen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie wertungsfrei ist. Mit der Systematisierung des Rechtsstoffes sind notwendig Wertsetzungen verbunden.33 Neben ihrer Basisfunktion, Normativität herzustellen, werden der Rechtsdogmatik aufgrund dieser Eigenschaften verschiedene Funktionen zugeordnet. Die Dogmatik hat Entlastungsfunktion. Durch ihre Begriffsspeicherungen und vorprägenden Wertungen eröffnet sie eine „heuristische Methode der Entscheidungsfindung“.34 Die dogmatischen Abstraktionen bringen allgemeine Maßstäbe hervor, die unsachgemäßen Erwägungen entgegenwirken, die Akte der zweiten und dritten Gewalt vorhersehbar machen35 und eine Verifikation der Einzelfallentscheidungen anhand objektiver Kriterien36 erlauben. Zudem wird das Rechtssystem dadurch stabilisiert.37   Esser, AcP 172 (1972), 97, 113; vgl. auch Wieacker, in: FS-Gadamer, Bd. II, 1970, 311, 316; R. P. Schenke (Fn.  19), 397; Schorkopf, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, 139, 141. 28   Würtenberger, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, 3, 5; vgl. auch Brohm, in: FS-Maurer, 2001, 1079 f. 29  Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, 4.  Aufl., 1950, §  10 (179). 30   Waldhoff (Fn.  14), 17, 27; vgl. auch Brohm, VVDStRL 30 (1972), 245, 251 f. 31   Esser (Fn.  7 ), 109; vgl. auch Wieacker, in: FS-Gadamer, Bd. II, 1970, 311, 316 ff.; Harenburg (Fn.  14), 365, 366 f.; Bumke, JZ 2014, 641. 32  Vgl. Wieacker, in: FS-Gadamer, Bd. II, 1970, 311, 319; Bachof, VVDStRL 30 (1972), 193, 197 f.; Würtenberger (Fn.  28), 3, 6 f. 33   Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.  Aufl., 1991, 224 ff.; Würtenberger (Fn.  28), 3, 6; Schoch, in: Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, 91, 101 f. 34   Bachof, VVDStRL 30 (1972), 193, 197 f.; vgl. auch Alexy (Fn.  8 ), 329 f., 322; Waldhoff (Fn.  14), 17, 26 f. 35   Brohm, VVDStRL 30 (1972), 245, 247 f. 36   Wieacker, in: FS-Gadamer, Bd. II, 1970, 311, 316 f. 37   Alexy (Fn.  8 ), 326 f. 27

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Darüber hinaus bietet die Dogmatik aufgrund ihrer Begriffsbildungen und Einordnungen Gegenstände für eine innovative Weiterentwicklung der Rechtsordnung an. Schließlich ist eine Erkenntnisfunktion der Dogmatik zu verzeichnen, da sie mittels ihrer Systematisierungen und Analysen zum Verständnis der Rechtsordnung beiträgt.38

3.  Besonderheiten der verfassungsrechtlichen Dogmatik Die vorstehenden Ausführungen treffen grundsätzlich auch auf die verfassungsrechtliche Dogmatik zu. Indes sind hier Besonderheiten zu verzeichnen. Der Textbefund der Vorschriften des Grundgesetzes ist oftmals spärlich und unbestimmt. Viele der Normen beanspruchen zugleich eine inhaltliche Weite und haben eine offene Regelungsstruktur.39 Dies gilt vor allem für die Grundrechte, die Böckenförd‘schen „Lapidarformeln“.40 Der Beitrag des Rechtsanwenders – vornehmlich des Bundesverfassungsgerichts als Letztinterpret der Verfassung – zur Normativität dieser Bestimmungen ist daher prinzipiell bedeutender als bei herkömmlichen Gesetzen. Zugleich verschiebt sich das Kompetenzverhältnis zwischen erster und dritter Gewalt an dieser Stelle wesentlich.41 Die „Rechtsnormakzessorietät“ der Dogmatik bezieht sich in diesem Fall nicht auf das Parlamentsgesetz, sondern auf die Verfassung. Die dogmatische „ratio“ kann damit die Kompetenzen des einfachen Gesetzgebers, dessen Akte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, unmittelbar begrenzen. In dieser Organisationsstruktur wurde und wird ein potentielles Defizit in der Gewaltengliederung des Grundgesetzes gesehen,42 so dass die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit seit deren Errichtung ein Untersuchungsgegenstand der Staatsrechtswissenschaft sind.43 Lange Zeit konnte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch aufgrund einer weitgehend konsistenten Dogmatik unbestreitbare, große Verdienste erwerben, so dass die Kritik – die es freilich immer gab – verhalten blieb. In den vergangenen Jahrzehnten kam es allerdings – aus verschiedenen Gründen44 – vermehrt zu dogmatischen Brüchen in der Rechtsprechung des Gerichts. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird mittlerweile als „unkontrollierbarer Kontrolleur“ bezeich-

  Vgl. zum Ganzen Alexy (Fn.  8 ), 326 ff.; Schoch (Fn.  33), 91, 100 ff.; Waldhoff (Fn.  14), 17, 26 ff.; Lepsius, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 39, 40 ff.; Kersten, Rescriptum 1 (2012), 67; Stürner, JZ 2012, 10 f. 39  Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 51, 62 f. 40   Böckenförde, NJW 1974, 1529; ders., NJW 1976, 2089, 2091. 41  Vgl. Roellecke, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3.  Aufl., 2005, §  67 Rn.  4 0. 42   Vgl. nur den Diskussionsbeitrag von Apelt, VVDStRL 9 (1952), 119, 120, der in der Verfassungsgerichtsbarkeit ein „Mißtrauensvotum gegen die Legislative“ sieht, sowie jüngst Lepsius, Der Staat 52 (2013), 157, 178 ff. 43  Vgl. E. Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1 ff.; Drath, VVDStRL 9 (1952), 17 ff.; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (1981), in: ders., Ausgewählte Schriften, 1984, 311; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992. 44  Vgl. nur Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), 1, 5 ff.; Schlink, JZ 2007, 157, 158 ff. 38

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net.45 Man stellt einen Abschied von der Dogmatik fest und sieht deren Funktionen zum Teil nicht mehr als erfüllt an.46 Ist die Rationalität der Entscheidungsfindung, die als „Legitimitätsgrundlage unseres Verfassungssystems“ zu qualifizieren ist,47 damit preisgegeben?48 Fraglos handelt es sich hierbei um ein Ideal, das sich nur annäherungsweise verwirklichen lässt. Offensichtlich fühlt sich das Bundesverfassungsgericht aber auch zu einer rationalen Begründung seiner Entscheidungen verpflichtet, das sich der Kritik der abweichenden Meinung, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Wissenschaft, der Politik und der Öffentlichkeit ausgesetzt sieht.49 Das mag man als nicht ausreichend erachten, um die Kompetenzen des Gerichts wirksam zu begrenzen.50 Die Verifikationsfunktion der Dogmatik bleibt hierdurch jedoch erhalten. Der „institutio­ nalisierten Jurisprudenz“ ist es damit weiterhin möglich, dem Gericht als Resonanzboden seiner Dogmatik zu dienen und ihren kritischen Beitrag zur künftigen ­Entscheidungsfindung zu leisten.51 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die steuerverfassungsrechtliche Dogmatik des Gerichts eingeordnet werden. Aus Platz­ gründen muss sich die Untersuchung dabei auf wesentliche Punkte konzentrieren.

II.  Innovationen des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet der steuerverfassungsrechtlichen Dogmatik 1.  Bereichsspezifische Anwendung des Gleichheitssatzes Mit der bereichsspezifischen Anwendung des Gleichheitssatzes52 wird als Erstes eine Innovation behandelt, deren Ursprung in den Anfängen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt. Da sie jedoch grundlegend für das Steuerverfassungsrecht ist, ihre dogmatische Begründung erst in jüngerer Zeit vertieft wurde und hieran Kritik auf kam, soll sie Gegenstand dieser Abhandlung sein. Das Grundgesetz gibt – im Gegensatz zu Art.  134 WRV – keinen Anhaltspunkt, dass die Steuergerechtigkeit durch das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert wird. Dennoch greift das Bundesverfassungsgericht hierauf zurück, um den Gleichheitssatz für das Steuerrecht handhabbar zu machen.53 Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist „Erkenntnisquelle für die konkrete Steuerrechtsfindung“.54 Der Gleichheitssatz wird damit erheblich   Hillgruber, JZ 2011, 861.   Schlink, JZ 2007, 157, 161 f. 47   Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, 182 ff. 48  Vgl. Schulze-Fielitz, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7, 2007, 11, 21 f. 49  Vgl. Schulze-Fielitz (Fn.  4 4), 1, 31. 50  Vgl. Heun (Fn.  43), 11 f.; Roellecke (Fn.  41), §  67 Rn.  4 4. 51  Vgl. Morlok, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Die Verwaltung, Beiheft 7, 2007, 49, 64 f. 52   Vgl. BVerfGE 93, 121, 134 f.; 105, 17, 46. 53   Vgl. BVerfGE 84, 239, 269 f.; vgl. auch BVerfGE 6, 55, 70; 66, 214, 223; 93, 121, 134 f. 54   P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3.  Aufl., 2007, §  118 Rn.  184; vgl. auch ders., in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG, §  2 Rn. A 275 u. 282; ders., Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 21. 45

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modifiziert. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird zur Bildung des Vergleichsmaßstabs herangezogen.55 Unter Berücksichtigung der Grundpflicht zur Steuerzahlung und der Wertung des Art.  14 Abs.  1 Satz  1 und Abs.  2 Satz  2 GG werden nicht Personen, sondern Personen in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit­einander verglichen.56 Gleich ist dann nicht mehr derselbe absolute Steuerbetrag, sondern dasselbe disponible Einkommen, das sich aus den Erwerbseinnahmen abzüglich der erwerbsichernden und existenzsichernden Aufwendungen zusammensetzt. Demgegenüber vertritt Uwe Kischel die Auffassung, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip nur ein gleichheitsrechtliches Differenzierungskriterium ist.57 Das Bundesverfassungsgericht beschreitet für ihn mit dieser bereichsspezifischen Anwendung des Gleichheitssatzes einen „dogmatischen Sonderweg“.58 Die These Kischels ist in ihrem Kern viel älter, als es den Anschein haben mag. Bereits Schmoller nahm zu ihr Stellung: „[…] Was ist aber nun der nähere Inhalt dieser Gerechtigkeit! Eine flach rationalistische Betrachtung, welche den leeren abstrakten Begriff des Menschen an sich als Glied des Staats auffasst, muss entsprechend der absoluten Gleichberechtigung zu einer gleichen Kopfsteuer führen. […] Eine tiefere Betrachtung nimmt jedoch in allen Verhältnissen nicht den leeren abstrakten Begriff, sondern den konkreten Menschen, wie und in welchem Maße er im wirklichen Dasein seine Zwecke und Pflichten als Mensch erreicht und erfüllt. […]“59.

Das Zitat verdeutlicht trotz seiner polemischen Note eines. Die Dogmatik ist nicht nur auf Rationalität ausgerichtet, sondern auch auf Wertungen gegründet. Von einer ausschließlich rationalen Warte aus gesehen, kann man der Kopfsteuer eine formale Gleichheit nicht absprechen. Dennoch wird sie allgemein als gleichheitswidrig eingeordnet,60 geschweige denn – was die Konsequenz Uwe Kischels sein müsste – als gleichheitsrechtliche Maßgabe festgelegt, von der jede Abweichung rechtfertigungsbedürftig wäre. Für die Zwecksetzung dieser Abhandlung ist jedoch ein anderer Punkt bedeutsamer. Mit welcher Begründung ist der Gleichheitssatz zu modifizieren? Sie findet im Wortgerüst des Art.  3 Abs.  1 GG ihren Ausgangspunkt, dem der Rechtsanwender inhaltlich nur wenig entnehmen kann. Die Bestimmung enthält zwar eine Grundaussage zur Idee der Gerechtigkeit. Sie ist für sich genommen jedoch unvollständig.61 Dem Gleichheitssatz fehlt ohne einen Sachbezug die Aussagekraft.62 Der normative Mangel offenbart sich insbesondere bei der – nicht angesprochenen – Rechtssetzungsgleichheit. Während bei der Rechtsanwendungsgleichheit ein Gesetz vorliegt,  Vgl. P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 32 f.  Vgl. Palm (Fn.  23), 407 ff. 57   Kischel, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, 175, 179; vgl. auch Leisner, StuW 1983, 97. 58   Kischel (Fn.  57), 175. 59   Schmoller, ZgesStW 19 (1863), 1, 50; vgl. auch Hahn, Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung in rechtsvergleichender Sicht, 1984, 168. 60   Vgl. BVerfGE 93, 121, 135; Oeckl, Die subjektive Steuerpflicht im alten und neuen Reichseinkommensteuergesetz, 1927, 1; P. Kirchhof (Fn.  55), 33; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2.  Aufl., 2000, 473 ff.; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, 273 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel, 2008, 573. 61   Hart, The Concept of Law, 2.  Aufl., 1997, 159. 62   BVerfGE 75, 108, 157; vgl. auch BVerfGE 17, 122, 130; 90, 145, 196; 93, 319, 348 f. 55

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das die Gleichheitsfrage eingrenzt, ist die Rechtsetzungsgleichheit nur eine erste Konkretisierungsstufe der Gerechtigkeit. Handhabbare Konturen gewinnt die Rechtsetzungsgleichheit des Art.  3 Abs.  1 GG erst, wenn der Gleichheitssatz durch den Sachverhaltsbezug einen Anknüpfungspunkt erhält und weitere Verfassungsprinzipien – insbesondere die Freiheitsrechte, die auf den betreffenden Lebensbereich anwendbar sind – zu seiner Interpretation herangezogen werden können.63 Die „bereichsspezifische Anwendung“ wirkt demzufolge maßstabsbildend.64 Nach ihrer Begründung ist sie nicht auf das Steuerrecht zu beschränken. Die Rechtssetzungsgleichheit ist auch in anderen Zusammenhängen – etwa bei der Bedürftigkeit im Sozialhilferecht – verfassungssystematisch zu konkretisieren.65 Das tertium comparationis ist allgemein anhand des einschlägigen Freiheitsrechts zu entwickeln.66 Allerdings stellt sich in den meisten Rechtsbereichen nur die Frage, wie strikt die Gleichheitsprüfung ausfällt und welche Rechtfertigungsanforderungen an die Ungleichbehandlung zu stellen sind.67 Für eine grundlegende Modifikation des Vergleichsmaßstabs wird das Steuerrecht das herausragende Beispiel bleiben.

2.  Gebot der Folgerichtigkeit a)  Selbstbindung des Gesetzgebers In den steuerrechtlichen Grundentscheidungen sind die Kompetenzen des Gesetzgebers nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Grundrechte kaum begrenzt. Der freiheitsrechtliche Eingriff des Steuerzugriffs wird – solange das Existenzminimum im Einkommensteuerrecht frei gestellt ist68 und ohne die Obergrenze der steuerlichen Belastung damit abschließend zu erörtern69 – prinzipiell als gerechtfertigt angesehen, da das Verhältnismäßigkeitsprinzip in diesem Rechtsgebiet aufgrund des mit der Abgabenbelastung zunehmenden Gemeinwohlnutzens weitgehend leerläuft.70 Der allgemeine Gleichheitssatz wiederum soll dem Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes71 und der Bestimmung des Steuersatzes72 nur 63  Vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3.  Aufl., 2010, §  181 Rn.  190; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3.  Aufl., 2013, Art.  3 Rn.  32 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, Rn.  122 m.w.N. 64  Vgl. Waldhoff, StuW 2013, 121, 123 f. 65   Vgl. auch Huster, Rechte und Ziele, 1993, 361 ff., der allerdings einen weitergehenden Ansatz verfolgt; Englisch, Dividendenbesteuerung, 2005, 100; demgegenüber Heun (Fn.  63), Art.  3 Rn.  29 f. 66  Vgl. Palm (Fn.  23), S.  410 f. 67   Vgl. etwa BVerfGE 60, 123, 133 f.; 82, 126, 146; 88, 87, 96; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grund­ gesetz, 6.  Aufl. 2011, Art.  3 Rn.  15 ff.; insofern auch Heun (Fn.  63), Art.  3 Rn.  32. 68  BVerfGE 87, 153, 172 f.; 99, 216, 233; 99, 246, 259; 107, 27, 48; 120, 125, 154 f.; vgl. auch ­BVerfGE 82, 60, 86 f., wo vornehmlich gleichheitsrechtlich begründet wird. 69  Vgl. Di Fabio, JZ 2007, 749, 752; Palm (Fn.  23), 303 f. 70   Vgl. BVerfGE 115, 97, 115 mit Verweis auf Papier, DVBl. 1980, 787, 793; Birk, Das Leistungs­ fähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, 189; vgl. auch Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratieprinzip, S.  76 ff.; Seiler, finanzreform, 2004– 3, Rn.  9. 71   Vgl. BVerfGE 13, 181, 202 f.; 49, 343, 360; 65, 325, 354. 72   Vgl. BVerfGE 27, 58, 66; 29, 327, 335.

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eine Willkürgrenze ziehen. Ihm steht insofern ein „weitreichender Entscheidungsspielraum“ zu.73 Der Gleichheitsmaßstab verengt sich jedoch bei der Ausgestaltung des Steuertatbestandes. Das Bundesverfassungsgericht greift hierbei in ständiger Rechtsprechung auf das Gebot der Folgerichtigkeit zurück,74 das es neben dem Leistungsfähigkeitsprinzip als maßgebliche Leitlinie des legislativen Gestaltungsspielraums ansieht.75 Der Gesetzgeber müsse die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen.76 Der dogmatische Satz führt zu einer Selbstbindung des Gesetzgebers. Eine Ausnahme von der Belastungsentscheidung setzt einen besonderen, sachlich rechtfertigenden Grund voraus, der sich aus der Gesetzesbegründung zu ergeben hat und sich nicht auf den bloßen Fiskalzweck beschränken darf.77 Das Gericht schließt sich damit auf dogmatischer Ebene der subjektiven Auslegung an, die im Grunde genommen für eine zurückhaltende Dogmatik sprechen müsste,78 hier aber gegenteilig wirkt.79 Das Bundesverfassungsgericht zielt mit dieser Rechtsprechung auf ein „Mindestmaß an Wertungs- und Begründungsrationalität“ des Steuergesetzgebers.80 Der Gesetzgeber wird an den dogmatischen Prinzipien des einfachen Rechts festgehalten, die er selbst aufgestellt hat. Seine Autorität wird prinzipiell anerkannt; seine Entscheidung aber einem Vernunftmaßstab unterworfen. Der Gesetzgeber soll zur Selbstdisziplin81, zu strukturellem Denken82 „gezwungen“ werden.

b)  Perspektive der Steuerrechtswissenschaft In der steuerrechtlichen Literatur findet die Innovation des Bundesverfassungsgerichts ganz überwiegend Zustimmung.83 Subjektiver Grund hierfür dürfte auch der Zustand sein, in dem sich das Rechtsgebiet befindet. Das Steuerrecht ist von einer legislativen Konzeptionslosigkeit geprägt, die verschiedene Ursachen hat.84 Der Ge  Vgl. BVerfGE 84, 239, 271; 93, 121, 136; 107, 27, 47; 126, 268, 277.   Vgl. bereits BVerfGE 19, 101, 116; dazu Hey, DStR 2009, 2561, 2563. 75   Vgl. BVerfGE 84, 239, 271; 93, 121, 136; 105, 73, 125; 116, 164, 180; 122, 210, 231; 126, 268, 277 f. 76   BVerfGE 84, 239, 271; 93, 121, 136; 99, 88, 95; 99, 280, 290; 107, 27, 46 f.; 126, 268, 277 f.; vgl. zu einer freiheitsrechtlichen Anbindung des Gebots im Rahmen des Nichtraucherschutzes BVerfGE 121, 317, 362 ff. 77   BVerfGE 117, 1, 31; 120, 1, 29; 126, 400, 417; 132, 179, Rn.  32. 78   S. III. 1. 79   Vgl. auch Lepsius, JZ 2009, 260, 262. 80  Vgl. P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  209, 217, 226 ff.; Mellinghoff, Ubg 2012, 369, 371. 81  Vgl. Schön, DStR-Bei 2008, Heft 17, 10, 14. 82  Vgl. Birk, DStR 2009, 877, 881. 83   Vgl. nur P. Kirchhof, StuW 2000, 316; ders. (Fn.  63), Rn.  209 ff.; Schön, DStR-Bei 2008, Heft 17, 10, 14; Birk, DStR 2009, 877, 881; Tipke, JZ 2009, 533; Hey, DStR 2009, 2561; dies., in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl., §  3 Rn.  118; Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167; Mellinghoff, Ubg 2012, 369; Leisner-Egensperger, DÖV 2013, 533. 84   Vgl. auch Vogel, DStJG 12 (1989), 123; Helpser, BB 1995, 17 ff.; Lang, NJW 2000, 458; Papier, Stbg 1999, 50 f.; Mellinghoff, DStR-Bei 2003, Heft 20/21, 1; Eckhoff, in: FS-Steiner, 2009, 119; Spindler, in: FS-Spiegelberger, 2009, 471. 73 74

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setzgeber sieht sich hier den Forderungen von Lobbyisten und Interessengruppen besonders intensiv ausgesetzt. Zudem befindet er sich in einem ständigen Wettlauf mit den Steuergestaltern, um die Inanspruchnahme sachlich nicht gerechtfertigter Steuervorteile zu vermeiden. Darüber hinaus erhöht er stetig auf der Suche nach Einzelfallgerechtigkeit durch Detailbestimmungen und Lenkungsnormen die Komplexität der steuerlichen Materie.85 Zugleich beschneiden die europäischen Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union die legislative Gestaltungskompetenz im Ertragsteuerrecht erheblich – deutlich folgenschwerer als die Grundrechte des Grundgesetzes.86 Sie führen zu deformierten Konstruktionen wie der Zinsschranke nach §  4h EStG i.V.m. §  8a KStG, die weit über Zweck und Anwendungsbereich der europarechtswidrigen Ursprungsnorm zur missbräuchlichen Gesellschafter-Fremdfinanzierung87 hinausgeht. In der Steuerrechtswissenschaft herrscht deshalb der Grundtenor, dass insbesondere das Ertragsteuerrecht seine innere Systematik weitgehend verloren hat und grundlegend reformbedürftig ist.88 Da die Politik zum großen Wurf in absehbarer Zeit offenbar nicht bereit ist, hofft man auf das Gebot der Folgerichtigkeit.89 Demgemäß erkennt man in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen „wesentlichen Beitrag zur Systematisierung des Steuerrechts“.90

c)  Kritik an der Innovation Kritik am Gebot der Folgerichtigkeit wird deshalb vornehmlich von Seiten der ­allgemeinen Verfassungsrechtswissenschaft geübt, die sich nicht alltäglich mit der steuer­rechtlichen Materie auseinanderzusetzen hat. Man sieht hinter der Innovation und ihrem dogmatischen Vorläufer, der Systemgerechtigkeit, eine rechtspolitische Motivation.91 Zugleich wird sie als „inhaltsleer“ qualifiziert92 und ihre verfassungsrechtliche Verankerung bezweifelt.93 Der Innovation wird ein Rationalitätsgewinn abgesprochen.94 Folgerichtigkeit laufe auf eine Überhöhung des einfachen Rechts und damit auf eine Verfassungsmäßigkeit nach dessen Maßgabe hinaus.95 Insofern wird die Gefahr einer Verkrustung und Versteinerung festgestellt.96 Die legislative 85  Vgl. Palm, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz: Mitarbeiterkommentar, 2.  Aufl., 2005, S.  58 Rn.  2 f. 86  Vgl. Drüen, in: FS-Spindler, 2011, 29, 48. 87   Vgl. EuGH, 12.12.2002 – Rs. C-324/00 (Lankhorst-Hohorst), Slg. 2002, I-11779. 88   Vgl. nur die großen Reformentwürfe von P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011; Lang/Eilfort (Hrsg.), Strukturreform der deutschen Ertragsteuern: Bericht über die Arbeit und Entwürfe der Kommission „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, 2013; vgl. aber auch Schön, DStR-Bei 2008, Heft 17, 10, 19 f. 89  Vgl. Schön, DStR-Bei 2008, Heft 17, 10, 20. 90   Mellinghoff, Ubg 2012, 369. 91   Vgl. zur Systemgerechtigkeit Battis, in: FS-Ipsen, 1977, 11, 26. 92   Schwarz, in: FS-Isensee, 2007, 949, 964; Payandeh, AöR 136 (2011), 578, 598. 93   Vgl. bereits Peine, Systemgerechtigkeit, 1985, S.  180 ff., 299 f.; vgl. demgegenüber Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S.  49 ff. 94   Payandeh, AöR 136 (2011), 578, 611. 95   Kischel (Fn.  57), 175, 185. 96  Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 175, 205; Möllers, NJW 2005, 1973, 1978.

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Gestaltungsfreiheit soll durch die Folgerichtigkeitsrechtsprechung unzulässig verkürzt sein.97 In diesem Zusammenhang wird auf die hochpolitische Bedeutung des Steuerrechts hingewiesen, ein Problem demokratischer Legitimation verortet, eine Rücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrolle und eine Öffnung für den politi­ schen Kompromiss gefordert.98 Der Gesetzgeber soll im Steuerrecht in Bezug auf Art.  3 Abs.  1, Art.  12 und Art.  14 GG grundsätzlich nur dem Willkürverbot und dem Verbot erdrosselnder Steuern unterliegen.99

d)  Verfassungspolitische Betrachtung In ihrem Grundtenor zielt die Kritik damit auf einen Zustand, den Klaus Vogel mit dem eingangs aufgeführten Zitat beschrieben hatte. Ein derartiges verfassungspolitisches Anliegen kann man verfolgen. Es ist aber nur dann konsistent, wenn man einer Konstitutionalisierung der Rechtsordnung insgesamt entgegentritt100 und sich nicht auf das Steuerrecht beschränkt. Eine prinzipielle Diskrepanz in der Grundrechtsbindung von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet ist in der Verfassung nicht angelegt. Das Steuerrecht nimmt insofern keinen Sonderstatus ein und ist keine vorkonstitutionelle Rechtsmaterie. Es besteht keine Präponderanz des Sozialstaats, die bei Forsthoff101 dazu führt, dass die Grundrechtsverpflichtung des Steuergesetzgebers praktisch leerläuft. Die Legislative ist nach Art.  1 Abs.  3 GG und Art.  20 Abs.  3 GG auch an die Grundrechte und die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, wenn sie Steuergesetze beschließt. Das Steuerrecht ist zwar ein wichtiges Feld des politischen Meinungskampfes. Gerade diese Sachmaterie birgt aber die Gefahr in sich, dass eine regelungebundene Entscheidung der demokratischen Mehrheit durch eine einseitige Ausgestaltung der Steuergesetze für manche Steuerpflichtige übermäßig oder gleichheitswidrig ausfällt. Die freiheitliche Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft darf sich daher nicht von einem Rechtsgebiet zum anderen – auch nicht zum Steuerrecht hin – prinzipiell verschieben. Die „rechtliche Einheit der Sozialpflichtigkeit des einzelnen“ ist zu wahren.102 Grundrechtsträger ist der Mensch als Person – nicht ein homo oeconomicus, homo politicus, homo religiosus, homo familiaris oder homo psychologicus. Wer im Steuerrecht die Gemeinschaftsgebundenheit der Person bis an die Grenze der Erdrosselung bejaht, es aber bei den individuell-autonomen Wertungen des Bundesverfassungsgerichts103 in anderen Rechtsbereichen104 belassen will, verliert den ver Vgl. Kischel (Fn.  57), 175, 185; Lepsius, JZ 2009, 260.   Lepsius, JZ 2009, 260, 261. 99   Lepsius, JZ 2009, 260, 261. 100   Vgl. insofern Lepsius, Der Staat 52 (2013), 157, 181 ff. 101  Vgl. E. Forsthoff, VVDStRL 12 (1953), 8, 32; vgl. auch die abweichende Meinung des Richters Böckenförde zu BVerfGE 93, 121, 163 f.; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3.  Aufl., 2013, Art.  14 I Rn.  67 f. 102  Vgl. Dürig, JR 1952, 259, 262. 103  Vgl. E.- W. Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001, 36. 104   Vgl. etwa BVerfGE 93, 266, 289 ff.; 109, 279, 326 ff.; 115, 118, 139 ff.; BVerfG, 27.01.2015 – 1 BvR 1181/10 Rn.  78 ff. 97

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fassungsrechtlichen Gleichklang von „geistiger, politischer und wirtschaftlicher Freiheit des Menschen“105 aus dem Auge, der „alle Bereiche des Rechts“106 umfasst.107 Anzumerken ist, dass der dogmatische Satz zur Erdrosselungsgrenze in einer Zeit gebildet worden war,108 in der die Auffassung vorherrschte, dass die Sicherungen der rechtsstaatlichen Verfassung nicht nur im besonderen Gewaltverhältnis und in der Leistungsverwaltung, sondern auch in der fiskalischen Verwaltung lediglich beschränkte Wirkungen entfalten.109 Ist die dogmatische Fortentwicklung im Steuerverfassungsrecht dann nicht weit überfällig gewesen, nachdem sie in anderen Bereichen schon längst vollzogen worden war?110 Im Übrigen ist der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in Bezug auf die Belastungsobergrenze auch nach der jüngeren Rechtsprechung des Zweiten Senats sehr weitreichend, wenn dieser eine ertragsteuer­ liche Gesamtbelastung von knapp 60 v. H. als zulässig erachtet.111 Konsumiert der Steuerpflichtige seinen verbliebenen Gewinn, fallen in der Regel nochmals 19 v. H. Umsatzsteuer an. Der Staat hat den Steuerpflichtigen also – im vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen – weiterhin fest im Griff. Zugleich ist nach dem Zweiten Senat auch ein linearer Einkommensteuertarif verfassungsgemäß.112 Für den politischen Kompromiss bestehen auf dem Gebiet des Steuerrechts somit im Grundsatz mehr als hinreichende Spielräume.113 Wenn die Kritik auf den Zusammenhang zwischen Demokratie und Steuern abstellt, so darf sie außerdem einen Grundgedanken nicht außer Acht lassen. Die Steuer ist eine allgemeine Last, die unausweichlich „jeden Stand“ und „jede Person“ betrifft.114 Der demokratischen Entscheidung der Mehrheit folgt die fiskalische Verantwortung aller. Das Prinzip zielt auf eine proportionale Besteuerung. Eine Steuer­ erhöhung sollte von jedem Wähler – im Sinne des Leistungsfähigkeitsprinzips unter Berücksichtigung des steuerfreien Existenzminimums – gleichermaßen getragen werden. Demgemäß müsste der Spitzensteuersatz im Einkommensteuerrecht der Maßstab für die Gleichheitsprüfung sein, von dem jede Abweichung zu rechtfertigen ist.115 Das Bundesverfassungsgericht greift diesen Gedanken rudimentär auf, wenn es vertikale Steuergerechtigkeit einfordert, nach der die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedrigerer Einkommen angemessen sein muss.116 Auf den legislativen Gestaltungsspielraum kann der dogmatische Satz jedoch kaum Einfluss haben, wenn die Progression im Einkommensteuerrecht mit Steuersätzen zwischen 14 v. H. und 45 v. H. plus Solidaritätszuschlag ohne relevante Dis  BVerfGE 6, 32, 41.   BVerfGE 7, 198, 205. 107   Vgl. zum Ganzen Palm (Fn.  23), 301 ff. 108   Vgl. BVerfGE 16, 147, 161. 109  Vgl. Bachof, VVDStRL 12 (1953), 8, 58 ff., 82. 110   Vgl. zur Aufgabe des besonderen Gewaltverhältnisses BVerfGE 33, 1, 10 f. 111   Vgl. BVerfGE 115, 97, 106, 117. 112   Vgl. BVerfGE 115, 97, 117. 113  Vgl. Hey, DStR 2009, 2561, 2563; Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167, 177; Wernsmann, DVBl. 2015, 1085, 1088. 114  Vgl. P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  11; vgl. auch G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, 529 ff. sowie zum Grundsatz der steuerlichen Lastengleichheit Palm (Fn.  23), 395 ff. 115  Vgl. Palm (Fn.  23), 417 f. 116   Vgl. BVerfGE 82, 60, 89; 99, 246, 260; 107, 27, 46 f.; 116, 164, 180; 122, 210, 231; 126, 268, 278. 105

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kussion als zulässig erachtet wird. Die Forderung nach einer Aufgabe der strengen Gleichheitsprüfung im Steuerverfassungsrecht kann in diesem Zusammenhang daher nicht überzeugen. Eine Rückkehr zum Willkürmaßstab hätte darüber hinaus zur Folge, dass eine degressive Steuer zulässig wäre, da sich ein sachlicher Grund regelmäßig finden wird.117 Konsistent ist das Ansinnen wiederum nur, wenn es sich nicht auf das Steuerrecht beschränkt, sondern auf alle Rechtsbereiche bezieht. Schließlich ist bei demokratietheoretischen Erwägungen auf dem Gebiet des Steuerrechts zu berücksichtigen, dass sich die Grundfreiheiten des AEUV auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers deutlich einschneidender auswirken als die Grundrechte des Grundgesetzes.118 Die Dogmatik des Gerichtshofs der Europäischen Union ist dabei – wie es seine besondere Aufgabenstellung zum Teil mit sich bringt – weniger voraussehbar und unausgereifter als die des Bundesverfassungsgerichts.119 Die Forderung nach einer dogmatischen Zurückhaltung der dritten Gewalt müsste konsequenterweise hierauf ausgedehnt werden oder sogar zunächst hier ansetzen.

e)  Dogmatische Betrachtung Das Gebot der Folgerichtigkeit ist in Art.  3 Abs.  1 GG angelegt, sobald man der Norm die Rechtssetzungsgleichheit entnimmt. Gesetzliche Ungleichbehandlungen bedürfen eines rechtfertigenden Grundes. Je stärker sich eine neue Regelung zum bereits geltenden Recht in Widerspruch setzt, desto gewichtiger muss der rechtfertigende Grund des Gesetzgebers sein.120 Auch das Rechtsstaatsprinzip verlangt, widersprüchliche Normbefehle zu meiden. Der Rechtsstaat legitimiert sich dadurch, dass er vernünftige Maßstäbe setzt. Irrationales Recht kann keine Verbindlichkeit einfordern.121 Zugleich geht das Grundgesetz davon aus, dass die demokratische Mehrheit gegen die Wertungsrationalität verstoßen kann, wenn es die erste Gewalt nicht nur an die Grundrechte und die Verfassung bindet (Art.  1 Abs.  3, Art.  20 Abs.  3 GG), sondern auch der Verfassungsgerichtsbarkeit unterwirft (Art.  93, Art.  100 GG). Der Absolutheitsanspruch eines volonté générale122 ist ihm fremd.123 Eine Rationalitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht aufgrund des Gebots der Folgerichtigkeit ist damit grundsätzlich eröffnet. Dagegen spricht nicht das Argument der Inhaltsleere. Das Gebot der Folgerichtigkeit ist zwar unbestimmt und seine Grenzen lassen sich für sich genommen nur schwer umreißen. Das bringt die dogmatische Herleitung des Prinzips aus Art.  3 Abs.  1 GG aber mit sich. Losgelöst vom Sachverhalt leidet der Gleichheitssatz per se an einem normativen Mangel.124 Solange kein Bezug zu einer konkreten Gleichheitsfrage hergestellt wird, kann jener deshalb auch nicht durch anknüpfende Unterprin  Vgl. demgegenüber zur degressiven Zweitwohnungsteuer BVerfGE 135, 126, Rn.  60 ff.   S. b. 119   Vgl. etwa zum Grundsatz der Folgerichtigkeit Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167, 217 ff. 120   P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  211. 121   Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), 49, 51. 122  Vgl. Rousseau, Du Contrat social ou Principes du droit politique, 1762, Chap.  1.7. 123  Vgl. Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, 399. 124   S.  1. 117

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zipien abschließend behoben werden.125 Eine begriffliche Unschärfe wohnt zudem jedem Rechtsprinzip – selbst dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz126 – inne.127 Demgegenüber ist der Einwand einer „Verkrustung“ der Rechtsordnung zu Lasten des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers ernst zu nehmen. Das Gebot der Folgerichtigkeit hat ein nicht unerhebliches Potential, den legislativen Gestaltungsspielraum einzugrenzen. Auf die Spitze getrieben könnte die Innovation die Balance in der gewaltengeteilten Kompetenzordnung beeinträchtigen.128 Welche einfachrechtlichen Prinzipien ausschlaggebend sind, wie sie zueinander im Verhältnis stehen und was das System ausmacht, setzt Wertungen voraus. Die Teilrechtsordnungen sind in aller Regeln an Leitprinzipien ausgerichtet. Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber zwar in seiner Folgerichtigkeitsrechtsprechung die Möglichkeit ein, diese selbst zu bestimmen. Oftmals ergeben sich einzelne Prinzipien jedoch aus dem Sachbezug, so dass er sie – zumindest naheliegender Weise – aufgreift.129 Hält das Bundesverfassungsgericht die Legislative allzu strikt an diesen fest, sind anderweitige Wertungen nur noch eingeschränkt möglich. Entscheidend ist deshalb – wie allgemein bei den dogmatischen Figuren des Verfassungsrechts –, dass das Gebot der Folgerichtigkeit zurückhaltend wahrgenommen wird und dem politischen Kompromiss als regelmäßigem Ergebnis des demokratischen Prozesses hinreichend Raum gegeben wird.130 Zugleich sollte bei der Anwendung des Gebots eine einheitliche Linie verfolgt werden. Die steuerverfassungsrechtliche Rechtsprechung kann insofern nicht immer überzeugen. Auf der einen Seite ist in einzelnen Fällen eine einschneidende Handhabung des Gebots auszumachen, obgleich die Entscheidungsgründe selbst Unstimmigkeiten und Widersprüche aufweisen. So ist das objektive Nettoprinzip, dessen folgerichtige Umsetzung das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Pendlerpauschale einfordert,131 in diesem Zusammenhang nicht beeinträchtigt, da es sich bei den Fahrtkosten um gemischte Aufwendungen handelt.132 In der jüngeren Entscheidung zur Erbschaftsteuer wiederum rechtfertigt der Erste Senat die Ungleichbehandlung zwischen Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften damit, dass das Gesellschaftsvermögen bei den Personengesellschaftern nach §  718 BGB den Gesellschaftern zugerechnet werde.133 Diese gesellschaftsrechtliche Dogmatik ist längst überholt. Er begeht damit denselben einfachrechtlichen Fehler, wie der Zweite Senat in der Entscheidung zur Tarif begrenzung gewerblicher Einkünfte,134 obgleich in der Literatur nachdrücklich darauf

 Vgl. Mellinghoff, Ubg 2012, 369, 372.  Vgl. Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 221, 258. 127   Vgl. auch zu allgemeinen Verteilungsmaßstäben Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167, 180 f. 128  Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 175, 206 ff.; ders. (Fn.  57), 175, 184 f.; Lepsius, JZ 2009, 260, 262; Dann, Der Staat 49 (2010), 630, 632 ff.; Payandeh, AöR 136 (2011), 578, 589 ff.; Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), 49, 62. 129   Vgl. III. 1. 130   Vgl. abweichende Meinung des Richters Bryde BVerfGE 121, 378, 380 f.; Lepsius, JZ 2009, 260, 262; Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), 49, 59 f. 131   Vgl. BVerfGE 122, 210, 233 ff. 132  Vgl. Müller-Franken, NJW 2009, 55. 133   BVerfG, 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, Rn.  198. 134   Vgl. BVerfGE 116, 164, 199. 125

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aufmerksam gemacht wurde.135 Der Verifikationsfunktion der verfassungsrechtlichen Dogmatik136 wurde an dieser Stelle nicht Rechnung getragen. Auf der anderen Seite konzentriert sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum Gebot der Folgerichtigkeit auf einzelne steuerrechtliche Teilrechtsgebiete. Während bestimmten Bereichen des Einkommensteuerrechts und des Erbschafsteuerrechts eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommt, finden andere Materien – wie das Unternehmenssteuerrecht137 – deutlich weniger Beachtung. Das Bundesverfassungsgericht legt in den jeweiligen Teilrechtsgebieten nicht einmal einen einheitlichen Prüfungsmaßstab an. In der Entscheidung zu den Jubiläumsrückstellungen kehrt der Zweite Senat zum Willkürverbot zurück. Er sieht sich nicht zur Lösung „komplexer dogmatischer Streitfragen“ berufen und begrenzt den strengen Prüfungsmaßstab auf die „zentralen Fragen gerechter Belastungsverteilung“.138 Ob zu Letzterem auch die Pendlerpauschale gehört, über die gut fünf Monate zuvor entschieden worden war, erscheint fraglich. Jedenfalls nimmt das Bundesverfassungsgericht von den wesentlichen Grundentscheidungen unseres Steuersystems Abstand. Der dogmatisch überkommene Dualismus der Unternehmensbesteuerung etwa, der den Ausgangspunkt für zahlreiche Brüche im Steuersystem bildet und viele Gestaltungsoptionen eröffnet, wird von ihm mit einer sehr fragwürdigen Begründung gerechtfertigt.139 Das soll nicht heißen, dass das Bundesverfassungsgericht im damaligen Verfahren zur Verfassungswidrigkeit des §  32c EStG a.F. hätte kommen müssen. Wäre aber nicht eine fundierte Stellungnahme, in der das Gericht mit seiner Autorität als Verfassungsorgan die Widersprüche der ertragsteuerlichen Grundstruktur aufdeckt, ein größerer Beitrag zur Rationalität des Steuerrechts gewesen als so manches erfolgreiche Verfahren zum Gebot der Folgerichtigkeit? Beim Gebot der Folgerichtigkeit ist schließlich noch ein weiterer Punkt zu beachten. Die einfachrechtlichen Prinzipien, die von ihm aufgeladen werden, können auch für sich genommen einen verfassungsrechtlichen Kern haben. So lässt das Bundesverfassungsgericht offen, ob das objektive Nettoprinzip Verfassungsrang hat, um dann auf das Gebot der Folgerichtigkeit zurückzugreifen.140 Das objektive Netto­ prinzip, das grundsätzlich den Abzug der erwerbssichernden Einnahmen (Werbungskosten, Betriebsausgaben) von den erwerbsbedingten Einnahmen fordert, kommt so nur mittelbar zur Anwendung. Das objektive Nettoprinzip hat aber verfassungsrechtlichen Gehalt, da eine Steuer auf die Einnahmen, die wesentliche Aufwendungen nicht berücksichtigt, jedenfalls erdrosselnd wirkt. Darüber hinaus könnte das verfassungsrechtliche Existenzminimum beeinträchtigt sein.141 Statt einer gleichheitsrechtlichen Prüfung wäre eine freiheitsrechtliche durchzuführen. Die Fol135   Hennrichs/Lehmann, StuW 2007, 16, 18 ff.; Drüen, GmbHR 2008, 393, 398; Hey, FS-Herzig, 2010, 7, 14 f.; Palm (Fn.  23), 22 f., 370 f. 136   Vgl. III. 2. 137  Vgl. Hey, DStR 2009, 2561, 2566 ff. 138   BVerfGE 123, 111, 123; vgl. dazu Hey, DStR 2009, 2561, 2564 ff.; Drüen, JZ 2010, 91, 92 ff.; Hüttemann, in: FS-Spindler, 2011, 627, 628 ff. 139   Vgl. BVerfGE 116, 164, 198 ff.; vgl. dazu Palm, JZ 2012, 297, ders. (Fn.  23), 18 ff., 370 ff., 485 ff. 140   Vgl. BVerfGE 122, 210, 234; 123, 111, 121. 141  Vgl. Palm, DStR 2002, 152, 154 ff.; Wendt, DStJG 28 (2005), 41, 52 ff.; Lehner, DStR 2009, 185, 188 ff.; vgl. demgegenüber P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  217.

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gerichtigkeitskonstruktion überzeugt in diesem Zusammenhang daher nicht.142 Zudem deutet sie einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers an, der nicht besteht. Jener kann das objektive Nettoprinzip in seinen Randbereichen modifizieren und Typisierungen vornehmen, aber nicht gänzlich abschaffen.143 Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Gebot der Folgerichtigkeit grundsätzlich seine Berechtigung hat. Ein prinzipienloses Steuerrecht ist gestaltungsanfällig. Widersprüche im Steuersystem bereiten der Steuerumgehung den Boden. Die steuerrechtlichen Korrekturmechanismen gegen den Gestaltungsmissbrauch verlieren mit zunehmender Orientierungslosigkeit des Steuergesetzgebers an Wirksamkeit.144 Die Steuergestaltung des einen ist die Steuererhöhung der anderen. Ein Steuerrecht, das nicht ein Mindestmaß an Wertungs- und Begründungsrationalität aufweist, lässt sich mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip und dem Grundgedanken der Steuer als einer allgemeinen Last, die jeden Bürger gleichermaßen betrifft, daher nicht verein­baren.145 Hier kann das Gebot der Folgerichtigkeit einen wichtigen Beitrag leisten, wie sich – insofern ist sie beispielhaft – an der jüngeren Entscheidung zur Erbschaft­steuer146 zeigt, die sich gegen unsachgemäße Gestaltungsoptionen – etwa der Cash-GmbH, einer nur allzu offensichtlichen Möglichkeit zur Steuerumgehung im ursprünglichen Gesetz – wendet und zugleich den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu wahren sucht. Mit der prozeduralen Obliegenheit einer tragfähigen Begründung der Ausnahme fördert das Gebot der Folgerichtigkeit auch die Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit des Rechts, einen Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips. Der Gesetzgeber, der mit dem Steuerrecht eine Elementarmaterie der Verteilungsgerechtigkeit regelt, muss sich dann zumindest um Verständlichkeit bemühen, wenn er von den Systemprinzipien abweicht. Allerdings sollte das Gebot der Folgerichtigkeit selbst nur konsistent angewendet werden. Auch die verfassungsrechtlichen Maßstäbe müssen verlässlich bleiben und dürfen nicht von Entscheidung zu Entscheidung, von Teilrechtsordnung zu Teilrechtsordnung variieren. Das Gebot der Folgerichtigkeit ist eine Innovation, die sich in den letzten Jahrzehnten im Steuerrecht etabliert hat. Sein Ursprung liegt aber im Wahlrecht.147 Schon aus diesem Grund ist es ein allgemeines Verfassungsprinzip und nicht steuerrechtsspezifisch.148 Obgleich es in der besonderen, komplexen Sachmaterie des Steuerrechts ein bevorzugtes Anwendungsfeld vorfindet, hat sein Gehalt allgemeingültigen Charakter. Widersprüchliches Recht kann auch in anderen Gebieten gesetzt werden.149  Vgl. Lehner, DStR 2009, 185 f.   Englisch, DStR-Bei 2009, Heft 34, 92, 100; Wernsmann, DVBl. 2015, 1085, 1088. 144  Vgl. Drüen, in: FS-Spindler, 2011, 29, 49 f. 145  Vgl. Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167, 219 f. 146   BVerfG, 17.12.2014 – 1 BvL 21/12. 147   Vgl. BVerfGE 1, 208, 246; vgl. Payandeh, AöR 136 (2011), 578, 600 ff. 148   Vgl. auch P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  215; Englisch, in: FS-Lang, 2010, 167, 219 f.; Mellinghoff, Ubg 2012, 369, 370; Brückner, Folgerichtige Gesetzgebung im Steuerrecht und Öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2014, 111 ff., 177 f.; demgegenüber Kischel (Fn.  57), 175, 183 f.; ders., in: Epping/Hillgruber, GG, Art.  3 Rn.  141, 154. 149   Vgl. BVerfGE 111, 10; 121, 317; 115, 276; P. Kirchhof (Fn.  63), Rn.  225 ff.; Leisner-Egensperger, DÖV 2013, 533. 142 143

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3.  Strukturelles Vollzugsdefizit Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art.  3 Abs.  1 GG in Verbindung mit dem Leistungsfähigkeitsprinzips nicht nur die Gleichheit in der normativen Steuerpflicht ab, sondern auch die Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg. Die Steuerpflichtigen sollen rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden.150 Die materielle Steuernorm ist deshalb auch dann verfassungswidrig, wenn das Erhebungsverfahren in Bezug auf den Besteuerungstatbestand strukturell gegenläufig ausgestaltet ist, so dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann.151 Der dogmatische Satz ist auf den ersten Blick nicht unproblematisch. Die Rechtsprechung zielt verstärkt auf die faktischen Wirkungen der Besteuerung. Rechtssetzungsgleichheit und Rechtsanwendungsgleichheit scheinen hier zu konfundieren.152 Mit dem Vollzug der Steuergesetze ist die Exekutive betraut. Sie hat zunächst in ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art.  20 Abs.  3 GG) einen gleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze zu gewährleisten. Bloße Vollzugsmängel können die Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm daher nicht begründen. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Verfahrensrecht derart ineffektiv angelegt ist, dass ein normatives Vollzugsdefizit besteht.153 Das ist etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber bei der Besteuerung von Kapitaleinkünften allein auf die Steuerehrlichkeit vertraut (Deklarationsprinzip) und weder einen Quellenabzug vorsieht, noch der Finanzverwaltung ein Instrumenta­ rium an die Hand gibt, die Angaben zu überprüfen (Verifikationsprinzip).154 Auch diese Innovation hat ein nicht unerhebliches Potential, die Kompetenzen zu Lasten der ersten Gewalt zu verschieben. Sie ist deshalb strikt zu handhaben. Das normative Vollzugsdefizit ist dem Gesetzgeber nur zuzurechnen, wenn es diesem offenkundig ist.155 Daran schließt sich die Frage an, ob die dogmatische Figur verallgemeinerungsfähig ist. Das dürfte für die Bereiche zu bejahen sein, wo die Gleichheitsprüfung aufgrund erheblicher Grundrechtseingriffe freiheitsrechtlich strukturiert ist.156

II. Fazit Die dogmatische Fortentwicklung, die das Steuerverfassungsrecht in den vergangenen Jahrzehnten durchlaufen hat, ist zu begrüßen. Die gleichheitsrechtlichen Innovationen haben die Wertungsrationalität auf diesem Gebiet verbessert. Das gilt uneingeschränkt für die freiheitsrechtliche Strukturierung des Gleichheitssatzes. Auch   BVerfGE 84, 239, 268; 110, 94, 112.   BVerfGE 84, 239, 271; 110, 94, 122 f.; vgl. auch P. Kirchhof, Besteuerung im Verfassungsstaat, 2000, 37 f. 152  Vgl. Seiler, JZ 2004, 481, 485. 153   BVerfGE 110, 94, 113 mit Verweis auf Bryde, Die Effektivität als Rechtsproblem, 1993, 20 f.; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999, 527 ff. 154   Vgl. BVerfGE 84, 239, 271, 273 f., 111, 94, 113. 155  Vgl. Seiler, JZ 2004, 481, 485 f.; vgl. auch Waldhoff, StuW 2013, 121, 131 f. mit einem Prüfungsmodell des Vollzugsdefizits. 156  Vgl. Waldhoff, StuW 2013, 121, 129, der die Figur auf das Steuerrecht und das Wehrrecht beschränkt; wohl weitergehender Seiler, JZ 2004, 481, 484. 150 151

Das Steuerverfassungsrecht als dogmatisches Referenzgebiet des allgemeinen Verfassungsrechts

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den Entscheidungen zum strukturellen Vollzugsdefizit ist zuzustimmen. Gewisse Abstriche sind beim Gebot der Folgerichtigkeit zu machen. Die drei Innovationen sind grundsätzlich verallgemeinerungsfähig. Die bereichsspezifische Anwendung des Gleichheitssatzes führt im Steuerrecht jedoch zu den weitreichendsten Modifika­ tionen. Die Figur des strukturellen Vollzugsdefizits knüpft hieran an. Die Forderung nach einer Rückkehr zu den alten Maßstäben des Steuerverfassungsrechts ist nur dann konsistent, wenn sie sich auf die Verfassungsrechtsprechung im Allgemeinen bezieht. Die gleichheitsrechtlichen Innovationen – vornehmlich das Gebot der Folgerichtigkeit – könnten zwar bei einer extensiven Handhabung auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einschneidend wirken. Sie unterscheiden sich insofern aber nicht von anderen Figuren der Verfassungsdogmatik. Auch wenn einzelne steuerverfassungsrechtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu kritisieren sind, ist eine Konstitutionalisierung des Steuerrechts nicht zu verzeichnen. Für den politischen Kompromiss besteht ein sehr weiter Spielraum. Das Bundes­ verfassungsgericht hält sich gerade in den Grundstrukturen des Rechtsgebiets auf­ fällig zurück. Es wäre wünschenswert, wenn das Gericht gerade hier mit dogmatischer Rationalität – und sei es nur in den Gründen der Entscheidung – überzeugen könnte.

Steuerverfassungsrechtliche Sonderdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung Betrachtet anhand der Beispiele der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und des Gebots der Folgerichtigkeit von

Dr. Simon Kempny, LL.M., Universität zu Köln Inhalt I. Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Beziehung mit Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 II. Steuerverfassungsrechtliche Neubetonungen in der Gleichheitsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 1. Die Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung . . . . . . . . . 480 a) Hintergrund und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 b) Aufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 c) Verallgemeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 d) Zurückführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 2. Die Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 a) Hintergrund und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 b) Aufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 c) Verallgemeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 d) Zurückführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 III. Ein Valet der steuerverfassungsrechtlichen Sonderdogmatik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

I.  Steuerrecht und Verfassungsrecht – eine Beziehung mit Tragweite Die Frage nach dem Verhältnis von Steuerrecht und Verfassungsrecht berührt zwei jeweils schon für sich allein spannende Forschungsfelder und lädt mit deren Verbindung dazu ein, den Blick auf dogmatische Wechselwirkungen zu richten, denen bisher die ihrer Bedeutung gerecht werdende Breitenwahrnehmung in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht versagt geblieben ist.

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Worin liegt diese Bedeutung? Anders und etwas zugespitzt gefragt: Warum sollte ein Öffentlichrechtler, der sich nicht mit Steuerrecht befasst, von jenen Wechselwirkungen Kenntnis nehmen? Nun: sie sind nicht auf jene beiden Rechtsgebiete beschränkt, sondern wirken in andere hinein. Das liegt insbesondere daran, dass man sich jene Wechselwirkungen als suprafluiden Strom vorstellen kann, der die Stufen des Baues der Rechtsordnung1 eben nicht nur hinab-, sondern auch hinauffließt. Die Beziehung zwischen beiden Rechtsgebieten erschöpft sich nicht darin, dass das Verfassungsrecht das Steuerrecht beeinflusst, also beispielsweise dem Steuergesetzgeber Grenzen setzt – dies nimmt angesichts des Vorrangs der Verfassung2 nicht wunder. Auch das Steuerrecht beeinflusst das Verfassungsrecht, da es in Bezug auf bestimmte verfassungsrechtliche Fragen die Rolle einer dogmatischen Vorhut eingenommen hat. Am deutlichsten wird dies bei der Betrachtung des Art.  3 Abs.  1 GG. Das Steuerrecht ist diesbezüglich nicht bloß ein „Referenzgebiet“, anhand dessen sich bestimmte allgemeine Erscheinungen besonders gut darstellen lassen – es ist auch ein „Ausgangsgebiet“ dogmatischer Neubetonungen, welche mittlerweile das allgemeine Verständnis von Art.  3 Abs.  1 GG zu verändern begonnen haben. Und bei der Prägekraft der Grundrechte3 ist kaum ein Rechtsgebiet, zumal des Öffentlichen Rechts, denkbar, wo dies keinen Niederschlag finden könnte. Der Grund für die Vorhutrolle des Steuerrechts gerade hinsichtlich des allgemeinen Gleichheitssatzes4 liegt, in aller Kürze gesagt5, in folgendem: Steuergesetze erweisen sich vergleichsweise selten als Verletzungen von Freiheitsgrundrechten, da die Wirkkraft des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranken-Schranke im Bereich des Steuerrechts deutlich schwächer ausfällt als in anderen Rechtsgebieten. Die (von der

1  Hierzu Adolf Julius Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtliches Stufenbaues, 1931, zitiert nach: Dorothea Mayer-Maly/Herbert Schambeck/Wolf-Dietrich Grussmann (Hrsg.), Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften, Bd. 1/1, 1993, 437 (443 ff.); Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.  Aufl., 1960, 196 ff., 228 ff. – Das hier verwandte Bild des suprafluiden Stromes findet seine Vorläufer in den Bildern des in Katarakten abfallenden Flusses bei Adolf Julius Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, 1916–1919, zitiert nach: Gesammelte Schriften (siehe zuvor), Bd. 1/1, 85 (115), und des Wasserlaufes bei dems., Prolegomena einer Theorie des rechtliches Stufenbaues, a.a.O., 478. 2   Siehe insbesondere Art.  1 Abs.  3, Art.  20 Abs.  3, Art.  93 Abs.  1 Nr.  2 und Art.  100 Abs.  1 GG. Ein solcher Vorrang wurde in der deutschen Verfassungsgeschichte längst nicht immer anerkannt, auf gesamtstaatlicher Ebene vor dem Grundgesetz nur durch die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 (Simon Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011, 30 ff.). 3   Zu den vielfältigen Einwirkungen der Grundrechte auf die übrige Rechtsordnung etwa Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, §  19 Rn.  1 ff. 4   Der übliche Ausdruck „allgemeiner Gleichheitssatz“ als Gegenbegriff zu „besonderen Gleichheitssätzen“ bildet die zwischen den verschiedenen Gleichheitssätzen bestehenden Unterschiede hinsichtlich ihrer Anknüpfungs(un)abhängigkeit und ihrer sachlichen (Un-)Begrenztheit nur ungenau ab (hierzu ausführlich Simon Kempny/Philipp Reimer, Die Gleichheitssätze, 2012, 13 ff., 64 ff., 97 f.). Seine Verwendung erweist sich hier aber als unschädlich, da es ausschließlich um Art.  3 Abs.  1 GG geht. 5  Ausführlich Simon Kempny StuW 2014, 185 (187 ff.).

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Gestaltungswirkung 6 zu unterscheidende) Belastungswirkung7 einer Steuer ist regelmäßig durch ihren Finanzierungszweck gerechtfertigt. Mittels der Gleichheitsgrundrechte können die Steuerpflichtigen sich indes gegen eine Belastung wehren, ohne dass diese übermäßig sein muss – sie muss nur anders sein. Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung kann nämlich nicht im Finanzierungszweck einer Steuer, sondern allein in einem zwischen dem betrachteten Grundrechtsträger und einer Vergleichsperson bestehenden Unterschied liegen. All dies lenkt die (Rechtsschutz-) Aufmerksamkeit im Steuerrecht in besonderer Weise auf Art.  3 Abs.  1 GG. Zwei wichtige gleichheitsdogmatische Neubetonungen8, die seit den 1990er Jahren in der steuerverfassungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beobachten sind, sind die Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und – vor allem – die Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit. Mit der letztgenannten geht ein merklicher Hang zur faktischen Konstitutionalisierung 9 einfachrechtlicher Setzungen einher. Diese Neubetonungen einschließlich ihrer Ausstrahlungswirkung in Bereiche jenseits des Steuer(verfassungs) rechts sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden, wobei auch auf feststellbare gegenläufige Entwicklungen eingegangen werden soll. Mit Blick auf das Gebot der Folgerichtigkeit besondere Aufmerksamkeit verdient das Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 zum Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz – 1 BvL 21/12 –10, das offenbar mit einer deutlich über seinen prozessualen Gegenstand hinausgehenden Aussageabsicht abgefasst wurde.

  Mit Gestaltungswirkung ist gemeint, dass eine Verhaltensbeeinflussung stattfindet. Wenn ein bestimmtes Verhalten zum Steuertatbestand erklärt und damit für den Steuerpflichtigen „verteuert wird“, setzt dies einen Anreiz, jenes Verhalten zu meiden. Diese Wirkung tritt unabhängig davon auf, ob der Gesetzgeber sie erzielen will („Lenkungsteuern“) oder nicht („Fiskalsteuern“). 7   Mit Belastungswirkung ist gemeint, dass dem Steuerpflichtigen Geld entzogen wird: Zur Tilgung der Steuerschuld fließen aus seinem Vermögen finanzielle Mittel ab. 8   Der Ausdruck „Neuerungen“ wird vermieden, weil die im Folgenden beschriebenen Erscheinungen dogmengeschichtlich und insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch bereits in der weiter zurückliegenden Vergangenheit außerhalb des Steuerrechts (zumindest vereinzelt) nachweisbar sind. Vom Steuerrecht ausgehend, erfahren sie aber seit den 1990er Jahren eine merkliche Aufwertung; zugleich ist ein gewisser Schub, die allgemeine Dogmatik entsprechend zu verändern, festzustellen. 9  Der vielfältig gebrauchte Begriff soll hier eine Entwicklung dahin beschreiben, dass manchen Inhalten von Normen des einfachen Rechts irgendwann Verfassungsrang beigemessen wird. Mit zunehmender dogmatischer Durch- und Verarbeitung einer Rechtsordnung mit einer Verfassung an ihrer Spitze geht nicht selten ein Hang einher, immer mehr Aussagen und Festlegungen in der Verfassung zu finden beziehungsweise aus ihr herauszulesen (zu Art.  14 GG als Beispiel einer solchen Entwicklung Simon Kempny [Fn.  2 ], 209 ff.). 10   BStBl 2015 II, 50. 6

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II.  Steuerverfassungsrechtliche Neubetonungen in der Gleichheitsdogmatik11 1.  Die Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung a)  Hintergrund und Inhalt Steuergesetze können nicht nur zu Einnahmeerzielungs-, sondern auch zu Lenkungszwecken12 erlassen werden.13 Steuerliche Lenkung geschieht durch Ungleichbehandlung, durch be- oder entlastungsmäßige Anknüpfung an einen Unterschied zwischen zwei zumindest möglicherweise Steuerpflichtigen14. Derjenige, der einen bestimmten Tatbestand verwirklicht, wird anders belastet als derjenige, der es nicht tut – ob höher oder niedriger, hängt davon ab, ob der Gesetzgeber fördernd oder eindämmend vorzugehen sich entschlossen hat. Entscheidend ist, dass der zwischen den beiden Teilen des Vergleichspaares bestehende, in der Tatbestands(nicht)verwirklichung liegende Anknüpfungsunterschied nicht15 unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit, sondern unterschiedliches Befolgen eines Verhaltensanreizes abbilden soll. Als Ungleichbehandlungen bedürfen derlei steuergesetzliche Verhaltensanreize jedenfalls der Rechtfertigung vor Art.  3 Abs.  1 GG.16 Wie die Prüfung der Rechtfertigung im Einzelnen vorzunehmen, insbesondere wann welcher Maßstab anzulegen sei, ist Gegenstand derart vieler Äußerungen aus Wissenschaft und Rechtsprechung, dass eine Nachzeichnung hier den Rahmen sprengte. Als gleichsam kleinster gemeinsamer Nenner der allermeisten Ansätze lässt sich jedoch ein Verbot willkür­ licher Ungleichbehandlung feststellen. Willkürlich lässt eine Ungleichbehandlung jedenfalls dann nennen, wenn sie keinem legitimen Zweck dient. Die Frage ist nun, was (insbesondere im Rahmen gerichtlicher Normenkontrolle) als mögliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung überhaupt in den Blick zu   Die Vorstellung muss aus Raumgründen etwas holzschnittartig geschehen und kann nicht alle Besonderheiten sämtlicher Glieder zweier mittlerweile langer Entscheidungsketten wiedergeben. Es geht darum, das seinerzeit (so) Neue herauszuarbeiten. 12   „Lenkung“ in einem weiten, „Förderung“ einschließenden Sinne; es geht um das Setzen eines Verhaltensanreizes, um das Verursachen steuerlicher Gestaltungswirkung (hierzu oben Fn.  6 ). 13   Vergleiche §  3 Abs.  1 AO. 14   Der Ausdruck des „zumindest möglicherweise Steuerpflichtigen“ wurde mit Rücksicht darauf gewählt, dass es sein kann, dass gerade die (Nicht-)Verwirklichung des Tatbestands darüber entscheidet, ob jemand mit Blick auf ein bestimmtes Steuergesetz zum Steuerpflichtigen wird. Dies kann ebenso lenken wie eine im Binnenbereich eines Steuergesetzes vorgenommene Unterscheidung (etwa eine unter eine Bedingung gestellte Tarifermäßigung oder -erhöhung). Vergleiche unten Fn.  38. 15   Genau genommen, müsste man sagen: „nicht nur“, denn theoretisch möglich erscheint auch eine Lenkungsteuer mit dem Lenkungszweck, die Steuerpflichtigen vom Erzielen hoher oder niedriger Einkommen abzuhalten. 16   Insoweit besteht, verfassungsrechtlich gesehen, kein Unterschied im Vergleich zu Ungleichbehandlungen, die mit Steuergesetzen einhergehen, mit deren Erlass der Gesetzgeber nichts als die Erzielung von Einnahmen bezweckt (siehe Uwe Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: Rudolf Mellinghoff/Ulrich Palm [Hrsg.], Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, 175 [182]; Simon Kempny StuW 2014, 185 [197 f.]). 11

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nehmen sei: alle denkbaren Zwecke oder nur solche, die der historische Gesetzgeber nachweislich verfolgte? Nimmt man letzteres an, so erlegt man dem Gesetzgeber eine Begründungsobliegenheit auf. Lässt sich nicht feststellen, dass er einen bestimmten Zweck tatsächlich verfolgt habe, scheitert die Rechtfertigung – auch wenn dessen Verfolgung durchaus zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung taugen würde. Die Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung besagt, dass der Gesetzgeber zwar nichtfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele verfolgen dürfe, der Förderungs- und Lenkungszweck aber von einer aus den Gesetzgebungsmaterialien, insbesondere der amtlichen Begründung erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen sein müsse.

b) Aufkommen Herkömmlicherweise verstand man das Grundgesetz einschließlich seines Art.  3 Abs.  1 so, dass der Gesetzgeber nur das Gesetz und keine Begründung schulde.17 Dementsprechend beschränkte sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Überprüfung gesetzgeberischer Ungleichbehandlungen nicht von vornherein auf die Berücksichtigung solcher möglicherweise zur Rechtfertigung taugender Zwecke, die der historische Gesetzgeber nachweislich verfolgt hatte.18 In einem Beschluss vom 22. Juni 1995 – 2 BvL 37/91 – entschied der Zweite Senat, eine festgestellte ungleiche steuerliche Bewertung verschiedener Vermögensgegenstände, die vom historischen Gesetzgeber nicht beabsichtigt gewesen, sondern eine Folge der Preisentwicklung in der Zwischenzeit bei anhaltendem gesetzgeberischem Anpassungsunterlassen sei, könne nicht durch die Erwägung gerechtfertigt werden, dass von der bestehenden Rechtslage möglicherweise ein Subventionseffekt ausgehe. Eine „Intervention“, die das Steuerrecht in den Dienst außerfiskalischer Verwaltungs­ ziele stelle, setze eine erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers voraus, mit dem Instrument der Steuer auch andere als bloße Ertragswirkungen erzielen zu wollen. Aus staatsorganisationsrechtlichen und grundrechtlichen Gründen müsse der Ge­ setzgeber gesondert prüfen, ob er das Handlungsmittel der Besteuerung für außer­ fiskalische Zwecke einsetzen dürfe und wolle. Deshalb sei es ausgeschlossen, eine bei gleichbleibender gesetzlicher Regelung allein aufgrund veränderter tatsächlicher Verhältnisse bewirkte steuerliche Ungleichbehandlung damit zu rechtfertigen, dass der tatsächlich erreichte, vom Gesetzgeber aber so nicht beschlossene Belastungsunterschied legitime Lenkungsziele erreichen könne.19 17   Siehe das „geflügelte Wort“ (so die Einordnung bei Christian Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, 430) von Willi Geiger, Gegenwartprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Thomas Berberich/Wolfgang Holl/Kurt-Jürgen Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, 131 (141), sowie die umfassende Aufarbeitung bei Henning Tappe, Die Begründung von Steuergesetzen, Habil. Münster 2012, 2. Teil, B, Typoskript, 309 ff. 18   BVerfG, Beschluss vom 20.3.1979 – 1 BvR 111/74 und 283/78 = E 51, 1 (26 f.); aus jüngerer Zeit BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 31.3.1998 – 1 BvR 2167/93, 2198/93 = NJW 1998, 1776 (1777); BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 16.9.2009 – 1 BvR 2275/07 = K 16, 207 (215). 19   BVerfGE 93, 121 (147).

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Dieser Beschluss wurde zum Ausgangspunkt einer in einer Vielzahl von Entscheidungen (anfangs nur des Zweiten, später auch des Ersten Senats20 ) zugrunde gelegten steuerverfassungsrechtlichen Sonderdogmatik des Art.  3 Abs.  1 GG.21 Nur im Steuerrecht, bei der Frage, ob eine Ungleichbehandlung als Ausdruck der Verfolgung eines Förderungs- oder Lenkungszwecks gerechtfertigt werden könne, wurde die Menge der als mögliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung in Betracht genommenen Zwecke in dieser Weise beschränkt.

c) Verallgemeinerung Die Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung wurde vom Bundesverfassungsgericht auf das Gebührenverfassungsrecht ­erstreckt.22 Dies schon für eine „Verallgemeinerung“ zu erklären erschiene freilich etwas hochgegriffen, wurde der Bereich des Abgabenverfassungsrechts doch nicht verlassen. Eine gewisse, wenn auch nicht durch amtliche Zitate unterstrichene inhaltliche Nähe kann man in Bezug auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten prozeduralisierten Prüfung23 beobachten. In mehreren, allerdings nicht gleichheitsgrundrechtlich geprägten Entscheidungen hat das Gericht in den letzten Jahren eine gesetzgeberische Begründungsobliegenheit angenommen 24 und beispielsweise in dem Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1, 3, 4/09 – Vorschriften nicht deshalb beanstandet, weil sie zu verfassungswidrigen wirtschaftlichen Ergebnissen (ersichtlich zu niedrigen Sozialleistungen) führten, sondern weil sie unzureichend begründet seien 25.

d) Zurückführung Für den Bereich des Leistungsverfassungsrechts, namentlich das postulierte Existenzminimumsgrundrecht aus Art.  1 Abs.  1 in Verbindung mit Art.  20 Abs.  1 GG26, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seine Aussagen von 2010, was die Be-

  Zu dogmatischen Veränderungen bei der Übernahme des Erfordernisses einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung durch den Ersten Senat in dem Urteil vom 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00 = E 110, 274 (293), Rainer Wernsmann NVwZ 2004, 819 (820). 21   Siehe BVerfG, Beschluss vom 11.11.1998 – 2 BvL 10/95 = E 99, 280 (296 f.); Urteil vom 6.3.2002 – 2 BvL 17/99 = E 105, 73 (112 f.); Beschluss vom 7.11.2006 – 1 BvL 10/02 = E 117, 1 (32); Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (237 f.); Beschluss vom 6.7.2010 – 2 BvL 13/09 = E 126, 268 (281). 22   BVerfG, Urteil vom 19.3.2003 – 2 BvL 9, 10, 11, 12/98 = E 108, 1 (18 ff.). 23  Hierzu Simon Kempny/Heike Krüger SächsVBl. 2014, 153. 24   Siehe insbesondere BVerfG, Urteil vom 11.9.2007 – 1 BvR 2270/05, 809, 830/06 = E 119, 181 (228); Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1, 3, 4/09 = E 125, 175 (226); Urteil vom 14.2.2012 – 2 BvL 4/10 = E 130, 263 (301 f.); ferner Kyrill-A. Schwarz/Christoph Bravidor JZ 2011, 653 (654 ff.). 25   BVerfGE 125, 175 (227 ff.). 26   Zu dessen dogmatischer Konstruktion Simon Kempny/Heike Krüger SGb 2013, 384 (385 ff.). 20

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gründungsobliegenheit betrifft, in der Sache bald wieder zurückgenommen.27 Er betont nunmehr, die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen bezögen sich nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bringe für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich; entscheidend sei, ob sich die Höhe existenzsichernder Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lasse.28 Demnach kommt es auf die Begründbarkeit zur Zeit des gerichtlichen Verfahrens und nicht auf die Begründung im Rahmen des legislativen Verfahrens an.29 Auch auf dem Gebiet des Steuerverfassungsrechts sind seit Jahren gegenläufige Entwicklungen festzustellen. In einer Reihe von Entscheidungen30 hielt das Bundesverfassungsgericht zwar obersatzartig an der Forderung nach einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung für einen steuerlichen Lenkungszweck fest, setzte dann aber hinzu, es genüge, wenn jene gesetzgeberische Entscheidung anhand der üblichen Auslegungsmethoden festgestellt werden könne. Beachtliche Lenkungszwecke könnten sich auch, aber nicht nur aus den Gesetzesmaterialien ergeben; möglich sei außerdem, sie aus einer Gesamtschau der jeweils vom Gesetzgeber normierten Steuervorschriften zu erschließen oder sie aus dem Zusammenhang abzuleiten, worin das Gesetz mit dem zu regelnden Lebensbereich stehe. Mit diesem Zusatz ist – jedenfalls wenn man der Auslegung die herrschende (wenngleich nicht unumstrittene31) „objektive Theorie“32 zugrunde legt – der Kern der Sonderdogmatik beseitigt. Denn dieser besteht ja gerade darin, dass bei der Suche nach einer Rechtfertigung für das prüfungsgegenständliche Gesetz der Blick verengt wird: Es wird eben nicht jeder Gesichtspunkt einbezogen, den die Anwendung der sonst anerkannten Auslegungswege zutage zu fördern vermag, sondern nur derjenige, den der historische Gesetzgeber schon vor Augen hatte. Wird nun ausdrücklich und vollumfänglich auf die üblichen Auslegungsmethoden verwiesen, dann wird der Rechtfertigungssuchblick wieder geweitet. Man ist wieder da, wo man vor der Einführung der Son  Der Zweite Senat hingegen bekräftigte mit Blick auf Art.  33 Abs.  5 GG durch Urteil vom 5.5.2015 – 2 BvL 17/09 u.a. = DVBl 2015, 834 (838 f.), seine Auffassung, der Gesetzgeber sei gehalten, bereits im Gesetzgebungsverfahren eine Fortschreibung der Besoldungshöhe zu begründen, eine bloße Begründbarkeit genüge nicht. – Wie das Gericht mit diesem Spannungsverhältnis weiter umgehen wird, bleibt abzuwarten. 28   BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 2/11 = E 132, 134 (162 f.); BVerfG, Beschluss vom 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 = NJW 2014, 3425 (3426). 29   Simon Kempny/Heike Krüger SächsVBl. 2014, 153 (155 f.); für das Gesetzgebungsrecht (Art.  72 Abs.  2 GG) ebenso BVerfG, Urteil vom 21.7.2015 – 1 BvF 2/13 –, juris, Rn.  33, 45. 30   BVerfG, Urteil vom 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00 = E 110, 274 (293, 296 f.); Beschluss vom 21.6.2006 – 2 BvL 2/99 = E 116, 164 (182, 191 f.); Beschluss vom 17.4.2008 – 2 BvL 4/05 = E 121, 108 (129 f.); Urteil vom 15.1.2014 – 1 BvR 1656/09 = E 135, 126 (151 f.); Urteil vom 5.11.2014 – 1 BvF 3/11 = NVwZ 2015, 288 (291); über die Berücksichtigung der historischen Gesetzgebungsbeweggründe hinausgehend auch BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (83): „Ein hinreichend tragfähiger Rechtfertigungsgrund […] ist vom Gesetzgeber nicht aufgezeigt und auch nicht erkennbar.“ (Hervorhebung hinzugefügt). 31   Mit Blick auf das Steuerverfassungsrecht ablehnend etwa Rainer Wernsmann NVwZ 2000, 1360 (1362 ff.). 32   Dazu etwa Rolf Wank, Die Auslegung von Gesetzen, 5.  Aufl., 2011, 30. 27

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derdogmatik war: Die Frage nach der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung vor Art.  3 Abs.  1 GG ist mittels ganz normaler Auslegung zu beantworten.

2.  Die Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit a)  Hintergrund und Inhalt Die herkömmliche allgemeine Dogmatik zu Art.  3 Abs.  1 GG fasst diese Norm als Verbot ungerechtfertigter Ungleichbehandlungen auf.33 Unterzieht der Gesetzgeber den U einer Behandlung b, den V aber nicht, und fehlt es an einer Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung, so folgt aus Art.  3 Abs.  1 GG grundsätzlich die Verpflichtung des Gesetzgebers, nach seiner Wahl entweder die b-Behandlung des U zu beenden oder die b-Behandlung auf den V zu erstrecken. Das gleichsam von Art.  3 Abs.  1 GG geschaffene Spannungsverhältnis zwischen den die Ungleichbehandlung bewirkenden Gesetzesvorschriften34 erinnert an das dritte newtonsche Axiom. Es gibt regelmäßig35 keine verfassungsrechtliche Vorgabe, ob es in die eine oder in die andere Richtung aufzulösen sei. Es muss nur aufgelöst werden.36 Der Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit liegt die Annahme zugrunde, der Gesetzgeber treffe Grund- und Folgeentscheidungen37, und man könne dementsprechend – auf ein und derselben staatsrechtlichen Normstufe (beispielsweise der des Parlamentsgesetzes) – unterscheiden zwischen Vorschriften, welche ein System errichteten, und Vorschriften, welche sich entweder in ein solches System fügten oder es durchbrächen.38 Das Bundesverfassungsgericht legt Art.  3 Abs.  1 GG im Steuerrecht dahingehend aus, dass diese Bestimmung zwei Prüfungsmaßstäbe enthalte: einen großzügigeren und einen strengeren. Systembildende Vorschriften unterlägen einer großzügigeren, systemdurchbrechende Vorschriften einer strengeren Prüfung, wobei darauf hinzuweisen ist, dass man mit Systemdurchbrechung hier nur einen

  Zu dem vielfach überdies postulierten Verbot ungerechtfertigter Gleichbehandlung kritisch Simon Kempny JZ 2015, 1086. 34   Rechtstheoretisch braucht es nicht mehrere, sondern nur eine Vorschrift, die eben bezüglich des U eine Rechtsfolge b anordnet und bezüglich des V nicht. Rechtstatsächlich wirken oft mehrere Vorschriften zusammen, was etwa beim Vergleich des gewerblichen Tierzüchters (§  15 Abs.  4 S.  1 EStG) mit dem Bergbauunternehmer (§  15 Abs.  1 S.  1 Nr.  1 S.  2 Beispiel 1 EStG) hinsichtlich der den Verlustausgleich betreffenden Rechtsfolgen deutlich wird. 35   Zu Ausnahmen Simon Kempny/Philipp Reimer (Fn.  4 ), 166 ff. 36  Vergleiche Henning Tappe (Fn.  17), 1. Teil, C II 3 a bb, Typoskript, 225. 37   Was sich als politikwissenschaftlicher Befund sicherlich in vielen Fällen nachweisen lässt – umstritten ist jedoch, ob dies auch ein rechtsdogmatischer Befund sei. 38   Während das Bundesverfassungsgericht Systeme meist nur im Binnenbereich einzelner Steuern sucht, unterwirft ein Teil der Wissenschaft immer auch die einzelnen Steuern als solche und in ihrem Außenverhältnis zueinander systematischen Anforderungen etwa dergestalt, dass der Gesetzgeber, wenn er mit mehreren Steuern auf ein und dieselbe Grundausdrucksform wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit (das sind der Zufluss, das Innehaben und die Verwendung geldwerter Mittel) zugreife, diese einzelnen Steuern aufeinander abstimmen müsse (so etwa Johanna Hey in: Klaus Tipke [Begr.]/Joachim Lang [Fortf.], Steuerrecht, 21.  Aufl., 2013, §  3 Rn.  119; Joachim Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: FS für Joachim Lang, 2010, 167 [184 ff.]). 33

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Wertungs- und keinen Normwiderspruch meint 39. Kennzeichnend ist also die Annahme, dass die gleichheitsverfassungsrechtlichen Anforderungen an eine („ausgestaltende“) einfachgesetzliche Norm dann erhöht seien, wenn sie wertungsmäßig einer anderen („systembildenden“) einfachgesetzlichen Norm widerspreche. Etwas bildlich und etwas überspitzt gesagt, müssen sich nicht, wie nach herkömmlicher allgemeiner Dogmatik, beide Normen zusammen vor Art.  3 Abs.  1 GG dafür rechtfertigen, dass sie Unterschiedliches anordnen; stattdessen fordert Art.  3 Abs.  1 GG einseitig von der „systemdurchbrechenden“ Norm, dass sie sich für ihre Abweichung von der „systembildenden“ Norm rechtfertige. Die „systembildende“ Norm wird behandelt, als sei sie ranghöher. Dies führt – zumal wenn es dem Gesetzgeber nicht leicht gemacht wird, eine Änderung als „systemändernd“ anerkannt (und nicht als „systemdurchbrechend“ vorgehalten) zu bekommen40 – zu einer faktischen Konstitutionalisierung einfachrechtlicher Setzungen41. Das Bundesverfassungsgericht pflegt wie folgt zu formulieren: „Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber […] einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes […]. Die Freiheit des Gesetzgebers […] wird hierbei allerdings […] begrenzt, nämlich [unter anderem] durch das Gebot der Folgerichtigkeit […]. […] Die mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffene Belastungsentscheidung hat der Gesetzgeber […] bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands folgerichtig umzusetzen […]. Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes […].“42

Die Wendungen vom „weitreichenden Entscheidungsspielraum“ einerseits und vom „besonderen sachlichen Grund“ andererseits kennzeichnen die Zweistufigkeit des Ansatzes. Auf ersten Stufe, der Grundentscheidung, genügt irgendein sachlicher Grund; es findet nur eine Überprüfung auf Willkür statt. Auf der zweiten Stufe, der Folgeentscheidung, bedarf es, um eine „Folgewidrigkeit“ zu rechtfertigen, eines hinreichenden sachlichen Grundes; die Überprüfung orientiert sich am Verhältnismäßigkeitsprinzip.43

b) Aufkommen Das Gebot der Folgerichtigkeit in seiner gegenwärtigen Ausprägung44 geht auf Ausführungen des Zweiten Senats in einem Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89   Mehrdad Payandeh AöR 136 (2011), 578 (583 f.).   Siehe BVerfG, Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (241 ff.), als Beispiel eines gescheiterten Versuchs. 41   Deutlich insoweit (zum einkommensteuerlichen objektiven Nettoprinzip) BVerfG, Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (234); Beschluss vom 6.7.2010 – 2 BvL 13/09 = E 126, 268 (279 f.). Siehe auch Michael Droege, Die Kodifikationsidee in der Steuerrechtsordnung, in: Wolfgang Schön/Erik Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 68 (82). 42   So beispielhaft BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 – 1 BvR 611, 2464/07 = E 126, 400 (416 f.). 43   Johanna Hey (Fn.  38), §  3 Rn.  125. 44   Zur Rechtsprechungsentwicklung Kyrill-A. Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerrecht, in: FS für Josef Isensee, 2007, 949 (959 ff.); Joachim Englisch (Fn.  38), 197 ff.; Christian Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Sigrid Emmenegger/Ariane 39

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– zurück. Ohne Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung leitete der Senat aus Art.  3 Abs.  1 GG ein bereichsspezifisches Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen ab, woraus er folgerte: Der Gesetzgeber habe zwar bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Bei der Ausgestaltung dieses Ausgangstatbestandes habe er die einmal getroffene Belastungsentscheidung dann aber folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen.45 Vollends sichtbar wurde die damit angelegte Zweistufigkeit der Rechtfertigungsanforderungen spätestens in dem Beschluss des Zweiten Senats vom 30. September 1998 – 2 BvR 1818/91 –. Der Senat unterschied mit Blick auf das Einkommensteuergesetz zwischen zwei Gattungen von Ungleichbehandlungen. Zum einen werde ungleich behandelt, wenn §  2 Abs.  1 S.  1 EStG nur manche Einkünfte steuerbar stelle, andere dagegen nicht; hierbei habe der Gesetzgeber einen weitreichenden Gestaltungsspielraum. Zum andern werde ungleich behandelt, wenn an die Unterscheidung zwischen den in §  2 Abs.  1 S.  1 EStG aufgezählten und in Abschnitt II Unterabschnitt 8 (§§  13 ff.) EStG definierten (steuerbaren) Einkunftsarten, das heißt an die Zuordnung eines Vorgangs zu einer und nicht zu einer anderen Einkunftsart, unterschiedliche Rechtsfolgen (namentlich die Verlustverrechnung betreffend) geknüpft würden; eine solche Unterscheidung müsse ihre Rechtfertigung in besonderen sachlichen Gründen finden.46 Auf diesen zweistufigen Ansatz haben beide Senate des Bundesverfassungsgerichts seither vielfach zurückgegriffen.47 Für den Bereich des (Einkommen-)Steuerrechts wurde er in einem Urteil des Zweiten Senats vom 6. März 2002 – 2 BvL 17/99 – nochmals aufgewertet, indem die zusätzliche Wendung eingeführt wurde, dass die grundsätzliche Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers vor allem durch „zwei eng miteinander verbundene Leitlinien“ begrenzt werde: durch das Prinzip der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit.48

Wied­m ann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Bd. 2, 2011, 179 (183 ff.). 45   BVerfGE 84, 239 (271). Die Forderung nach einer folgerichtigen Umsetzung bezog sich hier auf die Herstellung des tatsächlichen Belastungserfolgs; beanstandet wurden unzureichende Erhebungsvorschriften. 46   BVerfGE 99, 88 (95). 47  Siehe nur BVerfG, Beschluss vom 17.4.2008 – 2 BvL 4/05 = E 121, 108 (119 f.); Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (230 f.); Beschluss vom 6.7.2010 – 2 BvL 13/09 = E 126, 268 (277 ff.); Beschluss vom 21.7.2010 – 1 BvR 611, 2464/07 = E 126, 400 (416 f.); Beschluss vom 18.7.2012 – 1 BvL 16/11 = E 132, 179 (189); jeweils m.w.N. – Die im Zuge der Erörterung der Folgerichtigkeitsdogmatik gelegentlich in die Betrachtung einbezogene Rechtsprechung zum Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung im Bundesstaat (siehe etwa BVerfG, Urteil vom 16.12.1997 – 2 BvR 1991, 2004/95 = E 98, 106 [118 f.]; Urteil vom 7.5.1998 – 2 BvR 1876/91, 1083, 2188, 2200/92, 2624/94 = E 98, 83 [97 f.]) weist eine gewisse inhaltliche Verwandtschaft auf (Christian Bumke Der Staat 49 [2010], 77 [88 f.]; Christian Thiemann [Fn.  4 4], 186 f.), hat aber einen besonderen staatsorganisationsrechtlichen Schwerpunkt, während die Folgerichtigkeitsdogmatik in ihrer gegenwärtigen Ausprägung, wie dargestellt, grundrechtlich hergeleitet wurde. 48   BVerfGE 105, 73 (125); zu der dogmatischen Einordnung der „Leitlinien“ Johanna Hey StuW 2015, 3 (7).

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c) Verallgemeinerung In die nicht steuerbezogene Verfassungsrechtsprechung hat das Gebot der Folgerichtigkeit insbesondere49 durch das Urteil des Ersten Senats vom 30. Juli 2008 – 1 BvR 3262/07, 402, 906/08 – zum baden-württembergischen und berlinischen Nichtraucherschutzgesetz Einzug gehalten. Der Senat führte darin (nunmehr unter Berufung auf Art.  12 Abs.  1 GG, teilweise „in Verbindung mit Art.  3 Abs.  1 GG“, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die steuerverfassungsrechtliche Rechtsprechung) aus, dass der Gesetzgeber, wenn er sich aufgrund des ihm zukommenden Spielraums zu einer bestimmten Einschätzung eines Gefahrenpotenzials entschlossen, auf dieser Grundlage die betroffenen Interessen bewertet und ein Regelungskonzept gewählt habe, diese Entscheidung auch folgerichtig weiterverfolgen müsse.50 Eine vermeintliche Abweichung des Gesetzgebers vom selbst gewählten Grundsatz geriet so zu einem Hauptbeanstandungspunkt.51

d) Zurückführung Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts betonte in einem Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvL 2/99 –, die durch eine einfachgesetzliche Tarif begrenzung für gewerbliche Einkünfte entstehende Abweichung vom System bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Einkommensteuer (dem es nach der Auffassung des Senats entsprochen hätte, die Gewerbesteuerbelastung ausschließlich im Rahmen des Betriebsausgabenabzugs zu berücksichtigen) begründe allein keinen Verfassungsverstoß.52 In einem Beschluss vom 12. Mai 2009 – 2 BvL 1/00 – erkannte der Zweite Senat zwar auf eine gesetzgeberische Durchbrechung eines gesetzgeberisch gewählten (steuerbilanzrechtlichen) Grundsatzes, leitete hieraus dann aber keine Erhöhung der Rechtfertigungsanforderungen ab, sondern beließ es bei einer Willkürprüfung, da es sich bei jenem Grundsatz erstens nicht um eine „strikte“, sondern um eine „entwicklungsoffene“ Entscheidung des Gesetzgebers handele und da jener Grundsatz zweitens nicht als Ausdruck einer gesetzgeberischen Entscheidung über die gerechte Verteilung steuerlicher Lasten gewertet werden könne, sondern lediglich aus Gründen der Praktikabilität der unternehmerischen Gewinnermittlung gewählt worden sei.53 Eine solche („tatbestandlich nicht sonderlich bestimmte“54) Abschwächung des Gebots der Folgerichtigkeit mittels der Voraussetzung einer qualifizierten Grundent-

  Anklänge finden sich bereits in einem Beschluss vom 11.2.2003 – 1 BvR 1972/00, 70/01 = E 107, 186 (197), zum Impfstoffversand, und in einem Urteil vom 9.6.2004 – 1 BvR 636/02 = E 111, 10 (45), zum Ladenschluss, später auch in dem Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1, 3, 4/09 = E 125, 175 (225), zum Existenzminimumsgrundrecht (hierzu Stephan Rixen SGb 2010, 240 [242 f.]). 50   BVerfGE 121, 317 (362). 51   BVerfGE 121, 317 (367 f.). 52   BVerfGE 116, 164 (183 ff.). 53   BVerfGE 123, 111 (123 f.). 54   Christian Thiemann (Fn.  4 4), 203. 49

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scheidung hat das Bundesverfassungsgericht seither nicht wiederholt. Auf die fach-(finanz-)gerichtliche Rechtsprechung ist sie dennoch nicht ohne Einfluss geblieben.55 Besonders bemerkenswert erscheint das Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 – 1 BvL 21/12 – zum Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz. Der Senat beginnt die gleichheitsrechtliche Prüfung der vom Bundesfinanzhof vorgelegten56 Begünstigungsvorschriften durchaus in gewohnter Weise, indem er darlegt, dass sich aus Art.  3 Abs.  1 GG je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung ergäben, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen könnten. Eine strengere (das heißt, über das Willkürverbot hinausgehende57) Bindung des Gesetzgebers könne sich aus betroffenen Freiheitsrechten ergeben; zudem verschärften sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, woran die gesetzliche Differenzierung anknüpfe, für den Einzelnen verfügbar seien oder je mehr sie sich denen des Art.  3 Abs.  3 GG annäherten.58 Sodann folgt aber eine entscheidende Neuerung.59 Zu erwarten gewesen wären nämlich als nächstes die Wendungen von dem im Ausgangspunkt weitreichenden Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, der jedoch (unter anderem) durch die „Leitlinie“ des Folgerichtigkeitsgebots begrenzt werde, sowie von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung, die der Gesetzgeber folgerichtig umzusetzen habe und wovon er nur bei Vorliegen eines besonderen sachlichen Grundes abweichen dürfe.60 Diese Kernaussagen der bisherigen Folgerichtigkeitsdogmatik lässt der Senat jedoch weg. Stattdessen führt er aus: „[Rn.   123 ] b) Gleichheitsrechtlicher Ausgangspunkt im Steuerrecht ist der Grundsatz der Lastengleichheit. Die Steuerpflichtigen müssen dem Grundsatz nach durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet werden […]. Der Gleichheitssatz belässt dem Gesetzgeber einen weit reichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes   Siehe BFH, Urteil vom 5.5.2011 – IV R 32/07 = DStR 2011, 1364 (1368).   BFH, Vorlagebeschluss vom 27.9.2012 – II R 9/11 = E 238, 241. 57  Zum Willkürverbot als „Regelfall“ und „Ausgangspunkt“ der Rechtfertigungsprüfung Brun-­ Otto Bryde/Ralf Kleindiek, Jura 1999, 36 (37 f.). 58   BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (66); vergleiche (stellvertretend für die bisherige Rechtsprechung beider Senate) BVerfG, Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (230); Beschluss vom 21.7.2010 – 1 BvR 611, 2464/07 = E 126, 400 (416); ferner Gabriele Britz NJW 2014, 346 (349 f.). 59   Die meisten Aussagen der sogleich wiedergegebenen Rn.  123 findet sich zwar schon (wortgleich) im Urteil des Ersten Senats zum Luftverkehrsteuergesetz vom 5.11.2014 – 1 BvF 3/11 = NVwZ 2015, 288 (290), wirken dort aber, kaum mit den übrigen Entscheidungsgründen verbunden, wie nachträglich eingefügt und nicht wie die wirkliche dogmatische Grundlage der Entscheidung (den Verkündungszeitpunkten nach dürften die Beratungen zu beiden Verfahren sich überschnitten haben). Im Gegensatz zum Erbschaftsteuerurteil scheint das Luftverkehrsteuerurteil in der Sache noch auf der bisherigen Folgerichtigkeitsdogmatik zu beruhen, wenn es darin heißt: „Nachdem der Steuergegenstand ausgewählt ist, unterliegt der Gesetzgeber nach Art.  3 Abs.  1 GG engeren Bindungen. Die Abweichung von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung beruht auf besonderen sachlichen Gründen, die die Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen vermögen.“ (BVerfG, Urteil vom 5.11.2014 – 1 BvF 3/11 = NVwZ 2015, 288 [292]). 60   So der Begründungsauf bau in BVerfG, Urteil vom 9.12.2008 – 2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08 = E 122, 210 (230 f.); Beschluss vom 21.7.2010 – 1 BvR 611, 2464/07 = E 126, 400 (416 f.). 55

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[…]. Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands, […]). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes […]), der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit Umfang und Ausmaß der Abweichung […]. [Rn.  124] c) Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, mit Hilfe des Steuerrechts außerfiskalische Förder- und Lenkungsziele zu verfolgen […]. […] [Rn.  125] In der Entscheidung darüber, welche Sachverhalte, Personen oder Unternehmen gefördert werden sollen, ist der Gesetzgeber weitgehend frei […]. Insbesondere verfügt er über einen großen Spielraum bei der Einschätzung, welche Ziele er für förderungswürdig hält. Er darf Verschonungen von der Steuer vorsehen, sofern er ansonsten unerwünschte, dem Gemeinwohl unzuträgliche Effekte einer uneingeschränkten Steuererhebung befürchtet. Allerdings bleibt er auch hier an den Gleichheitssatz gebunden. Das bedeutet zunächst aber nur, dass er seine Leistungen nicht nach unsachlichen Gesichtspunkten, also nicht willkürlich verteilen darf. Sachbezogene Gesichtspunkte stehen ihm in weitem Umfang zu Gebote, solange die Regelung sich nicht auf eine der Lebenserfahrung geradezu widersprechende Würdigung der jeweiligen Umstände stützt und insbesondere der Kreis der von der Maßnahme Begünstigten sachgerecht abgegrenzt ist […]. [Rn.  126] Der große Spielraum, über den der Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber verfügt, ob und welche Sachverhalte, Personen oder Unternehmen er durch eine Verschonung von einer bestimmten Steuer fördern und welche Gemeinwohlziele er damit verfolgen will, schließt allerdings nicht aus, dass die nähere Ausgestaltung solcher Verschonungsregelungen einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Neben den […] Merkmalen der Verfügbarkeit, der freiheitsrechtlichen Relevanz oder der Nähe des Differen­ zierungsgrundes zu Art.  3 Abs.  3 GG kann die Freiheit des Gesetzgebers im Steuerrecht durch das Ausmaß der mit der Steuerverschonung bewirkten Ungleichbehandlung und durch deren Auswirkung auf die gleichheitsgerechte Erhebung dieser Steuer insgesamt eingeschränkt sein. Je nach Intensität der Ungleichbehandlung kann dies zu einer strengeren Kontrolle der Förderziele durch das Bundesverfassungsgericht führen.“61

In diesen Ausführungen liegt ein deutliches Abrücken von der bisherigen Folgerichtigkeitsdogmatik. Die einfachrechtliche „Durchbrechung“ hat sich gleichsam nicht mehr (auch) dem einfachrechtlichen „System“ gegenüber, sondern – wie das „System“ – nur noch vor der Verfassung zu rechtfertigen. Die „Klammerdefinition“ des „Gebot[s] der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands“, die noch dazu in einen amtlichen Leitsatz62 aufgenommen wurde, zeugt davon, dass der Senat seine Rechtsprechung grundsätzlich weiterentwickeln und nicht bloß eine Aussage über (die seinerzeitigen) §  13a, §  13b und §  19 Abs.  1 ErbStG treffen wollte. Die bislang die Zweistufigkeit der Rechtfertigungsanforderungen kennzeichnende Voraussetzung des „besonderen sachlichen Grundes“ wird umgedeutet. Das Merkmal der Besonderheit stand bisher für die Aussage, dass die „Ausnahme“ von der „Belastungsentscheidung“ zu ihrer Rechtfertigung vor Art.  3 Abs.  1 GG eines Grundes bedürfe, der einem strengeren Maßstab als dem der Willkürprüfung genüge. Zur Rechtfertigung der „Belastungsentscheidung“ vor Art.  3 Abs.  1 GG war le61

  BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (66 f.).   Leitsatz 3.

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diglich ein „einfacher sachlicher Grund“ erforderlich. Zur Rechtfertigung der „Ausnahme“ genügte ein solcher nicht, sondern es bedurfte eines Grundes von höherem Gewicht, eines herausgehobenen und eben in diesem Sinne „besonderen“ sachlichen Grundes. Nach dem neuen Ansatz des Ersten Senats steht das Merkmal der Besonderheit (nur noch) für die Aussage, dass die „Abweichung“ nicht von dem die „Belastungsentscheidung“ vor Art.  3 Abs.  1 GG rechtfertigenden sachlichen Grund mitgerechtfertigt werde, sondern zur Rechtfertigung vor Art.  3 Abs.  1 GG eines eigenen sachlichen Grundes bedürfe. Damit ist nichts (mehr) über das erforderliche Maß an Sachlichkeit gesagt. Zu der Frage, welches Gewicht der der Abweichung eigene und in diesem Sinne „besondere“ Grund haben müsse, verweist der Senat in der Sache auf die allgemeine Dogmatik zu Art.  3 Abs.  1 GG, wonach grundsätzlich nur ein Willkürverbot gelte, die Bindung des Gesetzgebers sich aber aufgrund verschiedener Umstände verstärken könne, und nimmt nur insoweit eine Ergänzung vor, als der Menge der tendenziell bindungsverstärkenden Umstände – Freiheitsrechtserheblichkeit, (geringe) Merkmalsverfügbarkeit, und (große) Merkmalsnähe zu Art.  3 Abs.  3 GG – ein weiteres Element hinzugefügt wird, nämlich das (große) Ausmaß der bewirkten steuerlichen Ungleichbehandlung und deren Auswirkung auf die gleichheitsgerechte Erhebung dieser Steuer insgesamt. Liegen keine bindungsverstärkenden Umstände vor, dann gilt folglich für eine zum Zwecke der Erzielung steuerlicher Gestaltungswirkungen vorgenommene gesetzgeberische „Abweichung von der (durch die Auswahl des Steuergegenstandes und die Bestimmung des Steuersatzes) getroffenen Belastungsentscheidung“ derselbe Rechtfertigungsmaßstab wie für ebendiese „Belastungsentscheidung“. Eine Folgerichtigkeitsargumentation nach bisherigem Muster hätte überdies nahe gelegen – unterblieb aber (wie in sämtlichen Subsumtionsabschnitten des Urteils!) – bei der (sehr beachtlichen) Aussage, dass Gleichheitswidrigkeit auch daher rühren könne, dass ein Steuergesetz nicht zu rechtfertigende Gestaltungen zulasse63, besteht hier doch eine große inhaltliche Nähe zu dem Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89 –, womit nicht nur das Gebot der Folgerichtigkeit in seiner gegenwärtigen Ausprägung, sondern auch, und zwar daraus abgeleitet, die Rechtsprechung zum strukturellen Vollzugsdefizit begründet wurde.64 Die tatsächliche Belastungsgleichheit wird nämlich durch gestaltungsanfällige Steuergesetze in ähnlicher Weise gefährdet wie durch hinterziehungsanfällige Steuergesetze. Angesichts dessen dünkt das Unterlassen der bekannten Folgerichtigkeitswendungen absichtsvoll. Im Ergebnis hat sich der Erste Senat mit seinem neuen Ansatz weitgehend von der Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit abgewandt. An die Stelle dieser steuerverfassungsrechtlichen Sonderdogmatik ist im Wesentlichen wieder die allgemeine Dogmatik zu Art.  3 Abs.  1 GG getreten, wonach als Folgewidrigkeit darstellbare Wertungswidersprüche höchstens als Indizien für Willkür, das heißt für das Fehlen eines sachlichen Grundes, keineswegs aber als hinreichende Bedingungen für Gleichheits-

  BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (84 ff.).   BVerfGE 84, 239 (271 ff.); siehe auch oben Fn.  45.

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widrigkeit aufzufassen sind.65 Wo er einen strengeren Prüfungsmaßstab zuvor mit Folgewidrigkeit zu begründen pflegte, verweist er nunmehr auf das Ausmaß der bewirkten steuerlichen Ungleichbehandlung 66, auf die Unverfügbarkeit des Unterscheidungsmerkmals67 und auf die Betroffenheit eines besonderen Freiheitsgrundrechts68. Was von der bisherigen Folgerichtigkeitslehre bleibt, ist die begriffliche Unterscheidung zwischen „Grundentscheidungen“ („einmal getroffenen Belastungsentscheidungen“) einerseits und „Ausgestaltungsentscheidungen“ (bisher: „Ausnahmen“, jetzt: „Abweichungen“) andererseits. Die Einordnung einer bestimmten gesetzlichen Vorschrift als Ausdruck einer gesetzgeberischen „Grund-“ oder „Aus­ gestaltungs­entscheidung“ bringt aber als solche keinen anderen Rechtfertigungsmaßstab mehr mit sich. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass die Begriffe nur oder hauptsächlich noch verwandt worden sind, um den Meinungswandel des Senats in der gerichtsüblich zurückhaltenden Art und Weise kundzutun und den (dem Gericht in der Regel wichtigen) Eindruck von Beständigkeit und Stetigkeit der Rechtsprechung nicht zu gefährden. Die „klammerdefinitorische“ Prägung des Begriffs „Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands“ ließe sich dann als Versuch ansehen, die Abkehr von der bisher zugrunde gelegten Sonderdogmatik mittels Begriffsumdeutung unauffällig und anschlussfähig zu gestalten. Der Erste Senat hat seine neue Rechtsprechung inzwischen in mehreren Entscheidungen bekräftigt.69 – Man darf gespannt sein, ob und wie der Zweite Senat reagieren wird.

65   BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 16.9.2009 – 1 BvR 2275/07 = K 16, 207 (220); BVerwG, Urteil vom 17.4.2014 – 5 C 40.13 = E 149, 279 (283); Mehrdad Payandeh AöR 136 (2011), 578 (589 ff., 595 ff.); Sigrid Boysen in: von Münch/Kunig (Begr./Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6.  Aufl., 2012, Art.  3 Rn.  9 0; Werner Heun in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 3.  Aufl., 2013, Art.  3 Rn.  37; Uwe Kischel in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz, 2.  Aufl., 2013, Art.  3 Rn.  153 ff.; Simon Kempny/Philipp Reimer (Fn.  4 ), 136 f. Beachte auch die in einem Bericht über das 5. Steuerwissenschaftliche Symposium beim Bundesfinanzhof vom 17.3.2015 überlieferte Aussage in einem Diskussionsbeitrag des Berichterstatters des Bundesverfassungsgerichts im Erbschaftsteuerverfahren, „[e]s habe sich um eine Rückführung des Folgerichtigkeitsgebots in allgemeine Gleichheitssatzgrundsätze gehandelt“, bei Sandy Schüler-Täsch/Michael Schulze u.a. DStR 2015, 1137 (1140). 66   BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (68, 78, 82). 67   BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (68). 68   BVerfG, Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 = BStBl 2015 II, 50 (78): Es wird kein Grundrecht genannt, aber die Aussage, die Lohnsummenklausel beeinflusse gezielt die freie unternehmerische ­Entscheidung über die Personalstruktur des Betriebs, dürfte als Bezugnahme auf Art.  12 Abs.  1 GG zu verstehen sein. 69   Siehe (zur unterschiedlichen grunderwerbsteuerlichen Behandlung von amtlichen und freiwilligen Baulandumlegungen) BVerfG, Beschluss vom 24.3.2015 – 1 BvR 2880/11 = BStBl 2015 II, 622 (626); des weiteren (zum Unterschied zwischen der grunderwerbsteuerlichen Regel- und Ersatzbemessungsgrundlage) BVerfG, Beschluss vom 23.6.2015 – 1 BvL 13/11, 14/11 = DStR 2015, 1678 (1685); auch BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 7.4.2015 – 1 BvR 1432/10 = ZEV 2015, 426 (428).

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Simon Kempny

III.  Ein Valet der steuerverfassungsrechtlichen Sonderdogmatik? Nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts scheint es möglich, dass in Gestalt der Lehre von der Erforderlichkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung und der Lehre vom Gebot der Folgerichtigkeit zwei bislang bedeutsame Ansätze steuerverfassungsrechtlicher Sonderdogmatik den Höhepunkt ihrer Wirkmacht überschritten haben. Wie jedoch die Geschichte eines weiteren Beispiels, des Leistungsfähigkeitsprinzips, lehrt – Konrad Littmann erklärte es im Jahre 1970 (freilich von finanzwissenschaftlicher Warte aus) für verabschiedungsreif 70, das war ein gutes Jahrzehnt, bevor es mit der Habilitationsschrift Dieter Birks 71 seinen Siegeszug (in der Steuerrechtswissenschaft) erst richtig antrat –, ist es angezeigt, mit Abschiedsworten vorsichtig zu sein. Aber gleichgültig, wie man zu bereichsspezifischer Sonderdogmatik im Steuer(verfassungs)recht und zu deren Export in andere Rechtsbereiche steht72 – wenn die Debatte maßgebliche Wechselwirkungen wenigstens ins Licht gerückt und entscheidende Fragen aufgeworfen hat, ist schon viel gewonnen.

  Konrad Littmann, Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip, in: FS für Fritz Neumark, 1970, 113.   Dieter Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983. 72  Darstellung verschiedener „Grundpositionen“ bei Andreas Musil, Die Kodifikationsidee in der Steuerrechtsordnung, in: Wolfgang Schön/Erik Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts II, 2014, 129 (131 ff.). 70 71

Das Steuerrecht zwischen Autarkie und Vernetzung von

Prof. Dr. Markus Heintzen, Freie Universität Berlin Inhalt I. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 II. Referenzgebiet und Referenzpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 III. Autarkie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 IV. Steuerverfassungsrecht und allgemeines Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 2. Folgerichtigkeit und Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 3. „Rückwirkungsverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504

I.  Das Problem Der Prospekt eines großen juristischen Fachverlags trägt den Titel „Recht Steuern Wirtschaft“.1 Mit „Steuern“ ist überwiegend Steuerrecht gemeint, darüber hinaus Finanzwissenschaft, betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Buchführung und Bilanzierung. Der Titel erweckt den Eindruck, „Steuern“ seien eine Materie, deren Umfang dem von „Recht“ vergleichbar sei. Dies wäre zwar eine Übertreibung 2, schwer zu bestreiten ist aber, dass es kein Teilgebiet des Rechts gibt, in dem so viel Literatur erscheint wie im Steuerrecht. Der Titel erweckt weiter den Eindruck, „Steuern“ befänden sich in einer Mittellage zwischen „Recht“ und „Wirtschaft“ und ließen sich auf kein Teilgebiet der Rechtsordnung in besonderer Weise beziehen. Beides ist richtig. Im Berufsalltag ist Steuerrecht eine Domäne betriebswirtschaftlich ausgebildeter Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. Rechtswissenschaftlich unterhält das Steuerrecht jeweils eigenständige Beziehungen3 zum Verfassungs- und Verwaltungs  C.H. Beck, Recht Steuern Wirtschaft, Sommer 2015.  Wie die Behauptung, das Gros der weltweiten Steuerliteratur erscheine in Deutschland; dazu Wagner/Zeller, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 12 (2011), 303 ff. 3   Zum Folgenden Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 22.  Aufl., 2015, §  1 Rn.  26 ff. 1 2

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recht, zum Arbeits- und Sozialrecht4, zum Strafrecht5, zum Völker- 6 und Europarecht. Obwohl öffentliches Recht, ist die Beziehung zu Teilgebieten des Zivilrechts am intensivsten und auch dogmatisch interessantesten7; hervorzuheben sind das ­Gesellschafts- 8 und das Handelsbilanzrecht.9 In der Relation zum allgemeinen Zivilrecht hat der Steuergesetzgeber folgende Optionen: Er kann sich strikt zivilrechts­ akzessorisch verhalten (so im Erbschaftsteuergesetz mit seinen punktgenauen Verwei­ sungen), er kann sich grundsätzlich zivilrechtsakzessorisch verhalten (so zum Eigen­ ­t umsbegriff in §  40 AO), und er kann eine eigene Begrifflichkeit verwenden, um von zivilrechtlichen Gestaltungen unabhängig zu sein (so „Lieferung“ und „sonsti­ge Leistung“ im Umsatzsteuergesetz, dort §  3 Abs.  1a und Abs.  9 ). Erstes Fazit: Steuerrecht ist ein „dicker Brocken“, mit ökonomischen Eigendynamiken auf der Gläubiger- und auf der Schuldnerseite, was verständliche Berührungsängste in anderen Rechtsgebieten auslöst, etwa die Angst von Verfassungsrechtlern, die Gravitationskräfte des „Brockens“ würden im gestaltbaren Terrain unbestimmter und interpretationsoffener Normen des Grundgesetzes Sonderdogmatiken hervorbringen, die sich normativ verfestigen.10

II.  Referenzgebiet und Referenzpotential Steuerrecht lässt sich darum schlecht als „Referenzgebiet“ darstellen.11 „Referenzgebiete sind Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts, die einen exemplarischen Problem- und Problemlösungsbefund aufweisen, der von grundsätzlicher Natur für die dogmatische Weiterentwicklung des allgemeinen Verwaltungsrechts ist.“12 Referenz setzt, auch außerhalb des Verwaltungsrechts, eine Allgemeiner Teil – Besonderer Teil – Konstellation voraus, die einerseits noch überschaubar, andererseits nicht kleinteilig-technisch ist.13  Vgl. Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, DStJG 29 (2006).   Dessen Blankettvorschriften ohne den Rückgriff auf Steuerrecht nicht angewandt werden können. Vgl. hierzu Mellinghoff (Hrsg.), Steuerstrafrecht an der Schnittstelle zum Steuerrecht, DStJG 39 (2015). 6   Mit teilweise gewöhnungsbedürftigen Besonderheiten wie dem treaty override. Hierzu das Verfahren 2 BvL 1/12 vor dem Bundesverfassungsgericht. Siehe auch unten in der Einleitung von Gliederungspunkt IV. 7  Grundlegend Schulze-Osterloh, AcP 190 (1990), 139 ff. Pointiert Crezelius, Steuerrechtliche Rechtsanwendung und allgemeine Rechtsordnung, 1983. 8  Grundlegend Knobbe-Keuk, Das Steuerrecht – eine unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts?, 1986. 9   Zum Maßgeblichkeitsprinzip des §  5 Abs.  1 EStG, wonach das Handelsbilanzrecht für die steuerliche Gewinnermittlung maßgeblich ist, und zu umgekehrter Maßgeblichkeit: Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 34.  Aufl., 2015, §  5 Rn.  26 ff. 10   Siehe unten IV. – Ein ganz anderes Beispiel für „Gravitationskräfte“: Im Bibliothekswesen wird nach der Regensburger Verbundklassifikation das Umwandlungsrecht beim Umwandlungssteuerrecht geführt. 11  So Seer (Fn.  3 ), §  1, Überschrift vor Rn.  26; die Verwendung dieser Bezeichnung wird dort nicht näher reflektiert. 12  Zitat: Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, 4; ähnlich Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem u.a. (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, 11, 14 f. 13  Vgl. Burgi, in: Hoffmann-Riem u.a. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2.  Aufl., 2012, §  18 Rn.  113 f. 4 5

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Steuerrecht ist kein besonderes Verwaltungsrecht, mögen auch die Finanzgerichte in §  1 FGO als besondere Verwaltungsgerichte qualifiziert werden.14 Der Anteil und der Einfluss von Zivilrecht ist stärker als etwa beim Umweltrecht, das nach Zielen und Handlungsformen im Kern, trotz privat- und strafrechtlicher Annexe, dem ­Typus Verwaltungsrecht – bei allen Problemen, Verwaltung zu definieren – entspricht. Das Steuerrecht hat einen eigenen allgemeinen Teil hervorgebracht. Dies ist im Wesentlichen die Abgabenordnung, die als „Mantelgesetz“ bezeichnet wird, um zum Ausdruck zu bringen, dass sie die einzelnen materiellen Steuergesetze ummantelt, überwiegend mit Verfahrensrecht, aber auch mit Schuldrecht, Vollstreckungsrecht und Strafrecht. Steuerverwaltungsrecht soll mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht abgestimmt sein. Die Reichsabgabenordnung ist 1977 an das kurz zuvor erlassene Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes angepasst worden: Konvergenz15 bei verbleibender ­Differenz, aber wenig Referenz. Als aktuelles Beispiel sei das gemeinsame Konzept von Bund und Ländern zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens genannt16, dem eine Stellungnahme des Beirats Verwaltungsverfahrensrecht beim Bundes­ ministerium des Innern gegenübergehalten werden kann17: hier Computeraffinität und das Leitbild einer vollautomatisierten Einkommensteuerveranlagung, dort rechtsstaatlich begründete Skepsis gegenüber Computerisierung und E-Government. Im Verwaltungsrecht grundsätzlich qualifizierte elektronische Signatur, im Steuerrecht mehr andere sichere Verfahren (§  87a Abs.  6 AO), im Verwaltungsrecht förmliche Zustellung eines Widerspruchsbescheids, im Steuerrecht Bekanntgabe auch mittels einfachen Briefs oder gar E-Mail, im Verwaltungsrecht Zurückdrängung des Widerspruchsverfahrens18, im Steuerrecht Beibehaltung des Einspruchsverfahrens als notwendiger Korrekturfilter mit hoher Erfolgsquote für die Einspruchsführer, im allgemeinen öffentlichen Recht Anspruch auf Vertraulichkeit und Integri­ tät informa­ t ionstechnischer Systeme, im Steuerrecht digitale Außenprüfung mit direktem Zugriff der Finanzverwaltung auf Datenverarbeitungssysteme des Steuerpflichtigen (§  147 Abs.  6 AO). Die Frage, ob das Steuerrecht datenschutzrechtlich zurückbleibt, auch weil schnödes Geld und weil juristische Personen im Sinne von Art.  19 Abs.  3 GG verfassungsrechtlich weniger schutzwürdig sind, wäre ein schönes Promotionsthema.

14  Wie problematisch diese Qualifikation ist, zeigt sich insbesondere bei der Rekrutierung der ­ inanzrichterschaft und – umgekehrt – bei den Problemen betriebswirtschaftlich ausgebildeter SteuerF berater mit Auftritten vor einem Finanzgericht. 15   Zum Teil schematische Konvergenz, wie bei der Übernahme der Regelungen über die sachbezogene Allgemeinverfügung in §  118 Satz  2 AO, für die im Steuerrecht kein Anwendungsfall ersichtlich ist (dazu Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung. Finanzgerichtsordnung, §   118 Rn.  200 (Stand: November 2013)). 16   Der Diskussionsentwurf „Modernisierung des Besteuerungsverfahrens“ ist seit dem 21. November 2014 internetöffentlich; dazu Heintzen DÖV 2015, 780–787; ein Referentenentwurf liegt seit dem 26. August 2015 vor. 17   Beirat Verwaltungsverfahrensrecht beim BMI NVwZ 2015, 1114–1118. 18  Übersicht über das Recht der einzelnen Bundesländer bei Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8.  Aufl., 1991, 65–67.

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Referenzgebiete aus dem besonderen Verwaltungsrecht haben ihre Konjunkturen.19 Diese richten sich nach Verfassungszielen, Staatsaufgaben und Verschiebungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Ein Nachteil des Steuerrechts, insoweit dem Beamtenrecht vergleichbar, ist, dass sich ihm nur eine instrumentelle Staats­ aufgabe zuordnen lässt; mit seinem Finanzierungszweck ist es wenig attraktives „Backoffice“. Ob sich daran mit der Erhebung des materiellen Haushaltsausgleichs zu einem Staatsziel viel ändert, bleibt, nicht nur wegen der Nonaffektation von Staatsausgaben und Steuereinnahmen und der verfassungsrechtlichen Grenzen für Zwecksteuern, zu bezweifeln. Die Konjunkturen von Referenzgebieten richten sich weiter nach deren Genese und Geschichte. Es liegt auf der Hand, dass ein junges Rechtsgebiet, das gerade dabei ist, sich zu etablieren, referenzbedürftiger ist. Dies zeigt sich im Verhältnis von Umwelt- oder Telekommunikationsrecht zum allgemeinen öffentlichen Recht. Und dies macht verständlich, warum in der Zeit seiner Etablierung als Rechtsgebiet, also in der Zeit der Weimarer Republik, das Verhältnis des Steuerrechts zum allgemeinen öffentlichen Recht enger war, warum etwa die Staatsrechtslehrervereinigung sich auf ihrer dritten Tagung 1926 Gedanken über den Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung im öffentlichen Recht gemacht hat.20 Vor diesem Hintergrund wird gesagt, Steuerrecht sei, wenn überhaupt Referenzgebiet, kein neues Referenzgebiet, sondern ein vielfach vergessenes.21 Der Eindruck, das Steuerrecht sei eine Welt für sich, ändert sich nicht, wenn man es im kleineren Kontext des öffentlichen Abgabenrechts betrachtet. Hier steht die Abgrenzung der einzelnen Abgabentypen im Vordergrund. Selbst das Zollrecht führt, aus europarechtlichen Gründen, ein Eigenleben, obwohl Zölle Steuern sind. Im Übrigen geriert das Steuerrecht sich innerhalb des öffentlichen Abgabenrechts nicht als Referenz-, sondern als Dominanzmaterie, auf die viele Verweisungen zulaufen. Zu sagen, Verwaltungsrecht sei konkretisiertes Verfassungsrecht, hat seit Fritz Werner einen guten Klang.22 Vom Steuerrecht behauptet das niemand. Themen wie subjektive Rechte (gar Drittanfechtung), Vertrauensschutz für Begünstigungen oder Ermessen spielen im Steuerrecht eine kleinere Rolle; wer einen Eindruck von einer nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmten Verordnungsermächtigung gewinnen möchte, sollte sich an die Lektüre des, je nach Format der Textausgabe, ca. 15-seitigen §  51 EStG machen. Die Aussage, das Steuerrecht lebe aus dem Diktum des Gesetzgebers, ist vom Bundesverfassungsgericht, soweit ersichtlich, zwar auch nur einmal, 1962, zitiert worden 23 und hat es nicht in den Kreis sprachlicher Versatzstücke geschafft, derer das Gericht sich ständig bedient. Dem Gesetzgeber die Befugnis zum „Diktum“ zu konzedieren, wäre aus Karlsruher Sicht wohl zu weit gegangen. Selbst wo das Verfassungsrecht inhaltliche Impulse in Richtung Steuerrecht aussendet, etwa bei Art.  6 Abs.  1 GG, bleibt der Konkretisierungsspielraum des  Vgl. Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem u.a. (Fn.  13), §  1 Rn.  45.   Hensel/Bühler, VVDStRL 3 (1927), 63 ff., 102 ff. 21  So Drüen, Die Indienstnahme Privater für den Vollzug von Steuergesetzen, 2012, 109 (mit Nachweisen damaliger Literatur). Vgl. auch Heintzen, in: FS für Josef Isensee, 2007, 831, 855. 22   Werner DVBl. 1959, 527–533. Vgl. auch Kersten DVBl. 2011, 585–591. 23   BVerfGE 13, 318, 328, das Steuerrechtslehrbuch von Bühler und Strickrodt zitierend. Vgl. ferner Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, 44 ff. 19

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Gesetzgebers aber erheblich. Gemäß ständiger Rechtsprechung belässt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes.24 Folge­ richtigkeit bedeutet Konkretisierung selbst gesetzter, nicht verfassungsrechtlicher Vorgaben. Das Folgerichtigkeitsgebot soll verhindern, dass der Gesetzgeber über ein von ihm selbst gesetztes Ziel hinausschießt, so wenn ein Verbot, Scheinverluste geltend zu machen, auch echte Verluste erfasst25, oder dass der Gesetzgeber sich selbst widerspricht, so bei der Ausnahme für Fernpendler26, oder dass der Gesetzgeber aus fiskalischen Gründen in einem Jahr so, im nächsten Jahr entgegengesetzt und im übernächsten Jahr wieder wie im Ausgangsjahr entscheidet.27 Auf das Stichwort Konstitutionalisierung wird unter IV. zurückzukommen sein.

III. Autarkie? Dies alles macht verständlich, warum Steuergesetzgeber, Steuerverwaltung und Steuerjustiz28 sich auf sich selbst zurückziehen und warum andere Juristen das Steuer­ recht meiden.29 Schon innerhalb des Verwaltungsrechts ist festgestellt worden, dass das Denken in Referenzgebieten sehr hohe, vielleicht zu hohe Anforderungen an die intellektuelle Speicher- und Kombinationsfähigkeit der Beteiligten stellt.30 Das Steuer­recht sprengt möglicherweise diesen Rahmen. Doch ist Autarkie eine Alternative? Steuerrecht ist zu komplex und umfangreich, um bloß Referenzgebiet zu sein. Steuerrecht kann andererseits genau aus diesem Grund nicht autark sein. Es steht mitten in der Rechtsordnung. Angesichts dieses Dilemmas sei an dieser Stelle ein Blick auf rechtswissenschaftliche Grundlagenfächer geworfen: Geschichte, Theorie und Philosophie, Methodenlehre, Rechtsvergleichung. Auf dieser wissenschaftlichen Ebene scheint das Problem kleiner zu sein und sich, anders als für die Praxis, nicht zu einem Dilemma zu verschärfen.   Zuletzt BVerfGE 137, 350, 366.  Vgl. Heintzen, in: DStJG 29 (2004), 163–184. 26   BVerfGE 122, 210. „Der Gesetzgeber hat – so könnte man es salopp formulieren – die Regelung vermasselt.“ (Zitat: Birk, DStR 2009, 877 (881 r.Sp.)). 27  Beispiel: die Entscheidung zur Passivierung von Jubiläumsrückstellungen, BVerfGE 123, 111. Angesichts der von Jahr zu Jahr unterschiedlichen staatlichen Haushaltssituation mag das hier erklärlich sein. Zu dieser Entscheidung Hey DStR 2009, 2561, 2564 ff. 28  Auf einen weiteren Komplexitätseffekt sei am Rande hingewiesen: Schwierige Fälle aus dem Unternehmensteuerrecht werden selten streitig von staatlichen Gerichten entschieden, sondern durch Verhandlungen gelöst, wobei Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit im Steuerrecht ein Kapitel für sich sind, auf das hier nur hingewiesen werden kann. 29   Eine neben der Komplexität weitere Erklärung ergibt sich aus der Rechtsparömie „Judex non calculat“; zu deren Bedeutung und begrenzter Ergiebigkeit Heintzen, in: Laitenberger/Löffler (Hrsg.), Finanzierungstheorie auf vollkommenen und unvollkommenen Kapitalmärkten, FS für Lutz Kruschwitz, 2008, 21–31. 30   Voßkuhle (Fn.  19), Rn.  4 4. 24

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Steuerrechtsgeschichte ist als Teildisziplin der Rechtsgeschichte etabliert.31 Methodologisch haftet dem Steuerrecht der Ruf an, positivistischer zu sein32 ; dabei spielen norminterpretierende Verwaltungsvorschriften eine große Rolle, die sich wie eine zweite Schicht über alle Steuergesetze legen; es handelt sich also um bürokratischen Positivismus. Forum für theoretische Grundlagenarbeit ist die Allgemeine Steuerlehre33, wo selbst eine immer mathematischer werdende betriebswirtschaft­ liche Steuerlehre und philosophische Überlegungen zur Steuergerechtigkeit sich ­begegnen können. Rechtsvergleichung schließlich wird im Ertragsteuerrecht von einem Netzwerk von Doppelbesteuerungsabkommen und den hinter ihnen stehenden Musterabkommen und nationalen DBA-Politiken beflügelt. Aus der Sicht des sog. Steuererfindungsrechts des Gesetzgebers entfaltet dessen Begrifflichkeit und Systematik in Deutschland eine ähnliche Prägekraft und Vorbildwirkung wie nationales Verfassungsrecht.34 Vorläufiges Fazit: Steuerrecht lässt sich zwar nicht als Referenzgebiet darstellen, das in einer Beziehung zu einem bestimmten anderen Rechtsgebiet steht. Gleichwohl gibt es Beziehungslinien, Referenzrelationen, dies in verschiedene Richtungen.

IV.  Steuerverfassungsrecht und allgemeines Verfassungsrecht In diesem Sinne soll im Weiteren über die Beziehung zwischen Steuerverfassungsrecht und allgemeinem Verfassungsrecht 35 nachgedacht werden. Mit allgemeinem Verfassungsrecht sind in diesem Beitrag die Grundrechte des Grundgesetzes und das Rechtsstaatsprinzip gemeint, mit Steuerverfassungsrecht deren Anwendung auf steuerrechtliche Sachverhalte.36 Ausdrückliche Regelungen zum Verhältnis zwischen Fiskus und Steuerschuldnern und sonstigen Steuerpflichtigen (§§  33 und 37, jeweils Abs.  1, der Abgabenordnung) findet man im Grundgesetz bekanntlich kaum. Die 31   Hingewiesen sei auf das Steuerhistorische Symposium, das die Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft im Juni 2013 abgehalten hat; die Vorträge sind abgedruckt in StuW 2014, Heft 1. Exemplarisch Kempny, Die Staatsfinanzierung nach der Paulskirchenverfassung, 2011; Thier, Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, 1999; Utz, Ability to pay, Whittier Law Review 23 (2002), S.  867 (zur deutschen Steuerrechtsgeschichte S.  896–910). 32  Hierzu R. Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007. 33  Standardwerk: Homburg, Allgemeine Steuerlehre, 7.  Aufl., 2015. 34   Zu der Frage, ob Steuern zulässig sind, die sich keiner der in Art.  106 GG genannten Steuerarten zuordnen lassen, Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 6.  Aufl., 2012, Art.  105 Rn.  46 f., Art.  106 Rn.  8. 35  Gemeint ist Bundesverfassungsrecht. Das Landesverfassungsrecht enthält zwar Aussagen zum Steuerrecht, die aber außerhalb von Art.  105 Abs.  2a GG wegen des Vorrangs des in der Regel bundesrechtlichen Steuerrechts wenig Wirkung entfalten können. Als Beispiel sei Art.  123 Abs.  3 Satz  1 der Verfassung des Freistaates Bayern zitiert: „Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“ Diese Vorschrift hat noch Bedeutung für das Abstimmungsverhalten der bayerischen Mitglieder des Bundesrats bei Erbschaftsteuer­ reformen, ein aktuelles Thema. 36   So zum Steuerverfassungsrecht auch Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 85. Die Bezeichnung Steuerverfassungsrecht hat ihre Tücken; in diesem Beitrag ist damit keinesfalls ein „verfassungswidriges Sonderverfassungsrecht“ gemeint; zu Letzterem Hey, StuW 2015, 3, 4; es geht nicht um Ableitungen aus Gleichheitssatz und Rechtsstaatsprinzip mit einer im Verhältnis zu ihren Ursprüngen eigenen normativen Existenz.

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Finanzverfassung (Art.  104a ff. des Grundgesetzes) ist zwar in den Art.  105 bis 108 ganz überwiegend Steuerverfassung, doch betrifft dies nicht das Verhältnis des Fiskus zu den Bürgern und ihren Unternehmungen. Art.  106 Abs.  3 Satz  4 Nr.  2, 2. Alt. GG („Überbelastung der Steuerpflichtigen“), die sog. Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung, das Steuerstaatsprinzip und das Gebot der Widerspruchs­ freiheit der Ausübung von Sach- und von Steuergesetzgebungskompetenzen betreffen nur spezielle Fälle oder haben im Staat-Bürger-Verhältnis wenig Durchsetzungskraft. Am Anfang des so definierten Steuerverfassungsrechts steht Bundesverfassungsgerichtsstatistik.37 2014 haben Finanzgerichte 22 von 41 konkreten Normenkontroll­ anträgen produziert, die beim Bundesverfassungsgericht eingegangen sind.38 Die kleinste von fünf Gerichtsbarkeiten (Art.  95 Abs.  1 GG) stellt also mehr als die Hälfte der Normenkontrollanträge, wobei das Ergebnis des Jahres 2014 kein Ausreißer, sondern typisch ist. Zum Vergleich: Die ordentliche Gerichtsbarkeit hat es 2014 nur auf 2 Anträge gebracht. Indes: Man sollte sich von solchen Zahlen auch nicht zu sehr beeindrucken lassen.39 Vorsicht ist geboten. Zwei vorsichtgenerierende Punkte seien besonders betont. Erstens: Die Entscheidungen betreffen nicht alle Bereiche des Steuerrechts in gleicher Weise. Aus den Reihen von Unternehmensteuerrechtlern wird die Befürchtung geäußert, dieser Bereich drohe zu einer „steuerverfassungsrechtsfreien Zone“40 zu werden. Zweitens: Ein verfassungsrechtliches Problem kann sich in einem steuerrechtlichen Kontext anders darstellen als im Kontext eines anderen Rechtsgebiets. So geht es, wenn das Bundesverfassungsgericht sich aus sozialrechtlicher Perspektive mit dem Existenzminimum beschäftigt, wirklich um arme Menschen.41 Dagegen ist den Sachverhaltsschilderungen seiner Entscheidungen, die sich aus steuerrechtlicher Per­ spek­tive mit dem Existenzminimum beschäftigen, zu entnehmen, dass die Kläger der Ausgangsverfahren überwiegend wirtschaftlich gut gestellte Menschen mit Kindern sind, die darüber klagen, dass ihnen im Vergleich mit ähnlich gut Situierten ohne Kinder die Möglichkeit einer steuerlich optimalen Nutzung des Kinderexistenzminimums vorenthalten werde.42 „Existenzminimumsnutzung“ ist dabei eine Formulierung, die der Steuerrechtler nachvollziehen kann und die jeder andere wahrscheinlich étonnant findet.43   So auch am Anfang des Beitrags von Waldhoff (Fn.  36).   Eine ähnliche Vorreiterstellung haben die deutschen Finanzgerichte bei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union, dies auch seit der Kopfnuss, die das BVerfG dem BFH verpasst hat, weil es dem EuGH nicht vorgelegt hat („objektive Willkür“): BVerfGE 75, 223,234, verweisend auf BVerfGE 19, 38, 43, dort ebenfalls zum BFH. 39   Betrachtet man die aktuelle Entscheidungsvorschau des BVerfG im Internet, so steht das Steuerrecht nicht ganz so im Vordergrund. Beim 1. Senat sind es 5 von 27 Verfahren, beim 2. Senat 6 von 32. 40   So wörtlich Hey (Fn.  27), 2568; sich dem anschließend Schulze-Osterloh, in: Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 2, 2013, 1913, 1921 f., der aber zugleich auf die Beanstandung der Regelungen zum Übergang vom körperschaftsteuerlichen Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren durch das BVerfG hinweist (E 125, 1). 41   Beispiel: BVerfGE 137, 34. Entscheidungsmaßstab ist dann Art.  1 Abs.  1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, nicht, wie im Steuerrecht, primär Art.  3 Abs. 1 und Art.  6 Abs.  1 GG. 42  Dazu Heintzen, Nihon University Comparative Law 26 (2009), 55 ff. (mit einer Liste der einschlägigen Entscheidungen im Anhang). 43   Ähnlich wie das „treaty override“, also die (vorsätzliche) Verletzung eines Doppelbesteuerungs37

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Trotzdem bleibt das Fallmaterial beeindruckend und stellt sich die Frage einer Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung44 oder einer wechselseitigen Beeinflussung verfassungs- und steuerrechtlicher Prinzipien im Rahmen von Art.  3 Abs.  1 GG. Ein US-Steuerrechtsprofessor wäre sehr überrascht, wenn man ihm die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuerrecht vorstellen und ihn nach vergleichbaren Aktivitäten des U.S. Supreme Court fragen würde; die gibt es nämlich nicht; eine Entscheidung wie BVerfGE 125, 1 wäre in den USA undenkbar. Drei Punkte seien hier herausgegriffen und hervorgehoben: der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Folgerichtigkeit und Leistungsfähigkeit als „Subtatbestände“ von Art.  3 Abs.  1 GG, rückwirkende Steuergesetzgebung.

1.  Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Gegen die fiskalischen Interessen des Steuergesetzgebers bietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum Schutz, weder im Rahmen von Art.  14 Abs.  1 noch im Rahmen von Art.  2 Abs.  1 GG.45 Da der Fiskus nie genug Geld haben wird und seine Bedürfnisse sich politisch beliebig steigern lassen, läuft der Erforderlichkeitsgrundsatz leer.46 Steuern sind eine Gemeinlast; es ist wenig wahrscheinlich, dass die Allgemeinheit der Staats- und Steuerbürger47 sich selbst, im Sinne der 3. Stufe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, grob unangemessene Lasten auf bürden wird. Sollte eine demokratische Mehrheit versuchen, eine Minderheit über Gebühr zur Kasse zu bitten, verlagert sich die Problematik von Verhältnismäßigkeit zu Gleichheit. Die Ursprünge des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit werden im preußischen Polizeirecht verortet. Steuerrecht war im 19. Jahrhundert neben Polizeirecht die zweite klassische Eingriffsmaterie. Es überrascht, dass sein Beitrag zu der heute wichtigsten verfassungsrechtlichen Schranke staatlicher Einabkommens durch nachträgliche innerstaatliche Gesetzgebung. Dazu sind beim BVerfG mittlerweile wohl drei Richtervorlagen des BFH (1. Senat) anhängig, in denen geltend gemacht wird, „treaty override“ sei entgegen der deutschen Sicht zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht unwirksam, weil es gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoße; vgl. 2 BvL 1/12; die Entscheidung wird wahrscheinlich während der Drucklegung dieses Beitrags ergehen. Dazu Krumm AöR 138 (2013), 363–410. Um dies richtig einzuschätzen, sollte man wissen, dass die Abkommenskündigung zur Durchsetzung von Nachverhandlungsinteressen im Steuerrecht wegen unvermeidbarer Kollateralschäden ein ungebräuchliches Mittel ist und dass Doppelbesteuerungsabkommen typischerweise bilateral und damit sehr interessenbezogen sind; dazu Valta, Das Internationale Steuerrecht zwischen Effizienz, Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe, 2014, 5 (Kündigung) und 312 ff. (Bilateralität). 44  Hierzu Droege StuW 2011, 105–112; Waldhoff (Fn.  36), 88–90. 45   Zu diesem Problem Elicker DVBl. 2006, 480–486. In der Arbeit von v. Kraus, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1955, kommt Steuerrecht praktisch nicht vor; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, weist auf Ausnahmeklauseln hin (u.a. S.  48 f.); Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, 11 f., geht auf einen Unterschied zwischen Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit ein. 46   Dies ist anders in den überschaubareren Verhältnissen der mittelbaren Staatsverwaltung. Zur Beitragserhebung bei Industrie- und Handelskammern vgl. §  3 Abs.  2 Satz  1 IHK-Gesetz; dazu R. Wendt WiVerw. 2013, S.  5 ff. (insbesondere Gliederungspunkt B. III.). Zu Abundanzkommunen Moewes, Abundanzumlagen im kommunalen Finanzausgleich, 2015. 47   Dass beide Allgemeinheiten sich im Kern, aber nicht vollständig decken (Ausländer, Körperschaften, unbeschränkte und beschränkte Steuerpflichten), kann hier vernachlässigt werden.

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griffsmacht, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, so gering und der des Polizeirechts so hoch sein soll. Diese Sicht ist auch nicht richtig. Das Steuerrecht hat seinen Anteil. Zwischen dem Erlass einer Steuerforderung aus Billigkeitsgründen, einem klassischen Instrument steuerrechtlicher Eingriffsdosierung, heute allgemein in den §§  163 und 227 AO geregelt, und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gibt es eine enge Verbindung, die nur in der steuerrechtlichen Literatur kaum wahrgenommen wird. Steuerrechtlich wird zwischen sachlicher und persönlicher Unbilligkeit unterschieden. Von sach­li­ cher Unbilligkeit spricht man, wenn die Festsetzung oder Erhebung einer ­Steuer dem Gesetz zwar an sich entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Einzelfall zuwiderläuft. Persönliche Unbilligkeit setzt Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit voraus. Erlassbedürftigkeit liegt vor, wenn die Besteuerung die persönliche oder wirtschaftliche Existenz des Zensiten vernichten oder ernstlich gefährden würde; Erlasswürdigkeit kommt hinzu, wenn dieser seine fehlende Leistungsfähigkeit nicht selbst vorwerf bar herbeigeführt hat.48 Zwischen sachlicher Unbilligkeit und den beiden ersten Stufen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und persönlicher Unbilligkeit und der dritten Stufe gibt es inhaltliche Parallelen, insbesondere wenn man zwischen Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit im Einzelfall unterscheidet.49 Darüber, insbesondere über Rückwirkungen des Kriteriums der Erlasswürdigkeit im Verfassungsrecht, wäre weiter nachzudenken.50

2.  Folgerichtigkeit und Leistungsfähigkeit Das Kriterium der Folgerichtigkeit hat in jüngster Zeit intensive akademische Kontro­versen ausgelöst. Vor lauter Bäumen scheint der Wald nicht mehr gesehen zu werden. Folgerichtigkeit ist Anwendung von Art.  3 Abs.  1 GG, bezogen auf denselben Normsetzungsakt. Wer nur 19 km zur Arbeitsstätte (inzwischen erste Tätigkeitsstätte) fuhr und die Fahrtkosten steuerlich nicht geltend machen konnte, hat zu Recht gefragt, warum bei dem, dessen Entfernung 22 km beträgt, das objektive Nettoprinzip, zu unterscheiden von einer Steuervergünstigung, dann doch zur Anwendung kommt, bei ihm aber nicht, mit der Folge, dass, wer näher an der Arbeitsstätte wohnt, benachteiligt wird. Bei der Pendlerpauschale handelt es sich um ein Gewerkschaftsthema; es geht um Arbeitnehmer, die nicht genug Geld haben, um sich eine arbeitsplatznahe Wohnung zu leisten. Und darum bleibt die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht zu ihrer kompletten Streichung den Mut gefunden hätte.51   Statt vieler: Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 18.  Aufl., 2015, Rn.  277.  Dazu Merten, in: ders./Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III/1, 2009, §  68 Rn.  75 f. 50  Ansätze, ausgehend vom Steuerecht: Heintzen, Il principio di proporzionalità, Modena 2015, 64–66. 51   Die Entscheidung zur Pendlerpauschale erinnert insoweit an die Entscheidung zum Streikeinsatz von Beamten, den das BVerfG – bzw. das Grundgesetz – unter Gesetzesvorbehalt gestellt hat, wohl wis48 49

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Das wäre eine politische Frage, keine juristische Frage. Wie so vieles bei der Diskussion, ob das Bundesverfassungsgericht an den Steuergesetzgeber höhere An­ sprüche stellt als an andere Gesetzgeber.52 Da sich freiheitsgrundrechtlich keine ­Belastungsobergrenze formulieren lässt, ist Art.  3 Abs.  1 GG der grundrechtliche Hauptkontrollmaßstab für den Steuergesetzgeber. Verschärfungen wirken sich hier besonders aus, wie die Ergänzung der Willkürformel durch die sog. neue Formel. Wer dies kritisiert, muss sich fragen lassen, ob er oder sie generell zur Willkürformel zurück will.53 Steuerrecht spielt bei der Genese der „Neuen Formel“ eine erhebliche Rolle. Die allgemein als weichenstellend angesehene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Oktober 198054 beruft sich auf drei ältere Entscheidungen des Gerichts, darunter hervorgehoben („namentlich“) eine Entscheidung zum körperschaftsteuerrechtlichen Abzugsverbot für die Vergütungen von Aufsichtsratsmitgliedern.55 Wenn das Bundesverfassungsgericht Begriffe und Formulierungen aus der Steuerrechtsdogmatik in seine Judikatur übernimmt (u.a. Steuergerechtigkeit, horizontal oder vertikal; Nettoprinzip, objektiv oder subjektiv; Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit), könnte der Eindruck entstehen, diese würden zu geltendem Verfassungsrecht aufgewertet. Doch formuliert das Gericht meist – wenige Ausreißer seien ihm nachgesehen – vorsichtig genug. So wird zum Leistungsfähigkeitsprinzip ausgeführt, die Besteuerung müsse an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit „ausgerichtet“ werden und sei auf sie hin „angelegt“.56 Was den Standardeinwand gegen das Folgerichtigkeitskriterium betrifft, jede Regelung eines Normkomplexes könne logisch ebenso gut zum Bestandteil des Systems wie zu dessen Durchbrechung erklärt werden57, so müsste, nimmt man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Pendlerpauschale in den Blick, das Wort „logisch“, in Absetzung zu sachlich-inhaltlich, doch sehr betont werden, um den Gesetzgeber zu salvieren.58 Auch bei „Folgerichtigkeit“ geht es aber nicht um formale Logik, sondern um sachlich vertretbare Wertungen. Bei „Leistungsfähigkeit“, dem zweiten steuerrechtsspezifischen Kriterium des Bundesverfassungsgerichts, stellt sich die Frage, ob es verfassungsrechtlich über ein Willkürverbot hinausgeht. Diese Frage ist wohl zu verneinen. Eine Bartsteuer nach russisch-zaristischem Vorbild wäre verfassungswidrig; um das darzutun, bedarf es send, dass das geforderte Gesetz politisch nur schwer durchsetzbar ist; vgl. Isensee, Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1994, 309–314. 52   Hierzu umfassend, abgewogen und in den Ergebnissen zutreffend Hey StuW 2015, 3–18. Auf die von ihr geschilderte Kontroverse und auf die zahlreichen Gegenpositionen kann hier nicht näher eingegangen werden. Bemerkt sei nur, dass Vertreter größerer Zugriffsfreiheit des Steuergesetzgebers auf privates Vermögen dies nicht mit dem verfassungsrechtlichen Ziel eines materiellen Haushaltsausgleichs auf staatlicher Seite verknüpfen. 53   So wie in der ersten Entscheidung des BVerfG zur Pendlerpauschale, BVerfGE 27, 57. 54   BVerfGE 55, 72, 88. 55   BVerfGE 34, 103, 105. Zum Verhältnis zwischen Steuerrecht und „Neuer Formel“ siehe schon Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993, 324 f.; ders. DStR 2009, 185–191. 56   BVerfGE 82, 60, 86. Ähnliche Einschätzung bei Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6.  Aufl., 2011, Art.  3 Rn.  134. 57   Vgl. etwa Kempny StuW 2014, 185, 198. 58   Hey DStR 2009, S.  2564, spricht aus der entgegengesetzten Perspektive von der Unerbittlichkeit, mit der das BVerfG den Gesetzgeber vorführe.

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des Leistungsfähigkeitsprinzips aber nicht; das ließe sich auch mit dem Willkürverbot begründen. Bei Progression und Degression lässt sich mit diesem Prinzip gewiss gut argumentieren. Sehr viel mehr ist gleichheitsgrundrechtlich hier aber nicht zu holen.59

3. „Rückwirkungsverbot“ Ein starres Rückwirkungsverbot, wie es für den Bereich der Steuergesetzgebung von Art.  57 Abs.  2 der Verfassung der Russischen Föderation (sic!) statuiert wird, kennt das deutsche Verfassungsrecht nicht. Im deutschen Verfassungsrecht geht es um Ausnahmen vom Grundsatz demokratisch zulässiger Rückwirkung, um echte und ­unechte Rückwirkungen, um tatbestandliche Rückanknüpfungen und die Rückbewirkungen von Rechtsfolgen, im Steuerrecht um veranlagungszeitraum- und um dispositionsschutzbezogenen Rückwirkungsschutz.60 Die den zeitlichen Anwen­ dungs­be­rei­ch der Regelungen des Einkommenssteuergesetzes betreffende Vorschrift, §  52 EStG, endet derzeit mit einem Absatz 50. Es ist sinnvoll, dem Steuergesetzgeber, bezogen auf ein laufendes Haushaltsjahr, die Möglichkeit zum Gegensteuern zu geben, wenn Finanzierungslücken nachträglich offenbar werden. Es ist weiter sinnvoll, dem Steuergesetzgeber die politische Option zu geben, private Steuergestaltung rückwirkend für maximal ein Jahr zu düpieren; etwas staatlicher Stress für die Steuervermeidungsindustrie sollte verfassungsrechtlich schon erlaubt sein! Wer „double irish dutch sandwiches“, so die Jargonbezeichnung für ein Steuersparmodell, kredenzt, um zu Nichtbesteuerung in gleich fünf Staaten zu gelangen (USA als Sitzstaat der Konzernmutter, Irland, Niederlande, Karibikinsel und europäischer Zielstaat wirtschaftlicher Aktivitäten, in dem aber tunlichst keine Betriebstätten unterhalten werden) 61, sollte jedenfalls von der europarechtsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.  19 Abs.  3 GG nicht zu sehr profitieren und verdient wenig Vertrauensschutz.62 Andererseits: Das „Rückwirkungsverbot“ ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, ist objektivrechtlich und kann nicht nach Maßgabe des Grundrechtsstatus der Betroffenen abgestuft werden. Steuerrecht hat ein spezifisches Verhältnis zum Faktor Zeit. Es geht um Veranlagungszeiträume und, hintergründig, um Haushaltsjahre. Verhalten kann man nicht rückwirkend ändern, wohl aber die daraus kraft Gesetzes entstehenden steuerrechtlichen Konsequenzen. Was die Zukunft anlangt, so kann der Fiskus bei verfassungs59  Zum Leistungsfähigkeitsprinzip lohnt ein Blick auf die insoweit skeptischere österreichische Steuerrechtsliteratur; vgl. die Verhandlungen des 14. Österreichischen Juristentages, 2001, und Werndl, FS für Heinz Schäffer, Wien, 2006, 945–960. 60  Vgl. Maciejewski/Theilen DÖV 2015, 271–278. 61   Halbwegs allgemeinverständliche Darstellung am Beispiel Google bei Pinkernell StuW 2012, 369– 374. 62   Zu dem gemäß Art.  19 Abs.  3 GG abgeleiteten und eingeschränkten Grundrechtsschutz juristischer Personen, wie hier, Lepsius JZ 2014, 488, 499 f. Wenn Hey StuW 2015, 18, bezogen auf solche Gesellschaften, auf die „kleinsten ihrer Kleinanleger“ hinweist, muss die Frage erlaubt sein, ob, wann und wie Geld z.B. von den Cayman Islands bei solchen grundrechtlich schutzwürdigen Individuen in Deutschland tatsächlich ankommt, also von der Gesellschafts- zur Gesellschafterebene wechselt, und was vorher mit ihm passiert.

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gerichtlichen Beanstandungen auf Übergangsregelungen hoffen, die, entgegen §  78 Satz  1 BVerfGG, großzügig – und sinnvoll – sind. Seit 2010 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals auch unecht rückwirkende Steuergesetze beanstandet.63 Dies hat zu heftigen Reaktionen in der rechtswissenschaftlichen Literatur geführt, die wahrscheinlich überzogen sind. Seit der Entscheidung zu Sonderabschreibungen bei Handelsschiffen64 wird über einen grundsätz­ lichen Kurswechsel des Bundesverfassungsgerichts spekuliert. Viel geändert hat sich aber nicht. Hinzugekommen ist auch hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, was aber auf der allgemeinen Linie des Bundesverfassungsgerichts liegt und nichts Steuerspezifisches hat.

V. Schluss Steuerrecht ist ein kompaktes Rechtsgebiet, das, akademisch betrachtet, an der Grenze zu Finanzwissenschaft und betriebswirtschaftlicher Steuerlehre liegt und mit allen anderen großen Rechtsgebieten (Zivilrecht, Strafrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Europarecht, Völkerrecht) bis in deren Nebengebiete hinein intensive und gleichberechtigte Beziehungen unterhält. Dem Verfassungsrecht und dem Europarecht muss es sich aus normhierarchischen Gründen beugen, was in der Steuerrechts-Community in Bezug auf Grundrechte des Grundgesetzes und das Bundesverfassungsgericht überwiegend akzeptiert wird, in Bezug auf Grundfreiheiten des AEU-Vertrags und den Gerichtshof der Europäischen Union weniger. Das Bundesverfassungsgericht steht vor der Herausforderung, die Intensität seiner Kontrolle des Steuergesetzgebers zu temperieren. Nicht zu wenig, dann setzt es Kritik aus Richtung Steuerrechtswissenschaft65, nicht zu viel, dann setzt es Kritik von Teilen der Staatsrechtslehre. Der Verfasser dieses Beitrags kann nicht finden, das Gebot der Folgerichtigkeit müsse „eher als richterrechtlicher Irrtum“66 bezeichnet werden, und meint, das Gericht sei dieser Herausforderung, auch in seinen Sondervoten67, insgesamt gerecht geworden.

  BVerfGE 127, 1; 127, 31; 127, 67; 132, 302.   BVerfGE 97, 67. 65   Worin das BVerfG sich vom EuGH unterscheidet (zum EuGH in einer Phase gespannter Beziehungen zum deutschen Steuerrecht Birk FR 2005, 121 ff.). 66  Zitat: Lepsius JZ 2009, 260, 263. 67   Zu deren Bedeutung generell die Gesetzesbegründung zu §  30 Abs.  2 und 3 BVerfGG: BT-Drs. VI/1471, S.  4 f. Speziell im Steuerrecht das Sondervotum von Böckenförde in BVerfGE 93, 121, 149: „Das Kriterium der Leistungsfähigkeit wird durch die Gewährleistung eines spezifischen Eigentumsschutzes für konsolidiertes Vermögen außer Kurs gesetzt“ (S.  162). „Im Eigentum gerinnt die Ungleichheit der freigesetzten Gesellschaft zur Materie und wird Ausgangspunkt neuer Ungleichheiten“ (S.  163). Auf S.  164 unten des Sondervotums werden Zahlen zur Vermögensverteilung in Deutschland Ende 1993 genannt; es wäre interessant, die aktuellen Zahlen daneben zu stellen. Und es geht nicht nur um private Haushalte: Die Streitigkeiten um den sekundären horizontalen Finanzausgleich würden sich möglicherweise entspannter darstellen, wenn die reichen Bundesländer in ihren Haushalten Vermögensteuereinnahmen verbuchen könnten. Akademisch wäre ein internationaler Vermögensteuerrechtsvergleich eine reizvolle Aufgabe. 63

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Steuerrecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts? von

Prof. Dr. Joachim Wieland Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 II. Halbteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 III. Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 IV. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 V. Steuerrecht als Innovationsressource . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512

I. Einführung Das Verfassungsrecht entwickelt sich permanent weiter. Ausdrückliche Verfassungsänderungen sind zwar relativ selten. Quelle der Entwicklung des Verfassungsrechts ist vielmehr vor allem die wachsende Zahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Impulse zur Innovation erzeugen aber auch Beiträge der Literatur. Veränderungen der Lebenswelt spiegeln sich so in einem gewandelten Verständnis des Verfassungsrechts wider. Nur durch die grundsätzliche Offenheit für Veränderungen kann das Verfassungsrecht seine steuernde Kraft behalten. Eine Versteinerung der Vorgaben der Verfassung würde diese auf längere Sicht leerlaufen lassen. Nicht jeder Ansatz zur Fortentwicklung des Verfassungsrechts vermag sich jedoch durchzusetzen. Manche scheinbare Innovation erweist sich nach einiger Zeit als Fehlentwicklung. Das gilt in besonderem Maße für das Steuerverfassungsrecht. Lange Zeit hindurch eröffnete das Verfassungsrecht dem Steuergesetzgeber weite Handlungsspielräume. Die verfassungsrechtliche Dogmatik sah in der Besteuerung vor allem keinen Eingriff in den Grundrechtsschutz des Eigentums. Forsthoff hatte schon 1953 in seinem Heidelberger Referat auf der Staatsrechtslehrertagung nachdrücklich die Auffassung vertreten, dass sich nur auf dieser Grundlage Rechtsstaat und Sozialstaat vereinbaren ließen: „Würde die Unterscheidung von steuerlichem Eingriff und Eingriff in das Eigentum fallen, so wäre dem heutigen Sozialstaat die

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verfassungsrechtliche Grundlage weithin entzogen“.1 Nur ein Jahr später folgte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil zum Investitionshilfe­ gesetz dieser Wegweisung und stellte fest, es bestehe Einmütigkeit darüber, dass die Eigentumsgarantie nicht das Vermögen als solches gegen die Auferlegung von Geldleistungspflichten schütze.2 Als Innovationsressource des Verfassungsrechts trat das Steuerrecht aber weithin sichtbar in Erscheinung, als der Zweite Senat des Gerichts 1995 aus Art.  14 Abs.  2 GG den Halbteilungsgrundsatz ableitete.3 Der Senat begründete damit ein ganz neues Verständnis der Bestimmung, dass der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen habe. Zum ersten Mal beanspruchte eine steuerrechtlich geprägte Perspektive die Entwicklung der Dogmatik des grundrechtlichen Eigentumsschutzes zu leiten. Auch wenn dieser Ansatz letztlich scheiterte, gibt er doch Aufschluss darüber, welche Chancen und Risiken damit verbunden sind, wenn das Steuerrecht als Innovationsressource für das Verfassungsrecht zu nutzen gesucht wird (II.). Neben der Grundrechtsdogmatik hat das Steuerrecht 2013 auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Verständnis des Rechtsstaats und zur Gewaltenteilung erheblich beeinflusst (III.). Wegen der grundsätzlichen Bedeutung beider Entscheidungen überrascht es nicht, dass sie jeweils von einem pointierten Dissent begleitet sind, der vor Fehlentwicklungen warnt. Noch offen ist der Ausgang einer Kontroverse über die Zulässigkeit eines Treaty override, die erhebliche Konsequenzen für das Demokratieprinzip haben könnte (IV.). Auf der Grundlage einer Analyse dieser drei verfassungsrechtlichen Problemkonstellationen lässt sich beurteilen, wie es um das Steuerrecht als Innovationsressource steht (V.).

II. Halbteilungsgrundsatz Der Grundrechtsschutz vor Besteuerung wurde lange im Wesentlichen in Art.  3 Abs.  1 GG verortet. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz wird das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeleitet. Die Festlegung der Höhe der Steuern blieb dem Gesetzgeber überlassen. Solange eine Steuer nicht enteignend oder erdrosselnd wirkte, musste er nur darauf achten, dass er die Steuerpflichtigen gleichmäßig belastete. Abgaben wurden zwar auch an der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art.  2 Abs.  1 GG gemessen. Dieses Grundrecht lässt dem Gesetzgeber jedoch weite Gestaltungsmöglichkeiten: Das Erzielen von Einkünften zur Deckung der Finanzierungsbedürfnisse der öffentlichen Hand ist im Steuerstaat des Grundgesetzes legitim. Die Erhebung von Steuern ist auch geeignet, um das Ziel der Finanzierung des Staates zu erreichen. Ein milderes Mittel als die Erhebung von Steuern zur Sicherung des Finanzbedarfs des Staates existiert nicht. Die Alternative, den Staat und die Kommunen auf die Erzielung von Einkünften durch erwerbswirtschaftliche Betätigung zur Deckung ihres Finanzbedarfs zu verweisen, kommt in der sozialen Marktwirtschaft ganz offensichtlich nicht in Betracht. Folglich kann ein Steuergesetz nur an der   Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8 (31 f.).   BVerfGE 4, 7 (17) – Investitionshilfe [1954]. 3   BVerfGE 93, 121 (137 f.) – Vermögensteuer [1995]. 1 2

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Schwelle der Zumutbarkeit scheitern. Theoretisch manifestiert sich dieses Unzumutbarkeitskonzept in der Rechtsfigur der unzulässigen Erdrosselungssteuer. Praktische Bedeutung hat diese Schranke bislang jedoch nicht erlangt, da die Erdrosselung einer beruflichen oder sonstigen Tätigkeit bei den in Deutschland üblichen Steuersätzen nur sehr schwer belegbar ist.4 Dagegen setzte Paul Kirchhof 1980 seine Neuinterpretation von Art.  14 GG: „Der Schutz des privatnützigen Eigentümerhandelns findet seinen Maßstab in der Eigentümerfreiheit, weniger im Eigentum: ,Eigentum’ definiert nicht ein Wirtschaftsgut, das gegen steuerlichen Zugriff abzuschirmen wäre, sondern umgrenzt den Handlungsspielraum des Eigentümers. Grundlage der Eigentümerfreiheit ist das Gesamtvermögen“.5 Nachdem die Zuständigkeit für das Steuerrecht vom Ersten auf den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts übergegangen und Paul Kirchhof zuständiger Berichterstatter für Verfahren aus diesem Rechtsgebiet geworden war, schlug sich seine Interpretation der Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nieder. 1995 kreierte der Senat in seiner Vermögensteuer­ entscheidung die Rechtsfigur des Halbteilungsgrundsatzes. Er ging davon aus, dass die Vermögensteuer in die in der Verfügungsgewalt und Nutzungsbefugnis über ein Vermögen angelegte allgemeine Handlungsfreiheit des Art.  2 Abs.  1 GG „gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich“ und damit in Art.  14 GG eingreife. Auf dieser Grundlage verstand der Zweite Senat Art.  14 Abs.  1 Satz  2 GG dahin, dass die Aussage, der Gebrauch des Eigentums solle „zugleich“ dem Wohl der Allgemeinheit dienen, nicht zeitlich, sondern mengen­ mäßig im Sinne von „zu gleichen Teilen“ zu interpretieren sei.6 Böckenförde hat dieser Umdeutung der Grundrechtsschranke in seinem Sondervotum zu Recht mit Nachdruck widersprochen.7 Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts ist dieser Interpretation nicht gefolgt, sondern hat 1997 noch einmal festgestellt, dass Vermögen kein Eigentum im Sinne von Art.  14 GG sei, der nicht vor der staatlichen Auferlegung von Geldlei­ stungspflichten schütze.8 2006 hat dann der Zweite Senat in einer erneuten Rechtsprechungswende den Halbteilungsgrundsatz als nicht aus der Eigentumsgarantie ableitbar qualifiziert. Der Wortlaut des Art.  14 Abs.  2 Satz  2 GG („zugleich“) reiche zur Begründung einer mit Sinn und Zweck des Art.  14 Abs.  2 Satz  2 GG sowie seiner Entstehungsgeschichte zu vereinbarenden Herleitung einer Höchstbelastungsgrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung nicht aus.9 Als Innovationsressource hat sich das Steuerrecht somit bei diesem ersten Anlauf zu einer Konstitutionalisierung nicht erwiesen. Hätte man die Interpretation der Eigentumsgarantie im Sinne des Halbteilungsgrundsatzes vom Steuerrecht auf andere Rechtsgebiete übertragen, hätte sich das sofort gezeigt: Wäre nämlich der Halbteilungsgrundsatz auf den Grundrechtsschutz von Immobilien oder beweglichen ­Sachen angewandt worden und hätte jemand die Auffassung vertreten, ein Grund­   Wieland, Die Konzessionsabgaben, 1991, S.  231 ff.   Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), 213 (These 7) und 282. 6   BVerfGE 93, 121 (137 f.) – Vermögensteuer [1995]. 7   BVerfGE 93, 121, 149 ff. – Vermögensteuer [1995] 8   BVerfGE 95, 267 (300 f.) – LPG-Altschulden [1997]. 9   BVerfGE 115, 97 (114) – Halbteilungsgrundsatz [2006]. 4 5

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eigentümer müsse die Nutzung seines Grundstücks zur Hälfte der Allgemeinheit überlassen oder der Eigentümer eines Pkw müsse es hinnehmen, dass ihm die Nutzung seines Wagens nur in der halben Zeit der möglichen Nutzungsdauer zustehe, wäre diese Anwendung des Halbteilungsgrundsatzes in Rechtsprechung und Lehre sicherlich nicht auf Folgebereitschaft gestoßen, sondern als offensichtliches Missverständnis der Verfassungsgarantie qualifiziert worden. Der Wunsch, aus den Grundrechten eine Höchstgrenze für die Steuerbelastung abzuleiten, vermag den Versuch der Uminterpretation der Eigentumsgewährleistung im Sinne eines Halbteilungsgrundsatzes zwar zu erklären, nicht jedoch die grundrechtsdogmatische Fehlentwicklung zu rechtfertigen.

III. Gewaltenteilung Als zweites Beispiel für eine Innovation im Verfassungsrecht, die auf das Steuerrecht zurück zu führen ist, kommt der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 2013 in Betracht. Gegenstand dieser Entscheidung war die Frage nach der Vereinbarkeit einer steuerrechtlichen Regelung mit der Verfassung, mit der der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung einen Meinungsstreit in der Fachgerichtsbarkeit für noch nicht bestandskräftige Steuerfestsetzungen klären wollte. Gegenstand des Meinungsstreits war die Frage, ob eine Körperschaft ihren Gewinn durch eine Teilwertabschreibung auf Anteile an Aktienfonds mindern konnte. Da Gewinne aus den Anteilen an Aktienfonds steuerfrei waren, sprach die Systematik eindeutig dagegen, Verluste abzuziehen. Die Verweisungsnorm in dem einschlägigen Fachgesetz war jedoch ihrem Wortlaut nach unvollständig. Diese Unvollständigkeit wollte der Gesetzgeber beseitigen. Die Mehrheit des Ersten Senats sah in der Regelung eine unzulässige konstitutive Rückwirkung. Eine Norm, die eine in der Fachgerichtsbarkeit kontroverse Auslegungsfrage regelt, ist nach Auffassung der Senatsmehrheit bereits dann konstitutiv, wenn sie eine „offenbar nicht eindeutige, in ihrer Anwendung jedenfalls uneinheitliche Rechtslage klären will“.10 Dabei geht die Senatsmehrheit davon aus, dass die Auslegung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwenden Methoden sowie die Anwendung des Rechts auf den Einzelfall primär Aufgabe der zuständigen Fachgerichtsbarkeit sei.11 Sie befürchtet, dass der Gesetzgeber unter Berufung auf die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtslage sonst ohne weiteres die von ihm für richtig gehaltene Deutung einer Norm durchsetzen könnte, „ohne dass von den dafür letztlich zuständigen Gerichten geklärt wäre, ob dies der tatsächlichen Rechtslage entsprochen hat. Damit würde der rechtsstaatlich gebotene Schutz des Vertrauens in die Stabilität des Rechts empfindlich geschwächt. Angesichts der allgemeinen Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechts könnte es dem Gesetzgeber regelmäßig gelingen, einen Klärungsbedarf zu begründen. Eine von Vertrauensschutzerfordernissen weitgehend freigestellte Befugnis zur rückwirkenden Klarstellung des geltenden Rechts eröffnete dem Gesetzgeber den weitreichenden Zugriff auf zeitlich   BVerfGE 135, 1 (19 f. Rn.  56) – KAGG [2013].   BVerfGE 135, 1 (17 Rn.  50) – KAGG [2013].

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abgeschlossene Rechtslagen, ließe im Nachhinein politischen Opportunitätserwägungen Raum, die das einfache Recht zum Zeitpunkt der später als korrekturbedürftig empfundenen Auslegung nicht prägten, und beeinträchtigte so das Vertrauen in die Stabilität des Rechts erheblich“.12 Lepsius hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber, dem es einen Missbrauch seiner Regelungsbefugnisse zutraut, strenger behandelt als die Fachgerichte, die nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts offenbar ein Abzugsverbot von Verlusten hätten annehmen können, ohne gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen.13 Masing arbeitet in seiner Abweichenden Meinung zutreffend heraus, dass die Senatsmehrheit das Rückwirkungsverbot nicht länger mit Argumenten des Vertrauensschutzes begründet. An dessen Stelle tritt der Schutz eines Reservats der Fachgerichtsbarkeit gegen den Gesetzgeber, der doch unmittelbar demokratisch legitimiert ist. Sein legislatives Zugriffsrecht wird beschränkt. Er darf nicht länger in der Vergangenheit wurzelnde Rechtsfragen klären, auch wenn die Rechtsunterworfenen keinen Vertrauensschutz beanspruchen können.14 Das mag Steuerrechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern verständlich erscheinen, die schon lange die Steuerrechtsgesetzgebung als eines Rechtsstaats nicht würdig kritisieren und die Rechtsprechungswende begeistert begrüßt haben.15 Sie übersehen jedoch, dass sich der Gesetzgeber im Steuerrecht einer Vielzahl von Beratern gegenübersieht, deren Aufgabe es ist, für ihre Mandanten die Steuerlasten zu optimieren, also so gering wie möglich zu gestalten. Der Gesetzgeber, der ein Steuerschlupfloch geschlossen hat, sieht sich sogleich neuen interpretativen Anstrengungen gegenüber, andere Steuerverschonungsmöglichkeiten zu eröffnen, die bei Erlass des jeweiligen Gesetzes kaum zu erahnen waren. Wer in dieser Situation die Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers beschränkt, ohne dass grundrechtlicher Vertrauensschutz das gebieten würde, trägt im Ergebnis zur Steuerungerechtigkeit zu Gunsten der gut beratenen Steuerpflichtigen bei. Unabhängig davon wird so die verfassungsrechtliche Dogmatik der Rückwirkung von Gesetzen aus den Erfahrungen heraus verändert, die unter den besonderen Umständen des Steuerrechts gewonnen wurden. Die Frage, ob diese Erfahrungen auf andere Rechtsgebiete übertragbar sind, wird nicht gestellt. In der Konsequenz wird der Gesetzgeber aber gehindert sein, offene Rechtsfragen in der Anwendung des Familienrechts, des Umweltrechts, des Subventionsrechts und aller anderen Rechtsgebieten für noch nicht rechtskräftig entschiedene Fälle zu klären, obwohl Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes nicht entgegenstehen. Das verschiebt die Gewaltenteilung zu Lasten des Gesetzgebers, der die von ihm für richtig gehaltene Interpretation seiner Gesetze für die Vergangenheit nicht länger klarstellen darf, auch wenn gerade wegen eines Auslegungsstreits kein Vertrauen der Gesetzesunterworfenen auf eine bestimmte Interpretation eines Gesetzes entstehen sollte. Was dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht verwehrt wird, soll den Fachgerichten erlaubt sein. Ein nachvollziehbarer Grund für diese Unterscheidung ist nicht ersichtlich. Gemäß   BVerfGE 135, 1 (18 Rn.  53) – KAGG [2013].   Lepsius, JZ 2014, 488 (491). 14   BVerfGE 135, 1, 29 (32 Rn.  9 ) – KAGG [2013] 15   Birk, FR 2014, 326 (338 ff.); Hey, JZ 2014, 500; dies., NJW 2014, 1564; ähnlich Michael, JZ 2015, 425 (434). 12 13

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Art.  20 Abs.  3 GG ist der Gesetzgeber vielmehr nur an die Verfassung gebunden, während die Gerichte Gesetz und Recht zu beachten haben. Der Gesetzgeber verfügt also über weiten politischen Gestaltungsspielraum, die Gerichte müssen die gesetzlichen Vorgaben respektieren. Von einem Reservat der Fachgerichtsbarkeit, das dem Zugriff des Gesetzgebers verschlossen sein soll, ist im Grundgesetz nicht die Rede.

IV. Demokratie Sollte das Bundesverfassungsgericht Vorlagebeschlüssen des Bundesfinanzhofs16 folgen, würde die Regelungsmacht des Gesetzgebers dahin eingeschränkt, dass er nicht von Verpflichtungen Deutschlands aus völkerrechtlichen Verträgen abweichen dürfte. Völkerrechtliche Verträge entfalten in Deutschland nur nach Maßgabe des Zustimmungsgesetzes gemäß Art.  59 Abs.  2 GG Wirksamkeit. Folglich gelten sie im Range eines einfachen Bundesgesetzes, das durch spätere Gesetzes aufgehoben oder geändert werden kann, auch wenn diese Gesetze völkervertragsrechtliche Verpflichtungen Deutschlands verletzen.17 Der Bundesfinanzhof räumt ein, dass nach herrschender Auffassung deshalb in einem so genannten „Treaty overriding“ kein ver­ fassungsrelevanter Vorgang zu sehen sei. Das entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs selbst.18 Als Grund für seine neue Rechtsauffassung nennt der Bundesfinanzhof die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Europäischen Menschenrechtskonvention.19 Danach sei der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten, Völkervertragsrecht zu beachten und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen. Daraus ergebe sich die verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, Völkervertragsrecht zu beachten. Ihm werde die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand genommen und es werde eine materiell-rechtliche Sperre für seine demokratisch-legitimierten Rechtssetzungsbefugnisse errichtet. Ausnahmen bedürften einer besonderen Rechtfertigung, etwa die Beachtung der Menschwürde und der anderen Grundrechte. Lägen solche Rechtfertigungsgründe nicht vor, sei ein Gesetz, das völkervertragliche Verpflichtungen verletze, verfassungswidrig und nichtig. Auf dieser Grundlage hält der Erste Senat des Bundesfinanzhofs §  50 Abs.  9 Satz  1 Nr.  2 EStG für verfassungswidrig. Diese Vorschrift soll das Entstehen so genannter Weißer Einkünfte deutscher Steuerpflichtiger verhindern, die keinerlei Besteuerung unterliegen. In dem zu entscheidenden Fall hatte ein Deutscher, der in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war, in Irland Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit   BFH, Beschluss vom 20. August 2014, I R 86/13, IStR 2014, 812; siehe vorher schon BFH, Beschluss vom 10. Januar 2012, I R 66/09, DStR 2012, 949 und BFH, Beschluss vom 11. Dezember 2013, I R 4/13, IStR 2014, 219. 17   Siehe etwa BVerfGE 111, 307 – Görgülü [2004]; 118, 244 – Afghanistan-Einsatz [2007]; 128, 326 – Sicherungsverwahrung II [2011]; aus der Literatur Rauschning, BK, Art.  59, Rn.  137 ff.; Nettesheim, Art.  59 Rn.  181 ff., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Loseblatt. 18   Siehe etwa BFHE 175, 351 und 178, 59. 19   BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – Görgülü [2004]; 112, 1 – Bodenreform III [2005]; 128, 326 – Sicherungsverwahrung II [2011]. 16

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erzielt. Sein irischer Arbeitgeber hatte auf diese Einkünfte Steuern einbehalten und an die irischen Finanzbehörden abgeführt. Auf Antrag des Steuerpflichtigen waren ihm diese Steuern in voller Höhe erstattet worden. Nach dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Irland, das der Vermeidung einer Doppel­ besteuerung von Einkünften dient, war Irland für die Besteuerung zuständig, die Einkünfte wären also in Deutschland und in Irland steuerfrei geblieben. Auf der Grundlage von §  50 Abs.  9 Satz  1 Nr.  2 EStG, der nach dem deutschen Zustimmungsgesetz zu dem Doppelbesteuerungsabkommen in Kraft getreten ist und das Entstehen Weißer Einkünfte verhindern soll, hatten die deutschen Finanzbehörden den Arbeits­ lohn der deutschen Einkommensteuer unterworfen. Diese Regelung hält der Bundes­ finanzhof wegen eines Verstoßes gegen die völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands aus dem Doppelbesteuerungsabkommen für verfassungswidrig. Die zur Begründung angeführte Bezugnahme auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist sich für diese Auffassung allerdings als nicht tragfähig. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr in seinem bekannten Görgülü-Beschluss 2004 ausdrücklich festgestellt, dass sich deutsche Verwaltungsbehörden und Gerichte nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht lösen können. Nach dem Beschluss steht die Europäische Menschenrechtskonvention innerhalb der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat zugleich darauf verwiesen, dass die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des Gerichtshofs „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ zur Bindung der deutschen Gerichte an Gesetz und Recht gehöre. Daraus hat das Bundesverfassungsgericht gefolgert, dass sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen könnten. Das deutsche Recht sei „unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen“.20 Das Bundesverfassungsgericht folgt damit einer harmonisierenden Aus­legung, die Normkonflikte zwischen dem innerstaatlichen Recht und völkerrechtlichen Pflichten Deutschlands nach Möglichkeit vermeidet. Es stellt aber zugleich unmissverständlich fest, dass die Bindung an deutsches Recht und Gesetz aus Art.  20 Abs.  3 GG fortbesteht. Gerichte dürfen sich folglich nicht unter Berufung auf das Völkerrecht über Akte des deutschen Gesetzgebers hinwegsetzen. Ein Treaty overriding des Parlaments verstößt also auch nicht gegen das Grundgesetz. Wenn eine steuergesetzliche Regelung nicht in Übereinstimmung mit einem Doppel­besteuerungsabkommen ausgelegt werden kann, sind die Gerichte an das deutsche Steuergesetz gebunden. Nichts anderes ergibt sich aus den beiden weiteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, auf die der Bundesfinanzhof sich bezieht. In der Entscheidung zu Enteignungen in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1949 stellt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich fest, dass das Grundgesetz „nicht die Unterwerfung der deutschen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung und den unbedingten Geltungsvorrang von Völkerrecht vor dem Verfassungs  BVerfGE 111, 307 (315 ff.) – Görgülü [2004].

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recht“ anordnet. Dementsprechend sind die deutschen Staatsorgane nur verpflichtet Verletzungen des Völkerrechts „nach Möglichkeit“ zu unterlassen. Der Zweite Senat verweist ausdrücklich darauf, dass nur allgemeine Regeln des Völkerrechts nach Art.  25 Abs.  2 GG Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht haben.21 Von einem Vorrang völkervertragsrechtlicher Verpflichtungen Deutschlands vor dem deutschen Gesetzesrecht ist auch nicht andeutungsweise die Rede. Wenn der Gesetzgeber sich folglich zu einem Treaty overriding in Bezug auf ein Doppelbesteuerungsabkommen entschlossen hat, verstößt das auch nach dieser Entscheidung nicht gegen das Grundgesetz und ist von den Fachgerichten zu respektieren. In seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 betont der Zweite Senat erneut, dass der innerstaatliche Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention dem eines Bundes­ gesetzes entspricht. Die Konvention dient im deutschen Recht als Auslegungshilfe, entfaltet aber keinen unmittelbaren Verfassungsrang.22 Auch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt also keinen Anhaltspunkt dafür, dass ein Treaty overriding des Steuergesetzgebers verfassungswidrig sein könnte. Folgte man der Auffassung des Ersten Senats des Bundesfinanzhofs, würde das vielmehr dazu führen, dass der Gesetzgeber nicht nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden wäre, wie es Art.  20 Abs.  3 GG vorschreibt. Er müsste vielmehr auch Regelungen beachten, die seine Vorgänger in Form von Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen beschlossen haben. Von dieser Bindung könnte sich der Gesetzgeber aus eigener Kraft nicht befreien. Ob ein neues Doppelbesteuerungs­ abkommen abgeschlossen würde, hinge von der Bereitschaft der deutschen Exekutive und des Vertragspartners, eines ausländischen Staates, ab. Wenn einer von beiden nicht zur Änderung des Abkommens bereit wäre, bliebe es bei der Bindung des deutschen Gesetzgebers. Dessen demokratische Legitimation ist aber stärker als die eines früheren Parlaments, dessen Legitimation längst erloschen ist. Im Ergebnis wäre die Herrschaft des Volkes durch einen früheren Gesetzgebungsakt eingeschränkt. Das widerspricht dem Demokratieprinzip. Eine Innovationsressource des Verfassungsrechts kann darin nicht liegen.

V.  Steuerrecht als Innovationsressource Die drei Beispiele zeigen, dass das Steuerrecht schlecht als Innovationsressource des Verfassungsrechts taugt. Neue dogmatische Figuren werden im Steuerrecht regelmäßig mit der Absicht kreiert die Steuerhoheit des Staates zu begrenzen. Das gilt nicht nur für die Grundrechtsdogmatik, sondern auch für das Rückwirkungsverbot, die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip. Aus der Sicht mancher Steuerpflichtigen und ihrer Berater, aber auch aus der Sicht einiger Gerichte besteht insoweit offenbar ein Schutzdefizit des Grundgesetztes gegenüber dem Steuerpflichtigen. Er wird als schützenswert angesehen, während der Gesetzgeber im Verdacht steht sich leichtfertig über die berechtigten Interessen der Steuerpflichtigen hinwegzusetzen. Das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit des demokratisch legitimierten Ge21

  BVerfGE 112, 1 (25 f.) – Bodenreform III [2005].   BVerfGE 128, 326 (366 ff.) – Sicherungsverwahrung II [2011].

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setzgebers, den richtigen Ausgleich zwischen dem legitimen Finanzbedarf des Staates und dem Schutz der Steuerpflichtigen zu finden, schwindet offenbar. Um Fehlentwicklungen vorzubeugen, wird eine Weiterentwicklung des Verfassungsrechts in Richtung auf den Bau eines Bollwerks gegen als überzogen angesehene Steuerforderungen des Staates propagiert. Verfassungsrecht darf aber nicht einseitig zum Schutz der Steuerpflichtigen vor Überlastung ausgelegt werden. Verfassungsrecht bildet vielmehr eine Rahmenordnung, welche die Grundlage für die Organisation des Staates schafft und insbesondere auch seine Finanzordnung normiert. Grundgedanke der Finanzverfassung ist der billige Ausgleich der Deckungsbedürfnisse von Bund und Ländern und die Vermeidung einer Überbelastung der Steuerpflichtigen (Art.  106 Abs.  3 Satz  4 Nr.  2 GG). Wie das richtige Mittelmaß zwischen den Finanzbedürfnissen des Staates und der Vermeidung einer Überbelastung seiner Bürgerinnen und Bürger erreicht werden kann, lässt sich nicht allein mit Blick auf die Belastung der Steuerpflichtigen ermitteln. Vielmehr muss auch eine angemessene Finanzausstattung des Staates gesichert werden. Das gilt umso mehr, seit die Schuldenbremse des Art.  109 Abs.  3 GG den bequemen Ausweg in die Verschuldung versperrt. Die Aufnahme von Krediten hat über lange Zeit hinweg dem Staat die von ihm zur Erfüllung seiner Aufgaben für notwendig gehaltene Geldversorgung gesichert und zugleich bei den Bürgerinnen und Bürgern die Illusion gefördert, sie könnten Staatsleistungen erhalten ohne dafür zahlen zu müssen. Das hat sich längst als Irrtum erwiesen. Eine vernünftige Steuerund Finanzpolitik muss nun den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben in der Gegenwart sicherstellen und darf die Begleichung der Rechnung für öffentliche Leistungen nicht in die Zukunft verschieben. Das kann zu höheren Steuern führen. Unabhängig von der Finanzverfassung ist eine Weiterentwicklung des Verfassungsrechts mit dem Ziel des besseren Schutzes vor einer Belastung der Steuerpflichtigen mit deutlichen Nachteilen behaftet. Das Beispiel des Halbteilungsgrundsatzes zeigt, auf welchen Irrweg die Grundrechtsauslegung geraten kann, wenn sie sich auf den Schutz vor Besteuerung konzentriert und dafür eine Grundrechtsinterpretation kreiert, die den Wortlaut der Grundrechtsgarantie beiseite schiebt und aus einem „zugleich“ ein „zu gleichen Teilen“ macht – ein Verständnis der Eigentumsgarantie, das außerhalb des Steuerrechts zu Ergebnissen geführt hätte, die wohl kein Verfechter des Halbteilungsgrundsatzes unterstützt hätte. Wenn man mit dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts das Rückwirkungsverbot für Gesetze vom dieses Verbot rechtfertigenden Prinzip des Vertrauensschutzes löst, schränkt man die Handlungsmöglichkeiten des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers erheblich ein und setzt die nur mittelbar demokratisch legitimierte Rechtsprechung an seine Stelle. Nicht mehr der Gesetzgeber darf klarstellen, wie eine bereits erlassene gesetzliche Regelung zu verstehen ist. Diese Klärung soll vielmehr den Gerichten vorbehalten bleiben, die doch gemäß Art.  20 Abs.  3 GG an Gesetz und Recht gebunden sind, also den in Form eines Gesetzes zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers beachten müssen. Würde das Bundesverfassungsgericht der neuen Auffassung des Ersten Senats des Bundesfinanzhofs folgen und ein Treaty overriding für verfassungswidrig erklären, bände es das Parlament nicht nur an die Verfassung, sondern an den durch Zustimmungsgesetze geäußerten Willen früherer Gesetzgeber, deren demokratische Legitimation naturgemäß viel schwächer ist als die des amtie-

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renden Parlaments. Der alte Satz „lex posterior derogat legi priori“, der im Demokratieprinzip begründet ist, würde nicht mehr gelten – und das nur, damit ein klarer Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung vom deutschen Gesetzgeber nicht verhindert werden kann und im Ausland erzielte Einkünfte eines deutschen Steuerpflichtigen steuerfrei bleiben, obwohl solche Einkünfte selbstverständlich besteuert werden, wenn sie in Deutschland erzielt werden. Auf solche Innovationsressourcen sollte das Verfassungsrecht besser verzichten.

Grundrechtsschutz gegen den demokratischen Steuerstaat Das Steuerverfassungsrecht zwischen Staatsrechtslehre und public economics von

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Schön, München Inhalt I. Steuerzugriff und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 II. Wahlbürger und Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 1. Die Position der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 2. Die Position der Finanzwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 3. Verfassungspolitische Erwartungen und verfassungsrechtliche Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 III. Besonderheit des Steuerrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 IV. Steuerprinzipien und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 V. Steuerlicher Grundrechtsschutz im Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit . . . . . . . . . . . . . . 530 1. Eigentumsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 2. Gleichheit, Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 a) Tarifgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 b) Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 aa)  Sonderformen des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 bb) Leistungsfähigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 cc) Folgerichtigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 VI. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536

I.  Steuerzugriff und Grundrechtsschutz In der Steuergewalt entlädt sich die Staatsgewalt gegen den Staatsbürger1. Ihm wird kraft zwingenden Rechts ein Geldopfer abverlangt, für das er per definitionem keine Gegenleistung erhält2. Die Steuer verlagert Finanzkraft vom Einzelnen auf den Staat,  Grundlegend: Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Hamburg – Deutschland – Europa: FS für Hans-Peter Ipsen zum 70. Geburtstag, 1977, S.  4 09 ff. 2   Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Verfassungsstaat, 3.  Aufl., 2004, §  30 Rz.  62. 1

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der diesen Geldzuwachs nutzt, um Reichtum umzuverteilen oder öffentliche Güter bereit zu stellen. Die Steuer steht für Unfreiwilligkeit und für Unausweichlichkeit 3. Und sie steht für Grenzenlosigkeit. Keine andere Materie des Verwaltungsrechts entfaltet eine vergleichbare Breitenwirkung – weder die Zahl der besteuerungswürdigen Wirtschaftsvorgänge noch die Zahl der finanzierungswürdigen Staatsaufgaben sind aus der Natur der Sache oder von Verfassungswegen limitiert4. Auch wäre jeder Versuch, die Festlegung von Staatszielen und Steuerlasten in die Schranken der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu weisen, zum Scheitern verurteilt5. Legitimiert wird dieser Zugriff des Staates auf das Vermögen seiner Bürger durch das Prinzip der Demokratie: Der Einzelne ist dem Willen – ja der Willkür 6 der Gesamtheit unterworfen, die Minderheit der Mehrheit ausgesetzt7. Die Unterworfenen - die Steuersubjekte - suchen Schutz in der Verfassung. Es ist bekannt, dass der historische Kampf um verfassungskräftige Abwehrrechte gegen den Steuerzugriff zwei wesentliche Phasen durchlaufen hat8. In der ersten Phase, welche in der magna carta ihren Ausgangspunkt nimmt und die gesamte ­Neuzeit bis zum Ende der monarchischen Herrschaftsformen geprägt hat, wurde der Steuerzugriff von der Exekutive (in Gestalt der royalen Prärogative) ausgeübt; in diesem Konflikt wurde durch die Bürgerschaften die Einführung und Stärkung ­parlamentarischer Zustimmungsvorbehalte als hinreichendes Gegengewicht erstritten. Sowohl am Ursprung der amerikanischen Unabhängigkeit („no taxation without representation“) als auch an der Wiege der französischen Revolution (Einberufung der Generalstände) steht diese Forderung der Steuerzahler nach defensiver Beteiligung am steuerpolitischen Entscheidungsprozess. Mit dem Siegeszug der parlamentarischen Demokratie veränderten sich die Fronten9: Die Parlamente wandelten sich von Kontrollinstanzen zu Herrschaftsorganen10. Auch die Finanzverfassung des Grundgesetzes stellt daher nicht fiskalisches Regierungshandeln unter einen parlamentarischen Zustimmungsvorbehalt, sondern sie begründet die Primärzuständigkeit des Deutschen Bundestages zur Steuergesetzge  Paul Kirchhof, Ethos der Steuergerechtigkeit, JZ 2015, S.  105 ff. (110).   Johannes Masing, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2007, §  7 Rz.  24; für eine Erneuerung der Dogmatik der „Staatsaufgaben“ jüngst Christoph Engel, Aufgaben, in: H. Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts: Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, §  6 Rz.  14 ff. 5   Paul Kirchhof, Die Steuern, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, Rechtsquellen – Organisation – Finanzen, 3.  Aufl., 2007, §  118 Rz.  84 ff.; Johanna Hey, in: K. Tipke/ J. Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 22.  Aufl., 2015, §  3 Rz.  182; Johanna Hey, Nimmt das Steuerrecht in der BVerfG-Judikatur eine Sonderrolle ein?, StuW 2015, S.  3 (4 f.); Oliver Lepsius, JZ 2009, S.  260 ff., 260; zur Prärogative des demokratisch legitimierten Gesetzgebers bei der Festsetzung von Gemeinwohl­ belangen im Enteignungsrecht siehe BVerfG v. 17. Dezember 2013 – 1 BvR 3139/08 und 1 BvR 3386/08 (Garzweiler II) BVerfGE 134, S.  242 ff. Rz.  171 ff. 6  Explizit Horst Dreier, Recht und Willkür, in: Christian Starck (Hrsg.), Recht und Willkür, 2012, S.  1 ff., 22 ff.; siehe auch Oliver Lepsius, JZ 2014, S.  488 ff. (494 ff.). 7  Zur Legitimation des Mehrheitsprinzips siehe Hillgruber, Mehrheitsprinzip, in: H. Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts: Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, §  61 Rz.  3 ff. 8   Christoph Schönberger, Das Parlament – eine europäische Erfindung, in: Martin Morlok u.a., Parlamentsrecht, 2013, §  1 Rz.  10 ff. 9   Kirchhof a.a.O. (Fn.  5 ), §  118 Rz.  9 0 ff.; ders., Besteuerung im Verfasssungsstaat, 2000, S.  10 ff. 10   Isensee a.a.O. (Fn.  1), S.  415 f. 3 4

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bung. Gleiches gilt für die Verfassungen der Länder. Anders formuliert: Die (Regierungs-)Mehrheit unter den Abgeordneten besitzt die Macht, Steuern zu erheben: zu Lasten der Minderheit, ja zu Lasten jedes einzelnen Steuerbürgers. Dieser sucht erneut Schutz und er findet ihn in den majoritätsresistenten Vorgaben des Grundgesetzes, in den Gleichheits- und Freiheitsrechten, in den Prinzipien des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung sowie in den föderalen Kompetenzschranken für das Handeln des Bundes, der Länder und der Kommunen. Verfassungskontrolle von Steuergesetzen ist wie jede Normenkontrolle daher letztlich immer eine Einhegung des Mehrheitshandelns; diese Überprüfung des Parlaments durch eine unabhängige Instanz bedarf in einer Demokratie der Legitimation gegenüber dem umfassenden Gestaltungsanspruch frei und gleich gewählter Entscheidungsträger11. Die vielfach kritisch12 beobachtete Tendenz13, gerade im Steuerrecht einen verstärkten Grundrechtsschutz zu etablieren, muss daher gewürdigt werden als der Versuch, parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen im Steuerrecht verfassungsrechtliche Grenzen zu setzen. Er ist geprägt von einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber den Ergebnissen steuerpolitischer Willensbildung auf der Ebene des be­deu­tendsten Staatsorgans, das unser Grundgesetz kennt. Dies führt in die Frage hinein, welches Bild des Gesetzgebers, aber auch welches Bild des Wahlbürgers dem verfassungsrechtlichen Diskurs zugrunde zu legen ist. Die Steuerrechtswissenschaft hat hier die Wahl zwischen zwei klar gegensätzlichen Imaginationen: dem Bild der Staatsrechtslehre und dem Bild der Finanzwissenschaft (public economics).

II.  Wahlbürger und Amtsträger 1.  Die Position der Staatsrechtslehre Der Akt der Steuergesetzgebung beruht auf zwei miteinander verschränkten, verfassungsrechtlich geordneten Entscheidungsprozessen: der Wahl der Abgeordneten des deutschen Bundestages durch die Staatsbürger „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ (Art.  38 Abs.  1 S.  1 GG) und der Abstimmung dieser Abgeordneten über das jeweilige Steuergesetz (Art.  77 Abs.  1 S.  1 GG i.V.m. Art.  105 GG). Für die Landesgesetzgebung gilt nichts anderes. Auf diese Weise verwirklicht sich das in Art.  20 Abs.  2 S.  1 GG niedergelegte Prinzip der Volkssouveränität14, welches – wie Art.  20 Abs.  2 S.  2 GG verdeutlicht – auch die Willensbildung der „beson  Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S.  529 f.  Zuletzt: Andreas Musil, Die Sicht der Steuerrechtswissenschaft auf das Verfassungsrecht, in: Schön/ Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts II, 2014, S.  129 ff.; siehe auch den Bericht über das 5. Steuerwissenschaftliche Symposion beim Bundesfinanzhof „Die Entwicklung des Steuerverfassungsrechts und Missbrauchsregelungen im Steuerrecht“ am 17.3.2015 in München, namentlich das Referat von Oliver Lepsius zur „Entwicklung des Steuerverfassungsrechts“ (Sandy Schüler-Täsch/Michael Schulze, DStR 2015, S.  1137 ff.). 13  Beispielhaft: Klaus Tipke, Mehr oder weniger Gestaltungsfreiheit für den Steuergesetzgeber?, StuW 2014, S.  273 ff.; Paul Kirchhof a.a.O. (Fn.  5 ), §  118 Rz.  80 ff.; Johanna Hey, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuerrecht im Wandel?, Stbjb. 2007/08, S.  19 ff. 14  Grundlegend: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof a.a.O. (Fn.  2 ), §  24 Rz.  2 ff. 11

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deren Organe der Gesetzgebung“ mittelbar dem Staatsvolk als eigenen Akt zurechnet15. Das konkrete Steuergesetz ist daher das Ergebnis des sukzessiven Handelns von zwei Personengruppen: des Wahlvolks und seiner Repräsentanten. Sein Inhalt hängt ab von den Zielsetzungen, mit denen Staatsbürger und Abgeordnete ihre demokratischen Rechte ausüben. Die deutsche Staatsrechtslehre nimmt hierzu eine idealistisch geprägte Haltung ein. Bezogen auf das Wahlverhalten des Staatsbürgers spaltet sie dessen Persönlichkeit in die des bourgeois und die des citoyen16 : Während der Bürger im privaten Umfeld, im geschäftlichen Gebaren und im gesellschaftlichen Auftreten den Eigennutz des bourgeois legitim verfolgen darf, gebietet ihm das „demokratische Ethos“17 beim Wahlakt eine weiter gespannte Perspektive auf das Gemeinwohl. Die Stimmabgabe für einen Kandidaten oder eine Partei soll nicht geprägt werden von den Erwartungen, die der Einzelne von dem Wahlausgang für seinen eigenen Nutzen hegt, sondern von dem Verantwortungsbewusstsein des civis für die res publica18. Solidarität und Kompromissbereitschaft stehen aus dieser Sicht nicht erst am Ende eines politischen Meinungskampfes, sondern bestimmen bereits die innere Haltung, mit welcher der Bürger im status activus seine politischen Rechte ausübt. Explizit formuliert das Grundgesetz diesen Anspruch für die Stellung der Abgeordneten, die nach Art.  38 Abs.  1 S.  2 GG „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind19. Dies formuliert nicht nur die Absage an ein ständisch geprägtes imperatives Mandat und die Affirmation der – aus den Kämpfen des 18. und 19. Jahrhunderts gewonnenen – Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber der (monarchischen) Exekutivgewalt. Gerade im expliziten Bezug des Verfassungstextes auf das „ganze“ Volk findet sich eine inhaltliche Gemeinwohlorientierung, die es den Abgeordneten grundsätzlich nicht erlaubt, im Akt der Gesetzgebung den persönlichen Eigennutz oder die Kollektivinteressen von Wählergruppen und Lobbyorganisationen zu verfolgen. Das persönliche Gewissen, dem die Deputierten kraft Verfassungsrechts verpflichtet sind, erlaubt schließlich keinen Rückzug in einen subjektiv gefärbten Individualismus (oder gar Solipsismus), sondern verlangt im Gegenteil von der Person des einzelnen Abgeordneten, sich persönlich im Abstimmungsakt eine Gesamtverantwortung für das Gemeinwesen zuzumuten 20.   BVerfG v. 31.10.1990 2 BvF 3/89 (Ausländerwahlrecht) BVerfGE 83, S.  60 ff. (71 f.).   Christian Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S.  215 ff. (222); Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat, JZ 1994, S.  740 ff. (740 f.); Masing a.a.O. (Fn.  5 ), §  7 Rz.  33 ff., 65 ff.; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3.  Aufl., 2004, §  31 Rz.  18; in diesen Kontext gehört auch die Debatte um die Sonderung von „Staat und Gesellschaft“ (dazu knapp und informativ Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan: Staatstheorie in der Bundesrepublik, 2008, S.  47 ff.). 17   Böckenförde a.a.O. (Fn.  14), §  24 Rz.  74 ff.; zurückhaltend Josef Isensee, Wortbeitrag, in: VVDStRL 71 (2012), S.  86 f. 18   Böckenförde a.a.O. (Fn.  14), §  24 Rz.  77 ff.; Hanno Kube, Grundrechte und Demokratie, in: H. Kube u.a. (Hrsg.) Leitgedanken des Rechts: Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, §  17 Rz.  16 19  Näher Hans-Hugo Klein, Status des Abgeordneten, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Verfassungsstaat, 3.  Aufl., 2005, §  51 Rz.  2 ff. 20   Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Verfassungsstaat, 3.  Aufl., 2004, §  15 Rz.  131; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Wil15 16

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Die Verfassung – bzw. die Verfassungsrechtslehre – unterstellen daher dem formellen Parlamentsgesetz eine noble Herkunft: beschlossen von einer kollektiv und individuell dem Gemeinwohl verpflichteten Volksvertretung, deren Zusammen­ setzung sich ihrerseits einer am Gemeinwohl ausgerichteten Wahl durch das Staatsvolk verdankt. Ein solches Gesetz besitzt eine Dignität, die über einen institutionell begründeten Befolgungsanspruch hinausgeht. Zwar wird dem Gesetzgeber nicht ­abverlangt, eine wissenschaftliche Wahrheit oder ein ökonomisches Optimum zu formulieren 21. Voraussetzung für dessen „rationale Akzeptabilität“ ist lediglich, dass „alle relevanten Fragen, Themen und Beiträge zur Sprache kommen und auf der Grundlage der bestmöglichen Informationen und Gründe in Diskursen und Verhandlungen verarbeitet werden“22. Das Gesetzesprodukt genießt dann die Vermutung, ein Sachproblem einer ausgewogenen Lösung zuzuführen und dabei die Inter­ essen einzelner Personen oder Gruppen nicht unangemessen in den Vordergrund oder hintan zu stellen 23. Das Ethos des Wahlbürgers und das Ethos des Abgeordneten sind somit darauf angelegt, im Gesetzgebungsprozess eine erste wesentliche Schutzschicht für alle Bürger – und damit auch für den Steuerzahler - aufzutragen. Im Gegenzug soll dieser das Ergebnis dieses Abwägungsprozesses im Grundsatz akzeptieren, denn Einstimmigkeit wird unter der Herrschaft des Mehrheitsprinzips für die Verabschiedung von Gesetzen nicht verlangt. Die Entscheidung der Mehrheit darf vielmehr – in den Worten des Bundesverfassungsgerichts - „bei Ausübung von Staatsgewalt als Wille der Gesamtheit gelten und nach der Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger Verpflichtungskraft für alle entfalten“24.

2.  Die Position der Finanzwissenschaft Es ist ein Gemeinplatz, dass die Realität diesem Idealbild nicht entspricht. Politikverdrossene Bürger und politikwissenschaftliche Experten beanstanden oft genug die Verzerrungen eines Gesetzgebungsbetriebes, in dem „Politik als Beruf “ unter allen Zwängen von Machtgewinnung und Machterhaltung ausgeübt wird und in dem ideologische Festlegungen, persönliche Abhängigkeiten und demoskopische Schubwellen das demokratische Ethos des Abgeordneten als bloßen Mythos erscheinen lassen. Der staatstheoretisch beschworene Gemeinsinn wird zum kontrafaktischen Ideal, dessen legitimierender Glanz Schicht für Schicht abblättert. Gemeinsam ist dieser Kritik jedoch bei näherem Hinsehen, dass sie an dem Ideal als solchem festhält: lensbildung und Repräsentation, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, Verfassungsstaat, 3.  Aufl., 2005, §  34 Rz.  30; Peter Graf Kielmansegg, Demokratische Legitimation, in: H. Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts: Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, §  59 Rz.  12. 21   Wolfgang Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch: Zur Qualitäts-Gewährleistung durch Normen, AöR 130 (2005) S.  5 ff. (33). 22   Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S.  210. 23   BVerfG v. 2.3.1977 2 BvE 1/76/ (Öffentlichkeitsarbeit) BVerfGE 44, S.  125 ff. (142). 24   BVerfG v. 2.3.1977 a.a.O. (Fn.  23), S.  142; zustimmend Starck, Grundrechtliche und demokra­ tische Freiheitsidee, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, Demokratie/ Bundesorgane, 3.   Aufl., 2005, §   33 Rz.   34; Josef Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, 2011, S.  177 ff.

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Wahlbürger und Deputierte werden in ritualisierter Regelmäßigkeit auf ihre Verantwortung für das Gemeinwohl eingeschworen, und ein Politiker, der offen zweck­ rationalen Egoismus propagieren würde, fügte seiner Lauf bahn massiven Schaden zu. Politik wird damit zwar als weitgehend dysfunktional beschrieben – aber die zugrunde liegende Funktion nicht in Frage gestellt. Beispielhaft hat jüngst Peter Graf Kielmannsegg für das „Vertrauen der Bürger in die Parteien oder auch die Politiker im Allgemeinen“ zwar einen „beispiellosen Tiefstand“ diagnostiziert, diesem jedoch „ein Ethos der Repräsentation“ gegenüber gestellt, ohne das es „stabile, die repräsentative Demokratie tragende Vertrauensbeziehungen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten“ nicht geben könne25. Es gehört zu den Verdiensten der Finanzwissenschaft, namentlich der public choice-Schule26 sowie des Forschungsbereichs der political economy 27, diese Diskussion mit kühler Analytik auf eine neue Grundlage gestellt zu haben 28. Die normative Zwei-Körper-Lehre des Staatsrechts, in welcher Wähler und Abgeordneter im politischen status activus andere Zielsetzungen verfolgen (sollen) als im ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten privaten, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext, wird als im Kern unbrauchbar abgetan. In den Vordergrund tritt der methodolo­ gische Individualismus: sowohl der Wähler als auch der Politiker verfolgen zweck­ rational ihre Eigeninteressen, setzen ihre jeweiligen Präferenzen und versuchen, diese effizient zu verwirklichen 29. Dies schließt weder politischen Idealismus noch echten Altruismus aus und es hindert auch nicht die Möglichkeit, dass ein konkretes Individuum ethische Maßstäbe mit Weitblick und Charakterstärke verfolgt. Aber es hindert doch, ein komplettes Staatsgebäude auf kontrafaktischen Annahmen über menschliches Verhalten zu errichten.30   Peter Graf Kielmannsegg, „Erwartungen, Enttäuschungen“, FAZ v. 7.9.2015, S.  6.  Grundlegend: James M. Buchanan/Gordon Tullock, The Calculus of Consent: Logical Foundations of Constitutional Democracy, 1962; James M. Buchanan, Public Finance in Democratic Process: Fiscal Institutions and Individual Choice, 1967; Geoffrey Brennan/James M. Buchanan, The Power to Tax: Analytical Foundations of a Fiscal Constitution, 1980. 27   Bruno S. Frey, Moderne politische Ökonomie, 1977; Arye Hillman, Public Finance and Public Policy: Responsibilities and Limitations of Government, 2.  Aufl., 2009; Torsten Persson/Guido Tabellini, Political Economics: Explaining Economic Policy, 2000; Barry R. Weingast/Donald A. Wittman, The Oxford Handbook of Political Economy, 2006. 28   Zur Bedeutung moderner ökonomischer Lehren für das materielle Steuer(verfassungs)recht siehe Wolfgang Schön, Leitideen des Steuerrechts oder: Nichtwissen als staatswissenschaftliches Problem, StuW 2013, S.  289 ff.; nicht behandelt wird hier die ganz anders geartete Frage, in welchem Umfang Marktprozesse rechtliche Lösungen hervorbringen, die den Ergebnissen demokratisch-parlamentarischer Prozesse überlegen sind (dazu skeptisch Oliver Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Bertschi u.a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S.  123 ff. (139 ff.)). 29   Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, 1957, S.  27 f., 36 ff.; Buchanan/Tullock a.a.O. (Fn.  26), S.  16 ff.; Dieter Brümmerhoff/Thiess Büttner, Finanzwissenschaft, 11.  Aufl., 2015, S.  97. 30   Selbstbewusst formuliert Charles Beat Blankart, der das führende deutschsprachige Lehrbuch über „Öffentliche Finanzen in der Demokratie“ verfasst hat: „Auch die Staatsrechtslehre lässt sich als Normengerüst verstehen. Doch dieses stellt zunächst einmal noch leblose Materie dar. Was die Ökonomik hinzufügt, sind die nach ihren eigenen Präferenzen handelnden Menschen. Die Ökonomik füllt die Staatsrechtslehre mit Leben und macht daraus die Finanzwissenschaft (Hervorhebung im Original).“ (Charles Beat Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 11.  Aufl., 2011, S.  8 ); zur frühen Übernahme des finanzwissenschaftlichen Konzepts des „Steuerstaats“ durch die Rechtwissenschaft siehe Isensee a.a.O. (Fn.  1), S.  411 f. 25

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Wahlverhalten und Abstimmungsverhalten sind in dieser Welt im Kern eigennützig geprägt. Das Gesetz als Ergebnis dieser Wahlen und Abstimmungen ist nicht idealer Ausdruck einer volonté generale, sondern der suboptimal aggregierte31 Wille einer Mehrheit, der sich die Minderheit zu unterwerfen hat 32. Anders gewendet: Der Politiker, dem es gelingt, den für den Wahlerfolg erforderlichen „Medianwähler“ und damit die knappste mögliche Mehrheit von seinem Programm zu überzeugen, wird dieses Programm zu Lasten der Minderheit durchsetzen können33. Koalitionen auf Wahl- und Parlamentsebene bilden sich vor diesem Hintergrund nach dem Muster spieltheoretisch nachvollziehbarer Strategien34. Und schließlich: das wichtigste Handlungssubjekt der Staatsrechtslehre, der Staat als solcher35, ist für die Finanzwissenschaft kein tauglicher Bezugspunkt von Regeln und Verhaltensannahmen36. Es sind immer nur menschliche Individuen, die innerhalb einer staatlichen Ordnung handeln und die dort gegebenen Rechte und Kompetenzen strategisch einsetzen. Dem Staat ist daher auch kein übergeordnetes „öffentliches“ Kollektivinteresse zuzuordnen; hinter dieser Abbreviatur verbergen sich vielfach nur gemeinsame Interessen einzelner, vieler oder auch (in seltenen Fällen) aller Staatsbürger, z.B. an der Bereitstellung öffentlicher Güter wie Frieden und Sicherheit oder dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Das fiskalpolitische Schreckensbild dieser parlamentarischen Demokratie ist ein Steuergesetz, das mit einer Mehrheit von 51  % der Abgeordneten - gegründet auf 51  % der Wähler – ihren Unterstützern völlige Steuerfreiheit zusichert, während die übrigen 49  % der Wähler ihr gesamtes Einkommen und Vermögen für Zwecke des Gemeinwohls abgeben müssen37. Ein solches Beispiel mag übertrieben klingen, aber es ist konzeptionell nicht weit entfernt von der gegenwärtigen Erbschaftsteuergesetzgebung, die 90  % aller Erbfälle mit Hilfe großzügiger Steuerfreibeträge freistellt und sich dadurch die Zustimmung der Wählermehrheit sichert. Zugleich wird im Erbschaftsteuerrecht mit Hilfe gezielter Begünstigungen für betriebliche Vermögen die einflussreiche Unternehmerlobby weitgehend entlastet – eine weitere Verzerrung des

  Frey a.a.O. (Fn.  27), S.  91 ff.   Brennan/Buchanan a.a.O. (Fn.  26), S.  6 ff. 33   Brümmerhoff/Büttner a.a.O. (Fn.  29), S.  101 ff., 113 ff.; John Cullen/Philip Jones, Public Finance and Public Choice: Analytical Perspectives, 3.  Aufl., 2009, S.  105 ff.; Frey a.a.O. (Fn.  27), S.  108 ff.; Hillman a.a.O. (Fn.  27), S.  4 09 ff.; Allan H. Meltzer/Scott F. Richard, A Rational Theory of the Size of Government, 89 Journal of Political Economy (1981) S.  914 ff.; zu den Grenzen des Medianwähler-Modells siehe Stanley L. Winer/Walter Hettich, Structure and Coherence in the Political Economy of Public Finance, in: Weingast/Wittman a.a.O. (Fn.  27), S.  4 41 ff., 447 ff. 34  Beispielhaft: Amihai Glazer/Kai A. Konrad, The evaluation of risky projects by voters, 52 Journal of Public Economics (1993) S.  377 ff.; dies., Intertemporal Commitment Problems and Voting on Redistributive Taxation, 36 Journal of Urban Economics (1994) S.  278 ff. 35   Zum Staat als „Wirkungseinheit“ oberhalb des „Staatsapparats“: Josef Isensee a.a.O. (Fn.  20), §  15 Rz.  81; zum „Volk“ als „menschlichem Subjekt“ Böckenförde a.a.O. (Fn.  14), §  24 Rz.  7; zum Ausgangspunkt siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, 1969 – 1971, §  258. 36   Buchanan/Tullock a.a.O. (Fn.  26), S.  11 ff.; ein günstigeres Bild zeichnet: Richard A. Musgrave, The Role of the State in Fiscal Theory, 3 International Tax and Public Finance (1996) S.  247 ff. 37   Hillman a.a.O. (Fn.  27), S.  464 ff. 31

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demokratischen Entscheidungsprozesses38. Die Erbschaftsteuer bleibt übrig als eine „Residualbesteuerung“ zu Lasten politisch nicht organisierter „Sandwichbürger“39, deren Erwartungen im demokratischen Willensbildungsprozess keine relevante Rolle spielen40.

3.  Verfassungspolitische Erwartungen und verfassungsrechtliche Sicherungen Verständnis und Gestalt des Verfassungsrechts werden – wie jüngst Adrian Vermeule dargelegt hat – zutiefst davon bestimmt, in welchem Umfang die Schöpfer und Interpreten einer Verfassung von Sorge gegenüber dem Missbrauch politischer Macht geprägt sind41. Welches Menschenbild soll also der Verfassungspraxis und namentlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Steuergesetzen zugrunde gelegt werden? Die Antwort muss nicht notwendig eindimensional ausfallen. Verfassungspolitisch ist es richtig, in einem Gemeinwesen an demokratische Tugenden zu appellieren und im öffentlichen Diskurs daran festzuhalten, das Wahlverhalten des Bürgers und das politische Handeln der Volksvertreter auf das Gemeinwohl auszurichten. Dieser Anspruch bleibt eine ständige Aufgabe politischer Erziehung auf gesellschaftlicher Ebene namentlich in Familien, Verbänden und Schulen; seine Erfüllung gehört zu den Voraussetzungen, von denen eine funktionierende Demokratie lebt, die sie aber nicht garantieren kann42. Es wäre kontraproduktiv, das individualistische Menschenbild der Finanzwissenschaften nicht nur als positiven Befund zu akzeptieren, sondern es zur staatsbürgerlichen Zielgröße zu erheben. Umgekehrt wäre es aber naiv, der rechtlichen Würdigung politischer Prozesse und Institutionen eine allzu idealistische Sicht zugrunde zu legen. Gesetzgebung ist in erster Linie weder Erkenntnisakt43 noch argumentativer Diskurs44, sondern sie ist eine durch Erkenntnisse und Argumente unterstützte politische Majoritätsdezision und damit allen Gefährdungen politischer Willensbildung ausgesetzt. Das Verfassungsrecht muss – wie das Recht überhaupt – mit der Abweichung vom Ideal leben,   Grundlegend zum Einfluss von pressure groups: Mancur Olson, The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, 1965/71, S.  135 ff. 39   Wolfgang Schön, Wieviel Erbschaft gehört dem Staat?, FAZ v. 27.3.2015 (Nr.  73), S.  18; Johanna Hey, Zur Reichweite der Erbschaftsteuerreform 2016, in: Johanna Hey u.a., Zukunft der Erbschaftsteuer: Wege aus dem Reformdilemma aus verfassungsrechtlicher, ökonomischer und rechtspraktischer Sicht, ifst-Schrift 506, 2015, S.  11 (35 ff.). 40   Hillman (a.a.O. (Fn.  27) S.  474 f.) modelliert diesen Fall als „A coalition of low- and high-income voters“), der zur Umverteilung von der Mittelschicht auf die Unterschicht ohne Opfer für die Oberschicht führt; zu den „forgotten groups“ im politischen Prozess auch Mancur Olson a.a.O. (Fn.  38), S.  165 ff. 41   Adrian Vermeule, The Constitution of Risk, 2014, S.  10 ff: Er stellt dem traditionellen risikoaversen precautionary constitutionalism einen ausgewogeneren optimizing constitutionalism gegenüber. 42   Böckenförde a.a.O. (Fn.  14) §  24 Rz.  58 ff. 43   In diese Richtung Lepsius a.a.O. (Fn.  28), S.  146 ff. 44   Habermas a.a.O. (Fn.  22), S.  220: „Die Mehrheitsregel behält eine interne Beziehung zur Wahrheitssuche dadurch, dass die mit der Majorität getroffene Entscheidung nur eine Zäsur in einer fort­ laufenden Diskussion bildet und gleichsam das interimistische Ergebnis einer diskursiven Meinungs­ bildung festhält“. Daraus folgt nicht nur der Anspruch auf „Abänderbarkeit“ dieses Ergebnisses, sondern auch auf „grundrechtlichen Minderheitenschutz“ (a.a.O., S.  221). 38

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muss Schutz gewähren, wenn das Parlamentsgesetz ihn nicht von selbst garantiert. Vor allem dann, wenn die normative Ausnahme zur faktischen Regel wird und eigennützige Strategien von Wählern und Gewählten nicht mehr als unbeachtlicher Grenzfall gelten können, ist es Aufgabe des Verfassungsrechts und damit auch des Verfassungsgerichts, die Schranken der Gesetzgebungsgewalt zu definieren. Die Besteuerungsgleichheit wird eben – wie Paul Kirchhof konstatiert – „entgegen den ursprünglichen Erwartungen heute nicht schon durch das parlamentarische Gesetz­ gebungsverfahren, den Gedanken der Repräsentation gesichert. Der Abgeordnete repräsentiert weniger den Steuerpflichtigen in seinem Anliegen nach maßvoller und gleichmäßiger Last; er stellt seine Arbeit vielmehr in den Dienst der Leistungserwartungen an den Staat, die jeweils Steuererhöhungen voraussetzen“45.

III.  Besonderheit des Steuerrechts? Die Skepsis gegenüber dem politischen Entscheidungsprozess begründet die Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Schutzvorkehrungen. Eine solche Skepsis besteht indessen gegenüber der Legislative im Allgemeinen, nicht nur ihren steuergesetz­ lichen Emanationen. In einem weiteren Schritt muss daher begründet werden, worin die verfassungsrechtliche Besonderheit gerade des Steuerrechts besteht, die den vielfach diagnostizierten weiter reichenden Schutzbedarf rechtfertigt. Sie besitzt eine mehrfache Wurzel. In einem ersten Schritt ist auf den bekannten Sachverhalt hinzuweisen, dass der Bedarf nach grundrechtlichem Schutz im öffentlichen Recht stärker ausgeprägt ist als im Privatrecht. Die Regelung von Konflikten zwischen Privaten – im bürger­lichen Recht, im Unternehmensrecht oder im Arbeitsrecht – findet außerhalb des hierarchisch geprägten Hoheitsverhältnisses statt, das im öffentlichen Recht zwischen Staat und Staatsbürger in den Vordergrund tritt. Der Gesetzgeber agiert im Privatrecht eher in der Rolle eines Richters erster und letzter Instanz, der als distanzierter Dritter einen Ausgleich zwischen den Interessen der Privatrechtssubjekte herbeiführt, ohne damit unmittelbar eigene Interessen (namentlich eigene finanzielle Interessen) zu verfolgen46. Nicht ohne Grund kommt den Grundrechten im Hinblick auf die Ausgleichsfunktion staatlicher Gesetzgebung im Privatrecht eine relativ geringe Bedeutung zu: als Ausdruck einer „objektiven Wertordnung“ setzen sie dem Gesetz einen flexiblen äußeren Rahmen und als Grundlage „staatlicher Schutzpflichten“ ordnen sie nur in seltenen Grenzfällen ein aktives Tätigwerden des Gesetzgebers an47. Was aber unterscheidet das Steuerrecht von anderen Bereichen des öffentlichen Rechts? Dessen Referenzgebiete weisen vielfach ebenfalls eine hohe Eingriffsintensität auf, namentlich das Strafrecht oder das Polizei- und Ordnungsrecht. Das Sozialrecht teilt schließlich mit dem Steuerrecht die Breite des personellen Zugriffs und den quantitativen Umfang finanzieller Transfers. Auf allen diesen Gebieten wird der Zugriff indessen jeweils durch eigene Sachgesetzlichkeiten geprägt und damit auch   Kirchhof a.a.O. (Fn.  5 ), §  118 Rz.  169.   Alexander Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016 (im Erscheinen). 47   Claus-Wilhelm Canaris, Grundrechte und Privatrecht: Eine Zwischenbilanz, 1999. 45

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einer spezifischen verfassungsrechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht. Das Urteil des Strafrechts findet seine verfassungsrechtliche Grenze im Schuldprinzip; Polizeiund ordnungsrechtliche Maßnahmen werden konturiert durch die Ausrichtung auf (konkrete oder abstrakte) Gefahren sowie die auf deren Abwehr anwendbaren Maßstäbe der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Das Sozialrecht wird inhaltlich vorgeprägt durch seine solidarische Ausgleichsfunktion - und gerade das Sozialversicherungsrecht bietet eine systemimmanente Balance im gesetzlich verordneten Synallagma zwischen Beitragspflicht und Versicherungsleistung. Auf dem Gebiet der parafiskalischen Sonderabgaben hat das Bundesverfassungsgericht schließlich in einer (für unser Thema vorbildlichen) Gesamtschau demokratischer und gleichheitsrechtlicher Grundsätze dafür gesorgt, dass eine Zahlungspflicht nur auf eine spezifische Gruppenverantwortung für staatliche Aufwendungen und eine spezifische Gruppennützigkeit dieser Aufwendungen gestützt werden darf48. Für das Steuerrecht ist demgegenüber oben bereits darauf hingewiesen worden, dass der öffentliche Finanzbedarf des Staates keinen natürlichen Grenzen oder Zielen unterliegt und daher die Ausgabenseite des Staatshaushalts nicht mit den Maßstäben der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit eingegrenzt werden kann. Hier können allenfalls die Rechnungshöfe eine begrenzte Disziplin einfordern. Andererseits besteht im Steuerrecht keine Möglichkeit, in vergleichbarer Weise wie im Strafrecht, im Ordnungsrecht oder im Recht der parafiskalischen Sonderabgaben individuelle Verantwortungszusammenhänge zwischen Zahlungspflicht und Aufkommensverwendung herzustellen oder vorauszusetzen. Die steuerliche Einnahmenseite wird durch das haushaltsrechtliche Non-Affektationsprinzip von der Ausgabenseite entkoppelt und durch keine sachlichen Zuordnungskriterien präjudiziert. Vor diesem Hintergrund schiebt sich der beschriebene Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit im Steuerrecht mit Macht in den Vordergrund49. Es gibt weitere Gründe für den Umstand, dass dieser Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit im Steuerrecht mit besonderer Härte ausgetragen wird50. Dazu trägt zunächst erheblich bei, dass es im Steuerrecht keine „unparteiischen“ Wähler oder Repräsentanten gibt. Zu den günstigen Funktionsbedingungen der Demokratie gehört im Grundsatz, dass eine große Anzahl von Wählern und ihrer Repräsentanten an der politischen Willensbildung beteiligt ist, so dass durch deren räumliche und soziale Verteilung und deren unterschiedliche Lebensverhältnisse gewährleistet wird, dass auf der Ebene der Gesetzgebungsorgane eine gewisse Neutralität der Entscheidungsprozesse entsteht. Für viele Gesetzgebungsgegenstände wird man annehmen dürfen, dass ihre Auswirkungen nur einzelne Personengruppen erheblich berühren, während die übrigen Mitglieder (der Wählerschaft oder des Parlaments) sich in einer  Zuletzt BVerfG v. 28.1.2014 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 (Filmabgabe) BVerfGE 135, S.  155 ff. (Rz.  120 ff.; ausführliche Darstellung bei: Paul Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, Rechtsquellen – Organisation – Finanzen, 3.  Aufl., 2007, §  119 Rz.  69 ff. 49   Blankart a.a.O. (Fn.  30), S.  47; differenzierend zur Schutzwürdigkeit von „Minderheiten“ siehe Niels Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S.  34 ff. 50  Grundlegend Knut Wicksell, Finanztheoretische Untersuchungen, 1896, S.  110 ff. (mit der Forderung nach Einstimmigkeit bei staatlichen Ausgabe- und Finanzierungsentscheidungen); siehe auch Cullen/Jones a.a.O. (Fn.  33), S.  117 ff. 48

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relativen Unbefangenheit mit den Vorzügen und Nachteilen einer bestimmten gesetzgeberischen Maßnahme befassen können. Diese je nach Beschlussgegenstand kleine oder große neutrale Gruppe wird vielfach den Ausschlag geben, wenn im politischen Konflikt Begünstigte und Belastete miteinander ringen. Der neutralen Mitte kommt gleichsam eine Schiedsrichterfunktion zu, die im demokratischen Prozess zur „Richtigkeitsgewähr“ des legislatorischen Outputs beiträgt. Anders ist die Situation im Steuerrecht: Grundsätzlich sind alle wahlberechtigten Personen (und weitere auf dem Territorium eines Staates tätige Wirtschaftssubjekte) gehalten, zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben beizutragen. Jede Finanzierungsentscheidung und jeder Umverteilungseffekt, der in Steuerbasis oder Steuersatz angelegt ist, schlägt daher direkt auf alle betroffenen Personen durch - entweder günstig oder ungünstig. Diese Breitenwirkung findet man in ähnlich intensiver Weise weder im Privatrecht noch auf den meisten anderen Gebieten des öffentlichen Rechts. In der konkreten Steuergesetzgebung, aber auch in den steuerpolitischen Wahlprogrammen der politischen Parteien, zeigt sich daher ein umfassender sozialer Gestaltungsanspruch, der keinen Bürger unberührt lässt und damit zugleich die Fiktion der Neutralität und Gemeinwohlorientierung der beteiligten Entscheidungsträger nahezu vollständig auf hebt. Dazu trägt weiterhin bei, dass in den meisten anderen Regelungsbereichen die konkreten Effekte einer materiellen Gesetzesvorlage für einzelne Personen sehr viel weniger absehbar oder gar bezifferbar sind. Ob Änderungen im Umweltrecht oder im Strafrecht den einzelnen (Wähler) in Zukunft günstig oder ungünstig treffen werden, lässt sich typischerweise nicht vorhersagen. Im Haftungsrecht mag der Einzelne in Zukunft Täter oder Opfer sein, im Vertragsrecht ist man je nach Gegenüber die stärkere oder die schwächere Partei. Selbst für Normen, die gezielt einzelne persönlich identifizierbare Interessengruppen fördern oder belasten sollen, etwa für Schutzvorschriften im Arbeitsrecht oder im Mietrecht, lässt sich nur schwer sagen, welche Allokations- und Einkommenseffekte sie bei den Beteiligten tatsächlich zeitigen werden. So kann ein strenger Kündigungsschutz dazu führen, dass dem einen Arbeitnehmer sein Einkommen erhalten bleibt, dem anderen Arbeitnehmer aber von vornherein eine neue Stelle verweigert wird. Gesetzliche Mietpreisbremsen können den Zugang zu Wohnraum verbilligen, aber diesen auch als Investitionshemmnis verknappen. Noch weiter verschwimmen die Zielsetzungen, wenn Wähler neben den eigenen Interessen diejenigen ihrer Familienangehörigen (auch über die Generationen hinaus) wahrzunehmen suchen, deren künftige Situation schwer prognostiziert werden kann. Die meisten Gesetzgebungsinhalte sind in ihren Auswirkungen komplex und entfalten ihre Wirkungen zum Teil nur auf lange Frist. Das gilt nicht zuletzt für redistributiv gemeinte Maßnahmen, die außerhalb des Steuerrechts nur schwer und wenig zielgenau verwirklicht werden können51. Man kann daher – um mit John Rawls zu sprechen – für viele Bereiche der materiellen Gesetzgebung davon ausgehen, dass Wähler und Abgeordnete tendenziell unter einem veil of ignorance52 agieren, der ihnen verschließt, ob die Rechtsfolgen einer zur 51   Louis Kaplow/Steven Shavell, Why the legal system is less efficient than the income tax in distributing income?, 23 Journal of Legal Studies (1994), S.  667 ff. 52   John Rawls, A Theory of Justice, 1971, 136 ff.; bemerkenswert erscheint, dass Jean-Jacques Rousseau

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Verabschiedung anstehenden Regelung sie in Zukunft vorteilhaft oder nachteilig betreffen werden53. Dies erhöht tendenziell die Neutralität des Entscheidungsprozesses. Hinzu tritt der in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung stabil herausgestellte Effekt des hyperbolic discounting, d.h. die Erkenntnis, dass viele Menschen bei langfristig wirksamen Entscheidungen die eigene künftige Betroffenheit eher unterals überschätzen54. Daher lässt sich annehmen, dass eine große Zahl von Entscheidungsträgern (im Wahlvolk, aber auch in der Abgeordnetenschaft) bei der Ausübung ihrer demokratischen Rechte jedenfalls keine eindeutigen persönlichen Präferenzen verfolgen (können) und damit ein substanzielles Maß an Ausgewogenheit und Objektivität in den Vordergrund tritt. Das ist anders in der Steuergesetzgebung. Sie trifft jeden auf der Grundlage seiner aktuellen Vermögens- und Einkommensverhältnisse – und zwar sehr zeitnah und konkret messbar. Es gibt in der Steuergesetzgebung im Grundsatz immer klare Verlierer und klare Gewinner, und zwar unter Einschluss des gesamten Wahlvolks. Damit können die Entscheidungspräferenzen der Wähler nahezu eindeutig festgestellt und die Grenzen zwischen Mehrheit und Minderheit definiert werden. Es kommt dann aus der Sicht der Politik bei der Formulierung von Programmen vor allem darauf an, für die Konturierung von Belastungswirkungen den „Medianwähler“ zu ermitteln und diesen von Mehrbelastungen auszunehmen. Dieser wird nämlich immer dann für einen höheren Grad der Umverteilung stimmen, wenn das Einkommen des Medianwählers unterhalb des Durchschnittseinkommens aller Wähler liegt55. Die praktischen Herausforderungen dieser Politik musste im Bundestagswahlkampf 1994 der SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping erleben, als er für den Fall seines Wahlsieges eine Ergänzungsabgabe für „Besserverdienende“ ankündigte, bei deren Vorstellung er jedoch die Linie zwischen „Normalverdienern“ und „Besserverdienenden“ zu niedrigschwellig definierte und den anschließenden Proteststurm im Wahlvolk mit nachträglich präsentierten Modifikationen seiner Erklärungen über Brutto- und Nettoverdienstgrenzen zu besänftigen suchte56.

in seinem “Gesellschaftsvertrag” noch meinte, die “Allgemeinheit des Gesetzes” würde strukturell die Begünstigung einzelner Personen oder Personengruppen verhindern: „Sage ich, dass der Gegenstand der Gesetze immer ein allgemeiner sei, so meine ich, dass das Gesetz die Untertanen als einen Körper und die Handlungen als etwas Abstraktes ansehe, niemals aber ein bestimmtes Individuum von Menschen, noch eine besondere Handlung vor Augen nehme. So kann also das Gesetz zwar bestimmen, dass es Privilegien geben solle, aber es kann keiner einzelnen Person ein solches erteilen. (…) Es gehört mit einem Worte zur gesetzgebenden Gewalt kein einziges Geschäft, welches sich auf ein individuelles Objekt bezieht“ ( Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, 1761, in: A. Heine (Hrsg.), Bibliothek der Philosophie, Bd. 15, 2.Buch, 6. Kapitel („Das Gesetz“); dieses Denken lebt im Verbot der Einzelfallgesetzgebung (Art.  19 Abs.  1 GG) fort, ohne je verfassungsrechtliche Durchschlagskraft entfaltet zu haben (näher G. Kirchhof a.a.O. (Fn.  11), S.  196 ff.). 53   Brümmerhoff/Büttner a.a.O. (Fn.  29), S.  99 f. 54   Siehe den Überblick bei: Frederick Shane/George Loewenstein/Ted O’ Donoghue, Time Discounting and Time Preference: A Critical Review, 40 Journal of Economic Literature (2002) S.  351 ff. (360 ff.); zum Beispiel der Wahl zwischen Konsum und Sparen siehe: David Laibson, Golden Eggs and Hyperbolic Discounting, Quarterly Journal of Economics (1997) S.  4 43 ff. 55   Persson/Tabellini a.a.O. (Fn.  27), S.  121 m.w.N. 56   Stephan Kiecha, Rudolf Scharping: Kandidat mit Brutto-Netto-Fauxpas, SPIEGEL-Online v. 22.4.2007.

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Als mäßigende Tendenzen haben sich in diesem steuerpolitischen Verteilungskampf vor allem zwei Aspekte herausgestellt57: Zunächst können die Wähler bei langfristigen Festlegungen in der Steuerpolitik ihre persönlichen Aussichten und Hoffnungen auf eine künftige Verbesserung ihrer Einkommens- und Vermögenslage begrenzend ins Spiel bringen. Als bemerkenswertes Beispiel wird genannt, dass in den Vereinigten Staaten auch aktuelle Geringverdiener mit erheblichem Optimismus über ihre künftigen Verdienstchancen ausgestattet sind und daher Parteiprogrammen mit hohen Steuersätzen für die oberen Einkommensschichten nicht folgen58. Der zweite Aspekt liegt in der Erwartung, dass maßvolle Steuern Effizienzgewinne und gesamtwirtschaftliches Wachstum jenseits der nackten Umverteilung unterstützen. Gerade in Deutschland konnte in den letzten Jahrzehnten eine reduzierte Besteuerung der oberen (unternehmerisch geprägten) Einkommensgruppen mit mittelbaren, wirtschaftlich günstigen Folgeeffekten für die Arbeitnehmerschaft beworben werden (trickle down effect). Die Unternehmerschaft versucht daher stets, ihre steuerliche Position (erneut beispielhaft in der gegenwärtigen Diskussion zum Erbschaftsteuerrecht) mit Argumenten gesamtgesellschaftlicher Nützlichkeit – namentlich im internationalen Steuerwettbewerb - zu verteidigen. Darauf reagiert die Mehrheit mit pragmatischen Zugeständnissen, hinter denen aber stets die latente Drohung lauert, bei Wegfall des wirtschaftspolitischen Arguments erneut Umverteilungsziele in den Vordergrund zu stellen. Steuergesetzgebung – das ist und bleibt ein politisch verfasster, transparenter, aber auch unauf hörlicher Verteilungskampf innerhalb des Staatsvolks. Er bedarf der verfassungsrechtlichen Einhegung.

IV.  Steuerprinzipien und Verfassungsrecht Zu den Vorwürfen aus der allgemeinen Staatsrechtslehre gegenüber der Steuerrechtswissenschaft gehört unter anderem der Vorhalt, dass diese dazu neige, die ihrer eigenen Fachtradition und Praxis verhafteten Sachprinzipien verfassungsrechtlich aufzuladen59. Mit der Rückbindung bestimmter steuerpolitischer Leitgedanken in das Verfassungsrecht werde einerseits versucht, Änderungen der geltenden Gesetzeslage verfassungsrechtlich abzuwehren, und andererseits darauf abgezielt, bestimmte als vorbildlich empfundene Reformkonzepte zu erzwingen. Die Hoheit des Steuergesetzgebers – des Parlaments – werde durch diese Manipulationen ausgehöhlt. Im Zentrum dieser staatsrechtlichen Kritik standen und stehen vor allem zwei verfassungsgerichtliche Konzepte: der auf der Grundlage des Art.  14 Abs.  2 GG durch 57   Richard A. Musgrave, Leviathan Cometh – Or Does He?, in: H. Ladd/T. Tideman (Hrsg.), Tax and Expenditure Limitations, 1981, zitiert nach: Richard A. Musgrave, Public Finance in a Democratic Society, Vol. II: Fiscal Doctrine, Growth and Institutions, 1986, S.  200 ff. (220). 58   Edward L. Glaeser, Inequality, in: Weingast/Wittman a.a.O. (Fn.  27), S.  624 ff., 637 f.; Hillman a.a.O. (Fn.  27), S.  468; siehe auch Buchanan a.a.O. (Fn.  26), S.  236 ff.; zuletzt Kirk J. Stark, The Role of Expressive Versus Instrumental Preferences in U.S. Attitudes Toward Taxation and Redistribution, in: H. P. Gaisbauer/G. Schweiger/C. Sedmak (Hrsg.), Philosophical Explorations of Justice and Taxation, 2015, S.  167 ff. 59   Siehe zuletzt: Michael Droege, Die Kodifikationsidee in der Steuerrechtsordnung, in: W. Schön/ E. Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts II, 2014, S.  69 ff. (82); Uwe Kischel in: V. Epping/ A. Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, 2.  Aufl., 2013, Art.  3 GG Rz.  141 f.

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den 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts entwickelte (inzwischen aufgegebene) „Halbteilungsgrundsatz“ und die im Rahmen von Art.  3 Abs.  1 GG entfaltete Forderung nach innerer „Folgerichtigkeit“ der Gesetzgebung. Weniger in der Staatsrechtslehre attackiert, aber schon in der Steuerwissenschaft umstritten erscheint bei dieser Betrachtung schließlich der verfassungsjuristische Rekurs auf das „Leistungsfähigkeitsprinzip“ als Fundament und Zielgröße steuerlicher Gesetzgebung 60. Ob diese Kritik berechtigt ist, hängt in erster Linie davon ab, welchen Inhalt und welche Funktion man steuerlichen Prinzipien beimisst. Eine traditionelle Lesart61 begreift Steuerprinzipien als Ausdruck von philosophisch begründeter Steuergerechtigkeit oder pragmatisch-politischer Klugheit, vielfach auch als Beitrag zu einer effizienten Ausgestaltung des Steuersystems62 oder schlicht als heuristische Hilfe bei der Interpretation, Administration und Kommunikation konkreter Steuervorschriften. Ein solches Verständnis von Besteuerungsprinzipien ist in erster Linie auf der Ebene des einfachen Rechts bzw. der Steuerpolitik angesiedelt, von historischen Pfadabhängigkeiten geprägt und mit legitimierenden oder explizierenden Theorien mittlerer Abstraktionshöhe („Opfertheorie“, „Äquivalenztheorie“ etc.) garniert. Man kann mit Fug und Recht bezweifeln, ob diese theoretisch-traditionelle Prägung den verfochtenen „steuerpolitischen Idealen“ eine verfassungsrechtliche Verankerung zu verleihen vermag 63. Betrachtet man den Gesetzgeber als ein dem Gemeinwohl verpflichtetes, neutrales und unabhängiges Entscheidungssubjekt, so wird man dies verneinen. Es erscheint dann vielmehr als legitime Aufgabe des Parlaments, aus eigener Machtvollkommenheit den staatlichen Finanzbedarf zu definieren, die Produktion öffentlicher Güter zu gestalten und die Umverteilung von Finanzkraft innerhalb der Bürgerschaft zu organisieren64. Weder eine Klasse von Steuerexperten noch ein unabhängiges Gericht können dem Gesetzgeber diese im Kern politische Entscheidung aus der Hand nehmen65. Der Gesetzgeber ist aus dieser Sicht an keine rechts- oder wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zur Besteuerung gebunden (abgesehen vielleicht von der wenig substanzhaltigen, historisch präformierten Zuordnung bestimmter „Steuertypen“ zur Hoheit bestimmter Gebietskörperschaften in der Finanzverfassung der Art.  105 ff. GG). Eine andere Lesart kann jedoch darin bestehen, Steuerprinzipien in erster Linie als formale „Handlungsbeschränkungen“66 zu begreifen, welche den Konflikt zwi60   Zu dessen verfassungsrechtlicher Verankerung siehe Christian Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, Rechtsquellen – Organisation – Finanzen, 3.  Aufl., 2007, §  116 Rz.  100 ff. 61   Hey a.a.O. (Fn.  5 ), §  3 Rz.  11 ff.; Ekkehart Reimer, Dogmengeschichte der ertragsteuerlichen Grundprinzipien, StuW 2014, S.  29 ff. 62  Zum „Indizcharakter“ von Belastungsungleichheit für Ineffizienzen siehe Louis Kaplow, The Theory of Taxation and Public Economics, 2008, S.  396 ff. 63   Musil a.a.O. (Fn.  12), S.  136 ff.; Lepsius a.a.O. (Fn.  6 ), S.  494 ff.; ders. a.a.O. (Fn.  5 ), S.  260 ff., 261. 64   Dreier a.a.O. (Fn.  6 ). 65   Wolfgang Schön, Steuerpolitik 2008 – das Ende der Illusionen, DStR 2008, Beihefter zu Heft 17, S.  10 ff. (11); ders., Legalität, Gestaltungsfreiheit und Belastungsgleichheit, in: DStJG 34 (2010), S.  29 ff. (30 ff.). 66   Blankart a.a.O. (Fn.  30), 184: „Aus dieser Perspektive sind daher Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzprinzip nicht exogene Ziele, sondern Handlungsbeschränkungen oder Regulierungsregeln für die Regierung.“ (Hervorhebungen im Original); Clemens Fuest, Ökonomische Prinzipien gerechter und effizienter Besteuerung, in: DStJG 37 (2014) S.  65 (77 ff.).

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schen der Mehrheit und der Minderheit innerhalb der staatlichen Willensbildung koordinieren. Das erfordert allerdings einen wichtigen gedanklichen Schritt: die materielle Schutzwirkung der Grundrechte muss in Bezug gesetzt werden zu Demokratie und Mehrheitsprinzip. Der eigentumsrechtliche „Halbteilungsgrundsatz“ ist bei dieser Be­trachtung in erster Linie darauf angelegt, eine majoritätsresistente Mindestgröße an Privatnützigkeit produktiven oder konsumtiven Eigentums zu sichern. Und der Gedanke der Besteuerungsgleichheit ist nach diesem Konzept vor allem dahin zu operationalisieren, einerseits der (parlamentarischen) Mehrheit den asymmetrischen Zugriff auf Einkommen und Vermögen einer Minderheit zu untersagen und an­dererseits den steuerpolitischen Einfluss mächtiger Interessengruppen zurückzudrängen67. Das in Art.  3 Abs.  1 GG niedergelegte Gebot, „wesentlich Gleiches“ in den steuerlichen Rechtsfolgen ebenfalls „gleich“ zu behandeln, besitzt neben der individualrechtlichen daher auch eine demokratische Komponente: es zwingt die Mehrheit zu einer substanziellen Beteiligung aller potentiellen Steuerträger an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben (oder Redistributionen) und beeinflusst damit ex ante den gesetzgeberischen Entscheidungsprozess68. Das verfahrensrechtliche Defizit des Mehrheitsprinzips – nämlich das widerspruchslose Hinweggehen über den Willen eines substanziellen Teils der Bevölkerung (und ihrer Volksvertreter) – wird materiellrechtlich im Gleichheitsgebot aufgefangen69. Vom Bundesverfassungsgericht sollte daher nicht verlangt werden, „ein größeres Verständnis für die Funktionsbedingungen der Ersten Gewalt“ zu entwickeln und „in seiner Verfassungskontrolle syste­ matisch (zu) berücksichtig(en)“70. Umgekehrt muss das Verfassungsrecht gerade die Funktionsbedingungen des parlamentarischen Prozesses darauf kontrollieren, dass sie ihrer legitimierenden Kraft gegenüber dem Einzelnen nicht verlustig gehen. Die entscheidende Weichenstellung liegt somit darin, Steuergesetzgebung nicht als objektiviertes „Staatshandeln“ gegenüber dem Bürger zu begreifen, in dem sich ein monolithisches öffentliches Interesse gegenüber widerstreitenden Partikularinteressen entfaltet. Namentlich im Steuerrecht erschöpft sich Gesetzgebung vielfach schlicht in hoheitlichen Repartitionen zwischen individuellen Akteuren und deren Interessen – am Genuss von Einkommen und Vermögen, am sozialen Transfer, an der Produktion öffentlicher Güter. Der Schutz des Eigentums und der allgemeine Gleichheitssatz mäßigen in dieser Auseinandersetzung die Nutzung eines kollektiven Übergewichts der Mehrheit oder die geschickten Interventionen mächtiger pressure groups. Demokratische und rechtsstaatliche Funktion der Freiheits- und Gleichheitsrechte müssen dafür in einer Gesamtschau gewürdigt werden71.

67   Schön a.a.O. (Fn.  28), S.  293 ff.; Hey a.a.O. (Fn.  13), S.  20 f.; zum „Schutz der indifferenten Mehrheit vor Klientelpolitik“ siehe Petersen a.a.O. (Fn.  49), S.  4 0 ff. 68  Treffend G. Kirchhof a.a.O. (Fn.  11), S.  539. 69   Schön a.a.O. (Fn.  28), S.  293 ff. 70   Lepsius a.a.O. (Fn.  6 ), S.  496. 71  Klarsichtig: Bernd Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtssetzung, VVDStRL 71 (2012), S.  49 ff. (63 ff.); für eine Sonderung dieser Perspektiven tendenziell Christian Starck a.a.O. (Fn.  24), §  33.

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V.  Steuerlicher Grundrechtsschutz im Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit 1. Eigentumsschutz Sieht man von besonderen Materien wie der Familienbesteuerung oder dem Steuerrecht gemeinnütziger Organisationen ab, in denen spezielle Freiheits- und Gleichheitsrechte eine Rolle spielen, wird der Steuerzugriff im Grundsatz durch das Eigentumsgrundrecht und den allgemeinen Gleichheitssatz in seine Schranken gewiesen. Dabei bildet das Eigentumsgrundrecht eine „absolute“ Grenze der Besteuerungshoheit, während der Gleichheitssatz eher „relativen“ Charakter hat: nicht die bloße Hö­he der Steuerlast ist für einen Gleichheitsverstoß entscheidend, sondern das Verhältnis des Belasteten zu anderen (potentiellen) Steuerpflichtigen. Im Ausgangspunkt verdient es betont zu werden, dass der Steuerzugriff die grundsätzliche Privatnützigkeit des Eigentums nicht in Frage stellen darf. Auch ein um­ fassendes Demokratieverständnis darf nicht dazu verleiten, dem Gesetzgeber die unbegrenzte Verfügungsmacht über Privateigentum zu verschaffen. Vor diesem ­ Hintergrund ist die Wirkkraft des Art.  14 Abs.  1 GG in der Staats- und Steuerrechtswissenschaft mit besonderer Leidenschaft im Anschluss an den Vermögensteuer­ beschluss des 2.Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 199572 diskutiert worden. Die kühne Tat des Senats, dem Vorschlag des Berichterstatters Paul Kirchhof zu folgen und (außerhalb extremer Notstandssituationen) eine absolute Besteuerungsgrenze „in der Nähe der hälftigen Teilung“ zu formulieren, hatte seinerzeit nicht nur ein leidenschaftlich widersprechendes Sondervotum aus der Feder ErnstWolfgang Böckenfördes veranlasst73, sondern auch außerhalb des Senats heftigen Widerstand hervorgerufen74. Nach vielfältigem (auch ideologisch geprägtem) Hin und Her war es letztlich die mangelnde Verankerung dieses steuerpolitischen Postulats im Verfassungstext, die dem Halbteilungsgrundsatz auf Dauer die Grundlage entzog. Der 1. Senat hatte sich ohnehin zu keinem Zeitpunkt diesem Grundsatz angeschlossen75 und der 2. Senat verabschiedete den Halbteilungsgrundsatz im Januar 2006 förmlich aus seiner Judikatur76. Das tiefer liegende Sachproblem blieb jedoch im Raum: Darf der Steuergesetzgeber unbegrenzt auf (große) Vermögen zugreifen? Sehen wir den besteuernden Staat mit Ernst-Wolfgang Böckenförde als „überlegen-ausgleichende Instanz“77? Es ist aus der Sicht unseres Themas kein Zufall, dass in den Schriften dieses prominenten steuerverfassungsrechtlichen dissenters ein nahezu ideales Bild der Demokratie und ihrer   BVerfG v. 22.6.1995 2 BvL 37/91 (Vermögensteuer) BVerfGE 93, S.  121 ff. (137 ff.).   BVerfG v. 22.6.1995 a.a.O. (Fn.  72), S.  149 ff. (157 ff.). 74   Siehe etwa die widerstreitenden Positionen von Seer, Der sogenannte Halbteilungsgrundsatz als verfassungsrechtliche Obergrenze der Besteuerung, FR 1999, S.  1280 ff. und Wieland, Freiheitsrecht­ liche Vorgaben für die Besteuerung von Einkommen, DStJG 30 (2001), S.  29 ff. 75   BVerfG v. 15.1.2014 1 BvR 1656/09 (Degressive Zweitwohnungssteuer) BVerfGE 135, S.  126 ff., Rz.  42–49. 76   BVerfG v. 18.1.2006 2 BvR 2194/99 (Einkommensteuertarif ) BVerfGE 115, S.  97 ff., 113 ff. 77   Böckenförde a.a.O. (Fn.  73), S.  164. 72 73

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verfassungsrechtlichen Ausprägungen sich vereinigen mit der Imagination eines machtvoll ausgreifenden Steuerstaates78. Ein solcher – in der Nachfolge spätabsolutistischer Verfügung über Volksvermögen und Volkseinkommen79 - tief in die Eigentumsverhältnisse der Gesellschaft eingreifender Parlamentsstaat lässt sich nur legitimieren mit einem hohen Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, dessen Überzeugungskraft allerdings eher im Sinken als im Steigen begriffen ist. Dass die Diskussion über diese Grundkonflikt auch innerhalb des Gerichts noch nicht abgeschlossen ist, belegt indessen, dass Böckenfördes Schüler Johannes Masing in zwei jüngeren Sondervoten80 den Vorrang des demokratischen (umverteilenden) Gesetzgebers erneut kraftvoll gegenüber den rechtsstaatlichen Schutzansprüchen der Bürgerschaft in Stellung gebracht hat.

2.  Gleichheit, Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit a) Tarifgestaltung Im Regelfall kann einer außerordentlich hohen Belastung einzelner Steuerpflichtiger oder von Gruppen von Steuerpflichtigen mit Hilfe des Gleichheitssatzes in Gestalt der „vertikalen Belastungsgleichheit“ begegnet werden: Jede Steuererhöhung muss gleichheitskonform, d.h. breit und maßvoll ausgestaltet werden; sie bedarf dafür einer erheblichen politischen Rückendeckung in Wahlvolk und im Parlament81. Ungewöhnlich hohe Steuersätze sind nur dann zulässig, wenn sie alle Steuerpflichtigen in angemessenem Umfang treffen. Dafür wird sich eine politische Mehrheit nur finden, wenn ein unabweisbarer Finanzbedarf der öffentlichen Hand i.S. einer extremen haushaltspolitischen Notlage festgestellt werden kann. Die Frage nach den absoluten Höchstgrenzen der Besteuerung kann daher bei der Tarifgestaltung weitgehend ersetzt werden durch die Frage nach den rechtlichen Möglichkeiten einer progressiven Ausgestaltung von Steuertarifen im Vergleich der Steuerzahler82. Der 2. Senat des Bundesverfassungsgericht hat diesen Zusammenhang in seinem Beschluss vom 18.1.2006 erkannt und den Abschied vom eigentumsrechtlichen 78   Treffend zum „Hauch kontrafaktischer Vergeblichkeit“ in dieser Konzeption: Christoph Schönberger, Der Indian Summer eines liberalen Etatismus: Ernst-Wolfgang Böckenförde als Verfassungsrichter, in: H.-J. Große Kracht/K. Große-Kracht (Hrsg.), Religion – Recht – Republik: Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2013, S.  121 ff. (134 f.). 79   Wolfgang Schön, Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, in: R. Mellinghoff/ G. Morgen­thaler/T. Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates: Symposion aus Anlass des 60. Geburtstags von Paul Kirchhof, 2004, S.  143 ff. (148 ff.). 80   Abweichende Meinung des Richters Masing zum Beschluss des BVerfG v. 17.12.2013 1 BvL 5/08 (Klarstellende Rückwirkungen) BVerfGE 135, S.  1 ff., 29 ff. (31 ff.); abweichende Meinung der Richter Gaier und Masing und der Richterin Baer zum Urteil des BVerfG v. 17.12.2014 1 BvL 21/12 („ErbSt“) NJW 2015, S.  303 ff. (327 ff.). 81   Hillman a.a.O. (Fn.  27), S.  465; Brennan/Buchanan a.a.O. (Fn.  26), S.  36: „If government is constitutionally required to follow precepts of generality in its fiscal dealings with citizens, the revenue potential that could possibly be derived from sophisticated discrimination among separate persons and groups of taxpayers is foreclosed“. 82  Grundlegend: A. de Viti di Marco, Politische Theorie der proportionalen und der progressiven Besteuerung, in: ders., Grundlehren der Finanzwirtschaft, 1931, S.  123 ff.

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„Halb­teilungsgrundsatz“ unter anderem dadurch abgemildert, dass es „den Maßstab verfassungsrechtlich gebotener Lastengleichheit auch in vertikaler Richtung“83 aktualisiert hat. Danach ist bei der Festlegung von Steuertarifen „die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich zur Besteuerung niedriger Einkommen (…) angemessen auszugestalten (…).“ Anders gewendet: Die Mehrheit darf sich selbst nicht vollständige Steuerfreiheit zu Lasten der (finanzkräftigeren) Minderheit verordnen. Ein progressiver Tarifverlauf soll aber dennoch zulässig sein. Im vagen Begriff der „Angemessenheit“ kommt indessen das ganze Dilemma der gleichheitskonformen Tarifgestaltung im Verhältnis von Mehrheit und Minderheit zum Tragen84: hier liegt eine Zukunftsaufgabe des Steuerverfassungsrechts85.

b)  Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit aa)  Sonderformen des Gleichheitssatzes Je weniger es gelingt, dem Steuerzugriff absolute Grenzen zu setzen, umso mehr tritt die relative Schranke des allgemeinen Gleichheitssatzes in den Vordergrund. Gerade im Steuerrecht hat sich daher eine Diskussion darüber entwickelt, in welchem Umfang dem Gleichheitssatz eine besondere Wirkkraft über das traditionelle „Willkürverbot“ hinaus zukommt86. Das Bundesverfassungsgericht hat dies materiell in den Prinzipien der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit87 (zumindest im Einkommensteuerrecht) und in dem Gebot der folgerichtigen Gesetzgebung exemplifiziert88. Beide Prinzipien lassen sich in ihrer verfassungsrechtlichen Wirkkraft nur einordnen, wenn man sie in Beziehung setzt zu dem Ausgangsbefund, dass der Steuergesetzgeber bei der Wahl des fiskalischen „Belastungsgrundes“ in den Grenzen des   BVerfG v. 18.1.2006 a.a.O. (Fn.  76), S.  116 f.   „Weder dieses Gebot vertikaler Steuergerechtigkeit (Art.  3 Abs.  1 GG) noch das Verbot übermäßiger Tarif belastung (Art.  14 GG) geben jedoch einen konkreten Tarifverlauf vor; vielmehr setzen beide den unmittelbar demokratisch legitimierten Entscheidungen des Parlaments einen äußeren Rahmen, der nicht überschritten werden darf. Bei der Einkommensteuer liegt es im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, ob der Tarif linear oder progressiv ausgestaltet wird. Wählt der Gesetzgeber einen progressiven Tarifverlauf, ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, hohe Einkommen auch hoch zu belasten, soweit bei betroffenen Steuerpflichtigen ein – absolut und im Vergleich zu anderen Einkommensgruppen betrachtet – hohes, frei verfügbares Einkommen bleibt, das die Privatnützigkeit des Einkommens sichtbar macht. Ist letzteres gewährleistet, liegt es weitgehend im Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, die Angemessenheit im Sinne vertikaler Steuergesetzgebung selbst zu bestimmen. Auch wenn dem Übermaßverbot keine zahlenmäßig zu konkretisierende allgemeine Obergrenze der Besteuerung entnommen werden kann, darf allerdings die steuerliche Belastung auch höherer Einkommen für den Regelfall nicht so weit gehen, dass der wirtschaftliche Erfolg grundlegend beeinträchtigt wird und damit nicht mehr angemessen zum Ausdruck kommt (…).“ (BVerfG v. 18.1.2006 a.a.O. (Fn.  76), S.  117). 85   Schön a.a.O. (Fn.  28), S.  297. 86   Zu den abgestuften Bindungen des Gesetzgebers im Rahmen des Gleichheitssatzes siehe: BVerfG v. 21.6.2011 1 BvR 2035/07 (BAFöG) BVerfGE 129, S.  49 ff. Rz.  76 ff. 87   BVerfG v. 15.1.2014 a.a.O. (Fn.  75) Rz.  52 ff. m.w.N.; aus dem Schrifttum siehe nur Hey a.a.O. (Fn.  5 ), §  3 Rz.  4 0 ff. 88   Beispielhaft: BVerfG v. 6.3.2002 2 BvL 17/99 BVerfGE 105, S.  73 ff. (125). 83

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Willkürverbots frei agieren kann89. Es gibt keinen Sachverhalt, der seiner Natur nach auf Besteuerung angelegt ist90, und es gibt anders als bei anderen öffentlich-recht­ lichen Zahlungsansprüchen auch keine sachlich vorgeprägten Verantwortungsmuster, welche die Inanspruchnahme des Einzelnen zugleich rechtfertigen und begrenzen können91. Würde man dieser urwüchsigen Definitionshoheit des Steuerstaates nicht eine verstärkte gleichheitsrechtliche Kontrolle zur Seite stellen, so erschiene nahezu jede Form einer politisch durchsetzbaren Ungleichverteilung von Steuerlasten innerhalb des Kreises potentieller Zensiten legal und legitim. Der Ausbeutung der Minderheit durch die Mehrheit, aber auch der Schaffung von Präferenzregimes für politisch einflussreiche Minderheiten wären fast keine materiellen Grenzen gesetzt. Der einzelne Steuerpflichtige wäre verfassungsrechtlich doppelt schutzlos gestellt: im Stadium der Gesetzgebung wäre er der Mehrheitsentscheidung unterworfen, im Stadium der Grundrechtskontrolle wäre der balancierende Gleichheitsschutz ausgehöhlt.

bb) Leistungsfähigkeitsprinzip Betrachtet man die beiden genannten Steuerprinzipien nicht primär als materielle Vorgaben, sondern als institutionelle „Handlungsbeschränkungen“, so fällt zunächst auf, dass das Leistungsfähigkeitsprinzip weniger leicht zu rechtfertigen ist92. Dessen Schwäche ist darin begründet, dass das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit den Anspruch erhebt, der Ausgestaltung steuerlicher Bemessungsgrund­ lagen und Tarife als solcher materielle Vorgaben zu bereiten93, z.B. diese auf bestimmte „Indikatoren“ von Leistungsfähigkeit festzulegen (Einkommen, Vermögen, Konsum) oder gar tradierte Konzepte – etwa zum einfachgesetzlichen Einkommensbegriff – zu verstetigen. Die Konsequenzen werden exemplarisch an der Frage diskutiert, in welchem Umfang das Steuerrecht zu Lenkungszwecken – etwa im Bereich der Umweltsteuern – eingesetzt werden darf, wenn der zugrunde liegende Steuertatbestand nicht in erster Linie nach Maßstäben finanzieller Leistungskraft, sondern nach Maßstäben umweltschädlichen Verhaltens definiert wird94. Ein anderes Beispiel betrifft die Frage nach dem möglichen Einfluss von ökonomischen Effizienzkriterien   BVerfG v. 22.6.1995 a.a.O. (Fn.  72), S.  136.   BVerfG v. 24.1.1962 1 BvR 232/60 BVerfGE 13, S.  318 ff. (328); Werner Flume, Richterrecht im Steuerrecht, in Stbjb. 1964/65, S.  55 ff. = Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1988, S.  267 ff. (276 ff.). 91   Albert Hensel, Zur Dogmatik des Begriffs „Steuerumgehung“, in: Bonner Festgabe für Ernst Zitel­m ann, 1923, S.  217 ff. (231), abgedruckt in: E. Reimer/C. Waldhoff (Hrsg.), Albert Hensel: System des Familiensteuerrechts und andere Schriften, 2000, S.  303 ff. (312). 92   Siehe bereits die Grundsatzkritik bei: Wolfgang Gassner/Michael Lang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht: Dogmatische Grundlagen – rechtspolitischer Stellenwert, 14. ÖJT (2000) Bd. III/1. 93  BVerfG v. 15.1.2014 a.a.O. (Fn.  75), Rz.  70: „Eine solche strengere Bindung des Normgebers folgt bei degressiven Steuertarifen aus der hiermit verbundenen Abweichung vom Leistungsfähigkeitsprinzip. Das Leistungsfähigkeitsprinzip konkretisiert den allgemeinen Gleichheitssatz für das Steuer­recht, indem es dem Gesetzgeber ein auf die Leistungsfähigkeit bezogenes Differenzierungsgebot als materielles Gleichheitsmaß vorgibt.“ 94   Siehe etwa Matthias Herdegen/Wolfgang Schön, Ökologische Steuerreform, Verfassungsrecht und Verkehrsgewerbe, 2000, S.  27 f.; Hey a.a.O. (Fn.  5 ), S.  8 ; Lerke Osterloh in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kom89

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auf die Ausgestaltung der Steuerlast. In der Steuerrechtswissenschaft hat sich eine gewichtige Gruppe in der Literatur unter Berufung auf das Leistungsfähigkeitsprinzip gegen die Zulässigkeit von wettbewerbsorientierten Steuerregeln ausgesprochen und beispielhaft eine Senkung der Steuersätze auf Kapitaleinkommen im Verhältnis zum Arbeitseinkommen im internationalen Steuerwettbewerb für unzulässig erklärt95. Eine solche ausgreifende Nutzung des Leistungsfähigkeitsprinzips als Verfassungsprinzip erscheint jedoch problematisch, weil sie über die prozedurale Funktion des Gleichheitssatzes im Mehrheits-/Minderheitskonflikt hinausgeht und bestimmte Maßnahmen gesetzgeberischer Innovation generell unter Rekurs auf ein tradiertes materielles Verständnis der „Steuerwürdigkeit“ ausgrenzt96. Richtig erscheint lediglich, dass ein Gesetzgeber, der auf der Ebene einfachen Rechts eine bestimmte Steuer bewusst am Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ausrichtet und dafür einen bestimmten Leistungsfähigkeitsindikator auswählt, kraft des Gleichheitssatzes gehalten ist, diese Wahl gleichheitskonform auszugestalten. Insoweit erscheint es überzeugender, das Leistungsfähigkeitsprinzip als Ausdruck eines anderen, diesem übergeordneten Grundsatzes zu verstehen, nämlich des Prinzips der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerlichen Belastungsgrundes im konkreten Steuergesetz. Anders gewendet: Es wird kaum einen Fall geben, in dem die verfassungsrechtlichen Ergebnisse, die heute vielfach aus der Annahme eines Gebots der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gefolgert werden, nicht zugleich im Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des gewählten Belastungsgrundes ihren Ausgangspunkt finden können.

cc) Folgerichtigkeitsgrundsatz Gerade dem Prinzip der „Folgerichtigkeit“ wird im staatsrechtlichen Schrifttum hingegen unterstellt, unzulässige „interne“ Systemüberlegungen der Steuerwissenschaft verfassungsrechtlich zementieren zu wollen97. Schlimmer noch: das Ausgreifen des Folgerichtigkeitsgedankens auf andere Rechtsgebiete (Rauchverbot in Gaststätten98 ) zeitige problematische Folgewirkungen99. Der politische Streit und die Fähigkeit zum parlamentarischen Kompromiss würden weithin be- oder gar verhindert,

mentar, 7.  Aufl., 2014, Art.  3 GG Rz.  135; Werner Heun in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3.  Aufl., Bd. 1, 2013, Art.  3 GG Rz.  76. 95   Nachweise zum pro und contra bei: Hey a.a.O. (Fn.  5 ), §  7 Rz.  77 mit Fn.  3 –5. 96   Wolfgang Schön, Steuerreform in Deutschland – Anmerkung zum verfassungsrechtlichen Rahmen, in: P. Kirchhof/O. Graf Lambsdorff/A. Pinkwart (Hrsg.), Perspektiven eines modernen Steuerrechts: Festschrift für Hermann Otto Solms, 2005, S.  263 ff. (265 ff.). 97   Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, 49 Der Staat (2010) S.  630 ff., 640. 98   BVerfG v. 30.7.2008 1 BvR 3262/07, 402, 906/08 (Rauchverbot) BVerfGE 121, S.  317 ff. (359 ff.). 99   Siehe etwa: Bickenbach a.a.O. (Fn.  16), S.  116 f.; Christian Bumke, Die Pflicht zur konsistenten Gesetzgebung: Am Beispiel des Ausschlusses der privaten Vermittlung staatlicher Lotterien und ihrer bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle, Der Staat (2010), S.  77 ff.; Francisco Joel Reyes y Ráfales, Das Umschlagen von Rationalitätsdefiziten in Verfassungsverletzungen am Beispiel des Atomausstiegs, Der Staat (2013), S.  600 ff.

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wenn der Gesetzgeber neben politischen Rücksichten auch systematischen Bedenken Rechnung tragen müsste100. Das ist richtig – und zeigt aber gerade, weshalb das Postulat der folgerichtigen Gesetzgebung von enormer Bedeutung ist: es verhindert in begrenztem Umfang strategische Absprachen zwischen Interessengruppen (und deren Vertretern im Parlament) zu Lasten von Minderheiten. Der Folgerichtigkeitsgedanke ist insoweit eben ein prozeduraler Gedanke: mit dem Zwang zur konsequenten und damit breitflächigen Regelung bestimmter steuerlicher Materien wird zugleich ein Zwang zu einer weitgehenden Einbeziehung verschiedener Interessengruppen auf der Ebene der Entscheidungsfindung institutionalisiert101. Es wäre daher schief, den Folgerichtigkeitsgrundsatz als materielle „Rationalitätsverpflichtung“ zu verwissenschaftlichen und gegen die ursprüngliche dezisionistische Legitimationskraft des Demokratieprinzips in Stellung zu bringen102. Umgekehrt ist es richtig: Erst die materielle Gleichheitskonformität der Gesetzgebung legitimiert den demokratischen Zugriff der Mehrheit und der von ihr veranlassten Gesetze auf die Gesamtheit der Steuerzahler. Natürlich ist es zutreffend, dass in einer Welt, in der ein „objektiver“ und „benevolenter“ Gesetzgeber in der Verwirklichung des Gemeinwohls dem Einzelnen entgegenträte, dieser Einzelne das Gesetz nicht aus akademisch-systematischen Bedenken zurückweisen dürfte. Doch dieses Idealbild des Gesetzgebers darf das Verfassungsrecht nicht unterstellen. Begreift man das Gesetz als Ausdruck strategischer Aggregation von Einzelinteressen im parlamentarischen Prozess, so schließt der Zwang zur Folgerichtigkeit eben bestimmte Exzesse dieses Prozesses aus. Der Druck zum politischen Kompromiss darf gerade deshalb als solcher nicht den Gleichheitsverstoß rechtfertigen103. Darin besteht der entscheidende Wert dieses Prinzips. Insbesondere die Gegner des Folgerichtigkeitsgrundsatzes beachten in ihrer Kritik schließlich zu wenig den weiteren Umstand, dass dieses Prinzip den Gesetzgeber in keiner Weise hindert, aus gewichtigen sachlichen Gründen von den Leitlinien der selbstgewählten konkreten Steuergesetzgebung abzuweichen. Folgerichtigkeit kann und muss mit Flexibilität koordiniert werden. Andererseits ist nachdrücklich zu verhindern, dass als zulässiger Abweichungsgrund jedes irgendwie „sachliche“ gesetzgeberische Motiv (i.S. des alten Willkürverbots) sämtliche gruppennützigen Steuermaßnahmen heilen würde104. Gerade die Bewilligung von Steuervergünstigungen bedarf vielmehr einer qualifizierten sachlichen Legitimation105. Vor diesem Hintergrund weist das Urteil des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2014 100   Dreier a.a.O. (Fn.  6 ), S.  22 ff.; Lepsius a.a.O. (Fn.  5 ), S.  262; Musil a.a.O. (Fn.  12), S.  138; Uwe Kischel, Rationalität und Begründung, in: H. Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts: Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2013, §  34 Rz.  17 („Zur Irrationalität der Demokratie“); Heun a.a.O. (Fn.  94), Art.  3 Rz.  37. 101   Zu dessen Verankerung in Erkenntnissen der politischen Ökonomie siehe: Schön, Besteuerungsgleichheit und Subventionsgleichheit, in: R. Mellinghoff/W. Schön/H. Viskorf (Hrsg.), Steuerrecht im Rechtsstaat: Festschrift für Wolfgang Spindler zum 65. Geburtstag, 2011, S.  189 ff., 197 ff.; siehe auch Joachim Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, 2010, S.  167 (177 ff.); Hey a.a.O. (Fn.  5 ), S.  16 f. 102   Bumke a.a.O. (Fn.  99), S.  93 ff.; Dann a.a.O. (Fn.  97), S.  634. 103   Kischel a.a.O. (Fn.  59), Art.  3 GG Rz.  68. 104   Siehe aber Droege a.a.O. (Fn.  59), S.  82 f. 105   Hey a.a.O. (Fn.  5 ), §  3 Rz.  131 ff.; Schön a.a.O. (Fn.  28), S.  34 ff.

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zum Erbschaftsteuerrecht in die richtige Richtung, in welchem die gleichheitsrechtliche Prüfungsdichte gegenüber der vorausgehenden Judikatur dieses Senats106 erhöht und vom Gesetzgeber für die Befreiung von Betriebsvermögen eine deutlich zielgenauere Ausgestaltung der Subventionen und bei hohen Nachlasswerten eine strenge Wahrung der Verhältnismäßigkeit gegenüber nicht begünstigten Steuerpflichtigen eingefordert wird107.

VI. Schluss Es gehört zu den Traditionen der Staatsrechtslehre, Steuern und Finanzen einen würdigen Platz im Gebäude des Verfassungsstaats zu verweigern. Das öffentliche Wohl, die Grundsätze der Demokratie und das Ethos des citoyen scheinen turmhoch über Konsum und Distribution bürgerlicher Finanzmittel oder gar über den Rendite­ interessen von Unternehmen und Investoren zu stehen. Aus der Ferne klingt der Appell Rousseaus nach, der in der Geburt des Steuerstaats den Anfang vom Ende bürgerlicher Tugenden erblickte: „Sobald der öffentliche Dienst auf hört, die Hauptangelegenheit der Bürger zu sein, und sobald diese dem Staate lieber mit ihrem Beutel als mit ihrer Person dienen wollen, ist der Staat seinem Fall schon nahe. Soll in die Schlacht gegangen werden, so bleibt man zu Hause; soll man in die Ratsversammlung gehen, so ernennt man Deputierte und bleibt zu Hause. Durch Trägheit und Geld bekommt man ja Soldaten, welche dem Vaterlande dienen, und Deputierte, welche es verkaufen. Man hat es der Hektik des Handels und der Künste, der Begierde nach Gewinn, der Weich­ lich­keit und der Liebe zur Bequemlichkeit zuzuschreiben, dass die persönlichen Verpflichtungen in Geld verwandelt worden sind. Gebt also nur Geld, so werden die Ketten bald da sein. Das Wort Finanzen ist ein Sklavenwort; in einer Bürgerschaft ist es unbekannt. In einem Staate, der wirklich frei ist, machen die Bürger alles mit ihrem Arme und nichts mit ihrem Gelde; weit entfernt, zu bezahlen, um ihrer Pflichten entbunden zu sein, würden sie bezahlen, um selbst dieselben verrichten zu dürfen.“108

Heute wissen wir, dass der Aufstieg des Steuerstaates den Bürger nicht nur wirtschaftlich, sondern auch persönlich befreit hat. Erst der Rückzug des Staates aus der Privatwirtschaft hat diejenigen Kräfte freigesetzt, die in einer bürgerlichen Gesellschaft ein plural entwickeltes politisches, soziales und kulturelles Gefüge ermöglichen. Wenn im Geld – wie das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an Dostojewski formuliert – „geprägte Freiheit“109 zum Ausdruck gelangt, dann muss auch der staatliche Umgang mit diesem Geld von einem freiheitlichem Denken geprägt sein, das der beliebigen Verfügung staatlicher Hoheitsgewalt über private Finanzmittel Grenzen setzt. Die Finanzwissenschaft hat dieses Postulat in der ihr eigenen Radikalität ausformuliert und ausdifferenziert. Es ist an der Zeit, dass auch die Staatsrechts106  BVerfG v. 20.4.2004 1 BvR 1748/99, 905/00 (Öko-Steuer) BVerfGE 110, S.  274 ff. (293); BVerfG v. 7.11.2006 1 BvL 10/02 (Erbschaftsteuer) BVerfGE 117, S.  1 ff. (31 f.). 107   BVerfG v. 17.12.2014 a.a.O. (Fn.  80), Rz.  123 ff. 108   Rousseau a.a.O. (Fn.  52), 3. Buch, 15. Kapitel („Die Deputierten oder Repräsentanten“). 109   BVerfG v. 31.3.1998 2 BvR 1877/97 und 50/98 (Euro) BVerfGE 97, S.  350 ff. (371).

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lehre bereit ist, die Bewältigung der dort herausgearbeiteten tief liegenden verfassungspolitischen Konflikte jeder Besteuerungsordnung als wissenschaftliches Kernanliegen zu begreifen110.

110   Es erscheint bemerkenswert, dass in der Staatsrechtslehre die Forderung nach „Interdisziplinarität“ regelmäßig auf die politischen Wissenschaften und die Soziologie zielt (beispielhaft Dieter Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S.  338 ff.; Möllers a.a.O. (Fn.  26), S.  110 ff.), während im Privatrecht eher der Blick in die Wirtschaftswissenschaften wandert (beispielhaft Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4.  Aufl., 2015). Die Erforschung der wissenschaftsstrategischen und der wissenschaftssoziologischen Gründe für diese Differenz wäre noch zu leisten.

Der Beitrag des Steuerrechts und der Fortschritt der Verfassung von

Prof. Dr. Michael Droege, Universität Tübingen Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 II. Konzeptionsfelder des Steuerverfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 III. Reziprozität der Konstitutionalisierung und die Grenzen der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 IV. Vorrang der Verfassung und die Autonomie der Steuerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

I. Einleitung Die Bedeutung der Verfassung für das Steuerrecht ist ein prominentes Thema der Verfassungsrechtswissenschaft. Dieser Befund erschließt sich unmittelbar im Blick auf die Beratungsgegenstände der 75. Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, die ihrerseits zentrales Medium für wissenschaftliche Kontroversen und Anker der kollektiven Identität der Wissenschaft vom öffentlichen Recht ist.1 Dort findet sich unter dem Oberthema der „Verfassung als Ordnungskonzept“ in der Betrachtung ausgewählter Teilrechtsordnungen neben dem Sicherheitsrecht auch ein Bericht zur „Konstitutionalisierung des Steuerrechts und Gegenbewegungen“.2 Aufgerufen ist damit sicher die augenfällige Parallele von Polizei- und Finanzgewalt, die bei Otto Mayer die Charakterisierung des Steuerrechts als zentrales Feld des (Eingriffs-)Verwaltungsrechts prägt.3 Aufgerufen ist aber auch die übergreifende Debatte um Konstitutionalisierung und Konstitutionalisierungskritik.4 Wenn hier nicht das 1   Zur Funktion der Staatsrechtslehrertagung nur Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S.  11, 146 ff. 2   Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, erscheint in: VVDStRL 75 (2016). 3   Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, 3.  Aufl. (1924), S.  203 ff., 315 ff. 4  Nur: Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S.  63 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4, 2012, S.  226 ff. m. w. N.; Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff ?, in: FS Brohm, 2002, S.  191 ff.

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Michael Droege

Steuerrecht zum Lackmustest für die Ordnungsleistungen der Verfassung erhoben wird, sondern die Rolle des Steuerrechts als Innovationsressource des Verfassungsrechts zur Debatte steht, dann wird die Perspektive über die konstitutionelle Durchdringung des Steuerrechts hinaus auf die Ergebnisse dieses Prozesses für die Verfassung und die Verfassungsrechtsdogmatik erstreckt. Die Konstitutionalisierung der Steuerrechtsordnung erweist sich hierbei als zweiseitiger und zweischneidiger Prozess: Anhand steuerrechtlicher Sachverhalte ent­ wickelte Maßgaben wandern in die allgemeine Verfassungsdogmatik ein und modifizieren sie. Auch gehört es in Folge des Aufstiegs der Verfassung zur „normativen Basisschicht des Rechtsystems“5 zu den Schattenseiten der Konstitutionalisierung, Gesetzesrecht „durch und durch als Erfüllung und Ausfüllung, als Ausprägung und Ausfluss des Verfassungsrechts“ zu sehen.6 Grenzen der Konstitutionalisierung gilt es nicht nur um der Eigengesetzlichkeit des Steuerrechts willen zu betonen, sondern auch, weil die Steuerrechtswissenschaft sich allzu bereitwillig als Verfassungsvollzug zu begreifen lernt.

II.  Konzeptionsfelder des Steuerverfassungsrechts Wo liegen die Innovationsressourcen, die Befruchtungsfelder, die das Steuerrecht für das Verfassungsrecht bereithält? Die Exploration verspricht reiche Ausbeute. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Verfassungsbindung des Steuerstaats in Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft zunehmend betont und so hat das Steuerrecht überhaupt einen sich verdichtenden Prozess verfassungsrechtlicher Durchdringung erlebt.7 Treibende Kraft ist auch hier die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Einen Eindruck der besonderen Dynamik des Prozesses vermittelt schon eine quantitative Aussage: Von 197 in der Entscheidungssammlung der Bände 118 bis 134 abgedruckten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergingen 24 Urteile und Beschlüsse zu Steuerfragen. Mit einem Anteil von 12  % machten steuerverfassungsrechtliche Entscheidungen nach juristischen Sachbereichen den stärksten Anteil an den Entscheidungen des Gerichts aus.8 Die Felder, in denen das Steuerrecht nicht nur über das Sachverhaltsmaterial verfassungsgericht­ licher Entscheidungen das Verfassungsrecht befruchten kann, liegen grob gesprochen im Bereich der Grundrechte, im Raum des Rechtsstaatsprinzips und im eher institutionell geprägten Raum der Finanzverfassung. Die Finanzverfassung – die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts9 – ist ein äußerst lebhaftes, wenn auch heterogenes Konzeptionsfeld im Konstitutionalisie  Volkmann, Der Aufstieg der Verfassung, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S.  23 (29 f.). 6   Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S.  161 (180). 7  Vgl. Birk, Die Verwaltung 35 (2002), 91 (91 f.); ders., Steuerrecht und Verfassungsrecht – Zur Rolle der Rechtsprechung bei der verfassungskonformen Gestaltung der Steuerrechtsordnung, 2009. 8   Waldhoff, Steuerrecht und Verfassungsrecht, Die Verwaltung 48 (2015), 85 (85). 9   Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in: Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, Band 1, 2009, S.  125 ff. 5

Der Beitrag des Steuerrechts und der Fortschritt der Verfassung

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rungsprozess.10 In ihrer föderalen Dimension entfaltet sie die Rechtsprechung als eine „in sich geschlossene Rahmen- und Verfahrensordnung“, die auf „Formenklarheit und Formenbindung angelegt“ und eben deshalb geeignet sei, den politischen Prozess zu entlasten.11 Trotz der nicht minderen Geltungskraft der Finanzverfassung12 zögerte das Bundesverfassungsgericht bekanntlich, ihr unmittelbar vollziehbare Maßstäbe für die Ausgestaltung des Länderfinanzausgleiches zu entnehmen und nahm den demokratisch legitimierten Gesetzgeber in die Verantwortung.13 Das Maßstäbegesetz bereichert seitdem auf nicht sicherem Fundament den Kanon der Gesetzgebungsformen14 und den Erfahrungsschatz begrenzter Rationalitätsgewinne in der verfassungsrechtlichen Steuerung des politischen Ringens um eine aufgabengerechte Finanzverteilung im Bundesstaat.15 Die Formenstrenge der Finanzverfassung leitet schließlich auch in der normativen Entfaltung des Steuerstaatsprinzips16 die Konturierung der Steuer in ihrem Verhältnis zu nichtsteuerlichen Abgaben an.17 Jenseits der Kompetenzabgrenzung liegt hier das Potential des Steuerrechts in der „Begrenzungs- und Schutzfunktion“ der Finanzverfassung, die das subjektive Recht der Staatsbürger armiert, nur mit kompetenz- bzw. verfassungsgemäß erhobenen Abgaben belegt zu werden.18 Etabliert ist so eine freiheitsschützende Dimension der Kompetenzordnung, die mit Blick auf die allgemeinen Gesetzgebungskompetenzen erhebliche Ausstrahlungswirkung entfalten kann.19 Schließlich erfahren nichtsteuerliche Abgaben eine vertiefte verfassungsrechtliche Durchdringung. Die schillerndste Abgabenform ist sicher die Sonderabgabe,20 die in den letzten drei Jahrzehnten von der Rechtsprechung zu einer eigenständigen Abgabenform verdichtet wurde.21 Hier wahrt eine dichte Phalanx verflochtener Anforde10  Siehe Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, 2001, S.  771 ff. 11   BVerfGE 105, 185 (193 f.). Siehe auch BVerfGE 55, 274 (300 f.); 72, 330 (388); 86, 148 (213 f.). 12   BVerfGE 72, 330 (388 f.). 13   BVerfGE 101, 158 (215 ff.). Zur Entfaltung der Finanzverfassung als „Verantwortungsverfassung“ nur Reimer, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, in: VVDStRL 73 (2014), S.  153 (164 ff.) und auch schon Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 66 (2007), S.  277 (287 ff.). 14  Siehe etwa Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, 2001, S.  771 (775 f., 793 ff.). 15   Siehe einerseits Kempny/Reimer, Neuordnung der Finanzbeziehungen, Gutachten D zum 70. DJT, 2014, S.  16 ff. und andererseits Wieland, JZ 2014, 829 ff. Zum Scheitern der Rationalisierungsbestrebungen grundlegend und überzeugend Haltern, Die künftige Ausgestaltung der bundesstaatlichen Finanzordnung, in: VVDStRL 73 (2014), S.  103 (126 ff.). 16  Grundlegend Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS H.P. Ipsen, 1977, S.  4 09 ff. 17   Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (321 ff.) m. w. N. 18   Nur: BVerfGE 108, 1 (17). 19   Siehe nur Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, in: VVDStRL 66 (2007), S.  216 (235 ff.); ders., Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in: Schön/ Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, Band 1, 2009, S.  125 (140 mit Fn.  88). 20  Dazu Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (318 ff.); Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, 2008, S.  4 06 ff.; Jachmann, StuW 1997, 299 ff.; Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, 2004; Vogel/Waldhoff, in: BK, Stand: 173. EL (2015), Vorbem. z. Art.  104a–115, Rn.  436 ff.; Wilms, Das Recht der Sonderabgaben nach dem Grundgesetz, 1993, S.  21 ff. 21   Grundlegend BVerfGE 55, 274; siehe auch BVerfGE 67, 256; 78, 249; 82, 159; 91, 186; 92, 91; 101, 141; 108, 186; 110, 370; 113, 128; 122, 316; 123, 132; 124, 235; 124, 348; 135, 155; 136, 194.

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rungen den Abstand der Sonderabgabe zur Gemeinlast der Steuer. Homogenität der Abgabenschuldner, Ertragsbindung an einen Gruppennutzen, Finanzierungsverantwortung und Beobachtungs- und Dokumentationspflichten des Gesetzgebers mögen als Stichworte genügen.22 Gerade letztere weisen ein erhebliches Transferpotential auf.23 Anreicherungen der dogmatischen Entfaltung des Rechtsstaatsprinzips sollten vor allem auf dem Gebiet der Normbestimmtheit und Normklarheit vom Steuerrecht zu erwarten sein, wenn die verbreitete Klage der Komplexität und Unverständlichkeit des Steuerrechts, vom „desolaten Zustand“24 der Steuergesetze, vor die Verfassung getragen wird. Allein diese Erwartung wird enttäuscht,25 obgleich es nicht an Gelegenheit gemangelt hat.26 Rechtsstaatliche Ernte bringt das Steuerrecht hingegen in der freilich recht selbstreferentiellen 27 Dogmatik zu Vertrauensschutz und Rückwirkung ein.28 Einerseits wird hier die steuerrechtlich fundierte Besonderheit, den Veranlagungszeitraum als maßgebliches Kriterium schützenswerter Rechtspositionen in der Abgrenzung der echten von der sog. unechten Rückwirkung nutzbar zu machen,29 von der Rechtsprechung eingeebnet 30 und das Rückwirkungsverbot in Entsprechung zur allgemeinen Grundrechtsdogmatik entfaltet.31 Andererseits reichert das Bundesverfassungsgericht die Rückwirkungsdogmatik um gewaltenteilungsfunktional radizierte Gesichtspunkte an, die es dem Gesetzgeber nur in engen Grenzen erlauben sollen, die Rechtslage auch vergangenheitsbezogen konstitutiv klarzustellen (Nichtanwendungsgesetze).32 Die hier etablierte, objektiv-rechtliche Erweiterung des Vertrauensschutzes weist letztlich die Interpretation der Rechtslage in der Vergangenheit der Judikative zu und entzieht sie damit weitestgehend der demokratisch legitimierten gesetzgeberischen Entscheidung.33 Ob diese Zuweisung der Vergangenheit an die Gerichte34 das Demokratieprinzip wahrt, wird nicht nur im Sondervotum von Johannes Masing bezweifelt,35 sondern befeuert eine lebhafte verfassungsrechtliche De Näher Droege, Die Verwaltung 46 (2013), 313 (319 f.) m. w. N. aus der Rspr.   Siehe BVerfG, NJW 2015, 1935 (1942, 1946) und aus der Sonderabgabenrspr. BVerfGE 122, 316 (335); 123, 132 (142). 24   Mellinghoff, Erneuerung des Steuerrechts, in: DStJG 37 (2014), S.  1 (4). 25   Etwa BVerfGE 127, 335 (insbesondere 362). Dazu nur Waldhoff, Die Verwaltung 41 (2008), 259 (285 ff.). 26   BFH, Beschl. v. 06.09.2006 – XI R 26/04, BStBl. II 2007, 167. 27  Hierzu Michael, JZ 2015, 425 (425) am Beispiel von BVerfGE 135, 1. 28   Siehe die aktuelle Rekonstruktion der Rspr. bei P. Kirchhof, DStR 2015, 717 ff. Grundlegend zur terminologischen Unterscheidung zwischen Rückwirkung und Rückbewirkung BVerfGE 72, 200 (241 ff.); siehe auch BVerfGE 77, 370 (378 f.); 87, 48 (61); 97, 67 (78 f.); 105, 17 (37); 127, 31 (48). 29   Vgl. nur BVerfGE 72, 200 (252 f.); 97, 67 (80); 127, 1 (18); 127, 31 (47 f.); 127, 61 (76) sowie bereits BVerfGE 13, 261 (263 f., 272); 13, 274 (277 f.); 19, 187 (195); 30, 272 (285). Dazu Birk, FR 2011, 1 (2); Desens, StuW 2011, 113 (116); Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S.  213 ff.; Musil/Lammers, BB 2011, 155 (156). 30   BVerfGE 132, 302 (319 f.). Dazu Hey, StuW 2015, 3 (13) m. w. N. 31   Osterloh, StuW 2015, 201 (205 ff.). 32   BVerfGE 135, 1 (23 f.); siehe auch schon BVerfGE 18, 429 (439). Zu Nichtanwendungsgesetzen nur Desens, Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, 2011, S.  65 ff. 33   BVerfGE 135, 1 (23 f.). 34   Osterloh, StuW 2015, 201 (202): „[…] die Vergangenheit […] gehört den Gerichten.“ 35   Sondervotum Masing zu 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1 (29, 32 f.). 22

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batte um Vertrauensschutz, Rechtssicherheit und Demokratie – und damit um basale Strukturen der Verfassungsordnung.36 Der Beitrag der Grundrechte zur Konstitutionalisierung des Steuerrechts ist asymmetrisch und von der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes dominiert.37 Der eher bescheidene Beitrag der Freiheitsrechte liegt zunächst darin, eine absolute Grenze der Besteuerung zu formulieren. Die in der Menschenwürdegarantie und im Sozialstaatsgebot verwurzelte Steuerfreiheit des Existenzminimums38 legt die grundlegende Korrelation der steuerstaatlichen Nahme und der sozialstaatlichen Gabe offen,39 in ihrer Konkretisierung unterliegt der Gesetzgeber relativ strikten Rationalisierungspflichten, die ihrerseits aber mit größerer Dichte im Sozialverfassungsrecht ausgearbeitet worden sind.40 Freiheitsrechtliche Akzente setzt der Schutz von Ehe und Familie des Art.  6 GG, man denke nur an die dichte verfassungsrechtliche Überformung des Familienleistungsausgleichs.41 In Bezug auf eine allgemeine Begrenzung des Steuerzugriffs bleiben die Freiheitsrechte hingegen relativ farblos. Unbestritten ist das Steuerrecht Eingriffsverwaltungsrecht, die Steuerpflicht jedenfalls ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art.  2 Abs.  1 GG.42 Unbestritten ist aber auch das Korrektiv der Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Fiskalhunger des Staates, seinem potentiell unbeschränkten Bedarf zur Finanzierung seiner Aufgaben, relativ wirkungslos und vermag allenfalls im Rahmen der Angemessenheit die Wertungen des Steuergesetzgebers in Frage zu stellen.43 Die Versuche, die so offene Flanke des Rechtsstaats44 zu schließen oder – in der Begrifflichkeit Karl Maria Hettlages – „das trojanische Pferd des Sozialismus im bürgerlichen Rechtsstaat“45 dankend zurückzuweisen,46 gipfelten bekanntlich in der Aktivierung der Eigentumsfreiheit als Verhaltensfreiheit im vermögensrechtlichen Be36   Siehe einerseits Lepsius, JZ 2014, 488 ff., ders., JZ 2015, 435 ff. und andererseits Michael, JZ 2015, 425 ff. Siehe auch Birk, FR 2014, 326 ff.; Hey, JZ 2014, 500 ff.; Osterloh, StuW 2015, 201 ff. 37   Siehe hier nur die Befundaufnahme bei Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, erscheint in: VVDStRL 75 (2016), Thesen I. 2., 3. 38   Nur: BVerfGE 82, 60 (5 f.); 82, 198 (206 f.); 99, 126 (233); 120, 125 (154 ff.). 39   Englisch, Subjektives Nettoprinzip und Familienbesteuerung, in: DStJG 37 (2014), S.  159 (160 ff.) m. w. N.; Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993; Seiler, AöR 136 (2011), 95 ff. Siehe auch die Kritik bei Moes, Die Steuerfreiheit des Existenzminimums, 2011. 40   BVerfGE 125, 175. Dazu aus der Literatur Dann, Der Staat (49), 630 ff.; Gärditz, BRJ 2010, 4 ff.; Seiler, JZ 2010, 500 ff. 41   BVerfGE 82, 60; 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273; 112, 164; Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (564 ff.); Böckenförde, StuW 1986, 335 ff.; Englisch, Subjektives Nettoprinzip und Familienbesteuerung, in: DStJG 37 (2014), S.  159 (185 ff.); Seiler, Besteuerung vom Einkommen, Gutachten F zum 66. DJT, 2006, S.  31 ff. 42   BVerfGE 4, 7 (17); 9, 3 (11); 72, 200 (245); 87, 153 (169); 91, 207 (220). Dazu auch Kempny, StuW 2014, 185 (193); Wernsmann, DVBl. 2015, 1085 (1085) m. w. N. 43   Aus der Rspr. etwa BVerfGE 105, 17 (33 f.); 115, 97 (114 f.). Siehe auch Birk, Die Verwaltung 35 (2002), 91 (113); Herzog, in: 75 Jahre Reichsfinanzhof - Bundesfinanzhof, 1993, S.  105 (108 ff.); Hey, StuW 2015, 3 (5); Kempny, StuW 2014, 185 (195) m. w. N.; Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen in: FS Zeidler, Band 1, 1987, S.  691 (700 ff.). 44  Dazu Papier, KritV 1987, 140 ff. 45   Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, in: VVDStRL 14 (1956), S.  2 (5). 46   Grundlegend BVerfGE 93, 121.

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reich47 und der Etablierung des Halbteilungsgrundsatzes als absoluter Besteuerungsschranke.48 Die Verortung des Vermögensschutzes im Funktionsarrangement der Eigentumsfreiheit ist in der Dogmatik der Freiheitsrechte sicher der am tiefsten reichende steuerrechtliche Import gewesen.49 Nachhaltig indes war auch er nicht. Die Rechtsprechung hat sich vom Halbteilungsgrundsatz zwischenzeitlich bekanntlich wieder verabschiedet, nicht hingegen vom Maßstab der Eigentumsfreiheit.50 Weil dessen Rechtfertigungsniveau in Bezug auf den Steuerzugriff demjenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit entspricht, dürfte aber auch dem so steuersensibilisierten Eigentumsrecht allenfalls die Rolle zukommen, atypische, kumulierende Belastungs­ spitzen abzufangen.51 Einen starken Impuls zur Konstitutionalisierung und inneren Ordnung des Steuerrechts setzt das Verfassungsrecht mit dem Gleichheitsgebot des Art.  3 Abs.  1 GG, das im Steuerrecht bereichsspezifisch entfaltet und zum Gebot der Widerspruchsfreiheit und Folgerichtigkeit fortentwickelt wird52 und so als „Zentrum der Verfassungsbindung von Steuern“53 erscheint. Hier ist das Steuerrecht einerseits bloßes Referenzgebiet allgemeiner gleichheitsrechtlicher Grenzen personenbezogener Differen­ zierung und der notwendigen rechtlichen Gleichstellung – das Stichwort der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft in ihren steuerlichen Dimensionen mag genügen.54 Im Binnensystem der „reinen“ steuerlichen Fiskalzwecknormen55 betont die Rechtsprechung andererseits zwar, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum habe.56 Bei der Ausgestaltung des steuerlichen Ausgangstatbestands muss die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt57 und Gleichheit im tatsächlichen Belastungserfolg sichergestellt werden.58 Der Gesetzgeber hat zwar auch die Freiheit, eine einmal getroffene Belastungsentscheidung aufzugeben. Um nicht jede folgewidrige Umsetzung des Prinzips als partielle Verabschiedung desselben rechtfertigen zu können, fordert die Rechtsprechung dann indes ein freilich selbst unklares Mindestmaß an   P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: VVDStRL 39 (1981), S.  213 (insbesondere 234 ff.).   BVerfGE 93, 121 (138). 49   Siehe auch P. Kirchhof, AöR 128 (2003), 1 (12 ff.). 50   BVerfGE 115, 97 (110 ff., insbesondere 114 f.). Dazu auch Sacksofsky, NVwZ 2006, 661 f. 51   Siehe auch Kempny, StuW 2014, 185 (190). Zur Wirkung gegen „Ausreißer“ Waldhoff, Die Verwaltung 41 (2008), 259 (280 f.); ders., Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in: Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, Band 1, 2009, S.  125 (134). 52  Statt vieler G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S.  321 ff. m. w. N. Zur Folgerichtigkeit im Wirtschaftsverwaltungsrecht BVerfGE 115, 276 (317 ff.); 121, 317 (362 f.); siehe auch Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtssetzung, in: VVDStRL 71 (2012), S.  49 (56 ff.). 53   F. Kirchhof, StuW 2002, 185 (187). 54   BVerfGE 126, 400 (419); 133, 377 (396). Dazu Böhm und Germann, Dynamische Grundrechtsdogmatik von Ehe und Familie?, beide in: VVDStRL 73 (2014), S.  211 (235 f.) und S.  257 (284 ff.). 55   Zur Kategorie der Fiskalzwecknorm Lang, StuW 1987, 221 (227 f.). 56   BVerfGE 65, 325 (354); 93, 121 (136); 105, 17 (46); 105, 73 (126); 107, 27 (47); 117, 1 (30); 120, 1 (29); 122, 210 (230); 123, 1 (19); 126, 268 (277); 137, 350 (366). 57   BVerfGE 99, 88 (95); 105, 73 (126); 107, 27 (47); 117, 1 (31); 122, 210 (231); 127, 224 (245); 137, 350 (366). 58   Zur Figur des strukturellen Vollzugsdefizits nur BVerfGE 84, 239 (284); 110, 94 (116) und aus der Literatur Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, 1999. 47

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neuer Systemorientierung.59 Im Übrigen bedürfen Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung eines „besonderen“ sachlichen Grundes.60 Als Fundamentalprinzip der Besteuerung fungiert hier namentlich das Leistungsfähigkeitsprinzip, das über die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit von Ausnahmen an Art.  3 Abs.  1 GG angelagert wird61 und damit letztlich wie ein Verfassungsgebot wirkt.62 Dem Schutz der Belastungsgrundentscheidung und damit der Systemkohärenz dienen schließlich Elemente der Rationalisierung der Steuergesetzgebung. So ist der Gesetzgeber zur hinreichenden tatbestandlichen Ausweisung von Lenkungszwecken angehalten63 und auch das Ausmaß von lenkenden Ausnahmetat­ beständen wird um der Belastungsgrundentscheidung willen begrenzt.64 Letztere Annahme des Bundesverfassungsgerichts hatte im Entscheidungskontext des Erbschaftsteuerrechts die verfassungsprozessuale Konsequenz, gesetzliche Drittbegünstigungstatbestände angreifen und damit das grundsätzlich bipolare Steuerrechtsverhältnis auf brechen zu können65 – eine Konsequenz, deren Auswirkungen auf das gesetzlich determinierte Leistungsverwaltungsrecht erheblich sein können.

III.  Reziprozität der Konstitutionalisierung und die Grenzen der Verfassung Konstitutionalisierung ist ein reziproker, ein bidirektionaler Prozess.66 So wie die Verfassung und insbesondere die Grundrechte auf das Steuerrecht einwirken, wirkt das Steuerrecht auf die Verfassung ein und lagert seine dogmatischen Leitfiguren und Prinzipien am Verfassungsrecht an. Risikolos – oder jedenfalls folgenlos – ist die verfassungsrechtliche Durchdringung des Steuerrechts so weder für die Verfassung noch für das Steuerrecht. Hierzu drei Beobachtungen: Zum ersten erlebt das Steuerrecht eine nachholende Konstitutionalisierung. Vielleicht deshalb trifft die Konstitutionalisierung des Steuerrechts kaum mehr auf ein Unbehagen im Binnenraum des Steuerrechtsdiskurses.67 Nimmt man einmal die bei  BVerfGE 122, 210 (242); 126, 268 (280 f.).   BVerfGE 99, 88 (95); 105, 73 (126); 116, 164 (180 f.); 117, 1 (31); 120, 1 (29); 123, 1 (19); 126, 268 (278); 137, 350 (366). 61  Nur: Arndt/Schumacher, AöR 118 (1993), 513 (518 ff.); R.-P. Schenke, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht und die zwei Phasen des Öffentlichen Rechts, in: FS Wahl, 2011, S.  803 (806 ff.). 62   Zur Kritik hieran Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S.  175 (179 f.). 63   BVerfGE 93, 121 (147); 99, 280 (296); 105, 73 (112 f.); 110, 274 (293); 117, 1 (32 f.); 122, 210 (231 f.). Mit guten Gründen ablehnend Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S.   175 (186 ff.) m. w. N. 64   Jüngst BVerfGE 137, 350 (370 ff.); BVerfG, NJW 2015, 303 (312, 319 ff.). 65   BVerfG, NJW 2015, 303 (304). 66   Gegen das Bild der Konstitutionalisierung als „Einbahnstraße“ Waldhoff, Die „andere Seite“ des Steuerverfassungsrechts, in: Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des Steuerrechts, Band 1, 2009, S.  125 (152 f.). 67   Hierzu und zugleich eine Ausnahme darstellend Musil, Die Sicht der Steuerrechtswissenschaft auf das Verfassungsrecht, in: Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Band 2, 2014, S.  129 ff. Siehe auch Hey, StuW 2015, 3 (3). 59

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den Langzeitperspektiven der Entwicklung des öffentlichen Rechts, die Prozesse der Konstitutionalisierung einerseits und der Europäisierung und Globalisierung andererseits in den Blick,68 wird die besondere Bedeutung der Verfassung für das Steuerrecht deutlich: Das Steuerrecht erlebt und erleidet die Europäisierung letztlich nur im Bereich der Harmonisierung der indirekten Steuern als zentralen Prozess. Im Übrigen sind grundfreiheitsgeleitete Modifikationen im Kern nationalrechtlich fundierter Besteuerung zu verzeichnen,69 die aber jenseits der transnationalen Dimension das System der ertragsteuerlichen Belastungsentscheidungen in seinem Kern unberührt lassen.70 Die Globalisierung wiederum wird in den traditionalen Formen des internationalen Steuerrechts abgearbeitet. Im Übrigen aber hat die Verfassung ihre Rolle als maßgeblicher Ordnungsrahmen für die steuerrechtliche Systembildung behalten und wird weder durch Europäisierung noch durch Globalisierung in dieser Rolle für das Steuerrecht in Frage gestellt. Der Steuerstaat ist noch immer in seinem Kern der verfasste Nationalstaat. Die Verfassung kann damit – von Erosionsprozessen weitgehend verschont – eine Funktion ausfüllen, die ihr spät zugewachsen ist.71 Die Entfaltung der Steuerrechtsordnung unter dem Grundgesetz war für Jahrzehnte von einer weitgehenden Immunisierung des Steuerzugriffs geprägt.72 Das Bundesverfassungsgericht begnügte sich mit einem verhaltenen Paukenschlag73 im Familiensteuerrecht74 und widmete sich ansonsten dem Formenmissbrauch der Steuer unter dem Aspekt ihrer erdrosselnden Wirkung.75 Das staatsrechtsdogmatische Rüstzeug lieferte die Exklusion des Steuerzugriffs aus der Gewährleistungssphäre der Eigentumsverfassung.76 Wenn etwa Werner Flume aus der Feststellung, die Steuerge­ setzgebung sei „ganz und gar positivistisch“, die Bindung des Steuerrechts an Rechts­

68   Wahl, Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S.  411 ff. 69   Grundlegend EuGH, Rs. 270/83, Slg. 1986, 285 ff. Zur Entwicklung der Rechtsprechung und zur Rolle der Grundfreiheiten noch immer Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, 2002. Siehe auch Droege, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, §  28 Rn.  14 ff. 70  Vgl. Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 3.  Aufl. (2015) §  30 Rn.  81. Kritisch aber etwa Birk, FR 2005, 121 (122 ff.); Fischer, FR 2005, 457 ff. Allgemein zur Einwirkung der Grundfreiheiten auf das nationale Steuerrecht Schaumburg, in: ders./Englisch (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, 2015, Rn.  4.29 ff. 71   Siehe im Überblick R.-P. Schenke, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht und die zwei Phasen des Öffentlichen Rechts, in: FS Wahl, 2011, S.  803 (805 f.). Zum entsprechenden Befund der „Ignoranz“ des Steuerrechts gegenüber seinen verfassungsrechtlichen Bezügen schon zur Weimarer Zeit nur Wacke, StbJb 1966/67, 75 (82 f.). 72   Grundlegend BVerfGE 4, 7 (17), st. Rspr., siehe BVerfGE 8, 274 (330); 10, 89 (116 f.); 28, 119 (142); 29, 402 (413) sowie aus der Literatur Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S.  8 (31 f.). Dazu auch Papier, Der Staat 11 (1972), 483 ff.; Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in: FS Zeidler, Band 1, 1987, S.  691 ff.; Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), 85 (87 f.). 73   Tipke, StuW 1990, 308 (316); Wernsmann, DVBl. 2015, 1085 (1085). 74   BVerfGE 6, 55 (77 ff.). 75   Vgl. BVerfGE 13, 181; 16, 147. Dazu schon Friauf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Wirtschaftslenkung und Sozialgestaltung durch Steuergesetze, 1966, S.  41 ff. 76  Grundlegend Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL 12 (1954), S.  8 (32).

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werte einfordert,77 denkt er nicht zuallererst an die Verfassung. Noch Mitte der 1960er Jahre werden jedenfalls die durchaus überschaubaren Ansätze konstitutioneller Durchdringung der „Dunkelzonen des Steuerrechts“78 als revolutionärer Akt begriffen.79 Steuerrecht als Rechtswertordnung ist zunächst und primär keine Frage des Verfassungsrechts, sondern der Steuergerechtigkeit.80 Nicht verfassungsdurchwirkte, verfassungskonforme Besteuerung, sondern die gerechte Besteuerung deutet sich zunächst als Fluchtpunkt auch der steuerrechtswissenschaftlichen Systembildung an und findet ihrerseits verfassungsrechtliche Transpositionen.81 Zum zweiten ist die Konstitutionalisierung des Steuerrechts geprägt von einer Verschiebung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe.82 Steuergerechtigkeit findet ihre Übersetzung eben nicht in konstruktiv auch im Steuerzugriff immerhin möglichen, differenzierten Gewährleistungen der Freiheitsrechte, sondern im Gleichheitssatz des Art.  3 Abs.  1 GG. Dessen Maßlosigkeit als modales Grundrecht verweist die Verfassung mit der bereichsspezifischen Konkretisierung der Anforderungen an eine Differenzierung unmittelbar auf die Eigenlogik der Rechtsbereiche, an die der Gleichheitsmaßstab angelegt wird. Die einfachgesetzlichen Prinzipien des Steuerrechts w irken unter der Ägide des Folgerichtigkeitsgebots wie materielle Verfassungs­ grundsätze, indem ihre Durchbrechung eben von besonderen Gründen abhängig gemacht ist.83 Die Rigidität des Folgerichtigkeitspostulats84 – die bis in die Verfassungsbindung der steuerrechtlichen Methodenlehre reicht und damit die dogma­ tische Differenzierung ergreift85 – und die damit einhergehenden Restriktionen für die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers übertreiben sicher die Direktionskraft der Verfassung.86 Immerhin lässt sich auch beim Bundesverfassungsgericht in jüngster Vergangenheit eine neue Sensibilität feststellen: Augenfällig ist zumindest ein durchaus zurückhaltender Prüfungsmaßstab in unternehmenssteuerlichen Kontex  W. Flume, Steuerwesen und Rechtsordnung, 1952, S.  5 ff. (Zitat: S.  5 ).   Friauf, DStZ/A 1975, 359 (359). 79   Wacke, StbJB 1966/67, 75 (95). Dazu auch Papier, KritV 1987, 140 (140). 80   Zur gleichheitsrechtlichen Verankerung der Steuergerechtigkeit und zu ihrer steuerpolitischen Instrumentalisierung nur Birk, StuW 2011, 354 ff. 81   Erstmals BVerfGE 6, 55 (70 f.); siehe auch BVerfGE 82, 60 (89 f.); 99, 246 (260). Dazu aus der Literatur Bodenheim, Der Staat 17 (1978), 481 ff.; Droege, Rechtswissenschaft 4 (2013), 374 ff.; Drüen, StuW 2013, 72 (73); Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981; ders., Steuerrecht als Wissenschaft, in: FS Lang, 2011, S.  21 (30 ff.); Vogel, JZ 1993, 1121 (1121). 82  Dazu Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, erscheint in: VVDStRL 75 (2016), Thesen I. 2., II. 1. 83   Droege, Rechtswissenschaft 4 (2013), 374 (385). 84   Deutlich etwa bei Tipke, StuW 2007, 201 (205 ff.). Siehe auch Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, in: FS Lang, 2011, S.  167 ff. 85   Zur Kritik R.-P. Schenke Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S.  320 ff., 393 ff.; ders., StuW 2008, 206 (211 ff.). Dagegen Tipke, StuW 2008, 377 ff. 86   Siehe auch die Sondervoten Bryde und Masing zu 1 BvR 3262/07, 402, 906/08, BVerfGE 121, 317 (378 ff. und 381 ff.). Zur Kritik aus der Literatur nur Droege, StuW 2011, 105 (111); Kempny, StuW 2014, 185 (198 f.) m. w. N.; Kischel, AöR 124 (1999), 174 (198 ff.); ders., Gleichheitssatz und Steuerrecht – Gefahren eines dogmatischen Sonderwegs, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, 2008, S.  175 (183 ff.); Lepsius, JZ 2009, 260 (262); Musil, Die Sicht der Steuerrechtswissenschaft auf das Verfassungsrecht, in: Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Band 2, 2014, S.  129 (136 ff.); Wernsmann, DVBl. 2015, 1085 (1089 f.). 77 78

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ten87 und jüngst – gerade im Erbschaftsteuerbeschluss – eine deutliche Betonung gesetzgeberischer Freiräume in der Verfolgung von Lenkungszwecken und in der Ausgestaltung von Befreiungstatbeständen.88 Überdies äußert sich die Konstitutionalisierung des Steuerrechts vor allem in Phänomenen der Prozeduralisierung. Wenn es richtig ist, dass infolge der „radikalen Positivität des Steuerrechts“89 der einzelne Lebenssachverhalt, an den die Besteuerung anknüpft, weder „Muß noch das Maß“90 der Besteuerung bedingt, dann obliegt es dem Steuergesetzgeber, in der normativen Anknüpfung die Begründung hierfür zu liefern. Der Gesetzgeber schuldet dann – wie auch in anderen Bereichen, in denen der Verfassung wenig materielle Maßstäbe entnommen werden können91 – mehr als das Gesetz,92 er schuldet Rationalität – mit allen Gefahren für das Entdeckungsverfahren demokratischer Gesetzgebung und die legitimierende Kraft des Mehrheitsprinzips.93 Hier wie dort: Eine Herausforderung ist die verfassungsrechtliche Durchdringung des Steuerrechts zuallererst für den Gesetzgeber.94 Zum dritten thematisieren die derzeitigen kritischen Anfragen zum Konstitutionalisierungsgrad des Steuerrechts letztlich das Ausmaß der verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers.95 Stand am Anfang die Sentenz der schlechthinnigen Abhängigkeit, das Leben des Steuerrechts aus „dem Diktum des Gesetzgebers“,96 so kommt dem Demokratieprinzip und mit ihm den Freiheitsgraden demokratisch-legitimierter Gesetzgebung als Konstitutionalisierungsgrenze im Steuerrecht den Prozess begleitend eine ganz eigene Ausprägung zu. Armin Spitaler beschrieb vor mehr als einem halben Jahrhundert im Jahrbuch des öffentlichen Rechts die Begegnung des Verfassungsrechts mit dem Steuerrecht als einer „durch Jahrzehnte gewachsenen, in vielen Teilen festgefügten Ordnung, die von ihr eigenen Lebensgesetzen beherrscht“ sei. Gleichzeitig sieht er die Konsequenzen des Vorrangs der Verfassung: „Diese Ordnung kann nun freilich kein Leben außerhalb der Verfassung führen, und zwar nicht einmal in kleinen Einzelheiten“.97 Wann beginnt aber 87   BVerfGE 116, 164 (181, 184 ff.); 120, 1 (29 ff.); 123, 111 (119 ff.); 127, 224 (245 ff.). Dazu auch Hey, StuW 2015, 3 (17) m. w. N. 88   BVerfG, NJW 2015, 303 (306 f., 317). 89   W. Flume, StbJb 1964/65, 55 (69). 90   Drüen, Rechtsnatur des Steuerrechts, in: FS Kruse, 2001, S.  191 (200). 91   Dazu BVerfG, NJW 2015, 1935 (1937) m. w. N. Siehe auch BVerfGE 125, 175 (225); 130, 263 (301 ff.); 132, 134 (165 f.). 92   Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich/ Holl/Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S.  131 (141). Dazu G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S.  319 ff.; Kischel, Die Begründung, 2003, S.  260 ff. Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“. Zu alten und neuen Begründungspflichten des parlamentarischen Gesetzgebers, in: FS Isensee, 2007, S.  325 ff. 93   Siehe auch Dann, Der Staat 49 (2010), 630 (642 ff.); Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtssetzung, in: VVDStRL 71 (2012), S.  49 (62 ff.). 94   Wernsmann, Zunehmende Europäisierung und Konstitutionalisierung als Herausforderungen für den Steuergesetzgeber, in: Schön/Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Band 1, 2009, S.  161 ff. 95   Hierzu auch Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S.  60 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S.  54 ff. 96   BVerfGE 13, 318 (328). Schon: Bühler/Strickrodt, Allgemeines Steuerrecht, 3.  Aufl. S.  658. 97   Spitaler, Die allgemeine Entwicklung des Steuerrechts der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit, in: JöR N.F. 12 (1963), S.  63 (91).

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das Leben außerhalb der Verfassung? Die Zuordnung von Steuerrecht und Verfassungsrecht im Prozess der Konstitutionalisierung wirft so letztlich über die Zeiten die immer gleiche Frage nach den Freiheitsgraden des Steuerrechts innerhalb der Vorgaben der verfassungsrechtlichen Rahmenordnung auf. Der Konsens dürfte ab­ strakt leicht zu beschreiben sein: Das Steuerrecht ist nicht verfassungsprädisponiert, sondern nur verfassungslimitiert.98 Wann beginnt aber der Umschlag angemessener Begrenzung in „Überkonstitu­ tionalisierung“? 99 Auffällig ist nicht nur die überaus positive Konnotation der Ver­ fassung, auffällig ist auch ein schon habituelles Misstrauen in den demokratischen Rechtsetzungsprozess in Teilen der Steuerrechtswissenschaft.100 Mehr noch als in anderen Rechtsgebieten verspricht Konstitutionalisierung Ordnung im „Steuerchaos“.101 Die Vorwürfe an den Gesetzgeber wiegen schwer: Politische Willfährigkeit und der Wille zum Machterhalt haben das System des Steuerrechts zu Grunde gerichtet,102 mehr noch zu einem Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht103 geführt. Gegenüber der Willkür des Steuergesetzgebers haben sich wissenschaftliche Systembildung oder auch die Beschwörung ethischer Leitlinien und des Zentralwertes der Steuergerechtigkeit als weitgehend wirkungslos erwiesen. Hier verspricht der Prozess der Konstitutionalisierung mit dem Vorrang der Verfassung nicht nur ein effektives Instrument zur Bändigung des Steuergesetzgebers, sondern mit dem Bundesverfassungsgericht auch einen machtvollen Dompteur, der die Implementierung verfassungsgrundierter Ordnungsmuster im Steuerrecht sicherstellen kann. Die Warnung vor dem Jurisdiktionsstaat verfängt wohl nicht mehr,104 wenn der Gesetzgeber sich mittels hypertropher Rechtsproduktion stetig zu diskreditieren scheint.105 Die Verfassung übersetzt steuerpolitische Ideale in Verfassungsgebote und erstarkt zum Hoffnungsträger all derer, die eine gleichmäßige, maßvolle und rationale Besteuerung einfordern.106 So verwundert es nicht, dass die großen, auf die Ablösung des wild gewachsenen steuerrechtlichen Normenbestandes gerichteten Kodifikationsentwürfe des Steuerrechts verfassungsgeleitet sind.107 Ein Beispiel bildet der von   Drüen, Rechtsnatur des Steuerrechts, in: FS Kruse, 2001, S.  191 (199 f.).   Sommermann, Diskussionsbemerkung, in: VVDStRL 61 (2002), S.  201; Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff ?, in: FS Brohm, 2002, S.  191 (194). 100  Etwa Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band 3, 2.  Aufl. (2012), S.  1364 ff., 1884 ff.; ders., StuW 2013, 97 ff.; Siehe auch Mellinghoff, Erneuerung des Steuerrechts, in: DStJG 37 (2014), S.  1 (2 f.). Überzeugend hierzu und hiergegen Desens, Einkommensbegriffe und Einkunftsarten, in: DStJG 37 (2014), S.  95 (97 f.); Schön, DStR Beihefter zu Heft 17/2008, 10 ff. Vgl. auch Droege, Rechtswissenschaft 4 (2013), 374 (395) m. w. N. 101  Nur: Jachmann, Wider das Steuerchaos, 1998; Merkert, Mehr Rechtsschutz im Steuerchaos – für ein neues Selbstverständnis der Finanzgerichtsbarkeit, in: FS Offerhaus, 1999, S.  805 ff. 102   Statt vieler Tipke, StuW 1976, 293 ff.; ders., StuW 2013, 97 ff. 103   Vogel, Der Verlust des Rechtgedankens im Steuerrecht als Herausforderung für das Verfassungsrecht, in: DStJG 12 (1989), S.  123 ff. 104   Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S.  159 (191). Vgl. auch Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, 2011; Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014. 105   Zu letzterem Hey, StuW 2015, 3 (3). 106   Hierzu schon Droege, StuW 2011, 105 (106) m. w. N. 107   Zum Zusammenhang von Kodifikation und Konstitutionalisierung in diesem Kontext Droege, Die Kodifikationsidee in der Steuerrechtsordnung, in: Schön/Röder (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Band 2, 2014, S.  69 (80 ff.). 98

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Paul Kirchhof vorgelegte Entwurf eines Bundessteuergesetzbuches.108 Im Dialog von Steuerrecht und Staatsrecht jedenfalls wird Normalisierung erstrebt und eine Sonder­ rolle des Steuerrechts in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts eher zurückgewiesen.109 Konstitutionalisierung erleichtert hier sicher die Eingliederung des Steuerrechts in die Gesamtwissenschaft vom öffentlichen Recht. Es gibt ein wissenschaftsstrategisches Interesse an einer sich verdichtenden Konstitutionalisierung. Steuerrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht verstehen zu wollen,110 überfordert aber nicht nur die Verfassung, es mediatisiert auch das Steuerrecht selbst.

IV.  Vorrang der Verfassung und die Autonomie der Steuerrechtswissenschaft Das Steuerrecht ist nach alledem deshalb eine vitale Innovationsressource des Verfassungsrechts, weil es an die Erstverantwortung des Gesetzgebers zur Gestaltung der Rechtsordnung erinnern und an die Leistungsgrenzen der Verfassung als Rahmenordnung des demokratischen Prozesses gemahnen kann.111 Der Prozess der Konstitutionalisierung findet dabei seine letzten Grenzen in den Grenzen der Verfassungs­ bindung überhaupt. Konstitutionalisierung adressiert im Bereich des Steuerrechts zuvörderst den Steuergesetzgeber und neben ihm Finanzverwaltung und Finanzrechtsprechung. Die ausdifferenzierte Teildisziplin der Steuerrechtswissenschaft ist nicht ihr unmittelbarer Adressat und doch ist sie von dem Wandel ihres Gegenstandes notwendig nicht unbeeinflusst.112 Die Frage nach dem Steuerrecht als einer Innovationsressource für das Verfassungsrecht kann aus der Sicht der Steuerrechtswissenschaft als Indienstnahme verstanden werden. Albert Hensel, der Begründer der modernen Steuerrechtswissenschaft in Deutschland, begann seinen Bericht auf der dritten Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Münster im Jahr 1926 zum Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts offenkundig mit einem gewissen Unbehagen. Er empfand die Grundvoraussetzung der Themenstellung als 108   Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011 (insbesondere „Leitgedanken“, S.  1 ff.). Im Überblick zu den Entwürfen der Einkommensteuerreform auch Drüen, Prinzipien und konzeptionelle Leitlinien einer Einkommensteuerreform, in: DStjG 37 (2014), S.  9 (25 ff.). 109   So auf Grundlage einer umfassenden und sorgfältigen Rechtsprechungsanalyse Hey, StuW 2015, 1 ff. 110   Zu Fritz Werners auf das Verwaltungsrecht geprägten Sentenz (siehe DVBl. 1959, 527 ff.) nur Vogel, Steuergesetzgebung und Verfassungsrecht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1972/73, S.  115 (115: „als Feststellung und als Postulat“ für das Steuerrecht); Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff ?, in: FS Brohm 2002, S.  191 (194). 111   Zu letzteren nur Wieland, Freiheitsrechtliche Vorgaben für die Besteuerung von Einkommen, in: DStJG 24 (2001), S.  29 ff. 112   Zum Bezug von Gegenstand und Disziplin nur Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S.  11 (18 ff.); Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S.  241 (263 ff.). Vgl. entsprechend zu den Veränderungen der Staatsrechtswissenschaft durch den Wandel ihres Gegenstandes Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, in: VVDStRL 63 (2004), S.  41 ff.

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„nicht ganz unproblematisch“. Das Steuerrecht solle seine „wissenschaftliche Existenzberechtigung“ nachweisen und könne dieser Forderung nur dann genügen, wenn es im Stande sei, sich in die „Gesamtwissenschaft vom öffentlichen Recht“ nicht nur einzugliedern, sondern „sie auch zu seinem Teile zu befruchten“.113 Auf die Verfassung bezogen ist vor übertriebenen Erwartungen an ihre Steuerungswirkungen zu warnen und vielmehr an das Proprium der Steuerrechtswissenschaft zur dogmatischen Formierung und systematischen Durchdringung des Steuerrechts zu erinnern.114 Die Erkennbarkeit, Detailschärfe und Operationalisierbarkeit der Leitprinzipien und dogmatischen Grundstrukturen in den Grenzen der Gesetzesbindung und Gesetzesinterpretation zu schaffen, zu erhalten und zu steigern, ist genuine Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Systembildung und der Rechtsdogmatik. Hier können das Steuerrecht und die Steuerrechtswissenschaft auf ihre Leistungsfähigkeit und ihren Selbststand vertrauen. „Der Versuch, Politik mit den Mitteln des Rechts zu ökonomischer Vernunft zu zwingen“,115 ist ein untauglicher. Dem Staat nimmt auch die Verfassung nicht die Verantwortung für eine vernünftige Steuerpolitik ab.116 Der Rekurs auf die Verfassung sollte nicht wohlfeiles Mittel sein, Argumentationslasten im dogmatischen Diskurs auszuweichen.117 Der Verfassung kommt hier keine Entlastungsfunktion zu. Auf die Verfassung bezogen wird man den Beweis der Fruchtbarkeit des Steuerrechts kaum mehr einfordern müssen. Und auch die Steuerrechtswissenschaft hat in den vergangenen 90 Jahren in einem fortschreitenden Prozess der disziplinären Ausdifferenzierung zur Genüge belegt, dass das Steuerrecht – auch im Verhältnis zur Verfassung – „als ein in sich geschlossenes Rechtsgebiet mit eigenartiger und eigengesetzlicher Begriffsbildung anerkannt werden darf “, wie Hensel es 1926 mit einigem Optimismus verkündete.118

113   Hensel, Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts, in: VVDStRL 3 (1926), S.  63 (66). 114  Vgl. auch Drüen, StuW 2013, 72 (73). Zur Aufgabe der Dogmatik Schorkopf, Dogmatik und Kohärenz, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik, 2012, S.  151 ff.; Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, ebd., S.  17 ff. 115   Hey, StuW 2015, 3 (3). 116   Benda, DStZ 1984, 159 (164). 117   So auch schon Wieland, Freiheitsrechtliche Vorgaben für die Besteuerung von Einkommen, in: DStJG 24 (2001), 29 (46 f.). 118   Hensel, Der Einfluss des Steuerrechts auf die Begriffsbildung des öffentlichen Rechts, in: VVDStRL 3 (1926), 63 (66).

Das Steuerrecht als Verfassungsproblem von

Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof, Heidelberg Inhalt I. Konturenarmut des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 II. Grundrechtlicher Gewährleistungsbereich: Eingriffs- und Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 III. Verhältnismäßigkeit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 IV. Legalität: Gestaltete Ungleichheit vor dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 V. Lenkung durch Steuern: Die Wahlschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

I.  Konturenarmut des Steuerrechts Das Steuerrecht ist heute so unübersichtlich, dass der Steuerpflichtige es kaum noch ohne Berater befolgen kann. Es ändert sich in Jahressteuergesetzen ständig, so dass es den Betroffenen nicht vertraut wird, ihr Vertrauen kaum gewinnt und verlässliche Planungen erschwert. Es ist in seinen Aussagen – z.B. zur Besteuerung von Gewerbebetrieben oder Familien – widersprüchlich, in der kumulativen Belastung durch mehrere Steuern teilweise übermäßig, im internationalen Wirtschaftsverkehr oft von Doppelbelastungen oder auch von Keinmalbelastungen bestimmt. Das Steuerrecht hat die rationalisierende Kraft des Verfassungsrechts, die juristische Auf klärung nur punktuell, aber noch nicht systemprägend erlebt. Eine Ursache dieses nur teilaufgeklärten Rechts liegt in dem Gegenstand des Steuerrechts, der in der Wirklichkeit kaum vorgezeichnet, in der Rechtsfolge durch das konturenarme Wirtschaftsgut „Geld“ geprägt ist. Vergleicht man die beiden klassischen Bereiche des Eingriffs, das Polizeirecht und das Steuerrecht, erhält das Polizeirecht mit den realen Anfragen an das Recht im Wesentlichen schon seine Antwort. Wenn eine Lawine droht, besteht die Gefahrenabwehr in der Aufgabe, die Lawine aufzuhalten oder zumindest in ein menschenleeres Gebiet zu lenken. Wenn ein Unfall geschehen ist, sind die Opfer zu bergen. Ein Schaden ist durch Wiederherstellung des vorher bestehenden Zustandes zu beheben oder in Geld auszugleichen. Soll hingegen der Staatshaushalt von seinen Bürgern finanziert werden, ist in der Lebenswirklichkeit noch nicht erkennbar, ob jeder Inländer wegen der gleichen Teilhabe an der Infra-

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struktur von Frieden und Sicherheit, von Bildung und Kultur, von Existenzsicherung und Vorsorge pro Kopf den gleichen Betrag zahlen soll, ob der dank eines freien Marktes, des Vertragssystems, der gut ausgebildeten inländischen Arbeitskräfte und der Kauf- und Nachfragekraft wirtschaftlich Erfolgreiche aus seinem Einkommen den Staat finanzieren muss, ob der Kauffähige einen steuerlich verteuerten Kaufpreis zu zahlen hat, oder ob der Staat gleich einem Gerichtsvollzieher dort zugreift, wo – im Vermögen, im Grundstück, im Gewerbebetrieb – etwas zu holen ist. Das Steuerrecht gewinnt seine Kernaussagen aus Entscheidungen des Gesetzgebers. Diesem steht deshalb bei der Auswahl des steuerlichen Belastungsgrundes, des Steuergegenstandes, ein „weiter Beurteilungsraum“ zu, der gelegentlich als gesetzespolitische Beliebigkeit missdeutet wird. Das Steuerrecht gewinnt auch in dem von ihm bezweckten Erfolg, der Finanzausstattung des Staates, keine klaren Konturen. Wenn das Hochschulrecht den Staat mit Universitäten ausstattet, ist damit gewährleistet, dass diese forschen und lehren. Richtet das Gesundheitsrecht Krankenhäuser ein, werden diese Patienten behandeln. Organisiert das Polizeirecht eine Gefahrenabwehr, werden die Bürger geschützt. Vermittelt das Steuerrecht der öffentlichen Hand Finanzkraft, so ist das fungible Wirtschaftsgut „Geld“ funktionsoffen. Es verleugnet seine Herkunft und verschweigt seine Zukunft. Ob das Geld durch harte Arbeit verdient, an der Börse leichter Hand mitgenommen, vom Bettler empfangen oder beim Banküberfall erbeutet worden ist, sieht man dem Geld nicht an. Euro ist gleich Euro. Und die Verwendbarkeit des Geldes im Bereich des Ökonomischen ist beliebig. Der Staat kann mit dem Geld Beamte oder Sozialhilfeempfänger bezahlen, Straßen oder Schulen bauen, Wirtschaft oder Kultur fördern. Die strikte Trennung von Haushalts- und Steuergesetzgebung gewährleistet auch, dass die Herkunft des Steuerauf kommens seine konkrete Verwendung nicht beeinflusst, der Großsteuerzahler auf die Budgetentscheidungen des Parlaments keinen größeren Einfluss gewinnt als der Nichtzahler. Die Erfindung von Geld und Steuern vermittelt eine nur schwach begrenzte und gebändigte Finanzierungsmacht. Auch die demokratische Legitimation von Steuergesetzgebung und Finanzverwaltung gibt dem Steuerwesen kaum Konturen. Während die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit, des Schul- und Bildungswesens, von Straßenverkehr und öffent­ licher Infrastruktur, von Kranken- und Zukunftsvorsorge im Willen der Bürger fest verankert sind, deswegen deren Repräsentanten grundlegende Pfadabweichungen kaum erwägen, sind die demokratischen Legitimationsimpulse an den Gesetzgeber in der Finanzwirtschaft eher gegenläufig. Der Bürger erwartet von seinem Staat ständig höhere Leistungen. Der Abgeordnete und die Wahlkandidaten kommen diesem Wunsch entgegen und versprechen weitere Staatsleistungen. Das bedeutet aber, wenn die Verfassung nun ein Ausweichen in die Staatsverschuldung unterbindet und die Staatsorgane – selbstverständlich – sich an dieses Recht halten, dass Abgeordnete und Kandidaten höhere Steuern verheißen, ohne dieses ausdrücklich zu sagen. Eine Demokratie, die fast alles für staatlich machbar und sodann für staatlich finanzierbar erklärt, führt strukturell in die Enttäuschung. Das Steuerrecht gewinnt dadurch ­keine Handlungsmaximen, ist aber an seine Aufgabe erinnert, die Staatsausgaben zu begrenzen.

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Im Bundesstaat liegt die Besteuerungsgewalt im Wesentlichen beim Bund, die Aus­g abekompetenz bei Bund und Ländern. Ein Finanzausgleich ohne Maßstäbe­ gesetz1 führt regelmäßig dazu, dass eine Mehrheit von Bundesländern sich als finanzbedürftig erklärt und die verbleibende Minderheit ohne die Rationalität von sach­ lichen, einleuchtenden Gründen zu Zahlungen drängt. In der Europäischen Union ist ein Finanzausgleich ausdrücklich ausgeschlossen, wird aber dennoch praktiziert und führt in ein Ausgleichsdesaster. Das Steuerrecht kann deshalb von den Inhabern der Steuerertragshoheit, die ihre Steuererträge mehren, aber nicht einsichtig machen wollen, rechtsstrukturierende Maximen nicht erwarten.

II.  Grundrechtlicher Gewährleistungsbereich: Eingriffs- und Schutzbereich Das Steuerrecht greift auf das Eigentum des Steuerpflichtigen zu. Deswegen sagt die Rechtsprechung von Anfang an, dass dieser Eingriff eigentumsschonend sein muss, „nicht konfiskatorisch“ sein darf, die Eigentums- und Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen nicht verändern darf, als Sozialpflichtigkeit des Eigentums gerechtfertigt werden muss.2 Dennoch blieb die rationalisierende und disziplinierende Kraft des Betroffenengrundrechts (Art.  14 GG) lange zögerlich, weil der richtige Satz: „Art.  14 GG schützt nicht vor Auferlegung von Geldleistungspflichten“ als These missverstanden wurde, Art.  14 GG sei nicht einschlägig. Das Gegenteil ist der Fall: Die Steuer ist die Bedingung der Eigentumsgewährleistung. Wenn der Staat die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit durch die Garantie von Art.  14 und Art.  12 GG strukturell in privater Hand belässt, ist ihm die Selbstfinanzierung durch Staatsunternehmen untersagt. Er ist auf die steuerliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens verwiesen. Die Besteuerung ist Ausdruck einer Eigentumsverfassung, die erwerbswirtschaftliches Handeln grundsätzlich den Grundrechtsberechtigten zuweist, die Steuerbelastung als Sozialpflichtigkeit des Eigentums und des Berufs gestattet. Damit ist die Steuer ein eigentumsnotwendiger, aber auch ein eigentumsrechtlich gemäßigter Eingriff. Die These, Geldvermögen sei kein Eigentum, mag im 19. Jahr1   Vgl. BVerfGE 101, 158 [1999]; nachfolgende Finanzausgleichsgesetze nennen sich „Maßstäbegesetze“, erfüllen aber den Auftrag nicht, Maßstäbe der Steuerzuteilung und des Ausgleichs bereits gebildet zu haben, bevor deren spätere Wirkungen konkret bekannt sind. 2   Zu den Anfängen und der vorsichtigen, aber stetigen Entwicklung dieser Rspr. vgl. BVerfGE 4, 7 (12) – Investitionshilfe [1954]; BVerfGE 14, 221 (241) – Fremdrentengesetz [1962]; BVerfGE 19, 119 (129) – Couponsteuer [1965]; BVerfGE 82, 159 (190) – Absatzfonds [1990]: Die Eigentumsgarantie verbiete einen übermäßigen, erdrosselnden Eingriff, eine grundlegende Veränderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen; BVerfGE 87, 153 (160) – Grundfreibetrag [1992]: Dem Steuerpflichtigen müsse die grundsätzliche Privatnützigkeit des Erworbenen und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen verbleiben; BVerfGE 93, 121 (137) – Einheitsbewertung (Besteuerung in Grenzen der Sozialpflichtigkeit) [1995]; BVerfGE 105, 17 (30) – Sozialpfandbriefe [2002]: Die Steuer betreffe den Steuerpflichtigen in der Ausprägung seiner persönlichen Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich (Art.  14 GG); BVerfGE 105, 73 (32) – Rentenbesteuerung [2002]: dürfe nicht zu einer – schrittweisen – Konfiskation führen; BVerfGE 115, 97 (115) – Einkommen- und Gewerbesteuer [2006]: Die Eigentumsgarantie schütze das private Innehaben und Nutzen vermögenswerter Rechte, deshalb greife ein Steuergesetz in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie ein.

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hundert erwägenswert gewesen sein, als die wesentliche Grundlage ökonomischer Freiheit das Grundeigentum und der Gewerbebetrieb gewesen ist. In der Gegenwart einer Geldwirtschaft, in der die meisten Bürger ihr wirtschaftliches Fundament im Arbeitslohn und im Sozialversicherungsanspruch finden, ein Großteil der Erwerbstätigkeit in die reine Geldwirtschaft des Finanzmarktes abgewandert ist, brauchen wir einen modernen Eigentumsbegriff. Geld ist „geprägte Freiheit“.3 Der Geldeigentümer, der sich seine Anlageentscheidung im Geld noch vorbehält, ist in gleicher Weise geschützt wie der Anlageeigentümer, der sich ein Haus, eine Kunstsammlung oder andere Sachgüter angeschafft hat. Es wäre absurd, den Grundeigentümer als Ei­ gentümer zu schützen, den enteigneten Eigentümer in seiner Entschädigungssumme nicht zu schützen, das durch Wiederanlage der Entschädigungssumme erworbene Grundstück dann wieder als Eigentum zu gewährleisten. Die Folgen einer Bindung der Besteuerungsgewalt in der Sozialpflichtigkeit des Eigentums sind erheblich. Eine praktisch bedeutsame Rechtsfolge besteht darin, dass der Gewährleistungsbereich eines Grundrechts nicht nur den Schutzbereich des Betroffenen definiert, sondern auch den Eingriffsbereich des Staates vorzeichnet. Der Steuereingriff richtet sich auf das Geldeigentum der Grundrechtsberechtigten. Der Geldbedarf des Staates darf die Freiheit des Grundrechtsberechtigten grundsätzlich4 nicht verfremden. Wenn der Staat Geld braucht, darf er diesen Bedarf nicht durch Arbeitszwang (Art.  12 Abs.  2 GG) oder Zwangsarbeit (Art.  12 Abs.  3 GG) decken, nicht die Sicherheitsgewähr von der Zahlungsfähigkeit des Bedrohten abhängig machen5, die Freiheit von Medien, Wissenschaft oder Kunst nicht nur bei regelmäßigen Zahlungen gewährleisten. Steuerpflichtig ist nicht derjenige, der erwerben könnte, sondern derjenige, der erworben hat. Das Steuerrecht fordert, den Gewährleistungsbereich eines Grundrechts auch als Eingriffsbereich, nicht nur als Schutzbereich zu verstehen, den Eingriff in der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, strukturell nicht in der Sozialpflichtigkeit anderer Freiheitsrechte zu binden. Eine Schwäche des geltenden Rechts hat hier ihren Ursprung. Das Steuerrecht verschiebt sich gegenwärtig von den direkten Steuern zu den indirekten Steuern. Die direkten Steuern erfassen den Steuerpflichtigen individuell in seinem Privateigentum. Die indirekten Steuern belasten den Steuerpflichtigen nicht in seiner tatbestandlich erfassten Leistungsfähigkeit als Geldeigentümer, sondern allenfalls in einer typisierend vermuteten Nachfragekraft. Wenn ein Millionär und ein Bettler ein Hemd kaufen, zahlen sie für denselben Kaufpreis dieselbe Umsatzsteuer. Wer Einkommensteuer nur in Höhe des existenznotwendigen Bedarfs erzielt, ist mit diesem Einkommen nicht steuerbar. Er wird dennoch den indirekten Steuern unterworfen, muss deshalb mehr als ein Fünftel seines Einkommens für die Steuerzahlung abgeben. Die Umsatzsteuer gilt von Anfang an als praktische, aber „unsoziale“ Steuer.6 3   BVerfGE 97, 350 (371) – Euro [1998]; im Anschluss an F. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, 1994, 25. 4   Zu den Lenkungsteuern unten zu V. 5   Zu den staatlichen Schutzpflichten J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 2011, §  191. 6   J. Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz v. 28.5.1928, 3.  Aufl. 1928, 2; J. Englisch, in: Tipke/ Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  17 Rn.  12 ff., 1 ff.; W. Widmann, Umsatzsteuer, in: Kube u.a. (Hrsg.), FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, §  183 Rn.  1 ff.

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Wenn nun eine Eigentümerbesteuerung den Nichteigentümer strukturell vor einer Steuer bewahrt, schließt das die indirekte Steuer nicht schlechthin aus. Sie verlangt aber eine der Lebenswirklichkeit entsprechende Besteuerung, legt deshalb eine Verschonung der existenznotwendigen Güter nahe, kann auch durch eine mit wachsender indirekter Steuer erhöhte Sozialhilfe und durch erhöhte Einkommensfreibeträge aufgefangen werden, mag eine indirekte Luxussteuer billigen, eine Finanztransak­ tionssteuer fordern. Auf dieser Grundlage ist eine Besteuerung des in der Konsumnachfrage vermuteten Geldeigentums vertretbar, aber auch – insbesondere in der Kumulation von Umsatzsteuer und anderen Verbrauchssteuern – begrenzbar.

III.  Verhältnismäßigkeit und Gleichheit Wenn das Grundrecht einen Eingriff in Rechtspositionen des Grundrechtsberechtigten nur zulässt, wenn der Eingriff für das Eingriffsziel geeignet ist und in der Betroffenheit des Grundrechtsträgers den Eingriff rechtfertigt, gewinnen die Verhältnis­ mäßigkeit und der Gleichheitssatz auch im Steuereingriff konkrete Anknüpfungspunkte. Wie eine Enteignung nicht allgemein nach der Frage beurteilt wird, wieviel Grundstücke der Staat braucht, sondern die konkrete Inanspruchnahme eines bestimmten Grundstücks für ein bestimmtes Straßenvorhaben zu rechtfertigen ist, wie die Eignung zu einem Beruf nicht allgemein für das Berufswesen, sondern konkret für ein bestimmtes Berufsbild definiert wird, wie die Gleichheit nicht allgemein den Menschen, sondern „bereichsspezifisch“ den Menschen in einer konkreten Lebenssituation in den Blick nimmt, so frage auch das Steuerrecht nicht allgemein nach der Eignung von Geldvermögen zur Finanzierung des Staatsbedarfs, sondern rechtfertigt die staatliche Teilhabe am individuellen Einkommen, an der individuell empfangenen Erbmasse, an der individuell eingesetzten Kauf kraft (Umsatz). In diesem Bezug auf die jeweilige Einzelsteuer und sodann auf die Kumulierung mehrerer Steuern bieten das Übermaßverbot und das Gebot des Gleichmaßes auch für die Steuern prägnante Aussagen. Die Rechtsprechung verdeutlicht deshalb die Besteuerung nach der Leistungs­ fähigkeit, indem sie nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der Menschen fragt7, die besteuerbare Finanzkraft sodann im Einkommen, in der Erbschaft und in der Kauf kraft erkennt. Wenn die Belastbarkeit des Steuerpflichtigen in seinem Einkommen ermittelt wird, ist ersichtlich, dass der existenznotwendige Aufwand nach den tatsächlichen Bedürfnissen verschont werden muss8, das Einkommen nur als Nettogröße (Gewinn oder Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten) besteu7   BVerfGE 105, 73 (125) – Rentenbesteuerung [2002]; BVerfGE 107, 27 (46) – Doppelte Haushaltsführung [2002]; ähnlich BVerfGE 116, 164 (180) – Tarif begrenzung gewerblicher Einkünfte [2006]; BVerfGE 120, 1 (44) – Abfärberegelung [2008]; BVerfGE 121, 108 (119) – Wählervereinigung [2008]; BVerfGE 122, 210 (230 f.) – Pendlerpauschale [2008]; zur gesetzlich geschaffenen Regelungsstruktur und dem Gleichheitssatz am Beispiel des Abgabenrechts vgl. H. Kube, Finanzgewalt in der Kompetenzordnung, 2004, 424 f. 8   BVerfGE 66, 214 (223) – Zwangsläufige Unterhaltsaufwendungen [1984]; BVerfGE 87, 153 (172) – Grundfreibetrag [1992]; BVerfGE 99, 216 (293) – Familienlastenausgleich [1998]; BVerfGE 112, 268 (281) – Kinderbetreuungskosten [2005]; BVerfGE 124, 282 (295) – Nichtanrechnung von Kindergeld auf Unterhalt [2009].

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ert werden kann9, eine Typisierung des existenznotwendigen Mindestbedarfs10, von Freibeträgen11 und beim progressiven Tarif 12 zulässig und verwaltungspraktisch notwendig ist, innerhalb der Progression „horizontal“ und „vertikal“ angemessen bemessen sein muss13. Bei der Erbschaftsteuer ist zu unterscheiden, inwieweit das ererbte Vermögen als Geldeigentum zur Steuerzahlung verfügbar ist14, und welche tatsächlichen Werte vererbt worden sind15 ; dabei ist das Recht der Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse anzupassen16. Bei der indirekten Steuer hat der Gesetzgeber die Kauf kraft eines Erwerbers in ihrer Bedeutung, ein Tauschgut zu erwerben, zu erhalten. Diese Mäßigung der Steu­er­ last ist deutlich vom freiheitlichen Übermaßverbot geprägt, wird aber bei dieser Besteuerung des vermuteten Eigentums im Bewusstsein des Steuerpflichtigen wie in der Rechtsprechungspraxis wesentlich vom Gleichheitssatz bestimmt17. Eine Steuerlast erscheint eher erträglich, wenn der andere Steuerpflichtige mit gleicher Leistungs­ fähigkeit eine gleiche Last zu tragen hat. Dabei ist allerdings zwischen freiheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit und gleichheitsrechtlicher Verallgemeinerungsfähigkeit zu unterscheiden. Eine Besteuerung des individuellen Einkommens in Höhe von 90 Prozent ist übermäßig, könnte aber durchaus mit dem Gleichheitssatz vereinbar sein. Belastet die Umsatzsteuer Umsätze grundsätzlich mit 19 Prozent, gewährt aber einigen Umsätzen ohne rechtfertigenden Grund einen Vorzugssteuersatz von sieben Prozent18, so verstößt diese gleichheitswidrige Begünstigung oder dieser gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss19 gegen den Gleichheitssatz, nicht gegen ein Freiheitsrecht. Eine ungenügende Sicherung 9   BVerfGE 107, 27 (46) – Doppelte Haushaltsführung [2002]; BVerfGE 122, 210 (230) – Pendlerpauschale [2008]. 10   BVerfGE 87, 153 (169 ff.) – Grundfreibetrag [1992]. 11   BVerfGE 96, 1 (2 f.) – Weihnachtsfreibetrag [1997]. 12   BVerfGE 84, 239 – Zinsurteil [1991]. 13   BVerfGE 82, 60 (89) – Steuerfreies Existenzminimum [1990]; BVerfGE 99, 246 (260) – Kinder­ existenzminimum [1998]; BVerfGE 105, 73 (125 f.) – Rentenbesteuerung [2002]; BVerfGE 110, 412 (433) – Teilkindergeld [2004]; BVerfGE 112, 268 (279) – Kinderbetreuungskosten [2005]. 14   BVerfGE 93, 165 (175) – Erbschaftsteuer (gesonderte Bewertung) [1995]; BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  126 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht. 15   BVerfGE 93, 165 (173) – Erbschaftsteuer (gesonderte Bewertung) [1995]; BVerfGE 117, 1 (31) – Erbschaftsteuer (Bewertung) [2006]; BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  126 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht. 16   BVerfGE 93, 121 (136, 142 f.) – Einheitsbewertung [1995]; BVerfGE 93, 165 (173, 176) – Erbschaftsteuer (Bewertung) [1995]. 17   P. Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee/ders. (Hrsg.), HStR, Bd. V, 3.  Aufl. 2007, §  118 Rn.  241 ff.; W. Widmann, Umsatzsteuer, in: Kube u.a. (Hrsg.), FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, §  183 Rn.  1 ff.; S. Filtzinger, Umsatzsteuerreform, ebd., §  186 Rn.  5 ff. 18   Diese Steuerermäßigungen folgen keinem einsichtigen Prinzip, J. Englisch, Ermäßigte Steuersätze zwecks Verschonung des existenziellen Bedarfs, UR 2010, 400; R. Ismer/A. Kaul/W. Reiß/S. Rath, Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-, steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten, DStR 2010, 1970 (1974). 19   Zu diesem den Gleichheitssatz verdeutlichenden Tatbestand vgl. BVerfGE 121, 108 (119) – Wählervereinigung (Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht) [2008]; BVerfGE 126, 400 (416) – Erbschaftund Schenkungssteuergesetz, Lebenspartnerschaft [2010]; BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  121 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrechtrecht; vgl. auch BVerfGE 121, 317 (370) – Rauchverbot in Gaststätten [2008].

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des existenznotwendigen Einkommens verletzt die Garantie von Existenz und Würde, kann aber – in den Notzeiten nach 1949 – gleichheitsgerecht sein und dann in dem Vorbehalt möglicher Verallgemeinerung20 auch den Vorwurf eines Verstoßes gegen Art.  1 i.V.m. Art.  2 GG entkräften. Die These, beim Gleichheitssatz gelte „ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrecht­ licher Prüfungsmaßstab“21, führt in den praktischen Ergebnissen zu einer spezifischen Gleichheitsprüfung 22. Freiheitliche Verhältnismäßigkeit bewahrt den Einzelnen vor übermäßigen Eingriffen, gleichheitsrechtliche Allgemeinheit gewährleistet, dass er nicht mehr als andere belastet wird oder andere nicht mehr als er begünstigt werden. Freiheit begrenzt die Belastungswirkung eines Eingriffs und fordert ein Unterlassen. Gleichheit verlangt rechtliche Angleichung. Das freiheitliche Übermaßverbot wägt und gewichtet Ziel und Mittel einer Maßnahme, gestattet nur den geeigneten, erforderlichen und angemessenen Eingriff. Der Gleichheitssatz vergleicht mehrere Sachverhalte in ihrer Gemeinsamkeit, um ihre Ähnlichkeit oder Verschiedenheit in die rechtliche Regelung aufzunehmen. Gleichheit beurteilt den Einsatz eines Rechtsgutes für einen gesetzlichen Zweck. Gleichheit beurteilt die Gemeinsamkeit der Regelungsbetroffenen und die Verschiedenheit gegenüber den Nichtbetroffenen. Freiheit schont einen Betroffenen, Gleichheit vergleicht Betroffene. Deswegen beurteilt der Gleichheitssatz in der Sache nicht das gesetzlich gewählte Mittel, sondern vergleicht Normbetroffene und Nichtbetroffene in der Intensität der Verschieden­ behandlung, in der Betroffenheit in individuellen und in demokratisch gestaltbaren Lebensbereichen, in rechtlich schon gestalteten oder noch offenen Normbereichen, in Unausweichlichkeit oder Vermeidbarkeit der Last.

IV.  Legalität: Gestaltete Ungleichheit vor dem Gesetz Die unvermeidbare Steuerlast, die Steuergleichheit je nach tatsächlicher, im Eigentum angelegter Zahlungskraft ist gegenwärtig das Hauptproblem des Steuerrechts. Die gleichmäßige Belastung je nach Einkommen, Erbschaft, Kauf kraft wird immer wieder durch steuermindernde und steuervermeidende Sachverhaltsgestaltungen planmäßig verhindert. Der Vertrag ist Ausdruck der Freiheit der Bürger23, der in der Verständigung über Leistung und Gegenleistung das Maß eines angemessenen Tau  Zum Vorbehalt des Möglichen vgl. BVerfGE 15, 126 (143) – Staatsbankrott [1962]; BVerfGE 27, 253 (285) – Kriegsfolgeschäden [1969]; BVerfGE 41, 126 (151 ff.) – Reparationsschaden [1976]; BVerfGE 71, 66 (75 ff.) – Ruhen der Witwenrente [1985]; BVerfGE 82, 322 (339 ff., 347 f., 349 f.) – Gesamtdeutsche Wahl [1990]; BVerfGE 92, 140 (154 f.) – Sonderkündigung [1995]; BVerfGE 92, 277 (325 ff.) – DDR-Spionage [1995]; BVerfGE 95, 96 (132 f.) – Mauerschützen [1996]. 21  BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  221 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht m. N. 22   BVerfGE 88, 87 (96) – Transsexuelle (Namensrecht) [1993]; BVerfGE 124, 199 (220) – Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften bei der Hinterbliebenenversorgung [2009]; BVerfGE 129, 49 (69) – Mediziner-BAföG [2011]; BVerfGE 130, 240 (254) – Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz [2012]; BVerfGE 132, 179 (188 f.) – Grunderwerbsteuer, Lebenspartnerschaft [2012]; BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  122 – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht; BVerfG v. 24.03.2015 – 1 BvR 2880/11, Umdruck S.  12 – Grunderwerbsteuer bei freiwilliger Baulandumlegung. 23   G. Hirsch, Der Vertrag, in: Kube u.a. (Hrsg.), FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, §  109 Rn.  3 f. 20

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sches findet24. Dabei wird stets vorausgesetzt, dass die Vertragspartner sich ausschließlich über Rechte verständigen, über die sie verfügen dürfen. Demgegenüber teilt das Steuergesetz Steuerlasten gleichmäßig und maßvoll auch ohne und gegen den Willen des Steuerpflichtigen zu. Deswegen muss die klassische Unterscheidung zwischen iustitia commutativa und iustitia distributiva 25 neu zur Geltung gebracht werden. Jahrhundertelang war die Entfaltung des Steuerstaates von Widerstand und Protest gegen die Besteuerung begleitet. Steuerrevolten und Steuerboykotts, Steuerumgehungen in der Grauzone des Rechts und Steuerhinterziehung begleiteten insbesondere Steuerreformen, die Abgabenlasten erhöht haben 26. Im 19. Jahrhundert lässt dann der kollektive Steuerprotest nach, die individuelle Steuervermeidung nimmt zu27. Der einzelne Bürger wird selbstbewusst. Zudem versteht er sich weniger als mitverantwortliches Glied seiner Staatsgemeinschaft, sucht den individuellen Ausweg gegen eine als übermäßig empfundene Steuerlast. Die Hoffnung und die Kraft, für eine generelle Berichtigung der Steuermaßstäbe zu kämpfen, schwinden. Dieser Befund – Folge individueller Freiheitskraft und staatsbürgerlicher Schwäche – dauert bis heute an und ist ein wesentlicher Grund für den rechtsstaatlichen Niedergang des Steuerrechts. Wenn das Steuergesetz Gestaltungsoptionen anbietet, ist es legal, diese zur Steuerminderung zu nutzen. Deswegen wählt der Steuerpflichtige bewusst die Gesellschafts­ form einer Kapitalgesellschaft, einer Personengesellschaft oder eines Einzelbetriebes, auch deren Kombination. Er gestaltet steuerbewusst das Leistungsverhältnis zwischen Unternehmen und Gesellschaftern, Art und Umfang des dem Unternehmen gewidmeten Vermögens, Eigen- und Fremdfinanzierung, Gewinn und Überschusseinkünfte, Thesaurierung oder Ausschüttung. Steuergestaltend kann auch die Grenze zwischen betrieblichem und privatem Bereich genutzt werden. Die Verlagerung von Gewinnen ins Ausland oder in spätere Veranlagungszeiträume bietet Gelegenheiten der Steuerersparnis. Damit wird die Frage dringend, inwieweit der privatrechtliche Vertrag zu einem Instrument werden darf, das steuerliche Ungleichheit herstellt. Das Bundesver­ fassungsgericht hat hervorgehoben, dass allein die formale Rechtsgestaltung materielle Belastungsunterschiede nicht rechtfertigen könne.28 Der Gesetzgeber müsse Aus­ 24   B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 7.   Aufl. 2013, Rn.  361 f. 25   Zu deren Ursprüngen Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1131 a, 1 ff.; dazu B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 7.  Aufl. 2013, Rn.  361; U. van Suntum, Die unsichtbare Hand, 3.  Aufl. 2005, 69 f.; J. Isensee, Privatautonomie, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 3.  Aufl. 2009, §  150 Rn.  74 f. 26   R. Tilly, Unruhen und Proteste in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung, 1980, S.  143 f.; F. K. Mann, Beiträge zur Steuersoziologie: III. Krieg und Besteuerung, in: FinArch 2 (1934), S.  287 f.; G. Schmölders, Finanzpolitik, 1970, S.  334. 27   H.-P. Ullmann, Der deutsche Steuerstaat, 2005, S.  48. 28  BVerfGE 101, 151 (156 f.) – Schwarzwaldklinik, Umsatzsteuerbefreiung (GmbH & Co. KG) [1999]; BVerfGE 120, 1 (52 ff., 55) – Abfärberegelung [2008]; BVerfGE 125, 1 (33 f.) – Körperschaftsteuerminderungspotential, Halbeinkünfteverfahren (keine Ausweichmöglichkeit durch „Schütt-­ausLeg-ein-Verfahren“ und „Leg-ein-Hol-zurück-Verfahren“) [2009]; BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  246 ff. – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht; vgl. auch BVerfGE 122, 374 (396) – „Anlagensplitting“ gegenüber dem EEG [2009]; zu Parallelentwicklungen in der privatrechtlichen

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weich­optionen möglichst vermeiden.29 Das Gesetz darf eine Ausweichoption allenfalls zulassen, wenn sie zweifelsfrei legal ist, keinen unzumutbaren Aufwand erfordert und kein nennenswertes finanzielles rechtliches Risiko enthält 30. Das nachdrückliche Bemühen, ein strukturelles Vollzugsdefizit bei der Besteuerung31 zu vermeiden, muss sich allerdings mit der Realität auseinandersetzen, dass bei Prüfung des steuererheblichen Sachverhalts das Gesetz tatsächlich oft nicht strikt angewandt werden kann. Das Steuerrecht ist zu kompliziert. Nachweis- und Belegpflichten überfordern den Steuerpflichtigen. Sachverhalts-, Bewertungs- und Schätzungsungewissheiten drängen auf einen einvernehmlichen Verfahrensabschluss32. Die Internationalität der Geschäftsbeziehungen erschwert zudem das rechtliche Verstehen der einschlägigen Rechtsmaßstäbe, das sprachliche Verstehen der Verträge und Nachweise; ein Beleg spricht jeweils die Sprache seines Herkunftslandes. Des­ wegen ist in der Rechtspraxis die „tatsächliche Verständigung“33 üblich, die ein ­Einvernehmen über den steuererheblichen Sachverhalt sucht, damit aber die Steuerrechtsfolge auch konsensual bestimmt 34. Doch die Gleichheit vor dem Gesetz (Art.  3 Abs.  1 GG) erlaubt keine verfahrensvereinfachende, vermeintlich verwaltungsökonomische Lockerung des Gesetzmäßigkeitsprinzips, sondern darf nur alltägliche Feststellungsprobleme überwinden, bei der sich Finanzbehörden und Steuerpflichtige in der Einschätzung der tatsächlichen Besteuerungsgrundlagen annähern. Auch hier stellt sich die Frage an den Gesetzgeber, ob er hinreichende Einfachheit und Vollziehbarkeit seiner materiellen Regel gewährleistet. Ein Steuervertrag, der eine gesetzlich begründete Steuer verringert oder erlässt, ist nichtig35.

Begrenzung der Vertragsfreiheit vgl. BGH, NJW 1985, 1833; BGH, NJW 2009, 842 (845) – Verzicht auf künftige Unterhaltsvereinbarungen durch die ein Sozialhilfeträger oder Familienangehöriger unterhaltspflichtig werden soll; BGH, NJW 2013, 3167 – Schwarzarbeit, die mit dem Leistungsaustausch verbundene Steuern- und Sozialabgaben vermeiden soll; auch der bereicherungsrechtliche Anspruch auf Wertersatz gegen den Besteller wird verneint, BGH, NJW 2014, 1805. 29   BVerfGE 120, 1 (52 ff.) – Abfärberegelung [2008]. 30   BVerfG, DStR 2015, 31 Rn.  246 f. – Verschonung des Betriebsvermögens im Erbschaftsteuerrecht, vgl. auch BVerfGE 120, 1 (53) – Abfärberegelung [2008], dort allerdings mit der Überlegung, eine gesetzlich zulässige Ausweichoption könne einer im Gesetz angelegten Ungleichheit verfassungserheblich entgegenwirken. 31   Zu dessen Problematik im Verhältnis von materiellem und Verfahrensrecht vgl. BVerfGE 84, 239 (268 ff.) – Zinsurteil [1991]; BVerfGE 110, 94 (112) – Spekulationsgeschäfte [2004]. 32   P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. V, 110 f. 33   Zum Terminus RFHE 18, 92 (94 f.); gemeint ist nicht die reale Verständigung, sondern die Verständigung über Tatsachen. 34   Vgl. zum Problem R. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, insbes. S.  13 f., 25 f., 123 f.; ders., in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 22.  Aufl. 2015, §  21 Rn.  20 f.; BFH, BStBl II 1985, 354 (357 f.); BStBl II 1991, 45 (46); 673 (674); BStBl II 2002, 406 (410); BStBl II 2004, 975 (977); BStBl II 2008, 242 (246 f.); BStBl II 2009, 121 (122 f.); Verwaltungsanweisung des BMF v. 30.7.2008, BStBl I 2008, 831. 35   R. Seer, Verständigungen im Steuerverfahren, 1996, 376 f.; vgl. zu einem kommunalen Steuervertrag, der die Gewerbesteuer für die Ansiedlung eines Betriebes im Gemeindegebiet vorübergehend erlässt, BVerwGE 8, 329 (332); BVerwG, BStBl I, 1963, 794; 1975, 679 (682); BVerwG, DVBl 1984, 192 (193).

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V.  Lenkung durch Steuern: Die Wahlschuld Die Steuer hat den Zweck, den Staat mit den notwendigen Finanzmitteln auszustatten, nimmt dem Steuerpflichtigen deswegen Geldeigentum und weist es der öffentlichen Hand zu. Doch die Steuer dient immer häufiger nicht nur der Finanzierung des Staates, sondern auch der Lenkung der Steuerpflichtigen36. Die Unausweichlichkeit der Steuerlast, das Gleichmaß des Vermögensentzugs beim Steuerpflichtigen wird durchbrochen, wenn das Gesetz dem Steuerpflichtigen eine Steuerentlastung in Aussicht stellt, um ihn zu einem staatlich erwünschten Verhalten zu veranlassen –, z.B. einer umweltschützenden Maßnahme, einer Verlagerung von Fernverkehr auf die Schiene, einer die Infrastruktur stärkenden Investition, einer kulturpolitischen Initiative. Die Steuerlenkung setzt ein Finanzierungsmittel als Verwaltungsmittel ein, spricht eine Steuerlast aus, meint aber einen Freiheitsverzicht. Dieser Steuer­ anreiz, die Steuersubvention stellt den Pflichtigen vor eine Wahlschuld: Er zahlt entweder die Steuerschuld oder er unterwirft sich dem steuerrechtlich nahegelegten Verhaltensprogramm. Ebenso begründet das Steuergesetz Sonderlasten, um ein staatlich unerwünschtes Verhalten zu überwinden. Das Steuergesetz verteuert ein besonders umweltschädliches Fahrverhalten, einen unerwünschten Alkohol- oder Tabakkonsum, ein riskantes Spekulationsgeschäft. Auch hier begründet das Gesetz eine Wahlschuld. Der Pflichtige kann entweder auf das unerwünschte Verhalten verzichten oder die Zusatzsteuer zahlen. Beide Alternativen sind eigens zu rechtfertigen. Wenn das Steuerrecht zur Verhaltensbeeinflussung, also als Verwaltungsrecht eingesetzt wird, bedarf dieser Freiheitseingriff einer eigenständigen Rechtfertigung. Der Eingriff durch Lenkungsteuer ist besonders freiheitssensibel, weil der Steuer­ anreiz dem Adressaten ein Stück seiner Freiheit „abkauft“, das motivationslenkende Steuergesetz also bereits auf die Entstehung des Willens einwirkt. Die steuerliche Verteuerung eines Autos ohne Katalysator bestimmt die Kaufentscheidung eines Käufers. Der Anreiz zum ökologischen Verzicht auf das Fahrzeug verengt die Berufsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit bei der Freizeitgestaltung. Der Interessengegensatz zwischen freiheitslenkendem Staat und freiheitsberechtigtem Bürger trifft fast unmerklich aufeinander, drängt den Steuerpflichtigen vielfach in die ökonomische Unvernunft – die Investition in den Schiffsbau oder in Verlust- und Abschreibungsgesellschaften –, nutzt sein Gewinnstreben, um Verbeugungen vor dem modernen Gesslerhut des Steuerrechts einzuüben. Der Steueranreiz, in „Schrott­ immobilien“ zu investieren37, hat Steuerpflichtige zu einem wirtschaftlichen Verhalten jenseits aller Vernunft veranlasst. Dabei ist vielfach auch die Eigentumsgarantie intensiver betroffen als bei der Fiskalzwecksteuer. Bei dieser schuldet der Steuerpflichtige lediglich einen bestimmten Zahlbetrag. Bei der Lenkungsteuer hingegen bindet er sein Anlageeigentum weitgehend im Rahmen des Steuersubventions­ 36   Vgl. BVerfGE 21, 12 (27) – Allphasenumsatzsteuer [1966]; BVerfGE 31, 8 (23) – Gewinnspielautomat [1971]; L. Osterloh, Besteuerungsneutralität – ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte, in: dies. u.a. (Hrsg.), FS Peter Selmer, 2004, 875 (883); P. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, 61 (217); R. Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, 65; ders., Steuerlenkung, in: Kube u.a. (Hrsg.), FS P. Kirchhof, Bd. II, 2013, §  152 Rn.  1 ff. 37   So die Formulierung BGH, NJW 2004, 27 (31).

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programms, um die erhoffte Steuerentlastung zu erreichen. Er gibt ein Stück Eigentümerfreiheit über sein Betriebs- oder Privatvermögen auf. Andererseits wirkt das steuerliche Instrumentarium bei der Realisierung eines Verwaltungsprogramms, etwa des Umweltschutzes oder der Kulturförderung, zielungenau, weil sich der Steuerpflichtige durch Zahlung von der Verwaltungspflicht freikaufen, der steuerlich überbrachte Lenkungsanreiz also scheitern kann. Oft erreicht die Steuerlenkung auch nicht alle Adressaten. Ein Umweltschutz durch erhöhte Energiesteuern trifft nicht den Mountainbiker, weil dieser die Umwelt ohne Benzinverbrauch belastet. Der einkommensteuerliche Anreiz zu einer umweltfreundlichen Anlage spricht den Geringverdiener nicht an, weil dieser keine Einkommen­steuer schuldet. Lenkungsteuern sind deswegen nur dann geeignete Verwaltungsmittel, wenn ein Scheitern des Verwaltungsprogramms hingenommen werden kann.38 Die Lenkungsteuern durchbrechen die in den Regeltatbeständen verwirklichte Belastungsgleichheit, sind deshalb als gesetzlich bewusst hergestellte Ungleichheit besonders rechtfertigungsbedürftig. Dies gilt insbesondere, wenn der Steuerpflichtige einen Abzug von einer progressiv belasteten (einkommensteuerlichen) Bemessungsgrundlage erreicht, so dass der Gutverdienende eine hohe Subvention, der Geringverdienende eine geringere Subvention erhält. Eine solche progressive Subven­ tion, deren Höhe mit steigendem Einkommen überproportional wächst, ist üblich, aber ersichtlich gleichheitswidrig. Zudem erreicht der steuerlich überbrachte Lenkungsanreiz den Minderbemittelten nicht, während der Gutverdienende sich durch Zahlung die Freiheit erhalten kann, dem steuerlichen Lenkungsanreiz auszuweichen. Für die Verschiedenheit wird sich in der Regel kein sachlicher, rechtfertigender Grund finden. Oft begründet die Lenkungsteuer auch einen systemimmanenten Widerspruch, wenn sie gleichzeitig durch Steuerentlastung die Vermeidung bestimmter Verhaltensweisen anregt, dennoch aber auf gleichbleibende oder möglichst steigende Er­ träge hinwirkt. Der Umweltminister wird auf eine größtmögliche Schonung der Umwelt, also auf verminderte Erträge drängen, der Finanzminister hingegen auf zumindest gleichbleibende Steuerauf kommen, deswegen auf eine stetige Umwelt­ belastung. Der Gesundheitsminister setzt sich die Verringerung des Alkohol- und Tabakkonsums zum Ziel, der Finanzminister sinnt eher auf dessen ertragbringende Vermehrung. Die Gegenläufigkeit derartiger Motive organisiert eine institutionelle Befangenheit im Handeln der öffentlichen Hand und wird vom Bürger als widersprüchliche, also gleichheitswidrige Verhaltensanweisung empfunden.39 38   Vgl. BVerfGE 98, 106 (121) – Verpackungsteuer [1998]; BVerfGE 110, 274 (292 f.) – Ökosteuer [2004]; BVerfGE 117, 1 (31 ff.) – Erbschaftsteuer (gesonderte Bewertung) [2006]. 39   Zu dem gerade für das Steuerrecht wesentlichen Folgerichtigkeitsprinzip BVerfGE 21, 160 (171 f.) – Zweigstellensteuer für Bank- und Kreditunternehmen [1967]; BVerfGE 98, 83 (100) – Landesrechtliche Abfallabgabe [1998]; BVerfGE 98, 106 (118 f.) – Kommunale Verpackungssteuer [1998]; BVerfGE 99, 216 (232) – Kinderbetreuungskosten [1998]; BVerfGE 105, 17 (47) – Sozialpfandbriefe [2002]; BVerfGE 105, 73 (125) – Rentenbesteuerung [2002]; BVerfGE 107, 27 (46) – Doppelte Haushaltsführung [2002]; ähnlich BVerfGE 116, 164 (180) – Tarif begrenzung gewerblicher Einkünfte [2006]; BVerfGE 120, 1 (44) – Abfärberegelung [2008]; BVerfGE 121, 108 (119) – Wählervereinigung [2008]; BVerfGE 122, 210 (230 f.) – Pendlerpauschale [2008]; BVerfGE 127, 224 (247) – Pauschalierung eines Betriebsausgabenabzugsverbots [2010].

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Bietet der Bundesgesetzgeber Steuerverschonungen für Steuern an, deren Ertrag ganz oder zum Teil den Ländern und Gemeinden zusteht (vgl. Art.  106 Abs.  2 ff. GG), so gewährt er Subventionen zulasten fremder Kassen. Wählte er die ersicht­ liche, im Betrag parlamentarisch zugemessene Leistungssubvention, müsste er das Subventionsprogramm in voller Höhe aus Bundesmitteln finanzieren. Entscheidet er sich hingegen für die Verschonungssubvention, bestimmt er den Subventionsinhalt, zwingt aber die Länder und Gemeinden zu einer Mitfinanzierung. Die Entscheidung über den Ertragsverzicht und die Bestimmung des Finanzierungszwecks fallen aus­ einander, werden nicht mehr von demselben demokratischen Organ verantwortet. Zugleich verfremdet die Verschonungssubvention das bundesstaatliche Ertragszuteilungssystem und den Finanzausgleich. Viele Steuersubventionen mindern das Aufkommen aus der Einkommensteuer durch bundesgesetzliche Subventionsangebote, obwohl den Ländern ihr Anteil an der Einkommensteuer grundsätzlich in voller Höhe zusteht, sie ihre Erträge in ihren haushaltsrechtlichen Prioritätsentscheidungen verantworten sollen, sie schließlich im Finanzausgleich eine unzulängliche Bemessungsgrundlage gewärtigen müssen, weil der Bund vorab ein Regelsteuerauf kommen anderer durch Steuerverschonung verwendet hat. Steuersubventionen entziehen sich auch der jährlichen parlamentarischen Überprüfung durch die Haushaltsgesetzgebung. Eine Leistungssubvention muss für jedes Haushaltsjahr in einer quantifizierten Ermächtigung bewilligt werden. Eine Steuersubvention wird einmal im Steuergesetz beschlossen, wirkt dann für Jahrzehnte fort, ohne dass das Parlament diese Subventionen jährlich überprüfen, das tatsächliche Subventionsvolumen kennen, die weitere Berechtigung der Subvention in Frage stellen würde. Beim gesetzlichen Steuersubventionsangebot bedient sich der Steuerpflichtige selbst, indem er den Begünstigungstatbestand erfüllt.40 Ein steuerlich veranlasstes Subventionsprogramm vermengt das freiheitsberechtigte Handeln des Bürgers mit dem freiheitsverpflichteten Handeln des Staates. Das grundrechtliche Teilungsmodell zwischen Staat und Gesellschaft wird weiter gefährdet. Aus der Trennung von Staatlichkeit und Privatwirtschaft wird ein Mischsystem. Aus dem rechtlichen Befehl wird der monetäre Anreiz, aus der hoheitlich auferlegten Pflicht die Verständigung, aus gegenseitiger Distanz stetig kooperierende Nähe. Verantwortlichkeiten werden verwischt, Rechtsmaßstäbe relativiert, Staat und Bürger in eine wechselseitige Befangenheit gedrängt. Die politische Kontrolle des staatlichen Zugriffs auf das Bruttoinlandsprodukt wird verzerrt, weil Steuersubventionen staatliche Mindereinnahmen vorspiegeln, obwohl der Staat durch die verschonende Lenkung bereits über ein Regelsteuerauf kommen materiell verfügt hat und dabei auch Herrschaft über die subventionsrechtlich in Pflicht genommenen Wirtschaftsgüter des Steuerpflichtigen gewinnt. Soweit die Steuersubventionen nicht beseitigt oder zumindest in verlässlichen Schätzungen in die Berechnung der Staatsquote einbezogen werden, sind Verlautbarungen über diese Quote fehlerhaft. 40   Hier bieten sich zumindest haushaltsrechtliche Informationspflichten und die parlamentarische Pflicht zur periodischen Überprüfung an, wie sie die neuere Rechtsprechung für die Sonderabgaben vorsieht, vgl. BVerfGE 108, 186 (280) – Altenpflegeabgaben [2003]; BVerfGE 110, 370 (393) – Klärschlamm-Entschädigungsfonds [2004]; vgl. auch schon BVerfGE 55, 274 (308) – Ausbildungsplatz­ förderungsabgabe [1980]; BVerfGE 57, 139 (162 f.) – Schwerbehindertenabgabe [1981]; BVerfGE 82, 159 (181) – Absatzfonds [1990].

Das Steuerrecht als Verfassungsproblem

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Das Bundesverfassungsgericht entwickelt deshalb für die Lenkungsteuern verschärfte Maßstäbe. Erste Voraussetzung ist die erkennbare Entscheidung des Gesetzgebers für einen tatbestandlich ersichtlichen Lenkungszweck. Entstehen Anreize, weil tatsächlich veränderte Umstände – veraltete und zu niedrige Einheitswerte – ­begünstigend wirken, kann diese Anreizwirkung nicht als Lenkungsteuer gerechtfertigt werden, weil es an der gezielten, gesetzlich verantworteten Lenkung fehlt.41 Für die formale Gleichheit der Parteispenden fordert das Bundesverfassungsgericht, dass innerhalb einer progressiv ausgestalteten Steuer – der Einkommensteuer – grundsätzlich der steuerentlastende Abzug von der steuerlichen Bemessungsgrund­ lage nicht oder nur im Rahmen einer nivellierenden „Normalspende“ gewährt werden darf.42 Dieser Maßstab ist für alle Abzüge von der Bemessungsgrundlage bei progressiver Belastung weiterzuentwickeln. Die Lenkungszwecke sind zielgenau und normenklar auszugestalten. Eine Lenkung auf der Bewertungsebene ist deshalb ungeeignet.43 Sodann ist der gesetzlich definierte Lenkungszweck Grund und Grenze der Ungleichbehandlung.44 Der Lenkungszweck und die Ausgestaltung des Vergün­ stigungstatbestandes müssen so aufeinander abgestimmt werden, dass alle typischerweise Förderungswürdigen von dem Lenkungsangebot erreicht werden und die ­Förderung typischerweise für alle Adressaten des fördernden Gesetzes gerechtfertigt ist. Bei der Ausgestaltung des Vergünstigungstatbestandes wachsen in der Regel die Anforderungen an die Folgerichtigkeit.45 Im Ergebnis enthält das Grundgesetz eine ausgeprägte Steuerverfassung, die auf den Gesetzesvorbehalt, damit die den Gesetzgeber bindenden Grundrechte setzt, eine grundsätzliche Finanzierung des freiheitlichen, insbesondere Berufs- und Eigentümerfreiheit gewährleistenden, deswegen auf das Staatsunternehmen verzichtenden Staates durch Steuern vorsieht46 und durch die Neufassung des Art.  109 Abs.  3 S.  1, Art.  115 Abs.  2 S.  1 GG die Abhängigkeit der Staatsausgaben von den Steuereinnahmen wiederherstellt und damit ein steuermäßigend wirkendes, historisches Junktim revitalisieren könnte. Die Finanzverfassung bestätigt in ihrer resümierenden Funktion aus bundesstaatlichem und haushaltsrechtlichem Anlass, dass Steuern, die als Ertragsquelle verfassungsrechtlich vorgesehen sind, grundsätzlich auch erhoben werden dürfen47, dass der Auftrag, bei der Verteilung des Umsatzsteuerauf kommens   BVerfGE 93, 121 (147 f.) – Vermögensteuer [1995].   BVerfGE 8, 51 (69) – Parteispendenurteil I (steuerliche Privilegierung von Parteispenden) [1958]; BVerfGE 85, 264 (316) – Parteienfinanzierung (Obergrenze) [1992]. 43   BVerfGE 117, 1 (34 f.) – Erbschaftsteuer, uneinheitliche Abweichung vom gemeinen Wert [2006]. 44   BVerfGE 38, 61 (101) – Leberpfennig [1974]; ähnlich schon BVerfGE 19, 101 (116 f.) – Zweigstellensteuer für Wareneinzelhandelsunternehmen [1965]; BVerfGE 28, 227 (241 f.) – Steuerliche Privilegierung der Landwirte [1970]; R. Wernsmann, Steuerlenkung, in: Kube u.a. (Hrsg.), FS für P. Kirchhof, Bd. II, 2013, §  152 Rn.  21. 45   BVerfGE 122, 210 (244) – Pendlerpauschale [2008]; BVerfGE 105, 17 (32 f., Zitate auf S.  46 u. 47) – Sozialpfandbrief [2002]; vgl. auch BVerfGE 110, 274 (293 f., 298 f.) – Ökosteuer, Anreiz zum Energiesparen, aber Steuerentlastungen, um die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen des produzierenden Gewerbes zu sichern [2004]. 46   Zu der vorteilsneutralisierenden Funktion der Entgeltabgaben – Gebühren und Beiträge – vgl. BVerfGE 50, 217 (227 ff.) – §  15 Abs.  4 Gebührengesetz NRW [1979]; P. Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, 37 ff. 47   BVerfGE 14, 105 (111) – Finanzmonopole [1962]; BVerfGE 21,12 (26) – Allphasenumsatzsteuer [1966]; BVerfGE 37, 38 (45) – Mehrwertsteuer [1974]; BVerfGE 934, 121 (134) – Vermögensteuer 41

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Paul Kirchhof

„eine Überbelastung des Steuerpflichtigen“ zu vermeiden (Art. 106 Abs.  3 S.  4 Nr.  2 GG), an das Übermaßverbot des Art.  14 GG erinnert48. Das Folgerichtigkeitsgebot49 gibt einer gesetzlichen Leitentscheidung, z.B. dem §  2 EStG, eine gesetzesdirigierende Kraft. Dieses materielle Steuerverfassungsrecht hat wesentliche Maximen rationalen Rechts in die Steuergesetzgebung getragen, konnte aber der Gesetzgebungsflut bisher nur einige Orientierungspfeiler, Schleusen und Randbefestigungen entgegensetzen. Die Steuern sind eine Quelle des Finanzstaates. Die Verfassung fasst diese Quelle, um den Fluss des heraustretenden Wassers zu mäßigen und so zu formen, dass das Wasser vollständig und unverschmutzt dem Menschen zugutekommt. Das Verfassungsrecht beauftragt den Staat zur Erneuerung des Steuerrechts.

[1995]; BVerfGE 31, 8 (16) – Gewinnspielautomat [1971]; BVerfGE 40, 56 (60 f.) – Vergnügungssteuergesetz NRW [1975]; BVerfGE 42, 38 (40) – Vergnügungssteuer [1976]; BVerfGE 69, 174 (183 f.) – Getränkesteuer [1985]; zur Gewerbesteuer vgl. BVerfGE 120, 1 (27) – Abfärberegelung [2008]; vgl. auch die Neuregelung zu Art.  28 Abs.  2 S.  2 Hs.  2 GG durch das 44. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20.10.1997, BGBl I, 2470. 48   Zum materiellen Gehalt von Kompetenznormen vgl. BVerfGE 53, 30 (56) – Mülheim-Kärlich [1979] (dort zur konkurrierenden Bundesgesetzgebungskompetenz über „die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken“). 49   BVerfGE 81, 310 (339) – Kalkar (Wahrnehmungs- und Sachkompetenzen) [1990]; BVerfGE 98, 106 (118 f.) – Kommunale Verpackungsteuer [1998]; BVerfGE 129, 300 (349) – Fünf-Prozent Sperrklausel EuWG [2011]; BVerfGE 132, 179 (189) – Grunderwerbsteuer, Lebenspartnerschaft [2012]; BVerfGE 136, 127 (144) – Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung, Folgerichtigkeit einer Übergangsvorschrift [2014].

Portäts und Erinnerungen

Walter Simons und das Reichsgericht Aspekte zu einer Richterbiographie zwischen Politik und Justiz von

Ministerialrat a.D. Dr. Bernhard Müllenbach, Bonn Inhalt I. Kurzer Rückblick: Das Reichsgericht unter seinen ersten fünf Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 1. Eduard von Simson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 2. Otto von Oehlschläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 3. Karl Konrad Gutbrod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 4. Rudolf von Seckendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5. Heinrich Delbrück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 II. Das geistige Umfeld zur Zeit der Ernennung von Walter Simons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 1. Stimmen aus nichtjuristischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 2. Weimarer Reichsverfassung und Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 III. Simons’ Werdegang und sein Wirken als Außenminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 1. Sein Wirken insbesondere in der Reichskanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 2. Simons als Reichsaußenminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 IV. Das Reichsgericht unter Simons’ Präsidentschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 1. Judikative und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 2. Das „Wirtschaftsrecht“ als neue Rechtsmaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 3. Die sogenannte Aufwertungsrechtsprechung und ihre Folgen. Vorschriften zum Schutz der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 4. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und das Reichsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 5. Die Überlastung des Reichsgerichts und Simons’ rechtspolitische Stellungnahmen. Die sogenannte Personal-Abbau-Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 6. Das „Wirtschaftsrecht“. Art.  165 WRV. Die sogenannte Interessenjurisprudenz . . . . . . . . . . . 602 7. Gesetzesflut und weitere Überlastung des Reichsgerichts. Reformvorschläge. Mahnungen von Simons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 V. Das Ende der Präsidentschaft von Simons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 1. Konflikt mit der Reichsregierung. Simons’ Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 2. Gründe für den Konflikt. Die sogenannte Verfassungswandlung. Rechtsfragen und politische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 VI. Simons außergerichtliche Tätigkeit. Recht und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617

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Bernhard Müllenbach

I.  Kurzer Rückblick: Das Reichsgericht unter seinen ersten fünf Präsidenten Das Reichsgericht hat in den fast 66 Jahren seines Bestehens, von 1879 bis 1945, insgesamt sieben Präsidenten gehabt.

1.  Eduard von Simson Erster Präsident war Martin Eduard von Simson (1810–1899),1 Reichsgerichtspräsident von 1879 bis 1891, der im Jahre 1849 an der Spitze der Abordnung stand, die Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anbot. 21 Jahre später führte er auch die Delega­ tion an, die im Dezember 1870 in Versailles König Wilhelm I. die Kaiserwürde antrug. Zu Recht wird daher v. Simson als sichtbarster Repräsentant des deutschen Einheitsgedankens bezeichnet.2 Die allseits anerkannte und auch von Bismarck gewürdigte Tätigkeit als Parlamentarier und Präsident des Deutschen Reichstags ist auch ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, weniger jedoch von Simsons ungewöhnliches juristisches Talent, dem es eigen war, „verwickelte und undurchsichtige Rechtsfälle zu entwirren und dem Zuhörer die kompliziertesten Gedankengänge klarzumachen. Seine fast sprichwörtliche Unparteilichkeit machte ihn zum Richter besonders geeignet“.3

2.  Otto von Oehlschläger Ihm folgte als zweiter Reichsgerichtspräsident der in Justiz und Verwaltung gleichermaßen erfahrene Otto Karl von Oehlschläger (1831–1904), der lange Jahre Vortragender Rat im preußischen Justizministerium, später Präsident des Berliner Kammer­ 1   Aus der reichhaltigen Literatur über ihn seien hier nur erwähnt das noch immer unverzichtbare Werk von Ernst Wolff, Eduard von Simson, 1929; wegen der Wiedergabe zahlreicher Originaldokumente und Briefe nur zum Teil überholt: Bernhard von Simson, Eduard von Simson, Erinnerungen aus seinem Leben, 1900; aus der neueren Literatur etwa Günter Meinhardt, Eduard von Simson, Der Parla­ mentspräsident Preußens und die Reichseinigung, 1981 (wie schon der Untertitel ausweist, steht hier v. Simson als Präsident des Reichsgerichts nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, vgl. ebd. S.  143–147); Gerd Pfeiffer, Biographische Skizzen zu Eduard von Simson, in: Festschrift für Hildebert Kirchner zum 65. Geburtstag, 1985, S.  289–314; vgl. auch: Hildebert Kirchner (Hrsg.), Eduard von Simson, ein großer Parlamentarier und Richter, 1985. Bernd-Rüdiger Kern (Hrsg.), Eduard von Simson (1810–1899) ‚Chorführer der Deutschen‘ und erster Präsident des Reichsgerichts, Baden-Baden 2001. 2   Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der Dt. Rechtswissenschaft, 2.  Aufl. 1953, S.  225–235 (226); s. auch G. Kleinheyer/J. Schröder, Dt. und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4.  Aufl. 1996, S.  511. 3   So sein Urenkel Werner von Simson, Eduard von Simson und das Reichsgericht, seine Beziehungen zur Richterschaft und Rechtsanwaltschaft, in: DJZ 1929, coll. 1319–1321 (1321). Auch die Äußerungen des Reichsgerichtsrats Hermann Wilhelm Boethke (1833–1912), der noch Mitglied in dem von v. Simson präsidierten IV. Zivilsenat war, bestätigen die Einschätzung des Urenkels besonders eindrucksvoll, s. Boethke, Zur 25jährigen Gedenkfeier der Errichtung des Reichsgerichts, in: DJZ 1904, coll. 875–880 (879). Vgl. im Übrigen zu den menschlichen Qualitäten v. Simsons P. Laband, Der erste Präsident des Reichsgerichts, in: DJZ 1904, coll. 932 f.

Walter Simons und das Reichsgericht

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gerichts war und schließlich Staatssekretär des Reichsjustizamts wurde, bevor er 1891 die Nachfolge von Simsons als Reichsgerichtspräsident antrat und dieses Amt bis zum Jahre 1903 versah.4 Unter seiner Ägide konnte das alte, inzwischen aus allen Nähten platzende5 Reichsgerichtsgebäude6 verlassen und der repräsentative Reichsgerichtsbau, nach dem Berliner Reichstag „der zweite große Monumentalbau des Deutschen Reiches“7, in Leipzig bezogen werden; am 26. Oktober 1895 wurde er in Anwesenheit Kaiser Wilhelms II. und des Königs Albert von Sachsen eingeweiht.8 Hatten sich unter v. Simsons Präsidentschaft zwei vornehmliche Aufgaben gestellt, zum einen aus dem Schatten des angesehenen Reichsoberhandelsgerichts zu treten – dessen prägender Einfluss auf die Anfangsjahre des Reichsgerichts und seine Rechtsprechung noch heute viel zu wenig beachtet wird9 und das v. Simson in seiner Antrittsrede als Reichsgerichtspräsident zu Recht als Vorbild pries, dem sich das Reichsgericht verpflichtet fühle10 –, und zum anderen dem Reichsgericht eine unabhängige und selbständige Stellung im Staatsauf bau zu verschaffen11 – denn die mit der Errichtung des Reichsgerichts am 1. Oktober 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze hatten zwar nicht in praxi, wohl aber de iure auf weiten Gebieten die Rechtseinheit im Reiche hergestellt –, so trat unter der Präsidentschaft v. Oehlschlägers das Bürger  Zu v. Oehlschläger vgl. die Angaben bei Wilhelm Kosch, Biographisches Staatshandbuch, Bd. II, 1963, S.  935; ferner Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE) Bd. 7, 1998, S.  465; Kai Müller, Der Hüter des Rechts, 1997, S.  120/121. 5   Vgl. instruktiv die Ausführungen des ehemaligen Senatspräsidenten am Reichsgericht Paul Christian Henrici, Lebenserinnerungen eines Schleswig-Holsteiners, 1897, S.  175 ff.; Meinhardt (Fn.  1), S.  146: „die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten reichten bald nicht mehr aus“. 6   S. die ganzseitige Abbildung des ersten, alten Reichsgerichtsgebäudes bei Adolf Lobe (Hrsg.), 50 Jahre Reichsgericht, 1929, zwischen Seiten 304/305. 7  So Volkmar Müller, Der Bau des Reichsgerichts zu Leipzig. Eine Schilderung des Baues und seiner Einzelheiten, 1895 (Ndr. Leipzig 1995), S.  3. 8   Zur geradezu spannend zu nennenden Baugeschichte s. die zeitgenössischen Ausführungen bei V. Müller (Fn.  7 ), S.  52–62; suggestiv auch die das Pathos der Zeit widerspiegelnden Schilderungen der berühmten Ansicht von der Carl Tauchnitz-Brücke aus: „Beim Verglühen der Sonne, am dämmernden Abend wirkt dies herrliche Werk in einer unbeschreiblichen monumentalen Würde. Weithin die Leipziger Ebene beherrschend, bildet es ein Wahrzeichen nationaler Größe und Einheit, verkündet es sinnig, wie Macht nach außen durch das Reich, Recht nach innen durch das höchste Gericht hier wohnen“ (V. Müller, S.  46). 9   Vgl. bereits den so gut wie unbekannt gebliebenen Vortrag des angesehenen Leipziger Rechts­ historikers Otto Stobbe, Reichskammergericht und Reichsgericht aus dem Jahre 1878, in: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst, 8. Jg. 1878, Bd. II, S.  963–978, ebd. S.  976: „Am 1. October des kommenden Jahres soll das Gerichtsverfassungs­ gesetz in Kraft und das Reichsgericht ins Leben treten. Alle an dem betreffenden Tage beim Reichsoberhandelsgericht anhängigen Sachen gehen auf das Reichsgericht über; die Mitglieder des Reichsoberhandelsgerichts werden entweder beim Reichsgericht angestellt oder in den Ruhestand versetzt.“ S. §  19 des Einführungsgesetzes zum GVG, RGBl. 1877, S.  80. Zu Otto Stobbe auch Bernd Rüdiger Kern, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät, in: Sächsische Justizgeschichte (Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Bd. 3), 1994, S.  53–84 (68 f.). Die Übersicht bei Lobe (Fn.  6 ), S.  337 f. ergibt, dass von den 32 Mitgliedern des Reichsoberhandelsgerichts 20 Mitglieder „zum Reichsgericht übergetreten“ sind. Cum grano salis daher richtig, wenn es bei Meinhardt (Fn.  1), S.  145 heißt, das Reichsoberhandelsgericht sei mit dem Reichsgericht „vereinigt“ worden. Zum Bundesoberhandels­ gericht jetzt gut K. Müller (Fn.  4 ), S.  23 ff. 10  Antrittsrede des Präsidenten Dr. Simson bei Übernahme seines Amtes als erster Präsident des Reichsgerichts, in: DJZ 1929, coll. 1318 f. (1319), s. auch Wolff (Fn.  1), S.  156. 11   Vgl. DBE (Fn.  4 ) s.v. Simson, Bd. 9 (1998), S.  336. 4

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liche Gesetzbuch in Kraft, die reifste Frucht und das beste Erbe, das die jahrhundertealte Pandektenwissenschaft in akribischer Detailarbeit dem nun dreißigjährigen Deutschen Reich auf dem Gebiet des Privatrechts hinterlassen hatte. Es traf zu, was Paul Christian Henrici, bis 1891 Senatspräsident und Vorsitzender des III. Zivilsenats des Reichsgerichts, schon im Jahre 1896 als künftige Aufgabe des Reichsgerichts umrissen hatte, dass nämlich mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches nun für das Reichsgericht eine ebenso schwierige wie verantwortliche und einflussreiche Aufgabe erwachse: Das Leben mache bekanntlich mit der Neubildung unvorhergesehener Verhältnisse nicht vor dem geschriebenen Recht halt. „Zu der wichtigen Aufgabe, über einem richtigen Verständnis der Einzelbestimmungen zu wachen, kommt also noch die Sorge für eine gesunde Fortentwicklung des Rechts auf der gegebenen Grundlage“.12 Karl Adolf Lobe, auch er einst, bis 1928, Senatspräsident am Reichsgericht und lange Jahre Vorsitzender des I. Strafsenats, fasste es knapp zusammen: „Nun folgten ruhige Jahre ernster Arbeit“.13

3.  Karl Konrad Gutbrod Nach diesen jeweils über eine Dekade sich erstreckenden Präsidentschaften, die schon durch ihre Dauer eine zudem von äußeren Erschütterungen weitgehend unberührte höchstrichterliche Rechtsprechung begünstigten, folgte im Jahre 1903 mit Karl Konrad Gutbrod (1844–1905),14 dem einzigen Nichtpreußen unter den Reichsgerichtspräsidenten, ein Württemberger, dessen Tod am 17. April 1905 eine nur kurze Präsidentschaft beendete. Noch am 1. Oktober 1904 hatte Reichskanzler Fürst von Bülow aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Reichsgerichts in einem persönlichen Glückwunsch an Dr. Gutbrod geschrieben: „Am 1. Okt. sind 25 Jahre verflossen seit dem Tage, an welchem das RG als oberster Gerichts­ hof für das geeinte Deutschland seine Tätigkeit begann. (…) Ich freue mich, heute sagen zu können, daß das RG die damals gehegten Erwartungen erfüllt hat. Es hat sich das Ansehen zu verschaffen und zu erhalten gewußt, dessen der oberste Gerichtshof zu der ihm anvertrauten Wahrung der Reichseinheit bedarf. Noch in den jüngsten Jahren ist mit der Schaffung des einheitlichen bürgerlichen Rechts dem RG eine neue und große Aufgabe erwachsen. Ungeachtet schwerer Arbeitslast haben sich die Mitglieder des Gerichtshofes mit voller Hingebung dieser Aufgabe unterzogen. Ich darf es mit Genugtuung aussprechen, daß zum erheblichen 12  Vgl. Henrici, Die Ernennung der Mitglieder des Reichsgerichts, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Litteratur und Kunst 55 (1896), S.  489–495 (494). – Zu den verschiedenen, sich nun dem Reichsgericht stellenden Aufgaben vgl. auch Hellmuth von Weber, Rechtseinheit und Rechtsprechung, Tübingen 1929, insbes. S.  18 ff. 13   Lobe (Fn.  6 ), S.  10. 14   Zu Gutbrod s. die Angaben in: Biograph. Jahrbuch und Dt. Nekrolog, Bd. X (1907), Totenliste 1905, col.  177; K. Müller (o. Fn.  4), S.  121 f. Zeitgenössisch die Schilderung von Reichsgerichtsrat Eduard Müller, Die ersten fünfundzwanzig Jahre des Reichsgerichts, in: Sächsisches Archiv für Dt. Bürgerliches Recht, Beilageheft zu Bd. 14, Leipzig 1904, S.  1–55 (52 f.). – Das Adelsprädikat von Gutbrod habe ich nur gefunden in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde, 1905, Nekrolog des Jahres 1905 (Stuttgart 1906), p. II, und jetzt bei Frank Raberg, Karl Konrad von Gutbrod, Präsident des Reichsgerichts in Leipzig, in: Gerhard Taddey/Rainer Brüning (Hrsg.), Lebensbilder aus Baden-Württemberg. Bd. 23, Stuttgart 2010, S.  216–241, mit Literaturangaben auf S.  240 f.

Walter Simons und das Reichsgericht

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Teile der allerwärts anerkannten Rechtsprechung es der obersten Instanz zu danken ist, wenn der Übergang in das neue Recht sich ohne Schwierigkeiten vollzogen hat.“15

4.  Rudolf von Seckendorff Bereits am 1. Juni 1905 folgte mit Rudolf Daniel Freiherr von Seckendorff (1844–1932),16 einem gebürtigen Kölner, ein neuer Präsident Dr. Gutbrod nach.17 Er verband reiche politische Erfahrungen, erworben unter anderem als Staatsprokurator in den Reichslanden Elsaß-Lothringen und in zwanzigjähriger administrativer Tätigkeit im Reichs­ justizamt, das damals eine aus dem Reichskanzleramt hervorgegangenen Oberste Justizverwaltungsbehörde war, die erst im Jahre 1919 zu einem Reichsjustizministerium avancierte. Konsolidierung und Kontinuität seiner 14-jährigen Präsidentschaft (1905–1919), der zweitlängsten aller Reichsgerichtspräsidenten überhaupt, wurden auf das nachhaltigste erschüttert durch den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch des Kaiserreichs. Standen bei dieser Umwälzung des Staatswesens und mit ihr aller Institutionen entschieden politische Fragen im Vordergrund, die die tektonischen Verschiebungen aufgeworfen hatten und die besonders zügiger und zupackender politischer Lösungen bedurften, so ging damit auch – nicht weniger dringlich – eine juristische Frage von größter Tragweite einher, wie rechtlich eine solche Umwälzung zu werten war. Diese Frage stellte sich für das Reichsgericht zum einen in seiner nicht nur repräsentativen Vertretung der Judikative durch von Seckendorff nach außen, sondern konkretisierte sich zum anderen auch in der Judikatur in mehreren Einzelentscheidungen dahin, wie sich das höchste deutsche Gericht – unter der Ägide Seckendorffs – zur neuen Republik stellte, d.h. wie es die Rechtslage beurteilte. Zehn Jahre nach der Ära Seckendorff und zehn Jahre nach dem Untergang des Kaiserreichs war es ein ande­rer Reichsgerichtspräsident, Walter Simons, der im Jahre 1929 hervorhob, dass es Seckendorff zu danken sei, „der nach der Revolution das Reichsgericht zur Anerkennung der neuen Reichsgewalt zu führen verstand und damit dem Rechtsboden, auf dem das deutsche Volk sich die neue Verfassung gestalten konnte, erst die erforderliche Solidität verlieh.“18   Lobe (Fn.  6 ), S.  10.   Eine detailreiche, ausführliche Schilderung des Lebensweges findet sich in der Traueransprache, die der letzte Präsident des Reichsgerichts, Erwin Bumke, am 22. November 1932 in der großen Halle des Reichsgerichts hielt: Rudolf Freiherrn von Seckendorff zum Gedächtnis. Reden bei der Gedenkfeier im Reichsgericht zu Leipzig (als Handschrift gedruckt Leipzig 1932), dort auch eingehend zu seinem Wirken im Reichsjustizamt und als Unterstaatssekretär im Preußischen Staatsministerium (S.  6 ff.). S. im Übrigen Lobe (Fn.  6 ), S.  11–13. Zuletzt Thomas Henne, sub voce: Seckendorff, in: NDB 24 (2010), S.  121 f. 17  Über das exakte Ernennungsdatum finden sich widersprüchliche Angaben, s. Schaaf bei Lobe (Fn.  6 ), S.  339, sowie Walter Simons, in: F. Stier-Somlo/A. Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. V, 1928, s.v. Reichsgericht, S.  2 einerseits, K. Müller (Fn.  4 ), S.  123 andererseits. Möglicherweise ist das bei Müller genannte Datum des 20. April 1905 dasjenige der Aushändigung der Urkunde gewesen, die die Ernennung zum 1. Juni 1905 wirksam werden ließ. 18   W. Simons, Das Reichsgericht, in: Julius Magnus (Hrsg.), Die höchsten Gerichte der Welt, 1929, S.  3 –28 (27). 15 16

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Die Frage stellte sich mit juristischer Brisanz auch unmittelbar in der Rechtsprechung: So hatte der II. Strafsenat des Reichsgerichts unter dem Vorsitz des späteren Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer (1858–1933)19 über einen Sachverhalt zu befinden, der sich in den Januartagen des Jahres 1919 abspielte, als das Kaiserreich nicht mehr existierte, die Weimarer Verfassung noch nicht in Kraft, die Republik aber ausgerufen war. Mit Urteil vom 4. April 1919 führte der Senat aus: „Der Kampf um die politische Macht war zu der in Frage kommenden Zeit sowohl im Reich wie in den deutschen Bundesstaaten bereits zu einem gewissen Abschlusse gelangt. Nach der Verdrängung der Bundesfürsten war die oberste Staatsgewalt auf einen Rat der Volksbeauftragten übergegangen, in dessen Händen sich seitdem die gesamten Machtmittel des Reiches vereinigten und der auch gewillt war, sich ihrer zur Ausübung der Regierung zu bedienen. Die Volksregierung hatte sich bis dahin überall durchzusetzen und mit Hilfe der ihr zu Gebote stehenden Machtmittel auch die vereinzelten Angriffe widerstrebender Volksgruppen mit Erfolg abzuwehren vermocht. Das reicht aus, ihrer tatsächlich geübten Herrschaft die rechtliche Anerkennung zu sichern.“20

Hiermit war ein wichtiger Standpunkt gewonnen, der alles andere als selbstverständlich war. Es wurde nämlich auch die Auffassung vertreten, die neue Republik entbehre der Merkmale des Rechtsstaates, weil sie und ihre nur wenig später in Kraft getretene Verfassung aus einer Revolution hervorgegangen seien, der neuen Ordnung mithin die Legitimität fehle. Umso bedeutsamer war es, dass auch die Zivilrechtsprechung des Reichsgerichts inzwischen mehrere Entscheidungen von Straf­ senaten 21 aufgegriffen und nur wenig später mit Urteil des III. Zivilsenats vom 8. Juli 1920 präzisiert hatte: „Der durch die Umwälzung geschaffenen neuen Staatsgewalt kann die staatsrechtliche Anerkennung nicht versagt werden. Die Rechtswidrigkeit ihrer Begründung steht dem nicht ­entgegen, weil die Rechtmäßigkeit der Begründung kein wesentliches Merkmal der Staats­ gewalt ist.“22

Dieser bedeutsame Schritt der höchstrichterlichen Rechtsprechung trug entscheidend dazu bei, die Unsicherheit über eine Frage von unabsehbarer Tragweite auszuräumen. Die nüchternen Ausführungen des angesehenen Kölner Staatsrechtlehrers Fritz Stier-Somlo (1873–1932) lassen bereits zehn Jahre später nicht mehr erahnen, welch schwankenden Boden das Reichsgericht betreten und stabilisiert hatte, als er der Rechtsprechung die Wissenschaft an die Seite gestellt und ausgeführt hatte, die Wissenschaft vertrete „heute wohl unbestritten“ die Meinung, dass Legitimität kein 19   Einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise – nicht nur in die formellen Arbeitsabläufe – des Reichsgerichts, in seine Wirkungsmöglichkeiten über die Rechtsprechung hinaus, in seine innere Atmosphäre und äußere Autorität, in seine Befassung mit tagespolitischen Fragen, soweit sie vor allem in der Strafjustiz das Reichsgericht erreichten, gewähren die zum Teil sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen Ebermayers, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig/Zürich 1930, insbes. S.  54 ff., 93–141, zu seiner Tätigkeit als Oberreichsanwalt S.  142–201. Stärker auf die spezifisch juristischen Aspekte seiner Lauf bahn konzentriert sich Ebermayers Autobiographie (mit eigenem Schriftenverzeichnis vor allem aus dem Bereich des Strafrechts) in: Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I, Leipzig 1924, S.  25–57. 20   RGSt 53, 65–68 (65 f.) (1920). 21   Auf sie wird in RGZ 100, 27 (1921) ausdrücklich Bezug genommen. 22   RGZ 100, 25–28 (27) (1921).

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Merkmal der Staatsgewalt, d.h. es rechtlich belanglos sei, ob die neue Staatsgewalt vom Standpunkt des bisherigen Rechts aus legitim sei oder nicht. Sie brauche nicht notwendig auf dem Wege des Rechts entstanden zu sein, zur Rechtsverwirklichung sei die die tatsächliche Macht besitzende Staatsgewalt befugt.23 In ihrer Trockenheit kontrastieren diese Ausführungen stark einer Schilderung von Adolf Lobe. Er berichtet, dass Reichsgerichtspräsident von Seckendorff am 1. Ok­ to­ber 1919 nicht nur die Mitglieder des Reichsgerichts, sondern auch der Reichsanwaltschaft und der Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht in die Festräume seiner im Reichsgerichtsgebäude gelegenen Wohnung gebeten und dort eine ergreifende Ansprache gehalten habe. Unter anderem habe er ausgeführt, dass der Krieg zwar zu Ende, ein rechtsgültiger Frieden aber noch immer nicht gekommen sei. Was die Zukunft dem Reichsgericht bringen werde, sei ebenso dunkel wie die Frage, welche Neugestaltung und Entwicklung sich für das Deutsche Reich und Volk aus dem gegenwärtigen Chaos ergeben werde. Fest und zuversichtlich dürfe aber darauf vertraut werden, dass der höchste Gerichtshof, wenn er nicht in seiner bewährten Verfassung und seiner ruhigen Tätigkeit durch raue Hand gestört werde, auch künftig – unbeirrt von den politischen Strömungen des Tages – in allen Wirrnissen und Kämpfen einen festen Pol bilden werde, der die unparteiische, furchtlose Pflege von Recht und Gerechtigkeit auch im neuen Reich verbürge.24 Dies spiegelt plastisch die Stimmung und Einschätzung jener Tage wider, der der Reichsgerichtspräsident im Jahre 1919 Ausdruck verlieh. Der spätere Präsident des Reichsgerichts Walter Simons, der zu jener Zeit, im Jahre 1919, als enger Mitarbeiter Ulrich von Brockdorff-Rantzaus, Generalkommissar der deutschen Friedensdelegation in Versailles war,25 fasste es rückblickend, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verdienste seines Vorvorgängers, wie folgt zusammen, indem er seinen eigenen Rechts­standpunkt nicht vorenthielt: „Ablehnen möchte ich von vornherein die konservative legitimistische Auffassung, daß Deutschland kein Rechtsstaat sei, weil die Weimarer Verfassung auf der Revolution beruht. Viele gute Deutsche finden in diesem Bruch mit dem alten Recht einen Makel, der die Weimarer Verfassung dauernd entwerte. Auch im deutschen Richterstand ist diese Auffassung vereinzelt vorhanden, und angesehene Rechtslehrer deutsch-nationaler Parteirichtung vertreten sie öffentlich. Dagegen hat das Reichsgericht von vornherein in entgegengesetztem Sinne Stellung genommen. Alsbald nach dem Umsturz, vor dem Erlaß der Weimarer Verfassung, ja vor dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919, mußte es sich darüber entscheiden, ob die neuen Gewalten, die seit dem 9. November 1918 in Deutschland zur Macht gelangt waren, zu Recht bestanden oder nicht, und zwar im Reich wie in den 23   S. Stier-Somlo, Das Reichsgericht und der Reichsverfassungsabschnitt „Reich und Länder“, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Bd. I, 1929, S.  201–232 (203). Noch im Jahre 1925 hieß es bei Walter Jellinek, Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Länder (Teubners Handbuch der Staats- und Wirtschaftskunde, Abt.  1, Bd. II, (2), S.  15) bei der Erörterung der Frage der Rechtsgültigkeit der neuen Verfassung, es sei zwar ganz gleichgültig, wie eine neue Staatsgewalt entstehe, sobald eine, wenn auch revolutionär entstandene, ursprüngliche Gewalt da sei, sei auch sie Staatsgewalt und anzuerkennen, „doch bleibt ein Stachel zurück (…) Die Reichsbeamten hatten doch dem Kaiser Treue geschworen, und nun verließen sie ihn und gehorchten den neuen Machthabern.“ 24   Lobe (Fn.  6 ), S.  12 f. 25   DBE (Fn.  4 ), Bd. 9, 1998, S.  335; Kosch (Fn.  4 ), S.  1111.

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Ländern, insbesondere in Preußen. Das Reichsgericht, damals geleitet von dem verdienten Präsidenten Freiherrn von Seckendorff, einem Mann, dem niemand Mißachtung des legitimen Rechts oder Neuerungssucht vorwerfen wird, hat sich dahin entschieden, daß die Regierung ihren Bestand zwar einer gewaltigen Umwälzung verdanke, sich aber mit Erfolg in ihrer Machtstellung behauptet habe und daher staatsrechtlich anzuerkennen sei. Das Reichsgericht hat damit das reine Legitimitätsprinzip abgelehnt und bei Anerkennung der neuen Regierung dieselben Grundsätze angewandt, die auch völkerrechtlich die Anerkennung eines neuen Staates beherrschen.“26

5.  Heinrich Delbrück Als erster Reichsgerichtspräsident in der neuen Republik trat Heinrich Ludwig Delbrück (1855–1922), noch im Dezember 1919 ernannt, zu Beginn des Jahres 1920 sein Amt an.27 Auch er besaß, wie zuvor schon Seckendorff, reiche Ministerialerfahrung, war gleich ihm aus dem Reichsjustizamt hervorgegangen, hatte dort zuletzt, seit 1917, das Amt eines Unterstaatssekretärs bekleidet und war „besonders auf dem Gebiete des deutschen Verfassungsrechts tätig“ gewesen.28 Neben dem zu Recht im Schrifttum immer wieder betonten Einfluss, den Hugo Preuß (1860–1925) 29 auf die Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung genommen hat – von ihm stammt der Entwurf einer republikanischen Reichsverfassung mit starken unitarischen Elementen –, ist die Würdigung des Anteils, der Delbrück daran zukommt, zu Unrecht in den Hintergrund getreten.30 Delbrücks Nachfolger hebt ihn treffend hervor,31 und es ist nicht zu viel gesagt, wenn Georg Kotowski in der Neuen Deutschen Biographie feststellt, dass Delbrück an der Fertigstellung der Ver  Simons, Reichsverfassung und Rechtsprechung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 81 (1926), S.  385–409 (390 f.). 27   S. DJZ 1922, coll. 498, 499; Neue Deutsche Biographie, Bd. III, 1957, S.  578 f.; besonders aber Walter Simons, in: Dt. Biographisches Jahrbuch, Bd. IV: Das Jahr 1922, Berlin 1929, S.  29–31. Einen Auszug aus der Rede, die Delbrück anlässlich des Besuchs von Reichspräsident Ebert hielt, gibt DJZ 1922, col.  233, wieder, dort auch (coll. 233, 234) Auszüge aus der Antwort des Reichspräsidenten. 28   Simons (Fn.  27), S.  30. 29   Die bekannte Schrift von Carl Schmitt: Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der dt. Staatslehre, Tübingen 1930, stellt nicht den Anfang, sondern das Ende der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Preuß dar. Zuvor schon bemerkenswert Gustav Schmoller, Walter Rathenau und Hugo Preuß, die Staatsmänner des Neuen Deutschland, München 1922; Ernst Feder, Hugo Preuß, Berlin 1926; fast gleichzeitig mit Schmitts Schrift die eingehende Darstellung von Walter Simons: Hugo Preuß (Meister des Rechts, hrsgg., von S. Schultzenstein, Bd. 6), Berlin 1930 – Aus der neueren Literatur etwa Gustav Schmidt, Hugo Preuß, in: Deutsche Historiker Bd. VII, 1980, S.  55–68 und Arndt Faatz, Hugo Preuß (1860–1925), in: M. Fröhlich (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, 2002, S.  15–26, auf Grundlage seiner Diss. iur. 1999 (Univ. Trier): Hugo Preuß, Die Entwicklung eines Strukturprinzips für den modernen Staat. Umfassend jetzt Detlef Lehnert, Hugo Preuß, Genealogie eines modernen Preußen, Köln u.a. 2011, m.w.N. 30   Simons (Fn.  27), S.  31: „Seine großen Verdienste blieben in weiten Kreisen unbekannt.“ 31   Simons (Fn.  27), S.  30: In der Stellung des Unterstaatssekretärs „hatte er die gesamte Kriegsrechtsordnung, die Aufrechterhaltung und Neugestaltung der Rechtsordnung während des Umsturzes und schließlich die Schöpfung des neuen Weimarer Verfassungsrechts zu überwachen. Unter Beihilfe des Staatssekretärs Dr. Zweigert (gest. 1923) hat er sich während der Tagung der Nationalversammlung in Weimar um die Neuordnung der Reichsverfassung in hohem Maße verdient gemacht.“ 26

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fassung von 1919 „hervorragend“ beteiligt war.32 Walter Simons, der Delbrück noch aus gemeinsamer Zeit im Reichsjustizamt kannte, weist auf die Unbestechlichkeit seines Charakters, gepaart mit Pflichttreue und Zurückhaltung, hin,33 und an anderer Stelle nennt er ihn einen „Beamten vom alten Schrot und Korn, der es dennoch verstand, in einer neuen Umwelt das Vertrauen nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch des ersten Reichspräsidenten Ebert in hohem Maße zu erwerben.“34 Dieser dankte es ihm mit der Berufung an die Spitze des Reichsgerichts. Indessen war Delbrück, hierin Gutbrod vergleichbar, nur eine kurze Zeit am Reichsgericht beschieden, „er starb in den Sielen“.35

II.  Das geistige Umfeld zur Zeit der Ernennung von Walter Simons 1.  Stimmen aus nichtjuristischen Disziplinen Wenige Tage nach Delbrücks Tod (3. Juli 1922) ernannte Reichspräsident Ebert Walter Simons (1861–1937)36 zum Reichsgerichtspräsidenten.37 Er trat am 16. Oktober 1922 das Amt zu einer Zeit an, in der sich die neue Republik in innen- und außenpolitisch sehr schwieriger Lage befand, in der sich die wirtschaftlichen und finan­ ziellen Probleme – insbesondere infolge des Versailler Vertrages und der immensen Reparationsforderungen – häuften und nicht selten unbeherrschbar schienen und waren. Das später, in großem zeitlichem Abstand, oftmals mit hoher Kompetenz gezeichnete gesellschaftlich-politisch-wissenschaftliche Beziehungsgeflecht 38 soll hier um einige weniger bekannte Äußerungen aus damaligen, zeitgenössischen Wissenschaftsdisziplinen ergänzt werden, um anzudeuten, in welch komplexes Umfeld sich der neue Reichsgerichtspräsident gestellt sah, der nunmehr, von der aktiven Politik als Reichsaußenminister kommend, wieder stärker mit der Wissenschaft in Berührung kam. Namhafte zeitgenössische Historiker, von denen als besonders prominenter Vertreter Friedrich Meinecke (1862–1954) zu nennen ist, verliehen der Situation beredten   NDB (Fn.  27), S.  579.   Simons (Fn.  27), S.  31. 34   Simons, in: Magnus (Fn.  18), S.  27. 35   Simons (Fn.  27), S.  31. Dort auch Wiedergabe einer Würdigung, die Ebert Delbrück zuteil werden ließ. 36   Eine sehr gute Würdigung von Simons aus nichtjuristischer Sicht bietet das detailreiche Werk von Horst Gründer, Walter Simons als Staatsmann, Jurist und Kirchenpolitiker (Bergische Forschungen Bd. XIII), 1975, das für jede Beschäftigung mit der Person Simons’ grundlegend ist. Daneben unverzichtbar aber noch immer die biographische Skizze von Ernst Rudolf Huber, Walter Simons 1861–1937, in: Wuppertaler Biographien, 9. Folge (1970), S.  61–79; früher bereits Ferdinand Friedensburg, Walter Simons, in: Berliner Monatshefte. Zeitschrift für Neueste Geschichte, 15 (1937), S.  785–792, jetzt auch H. Gründer, Walter Simons (1861–1937), in: M. Fröhlich (Hrsg.), (Fn.  29). Meist übersehen wird der gehaltvolle Nachruf von Hans Wehberg auf Walter Simons, in: Die Friedens-Warte, 37 (1937), S.  193– 195 (Den Hinweis auf diesen Nekrolog verdanke ich Professor Bardo Fassbender, Universität St. Gallen). S. ferner NDB 24 (2010), 441–443 (Martin Otto). 37   Lobe (Fn.  6 ), S.  14. Die Ernennung erfolgte am 18. Juli 1922. 38  Vorzüglich Oliver Lepsius, Die gegensatzauf hebende Begriffsbildung, München 1994. 32 33

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Ausdruck. In seinen „Osterbetrachtungen“ aus dem März 1921 weicht sonst so nüchterne Betrachtung moralischem Appell: „Weil wir den allerschwersten Belastungen unseres wirtschaftlichen und politischen Daseins entgegenzusehen haben, kommt jetzt alles darauf an, daß wir ein höchstes Maß von moralischer und geistiger Widerstandskraft in uns entwickeln.“39

Die Republik und mit ihr das parlamentarische System stießen auf zum Teil tief sitzende Vorbehalte und Ablehnung auch und gerade in weiten Teilen der Wissenschaft. Meineckes Ausführungen zur „plebiszitären Ersatzmonarchie“40 sind, bei allen Unterschieden im übrigen, die eines anderen Granden der historischen Wissenschaft, Georg von Belows (1858–1927), an die Seite zu stellen, der eine nicht minder scharfe Klinge focht und im Jahre 1922 – als Walter Simons an die Spitze des Reichsgerichts trat –, fast lakonisch ausführte: „Unsere Verfassungsverhältnisse sind hilflos. Mit außerordentlicher Schnelligkeit hat sich die Überzeugung eingestellt, daß dem rein demokratischen Parlament ein andersartiges zur Seite gestellt werden muß“.41

Bedeutende Vertreter der Nationalökonomie sekundierten und erstreckten stechende Kritik an der Legislative auf die Exekutive. Der einflussreiche, seit 1921 in München lehrende Nationalökonom Adolf Weber (1876–1963) führt im Jahre 1925 aus: „Dem Versuche der öffentlichen Gewalt, die Volkswirtschaft zu meistern, verdanken wir eine Wirtschaftspolitik, die in den Jahren 1918 bis 1923 dem deutschen Volke und der deutschen Wirtschaft fast mehr Schaden zugefügt hat als selbst das Diktat von Versailles, das auch seinerseits für alle Zeiten ein entsetzliches Beweisdokument für den Irrwahn moderner Staatmänner ist, wirtschaftliche Wiedergutmachungen durch ein `sic volo, sic iubeo´ erzwingen zu können.“42

Im selben Jahre 1925 bewertete der nur wenig ältere Kollege Adolf Webers, Alfred Weber (1868–1958), der Bruder Max Webers, die Lage nach dem I. Weltkrieg und in der neuen Republik, die in ein nicht nur materiell aus der Verankerung gerissenes Europa eingebettet war, illusionslos so: Man habe noch fünf Jahre lang in dem zum Halbleichnam gewordenen Europa weiter herumgewühlt, vor allem, damit sein zusammengebrochenes, aber unentbehrliches deutsches Zentrum nicht wieder zu Kräften komme. Es sei ein Pestgeruch gegenseitigen Hasses zurückgeblieben, wie ihn noch keine Periode europäischer Geschichte vorher gekannt habe. Und dieser sei trotz aller neuesten Versuche, ihn etwas wegzublasen, noch lange nicht verflogen und könne es nach der Lage, die herrsche, auch noch nicht sein. Es liege eine Situation vor, und sie werde wohl noch ziemlich lange währen, in welcher, unbeschadet aller 39   Osterbetrachtungen, jetzt in: Meinecke, Politische Schriften und Reden (= Werke, Bd. II), 4.  Aufl. 1979, S.  314–319 (315), ebd. S.  314: „Das äußere Weltenschicksal verhält sich stumm und starr zu unserer Not.“ S.  317 heißt es von Simons, „… in dem wir überhaupt den eigentlich leitenden Mann, den sachlichsten, ernstesten und edelsten Vertreter dessen, was Deutschland heute darstellt und wollen muß, sehen und begrüßen.“ 40   Hierzu gut Gustav Schmidt, Deutscher Historismus und der Übergang zur parlamentarischen Demokratie (= Histor. Studien 389), 1964, S.  163–166. 41   v. Below, Deutsche Reichspolitik einst und jetzt (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 23), 1922, S.  45. 42   Adolf Weber, Wirtschaft und Politik, 1925, S.  20.

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gut gemeinten und in jeder Weise zu unterstützenden Rekonstruktionstätigkeit der neuesten Zeit, die doch hoffentlich wenigstens äußerlich Ruhe schaffen wird, in Europa innerlich doch alles, vorzüglich alles Politische problematisch sei. Man könne ruhig sagen, dass zurzeit das Problematische das einzige ganz Sichere am Europäischen darstelle.43

2.  Weimarer Reichsverfassung und Parlamentarismus Was die Kritik an der Weimarer Verfassung und an dem durch sie konstituierten Staat betrifft, an seinem „Parlamentarismus“, so hatte sie beim Amtsantritt Simons’ am Reichsgericht längst auch die Staatsrechtslehre jener Zeit erreicht. Außer den bekannten Namen sei hier der zu Unrecht mitunter übergangene, obgleich publizistisch stark hervorgetretene Bonner Staats- und Völkerrechtler Philipp Zorn (1850– 1928) erwähnt,44 der als wissenschaftlicher Delegierter des Deutschen Reiches an den beiden Haager Friedenskonferenzen teilgenommen hatte und dadurch in enge Berührung mit der Politik getreten war.45 Seine Stimme hatte daher in Wissenschaft und Politik erhebliches Gewicht und wirkte in beide Bereiche hinein, als er im Jahre 1921 beißende Kritik am „Parlamentarismus“ mit Einwänden gegen das allgemeine Wahlrecht verband und ausführte: „Der Parlamentarismus ist angelsächsisch-romanische Staatsweisheit und für uns Deutsche das Erzeugnis einer fremden und uns nicht angeborenen Gedankenwelt. Das allgemeine Wahlrecht insonderheit wird immerdar an dem Fehler der Grundvoraussetzung kranken, daß die Menschen eben nicht gleich sind und nicht gleich sein können, daß demnach logisch auch ihr Wert für den Staat und ihre Teilnahme an den Dingen des Staates nicht gleich sein kann; ich darf darauf verzichten, alle Momente der Ungleichheit aufzählen zu wollen, die die einzelnen Menschen auch für das Staatsleben zu ungleichartigen Größen machen. Leugnen kann diese Ungleichheit niemand. Zudem wird kein ruhiger Beobachter und insbesondere kein ehrlicher Teilnehmer an den parlamentarischen Geschäften in Abrede stellen, daß in der Art des Betriebes der parlamentarischen Geschäfte ein großes, ja vielfach ungeheuerliches Maß von Zeit-, Geld- und Kraftvergeudung liegt; in den Ausschüssen zwar wird wirklich gearbeitet, die großen parlamentarischen Verhandlungen aber mit ihren vorbereiteten, oft ins endlose ausgesponnenen Reden zum Fenster hinaus sind doch vielfach nichts als rednerisches Schaugepränge. (…) So ist der Glaube an die allseligmachende Kraft des Parlamentarismus bei uns wie auch anderwärts in der Welt offenbar im Schwinden, so ungebärdig gerade im  So Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, 1925, S.  110.   Sehr aufschlussreich seine Autobiographie in: Planitz (Fn.  19), S.  215–236 mit Schriftenverzeichnis S.  236. Ferner: Zorn, Aus einem deutschen Universitätsleben, Bonn 1927. Am bekanntesten wohl sein zweibändiges Lehrbuch des dt. Reichsstaatsrechts, 2.  Aufl. Berlin 1895/97; seinerzeit viel zitiert auch: Deutsche Reichsverfassung, 3.  Aufl. Leipzig 1918. Eine Würdigung von Zorn gibt jetzt die von Peter Landau betreute Dissertation von Julia Schmidt, Konservative Staatsrechtslehre und Friedenspolitik. Leben und Werk Philipp Zorns, Ebelsbach 2000. 45   „Wie wenige Staatsrechtslehrer seiner Zeit suchte er die dynamischen Faktoren des Staatslebens aufzuweisen, ohne von der grundsätzlichen Sonderung von Staatsrecht und Politik abzugehen“, so sein Schüler, der Völkerrechtler Heinrich Pohl (1883–1931), Philipp Zorn als Forscher, Lehrer und Politiker, Tübingen 1928, S.  26. Zu Pohl im Übrigen DBE Bd. 8 (1998), S.  18. – Wegen Zorns „Weigerung, einen Befehl des Auswärtigen Amts auszuführen, konnte letztendlich ein Scheitern der ersten Haager Friedenskonferenz verhindert werden.“ J. Schmidt (Fn.  4 4), S.  266. 43

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gegenwärtigen Momente parlamentarische Kräfte auch bei uns die Oberherrschaft, um nicht zu sagen die Alleinherrschaft, im Staate anstreben.“46

Hatte sich noch im Bismarckreich die Staatsrechtslehre von theoretischen Entwürfen eines Idealstaates zu entfernen begonnen, in denen sie vordem ihr Hauptbetätigungsfeld erblickt hatte und es sodann – politisch wirkungslos – als ihre Aufgabe beschrieben, „den historisch gewordenen Staat zu verstehen“,47 so war ihr zu Zeiten der Re­ pu­blik eine vorherrschende Blickrichtung verloren gegangen: sie war durch das Prisma eines politisch-wirtschaftlichen Kraftfeldes gefallen, oszillierte fortan zwischen politischer Abstinenz und starkem Engagement und öffnete sich hier auch, bei gleichzeitigem Erstarken des Nationalitätsgedankens, nationalökonomischen Gedankengängen. Der vom Auswärtigen Amt als Berater bald für unverzichtbar gehaltene Nationalökonom und „Reparationsexperte“ Moritz Julius Bonn (1873–1965),48 der in der Amtszeit von Walter Simons als Reichsaußenminister (20.06.1920 bis 04.05.1921) zu diesem in nahe dienstliche Berührung trat49 und „neben“ der Staatsgewalt eine konzentrierte Wirtschaftsmacht festgestellt hatte,50 warnte im Jahre 1921 vor einer Gleichsetzung von Parlamentarismus und Demokratie: „Man verwechselt (…) Parlamentarismus und Demokratie. Die glänzendsten Tage des Parlamentarismus waren wohl die Zeit des sehr beschränkten Wahlrechts, als in den Parlamenten nur eine Minderheit vertreten war und ein Mehrheitswillen des Volkes in ihnen gar nicht zum Ausdruck kommen konnte. Der Parlamentarismus ist in letzter Linie nur eine Methode: die Methode, die Entscheidung in den öffentlichen Dingen durch Aussprache und Verhandlung herbeizuführen.“51

46   Philipp Zorn, Der deutsche Staatsgedanke, Leipzig 1921, S.  76 f. Es kann hiernach nicht wundernehmen, dass Pohl (Fn.  45), S.  52 seinen Lehrer Zorn einen „Monarchisten bis auf die Knochen“ nennt. 47   Zorn in einer Rede aus dem Jahre 1886, Das alte und das neue Reich, in: ders., Im Neuen Reich. Reden und Aufsätze zur preußisch-deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Bonn 1902, S.  1–21 (6): „Die Theorie des Staatsrechtes und der Staatswissenschaften hat es früher wohl als ihre Hauptaufgabe betrachtet, den besten Staat in Gedanken auszuhecken und möglichst wohl formulierte Ratschläge für die Verwirklichung dieser Gedanken vom besten Staate in Deutschland zu erteilen. Die Theorie hat damit wenig Erfolg erzielt; die guten Ratschläge über den besten deutschen Staat waren für die Praxis ziemlich unverwertbar, und der deutsche Staat der Wirklichkeit, wie ihn dann das preußische Schwert und die preußische Staatskunst schufen, entsprach nicht dem Ideale der Theorie. Aber heute hat man es doch endlich erkannt: die staatsrechtliche Theorie hat nicht die Aufgabe, über einen Idealstaat zu phantasieren und zu philosophieren, sondern: den historisch gewordenen Staat zu verstehen.“ 48  Siehe W. Benz/H. Graml (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, 1988, sub voce Moritz Julius Bonn, S.  34 (W. Michalka). 49   M. J. Bonn, So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens, München 1953, S.  244–253. 50   M. J. Bonn, Die Auflösung des modernen Staats, Berlin, 1921, S.  15. 51   Bonn (Fn.  50), S.  25. Die Aussage ist in ihrem sachlichen Gehalt zwar nicht völlig unzutreffend – ihr widmet nur wenig später Hans Kelsen (1881–1973) eine eigene Schrift „Das Problem des Parlamentarismus“, Wien/Leipzig 1925 –, die Diktion jedoch, die einseitige Zuspitzung in ihrem zweiten Teil und die Einbettung in den Gesamtzusammenhang der Ausführungen verdeutlichen aber, dass sie tendenziös, als Skepsis gegenüber dem parlamentarischen Gedanken, aufzufassen ist. Otto Koellreutter hat im Jahre 1927 ausgeführt, „daß der Parlamentarismus nur aufrechterhalten werden kann, wenn er seine Funktionen, vor allem die der Regierungsbildung und die einer gewissen Stabilität der Regierung auch wirklich erfüllen kann“, Koellreutter, Der deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, Tübingen 1927, S.  29. – Zum Problemkreis umfassend Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2.  Aufl. Berlin 1926.

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Was Kurt Wolzendorff schon im Jahre 1917, also noch im Kaiserreich und während des Weltkrieges, angesprochen hatte, die „Herstellung festerer Verbindung der politischen Wirklichkeit mit der politischen Theorie, des ideellen Gehalts der Staatsordnung mit dem Volksbewußtsein“,52 war in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als bei aufgeheiztem politisch-gesellschaftlichem Klima sogar in der Wissenschaftssprache kräftige Farbgebungen prävalierten und auch die Staatsrechtslehre Superlative nicht scheute,53 in weite, „ideelle“ Ferne gerückt. Als nun im Oktober des Jahres 1922 – fast zeitgleich mit Simons’ Amtsantritt am Reichsgericht – die „Deutsche Hochschule für Politik“ in Berlin ihre zweite Jahresfeier beging, hielt dort in Gegenwart des Reichspräsidenten, zahlreicher Vertreter der Reichs- und Staatsministerien, der Wissenschaft, Politik und Wirtschaft in der großen Aula Ernst Troeltsch (1865–1923), der profund gebildete Philosoph, Theologe und Historiker, der neben reicher Lehrtätigkeit auch erhebliche politische Erfahrung besaß,54 den Festvortrag über das Thema „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“.55 Er durfte sich großer Resonanz eines solchen Auditoriums sicher sein, wenn er diesem, die Zeitverhältnisse unter die Lupe nehmend, gleichsam den Spiegel vorhielt. Er beschrieb prägnant die Zerrissenheit von Wissenschaft und öffentlicher Meinung, die dominierend das politische Denken ergriffen hatte, und unterzog die Lage einer tiefdringenden Analyse. Die außerordentliche Heterogenität politischer Anschauungen, die von dort aus in alle Wissensbereiche wieder zurückströmte und die er, selbst im Strom stehend, dennoch schon als Aporien des Äons zu begreifen vermochte, umriss Troeltsch wie folgt: „Das deutsche politische Denken ist (…) von einer seltsamen Zwiespältigkeit, die jedem Draußenstehenden auffällt: einerseits erfüllt von den Resten der Romantik und von sublimer Geistigkeit, andererseits realistisch bis zum Zynismus und zur vollen Gleichgültigkeit gegen allen Geist und alle Moral, vor allem aber geneigt, beides merkwürdig zu mischen, die Romantik zu brutalisieren und den Zynismus zu romantisieren.“56

Die auffallend kongruente Wertung, die ziemlich genau 40 Jahre später vorgenommen wurde, nimmt sich fast wie ein über große Distanzen nachhallendes Echo aus: „Die Weimarer Republik erlebte einen Ansturm des Geistes gegen die politische und soziale Wirklichkeit, wie ihn kaum eine andere Phase der deutschen Geschichte verzeichnet. Selten erreicht der Anspruch des Geistes, sich über die platte Realität zu erheben, eine solche Verstiegenheit, eine so schonungslose Radikalität.“57   K. Wolzendorff, Vom deutschen Staat und seinem Recht, Leipzig 1917, S.  103 (Hervorhebung B.M.). 53   Der Frankfurter Staatsrechtler Friedrich Giese etwa beendete seine Preußische Rechtsgeschichte mit einer Eloge auf das preußische Staatswesen: „Als leuchtendes Vorbild praktischer Staats- und Verwaltungskunst und als vollendeter Typus monarchischer Staatsform und absolut – wie konstitutionell-monarchischer Regierungsweise wird es unsterblich fortleben“, Giese, Preußische Rechtsgeschichte, Berlin 1920, S.  256. Giese eignete dieses Werk Philipp Zorn zu und schloss mit den vorstehenden Worten, nachdem er soeben Preußens „weltgeschichtliche Mission“ (S.  256) hervorgehoben hatte (Hervorhebungen B.M.). 54   Troeltsch war Mitbegründer der DDP und in den Jahren 1919–1921 Unterstaatssekretär für evangelische Angelegenheiten im Preußischen Ministerium für Erziehung und Unterricht gewesen. 55   Erschienen in Troeltschs Todesjahr, Berlin 1923. 56   Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, 1923, S.  16. 57   Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 1962, S.  391. 52

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Dies war die Lage, in der Walter Simons im Oktober 1922 – im selben Monat, als Troeltsch den genannten Vortrag hielt – an die Spitze des Reichsgerichts trat.

III.  Simons’ Werdegang und sein Wirken als Außenminister 1.  Sein Wirken insbesondere in der Reichskanzlei Simons hatte, am 24. September 1861 in Elberfeld geboren, neben den Rechtswissen­ schaften auch Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie in Straßburg, Leipzig und Bonn studiert und zunächst die Richterlauf bahn eingeschlagen, die ihn schließlich, nach Richterstellen in Velbert und Meiningen, im Jahre 1905 ans Oberlandesgericht in Kiel geführt hatte.58. Doch schon bald, im Jahre 1907, wechselte er von dort ins Reichsjustizamt,59 bevor er in der Stellung eines Vortragenden Rates im Jahre 1911 in die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes übertrat.60 Am 4. Oktober 1918 wurde Simons unter der soeben gebildeten Regierung des letzten kaiserlichen Reichskanzlers, des Prinzen Max von Baden, unter Ablehnung der ihm angetragenen Stellung eines Chefs der Reichskanzlei, dort Ministerialdirektor. Besonders bezeichnend ist die Schilderung, die der Reichskanzler selbst gab. Er habe darauf bestanden, „Simons in die Reichskanzlei zu berufen. Die Stellung des Chefs lehnte er allerdings ab. Ich bot diesen Posten Exzellenz Wahnschaffe an, der unter Bethmann die Reichskanzlei geleitet hatte. Er nahm die Berufung an, wollte aber das Amt nur provisorisch bekleiden, bis er Geheimrat Simons in die Geschäfte eingeführt hätte. Hierauf ging schließlich auch Simons ein. Die Zusammenarbeit der beiden Männer war mir von größtem Wert. In der äußeren wie in der inneren Politik standen Rechtsfragen im Vordergrund und gaben Simons täglich Gelegen­ heit, seine Meisterschaft zu bewähren.“61

Die Bewertung, die in zeitgenössischem Rückblick bereits Ferdinand Friedensburg über Simons’ Berufung und dessen Einstellung zu dem neuen Amt gab, ist charakteristisch: „Der damals der deutschen Öffentlichkeit noch wenig bekannte siebenundfünfzigjährige Vortragende Rat im Auswärtigen Amt hatte, wie später immer wieder bei der Übernahme eines neuen Amtes, ernste Bedenken. Seine Äußerung zu einem anderen Beamten,62 er wisse gar nicht, ob der Prinz ihn als Mitarbeiter gebrauchen könne; er folge in der äußeren Politik   Zur Vita von Simons die oben Fn.  36 genannten Schriften, ebd. bei Gründer umfangreiche weitere Nachweise. 59   Das Reichsjustizamt war seit 1875 sachlich eine Abteilung des Reichskanzleramts, wurde 1877 selbstständige oberste Justizverwaltungsbehörde des Reichs und erst im Jahre 1919 in ein Reichsjustizministerium umgewandelt. 60   S. bereits Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin/Leipzig 1927, S.  64. Diese Aufzeichnungen des ehemaligen Reichskanzlers besitzen hinsichtlich des politischen Wirkens von Simons – vor Antritt des Ministeramts – erhebliches Gewicht. 61   Max von Baden (Fn.  60), S.  374 f. Im Übrigen zur Bildung des Kabinetts des Prinzen Max s. die Erinnerungen seines Stellvertreters im Reichskanzleramt Friedrich Payer (1847–1931), Von Bethmann-Hollweg bis Ebert, Erinnerungen und Bilder, Frankfurt a.M. 1923, S.  116–119. 62   Gemeint ist Kurt Hahn (1886–1974), der, aus der „Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes“ kommend, Sekretär des Prinzen Max von Baden und ab 1917 politischer Berater der Obersten Heeresleitung war. „Ich sorgte dafür, daß Hahn Geheimrat Simons unterstellt wurde“, so M. v. Baden (Fn.  60), 58

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dem Grundsatz ,Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird Euch solches alles zufallen‘, erschöpfte sicherlich auch schon damals nicht den Umfang seiner außenpolitischen Vorstellungen, so kennzeichnend die Worte für ihn sein mögen.“63

In der Tat, sie waren kennzeichnend für ihn, den evangelischen Christen, für dessen Verhältnis zur Religion sein Werk „Religion und Recht“ eindringlich Zeugnis ablegt.64 Sein Glaubensbekenntnis war ihm prägende Maxime, ohne dass er es auf den Lippen trug. Max von Baden zeichnet im Übrigen mit knappen Strichen ein Bild von seinem engen Mitarbeiter und führt aus: „Sein Nationalgefühl war von der Art, daß er unerträglich darunter litt, wenn er glaubte, sein Vaterland tue Unrecht, und daß er es andererseits für eine große Sünde hielt, wenn Deutschland kampflos Unrecht und Verleumdung hinnahm. Er war ein hervorragender Jurist, aber sein Scharfsinn verleitete ihn nicht zur Dialektik, sondern wurde durch sein Rechtsgefühl gezügelt, dem er siegreichen Ausdruck zu geben verstand.“65

Prinz Max ist es auch gewesen, der Simons zum Bleiben bewog, als Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau (1869–1928) Anfang 1919 zum Außenminister im Kabinett Scheidemann (1865–1939) aufstieg. Brockdorff als Leiter der Delegation gewann Simons als mit der Materie besonders vertrauten Begleiter, als die Delegation „in Versailles den Friedensvertrag entgegenzunehmen hatte.“66 Simons hatte jedoch, wie Brockdorff, die Versailler Bedingungen für unannehmbar gehalten, beide demissionierten noch vor der Annahme des Vertrages. Damit zog Simons – ein gewaltiger Schritt aus einer bis dahin steil nach oben führenden Karriere – die Konsequenz, „die ihm Gewissen und Verstand vorschrieben: Er erbat seinen Abschied und trat nach 30jähriger Beamtenlauf bahn in das Privatleben zurück.“67 Nach seinem Ausscheiden aus dem Reichsdienst folgte ein kurzes Intermezzo als „Präsidierender Geschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Industrie“, das ihn noch stärker als zuvor mit wirtschaftlichen und insbesondere finanziellen Fragestellungen in Berührung kommen ließ. In dieser Stellung hatte er im Jahre 1920 eine aus einem Vortrag entstandene Schrift verfasst „Der Friedensvertrag und seine finanziellen Folgen“,68 die im Einzelnen die komplizierte Sach- und Rechtslage erörterte, die der Vertrag in finanzieller Hinsicht aufgeworfen hatte. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Simons setzt sich unter anderem mit der Frage auseinander, in welchem Umfang die vom Reich zu erbringenden Sachleistungen auf die Geldleistungen anzurechnen sind69 - eine Frage, deren Beantwortung weitreichende praktische Folgen hatte. Juristisch und völkerrechtlich betrachtet, setzte sie zunächst die begriffliche Erfassung des Unterschiedes von „Ersatz“ zu „Beute“ voraus. Doch auch diese S.  375. Ausführlicher zu Hahn Arnold Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966, S.  203 f. 63   Friedensburg (Fn.  36), S.  785. Vorher bereits – hieraus schöpft Friedensburg – M. v. Baden (Fn.  60), S.  359. 64   Walter Simons, Religion und Recht. Vorlesungen, gehalten für die Olaus-Petri-Stiftung in der Universität zu Upsala, Berlin 1936 (auch in schwedischer Ausgabe). 65   M. v. Baden (Fn.  60), S.  354. Vgl. auch Gründer, in: Fröhlich (Fn.  29), S.  31. 66   Benz/Graml (Fn.  48), sub voce Brockdorff-Rantzau, S.  46 (H. Graml). 67   Friedensburg (Fn.  36), S.  787. 68   Berlin 1920. 69   Wie vorige Fn., S.  17 f.

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Frage warf weitere Rechtsfragen auf: Durfte das, was die ehemaligen Kriegsgegner nicht mit den Waffen erobert, sondern infolge des Waffenstillstandsvertrages ausgeliefert erhalten hatten, als Beute behandelt werden? In der Erörterung dieser wie zahlreicher anderer Fragen, die zumeist dem Völkerrecht zuzurechnen sind,70 ist Simons’ juristisches Können gefragt, und es wird nachvollziehbar, warum dies der ehemalige Reichskanzler Prinz Max von Baden mit dem Wort „Meisterschaft“ umschrieben hatte.71 Die Schrift befasst sich auch mit Fragen nach den Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik – hier kommt neben der analytisch-juristischen Betrachtungsweise das eminent politische Denken Simons’ zum Vorschein. Nach eigenem Bekunden ist es sein Bestreben, „weniger vom speziellern finanztechnischen Standpunkte als vom wirtschaftspolitischen Standpunkte aus die Wirkungen des Friedensvertrages auf die deutschen Finanzen zu behandeln.“ Da ferner auf Fragen eingegangen wird, die wir heute der Währungspolitik zuordnen würden,72 und die Schrift zudem einen Überblick über die finanzielle Lage vor und nach dem Weltkrieg gibt, ist es nicht zu hoch gegriffen, sie als Expertise über die Finanzlage des Reiches anzusprechen.

2.  Simons als Reichsaußenminister Seine bisherige Lauf bahn und jene Expertise empfahlen ihn für Weiteres: Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (1852–1926) berief Simons als parteilosen Fachmann zum Reichsminister des Auswärtigen in sein Kabinett.73 Die stark von den Reparationsfragen beherrschte Ministerzeit von Juni 1920 bis zum Rücktritt des Kabinetts Fehrenbach am 4. Mai 1921 – und hier vor allem seine maßgebende Teilnahme an den Konferenzen von Spa und London74 in den Jahren 1920/21 – hatten Simons neben den finanziellen und wirtschaftlichen Problemstellungen auch die außenpolitisch prekäre Lage des Reichs aufs deutlichste vor Augen geführt. Es kamen ihm hier seine spezifischen Rechtskenntnisse zustatten, derentwegen er als Fachjurist ins Kabinett   Auf diesem Gebiet liegt ein eindeutiger Schwerpunkt von Simons’ juristischem, aber nicht richterlichem Schaffen, dem er auch zahlreiche Publikationen gewidmet hat. Die bedeutendste Schrift ist hier, in weitem Umfang geschichtliche Entwicklungen nachzeichnend, das in englischer Sprache erschienene Werk von Simons „The Evolution of International Public Law in Europe since Grotius“, New Haven 1931, bereits verfasst als „Former Chief Justice of the Supreme Federal Court of Germany“. Es handelt sich um an der Yale-Universität gehaltene Vorlesungen, am Institute of Politics. 71   Wie oben im Text bei Fn.  61. 72   Das Zitat wie bei Fn.  68, S.  3. Siehe im Übrigen ebd. S.  5 ff., 13 ff., 22 ff. 73   Er amtierte vom 25. Juni 1920 bis zum 4. Mai 1921, also nur ein knappes Jahr. Unzutreffend die Angabe von Peterson, in: Benz/Graml (Fn.  48), S.  85 s.v. Fehrenbach. Eindrucksvoll zu Simons’ Zeit als Außenminister Gründer (Fn.  36), Kap. IV, S.  106–214. Reiches Dokumentenmaterial bieten die „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett Fehrenbach. Bearbeiter: Peter Wulf “, Boppard/ Rh. 1972. 74   Zu Simons’ Auftreten in London vgl. die Ausführungen in dem wenig beachteten Werk von John Maynard Keynes, Revision des Friedensvertrages, München/Leipzig 1922, das – obgleich die „einzig autorisierte Übersetzung aus dem Englischen“, die gegenüber dem englischen Originaltext wichtige Ergänzungen enthält, die der Verfasser dem Übersetzer Fritz Ransohoff direkt übermittelt hat (s. ebd., Vorwort p. VI) – auch in der dt. Literatur zum Versailler Vertrag meines Wissens kaum herangezogen wird. Zu Simons ebd. S.  27 f., 30 f., 37. 70

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Fehrenbach berufen worden war: „Seine Ernennung stand schon frühzeitig fest und wurde von keiner Seite mißbilligt.“75 Durfte er in Reparationsfragen zu Recht als kompetent und besonders erfahren gelten, so gelang es ihm doch nicht, die starre Verhandlungsfront der ehemaligen Kriegsgegner aufzuweichen. Dabei mangelte es ihm nicht an Verhandlungsgeschick, was schon in der bisher viel zu wenig gewürdigten Tatsache zum Ausdruck kommt, dass es ihm gelungen ist, zum britischen Premierminister David Lloyd-George (1863–1945) ein ungewöhnlich gutes Verhältnis aufzubauen. Walther Rathenau (1867–1922) hatte bei der über die Kohlenfrage ins Stocken gekommenen Konferenz in Spa ( Juli 1920) eine persönliche Begegnung mit Lloyd-George und Simons arrangieren können,76 bei der sich beide Staatsmänner, trotz schroff gegeneinander abstechender Standpunkte, nähergekommen, zu einem persönlichen Verhältnis gelangt sind.77 Die später zu Allgemeingut gewordene Feststellung, dass es Lloyd-George gewesen ist, der eine Milderung der alliierten Friedensbedingungen gegenüber Deutschland erreichte,78 darf nicht zuletzt auf Simons’ Wirken zurückgeführt werden. Simons selbst ist es gewesen, der eine Schrift von LloydGeorge übersetzt und mit einer längeren Einleitung versehen hat,79 was die anhaltenden sachlichen Differenzen aber in keinem Falle überdeckte.80 Spätere Beurteilung hat dem politischen Wirken von Simons gelegentlich eine zu starke Orientierung an Rechtskategorien vorgehalten,81 vereinfachend gesagt: eine 75   P. Wulf (wie Fn.  73), Einl., S.  X XIII. Ibd., S.  X XIV: „Wenn der Begriff des Fachministers überhaupt eine Berechtigung hatte, für Simons traf er zu.“ 76   S. Akten (Fn.  73), Dokument Nr.  24, S.  63 mit Anm.  2 (Wulf ). 77   Das Denken von Lloyd-George, der von der Ausbildung her Jurist war, orientierte sich stark am Gerechtigkeitsgedanken, ohne in der auswärtigen Politik auf juristischem Dogmatismus zu beharren oder in Fragen, die primär politischer und nicht juristischer Lösung bedurften, Juristisches zum caput controversum zu erheben. Mit dieser Einstellung traf er in Walter Simons auf einen Geistesverwandten: hierauf beruht zuletzt das Verständnis beider Männer füreinander. – Besonders bezeichnend für LloydGeorges Einstellung ist seine Sicht der Kriegsschuldfrage. In seinem Werk „Die Wahrheit über Reparationen und Kriegsschulden“ (dt. von Edgar Schmidt-Pauli, Berlin 1932, S.  15) führt er dazu aus: „Darüber, daß es gerecht war, von Deutschland Reparationen für den Schaden zu verlangen, der den anderen Ländern durch den Krieg verursacht worden ist, kann kein Zweifel bestehen, sobald man annimmt, daß das deutsche Volk primär für den Krieg verantwortlich war. Ich will hier nicht die Frage der Kriegsschuld aufwerfen. Es genügt mir darauf hinzuweisen, daß Deutschland und sein Verbündeter Österreich den Streit mit ihren Nachbarn zu Entscheidung stellten und durch die Prozedur, die sie selbst gewollt haben – die Kampfprobe – verloren. Es war nicht das Tribunal unserer Wahl“ (Hervorhebungen B.M.). Ein ruhiger und besonnener Ton, der emotionsgeladene Invektiven von sich weist, kennzeichnet das Buch, das sachliche Gegensätze erörtert. 78   So z.B. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 15, 1975, S.  187 sub voce Lloyd-George. 79   David Lloyd-George, Ist wirklich Friede? Ins Deutsche übertragen und eingeleitet von Dr. W. Simons, Reichsaußenminister a.D., Leipzig 1924. 80   S. etwa Einleitung S. XI (Simons) des in der vorigen Fußnote genannten Werkes: „Wir können schon deshalb nicht die Politik Lloyd-Georges machen, weil diese von der Aufrechterhaltung des Versailler Friedens ausgeht, während unser Ziel seine Revision sein und bleiben muss.“ – S. aber auch August Winnig, Das Reich als Republik 1918–1928, Stuttgart/Berlin 1929, S.  238: „Bei den Londoner Verhandlungen im Frühjahr 1921 gebärdete sich Lloyd-George wie ein tobender Derwisch, als Simons die deutschen Vorschläge bekannt gab, obwohl diese Vorschläge nicht ohne Fühlung mit England ausgearbeitet waren.“ – Zu den Worten, die Lloyd-George am 3. März 1921 an Simons richtete, s. auch das bei J. M. Keynes wiedergegebene Dokument zu den Londoner Forderungen; dort auch Simons’ Gegenvorschlag, den er über die Vereinigten Staaten in die Verhandlungen einzuführen versuchte: Keynes (Fn.  74), S.  217 ff., 220–223. 81   Exemplarisch die Einschätzung von P. Wulf (Fn.  73, Einl., S.  X XIV), Simons’ strenge Rechtlich-

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zu starke juristische Sicht der Dinge, speziell in außenpolitischen Fragen. Prägend für diese Bewertung ist eine ausführliche Passage in dem großen Nachlassband „Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit“ von Karl Otto Gessler (1875–1955) 82 geworden. Gessler,83 in 13 Kabinetten Reichswehrminister – ab März 1920 – und damit Kabinetts­kollege von Simons, wie dieser aus dem Justizdienst hervorgegangen, führt in seinem im Jahre 1958 posthum herausgegebenen Werk über seinen Minister­ kollegen aus: „Im Jahre 1920/21 war Dr. Walter Simons Reichsaußenminister. Aus der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes hervorgegangen, sah er die Außenpolitik wesentlich als Rechtsverfahren an, das er nun mit der ganzen Leidenschaft des begeisterten Juristen durchzufechten sich anschickte. Es war gewiß insofern richtig, als das Recht unsere einzige Waffe war. Aber es ist kaum ein Zufall, daß in der Geschichte der internationalen Diplomatie die Rechtsgelehrten der Auswärtigen Ämter immer nur als die – unentbehrlichen, mitunter berühmten – Gehilfen ihrer Minister, nicht aber selbst als Leiter und Lenker der Außenpolitik erscheinen. Simons gab sich ganz als Idealisten, ließ sich auch gern Aristides nennen und hatte in seiner Geisteshaltung etwas Puritanisches.“84

Auf dieser Einschätzung Gesslers fußt die Sicht von Peter Wulf, Simons habe die Außenpolitik „wesentlich als ein Rechtsverfahren“ angesehen.85 Es stellt jedoch eine Verzerrung dar, Simons’ Verhalten in seiner Ministerzeit ausschließlich von juristischer Betrachtungsweise geprägt oder dominiert zu sehen. Dafür, dass er im Gegenteil die außen- und machtpolitischen Koordinaten für bestimmend hielt, lässt sich als früher Beleg auf eine – schließlich nicht gehaltene – Rede des Prinzen Max von Baden am 5. Oktober 1918 hinweisen, deren Entwurf von Simons stammt.86 Der Redeentwurf enthält geradezu sein Gepräge durch die politische Sicht, die nach den Forderungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson allein angemessen und geboten war. Das Detail und die klare, ungeschminkte Diktion können eher ein Gesichtspunkt gewesen sein, weshalb der zaudernde Prinz Max davon Abstand nahm, die Rede zu halten. Prägnanz und Deutlichkeit des Ausdrucks können nämlich dem Redeentwurf entgegengehalten werden, der sich damit womöglich nicht als voll angepasst an die diplomatische Diktion der Zeit erwies. Auch an anderen Stellungnahmen von Simons, die im politischen Bereich auf Außen­w irkung zielten,87 lässt sich beobachten, dass sie sich neben politischer Überkeit habe ihm zuweilen den Blick für das politisch Taktische und dessen Wirkung auf die Öffentlichkeit verstellt. 82   Hrsgg. von Kurt Sendtner, mit einer Vorbemerkung von Theodor Heuss, Stuttgart 1958. 83   Zur Vita Benz/Graml (Fn.  48), S.  105 s.v. Geßler (Auerbach). 84   Gessler (Fn.  82), S.  395. 85   Wulf (Fn.  73), Einl., S.  X XIV, in diesem Punkt in wörtlicher Übereinstimmung mit Gessler. 86  S. Arnold Brecht, Aus nächster Nähe (Fn.  62), S.  497–500. 87   Die Akten der Reichskanzlei (s. den oben Fn.  73 angeführten Bd.) bieten hier eine Fülle von Anschauungsmaterial aus Simons’ Ministertätigkeit, in deren Mittelpunkt die Reparationsfrage stand. Wenn Simons diese Frage – so zutreffend Horst Gründer – zunächst als ein Problem der Wirtschaft betrachtet hat, aus deren Überschüssen die geforderten Leistungen aufgebracht werden sollten, so besaß der gesamte Komplex der Reparationsregelung doch zugleich einen eminent „politischen“ Stellenwert in seinem außenpolitischen Programm. So Gründer, in: Fröhlich (Fn.  29), S.  35. Zwar sind in Simons’ Denken in seiner Ministerzeit stets auch juristische Erwägungen eingeflossen – wie könnte es anders bei einem geschulten Juristen auch sein – jedoch sind diese Erwägungen eben nur ein Element neben dem

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sicht, die die Inhalte der Politik behandelten, auch situationsbezogener juristischer Einlassungen, als eines Mittels der Politik, zu bedienen wussten.88 Nur mit dieser Ergänzung ist die Einschätzung von Peter Wulf zu verstehen, dass Simons’ Stärke die Sachverständigenkonferenz gewesen sei, in der Fachleute streng sachbezogene Argumente austauschten, dass sie aber nicht in der öffentlichen Versammlung gelegen habe, in der auf politische Stimmungen Rücksicht genommen werden müsse.89 Die Lösung der Frage, wie die aufgelaufenen Reparationsforderungen der Alliierten mit der völligen finanziellen Überforderung des Reiches in Einklang zu bringen waren, kam einer Quadratur des Kreises gleich. Alle Bemühungen von Reichs­ außenminister Simons, doch noch zu einem Ausgleich, zu einem haltbaren Kompromiss zu gelangen, blieben letztlich erfolglos, sodass nicht nur Simons, sondern das ganze Kabinett Fehrenbach am Abend des 4. Mai 1921 zurücktrat. Knapp heißt es in einer Notiz von Erich Koch (1875–1944), dem damaligen Reichsminister des Innern: „Fehrenbach erklärt, er gehe mit Simons. (…) Ich erkläre, Kabinett hätte nur bleiben können, wenn Führer der Koalitionsparteien es gewünscht hätten. Jetzt könnten auch wir nur für Demission eintreten. Parteiführer derselben Meinung. Nach Schluß der Pause beschließt Kabinett einstimmig Rücktritt.“90

IV.  Das Reichsgericht unter Simons’ Präsidentschaft 1.  Judikative und Politik Simons schloss sich, als er am 16. Oktober 1922 an die Spitze des Reichsgerichts trat, dem I. Zivilsenat an.91 Es schien zunächst so, als sei mit der Wahl dieser Materie die richterliche Tätigkeit – nicht also die administrativ-verwaltungsseitige Leitung des Reichsgerichts – weit den politischen Tagesfragen entrückt gewesen. Denn das Zivilrecht, dessen Schwerpunkt schon materiell-rechtlich durch das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Auslegung bestimmt war, bot noch den vergleichsweise größten Abstand zur Politik – anders als etwa das Strafrecht, das schon begrifflich zum öffentlichen Recht zu rechnen ist und besonders im Bereich so genannter politischer Straf-

sonst zu berücksichtigenden Beziehungsgeflecht wirtschafts- und machtpolitischer Natur gewesen, so dass in seiner Ministerzeit von juristischer Dominanz nicht zutreffend gesprochen werden kann. 88   Hans von Eckhardt spricht in seinem zeitgenössischen „Grundriss der Politik“, Breslau 1927, der methodisch scharf die Mittel von den Inhalten der Politik trennt, hier von „taktischen Argumenten“, ebd. S.  116. 89   Wulf (Fn.  73), Einl., S.  X XV. 90   Akten (Fn.  73), Dokument Nr.  245, S.  664. 91   Schaaf bei Lobe (Fn.  6 ), S.  389. Dies geschah, wie er später – nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt – berichtet hat, nicht ganz freiwillig: Denn da er nach seiner Ernennung zunächst, um eine ältere Verpflichtung zu erfüllen, die Gerichtsferien zu einer Kongressreise nach Südamerika benutzte, hatte das Präsidium ohne sein Zutun über seine richterliche Tätigkeit am Reichsgericht entschieden, indem es die Präsidentenstelle des I. Zivilsenats für ihn freiließ. Simons, Sieben Jahre Reichsgerichtspräsident, DJZ 1929, coll. 1249–1254 (1250), ebd. col.  1251: „Ich beschloß, die Wahl des Präsidiums zu der meinen zu machen. Nie habe ich diese Wahl bereut.“

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taten92 – es sei hier nur die erstinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts erwähnt – die größere Sachnähe zur sedes politica nicht abweisen konnte. Simons selbst ist es gewesen, der öffentlich betont hat, dass er nach seiner Berufung zum Reichsgerichtspräsidenten strikt davon abgesehen habe, sich in die Politik einzumischen. Dies sei auch später, als er eine Honorarprofessur für Völkerrecht angenommen habe, sein Grundsatz geblieben: „Since I was called to the responsibilities of the office of Chief Justice of the Supreme Federal Court of Germany I have strictly refrained from meddling in politics. This has remained my principle after retiring from office, since I accepted the honorary professorship of international law.“93

Doch war dies schon die verklärende Rückschau eines Mannes, der fast sieben Jahre lang an der Spitze des Reichsgerichts gestanden und sich danach verstärkt einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik zugewandt hatte, dem Völkerrecht, dessen wissenschaftliche Behandlung wenn nicht aktiv in die Politik eingreift, so doch in sie hineinstrahlt. Darüber hinaus lebt das öffentliche Recht vornehmlich im Verfassungsrecht von politischen Bewegungen und Bewertungen, wie seinerseits das Recht gestaltend auf die politischen Faktoren einwirkt94 – ein Gesichtspunkt, der beim Amt des Reichsgerichtspräsidenten, das in Personalunion mit dem des Vor­ sitzenden des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich verbunden war, zu berücksichtigen ist. Doch enthielt sich Simons in seiner Richterzeit, der Stellung und Würde des obersten Reichsrichters voll bewusst und „angesichts der hohen Berufsethik unseres Richtertums“,95 jedweder auch nur den Anschein sich gebender parteipolitischer Äußerung – wie er ja selbst auch keiner politischen Partei angehörte und schon als Parteiloser ins Kabinett Fehrenbach zum Minister berufen worden war.96 Aber dies ist keineswegs mit politischer Abstinenz im Allgemeinen zu verwechseln, die dem höchsten Richteramt, ungeachtet seines jeweiligen Inhabers, generell nicht eigen ist. Dies gilt bei einem Richter in gleichem Maße für seine nichtrichterliche Tätigkeit, für Stellungnahmen in Zeitschriften und sonstigen Periodica, schließlich für wissenschaftliche Erörterungen in den vielfältigen Publikationsorganen. Denn dass die Äußerungen eines amtierenden Reichsgerichtspräsidenten, welcher Art sie auch seien, stets auch politischer Charakterisierung und Deutung fähig sind, ist nicht nur nicht in Abrede zu stellen, sondern ergibt sich, um eine strapazierte Formel doch auch zu verwenden, aus der Natur der Sache, d.h. hier: des Amtes.   Etwa Hochverrat, Landesverrat.   So Simons in seiner in englischer Sprache gehaltenen 1. Vorlesung aus einer größeren Vorlesungsreihe an der Yale Universität, s. Simons, The Evolution of International Public Law in Europe since Grotius, New Haven 1931, S.  2 . 94   S. nur Peter Häberle, Allgemeine Staatslehre, Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?, in: Zeitschrift für Politik, N.F. 1965, S.  381–395 (385). Zuvor bereits Ulrich Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neuen Staatslehre, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag. Tübingen 1962, S.  225–260 (227). 95   Richard Thoma, Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im dt. Rechtsleben, Bd. I: Öffentliches Recht, Berlin/Leipzig 1929, S.  179–200 (198). 96   S. nur Wulf (Fn.  73), S.  673; E.R. Huber (Fn.  36), S.  71. 92 93

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So nahm sich die erste nennenswerte Stellungnahme des Präsidenten Simons des Themas „Völkerrecht und Arbeitsrecht“ an, die im Jahre 1923 in der „Zeitschrift für Politik“ erschienen ist.97 In ihr zeigt Simons die „internationale Entwicklung des Arbeitsrechts“ auf, die der Weltkrieg unterbrochen hatte,98 und arbeitet heraus, mit welchen Modifikationen und Akzenten im Einzelnen durch den Versailler Vertrag „das internationale Arbeitsrecht ein anerkannter Teil des Völkerrechts“ geworden war.99 Unmittelbar an seine reichsgerichtliche Tätigkeit knüpft der große Aufsatz „Das Reichsgericht in Gegenwart und Zukunft“ an, den Simons in zwei Folgen in der Deutschen Juristen-Zeitung im Jahre 1924 erscheinen ließ.100 Er legt hier zunächst die Einwirkungen dar, denen das gesamte Rechtsleben und mit ihm das Reichsgericht durch die tiefe Erschütterung des Weltkrieges unterworfen war und thematisiert auch den damit einhergehenden „Umschwung der Wirtschaft“,101 nachdem er schon zuvor – damals noch als geschäftsführendes Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie – zum Problemkreis „Wirtschaft und Politik“ separat Stellung genommen und die eminente Bedeutung einer „Wirtschafts­ politik“ (ein seinerzeit ungewohntes Wort) in den Blick genommen hatte.102 Der Staatsmann müsse, um seinen Beruf zu erfüllen, Wirtschaftspolitiker sein. Wer die letzten fünf Jahrgänge des Reichsgesetzblatts mit den ersten fünf Jahrgängen nach der Reichsgründung vergleiche, dem stelle sich in einem packenden Bilde dar, wie sich der Staat mit Wirtschaftszwecken durchsetzt habe oder, wenn man lieber wolle, wie die Wirtschaft vom Staat erobert worden sei. „Es wird, zumal nach den Ergebnissen des Weltkrieges, für den Politiker auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein, die Wirtschaft sich selbst zu überlassen.“103 In dem genannten Aufsatz in der Deutschen Juristen-Zeitung greift er diesen Gedanken auf und geht ausführlich auf wirtschaftliche Zusammenhänge und ihre nunmehr untrennbare Verwobenheit mit der Rechtsordnung ein. Damit war nicht nur ein neuer Ton von hoher Richterstelle aus angeschlagen, sondern brach sich erstmals deutlich eine Richtung Bahn, die dem individualisierenden Privatrecht noch im Bürgerlichen Gesetzbuch weithin verschlossen war. Der unumschränkte Eigentumsbegriff des §  903 BGB etwa kannte noch nicht das, was zwei Dezennien später die Weimarer Reichsverfassung in Art.  153 grundgelegt hatte und was heute, gleichfalls mit verfassungsmäßiger Beschränkung, mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums umschrieben wird.104

  Zeitschrift für Politik, Bd. XII, Berlin 1923, S.  172–180.   Wie vorige Fn., S.  173. 99   Wie Fn.  97, S.  174 ff. An wissenschaftlicher Vorarbeit konnte sich einst nur auf die Studie von Paul Eckardt und Ewald Kuttig, Das internationale Arbeitsrecht im Friedensvertrag, Berlin 1920, gestützt werden. 100   DJZ 1924, coll. 241–246, 325–330. 101   Wie vorige Fn., col.  241. 102   Simons, Wirtschaft und Politik, in: Die Räder. Zeitschrift für die Arbeit am Wiederauf bau, 1. Jg. 1920, Einführungsheft, S.  4 f. 103   Wie vorige Fn., S.  4. 104  Art.  14 Abs.  2 GG, unverkennbar der entsprechenden Vorschrift der WRV nachgebildet. Im Übrigen aus dem älteren Schrifttum grundlegend Günter Holstein, Die Lehre von der öffentlich-rechtlichen Eigentumsbeschränkung, Berlin 1921. 97

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2.  Das „Wirtschaftsrecht“ als neue Rechtsmaterie Für die noch ausnahmslos unter der hochentwickelten Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts – für die der Primat des Zivilrechts kennzeichnend war – herangewachsene Juristen- und Richtergeneration war es mehr als ungewohnt, ein Paradigmenwechsel, sich nun mit einem „Wirtschaftsrecht“ auseinanderzusetzen, dessen Grundzüge soeben erst der Jenaer Universitätsprofessor Justus Wilhelm Hedemann skizziert hatte.105 Die Schrift legt selbst durchgehend von der ungewohnten Neuheit dieser Rechtsmaterie Zeugnis ab: „Eine Fülle von Singularitäten beginnt die alte Dogmatik genau so zu überwuchern wie seinerzeit vor anderthalb Jahrtausenden der Kodexstroff den gediegeneren Stoff der Pandekten zu verschütten drohte. Aus dem Strudel aber erhebt sich, wie ein neues Etwas, das Wort vom Wirtschaftsrecht. Es ist erstaunlich, wie rasch in drei oder vier oder fünf Jahren dieses Wort sich festgesetzt hat.“106

Hedemann selbst aber war, obgleich Leiter des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Universität Jena, keineswegs von der endgültigen Etablierung der neuen Rechts­ materie überzeugt,107 und noch im selben Krisenjahr 1924, als Simons’ genannter Aufsatz in der Deutschen Juristen-Zeitung erschien, versuchte der ehemalige Richter und sodann als Unterstaatssekretär im Preußischen Handelsministerium tätige, spätere Bonner Universitätsprofessor Heinrich Göppert (1867–1937) die Bedeutung der Wirtschaft unter Berufung auf Bismarck herunterzuspielen, indem er hervorhob, dass in „Deutschlands größtem politischen Buch, den Gedanken und Erinnerungen Bismarcks“, sich kaum zwei Seiten fänden, die von wirtschaftlichen Fragen handelten. „Der Gedanke des Wirtschaftsstaats ist in seiner ganzen Hohlheit erkannt.“108 Es bedurfte noch eines weiten Weges, bis das Wirtschaftsrecht als eigene Rechtsdisziplin anerkannt war und sich die Definition von Heinrich Kronstein Gehör verschaffen konnte: „Wirtschaftsrecht ist die Lehre von den Rechtsformen der Organisation der Wirtschaftszweige wie der Gesamtwirtschaft und der in diesen entstandenen oder angewandten Rechtsnormen.“109   Hedemann, Grundzüge des Wirtschaftsrechts, Mannheim 1922. Eine erste Orientierung bot schon Arthur Nußbaum, Das neue deutsche Wirtschaftsrecht. Eine systematische Übersicht über die Entwicklung des Privatrechts und der benachbarten Rechtsgebiete seit Ausbruch des Weltkrieges, Berlin 1920. 106   Hedemann (Fn.  105), S.  7. In seiner „Rundschau über das Schrifttum zum Wirtschaftsrecht“, DJZ 1921, coll. 26–31 (27) spricht Hedemann von dem „verzweifelten Eindruck“, den die Literatur bei dem Versuch mache, die neue wirtschaftsrechtliche Materie in ihrer Vielfalt in den Griff zu bekommen. 107   Hedemann (Fn.  105), S.  8 : „Das Wirtschaftsrecht hat sicherlich für unsere Zeit seinen Beruf, nach dessen Erfüllung mag es zu den Toten gelegt werden“; noch drastischer ebd. S.  32: „Gewiß aber ist, daß auch das Wirtschaftsrecht so niedergehen wird wie einst das Naturrecht und die anderen großen Strömungen und Schulen der Philosophen und der Juristen und ihrer Mitmenschen.“ 108   Heinrich Göppert, Staat und Wirtschaft (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 33), Tübingen 1924, S.  4 f. 109   Heinrich Kronstein, Wirtschaftsrecht – Rechtsdisziplin und Zweig der Rechtstatsachenkunde, in: Die Justiz, Bd. III, H. 3, Berlin 1928, S.  215–225 (218). Erst mit Hilfe dieser Definition ließ sich wieder eine bessere Zuordnung des Wirtschaftsrechts zu den Bereichen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts erreichen, deren Grenzziehung für Hedemann durch das Auftreten eines Wirtschaftsrechts durchbrochen schien: „Diese im 19. Jahrhundert mit Zähigkeit festgehaltene Schranke liegt zerschlagen am Boden“, Hedemann, Rundschau über das Schrifttum zum Wirtschaftsrecht (Fn.  106), col.  26. 105

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Simons begriff es als ein Ringen älterer Rechtsvorstellungen mit den wirtschaft­ lichen Erfordernissen des Tages, wenn er die neue Rechtsmaterie mit der aktuellen Finanzpolitik in Zusammenhang brachte und sogar undiplomatisch-deutlich den Gedanken aussprach, dass der durch eine solche Finanzpolitik herbeigeführte Währungsverfall in vertragliche Verhältnisse derart eingegriffen habe, dass Mittel der Rechtsprechung weithin versagen müssten und schon gar kein vollständiges Remedium sein könnten, sodass Unrecht zurückbleibe: „Altes und neues Recht stehen in heißem Kampf miteinander, und das Tempo, in dem das Reichsgericht den Phasen dieses Kampfes folgt, ist dem einen Teil unseres Volkes zu rasch, dem anderen zu langsam. Schlimmer noch ist es, daß auf weiten Gebieten des Volkslebens jetzt überhaupt wirkliches Recht nicht mehr gesprochen werden kann. Die Finanzpolitik der Reichsregierung hat in ihrer bitteren Notlage den Wertmesser aller diesseitigen Dinge, unsere Währung, so gründlich zerstört, daß er nicht wieder hergestellt werden kann. Damit ist die Grundlage aller der obligatorischen Verhältnisse zerrüttet, deren Höhe nach diesem Wertmesser zu berechnen war. Aus ihren Trümmern kann die deutsche Volkswirtschaft ohne Unrecht nicht erlöst werden.“110

Damit war für Simons die äußerste Grenze erreicht, die einem Richter in politics gezogen war.

3.  Die sogenannte Aufwertungsrechtsprechung und ihre Folgen. Vorschriften zum Schutz der Republik Er spielte damit auf die sog. Aufwertungsrechtsprechung111 an, die das Reichsgericht praeter legem zur Erhöhung von Geldpreisansprüchen wegen des Währungsverfalls entwickelt hatte. Wegweisend war hier das Urteil des V. Zivilsenats vom 28. Novem­ ber 1923 geworden, das die Frage, ob der Hypothekengläubiger wegen der Entwertung des Papiergeldes die Erhöhung („Aufwertung“) seiner Hypothekenforderung beanspruchen könne, wenn der Schuldner ihm nur den Nennwert der Forderung in Papiergeld anbiete, mit eingehender Begründung bejaht hatte.112 Der Grundsatz „Mark=Mark“, an dem die Reichsregierung aus formalen Gründen festhalten konnte, weil die Noten der Reichsbank gesetzliche Zahlungsmittel waren,113 ließ sich nicht länger, trotz veränderter Gesetzeslage, aufrechterhalten, als sich die Kauf kraft des Papiergeldes in ganz erheblichem Maße verringert hatte. Die „überaus große Entwertung der deutschen Währung“114 ließ die reichsgerichtliche Rechtsprechung zu dem Fundamentalgrundsatz von „Treu und Glauben“ im Rechtsverkehr (§  242 110   Simons (Fn.  100), coll. 241 f. Vgl. auch die drastischen Worte des Nationalökonomen Adolf Weber, oben wiedergegeben bei Fn.  42. 111   Zu ihr überblicksartig Hans Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 4.  Aufl. 1996, Rn.  604–606. 112   RGZ 107, 78–94 (1924). Hattenhauer (vorige Fn., Rn.  605) spricht versehentlich vom I. Zivilsenat, der das Urteil gefällt habe. 113   Das „Gesetz, betreffend Änderung des Bankgesetzes“ vom 1. Juni 1909 (RGBl. 1909, S.  515) hatte in Art.  3 die Noten der Reichsbank ausdrücklich als gesetzliches Zahlungsmittel anerkannt (RGBl. 1909, S.  516). 114   RGZ 107, 87.

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BGB) greifen, dessen Anwendung jetzt dazu diente, nicht etwa nur eine privatrechtliche Vereinbarung, sondern eine positive Gesetzeslage umzudeuten. Mit Recht konnte Simons von der „berühmten, viel gelobten und oft getadelten Entscheidung vom 28. November 1923 sprechen.115 Denn indem das Reichsgericht auf §  242 BGB seine Entscheidung stützte, hatte es bei formaler Betrachtungsweise noch secundum legem entschieden, in Wirklichkeit aber den nur inter partes positivierten Grundsatz von Treu und Glauben zu einem allgemeinen Rechtsgrundsatz erhoben. Diese für eine Hypothekenforderung entwickelte Anspruchserhöhung wurde vom Reichsgericht in zahlreichen anderen Entscheidungen auch für die Erhöhung von Kaufpreisen anerkannt, sodass das Reichsgericht alsbald schon von „feststehender Rechtsprechung“116 ausgehen und sie späteren Judikaten zugrundlegen konnte. Damit war auch den Instanzgerichten der Weg gewiesen. Nachdem sich durch diese Vorstöße der Judikative die Legislative – nach anfangs heftigem Widerstreben, das am 8. Januar 1924 eine „Eingabe des Vorstandes des Richtervereins beim Reichsgericht an den Reichsjustizminister, betreffend das angeblich geplante Verbot der Hypothekenaufwertung“ zur Folge hatte117 – schließlich zum Gesetz vom 16. Juli 1925 über die Aufwertung von Hypotheken und anderen Ansprüchen entschlossen hatte, konnte der ehemalige Reichsgerichtsrat Otto ­Warneyer in seinem Werk „Rechtsgrundsätze des Reichsgerichts“118 später weit über 100 Entscheidungen des Reichsgerichts anführen, die zum Aufwertungsgesetz vom 16. Juli 1925 ergangen sind.119 Es ist nicht zuviel gesagt, diese schon in ihren Anfängen von Simons auch publizistisch unterstützte reichsgerichtliche Rechtsprechung mit dem modernen Ausdruck eines Paradigmenwechsels zu belegen. Obgleich das Reichsgericht mit seiner Aufwertungsrechtsprechung klare Leit­ linien nicht nur für die Instanzgerichte, sondern allgemein für den Wirtschafts­ verkehr aufgestellt und im Übrigen bei der Frage, bei welchem Grad der Geldent  Simons (Fn.  100), col.  242.   S. zur Frage der Aufwertung und ihres Maßes bei Kaufpreisen das Urteil des III. Zivilsenats vom 21. November 1924, in RGZ 109, 222–226 (224). 117   In dieser Eingabe, die in ihrer Mahnung an die Reichsregierung, die im Urteil des V. Zivilsenats vom 28. November 1923 aufgestellten Grundsätze anzuerkennen, einen rechtsgeschichtlich beispiel­ losen Vorgang darstellt, heißt es unter anderem: „Wenn der höchste Gerichtshof des Reichs nach sorgfältiger Erwägung des Für und Wider zu einer solchen Entscheidung gelangt ist, so glaubt er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird. Gestützt ist die Entscheidung auf den großen Gedanken von Treu und Glauben, der unser Rechtsleben beherrscht, gestützt auf die Erkenntnis, daß ein ferneres Festhalten an der Vorstellung, Mark sei gleich Mark, zu einem höchsten Maße des Unrechts führen würde, unerträglich in einem Rechtsstaat (…). Dieser Gedanke von Treu und Glauben steht außerhalb des einzelnen Gesetzes, außerhalb einer einzelnen positiv-rechtlichen Bestimmung. Keine Rechtsordnung, die diesen Ehrennamen verdient, kann ohne jenen Grundsatz bestehen.“ Diese Eingabe des Richtervereins beim Reichsgericht ist abgedruckt bei Richard Michaelis, Das Aufwertungsrecht nach den Aufwertungsgesetzen und nach allgemeinem bürgerlichen Rechte, 2.   Aufl. Berlin/Leipzig 1926, S.  381 f. 118   Warneyer, Rechtsgrundsätze des Reichsgerichts. Systematische Auswahl der für die heutige Praxis wichtigen Rechtssätze aus den Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 51–140, Berlin/Leipzig 1936. 119   Warneyer (Fn.  118), S.  617–625. Auch der führende Großkommentar zum sog. Aufwertungsrecht stammt aus der Feder eines ehemaligen Reichsgerichtsrats: Richard Michaelis, Das Aufwertungsrecht (s.o. Fn.  117 a.E.). 115 116

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wertung sich die Notwendigkeit einer Aufwertung der Forderung des Gläubigers ergebe, auf die Prüfung im Einzelfall verwiesen hatte, die den Vertragspartnern obliege,120 erreichte es eine Fülle von Revisionen. Sie veranlasste Simons zu der öffentlich ausgesprochenen Mahnung, dass das Reichsgericht nicht die Aufgabe habe, die unübersehbare Fülle der einzelnen Streitsachen der Billigkeit entsprechend zu schlichten, sondern dass es die allgemeinen Rechtsgrundsätze aus Anlass der wichtigsten Rechtsstreitigkeiten zu wahren, zu ergänzen und auszuarbeiten habe. Die Volkswirtschaft, die schleunige Sicherheit und Klarheit fordere, werfe den Gerichten ihr Versagen auf diesem Gebiet nachdrücklich vor; sie solle sich jedoch an den Gesetzesgeber halten, der die Finanzpolitik der Regierung gutgeheißen hatte und nun versuchen musste, deren schicksalsschwere Folgen zu mildern. Der Gesetzgeber habe sich hier aber gleichfalls keinen Rat gewusst, er habe deshalb durch das Ermächtigungsgesetz wiederum die Regierung beauftragt, diese Herkulesarbeit zu leisten.121 Die sog. Ermächtigungs-Gesetzgebung, auf die Simons anspielte und die viel zu einseitig mit den erheblich späteren Vorgängen des Jahres 1933 in Verbindung gebracht wird, hatte mit den im Gesetzblatt ausdrücklich als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichneten Vorschriften vom 13. Oktober 1923 begonnen,122 mit denen die Reichsregierung ermächtigt wurde, diejenigen Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete für erforderlich und dringend erachte. „Dabei kann von den Grundrechten der Reichsverfassung abgewichen werden.“123 Diese enorme Ausweitung der Befugnisse der Exekutive, selbst verfassungsrechtlich garantierte Rechte außer Kraft zu setzen, wurde in ihrer rechtsstaatlichen Gefährlichkeit offenbar erkannt,124 sodass der Reichstag am 8. Dezember 1923 ein weiteres Ermächtigungsgesetz beschloss, das in §  1 u.a. bestimmte: „Die Reichsregierung wird ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet. Eine Abweichung   RGZ 107, 92.   Simons, in: DJZ 1924, col.  242. Vom rechtspolitischen Standpunkt, den er als ein „Ergebnis der Lehre vom Nominalismus des Geldes und des Rechts“ begreift, stellt der Berliner Rechtsprofessor James Goldschmidt die Lage in einem Vortrag dar, der im Berliner Anwaltsverein am 7. Juni 1926 gehalten wurde: s. Goldschmidt, Die Aufwertungskrise, Berlin 1926, passim. 122   Ermächtigungsgesetz vom 13.10.1923 = RGBl. I (1923), S.  943. 123   §  1 Satz  2 des in Fn.  122 genannten Gesetzes. 124   Dieses die Gewaltenteilung erheblich beschränkende Ermächtigungsgesetz und die damit herauf beschworenen Gefahren waren auch zu einer Zeit gegeben, die unser heutiges Grundrechtsverständnis und die dezidierte Verfassungsgerichtsrechtsprechung noch nicht kannte. Einen tiefen Einblick in den damaligen wissenschaftlichen Diskussionsstand, insbesondere zur Frage der „Grundrechtssuspension“ aufgrund von Art.  48 Abs.  2 Satz  2 WRV, gestattet die Abhandlung von Hans Nawiasky, Die Auslegung des Art.  48 der Reichsverfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, N.F. Bd. 9 (1925), S.  1–55. Ältere Spezialliteratur berücksichtigt Richard Grau, Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und der Landesregierungen auf Grund des Art.  48 der Reichsverfassung, Berlin 1922. Im Hinblick auf die angesprochene Ermächtigungsgesetzgebung spricht Bernhard Staedler im Jahre 1928 von „außerverfassungsmäßigen Vereinfachungen“, Staedler, Die Versuche zur Vereinfachung der Reichsgesetzgebung, Breslau 1928, §  19 (S.  54 ff.), mit guter Darlegung der Ursachen ihrer Einführung und rechtlichen Bewertung. Ferner, in eingehender Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, München/Leipzig 1921, vor allem aber die 2.  Aufl. dieses Werkes mit dem Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art.  48 der Weimarer Verfassung, München 1928. 120 121

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von den Vorschriften der Reichsverfassung ist nicht zulässig.“125 Mit diesen Ermächtigungsgesetzen wurde indessen nur ein Weg fortgesetzt, der bereits mit Verordnungen aufgrund der Ausnahmebestimmung des Artikels 48 Abs.  2 der Weimarer Reichs­ verfassung eingeschlagen war: Nach der Ermordung Walther Rathenaus am 24. Juni 1922 begann der Weg mit der „Verordnung zum Schutze der Republik“ vom 26. Juni 1922, die mit ihrem §  6 „bei dem Reichsgerichte“ einen „Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik“ errichtet hat,126 der im Wesentlichen zuständig war „für Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform des Reiches oder gegen Mitglieder der jetzigen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reiches oder eines Landes“ (§  7 der Verordnung). Damit waren dem Reichsgericht, neben seiner ohnehin schon starken Inanspruchnahme und erheblichen Belastung, weitere Aufgaben erwachsen. Es folgte die „Zweite Verordnung zum Schutze der Republik“ vom 29. Juni 1922127 mit weiteren Strafbestimmungen und der Zuweisung an Reichsanwaltschaft und den genannten Staatsgerichtshof, bis schließlich der Reichstag das „Gesetz zum Schutze der Republik“ vom 21. Juli 1922 beschloss,128 das eingehende Straf bestimmungen zum Schutze der Republik enthielt (§§  1–11) und das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik detailliert regelte (§§  12, 13). Nachträglich sanktionierte dieses Gesetz auch diejenigen Maßnahmen, die aufgrund der genannten Verordnungen vom 26. und 29. Juni 1922 getroffen waren.129 Gleichzeitig mit dem Gesetz zum Schutze der Republik wurde ein „Gesetz über die Bereitstellung von Mitteln zum Schutze der Republik“ am 21. Juli 1922 beschlossen.130 Die Überbürdung der Gerichte mit immer weiteren Zuständigkeiten war so erheblich, sodass schließlich auf Anregung des Reichsgerichtspräsidenten Simons „Entlastungsgesetze“ zustande kamen, von denen hier vor allem das „Zweite Gesetz zur weiteren Entlastung der Gerichte“ vom 27. März 1923 erwähnt sei,131 das insonderheit das Reichsgericht zu entlasten suchte.132 Hingegen trug das „Gesetz zur Abänderung des Gesetzes zum Schutze der Republik“ vom 31. März 1926 (RGBl. I, S.  190) nur wenig zu der von Simons gewünschten Entlastung des Reichsgerichts bei. Zwar bestimmte Art. I Satz  1 dieses Gesetzes: „Für die Strafsachen, die zur Zeit zur Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik gehören, sind vom 1. April 1926 an die ordentlichen Gerichte   Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923 = RGBl. I (1923), S.  1179.   RGBl. I (1922), S.  521. Dieser „Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik“ darf nicht mit dem „Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich“ verwechselt werden, vgl. Art.  108 Weimarer Reichsverfassung; zu letzterem später oben im Text. 127   RGBl. I (1922), S.  532. 128   RGBl. I (1922), S.  585. 129   §  26 des Gesetzes zum Schutze der Republik bestimmte: „Eine Maßnahme, die auf Grund der Verordnungen des Reichspräsidenten vom 26. und 29. Juni 1922 (RGBl. I., S.  521, 523 und 532) getroffen und auch nach den Bestimmungen dieses Gesetzes zulässig ist, gilt als auf Grund dieses Gesetzes getroffen“ (RGBl. I, 1922, S.  590). 130   RGBl. I (1922), S.  596. 131   RGBl. I (1923), S.  217. 132   Art. V Abs.  4 enthielt folgende Bestimmung: „Übersteigt in einem bei Inkrafttreten dieses Gesetzes in der Revisionsinstanz bei dem Reichsgericht anhängigen Rechtsstreit über einen vermögensrechtlichen Anspruch der Wert des Beschwerdegegenstandes in dem bezeichneten Zeitpunkt nicht fünf hundertausend Mark, so hat das Reichsgericht durch Beschluß die Weiterverfolgung der Revision für unzulässig zu erklären“, RGBl. I (1923), S.  218. 125

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zuständig“; jedoch war der dem Reichsgericht zugeordnete Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik noch immer mit Angelegenheiten befasst, die verbotene Vereinigungen, Beschlagnahme und Verbot von Drucksachen betrafen.133

4.  Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und das Reichsgericht Es kommt hinzu, dass der aufgrund von Art.  108 WRV durch Gesetz vom 9. Juli 1921 (RGBl. S.  905) errichtete Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich ebenfalls „bei dem Reichsgericht“ (§  1 des Gesetzes) gebildet war und nicht nur dieses Gericht, sondern unmittelbar auch dessen Präsidenten Simons zusätzlich mit Spruch­ tätigkeit belastete, da nach §  3 des Gesetzes der Reichsgerichtspräsident dort den Vorsitz führte. Schwerer noch wiegt, dass dieser vom Reichsgerichtspräsidenten geleitete Staatsgerichtshof, der noch aus je einem Mitglied des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Hanseatischen Oberlandesgerichts, einem Rechtsanwalt und zehn weiteren Beisitzern bestand, ursprünglich nur für Fälle nach Art.  59 WRV vorgesehen war. Diese Verfassungsbestimmung ermöglichte es dem Reichstag, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof anzuklagen, wenn sie „schuldhafterweise“ die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt hatten.134 Hingegen sollte für Fälle verfassungsrechtlicher Streitigkeiten eines Landes ohne eigene Verfassungsgerichtsbarkeit, für Streitigkeiten zwischen Ländern untereinander oder zwischen einem Land und dem Reich (Art.  19 Abs.  1 WRV) der Staatsgerichtshof „bei dem Reichsverwaltungsgerichte“ gebildet werden (§  1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof ), wobei der Präsident des Reichsverwaltungsgerichts den Vorsitz zu übernehmen hätte.135 Da aber das Reichsverwaltungsgericht während der Weimarer Republik trotz mehrerer gesetzgeberischer Initiativen nicht errichtet worden ist,136 entfaltete die als 133  Vgl. Stier-Somlo, in: Fritz Stier-Somlo/Alexander Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. V, Berlin/Leipzig 1928, S.  624–628 (627). 134   Aus der zeitgenössischen Literatur hierzu instruktiv August Finger, Der Staatsgerichtshof als Gericht über Anklagen des Reichstags gegen Reichspräsidenten, Reichskanzler, Reichsminister, in: AöR N. F. 9 (1925), S.  289–313. 135   Zu der stark umstrittenen Frage, ob Art.  19 WRV den Ländern das Recht gegeben habe, „den Staatsgerichtshof gegen Reichsgesetze in Bewegung zu setzen“, ist grundlegend und richtungsweisend die große Abhandlung von Heinrich Triepel geworden: Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, in: Festgabe der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl zum Doktorjubiläum am 19. April 1923, Tübingen 1923, Abh. 2 (Separatpaginierung), S.  1–118 (87 ff.). Die Fülle der von Triepel hier auf­ geworfenen Fragen zeigt, wie stark im Fluss seinerzeit gerade auch das Verfassungsprozessrecht war – Fragen, mit denen sich der Staatsgerichtshof vordringlich auseinander zu setzen hatte. Zur Entstehungsgeschichte des Staatsgerichtshofs ausführlich Hans-Heinrich Lammers, Das Gesetz über den Staats­ gerichtshof vom 9. Juli 1921, Berlin 1921, Einl. S.  1–15. Zur Kardinalfrage, was unter dem Begriff der Verfassungsstreitigkeit i.S.v. Art.  19 WRV zu verstehen war, Kurt Ritter, Die verfassungsrechtlichen Streitigkeiten vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, Heidelberg 1930, S.  9 –23. Zur Verfassungsgerichtsbarkeit und zum Staatsgerichtshof für das Dt. Reich aus heutiger Sicht Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S.  209 ff. 136  S. hierzu eingehend das Handwörterbuch zur dt. Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, coll. 802–806 (830 f.), s.v. Reichsverwaltungsgericht (W. Kohl). Umfassend Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, Tübingen 1991. Zusätzlich aber noch Simons, in: DJZ 1924, col.  329: „Da wir das von

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Übergangsbestimmung gedachte Vorschrift des §  31 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof Dauerwirkung: „Bis zur Errichtung eines Reichsverwaltungsgerichts tritt an die Stelle des Reichsverwaltungsgerichts (§  1) das Reichsgericht, an die Stelle des Präsidenten des Reichsverwaltungsgerichts der Präsident des Reichsgerichts.“ Somit mussten die gesamten Aufgaben, die das Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. Juli 1921 vorsah, vom Reichsgericht unter Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten wahrgenommen werden. Berücksichtigt man außerdem, dass das Reichsgericht noch mit zahlreichen weiteren Aufgaben in Anspruch genommen war – es seien hier nur noch der Reichsdisziplinarhof, der Ehrengerichtshof für die Rechtsanwälte und das Reichschiedsgericht genannt, die ebenfalls beim Reichsgericht gebildet waren –, so konnte zu einer solchen enormen Überlastung der Reichsgerichtspräsident nicht schweigen. Was etwa nur den nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden, außerhalb der Beamtenschaft kaum wahrgenommenen Reichsdisziplinarhof betrifft, kommt Simons zu dem Ergebnis: „In seiner heutigen Gestalt kann er nicht bestehen bleiben, ohne dass entweder er selbst oder das Reichsgericht geschäftsunfähig wird.“137

5.  Die Überlastung des Reichsgerichts und Simons’ rechtspolitische Stellungnahmen. Die sogenannte Personal-Abbau-Verordnung In anderem Zusammenhang legt er unter Anspielung auf die angespannte Personalsituation des Reichsgerichts dar, dass das Gleichgewicht zwischen der Geschäftslast und den zu seiner Bewältigung vorhandenen richterlichen Kräften immer wieder durch die Nebenaufgaben gestört werde, die dem Reichsgericht durch Verfassung und Sondergesetze aufgebürdet seien. „Von dem Umfang dieser Nebenarbeiten macht man sich in der Öffentlichkeit kaum eine rechte Vorstellung.“138 Doch nicht nur finanzielle und personelle Aspekte werden angesprochen, vielmehr dominiert die Sorge um die Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung, und Simons rückt das materiell-inhaltliche Rechtsproblem in den Vordergrund: Das „Überwuchern höchster Sondergerichtshöfe ist nicht nur organisatorisch und finanzpolitisch eine Verschwendung, die sich das verarmte Deutsche Reich nicht mehr leisten kann; sie bringt auch die Gefahr mit sich, daß die letzten Grundgedanken des deutschen Rechts, die für privatrechtliche wie öffentlich-rechtliche Fragen dieselben sein müssen, zersplittern und widerspruchsvoll werden.“139 der Reichsverfassung in Aussicht genommene selbständige Reichsverwaltungsgericht, das alle jene öffentlich-rechtlichen Streitfälle an sich ziehen könnte (vgl. Rverf. Artt.  31, 107, 166), in unserer Finanznot schwerlich bald werden errichten können, liegt es nahe, die bisherige Zuständigkeit des Reichsgerichts in öffentlich-rechtlichen Fragen wieder zu erweitern und ihm einen oder mehrere Verwaltungssenate anzugliedern, die dann als Reichsverwaltungsgericht fungieren könnten.“ – Besonders detailreich von den – letztlich gescheiterten – Plänen zur Schaffung eines Reichsverwaltungsgerichts handelt der ehemalige Vizepräsident des Preußischen Oberverwaltungs­gerichts Jesse, Über das Reichsverwaltungsgericht, in: DJZ 1926, coll. 1–11. 137   Simons, Das Reichsgericht im 45. Lebensjahr, in: DRiZ 1924, coll. 419–425 (423). 138   Simons, in: DJZ 1924, col.  327. 139   Simons, in: DJZ 1924, col.  329.

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Was noch gegen Ende der Weimarer Republik in rechtspolitischen Fragen als Mangel empfunden wurde, nämlich die fehlende Berücksichtigung ausländischen Rechts,140 versuchte Simons immer wieder durch einen Blick vor allem auf das angelsächsische Recht auszugleichen, dem er einen nicht unerheblichen Teil seiner publizistischen Tätigkeit gewidmet hat.141 Es kommen hinzu seine Mitarbeit in der International Law Association – er war mehrere Jahre Vorsitzender der deutschen Landesgruppe dieser Vereinigung – und in der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, deren Mitteilungen er zeitweilig herausgegeben hat.142 Im Jahre 1929 wurde er auch Vorsitzender dieser Gesellschaft. Hans Wehberg berichtet, dass er auf ihren Tagungen zweimal, 1925 in Stuttgart und 1929 in Köln, Referate über Probleme der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und Gerichtsbarkeit gehalten hat. „Dem Institut de Droit International gehörte er seit 1924 als associé und seit 1928 als membre an. 1929/31 war er zweiter Vizepräsident des Instituts. Als solcher stand Simons am richtigen Platze. Mit seiner großen, schlanken Gestalt und seinem eindrucksvollen, durchgeistigten Gesicht repräsentierte er die deutsche Geisteswelt in vorzüglicher Weise. Die Verhandlungen wußte er kraft seiner souveränen Beherrschung der Materien sowie der Sprachen mit großem Geschick zu leiten.“143 Aus Simons’ eigener Schilderung wissen wir, dass er in erste Berührung mit ausländischen Verfassungssystemen und Völkerrechtsfragen als Straßburger Student gekommen war, als ihm sein Vater das soeben erschienene dickleibige Werk von Eugen Schlief „Die Verfassung der Nordamerikanischen Union“144 geschenkt hatte.145 Be  Vgl. nur Friedrich Wilhelm Rauchhaupt, Die Rechte Europas in ihrer rechtsgenetischen Gestalt und pragmatischen Auswertung, 2 Bde., München/Leipzig 1931/32, ebd. S.  9 0: Die Rechtspolitik „wird in Anspruch genommen durch die Anforderungen der Tagespolitik hinab bis zur Buchstabenfrage. Bei deren Erledigung wird es schwerlich immer für nötig erachtet, auch auf auslandsrechtliche Systeme und ihre Vergleichung einzugehen.“ 141   Hervorzuheben sind: Simons, Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (The Supreme Court of the United States), in: JW 1928, S.  1966 f.; eingehender aber Simons, Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Rechtsstellung und Rechtsprechung, in: Monatsschrift für internationale Zusammenarbeit, 53 (1930), S.  234–244; allgemeinerer Natur ders., Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika, in: JW1931, S.  105–107. 142   Vgl. auch den Bericht von Arthur Meyerowitz, Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht, in: JW 1931, S.  125 f. 143   Wehberg (Fn.  36), S.  194. Ein bezeichnendes Schlaglicht wirft Wehbergs persönliche Reminiszenz, ebd.: „Ich erinnere mich noch seiner vortrefflichen Rede auf dem großen Diner zu Ehren der Trustees der Carnegie-Friedensstiftung im Astoria-Hotel zu New York (1929), wo er in freier, gewandter englischer Rede das Entzücken der Anwesenden erregte, denen er übrigens u.a. damit schmeichelte, es sei besser, sein Geld für Arbeit im Dienste des Weltfriedens auszugeben, als es den anderen abzunehmen, um es für die Weltrevolution zu verwenden.“ 144   Leipzig 1880. Dieses Werk ist das einzige, das seinerzeit das amerikanische Verfassungsrecht in deutscher Sprache systematisch darzustellen und zu erläutern unternahm. Zu den Gründen, weshalb das amerikanische Verfassungsrecht „für Deutschland von ganz besonderer Wichtigkeit“ sei, s. ebd. Vorwort p. VIII sq. Dort hebt Schlief auch hervor, „daß es ganz besonders beachtenswerth für die praktischen Staatsmänner“ sei, „welche das Geschick Deutschlands zu leiten berufen sind; es wäre unverantwortlich, wenn dieselben in der Gegenwart und Zukunft sich nicht die Mühe gäben, sich über die Zustände jenseits des Oceans etwas genauer als bisher zu unterrichten, denn sie werden, wenn sie diesen Rath befolgen, viele Fehltritte vermeiden, vor denen sie sonst nicht sicher sein möchten, und (…) einsehen lernen, was uns in Wahrheit noththut“ (p. IX). 145   Simons, Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Rechtsstellung und Rechtsprechung (Fn.  141), S.  234. 140

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sonders wandte sich hier sein Interesse dem Supreme Court of the United States zu – für einen jungen Juristen, der im Kaiserreich und unter der Vorherrschaft der zu höchster Blüte erwachsenen Pandektenwissenschaft Windscheidscher Prägung aufgewachsen und dem das Leipziger Reichsgericht zum Kulminationspunkt privatrechtlicher Judikatur geworden war, ein seltenes Phänomen. Es kann nur vermutet werden, dass die etwas freiere Atmosphäre, die das Rechtsstudium in Straßburg, unter Labands Ägide, in seiner Erweiterung auf das Staatsrecht erfuhr, hierzu beigetragen hat. Nach eigenem Bekunden hat Simons nämlich seit seiner Straßburger Zeit an der Stellung der nordamerikanischen Gerichtsbarkeit zu den beiden anderen Staatsgewalten, der Legislative und der Exekutive, ein stets wachsendes Interesse genommen. Später war für ihn „die Rechtsstellung des Supreme Court im Staatsleben der Union (…) ein Ideal, dem ich die Stellung des Reichsgerichts und des damit verbundenen Staatsgerichtshofes für das Deutsche Reich anzunähern bestrebt war.“146 Enge Fühlung mit der Wissenschaft des Völkerrechts hielt er dadurch, dass er in dem von Theodor Niemeyer (1857–1939), dem Nestor der Völkerrechtswissenschaft,147 herausgegebenen „Handbuch des Abrüstungsproblems“148 zusammen mit Hermann Jahrreiss (1894–1992) den VII. Teil „Das Völkerrecht und das Abrüstungsproblem“ bearbeitete,149 wobei ihm seine als Reichsaußenminister gemachten Erfahrungen vor idealistisch anmutenden Theorien bewahrten und den Blick auf das eben noch möglich Erscheinende lenkten, das es dann kraftvoll anzustreben galt.150 Die Gefahr einer Zersplitterung der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch zahlreiche oberste Sondergerichtshöfe151 erschien ihm aber nicht nur im Gegensatz zum amerikanischen Rechtssystem gegeben, denn es ist „ein großer Vorzug des angelsächsischen Rechts, daß seine leitenden Ideen von denselben Gerichtsbehörden auf private wie öffentliche Streitigkeiten angewendet werden; auch das französische Recht ist uns in der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei der Cour de Cassation und beim Conseil d’état überlegen.“152 Diese Überzeugung ist der tiefere Grund dafür gewesen, dass sich Simons, trotz zusätzlicher Inanspruchnahme des Reichsgerichts, nicht gegen Pläne wandte, anstelle des Reichsverwaltungsgerichts sogenannte Verwaltungssenate beim Reichsgericht einzurichten.153 Wie bedeutsam ihm neben   Wie vorige Note.   Niemeyer gründete bereits im Jahre 1914 in Kiel das Institut für internationales Recht und war Mitbegründer der Dt. Gesellschaft für Völkerrecht. Eingehend zu Leben und Werk die autobiographische Nachlassedition: Theodor Niemeyer, Erinnerungen und Betrachtungen aus drei Menschenaltern, Kiel 1963. 148   Drei Bände, 1929. 149   Als Separatum auch erschienen Berlin 1928. 150   Simons/Jahrreiss (Fn.  149), S.  8 : „Ein Weltvertrag über die Abrüstung oder regionale Abkommen oder beides in gegenseitiger Ergänzung sind das Ziel, um das wir uns mühen. Das ist das Problem: Abrüstung und Völkerrecht. Das ist nicht einer jener Fälle, in denen das soziale Leben die ausgereifte Lösung wie etwas Selbstverständliches dem Juristen zur Formulierung entgegenbringt; es scheint vielmehr von ihm zu erwarten, daß er Lösungen zur Auswahl vorlegt.“ Es ist anzunehmen, dass Simons die erste Anregung zu diesem Thema ebenfalls durch ein Werk von Eugen Schlief empfangen hat, dessen große Abhandlung „Der Friede in Europa“, Leipzig 1892, sich im Untertitel ausdrücklich als „völkerrechtlich-politische Studie“ bezeichnet. 151   Siehe hierzu oben im Text bei Fn.  139. 152   Simons, in: DJZ 1924, col.  329. 153   Wie Fn.  152: „Dadurch würde dem RG. eine neue wichtige Aufgabe wie frisches Blut zugeführt 146 147

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der Einheitlichkeit der Rechtsprechung noch ein anderer Gesichtspunkt war, dass nämlich die Autorität des Reichsgerichts durch ein oberstes Gericht für öffentlich-rechtliche Fragen Einbuße erleiden könne, hebt er in der traditionellen Jahresansprache zum Gründungstag des Reichsgerichts, dem 1. Oktober, vor der Richterschaft, der Reichsanwaltschaft und der Rechtsanwaltschaft des Reichsgerichts im Jahre 1924 hervor: „Aus Sparsamkeitsgründen soll, wie Sie wissen, das Reichsverwaltungsgericht in der Form von Verwaltungssenaten beim Reichsgericht gegründet werden. Dieser Plan stößt, wie man hört, bisher auf den Widerstand einzelner Länder, die nur eine Art Ausgleichsbehörde für Konflikte zwischen den höchsten Landesverwaltungsgerichten wünschen. Die Durchführung des Planes ist an sich für das Reichsgericht nicht dringlich, da er manche Gefahren für dessen Bestand enthält. Für größer erachte ich allerdings die Gefahr, daß bei einer anderen Lösung der Aufgabe – etwa dem Ausbau des Reichswirtschaftsgerichts zu einem Reichsverwaltungsgericht – dem Reichsgericht noch der Rest wichtiger öffentlich-rechtlicher Fragen genommen würde, die ihm geblieben sind, und daß so die Würde und das Ansehen des Reichsgerichts von dem höchsten öffentlich-rechtlichen Gerichtshof überschattet werden könnten.“154

Simons’ rechtspolitische Bemühungen um Entlastung des Reichsgerichts waren nur zum Teil erfolgreich. Durch die „Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege“ vom 4. Januar 1924,155 die aufgrund des bereits genannten Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 (o.Fn.  125) ergangen war, bestimmte die Reichsregierung in §  2 : „Die Senate des Reichsgerichts entscheiden in der Besetzung von fünf Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden. Der Strafsenat, dem die erstinstanzlichen Sachen zugewiesen sind,156 entscheidet außerhalb der Hauptverhandlung in einer Besetzung von drei Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden.“ Damit wurde im Verordnungswege die bereits seit dem Jahre 1877 geltende Vorschrift des §  140 des Gerichtsverfassungsgesetzes157 durchbrochen, wonach die Senate des Reichsgerichts in der Besetzung von sieben Mitgliedern mit Einschluss des Vorsitzenden zu entscheiden hatten. Die von der Reichsregierung so erhoffte Entlastung des Reichsgerichts trat hiermit jedoch nicht ein, was Simons vorausgesehen hatte. Er habe vor diesem Schritt gewarnt und müsse auch nach den bisher gemachten Erfahrungen bei der Auffassung bleiben, dass die Besetzung von sieben Mitgliedern für die Zwecke des Reichsgerichts die bessere sei. Die Verminderung der Richterzahl habe und seine Stellung im Leben des Volks gestützt und gestärkt. Sind es doch jetzt nicht sowohl private Vermögensstreitigkeiten oder straf bare Handlungen Einzelner, als vielmehr Streitigkeiten des öffentlichen Rechts, denen das Interesse unseres Volkes gehört.“ 154   Simons, Das Reichsgericht im 45. Lebensjahr, o. Fn.  137, col.  422. 155   RGBl. I, S.  15. 156   Hier ist vor allem an die sogenannten Kriegsverbrecherprozesse zu denken, die auf Drängen der Alli­ierten aufgrund des Gesetzes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. De­zember 1919 (RGBl. 1919, S.  2125) dem Reichsgericht zugewiesen waren. §  1 dieses Gesetzes bestimmte: „Bei Verbrechen oder Vergehen, die ein Deutscher im In- oder Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 1919 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hat, ist das Reichsgericht für die Untersuchung und Entscheidung in erster und letzter Instanz ausschließlich zuständig.“ Zu dieser Thematik umfassend Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. 157   RGBl. 1877, S.  41 (67).

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– solange die Senate dieselbe Anzahl von Rechtssachen erledigen müssten – den großen Nachteil, dass die Sitzungen in stets wechselnder Zusammensetzung des Senatskörpers stattfänden und dadurch der innere Zusammenhalt des Senats und die Sicherheit der Rechtspflege gefährdet werden.158 An anderer Stelle legt Simons dar, dass die Verringerung der Mitgliederzahl in den Senaten nicht nur das Ziel der Vereinfachung und Entlastung des Gerichts nicht erreiche, sondern im Gegenteil sogar zu einer Verkomplizierung führe. Der Versuch, den allgemeinen Personalabbau dadurch erträglicher zu machen, dass die Präsenzzahl bei den Senaten von sieben auf fünf Mitglieder herabgesetzt werde, habe zunächst nur zu einer außerordentlichen Erschwerung der Terminbestimmung geführt. „Es bedarf geradezu gewisser Kunststücke der Variations- und Permutationsrechnung, um über die Sitzungen richtig zu disponieren.“159 Wie sich die verringerte Zahl der Senatsmitglieder für die Wahrung der Rechtseinheit noch auswirken werde, könne erst in späterer Zeit beurteilt werden. Dieser spätere Zeitpunkt war für ihn im Jahre 1929 gekommen, als er in dem von Julius Magnus herausgegebenen Sammelband „Die höchsten Gerichte der Welt“ die eingehende Besprechung des Reichsgerichts übernahm.160 Hier geht er ausführlich auf die Vorzüge der alten Senats-Mitgliederzahl ein und legt die erheblichen Nachteile dar, die die Verminderung nicht nur für die Senatsmitglieder, sondern für die Rechtsprechung überhaupt mit sich bringt: „Die Senate des Reichsgerichts entschieden nach seiner ursprünglichen Verfassung in der Besetzung von sieben Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden. Diese Besetzung hat sich gut bewährt. Sie hatte die Folge, daß dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter, die naturgemäß in der Beratung eines Rechtsstoffes über die anderen Mitglieder des Senats ein gewisses Übergewicht infolge ihrer größeren Aktenkenntnis besitzen, immer eine große Majorität unvoreingenommener Teilnehmer in der mündlichen Verhandlung gegenüberstand; auch gewährleistete sie eine gründliche Erörterung aller auftauchenden juristischen Probleme. Dazu kam, daß die Siebenzahl der Richter ein Übersehen früherer Entscheidungen des erkennenden Senats so gut wie ausschloß. Seit der Inflation hat man sich durch die Finanznot veranlaßt gesehen, die Zahl der erkennenden Richter in den obersten Instanzen allgemein zu vermindern; bei den Oberlandesgerichten von fünf auf drei, beim Reichsgericht von sieben auf fünf. Diese Verminderung, deren finanzielle Auswirkung sich schwer übersehen läßt, aber keinesfalls groß gewesen ist, hat jurisdiktionell große Nachteile zur Folge gehabt. Beim Reichsgericht wirkte sie sich dahin aus, daß in den Beratungen der Senate der Beitritt eines Mitgliedes zu dem übereinstimmenden Votum des Berichterstatters und des Vorsitzenden schon genügte, um die Mehrheit herzustellen, daß daher die Gewähr einer allseitigen Erörterung der Streitfragen sich verringerte und – was schlimmer ist – daß die Besetzung in den einzelnen Senaten von Sitzung zu Sitzung in weitgehendem Maße wechseln mußte. Denn mit der Verringerung der Zahl der erkennenden Richter nahmen nicht etwa die dem Senat obliegenden Geschäfte ab; man konnte also die Zahl der Richterkräfte jedes Senats nicht im Verhältnis zur Zahl des Quorum verringern. In jeder Sitzung fiel deshalb dem einzelnen Beisitzer eine größere Menge von Urteilssprüchen zur Bearbeitung zu. Deshalb müssen die

158   Simons, wie Fn.  154. Schlegelbergers Hoffnung, dass die Herabsetzung der Mitgliederzahl in den Senaten „recht bald wieder rückgängig gemacht werden wird“, erwies sich als unbegründet. S. Franz Schlegelberger, Die Entwicklung des Deutschen Rechts in den letzten 15 Jahren, Berlin 1930, S.  55. 159   Simons, in: DJZ 1924, col.  245. 160   Simons, in: Magnus, Die höchsten Gerichte der Welt, Leipzig 1929, S.  3 –28.

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einzelnen Termine immer wieder von andern Senatsmitgliedern wahrgenommen werden, was eine Gefahr für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung bedeutet.“161

So sehr sich Simons mit der Reichsjustizverwaltung in dem Bestreben einig gewesen ist, die Stellung der Reichsrichter dadurch zu heben, dass ihre Zahl vermindert wurde, so sehr hat er doch vor allzu scharfen Eingriffen und übertriebener Sparsamkeit in dieser Richtung gewarnt.162 Simons sieht also als Allheilmittel keineswegs die Aufstockung der Richterzahl an – unter seiner Ägide wurde sogar zeitweilig die Anzahl der Senate des Reichsgerichts vermindert, weil er durch ein ständiges Aufblähen der Richterzahl den Charakter des Reichsgerichts als eines obersten Organs einheitlicher Rechtspflege „ernstlich in Frage gestellt“ sah163 –, jedoch stieg der Geschäftsanfall seit der Mitte der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts so stark an, dass die Errichtung neuer Senate unvermeidbar war: „Bis zum 1. Oktober 1924 gelang die Auflösung von einem Zivilsenat und drei Strafsenaten; gleichzeitig sank die Zahl der Reichsgerichtsräte von 91 auf 80. Bald aber machte sich eine neue Belastung geltend (…) Mit dem Beginn des Haushaltsjahres 1927 mußte ein VII. Zivilsenat, für das Jahr 1928 ein VIII. Zivilsenat gebildet werden.“164 Da zahlreiche Revisionen, über die das Reichsgericht zu entscheiden hatte, insbesondere auf den Verfahrensmangel gestützt wurden, dass Vorderrichter der ihnen nach §  139 der Zivilprozessordnung obliegenden Auf klärungspflicht nicht im gebotenen Umfang nachgekommen seien, hatte der Reichstag auf Anregung von Simons am 21. Dezember 1925 ein „Gesetz zur Entlastung des Reichsgerichts“ beschlossen.165 Dort hieß es unter anderem in Art. I: „Die Revision kann nicht darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf Verletzung der §§  139, 286 und 287 der Zivilprozeßordnung beruhe.“166 Dem zeitgenössischen Schrifttum kann nicht entnommen werden, in welchem Umfang dieses in seiner Gültigkeit auf das Kalenderjahr 1926 beschränkte Gesetz das Reichsgericht tatsächlich entlastet hat. Hier soll nur noch auf einen anderen Umstand aufmerksam gemacht werden, auf den – außer in Simons’ Schilderung – sonst nicht eingegangen wird, weil er gesetzlich nicht geregelt war, nicht unmittelbar die Rechtsprechung betraf und dennoch das Reichsgericht und seinen Chefpräsidenten zusätzlich belastete, nämlich auf die Erstellung von Gutachten in Gesetzgebungsfragen. Sie   Simons (Fn.  160), S.  12 f.   Simons, wie Fn.  159. Simons spielt hier darauf an, dass das Reichsgericht verwaltungsseitig nicht nur, wie alle Reichsbehörden, der Prüfung durch den Rechnungshof des Dt. Reiches unterlag, sondern auch der Tätigkeit des Reichssparkommissars. Während der Rechnungshof nach damaliger Rechtslage haushaltsrechtlich bereits abgeschlossene Finanzvorfälle überprüfte und eine sog. Visa-Kontrolle nicht stattfand, konnte der Reichssparkommissar durch Prüfungen und Stellungnahmen auch in laufendes Verwaltungshandeln eingreifen. Treffend zum Problemkreis Karl Bilfinger, Der Reichssparkommissar, Berlin/Leipzig 1928, ebd. S.  66–68 mit den „Richtlinien über die Tätigkeit des Reichssparkommissars“. Zu den Petita des Sparkommissars s. auch Simons (Fn.  137), col.  421. 163   Simons, in: Magnus (Fn.  160), S.  16. 164   Wie vorige Fußnote. – Eine statistische Übersicht der Geschäftslast des Reichsgerichts vom Jahre 1910 bis einschließlich 1926 gibt Simons in dem von Fritz Stier-Somlo und Alexander Elster herausgegebenen „Handwörterbuch der Rechtswissenschaft“, Bd. V, Berlin/Leipzig 1928, sub voce „Reichsgericht“, S.  1–8 (6), dort auch (S.  3 ) zu den wiederholten Änderungen in der Zahl der Senate. 165   RGBl. I, S.  475. 166   Wie Fn.  165. 161

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war weder im Gerichtsverfassungsgesetz noch in einem Spezialgesetz, sondern in der Geschäftsordnung des Reichsgerichts geregelt. Simons führt hierzu aus: „Die Geschäftsordnung des Reichsgerichts weist ihm die Pflicht zu, auf Erfordern der Reichsregierung Gutachten in Gesetzgebungsfragen zu erstatten. Organ für solche Gutachten ist an sich das Plenum; die Erteilung des Gutachtens durch das Plenum erfordert aber eingehende Vorbereitung und viel Zeit. Bei der Überhastung, mit der seit der Kriegszeit die Gesetzgebungsmaschine in Deutschland arbeitete, steht der Reichsjustizverwaltung für die Vorbereitung gesetzgeberischer Vorlagen an den Reichstag so viel Zeit meist nicht zur Verfügung. Das Gutachten wird deshalb vielfach nicht vom Reichsgericht, sondern vom Chefpräsidenten eingefordert. Wenn dieser der Aufforderung aus eigener Entschließung nachkommt, übernimmt er eine Verantwortung, die je nach dem Gegenstand der beabsichtigten Gesetzgebung vielfach seine persönliche Kenntnis der Materie übersteigen würde. Deshalb ist es üblich geworden, daß der Chefpräsident vor Abgabe des Gutachtens das Präsidium um Stellungnahme bittet. Auch für die Justizverwaltung ist es wichtig, in solchen Fällen zu erfahren, welche Ansicht im Präsidium die herrschende ist. Daß der Chefpräsident daneben eine etwa abweichende persönliche Auffassung der Reichsregierung zu vertreten hat, ist selbst ­verständlich.“167

Als bedrückender noch wurde für das Reichsgericht die sogenannte Personal-Abbau-Verordnung empfunden,168 durch die die Reichsregierung, sich abermals auf das genannte Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 stützend,169 unter anderem weitreichende Änderungen des Reichsbeamtengesetzes vornahm, die zum Teil auch die Mitglieder des Reichsgerichts betrafen. Galt für die Reichsrichter bislang keine Altersgrenze, erfolgte vielmehr bei der Zurruhesetzung eine individuelle Prüfung von Fall zu Fall, so legte Art. I Ziff. VI der Verordnung für die Mitglieder des Reichsgerichts nunmehr eine solche Grenze fest, die Vollendung des 68. Lebensjahres.170 Diese Bestimmung hatte für das Reichsgericht einen Aderlass zur Folge: „Mußten doch die höchsten deutschen Gerichtsbehörden in dem Geschäftsjahr, das der Personalabbauverordnung folgte, d.h. bis zum 1. Oktober 1924, 6 Senatspräsidenten und 20 Räte aus seinem Verbande scheiden sehen.“171 In der Deutschen Juris167   Simons, in: Magnus (Fn.  160), S.  22 f. Unverkennbar war der genannten Bestimmung der Geschäftsordnung des Reichsgerichts die spätere – inzwischen längst aufgehobene – Vorschrift des §  97 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 12.03.1951 (BGBl. I, S.  243) nachgebildet worden. Danach konnten der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung in einem gemeinsamen Antrag an das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundespräsident „um Erstattung eines Rechtsgutachtens über eine bestimmte verfassungsrechtliche Frage ersuchen“. Dieses Rechtsgutachten hatte nach §  97 Abs.  3 BVerfGG das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zu erstatten. Zur zeitgenössischen Kommentierung vgl. etwa Hans Lechner, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München 1954, S.  277–282; trotz ausführlicher Kommentierung wird hier auf die Genese dieser Vorschrift und damit auf die Vorgänger-Regelung mit keinem Wort eingegangen. 168  Verordnung zur Herabminderung der Personalausgaben des Reichs (Personal-Abbau-Verordnung) vom 27. Okt. 1923 (RGBl. I, S.  999). 169   RGBl. I, S.  943. Vgl. auch oben Fn.  122. 170   Dies galt auch für die Mitglieder des Reichsfinanzhofs und des Rechnungshofs des Deutschen Reiches. – Zur rechtlichen Zulässigkeit der Einführung von Dienstaltersgrenzen für Richter s. den differenzierenden Beitrag des Reichsgerichtsrats Reichert, Dienstaltersgrenzen, in: DRiZ 1924, coll. 11–14. 171   Simons, in: Magnus (Fn.  160), S.  10. Der ehemalige Reichsgerichtsrat Simonson beklagte in der Deutschen Richterzeitung, dass das Reichsgericht am 1. Dezember 1924 „etwa ein Zehntel seiner Mitglieder verlor, während die an sich schon übergroße Geschäftslast vorerst unverändert blieb“. Simon­

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ten-Zeitung legte Simons schon kurz nach dem Inkrafttreten der Verordnung dar, dass sie dem Reichsgericht eine große Zahl seiner tüchtigsten und arbeitsfreudigsten Mitarbeiter geraubt habe. Die bloße Jahresziffer sei eben doch ein höchst ungenügender und äußerlicher Maßstab für die Überalterung. „Gerade für die auserlesenen Richter des höchsten deutschen Forums gilt der Satz, daß sie, wie edle Früchte, spät reif werden und lange frisch bleiben.“172 Die jetzt in den Ruhestand versetzte Generation habe sich offenbar durch besondere Zähigkeit ausgezeichnet, während unter den jüngeren Semestern mancher weit mehr durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre gelitten habe als die Senioren. So werde es nicht leicht sein, für die reiche Tradition, die in den abgehenden Mitgliedern verkörpert gewesen sei, einen gleichwertigen Ersatz zu finden.173 Rückblickend und zusammenfassend konnte Simons später konstatieren, es sei „wohl allgemein anerkannt“, dass die genannte Verordnung sich gerade beim Reichsgericht als „besonders schädlich“ erwiesen habe.174 Hiermit fasste er in neutralerem Ton und distanzierterer Sicht zusammen, was er in dem genannten Beitrag für die Deutsche Juristen-Zeitung viel temperamentvoller und plastischer gegeißelt hatte: Sei nämlich für die Güte der Arbeit am höchsten Gerichtshof „eine gewisse Ruhe des Gemüts unbedingtes Erfordernis“, so sollte man auch, „ehe man Richterstühle umstürzt, sich dreimal überlegen, ob nicht noch mancher von den Klubsesseln veräußert werden kann, die in den letzten zehn Jahren zu behördlichen Zwecken angeschafft worden sind.“175 Immer wieder müsse verlangt werden, dass der Personalabbau nicht schematisch mit gleichem Prozentsatz für jede Verwaltung durchgeführt, sondern dass er geschlüsselt werde nach der Bedeutung des einzelnen Verwaltungszweiges für die Grundaufgaben des Staates. „Wir haben in den letzten Jahren manchen Not- und Luxusbau aufgeführt, ohne den der Staat bis vor kurzem wohl auszukommen wußte; möge man diese wieder abbauen, ehe man die Spitzhacke an das fundamentum regnorum legt.“176 Auch richterliche Statusfragen bringt Simons in diesem Zusammenhang zur Sprache, wenn er fordert, man möge vor allem dafür sorgen, dass die Hebung des höchsten deutschen Richterstandes nicht nur auf dem negativen Wege der Verminderung seiner Zahl, sondern auch auf dem positiven Wege der Verbesserung seiner Dienststellung erreicht werde. „Ein Vergleich der Spannung zwischen der materiellen Dienststellung der Reichsrichter einerseits, der Landesrichter andererseits, wie sie 1879 vorgesehen war, und was 1924 davon übrig geblieben ist, zeigt, wieviel höher im kaiserlichen Deutschland die Stellung des obersten Gerichts eingeschätzt worden ist als jetzt in dem republikanischen Deutschson, Das Ermächtigungsgesetz, in: DRiZ 1924, coll. 14–17 (15). Zu den – fragwürdigen – „Sparwirkungen des Beamtenabbaus“ ebd., coll. 71 f. 172   Simons, Das Reichsgericht in Gegenwart und Zukunft (Fn.  100), col.  244. 173   Simons (Fn.  172), col.  245. 174   Simons, wie Fn.  171. In seiner Ansprache „Das Reichsgericht im 45. Lebensjahr“ (Fn.  137, col.  425) heißt es: „Für die Tradition des Reichsgerichts ist dieser Verlust unersetzlich.“ 175   Simons (Fn.  172), col.  245. 176   Wie Fn.  175. Was das Alter der Richter an obersten Gerichten betrifft, so mochten Simons auch hier die Verhältnisse des amerikanischen Supreme Court vor Augen gestanden haben. Vgl. Markley Frankham, Vereinigte Staaten von Amerika. Supreme Court of the United States, in: Julius Magnus, die Höchsten Gerichte der Welt, Leipzig 1929, S.  554–574, dort S.  569 f. zum hohen Alter der Mitglieder des US Supreme Court.

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land. Und doch sollte man das Gegenteil erwarten.“177 Es sei Aufgabe weitschauender Rechtspolitik, die Judikatur mit den denkbar höchsten Garantien der Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu umgeben. „Zu solchen Garantien gehört auch eine würdige Gestaltung des persönlichen Lebens der Richter.“178

6.  Das „Wirtschaftsrecht“. Art.  165 WRV. Die sogenannte Interessenjurisprudenz Mahnt Simons hier Aufgaben „weitschauender Rechtspolitik“ an und ist er in seinen angeführten Stellungnahmen nach Kräften bemüht, dass die Funktionsfähigkeit des Reichsgerichts auch bei außerordentlich starker Inanspruchnahme und bei rigiden Sparmaßnahmen noch erhalten bleibt, so griff er, bereits vor seiner Ernennung zum Reichsgerichtspräsidenten, selbst in die rechts- und wirtschaftspolitische Diskussion aktiv ein – auch wenn sie nicht direkt das Reichsgericht betraf. Da er, nicht zuletzt durch seine vor der Ernennung zum Reichsgerichtspräsidenten ausgeübte Tätigkeit als geschäftsführendes Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, mit wirtschaftlichen Fragestellungen besonders vertraut war, konnte er sich auch zu den mit ihnen verbundenen Rechtsproblemen prononciert äußern. Hier hatte er sein verfassungspolitisches Fazit schon zu einer Zeit gezogen, als er zu dem durch Art.  165 WRV geschaffenen Reichswirtschaftsrat Stellung genommen und es als Mangel jener Verfassungsvorschrift herausgestellt hatte, dass sie es unterließ, den Reichswirtschaftsrat inhaltlich auszugestalten.179 Er erweitert punktuelle Kritik an der neuen Verfassung, auf deren Boden er sich sogleich mit deren Inkrafttreten entschieden gestellt hatte, und blieb verfassungsimmanent,180 als er als ihren Hauptmangel „die ungenügende Erfassung des wirtschaftlichen Problems“ hervorhob:181 Die Nationalversammlung, die den Frieden von Versailles angenommen habe, hätte sich darüber im klaren sein müssen, dass alle anderen Aufgaben zurückzutreten hatten hinter der Aufgabe, Deutschland wirtschaftlich so leistungsfähig zu machen wie möglich, damit es die Folgen der Kriegswirtschaft und der Blockade und die Verpflichtungen des Waffenstillstandes und des Friedensschlusses zu überwinden vermochte. Statt dessen habe die Nationalversammlung vielfach Materien angeschnitten, die geeignet gewesen seien, die politische Zersetzung innerhalb Deutschlands zu fördern, und sie habe die wirtschafts- und steuerpolitischen Proble  Wie Fn.  175.   Simons (Fn.  172), col.  246. Ausführlich zur Thematik, dass „das Amt des Reichsrichters nicht mehr den Anreiz wie früher“ bietet, was er als „bedenklich für das dauernde Niveau unserer höchsten Rechtsprechung“ ansieht, Simons, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. V, Berlin/Leipzig 1928, s.v. Reichsgericht, S.  1–8 (7). 179   Simons, Der Reichswirtschaftsrat, in: Deutsche Industrie. Zeitschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, 1. Jg. (1920), Nr.  1, S.  4 –6 (4). S. auch oben bei Fn.  102. 180   Vgl. auch Simons’ spätere Äußerung in: ders., Sieben Jahre Reichsgerichtspräsident, in: DJZ 1929, coll. 1249–1254 (1253): „Den Richterstand, wo er noch an alten Gedankenbildern hängt, für das republikanische Deutschland zu gewinnen, darf nie Sache administrativer Einwirkung auf die Rechtsprechung sein; um so sicherer wird es eine gesunde Entwicklung der Weimarer Verfassung bewirken.“ Zuvor bereits Simons (Fn.  172), col.  246: „Die beste Garantie freilich ist die Achtung vor der Verfassung, die sich das ganze Volk, einschließlich der von ihm gewählten Gesetzgeber, freiwillig auferlegt.“ 181   Simons (Fn.  179), S.  4. 177 178

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me in einer Weise gelöst, die mehr dem populären Ruf nach Gleichmacherei, Soziali­ sierung und Konsumentenpolitik nachgaben, als die deutsche Produktionskraft zu schonen und zu stärken suchten. Charakteristisch hierfür sei die Art, wie das für die deutsche Wirtschaft so unendlich wichtige Betriebsrätegesetz parlamentarisch behandelt wurde. Statt es nach den Grundsätzen vorsichtiger Gesetzgebungstechnik an die bewährten Formen der betriebsmäßigen Arbeitervertretung anzuknüpfen, statt die Aufgaben der Betriebsräte zunächst in den Grenzen der Gebiete zu halten, in denen die Arbeiterschaft ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Interessen zum gemeinsamen Produktionsprozess beibringen konnte, habe man Verbeugungen vor dem Rätegedanken gemacht, die keine der parlamentarischen Parteien befriedigten und bei der Durchführung des Gesetzes noch schlimme Nachwirkungen zeitigen würden. So komme es denn, dass die bisherigen Versuche, den Reichswirtschaftsrat aufzubauen, unternommen worden seien, als ob es gar kein Betriebsrätegesetz gebe. „Nach meiner festen Überzeugung wird eine so unorganische gesetzgeberische Arbeit keine dauernden Gebilde schaffen können.“182 Demgegenüber sei es erwünscht, dass neben den Gewerkschaftspolitikern auch die besten Köpfe aus der praktisch tätigen Arbeiterschaft, die in den Betriebsräten „gesiebt“ würden, zu Gehör kämen. N­ur so könne der Gefahr begegnet werden, dass jeder Betriebsrat sich verpflichtet fühle, „Parlament zu spielen und allgemeine Fragen zu behandeln.“183 Bei der Offenheit seiner Einstellung zu juristischen Problemstellungen, die wirtschaftliche Fragen zum Gegenstand hatten, verwundert es nicht, dass er früh auch Gedanken nähertreten konnte, die erst später unter dem Schlagwort der Interessenjurisprudenz zusammengefasst wurden. Unterschied man noch im ersten Dezennium nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches eine starre, der Dogmatik verpflichtete Rechtsprechung von einer solchen, die wissenschaftlichen Geist atmete, wobei für die erstere die aus Quellenstudium, juristischen Konstruktionen und Spekulationen entwickelte Doktrin das allein maßgebende Prinzip war, so wurde die wissenschaftliche Rechtsprechung von keinem Geringeren als dem einflussreichen Reichsgerichtsrat Adelbert Düringer (1855– 1924)184 als eine solche charakterisiert, die aus allen Quellen menschlicher Erkenntnisse schöpfe, in erster Linie aber aus den Erscheinungen des Lebens, die zu erforschen und auf ihren juristischen Gehalt zu prüfen sie sich zur Aufgaben mache. Nach Düringer schwöre die doktrinäre Rechtsprechung in verba magistri, auf die Ansicht angesehener Lehrbücher oder Kommentare und halte es für notwendig, sich mit der herrschenden Meinung im Einklang zu befinden. „Die wissenschaftliche Justiz fragt nach dem praktischen Resultat einer Rechtsauffassung und prüft, ob dieselbe mit dem Zwecke des Gesetzes und den Bedürfnissen des Lebens im Einklang steht.“185 182   Wie Fn.  181. Eingehend zur Rechtsstellung und Bedeutung des deutschen Reichswirtschaftsrats – in Gegenüberstellung zum französischen Conseil National Economique – Friedrich Glum, Der deutsche und der französische Reichswirtschaftsrat. Ein Beitrag zu dem Problem der Repräsentation der Wirtschaft im Staat, Berlin/Leipzig 1929. 183   Simons (Fn.  179), S.  5. 184   Düringer ist Generationen von Juristen zum Begriff geworden durch den gemeinsam mit Max Hachenburg verfassten Großkommentar zum Handelsrecht. Er gehörte, ebenso wie Simons – jedoch vor dessen Präsidentschaft –, dem I. Zivilsenat des Reichsgerichts an (s. Schaaf bei Lobe (Fn.  6 ), S.  390), in dessen Zuständigkeit spezielle handelsrechtliche Fragen fielen, die ohne profunde wirtschaftliche Kenntnisse nicht zu beantworten waren. 185   Düringer, Richter und Rechtsprechung, Leipzig 1909, S.  27.

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Aus diesem gedanklichen Ansatz entwickelte sich die auch das Reichsgericht beeinflussende sogenannte Interessenjurisprudenz. Sie hatte insbesondere Philipp Heck (1858–1943) als ihr kraftvollster Vertreter entwickelt. Doch bereits Rudolf Müller-Erzbach (1874–1959) unterstützte schon im Jahre 1913 eine juristische Methodik, die auch Simons beeinflusst hat und die der herkömmlichen Dogmatik bis dahin fremd gewesen war, nämlich einen Vergleich der Interessenlagen. Hiernach hat der Richter zu untersuchen, ob die Interessen in dem ihm vorliegenden Falle die gleichen und ebenso gelagert sind wie in dem vom geltenden Recht entschiedenen Interessenstreit. „Die Prüfung der Frage, ob ein bestimmtes Gesetz auf einen konkreten Fall anzuwenden sei, fordert vom Richter mithin ein Vergleichen der Interessenlagen, nicht ein Abwägen der Interessen.“186 Durch ein solches Vergleichen blieb man intra legem und setzte nicht eine Abwägung gegen die vom Gesetz getroffene Abwägung – was judizielles Argumentieren in Rechtspolitik verwandelt hätte.187 Diese Sichtweise konnte Simons in dem von ihm zunächst präsidierten I. Zivilsenat wirksam zur Geltung bringen, da zur Zuständigkeit dieses Senats die Patent-, See-, Binnenschifffahrts-, Fracht-, Bank- und Börsensachen sowie das internationale Privatrecht und das Recht des Versailler Vertrages gehörten188 und da gerade auch auf wirtschaftlichem Gebiet die Senate189 stets vor neue Aufgaben gestellt wurden.190 Denn eine neue Flut von Verordnungen ergoss sich von hier.191

7.  Gesetzesflut und weitere Überlastung des Reichsgerichts. Reformvorschläge. Mahnungen von Simons Als Simons am 9. November 1926 auf Einladung der Juristischen Studiengesellschaft in München im Auditorium Maximum der Universität einen Vortrag vor prominenter Hörerschaft über das Thema „Die Vertrauenskrise der deutschen Justiz“ hielt192 186   Müller-Erzbach, Gefühl oder Vernunft als Rechtsquelle? Zur Auf klärung über die Interessenjuris­ prudenz, in: Zeitschrift für das gesamte Handels- und Konkursrecht 73 (1913), S.  429–457 (439). 187   Müller-Erzbach hatte sich daher anfangs heftig einer Deutung zu erwehren, als seinem Bestreben, das Recht unter Berücksichtigung der realen Lebensbedürfnisse durch Aufdeckung und Schlichtung des jeweiligen Interessenkonfliktes zu finden, wiederholt die Tendenz beigelegt wurde, als solle durch dieses Verfahren gleichzeitig der Richter von dem Zwange des Gesetzes befreit werden. „In Wahrheit liegt ein solcher Angriff auf die Rechtssicherheit dieser realen Methode der Rechtsfindung fern. Sie ist im Gegenteil berufen, einer heute nicht seltenen Willkür in der Gesetzesauslegung entgegen­ zutreten“, so Müller-Erzbach, Rechtsfindung auf realer Grundlage, in: DJZ 1906, coll. 1235–1238 (1235). Zur damaligen Abgrenzung rechtspolitischer von rechtsdogmatischer Fragestellung vgl. Wilhelm Glungler, Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung, München 1929, S.  15 ff., 24 ff. 188   Simons, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. V (1928), s.v. Reichsgericht, S.  1–8 (5). 189   Besonders zu erwähnen ist noch der II. Zivilsenat, dem die übrigen Handelssachen zugewiesen waren. Simons, wie Fn.  188. 190   Vgl. die Schilderung von Ebermayer (oben Fn.  19), S.  95 f. 191   Ebermayer (Fn.  19), S.  95. 192   Die Vertrauenskrise der deutschen Justiz. Bericht über den Vortrag des Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons in der Juristischen Studiengesellschaft München, in: DJZ 1926, coll. 1665–1669. Anwesend waren u.a. Spitzen der Reichs- und Landesbehörden, die bayerischen Minister mit dem Ministerpräsidenten Dr. Held, Vertreter des Landtags und des öffentlichen Lebens und die sämtlichen Oberlandesgerichtspräsidenten sowie Vertreter der Staatsanwaltschaften aus ganz Bayern, ebd. col.  1665.

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und den „ungeheuren Wirrwarr an Gesetzen“ ansprach,193 war das unerwartet breite Echo, das der Vortrag auslöste, vor allem ein zustimmendes Zeichen für die charakterisierte Lage. Indessen bildete er nur einen vorläufigen Höhepunkt einer seit langem schon schwelenden Diskussion, die bis dahin auf die Fachöffentlichkeit beschränkt geblieben war: Der damalige Vortragende Rat im Preußischen Justizmini­ sterium und spätere Breslauer Oberlandesgerichtspräsident Felix Vierhaus hatte schon im Jahre 1903 ausgeführt: „Leider lehrt eine objektive Betrachtung, ein Blick in die Tagespresse und in die stenographischen Berichte über parlamentarische Verhandlungen, daß das Vertrauen in die Rechtspflege, der Stolz auf die Gerichte, in starkem Niedergange begriffen sind. Mag die Tadelsucht des Zeitalters auch an solchen Äußerungen der Unzufriedenheit ihr gutes Teil haben, objektiv ist die Tatsache nicht zu leugnen.“194 Aufgegriffen195 und entscheidend vertieft wurde die Analyse der Lage durch Schriften des einflussreichen Rechtspolitikers und Frankfurter Oberbürgermeisters Franz Adickes (1846–1915),196 die nachhaltig auf Simons gewirkt haben und deren Reformfreudigkeit nur vereinzelt auf erbitterten Widerstand in der Richterschaft gestoßen war.197 Hatte schon der führende Prozessualist seiner Zeit, der nach Professuren in Rostock, Tübingen und Bonn seit 1875 in Leipzig lehrende Adolf Wach (1843–1926)198 ein aufgeblähtes Rechtsmittelsystem beklagt, wofür er unter anderem die in langer geschichtlicher Entwicklung sich ausdehnende Schriftlichkeit des Verfahrens verantwortlich machte,199 so griff Adickes diesen Punkt auf: Lebhaft wandte er sich gegen die auch von Simons beklagte „Instanzenhäufung“,200 die keinesfalls Ausdruck des Bedürfnisses der Rechtsuchenden sei. Es sei durchaus falsch, „immer damit zu operieren, daß die Laien, daß die Parteien, daß das Volk viele Instanzen wollen. Nichts ist verkehrter. Das Volk will weiter nichts, als so schnell wie möglich und so billig wie möglich Recht finden. Wo das Volk zu Worte gekommen ist, da hat es immer verlangt: eine erste vertrauenswürdige Instanz, die möglichst die Sache   Wie Fn.  192, col.  1669.   Vierhaus, Soziale und wirtschaftliche Aufgaben der Zivilprozeß-Gesetzgebung, in: Festgabe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin zum 50jährigen Dienstjubiläum ihres Vorsitzenden Dr. Richard Koch, Berlin 1903, S.  37–74 (63). 195   Franz Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform. Betrachtungen und Vorschläge unter Verwertung englisch-schottischer Rechtsgedanken, Berlin 1906, S.  8 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Vierhaus. 196   Außer Fn.  195 noch zu erwähnen: Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, in: DJZ 1906, coll. 501–509; ders., Zur Verständigung über die Justizreform, Berlin 1907. 197   Exemplarisch hierfür Otto von Pfister, Der Reform-Ansturm gegen die bestehende Rechtsordnung, Leipzig 1907. Gute Würdigung der Reformvorschläge und Gesetzesinitiativen von Adickes bei Karl Weidlich, Franz Adickes als Jurist, in: Franz Adickes, Sein Leben und Werk (Frankfurter Lebensbilder, hrsgg. von der Histor. Kommission der Stadt Frankfurt a.M., Bd. XI), Frankfurt a.M. 1929, S.  375– 402. 198   Zu ihm Kleinheyer/Schröder (oben Fn.  2 ), S.  517 m.w.N. 199   Schon in seinem vielbeachteten Werk „Vorträge über die Reichs-Civilprocessordnung“ (hier zit. nach der 2.  Aufl. Bonn 1896) führt Wach aus: „Wem die wahre Befriedigung der Lebensbedürfnisse höher steht, empfindet Widerwillen bei dem Anblick einer Process-Maschine, von deren kunstvollem Räderwerk die Streitsache bis ins Endlose fortbewegt und das gute Recht in langsamem Siechthum abgetödtet wird“, ebd. S.  243 f. 200   Adickes, Stellung und Tätigkeit des Richters, Dresden 1906, S.  18 und öfter. 193

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erledigt.“201 Dies verbindet Adickes mit der Forderung der Stärkung der „Kraft und Autorität der ersten Instanz.“202 Gegenteilige Bestrebungen hätten dazu geführt, dass das Reichsgericht mit einer unerträglichen Geschäftslast überbürdet und dadurch „an den Abgrund“ geführt worden sei.203 In seinem Werk „Grundlinien durchgreifen­ der Justizreform“ widmet Adickes ein eigenes Kapitel „den bisherigen vergeblichen Bemühungen um die dauernde Arbeitsfähigkeit des Reichsgerichts“204 und plädiert im Übrigen nicht etwa für eine Vermehrung, sondern für eine Reduzierung der „übergroßen Richterzahl“,205 was bei einer Befreiung der Richter „von subalternen Lasten“ durchaus erreichbar sei.206 In dieser Tradition steht Simons mit seinem genannten Vortrag über die Vertrauenskrise der deutschen Justiz,207 wenn auch er beklagt, dass Deutschland mehr Berufsrichter als irgendein anderes Land der Welt habe.208 Hatte er, wie bereits angesprochen,209 auch nichts dagegen einzuwenden, „die Stellung der Richter des Reichs dadurch zu heben, daß ihre Zahl vermindert wird“,210 so kam es ihm jedoch gerade auch beim Reichsgericht auf das rechte Maß solcher Eingriffe an, die niemals isoliert ins Werk gesetzt werden dürfen, sondern nur bei Einbettung in einen Gesamtzusammenhang Erfolg versprechen, für den die allgemeine Überschrift „Justizreform“ nicht zu hoch gegriffen war.211 Das heikelste Problem berührte Simons jedoch in seinem Münchener Vortrag, als er auf die innere Einstellung der Richter zur Republik und auf ihr Verhältnis zur Weimarer Verfassung zu sprechen kam. Hier führte er aus: Der Richterstand habe sich in den Dienst der neuen Republik gestellt und der Republik den Eid geleistet. 201   Adickes (Fn.  200), S.  19. In Adickes, Grundlinien (Fn.  196), col.  507, heißt es: „Die jetzt häufig gehörte Behauptung, daß das Volk ein Verlangen nach der Berufung und nach höheren Instanzen habe, ist durchaus unzutreffend.“ 202   Adickes, Grundlinien (Fn.  196), col.  507. 203   Adickes, Stellung und Tätigkeit des Richters (Fn.  200), S.  18. 204   Adickes, Grundlinien (Fn.  195), S.  14–34. Ebd. S.  104 heißt es, dass der Wunsch, eine dritte Instanz zu besitzen, „noch neuerdings das Reichsgericht der Zerrüttung nahe gebracht“ habe. 205   Adickes, in: DJZ 1906, col.  504. 206   Adickes, in: DJZ 1906, col.  502. Ebd. col.  505 fordert Adickes „die Befreiung der kostbaren richterlichen Arbeitskraft von allem Schreibwerk und aller untergeordneten Arbeit.“ 207   Simons, wie Fn.  192. 208   Simons (Fn.  192), col.  1666. 209   S. oben im Text bei Fn.  162. 210   Simons, in: DJZ 1925, col.  245. Auch hier vertrat Simons einen alten Standpunkt des Reichsgerichts, dass nämlich die Erhöhung der Mitgliederzahl kein geeignetes Mittel ist, um der Überlastung entgegenzuwirken. Schon im Jahre 1903 hatte der ehemalige Reichsgerichtsrat und spätere Senatspräsident am Reichsgericht Diedrich Alfred Hagens in einem Beitrag „Die Überlastung des Reichsgerichts und die Mittel der Abhülfe“ (in: DJZ 1903, S.  181–184) ausgeführt: „Wir leiden in Deutschland im allgemeinen eher an einem Übermaß von Rechtsprechung und an einer Überzahl von in der Rechtsprechung sich betätigenden Kräften, als im Gegenteil; jedenfalls aber könnte der jetzt schon durch seinen Umfang schwerfällige Organismus des Reichsgerichts durch eine weitere Erhöhung der Mitgliederzahl nur an einheitlicher Wirkung und Ansehen Einbuße erleiden“ (ebd. S.  181). 211   Simons, Justizreform, in: JW 1928, S.  1265 f. Ausschlaggebend war hier das vieldiskutierte, umfangreiche Buch von Eugen Schiffer, Die Deutsche Justiz, Berlin 1928, geworden, das im Untertitel „Grundzüge einer durchgreifenden Reform“ verhieß und zu einer Flut von Besprechungen geführt hatte. S. nur die fünf Besprechungen in JW 1928, S.  1265–1276 mit Angabe zahlreicher weiterer Bespr. ebd. S.  1265 Fn.  1. Die Stimme von Eugen Schiffer, des ehemaligen Reichsjustizministers, hatte besonderes Gewicht.

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Er sei sicherlich bestrebt, den Eid zu halten; „aber er wollte und konnte im neuen Reich den Geist nicht wechseln.“212 Gerade deshalb sei heute eine Umstellung nötig. Der Richter dürfe nichts tun, auch wenn er innerlich monarchisch denke, was gegen die Republik sei. Das Misstrauen gegenüber der Weimarer Verfassung halte der Redner auch historisch für ungerecht. Sie sei, an den ungeheuren Schwierigkeiten ihrer Entstehungszeit gemessen, eine erstaunliche Leistung der Volksvertreter.213 Jedoch vermochten solche Diagnosen und Appelle nichts an dem zu ändern, was als Vertrauenskrise der Justiz empfunden wurde. Der von Simons angesprochene Wirrwarr an Gesetzen,214 der in seiner Charakterisierung in der Wissenschaft noch überboten, fast karikiert wurde,215 schien nur das äußere Kennzeichen einer Krise zu sein, deren tiefere Gründe in der inneren Einstellung nicht nur der Richter, sondern weitester Volkskreise zu suchen waren. Simons sprach es ungeschminkt aus: „Ein Volk, das den Glauben an sein Recht verloren hat, steht in größter Lebensgefahr. Das ist die heutige Lage des deutschen Volkes. An ihr ist neben dem nationalen Erbfehler allzu starker Streit- und Nörgelsucht wesentlich die Nichtübereinstimmung überkommener Rechts- und Verfahrensformen mit dem geistigen und politischen Aufstieg der Volkskreise schuldig, die in früherer Zeit mehr Objekt als Subjekt der Gesetzgebung waren.“216 In seinem Münchener Vortrag spricht Simons davon, dass in dem Misstrauen gegen die Justiz „eine schwere soziale Krankheit“ vorliege217 und dass bereits Stimmen laut würden, die die Abschaffung der Unabhängigkeit und der Unabsetzbarkeit der Berufsrichter wünschten, „und wenn man nicht durchdringen kann, bereitet man sich vor zu einem neuen Umsturz der Verfassung.“218 Dies sind starke Worte eines amtierenden Reichsgerichtspräsidenten, die belegen, dass er die seinerzeit vielbesprochene Vertrauenskrise der deutschen Justiz219 als eine solche der noch jungen parlamentarischen Demokratie begriff. Sie werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf Simons’ Amtsverständnis: Als oberster Reichsrichter äußerte er sich – nach eingehender Abwägung – in einer Offenheit, der gegenüber die   Simons (Fn.  192), col.  1667.   Simons (Fn.  192), col.  1668. 214   S. oben bei Fn.  193. 215  Exemplarisch Manfred Bott-Bodenhausen, Formatives und funktionales Recht in der gegenwärtigen Kulturkrisis, Berlin 1926, S.  11: „Notrecht ist Trumpf. Gesetze und Verordnungen überstürzen sich. Das Recht wird zu einer Flut wechselnder, unzusammenhängender Anordnungen. WochenHori­zonte, Augenblickslösungen. Auch der Jurist vermag den Rechtsstoff nicht mehr zu beherrschen. Mechanische Kartotheken müssen organisches Denken ersetzen.“ 216   Simons, Justizreform (Fn.  211), S.  1266. 217   Simons (Fn.  192), col.  1666. 218   Simons (Fn.  192), col.  1667. Der die Unabhängigkeit der Richter verbürgende Art.  102 WRV war damit nicht, wie in der Kommentarliteratur hervorgehoben, zum „Gemeingut der Bevölkerung“ geworden, so aber Konrad Saenger, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1920, S.  219. Über die Fernwirkung dieser Einstellung zutreffend Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1960, S.  17: „Aus der Weimarer Republik ergab sich die Tendenz, die Unabhängigkeit der Richter, die dem Weimarer Staat oft unloyal gegenüber­ getreten waren, um des demokratischen Staates willen einzuschränken.“ – Zur historischen Herleitung der richterlichen Unabhängigkeit bereits Carl Schmitt, Unabhängigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privateigentums nach der Weimarer Verfassung, Berlin/Leipzig 1926, insbes. S.  6 –11. 219   Besonders illustrativ, unter Anführung zahlreicher konkreter Beispiele, ist die Schrift von Erich Eyck, Die Krisis der deutschen Rechtspflege, Berlin 1926. 212 213

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sonst gebotene richterliche Zurückhaltung in den Hintergrund zu treten hatte. Damit charakterisieren sie den Menschen Simons selbst: Die Schilderung der Lage und der mit ihr verbundenen Gefahren waren ihm wichtiger geworden als richterliche Selbstbeschränkung oder gar Neutralität, die herkömmlich auch das außerdienstliche Verhalten der Richter in öffentlichen Stellungnahmen weitgehend zu bestimmen vermochten. Wenig später schildert Simons selbst die Gründe, die ihn zu solch deutlichen Worten vor breiter Öffentlichkeit veranlasst haben: In München habe er über das Thema der „Vertrauenskrise der Justiz“ einen vielbeachteten, aber auch vielkritisierten Vortrag gehalten. Wie es bei einem solch heiklen Thema nicht anders habe sein können, habe gerade das Bestreben, Recht und Unrecht unparteiisch festzustellen, zu Missverständnissen und Unzufriedenheiten bei allen Parteien geführt. „Vorsichtiger wäre gewesen, wenn ich mich in meiner Stellung dem nicht ausgesetzt hätte; aber stärker als die Mahnung zur Vorsicht ist oft die innere Stimme, die verlangt, daß man Farbe bekenne.“220 Besonders gegen das Reichsgericht habe sich der Zorn der Parteien von rechts und links während seiner Amtszeit noch aus einem anderen Grunde gewandt. Als er die Amtsgeschäfte übernommen habe, hatte die Ermordung des Ministers Rathenau zur Errichtung eines politischen Staatsgerichtshofs geführt, dem der Schutz der Republik anvertraut worden sei. Auch dieser Gerichtshof sei, wie der Staatsgerichtshof für Verfassungsstreitigkeiten, dem Reichsgericht angegliedert worden. Wenn man damit das Ansehen des neuen Gerichtshofs habe heben wollen, so möge dieser Zweck erreicht worden sein, „aber das Reichsgericht selbst zog man dadurch in die Arena der politischen Tageskämpfe herab.“221 Das Volk habe nämlich nicht zwischen den Funktionen der beiden Gerichtsbehörden unterschieden, die Presse habe von den Entscheidungen des Staatsgerichtshofes als von Urteilen des Reichsgerichts gesprochen, „und die Parteien wetterten, je nachdem einer ihrer Angehörigen von einem solchen Urteil betroffen war, gegen die angebliche Parteilichkeit der höchsten deutschen Justiz überhaupt.“222 Es sei hinzugekommen, dass der neue Staatsgerichtshof die Richter des Reichsgerichts übermäßig in Anspruch genommen habe; zeitweilig habe ihm etwa ein Viertel der Gesamtzahl als Mitglieder oder Stellvertreter angehört. Das habe den Geschäftsgang der Revi­ sionssenate nicht wenig gestört. Auch als dieser Sondergerichtshof aufgelöst und seine Zuständigkeit etappenweise an die erstinstanzlichen Senate übergegangen sei, sei die einmal erregte politische Leidenschaft mit dieser Art von Judikatur untrennbar verbunden geblieben. Die Vorwürfe über „politische Justiz“ hätten ihm in ihrer eingehenden literarischen, sogar in wissenschaftlichem Gewand auftretenden Begründung viel zu schaffen gemacht. Lange habe er erwogen, ob er nicht in wirksamer Weise die Verantwortung auf sich nehmen und sich dem Hochverratssenat habe anschließen sollen, um zu unmittelbarer Abwehr der Angriffe berechtigt zu sein; aber die Art der Hochverrats­ prozesse, die sich oft über Wochen hinzögen und bei der Vorbereitung und Durchführung die volle Kraft des Vorsitzenden verlangten, habe es ausgeschlossen, dass sie

  Simons, Sieben Jahre Reichsgerichtspräsident, in: DJZ 1929, coll. 1249–1254 (1252).   Simons (Fn.  220), col.  1252 f. 222   Simons (Fn.  220), col.  1253. 220 221

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sozusagen im Nebenamt, neben den Verwaltungsgeschäften des Reichsgerichts, geleitet würden. Daher habe er auf jede Einflussnahme in dieser Richtung verzichtet.223 Eine Änderung in Simons’ richterlichem Aufgabengebiet trat jedoch im Jahre 1926 ein, als er, eigener Neigung entsprechend, den Vorsitz des I. Zivilsenats aufgab und denjenigen des III. Strafsenats übernahm.224 Jedoch gaben persönlicher Wunsch und eigene Neigung nicht den Ausschlag für einen solchen Schritt, vielmehr war er eindeutig rechtspolitisch motiviert. Es war ihm, wie er selbst ausführt, „ein Bedürfnis, durch Übernahme eines Strafsenats zu zeigen, wie hoch ich die kriminalistische Seite meines Berufs einschätze.“225 Es ging ihm darum, ein Zeichen zu setzen, da sich bis dahin noch nie ein Reichsgerichtspräsident einem Strafsenat angeschlossen hatte. Denn diese Rechtsmaterie wurde vielfach gegenüber dem Zivilrecht als solche minderen Ranges angesehen, und der ehemalige Senatspräsident am Reichsgericht und spätere Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer 226 weiß plastisch zu berichten, dass auch am Reichsgericht jene bis in die höchsten Justizverwaltungsstellen verbreitete Auffassung herrschte, „daß zwar der Zivilrichter jederzeit in der Lage sei, einen ausgezeichneten Strafrichter zu machen, um Gottes willen aber nicht umgekehrt. Hätte ein Reichsgerichtsrat, der bisher in einem Strafsenat tätig war, sich dort trefflich bewährt hatte und nun vor dem Senatspräsidenten stand, die Stelle des Vorsitzenden eines Zivilsenats erstrebt, so hätte man in manchen Kreisen des Reichsgerichts an seiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt und ihn mindestens an Größenwahn leidend erachtet (…). Mit diesem zivilistischen Hochmut, der die Zivilrichterei gewissermaßen als Geheimwissenschaft betrachtet, die nur auserwählten Geistern zugänglich ist, muß gebrochen werden, am Reichsgericht und anderswo.“227 Rückblickend sah Simons sogar seine strafrichterliche Tätigkeit für bedeutsamer als sein zivilrichterliches Judizieren an, daher habe er, „abweichend von einer fast fünfzigjährigen Überlieferung, sich nicht einem Zivilsenat angeschlossen, sondern die Führung eines Strafsenats übernommen und dadurch bekundet, daß er die Gerichtsbarkeit über Leib und Leben, Freiheit und Ehre der Nebenmenschen für wichtiger achtet, als die über ihr Hab und Gut.“228 Ebermayer berichtet, es habe geradezu als eine „befreiende Tat“ gewirkt, als seinerzeit Chefpräsident Simons den Vorsitz in einem Zivilsenat mit dem in einem Strafsenat vertauscht habe.229

  Simons (Fn.  220), col.  1253.   Simons übernahm am 23.04.1926 den Vorsitz des III. Strafsenats und behielt ihn bis zum Eintritt in den Ruhestand am 1.4.1929 bei. Schaaf bei Lobe (Fn.  6 ), S.  389 i.V.m. S.  395. 225   Simons (Fn.  220), col.  1254. 226   Zu ihm oben bei Fn.  19. 227   Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht, o. Fn.  19, S.  66 f. 228   Simons, in: Magnus (Fn.  160), S.  28. 229   Ebermayer (Fn.  19), S.  67. 223 224

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V.  Das Ende der Präsidentschaft von Simons 1.  Konflikt mit der Reichsregierung. Simons’ Rücktritt Mit einem Missklang endete Simons’ Zeit als Reichsgerichtspräsident, als er aus Anlass eines im Dezember 1928 entstandenen Streits zwischen der Reichsregierung und dem von ihm in Personalunion ebenfalls geleiteten Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich seine Reichsämter niederlegte und am 1. April 1929 aus dem Reichsdienst schied. Die Vorgänge, die den Anlass zum Rücktritt nur in ausführlicher Darlegung der detailreichen Nuancen zu erklären vermögen, sind im Schrifttum bereits mehrfach so eingehend geschildert worden,230 dass hier nur gedrängt zu berichten ist: Kern der rechtlichen Seite des Streitfalles war es, ob der Staatsgerichtshof – und im Eilfall allein sein Vorsitzender – die Befugnis zum Erlass einstweiliger Verfügungen 231 besaß, worüber es keine gesetzliche Regelung gab und wozu auch die den Geschäftsgang vor dem Staatsgerichtshof nur in Grundzügen regelnde Geschäftsordnung232 keine Bestimmung enthielt.233 Der Staatsgerichtshof und sein Vorsitzender Simons nahmen in entsprechender Anwendung der §§  935, 940 ZPO dieses Recht für sich in Anspruch, die Reichs­ regierung bestritt es nicht nur, sondern verfügte im Verlaufe des Rechtsstreits über 230   Gründer, Bergische Forschungen Bd. XIII, o. Fn.  36, S.  251–258; Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsi­ dent Dr. Erwin Bumke, Studien zum Niedergang des Reichsgerichts und der dt. Rechtspflege, Karlsruhe 1975, S.  47 ff.; Karl Zippelius, Verfassungsrechtliche Stellung und Entwicklung der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich, Diss. iur. Freiburg i.Br., 1973, S.  34 ff., 129 ff. und – besonders ausführlich – Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. iur. Bonn 1979, S.  197– 236. Daneben aber noch immer von Bedeutung die Darstellung und Würdigung des damaligen Senatspräsidenten beim Reichsgericht Max Josef Reichert, Staatsgerichtshof und Reichsregierung. Zum Rücktritt des Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons, in: DRiZ 1929, S.  23–27, ferner Friedrich Giese, Zum Konflikt zwischen Staatsgerichtshof und Reichsregierung, in: DJZ 1929, coll. 129–135, und – kaum beachtet – Karl Linz, Reichsregierung und Staatsgerichtshof, in: DJZ 1929, coll. 197–201. 231  Die Staatsrechtslehre sprach seinerzeit – in Anlehnung an die zivilprozessuale Terminologie (§§  935, 940 ZPO) – noch von einstweiligen „Verfügungen“ und nicht von „Anordnungen“, doch war auch der älteren verfassungsrechtlichen Diktion der Begriff der Verfügung nicht völlig unbekannt: §  128 Abs.  1 der Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 lautet: „Über die Einsetzung und Organisation des Reichsgerichts, über das Verfahren und die Vollziehung der reichsgerichtlichen Entscheidungen und Verfügungen wird ein besonderes Gesetz ergehen.“ Ein scharf umrissener und rechtlich feststehender Begriffsinhalt solcher „Verfügungen“ war indessen hiermit nicht gegeben, noch am nächsten liegt die Parallelisierung zum begrifflichen Gegensatz von Urteil und Beschluss. Zur heutigen Rechtslage vgl. §  32 BVerfGG. – Eingehend und differenzierend zur Befugnis des Staatsgerichtshofs zum Erlass einstweiliger Regelungen Friedrich Glum, Staatsrechtliche Bemerkungen zu dem „Konflikt“ zwischen dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und der Reichsregierung in der vor dem Staats­ gerichtshof schwebenden Streitsache wegen der Besetzung der Stellen im Verwaltungsrat der deutschen Reichsbahngesellschaft, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. I, Teil 1, Berlin/Leipzig 1929, S.  458–475 (469–475). – Das Werk von Friedrich Kühn, Formen des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes im deutschen Reichs- und Landesstaatsrecht, Leipzig 1929, lässt Ausführungen zur Frage vermissen. 232   Geschäftsordnung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 6.12.1921, RGBl. S.  1535, auch abgedruckt bei Fritz Poetzsch, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, in: JöR 13 (1925), S.  1–248 (241–243). 233   Hierzu des Näheren Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S.  212 f.

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den Streitgegenstand, indem sie noch vor einer Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Regelung die das caput controversum ausmachende Frage – die Besetzung von Verwaltungsratsstellen bei der Reichsbahngesellschaft – in ihrem Sinne entschied und eine Besetzung vornahm. Von untergeordneter Bedeutung war demgegenüber die im konkreten Streitfall ebenfalls aufgeworfene Frage, wie der Umstand zu bewerten war, dass der von der Reichsregierung bestellte Prozessvertreter, ein Ministerialbeamter aus dem Reichsverkehrsministerium, im Termin erklärt hatte, die Gründe nicht angeben zu können, die die Reichsregierung zu ihrem Vorgehen veranlasst hätten.234 Der Staatsgerichtshof ging darauf hin auf die Streitsache nicht ein, sah mithin von einem Eintreten in die Verhandlung ab und verkündete durch Beschluss, dass er – da seine verfassungsmäßige Tätigkeit in dieser Sache unmöglich geworden sei –, sich an den Reichspräsidenten mit dem Antrag wenden werde, „dem Staatsgerichtshof die Gewähr für diejenige Achtung seiner Gerichtsbarkeit zu verschaffen, deren er zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben bedarf.“235 Die Befugnis, sich an den Reichspräsidenten zu wenden, leitete der Staatsgerichtshof aus dem Gedanken von Art.  19 Abs.  2 WRV ab, wonach der Reichspräsident zur Vollstreckung der Urteile des Staatsgerichtshofs berufen war. Reichspräsident von Hindenburg hingegen vertrat in seinem Schreiben an den Reichsgerichtspräsidenten vom 20. Dezember 1928 die Auffassung, dass die Reichsregierung verfassungs- und pflichtgemäß gehandelt habe, dass insbesondere weder ein Eingriff in die verfassungsmäßige Tätigkeit des Staatsgerichtshofes noch irgendeine Minderung der Autorität seiner Gerichtsbarkeit vorliege. Zu einer förmlichen Entscheidung über die „Beschwerde“ erachte er sich „aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für zuständig.“236 Damit sollte der Staatsgerichtshof an die Reichsregierung verwiesen werden – eben an einen streitenden Teil.237 Auf die sich hiermit ergebende Rechtsfrage nach dem richtigen Adressaten seines genannten Beschlusses, den der Reichspräsident als „Beschwerde“ wertete, statt in ihm nur eine Bitte um Vermittlung in der Streitsache zu erblicken,238 ging der Staatsgerichtshof jedoch nicht mehr ein, vielmehr teilte Simons in einer Presseerklärung vom 20. Dezember 1928 – also noch am selben Tage, vom dem das Schreiben des Reichspräsidenten datierte – mit, dass er von dem Vorsitz des Staatsgerichtshofes zurücktrete. „Nach dem Gesetz ist aber der Vorsitz im Staatsgerichtshof von der Stellung des Präsidenten des Reichsgerichts untrennbar; infolgedessen mußte ich auch mein Hauptamt niederlegen. Übrigens kann eine Schädigung des Ansehens des Staatsgerichtshofs auch für das des Reichsgerichts nicht gleichgültig sein.“239 234   Reichert (Fn.  230), S.  24, spricht davon, der Beamte sei dazu „nicht in der Lage“ gewesen. In dem „Material zum Konflikt zwischen dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und der Reichsregierung“ (in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. I, Teil 2, Berlin/Leipzig 1929, S.  711–718 (712)) heißt es, er sei dazu „nicht ermächtigt“ gewesen. Wehler (Fn.  230), S.  225, folgert hieraus, dass die entstandene Unklarheit der Reichsregierung anzulasten sei, „denn sie überließ es Simons, dort die Initiative zu ergreifen, wo ihr ein größeres Entgegenkommen ohne weiteres zuzumuten gewesen wäre.“ 235   Material zum Konflikt (Fn.  234), S.  712; Reichert (Fn.  230), S.  24 f. 236   Material zum Konflikt (Fn.  234), S.  717; Reichert (Fn.  230), S.  25. 237   Hierzu ausführlich Glum, Staatsrechtliche Bemerkungen (Fn.  231), S.  464–468. 238   Diese Möglichkeit erörtert Giese (Fn.  230), col.  134. 239   Material zum Konflikt (Fn.  234), S.  713; Reichert (Fn.  230), S.  25.

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Der Streit ließ sich indessen nicht auf die angesprochenen Rechtsfragen beschränken, was schon daraus hervorgeht, dass der Staatsgerichtshof in dem Vorgehen der Reichsregierung einstimmig „eine schwere Kränkung“ erblickt hatte.240 Für den Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes, den Senatspräsidenten beim Reichsgericht Max Josef Reichert, verdeutlichte der Streitfall darüber hinaus das viel grundsätzlichere Problem, dass sich die völlige Gleichwertigkeit der drei Faktoren: Gesetzgeber, Rechtsprechung und Regierungsgewalt, die bei den angelsächsischen Völkern „zu einem festen und unerschütterlichen Glaubenssatz des Staatslebens“ geworden sei, in Deutschland noch nicht durchzusetzen vermocht habe.241 Mag auch diese Bewertung in ihrer Verallgemeinerung ein über das Ziel hinausschießender Kritikpunkt sein, so kann doch die in der Literatur neuerdings vertretene Auffassung, dass man den Rücktritt von Simons bisher „zu isoliert aus der akuten Situation des Dezember 1928“ zu erklären versucht habe242 und dass die Ursache der Auseinandersetzungen letztlich nur „ein fatales Mißverständnis zwischen dem Reichsgerichtspräsidenten und der Reichsregierung“ gewesen sei,243 nicht geteilt werden. Gerade eine aus weitem zeitlichem Abstand vorgenommene Bewertung kann keinesfalls der Berücksichtigung der besonderen Umstände „der akuten Situation“ entraten oder sie auch nur in den Hintergrund treten lassen, weil gerade sie das Handeln aus den den Beteiligten seinerzeit erkennbaren Umständen zu erklären und die Motive einsichtig zu machen vermögen. Erhebliche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch der Sicht der damaligen Fachöffentlichkeit zu. Hier gewinnt die so gut wie unbeachtet gebliebene Stellungnahme des Vorsitzenden des Richtervereins beim Reichsgericht, des Reichsgerichtsrats Karl Linz, besonderes Gewicht, weil sie in ihrer Ausgewogenheit und Nüchternheit von den zahlreichen, oft emotionsgeladenen zeitgenössischen Kommentierungen absticht, wie sie in der Presse jedweder politischer Couleur zu finden waren.244 Linz hob hervor, es sei des Öfteren der Eindruck erweckt worden, als ob der Staatsgerichtshof der Reichsregierung die Vornahme der Ernennung selbst zum Vorwurf gemacht und mit seiner Bitte an den Reichspräsidenten gar deren Rückgängigmachung habe erreichen wollen. Wie aus dem Beschluss des Staatsgerichtshofs hervorgehe, habe er sich mit der Frage, wer im Rechte sei, ob eine einstweilige Verfügung zu erlassen oder abzulehnen sei, überhaupt nicht befasst. Er habe auch keinen Augenblick in Zweifel gezogen, dass die Reichsregierung sich verfassungsmäßig zu ihrem Vorgehen in der Sache selbst für berechtigt und verpflichtet erachtet habe. Darüber habe ihm ein Urteil auch gar nicht zugestanden. Ebenso wenig habe der Staatsgerichtshof irgendeinen Anlass gehabt, sich mit der Frage der Rückgängigmachung der Ernennung zu befassen. „Lediglich die Art und Weise des Vorgehens der   Wie Fn.  239.   Reichert (Fn.  230), S.  26. 242   Wehler (Fn.  230), S.  199. 243   Wehler (Fn.  230), S.  225. 244   Eine Vielzahl von Presseauszügen teilt Reichsgerichtsrat Franz Hermann Hettner mit: Zeitspiegel. Zum Rücktritt des Reichsgerichtspräsidenten, in: DRiZ 1929, S.  75–78. Die Auszüge geben, gerade wegen ihrer Heterogenität, einen tiefen Einblick darin, wie die Vorgänge in der Presse, dem damals einflussreichsten Medium, wahrgenommen wurden. 240 241

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Reichsregierung ihm gegenüber, die mangelnde Rücksichtnahme auf seine Stellung und der Eingriff in das Verfahren waren es, die ihn zu seinem Schritte veranlaßt haben.“245 Diese Art und Weise aber war keine bloße Stilfrage, weil sich das Vorgehen in Formen abzuspielen hat – wie auch der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Reichert zu Recht betonte –, „die sorgsam darauf bedacht sind, daß das Ansehen des Gerichtshofs keine Einbuße erleidet.“246 Es ist kein leichtzunehmender Vorgang und keinesfalls aus persönlichen Empfindlichkeiten heraus zu erklären, wenn ein Reichsgerichtspräsident Vorgänge im konkreten Prozessverhalten zum Anlass nahm, von seinen richterlichen Ämtern zurückzutreten, um so das Ansehen des Staatsgerichtshofs in der Öffentlichkeit zu wahren. Von weittragender Bedeutung war ein solches Zeichen aber gerade für Simons, der in hohem Maße das Vertrauen des Reichstages besessen hatte, indem dieser nach dem Tode von Reichspräsident Ebert durch Einzelgesetz vom 10. März 1925 Simons zum Stellvertreter berufen hatte:247 Simons war stellvertretender Reichspräsident bis zum Amtsantritt von Hindenburg am 5. Mai 1925.248 Man mag in Simons’ Schritt heutzutage den Ausdruck einer „von einem nahezu rigoristischen richterlichen Ethos“ geprägten Richterpersönlichkeit erblicken 249 – dem Vorsitzenden des Richtervereins beim Reichsgericht erschien der Schritt, wie „jedem objektiv Denkenden, einfach selbstverständlich.“250

2.  Gründe für den Konflikt. Die sogenannte Verfassungswandlung. Rechtsfragen und politische Fragen Wird versucht, über die Würdigung der Umstände des konkreten Streitfalls hinaus nach tiefer liegenden Gründen allgemeinerer Art Ausschau zu halten, die dem Konfliktfall vorausliegen, ihn aber nicht unberührt gelassen haben, so werden sie in der unterschiedlichen Auffassung vom Umfang der „Verfassungsstreitigkeiten“, von denen Art.  19 Abs.  1 WRV spricht, zu suchen sein. Hatte noch die Reichsverfassung von 1871 starke Zurückhaltung in der Regelung von Verfassungsstreitigkeiten geübt und nur in wenigen Fällen nicht ein Gericht, sondern den Bundesrat als Schlichtungsstelle bestimmt, die solche Streitigkeiten „gütlich auszugleichen“ habe (Art.  76 Abs.  2 RV 1871),251 so hieß es nun in Art.  19 Abs.  1 WRV: „Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein   Karl Linz, Reichsregierung und Staatsgerichtshof, in: DJZ 1929, coll. 197–201 (201).   Reichert (Fn.  230), S.  27. 247   Gesetz über die Stellvertretung des Reichspräsidenten vom 10. März 1925, RGBl. I, S.  17: „Zum Stellvertreter des am 28. Februar 1925 verstorbenen Reichspräsidenten wird der Präsident des Reichsgerichts bis zum Amtsantritt des neuen Reichspräsidenten bestimmt.“ Vgl. hierzu jetzt auch Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933), Berlin 2002, S.  419. 248   Fritz Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 17, Tübingen 1929, S.  1–141 (82). 249  So Wehler (Fn.  230), S.  197, der an dieser Stelle auch davon spricht, dass die Reichsregierung ihr die Auffassung des Staatsgerichtshofs ignorierendes Verhalten auf die Spitze getrieben habe. 250  So Linz (Fn.  245), S.  201. 251  Hierzu Max Fleischer, Die Zuständigkeit des Deutschen Bundesrats für Erledigung von öffentlichrechtlichen Streitigkeiten, Breslau 1904. 245

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Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist.“ Während der Exekutive und einflussreichen Kreisen der im Kaiserreich ausgebildeten Ministerialbürokratie stark an einer restriktiven Auslegung dieser Verfassungsvorschrift gelegen war, weil sonst „oft die glatte Erledigung der Staatsgeschäfte ­behindert“ werde,252 plädierte die Wissenschaft „für ausdehnende Auslegung der Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und der Länder­staats­ gerichts­höfe“,253 die sich der Staatsgerichtshof unter Simons’ Ägide von der Tendenz her zu eigen gemacht hatte; insbesondere die Ausweitung der Parteifähigkeit hatte hier eine besondere Rolle gespielt.254 Auf dem 34. Deutschen Juristentag in Köln (12.–15. September 1926) galt ein Beratungsgegenstand der Erörterung der Frage: „Empfiehlt es sich, die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs auf andere als die im Art.  19 Abs.  1 RVerf. bezeichneten Verfassungsstreitigkeiten auszudehnen?“, die von den Referenten, insbesondere von Gerhard Anschütz (1867–1948), dem einflussreichen Kommentator der Reichsverfassung, bejaht worden war.255 In der Aussprache zu den Referaten hatte auch Simons das Wort ergriffen 256 und die Frage eindeutig bejaht: Es sei nützlich und gut, die Kompetenz des Staatsgerichtshofs zu erweitern. Er habe es als einen Übelstand empfunden, dass die Kompetenz noch nicht weit genug gehe. Er sehe nicht ein, warum, wenn der Staatsgerichtshof die verfassungsmäßigen Streitigkeiten innerhalb der Länder und zwischen den Ländern und den Reichsorganen entscheide, er nicht auch berechtigt sein solle, verfassungsmäßige Streitigkeiten zwischen den Reichsorganen zu entscheiden. Es sei legislatorisch derselbe Schutzgedanke: Wenn es Aufgabe des Staatsgerichtshofs sein soll, das Grundgesetz des deutschen Volkes, die Verfassung von Weimar, durch streng rechtliche Kontrolle seiner Auslegung und Anwendung zu sichern, dann sei nicht einzusehen, warum diese Kontrolle der Anwendung und Auslegung nicht auch auf die Reichsorgane ausgedehnt werden solle.257 Im Übrigen sprach sich Simons dafür aus, „eine Erweiterung des Staatsgerichtshofs dahin einzuführen, daß die Fragen des Artikels 13“ WRV auch dem Staatsgerichtshof übertragen würden.258 Simons’ Einstellung liegt seine allgemeine Auffassung zugrunde, die er schon im Jahre 1925, anläss252  Ministerialrat Dr. Martin Löwenthal, Der Staatsgerichtshof am Scheidewege, in: Die Justiz, Bd. V, Heft 4, 1930, S.  216–228 (221). 253   Wolfgang Eiswaldt, Die Staatsgerichtshöfe in den deutschen Ländern und Art.  19 der Reichsverfassung, München 1927, S.  66. Diese von Walter Jellinek betreute Dissertation gibt einen guten Überblick über den damaligen Meinungsstand. 254   Einen Rückblick gibt der Staatsgerichtshof selbst in seinem Urteil vom 21.11.1930 – StGH 2/30 –, abgedr. in: Reichsverwaltungsblatt und Preußisches Verwaltungsblatt, Bd. 52, Berlin 1931, Nr.  11, S.  211 f. 255   Verhandlungen des 34. Dt. Juristentages, Bd. 2 (Sten. Ber.), Berlin/Leipzig 1927, S.  193–235. 256   Wie Fn.  255, S.  264–268. 257   Wie Fn.  255, S.  265. 258   Wie Fn.  257. Art.  13 Abs.  2 WRV: „Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichsoder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reiches anrufen.“

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lich der Eröffnung der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig, hervorgehoben hatte, dass nämlich „die Ingerenz des Staates in das Leben seiner Bürger“ wachse, weshalb „die Entscheidung öffentlichrechtlicher Fragen für das ganze Volk immer wichtiger und bedeutsamer“ werde.259 In dem Rechtsstreit vom Dezember 1928, der zu Simons Rücktritt führte, kann daher das Symptom eines tieferen Gegensatzes zwischen der Reichsregierung und dem Staatsgerichtshof erblickt werden, indem letzterer – entgegen den Interessen der Reichsregierung – den Kreis seiner Zuständigkeiten im Laufe der Zeit durch Aus­ legung immer weiter zog.260 Der Inhalt der auszulegenden Verfassungsnormen wandelte sich bei gleichbleibendem Wortlaut, was jenseits rechtlicher Kategorien ein ­politisches Faktum ist. Diese schon von Georg Jellinek (1851–1911) in die wissenschaftliche Diskussion eingeführte und vertiefte Sicht, die die Fortbildung der Verfassung durch Auslegung – bei unverändertem Text – „Verfassungswandlung“ nennt, die „durch Tatsachen hervorgerufen wird, die nicht von der Absicht oder dem Bewußtsein einer solchen Änderung begleitet sein müssen,“261 brach sich durch die Spruchpraxis des Staatsgerichtshofs, entgegen den Interessen der Exekutive, mehr und mehr Bahn. Der Kern des Konflikts ließ sich daher, von Rechtsfragen abstrahiert, als politische Frage begreifen, der die Machtfrage beigemischt war. Das Bedenkliche dieser Entwicklung, auf die der konkrete Streitfall nur ein Schlaglicht warf, und vor allem ihr Tempo erkannte Simons selbst, als er, kurz bevor sein Rücktritt wirksam wurde, im Geleitwort zu einem Sammelband staatsgericht­ licher Entscheidungen ausführte: „Wenn auch die Grundlage für die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs wie der mit Verfassungsfragen befaßten Senate des Reichsgerichts immer eine streng rechtliche bleiben muß, nämlich die Reichsverfassung, die Staatsverträge oder mangels einer dort zu findenden Rechtsquelle die anerkannten Regeln des Völkerrechts, so steht doch im Hintergrund jedes Verfassungsstreites eine politische Frage, die geeignet ist, sich zur Machtfrage auszuwachsen. Darin liegt für die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs oder Reichsgerichts eine große Gefahr. Der Leib des Staates ist Macht, seine Seele Gerechtigkeit. Wie im Menschenleben Leib und Seele sich entzweien können und der Kampf Krankheit bedeutet, so auch im Leben des Staates, nur mit dem Unterschied, daß der Staat eine Zeitlang der Übung strenger Gerechtigkeit entraten kann, mit der Macht aber sich selbst aufgeben würde. Deshalb ist es für die richterliche Gewalt in Verfassungsfragen eine schwere Belastungsprobe, wenn sie sich Lebensinteressen der Macht entgegenstellen muß. Besser ist es in solchen Fällen, daß die Frage politisch gelöst wird, als daß die richterliche Gewalt angerufen und dann mißachtet wird. Im Grunde ist ja in politischen Streitfragen die Anrufung des Richters nicht weniger eine Bankrotterklärung des Staatsmannes, als die Anrufung des Feldherrn.“262

  Simons, Eröffnungsansprache, in: VVDStRL 2 (1925), S.  5 –7 (6 f.).   Eine gute Darstellung dieses Vorgangs aus erheblich späterer Sicht gibt Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946, S.  281–286. 261   G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, Berlin 1906, S.  3, der diese Erörterung im Untertitel „eine staatsrechtlich-politische Abhandlung“ nennt. 262   Simons, Zum Geleit, in: H. H. Lammers/W. Simons (Hrsg.), Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Art.  13 Abs.  2 der Reichsverfassung. Bd. I, Berlin 1929, S.  7–15 (14). Vgl. zu dieser Bemerkung von Simons jetzt auch H. Holste (oben Fn.  247), S.  512. 259

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Daher sei es gut, wenn die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs nicht in demselben Maße zunähmen, wie dies im ersten Jahrzehnt seines Bestehens der Fall gewesen sei, wenn sich das Reich mit den Ländern und die Länder untereinander, „wenn sich Regierungen, Fraktionen und Parteien weniger auf ihr Recht versteiften und mehr den gütlichen Ausgleich suchten.“263 Mit dieser Formulierung spielt Simons auf den bereits erwähnten Art.  76 Abs.  2 der Reichsverfassung von 1871 an, wonach der Bundesrat, also eine politische Instanz, bestimmte Verfassungsstreitigkeiten „gütlich auszugleichen“ hatte.264 Indessen war das Rad nicht mehr zurückzudrehen, und Simons’ Frage, ob die Autorität des Staatsgerichtshofs schon groß genug sei, „um seine Entscheidung zum Beispiel einem widerstrebenden Reichstag aufzuzwingen“, konnte nicht allgemein bejaht werden.265 Schon in seinem vor der Studentenschaft in Zürich gehaltenen Vortrag aus dem Jahre 1926, der unter das spannungsreiche Thema „Reichsverfassung und Rechtsprechung“ gestellt war, klang leise Skepsis gegenüber der ausgesprochenen Hoffnung an, dass die Autorität des Staatsgerichtshofs „immer groß genug sein“ werde, „um Reich und Länder zur Erfüllung seiner Sprüche zu veranlassen.“266 Fast wie von Vorahnung getragen mutet es an, wenn er dort „nicht nur die endgültigen Entscheidungen“ des Staatsgerichtshofs ansprach – gemeint war die Befugnis zum Erlass einstweiliger Regelungen:267 Vor kurzem sei es nötig geworden, zwei in Meinungsverschiedenheiten über öffentliches Recht befindliche Länder, deren Behörden bereits zu widerstreitenden Gewalthandlungen übergegangen seien, durch vorläufige Regelung des Besitzstandes vor offenem Zwist zu bewahren. Dafür gebe es keine unmittelbaren Grundlagen in der Weimarer Verfassung, es folge aber aus der Notwendigkeit der Dinge. Es spricht Erleichterung aus Simons’ Worten, dass die vorläufige Entscheidung, die er in dieser Hinsicht auf eigene Verantwortung erlassen und die der Staatsgerichtshof bestätigt hatte, dann auch von den Beteiligten befolgt worden sei.268 Zu einer solchen vorläufigen Entscheidung ist es bei dem im Dezember 1928 anhängigen Rechtsstreit vor dem Staatsgerichtshof aus den dargelegten Gründen nicht mehr gekommen. Simons hat daraus die bekannte Konsequenz gezogen, ohne damit die „in allen fundamentalen Fragen noch recht geringe Konsolidierung der neuen politischen Verhältnisse des Deutschen Reiches“269 unterstreichen, vielmehr um die Autorität der rechtsprechenden Gewalt gegenüber politischer Einflussnahme wahren zu wollen, denn er hat nach eigenem Bekunden niemals politischem Parteigeist oder politischer Zweckmäßigkeit Einfluss auf sein Rechtsurteil gestattet.270   Wie Fn.  262, S.  15.   S. oben bei Fn.  251. 265   Simons (Fn.  262), S.  15. Unzweideutig schon Carl Schmitt in seiner Verfassungslehre aus dem Jahr 1928, S.  118: „Hier Rechtsfragen von politischen Fragen zu trennen und anzunehmen, eine staatsrechtliche Angelegenheit lasse sich entpolitisieren, d.h. in Wahrheit entstaatlichen, ist eine trübe Fiktion.“ 266   Simons, Reichsverfassung und Rechtsprechung, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S.  385–409 (408). 267   Siehe hierzu oben im Text bei Fn.  231. 268   Wie Fn.  266. 269   Richard Grau, Vom Vorrang der Bundeskompetenzen im Bundestaat, in: Festschrift Dr. Ernst Heinitz zu seinem 50jährigen Dienstjubiläum, Berlin 1926, S.  358–415 (367). 270   Simons, Der Rechtsgedanke in der Politik, in: Zeitschrift für Politik 14 (1925), S.  231–246 (231). 263

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Dass es zu seinem Rücktritt kam, hat der Staats- und Kirchenrechtler Günther Holstein als einen „dies ater für den Rechtsstaatsgedanken“ bezeichnet. Es sei ohne Vorgang in seiner Geschichte gewesen, „als der Präsident des höchsten Gerichtshofes, durch politische Komplikationen veranlaßt, sich in seinem Gewissen genötigt sah, sein Amt zur Verfügung zu stellen.“271 Eindringlich wurde hier von einem Vertreter der Wissenschaft Simons’ Schritt als Ausdruck einer Entwicklung gedeutet, in der nur wenig später eine „fortschreitende Politisierung des Rechts“ gesehen wurde; es mache sich eine Tendenz bemerkbar, „das Recht in vorwiegende Abhängigkeit von der Politik“ zu bringen.272 Auf dieser Linie lag es, dass die Erwartung auf kommen konnte, zum Nachfolger von Simons werde ein Politiker als Reichsgerichtspräsident – und damit als Vorsitzender des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich – berufen. Auf Simons bezogen, formulierte nicht ohne Pathos Günther Holstein, dass aber „das Selbstopfer der Person“ (gemeint ist damit Simons’ Rücktritt) die Sache gerettet habe, indem zum Nachfolger „dann doch nicht ein Politiker berufen“ worden sei, sondern ein Mann aus der unmittelbaren Welt des Rechts selbst273 – gemeint ist Erwin Bumke (1874–1945), der Letzte in der Reihe der Reichsgerichtspräsidenten.274 Bedeutsamer, da weniger von Emotion getragen, vielmehr mit den Verhältnissen am Reichsgericht aus eigener Anschauung aufs Genaueste vertraut, ist die Einschätzung des ehemaligen Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer (1858–1933),275 der lange am Reichsgericht, zunächst als Reichsgerichtsrat, später als Senatspräsident am Reichsgericht, gewirkt hatte. Er führt aus, dass die Stellung des Reichsgerichtspräsidenten keine leichte sei. Es sei nicht damit getan, dass er ein hervorragender, in allen Sätteln gerechter Jurist sei; er müsse daneben und vielleicht in erster Linie eine Persönlichkeit sein, ausgerüstet mit hohen geistigen Fähigkeiten, erfahren in der Kunst der Menschenbehandlung, ein Stück Diplomat, aber mit festem Rückgrat nach unten und oben. „In Dr. Simons fanden sich diese Eigenschaften in glücklichster Weise vereinigt, und so gelang es ihm, nicht nur den Aufgaben seines Amtes nach jeder Richtung hin gerecht zu werden, sondern daneben noch auf den verschiedensten Gebieten – so in den letzten zwei Jahren als Honorarprofessor an der Universität Leipzig – sich erfolgreich zu betätigen.“276

VI.  Simons außergerichtliche Tätigkeit. Recht und Religion Abschließend soll daher noch ein kurzer Blick auf Simons’ nichtrichterliche, auch schriftstellerische Arbeit geworfen werden. Sie legt in hohem Maße Zeugnis von seiner rechtspolitischen Sicht ab. Von seinem anhaltenden Engagement in völkerrechtlichen Fragen war bereits die Rede.277 Vornehmlich aus diesem Rechtsbereich,   G. Holstein, Reichsverfassung und Staatsrechtswissenschaft, Greifswald 1929, S.  13.   Wilhelm Glungler, Prolegomena zur Rechtspolitik, München/Leipzig 1931, S.  147 f. 273   Wie Fn.  271. 274   Zu ihm Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, Karlsruhe 1975. 275   S. oben Fn.  19 und bei Fn.  226. 276   Ebermayer, Zum Rücktritt des Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons, in: DJZ 1929, coll. 162 f. (163). 277   S. oben bei Fn.  70 und Fn.  150. 271

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mit dem er in seiner Zeit als Reichsminister des Auswärtigen in enge Berührung gekommen war, erwuchs ihm die Erkenntnis, die sich dann auch verstärkt in den übrigen Einzeldisziplinen des öffentlichen Rechts, vor allem im Staatsrecht, geltend machte, dass das Recht – nach den Worten Dietrich Schindlers – gleichsam ein zu knappes Kleid für den zunehmenden sozialen Körper geworden war. Daraus ergab sich das Postulat der gerade hier notwendigen Rechtspolitik, dass die Rechtsordnung sich ausdehne und eindringe in die bisher vom Recht noch nicht ergriffenen Probleme des Gruppenlebens.278 Wie Recht und Politik sich hier begegneten – einander gegenüberstehend und doch eng miteinander verwoben –, hat Simons in einem Vortrag ausgeführt, den er bei der Jahresfeier der Deutschen Hochschule für Politik am 26. November 1924 in Berlin gehalten und unter das Thema „Der Rechtsgedanke in der Politik“ gestellt hatte.279 Weniges kann nur hervorgehoben werden. Simons führt dort aus, dass Politik als die Kunst des Möglichen nach der Verwirklichung dessen strebe, was sein könne; der Rechtsgedanke hingegen fordere das Unmögliche, die Verwirklichung dessen, was sein solle. Politik sei ein ewiges Ausgleichen der Kräfte, die nach verschiedenen Richtungen ziehen; die eben gewonnene Resultante werde von einer neuen abgelöst. Der Rechtsgedanke entscheide hingegen zwischen den Richtungen, gehe seinen geraden Weg unter dem Bannerspruch: Recht muss doch Recht bleiben. Der Begriff der Politik setze voraus, dass die stärkere Kraft sich soweit durchsetze, wie es ihrer Überlegenheit über die schwächere entspreche, damit die dynamische Spannung gelöst und das statische Gleichgewicht hergestellt werde. Der Rechtsgedanke verlange, dass auch die schwächere Kraft, wenn ihr Anspruch die Gerechtigkeit für sich habe, sich gegen die stärkere durchsetze, damit die ethische Spannung zwischen dem Seienden und dem sein Sollenden gelöst und die Waage der Themis wieder ins Gleichgewicht gebracht werde.280 Diese Sätze, die Simons’ Grundansichten wiedergeben und von zentraler Bedeutung für sein Rechtsdenken sind, wären jedoch unvollständig, wenn nicht auf ihre Verklammerung mit der christlichen Weltanschauung hingewiesen würde, in der jene Ansichten letztlich ihren Grund finden. Um rechtliche Erwägungen nicht extensiv mit theologischen Fragestellungen zu befrachten – was sich ihm schon aus methodologischer Überlegung verbietet, da theologische Erörterungen konkrete Rechtsfragen nicht entscheiden, sondern nur durchwirken können –, heißt es dazu in dem Vortrag an einer Stelle lapidar: „als Christen dürfen wir sagen, daß es unser hohes Ziel sein muß, das politische Handeln immer näher an den Rechtsgedanken heranzubringen, daß dieses Ziel aber nur in der Ewigkeit erreicht wird.“281 Es bleibt also ein stetes Bemühen, dem ein endgültiger Erfolg hier versagt ist. 278  So Dietrich Schindler, Werdende Rechte. Betrachtungen über Streitigkeiten und Streiterledigung im Völkerrecht und Arbeitsrecht, in: Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag, Tübingen 1927, S.  4 00–431 (403). 279   Siehe Fn.  270. 280   Simons, Der Rechtsgedanke in der Politik (Fn.  270), S.  232. 281   Simons, Fn.  270, S.  234. Das „Durchwirken“ konkreter Rechtsfragen durch theologische Reflexion berührt die hochbedeutsame Frage, wieweit Theologie, auch geronnen in Religion, auf Wissen und Wissenschaft einwirken kann und vor allem darf. Dahinter verbirgt sich das Problem der „Übertragung ethischer Maßstäbe auf das Erkennen“. Der Simons nicht unbekannte, seinerzeit einflussreiche evangelische Theologe Julius Kaftan (1848–1926) erörterte unter diesem Aspekt eingehend die zulässi-

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Die enge Fühlungnahme von Simons mit der zeitgenössischen evangelisch-theologischen Wissenschaft und mit der Kirche hat Horst Gründer vorzüglich dargestellt,282 insbesondere die Beeinflussung durch die Theologen Otto Baumgarten (1858–1934),283 Professor für praktische Theologie in Jena, später Kiel, und den schwedischen Erz­ bischof Nathan Söderblom (1866–1931) hervorgehoben.284 Baumgarten war in den Jahren 1912–1921 Vorsitzender des Evangelisch-Sozialen Kongresses, durch den Simons von der Theorie hinweg zur Lösung praktischer Fragestellungen gedrängt wurde, die akademischer Behandlung zwar bedürfen, akademischer Einzäunung aber widerstreben.285 Baumgarten hatte dies im Jahre 1919 als Mitglied der deutschen Friedensdelegation in Versailles unter Beweis gestellt. Söderbloms Auseinander­ setzung mit der Sozialen Frage286 und seine Initiative zur Stockholmer Weltkirchenkonferenz für praktisches Christentum im Jahre 1925 sowie seine ökumenischen Bestrebungen – verstanden als „Tatgemeinschaft der Kirchen“287 –, die ihm im Jahr 1930 den Friedensnobelpreis eintrugen, beeinflussten Simons stark. Im Vorwort zur schwedischen Ausgabe seines Werkes „Religion und Recht“ legt Simons dar, dass die in diesem Buch zusammengefassten Vorlesungen von Söderblom im Jahre 1929 angeregt wurden.288 Gleich seinem Freunde Otto Baumgarten, der dies schon im Jahre 1916 in seinem so gut wie unbeachtet gebliebenem Werk „Politik und Moral“ ausgeführt hatte, wusste er, dass der Staat nicht Gefühle und innere Abhängigkeiten befehlen kann,289 was immer zu Extremen führt; mit seinem Freunde Nathan Söderblom war ihm stets bewusst, dass die Herzen der Menschen durch Parlamentsbeschlüsse nicht zu ändern sind,290 auf die Gesinnungen komme es zuvörderst an. Söderbloms konfessionsüberschreitende Friedensbemühungen und Einigungsbestrebungen, die seiner Zeit weit voraus waren, seine kräftigen Impulse, die er der Geltung bewiesenen Parömie „Inter arma silent leges“ entgegenzusetzen vermochte und mit der eine Rechtsniederlage in Krieg und Zwist bequem zu entschuldigen war, brachten Simons gar dazu, Söderblom als „Führer zur evangelischen Katholizität“ zu bezeichnen.291 In politisch ge „Mitwirkung religiöser Gesichtspunkte im Denken und Erkennen“, worauf an dieser Stelle nur verwiesen werden kann. S. Kaftan, Philosophie des Protestantismus, Tübingen 1917, S.  179 ff. 282   Gründer, Walter Simons, die Ökumene und der Evangelisch-Soziale Kongreß (Ökumen. Schriften des Archivs der Evang. Kirche in Deutschland, Bd. VIII), Soest 1974. 283   Zu Baumgarten s. Gründer (Fn.  282), S.  11, 13, 78–80 u.ö. Ebd. S.  13: „Den bedeutendsten und langwährendsten Einfluß aus diesem Kreis (scil. seiner Straßburger Studienfreunde, B. M.) dürfte ohne Zweifel Otto Baumgarten auf Simons ausgeübt haben, sein persönlicher Freund und nachmaliger Vorgänger im Amt des Präsidenten des Evangelisch-Sozialen Kongresses.“ 284   Zu Söderblom s. Gründer (Fn.  282), S.  32–34, 70 f. und öfter. 285  Bereits in Otto Baumgartens Schrift „Die Not der akademischen Berufe nach dem Friedensschluß“ aus dem Jahre 1919 findet sich der bemerkenswerte Satz: „Wichtiger als akademische Durchbildung ist die Verbindung eines klaren theoretischen Blickes mit wirklichem Leben und Weben im schlicht Praktischen“, ebd. S.  56. 286   Vgl. bereits Söderblom, Die Religion und die soziale Entwicklung, Freiburg i.Br. 1898. 287   Söderblom, Einigung der Christenheit. Tatgemeinschaft der Kirchen aus dem Geist werktätiger Liebe, 2.  Aufl. Halle a. S.  1927. 288   Simons, Religion und Recht. Vorlesungen, gehalten für die Olaus Petri Stiftung in der Universität zu Upsala, Berlin 1936, S.  10. Vgl. oben bei Fn.  64. 289   Baumgarten, Politik und Moral, Tübingen 1916, S.  171. 290  Vgl. Söderblom, Die Religion und die soziale Entwicklung (Fn.  286), S.  47. 291   Gründer (Fn.  282), S.  34 i.V. mit S.  118.

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gärender Zeit führt der Reichsgerichtspräsident aus, wie das Liebesgebot Christi nicht allein dem Nächsten, sondern auch anderen Völkern gegenüber wirksam zur Geltung gebracht werden kann, was einer Anspannung aller Kräfte der Menschen, nicht nur der intellektuellen, bedarf, und dass eine entsprechende Gesinnung zu lehren, Aufgabe der christlichen Kirchen sei.292 Denn um die Grenzen von Gerechtigkeit und Justiz wusste er auch dann, wenn sie theoretisch weit gezogen waren und man sich praktisch durch Gerichtsverfassungen und internationale Abkommen, innerhalb der Grenzen, gesichert glaubte. Er sprach es aus, „daß Gerechtigkeit allein den Frieden noch nicht verbürgt. Gerechtigkeit wird oft nur von der Streitlust mißbraucht zur Stillung unfriedlicher Leidenschaften; möge ein solches Schicksal den Gerichtshöfen der Völker, namentlich dem Weltgerichtshof im Haag, erspart bleiben! Der Friede der Welt verlangt mehr als Justiz zwischen den Völkern; er verlangt Verständnis und Freundschaft. Mit intellektuellen Gründen allein läßt sich eine solche Freundschaft nicht begründen.“293

Die starke Beschäftigung mit theologischen Fragestellungen, sein Engagement in der ökumenischen Bewegung, führen bei Simons kein vakuumverpacktes Eigenleben, chemisch isoliert von juristischen Problemen, so sehr ihm jede Vermengung beider Gebiete nicht nur widerstrebt, sondern ihre Trennung unerlässliches Erfordernis als Vorbedingung für tiefere Erfassung beider ist. Hierzu gesellt sich das stete Bewusstsein der engen Verwobenheit der Rechtswissenschaft – insbesondere des öffentlichen Rechts, das sich auf Strafrecht wie Staatsrecht erstreckt – mit der politischen Sphäre, ohne auch nur im Ansatz einer Vertauschung beider Bereiche das Wort zu reden. Hier entspricht Simons’ Auffassung genau derjenigen von Heinrich Triepel (1868– 1946), der in einer Rektoratsrede im Jahre 1926 ausgeführt hatte: „Erst recht verabscheuen wir es, wenn politische Tendenz das geltende Recht verfälschen will. Aber wir gehen dem Politischen so wenig aus dem Wege, daß wir uns sogar außerstande erklären, das Recht ohne Rücksicht auf das Politische auszulegen.“294 Simons hatte erkannt, dass die Unterscheidung zwischen der Grundüberzeugung und ihren einzelnen Ausdrucksformen bei keiner der Gesellschaftswissenschaften dringender vonnöten war als bei der Jurisprudenz, wollte diese nicht zu unmethodischer Gemengelage, zu einem Methodensynkretismus führen, wie ihn solche Naturrechtssysteme gekannt hatten, die nahtlos zwischen Theologie und Jurisprudenz, Rechtswissenschaft und Politik zu changieren wussten. Dies verleitete ihn nicht zur Suche nach dem „reinen Staat“ (Wolzendorff ) 295 oder der „reinen Rechtslehre“ eines Hans Kelsen (1881–1973), noch im Staatsrecht zu einem Positivismus Labandscher

292   Simons, Die moralischen und religiösen Grundlagen des Weltfriedens, in: Die Eiche. Vierteljahresschrift für soziale und internationale Arbeitsgemeinschaft 16 (1928), S.  451–461 (460 f.). 293   Simons (Fn.  292), S.  461. 294   Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik. Rede beim Antritte des Rektorats der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1926. Berlin 1927, S.  37. 295   Kurt Wolzendorff, Der reine Staat. Skizze zum Problem einer neuen Staatsepoche. Tübingen 1920. Dort S.  32 die abstrakt-puristische Fiktion, dass die Kritik an der konkret-traditionellen Erscheinung des Staates stets zurückgreifen werde auf einen „allgemeinen Maßstab des Staates als allgemeine Einrichtung, des Staates an sich, des reinen Staates. Das ist die ewige Bedeutung der Idee des reinen Staates.“

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Prägung,296 den er schon als Student in Straßburg kennen gelernt hatte. So sehr eine der Wissenschaft verpflichtete Rechtsprechung nur durch methodische Sichtung, Festigung und den Ausbau des menschlichen Wissens um Recht und Staat, Religion und Recht als uns zugänglicher Wirklichkeiten zu erreichen ist, kann sie dem Ideal von Gerechtigkeit immer nur zustreben, gleich einer Asymptote. Dabei schließt die Anerkennung jenes Ideals, in der Rechtswissenschaft „materielle Gerechtigkeit“ genannt, keineswegs die Behauptung seiner Erreichbarkeit ein. Denn eine auf sich selbst gestellte Wissenschaft vermag dieses Ideal aus eigenen Kräften nicht zu erreichen, weil unser Wissen nur Stückwerk ist (1. Kor. 13,9). Deswegen bleibt im letzten die materielle Gerechtigkeit auf den Transzendenzbezug angewiesen. Ein Schatten, der auf Simons’ Vita – wenn auch nach abgeschlossenem Berufsleben – fällt, darf nicht unerwähnt bleiben. Martin Otto deutet ihn vorsichtig und mit gebotener Zurückhaltung an: „Nach 1933 beschränkte Simons sein öffentliches Engagement auf den kirchlichen Bereich und die ‚Neue Bachgesellschaft‘, deren Vorsitzender er seit 1930 (…) war. Äußerungen anläßlich des Bachjubiläums 1935 können im Sinne einer vorsichtigen Zustimmung zum nationalsozialistischen Staat ausgelegt werden (…).“297 Einen Beleg für diese Einschätzung kann man auch in seinem Werk „Religion und Recht“ finden, das aus acht Vorlesungen besteht, von denen fünf im Jahre 1931 – also vor der sogenannten Machtergreifung – auf Veranlassung seines Freundes, des schwedischen lutherischen Bischofs Nathan Söderblom, gehalten wurden.298 Söderblom, 1930 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, verstarb im Juli 1931, und Simons konnte krankheitsbedingt die Vorlesungen erst im Herbst 1931, also nach Söderbloms Tod, beginnen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches „Religion und Recht“, das vom 2. April 1936 datiert, findet sich – für Kenner der richterlichen und wissenschaftlichen Vita von Walter Simons überraschend –, der Satz: „Denn wo ich vor dem 30. Januar 1933 Kritik übte und Forderungen aufstellte, konnte ich nachher oft Zustimmung zu dem Programm der nationalsozialistischen Bewegung und ihren grundsätzlichen Maßnahmen aussprechen, beides aus einer Gesamtschau menschlicher Dinge heraus, die ich mir in einem langen, an Wechselfällen reichen Leben erarbeitet, oft in Wort und Schrift bekannt und in keiner politischen Umwelt verleugnet habe.“299 Indessen wird rasch klar, dass es sich bei diesem Satz offensichtlich um eine Äußerung handelt, damit das Buch die nationalsozialistische Pressezensur bestehen konnte. Es war selbstverständlich, dass grundsätzliche Äußerungen zu Recht und Reli­ gion, wenn sie von einem ehemaligen Reichsgerichtspräsidenten stammen, im Nazireich nicht unbeobachtet und unkommentiert bleiben konnten. Und in der Tat: In 296   Eine gute Schilderung der Gegenbewegung gegen diese Spielart des Positivismus gibt die akademische Antrittsvorlesung von Dietrich Schindler vom 12. November 1927: Der Kampf ums Recht in der neueren Staatsrechtslehre, in: Schweizerischer Juristentag 1928, S.  9 –11. September in Zürich. Festgabe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, Zürich 1928, S.  43–70 (49 ff.). 297   Otto, in: NDB 24 (2010), S.  4 43. 298   „Zu keinem seiner bedeutsamen Mitarbeiter fühlte sich Söderblom so hingezogen wie zu Dr. Simons. Ein tiefes Bewußtsein von der sozialen Verantwortung und Verpflichtung, die das Christentum auferlegt, war die Grundlage für den Gleichklang ihrer Seelen“, so Tor Andrae, Nathan Söderblom, Dt. Ausgabe Berlin 1957, S.  192. 299   Simons, Religion und Recht, Berlin 1936, S.  7.

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dem berüchtigten, von Hans Frank herausgegebenen „Zentralorgan des National-Sozialistischen Rechtswahrerbundes“, dem Periodicum „Deutsches Recht“, findet sich schon im Jahrgang 1936, als soeben Simons’ Buch „Religion und Recht“ erschienen war, eine Besprechung dieses Werks aus der Feder von August Jäger, der seinerzeit Senatspräsident am Kammergericht und ein überzeugter Nationalsozialist war. Schon vor 1933 Mitglied der NSDAP, wurde Jäger bereits im Mai 1933 Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium, und sein rigoroses Vorgehen gegen die Kirchen war notorisch und gefürchtet. Simons, als ehemaliger Minister des Auswärtigen in politischer Pragmatik sehr erfahren, glaubte durch seine Captatio Benevolentiae, als die sich sein genannter Satz im Vorwort deuten lässt, dem Verdammungsurteil entgehen zu können. Doch Jäger führt in seiner Buchbesprechung aus: „Gäbe es keinen Nationalsozialismus, so ließe sich das Buch als eine fruchtbare Fortsetzung des Ringens um die Probleme im alten Stile bezeichnen. So aber muß für die letzte Beurteilung entscheidend sein, daß das Buch seine Überlegungen außerhalb der Welt der nationalsozialistischen Anschauung anstellt. Der Auf bruch des Volkes wird nicht anders behandelt als ein Regierungswechsel in Verbindung mit der Verwirklichung autoritärer und totaler Staatstendenzen. In Wahrheit kann aber für den Nationalsozialisten die Beantwortung und erst recht die praktische Lösung einer Frage nur gegeben sein, wenn die Entscheidung, abgesehen von den Erfordernissen des Sonderfalls, durch die weltanschauliche Auffassung des Nationalsozialismus getragen ist.“300

Es würden in dem Buch Auffassungen vertreten, die „nicht nur schwerste Bedenken“ erregen, „sie fordern vielmehr eine klare Verneinung und Ablehnung.“301 Der genannte Satz im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches erweist sich, ebenso wie ähnliche Äußerungen, somit als schützende Einlassung Simons’, um dem Verdikt der Schrift zu entgehen – indessen vergeblich. Ein Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie darf daraus nicht hergeleitet werden. Nur in diesem Licht ist meines Erachtens auch die genannte kritische Bemerkung von Martin Otto in der Neuen Deutschen Biographie zu sehen. Simons’ Sicht, die geradezu als Grundaxiom und Vermächtnis seines gesamten Rechtsdenkens angesehen werden darf, gibt er vielmehr, verstorben am 14. Juli 1937, an entlegener Stelle, anlässlich einer Buchbesprechung,302 die er unter das Thema „Reflexionen über das Verhältnis von Staat und Kirche“ gestellt hat. Dort führt er aus: „Ich bekenne mich als Ketzer gegenüber der herrschenden Lehre, daß alles Recht vom Staate ausgeht und jede Rechtsetzung innerhalb einer vom Staat unterschiedenen Gemeinschaft nur auf einer vom Staat verliehenen Befugnis beruht. Quell auch des Rechtes ist Gott; er hat dem Rechte des Staates Grenzen gesetzt. Das ist eine ewige Grundwahrheit, die das ‚Naturrecht‘ in seiner zeitbedingten Art vertrat und die ihm heut Auferstehungskraft gibt; auf dieser Wahrheit beruhen ebenso die ‚Grundrechte‘ der Reichsverfassung wie die Grundsätze der Minoritätenverträge von 1919. Auch wenn sie in jenem denkwürdigen Jahre nicht die Rechtsform des Vertrags oder der Verfassung gefunden hätte, würde Wahrheit Wahrheit,   Jäger, in: Deutsches Recht, 6. Jahrgang 1936, S.  383 f. (383).   Wie Fn.  300, S.  384. 302   Es handelt sich um die Besprechung des Werkes von Günther Holstein, Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928. 300 301

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würde Recht Recht bleiben, und die Staaten, die jene Grundwahrheit verletzen, begehen Unrecht, auch wenn sie weder durch Verfassung noch durch Vertrag gebunden sind.“303

Die Grabstätte von Walter Simons ist erhalten; sie befindet sich auf dem „Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf “.304

303   Simons, Reflexionen über das Verhältnis von Staat und Kirche, in: Stockholm. International Review for the Social Activities of the Churches, vol. I, Göttingen 1928, S.  299–306 (303). Weiterführende Gedanken in: Simons, Christentum und Verbrechen, Leipzig 1925 (Vortrag). Sehr persönliche Reminiszenzen: Simons, Dauer im Wechsel, in: Emil Daniels/Paul Rühlmann (Hrsg.), Am Webstuhl der Zeit, Berlin 1928, S.  130–134. 304   Landeseigener Waldfriedhof Stahnsdorf, Alte Potsdamer Landstraße 96, 14532 Stahnsdorf. Stellenbezeichnung FI-WII-26.

Die deutsche „Staatsrechtslehre“, ihre „Festschrift“ und ihre Zukunft1 von

Prof. (em.) Dr. Helmut Goerlich, Universität Leipzig Inhalt I. Das Buch, der Verein und die Verdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 II. Zur Orientierung eine kommentierte Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 III. NS-Regime, Emigration und Krieg im Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 IV. Adressaten, Märkte und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 V. Die Profession, ihr Milieu und ihre Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 VI. Ort einer Neuauflage – jetzt oder später . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 VII. Integration, Identität und Internationalität als Indikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 VIII. Zum Wandel der Personalprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 IX. Vorschläge, Verantwortlichkeit und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 X. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641

Das vor kurzem erschienene Buch „Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts“ ist der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer gewidmet. Es verdient eine intensivere Diskussion und ein gutes Maß an Reflexion.2 Der nachfolgende Text sucht dazu beizutragen. Die Auswahl dieser Staatsrechtslehrer legte den Kreis derer zugrunde, die verstorben sind und vornehmlich auf wissenschaftlichem Gebiete gewirkt haben. Eine solche Wahl wird immer Schwächen aufweisen. Für das Jahrhundert und seine Staatsrechtslehre kommt es nur darauf an, dass die Auswahl repräsentativ bleibt – und dies, scheint es, ist insgesamt doch gelungen. Das nur vorab.

1   Zugleich Besprechung von P. Häberle/M. Kilian/H. A. Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts. Deutschland – Österreich – Schweiz, Verlag de Gruyter, Berlin/Boston 2015, ISBN 9783-030377-3, XII, 1058 S., Euro 149,95. 2   Diese ist nun en vogue, vgl. nur den auf eine Tagung im vorausgegangenen Jahr zurückgehenden Band und die in ihm enthaltenen Beiträge, darunter denjenigen der Herausgeber, E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015.

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I.  Das Buch, der Verein und die Verdienste Drei Mitglieder der Vereinigung der Deutschen (das meint: deutschsprachigen) Staatsrechtslehrer sind Herausgeber des Bandes. Er nennt im Untertitel die Grund­ lage seiner deutschsprachigen Ausrichtung und verliert kein Wort über Staatsrechtslehrer jenseits dieser Sprachgrenzen. Allerdings führen sich Kolleginnen und Kollegen jenseits dieser Grenzen im Fach in aller Regel eher – in ihrer jeweiligen, auch in Europa gesprochenen Sprache – als Verfassungsrechtler oder als Politikwissenschaftler oder benennen diese Gebiete als die Flur, die sie pflegen, vermeiden also die Betonung des Staates als solchem in der Beschreibung ihres Tätigkeitsfelds. Daher vermag der Haupttitel schon hinreichend Klarheit darüber zu verschaffen, wer hier verhandelt wird. Das schließt ein, dass es um eine europäische Region des Fachs geht, also nicht um ein Werk, das umfassend darzustellen sucht, wer den Gegenstand in dieser Zeit bereichert hat. Das Buch enthält zudem Darstellungen und Huldigungen von Kollegen des vergangenen Jahrhunderts, als es Kolleginnen noch kaum gab. Die Vereinigung ist ein wissenschaftlicher Verein, der sich heute immer noch vor allem aus habilitierten Kolleginnen und Kollegen aus den drei im Untertitel genannten Ländern – Deutschland, Österreich und der Schweiz – zusammensetzt; Länder, von denen zwei im letzten Jahrhundert große Umbrüche erfahren haben und das dritte sich jedenfalls eine total revidierte Verfassung gab. Die Vereinigung veranstaltet jedes Jahr regelmäßig eine Tagung, um Referate zu hören, zu erörtern und sich auch ­gesellig zu begegnen – nicht zuletzt auf den ihr bisher immer wieder gewährten Empfängen der gastgebenden Universität, der jeweiligen Stadt und des betreffenden Landes. Das Buch ist zu alldem ein Novum. Allerdings findet man in den letzten Jahren wohl auch – als Vorbilder oder Muster – ähnliche Bände im Zivilrecht im Wege der Darstellung aus der eigenen Schule und im Strafrecht in Form von Selbstdarstellungen. Der vorliegende Band enthält siebenundsechzig knappe und wissenschaftlich angelegte Kurzbiographien verstorbener Kollegen. Ein solches Projekt kann man letztlich nur wissenschaftssoziologisch rezensieren, vom Bedürfnis nach einer derartigen Präsentation bis zu ihrer Wirkung, ihrem Markt und ihren aus alldem und anderem erwachsenden Notwendigkeiten.3 Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich jede wissenschaftliche Zunft häufig überschätzt, auch an allen Eigenheiten des Karriere­ wissenschaftlers und seiner Entourage leidet und demgemäß oft dazu neigt, sich für „bedeutend“ zu halten und Aufmerksamkeiten zu erwarten – obwohl außerhalb der Zunft Leistungen und Namen, die in ihr eine Rolle spielen, einer weiteren wissenschaftlichen oder politischen Öffentlichkeit ebenso wenig bekannt sind wie die Personen selbst. Das wurde beim Empfang des damaligen deutschen Bundespräsidenten – Richard von Weizsäcker – für diese Vereinigung im Jahre 1990 anlässlich einer Sondertagung zu Deutschlands Verfassungslage sichtbar, als er – wiewohl selbst der ­Ausbildung nach Göttinger Nachkriegsjurist – kaum eine der zahlreich auf Schloss 3   Der kollegiale Wissenschaftssoziologe des Fachs schlechthin, also nicht nur der Vereinigung, ist zweifelsohne – auch wenn er dies bestreiten würde – H. Schulze-Fielitz, vgl. ders., Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013; und nun ders., Über Berufungen und Karrieren in der deutschen Staatsrechtslehre, in: L. Jaeckel/B. Zabel/R. Zimmermann (Hrsg.), Grundrechtspolitik und Rechtswissenschaft, 2015, S.  13 ff.

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Belle­v ue erschienenen und mit Handschlag begrüßten Personen kannte.4 Inzwischen ist der vorliegende Band auch von der jüngeren Generation in kritischer Perspektive rezensiert worden.5 Umso mehr verdient er der weiteren Erörterung im Lichte auch dieser Generation. Vielleicht kann man an dieser Erörterung unbefangen teilnehmen, wenn man der Vereinigung zwar seit langem angehört, aber auch andere Zünfte als die eigene in manchem, aber doch immer gerade ihrem eigenen Zusammenhang hat erleben können und dadurch eine Sicht der Wissenschaft, der Wissenschaftssoziologie und des zugehörigen Verbandswesens gewonnen hat, die nicht im engeren Umkreis des eigenen Fachs entstanden ist.6

II.  Zur Orientierung eine kommentierte Übersicht Für die Herausgeber war die schwer zu erschließende Auswahl – es fehlen querverweisende und aufschlüsselnde Register – von 67 Staatsrechtslehrern des 20. Jahrhunderts sicher nicht leicht, zumal manche naheliegenden Kriterien nicht immer greifen. Die Reihe der getroffenen Auswahl beginnt – gestaffelt nach dem Geburtsjahr und -tag und mit je einem Bild versehen – gesprächig wertend mit Paul Laband (von­ R. Mußgnug), also dem Exponenten eines der preußischen Monarchie ergebenen kreativen Positivismus, und endet – ganz bei der Sache – mit Klaus Schlaich (von S. Korioth), der der Republik mit ganzer Kraft als Verfassungsinterpret gedient und sich dabei früh verzehrt hat. Auch aus den drei Ländern scheint die Auswahl gut getroffen. Die Emigration ist hinreichend berücksichtigt, unter dem Aspekt, dass der eine oder andere anderswo schon jetzt oder demnächst in ähnlicher Weise gewürdigt wird; ebenso sind es die verschiedenen Schultraditionen und die unterschiedlichen   Für Entwicklungslinien der Staatslehre bis zur Wiedervereinigung Deutschlands vgl. exemplarisch C. Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, 2008, S.  31 ff. (69 ff.). 5  Vgl. als erste Rezensionsabhandlung F. Meinel, Unser Jahrhundert, in: Der Staat 54 (2015), S.  231 ff.; weniger kritisch und knapp die schlichte Rezensionsanzeige H. Goerlich, DVBl. 2015, S.  1111 f. Außerdem wird eine Rezensionsabhandlung von R. Enskat, Der lange Weg in den Staat der zweiten Republik, im Jahrbuch Politisches Denken erscheinen; dieser Text lag mir in Fahnenfassung elektronisch vor. Sein Autor, selbst nicht Jurist, referiert aus einer Außenperspektive und insbesondere, indem er ausgewählte Beiträge paraphrasiert, nachdem zunächst der mit dem Titel angedeutete staats- und verfassungsrechtliche „Spannungsbogen“ benutzt wird, um auszuwählen, welche Beiträge er näher erörtert. Die Beiträge werden als „Portraits“ und „Fallstudien“ verstanden und unter den gewählten Spannungsbogen gestellt. Dieser Bogen umfasst als Kriterium die Einsicht in die „parlamentarische Legitimität“, jede das Gemeinwohl des Gemeinwesens betreffende Sorge zur parlamentarischen Agenda zu machen, sowie zudem die Einsicht, dass die Bürger eines Gemeinwesens unter den Bedingungen moderner Industriegesellschaften einen legitimen Anspruch auf gesetzlich geregelte Daseinsvorsorge haben. Die so eingeleitete Auswahl der referierten Beiträge ist unvermeidlich problematisch, bleiben doch dabei immer solche ausgespart, die für den einen oder anderen Leser besonderes Gewicht haben. Und die Zuordnung der einzelnen Beiträge verrät im Übrigen etwas mehr über das Konzept des Bandes, das die Herausgeber zumindest erörtert haben, denn Enskat scheint jedenfalls einem von ihnen nahezustehen. Soweit ich sehe, ist dieses Konzept indes nicht immer bis zu den Autoren vorgedrungen, sodass auch andere Möglichkeiten einer Gesamtschau oder einer eigenen punktuellen Auswahl dem Leser erhalten bleiben. 6   Vgl. dazu meine Bemerkungen in: H. Goerlich, Zur zugewandten Säkularität – Beiträge auf dem Weg dahin – Ausgewählte Schriften, hrsgg. v. L. Jaeckel/M. Kotzur/R. Zimmermann, 2014, S.  9 ff. (11 ff.). 4

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Teilgebiete. So wird Otto Kirchheimer von einem der Herausgeber andernorts verhandelt.7 Das gilt auch für Roman Schnur.8 Und ähnlich liegt es bei Albert Hensel.9 Vergessen scheint jedoch Erwin Jacobi, der in Leipzig eine lang nachwirkende unantastbare Rolle einnahm; er hat allerdings durch eine Dissertation eine ausgezeichnete Würdigung erfahren.10 Deutlich ist die größere Bandbreite und Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten und der Milieus im Fach, die früher zu verzeichnen waren, als Wissenschaft häufiger das Ziel junger Leute mit unterschiedlichem, also auch oft noch großbürgerlichem Hintergrund war. Besonders zu begrüßen ist heute, dass entsprechend den Gepflogenheiten der eingangs genannten Vereinigung grenzüberschreitend alle deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen des 20. Jahrhunderts zur Auswahl standen, so wie die Vereinigung sich nun auch mehr und mehr öffnet für die auswärtige, aber der deutschen Sprache mächtige Wissenschaft vom öffentlichen Recht. Die Autoren sind meist – wenn dies möglich ist und das ist für die nach 1945 bedeutsamen Staatsrechtslehrer regelmäßig der Fall – Schüler oder Schülerinnen der gewürdigten Kollegen, was allerdings auch zu gewissen Schönungen, Verzerrungen und Ausblendungen führen kann, oder sie sind mehr oder minder ausgewiesene ­H istoriker des jeweiligen Fachs bzw. aktuell oder in der Sache nahestehende Fachvertreter; selten sind Würdigungen nur anknüpfend an eine gemeinsame Fakultätszugehörigkeit – etwa die Beiträge zu Arnold Köttgen (P. Badura) oder, ohne Sensus für den Mann und seine Zeit, ja etwas fern und – gemessen an der gebildeten, großbürgerlich geprägten Persönlichkeit jüdischer Herkunft – eher blass zu Gerhard Leibholz (C. Starck) und noch stärker der Beitrag zu Hans J. Wolff (M. Möstl), die denn teils auch kaum wirklich plastisch geraten sind. Die Staatsrechtslehrer der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts waren im Lauf der Generationen naturgemäß nicht mehr von Schülern zu würdigen; hier bot sich ein Feld für jüngere Kollegen mitzuwirken, also – um Beispiele zu nennen – etwa zu einem vergessenen, auch politischen Professor, nämlich Georg Meyer (P. Cancik), zu Gerhard Anschütz (C. Waldhoff ), zu Fritz Fleiner (G. Biaggini), vom Völkerrecht kommend konzise und aufschlussreich zu Heinrich Triepel (A. v. Arnauld), vom Rechtsstaat her ebenso zu Richard Thoma (K. Groh), die ganze Fülle brillant erfassend zu Erich Kaufmann ( J. Rozek), dem Verwaltungsrechtschutz verpflichtet zu Ottmar Bühler (E. Reimer); ebenso sachgerecht und sehr informativ, wobei hier auch der Wiederauf bau der Verwaltungsgerichte nach 1945 eine Rolle spielt,11 zu Walter Jellinek (H. Schulte), von dem offenbar unsterblich faszinierenden Magier Carl Schmitt (M. Jestaedt), als Gelehrter einer anderen Zeit 7  Vgl. M. Kilian, Der Staatsrechtslehrer Otto Kirchheimer, in: W. Kohte/N. Absenger (Hrsg.), Festschrift für A. Höland, 2015, S.  97 ff. 8  Siehe M. Kilian, Roman Schnur – ein deutscher Staatsrechtslehrer in Polen, in: P. Kardas/T. Sroka/W. Robel (Hrsg.), Krakauer Festschrift für A. Zoll, Bd. 1, Warschau 2012, S.  207 ff. 9   Zu ihm P. Kirchhof, A. Hensel (1895–1933), in: H. Heinrichs u.a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S.  781 ff.; hingegen fehlt in diesem Band der Völkerrechtler Albrecht Mendelssohn Bartholdy, an den man sich in Hamburg auch dank des Namens einer Graduiertenschule dort erinnert. 10  Vgl. M. Otto, Von der Eigenkirche zum volkseigenen Betrieb: Erwin Jacobi (1884–1965). Arbeits-, Staats- und Kirchenrecht zwischen Kaiserreich und DDR, 2009. 11  Vgl. F. Endemann, Der Kommissar, der Professor und der Präsident. Kurzer Bericht zum Neuanfang der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Stuttgart und Karlsruhe 1945/6, in: VBlBW 2003, S.  269 ff.; Walter Jellinek war dann auch am Stuttgarter Verwaltungsgerichtshof tätig und habilitierte seinen der-

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erfasst, aber sicher nicht ganz entschlüsselt zu Rudolf Smend (H. Schulze-Fielitz), in Kieler Tradition zu Walther Schücking (C. Tietje), wie immer weiterführend und seinem ersten akademischen Gegenstand treu zu Hans Kelsen (H. Dreier), historisch angelegt zu Rudolf Laun (W. Pauly); dann zu einem der „Großen Vier“ der Weimarer Zeit, aber vom Autor offenbar ungeliebt, und allerdings etwas komplex, nämlich zu Hermann Heller (U. Volkmann), danach mit Sympathie und Details bis in die Nachkriegsgeschichte über den aufrechten Münchner Großbürger Karl Loewenstein (O. Lepsius), gemessen und mit Horizont zu Carlo Schmid (M. Kilian) und in umfassender historischer Perspektive in allen Höhen und Tiefen zu Ernst Rudolf Huber (C. Gusy), in der Sicht dem Schüler näher zu Hans Peters (W. Berg), nicht nur als Herausgeber zu Hermann von Mangoldt (H. A. Wolff ), zu dem Völkerrechtler und oft eben auch liberalen Katholiken Hermann Mosler (C. Tomuschat), aus der Schweiz großbürgerlich und in gediegener Tradition zu dem Verfassungs- und Völkerrechtler Dietrich Schindler sen. (D. Thürer), fundamental und mit hohem Anspruch zu Walter Kägi (W. Haller), während ansonsten für Staatsrechtslehrer der Schweiz offenbar weithin, nämlich viermal, der Fachhistoriker zur Feder greifen musste, so zu Max Huber, dem großen Völkerrechtler, dann kunstsinnig aus dem Bergell zu Zaccaria Giacometti, anders zu Hans Huber und bodenständig und historisch fundiert zu Max Imboden (alle ­A. Kley), wobei der Beitrag zu Hans Huber den damaligen Zeitgeist zwischen eidgenössischer Tradition und faschistoidem Staatskonzept exemplarisch und ganz deutlich zeigt. Für Österreich sind ebenfalls die großen Namen präsent, etwas weniger an Zahl, aber umso deutlicher in der Darstellung der eigenen Tradition, wobei hier manche ja sehr früh auf Lehrstühle jenseits später verfestigter Staatsgrenzen kamen, also etwa neben Rudolf Laun, Hermann Heller und dem besonderen Fall einer Emigration mit Heimkehr Hans Nawiasky (Y. Hangartner) oder dann auch Hans Kelsen – Kollegen, die rasch emigrieren mussten und fast alle nicht zurückkehrten. Aus Heilbronn stammt Georg Schwarzenberger (H. Steiger) – wie Kirchheimer, der dort beerdigt werden wollte. Schwarzenberger war Schüler von Carlo Schmid und Völkerrechtler; er emigrierte nach England und kehrte trotz alsbald nach 1945 belebten Kontakts mit seinem Lehrer und eines 1964 nochmals wiederholten Angebots nicht nach Tübingen zurück, blieb aber seiner Heimatstadt verbunden. Der Wechsel von der Schweiz nach Deutschland und umgekehrt war – anders als im 19. Jahrhundert zu Zeiten des allgemeinen Staatsrechts, in dem Bluntschli und die Brüder Snell12 zu nennen wären – seltener und verlief gegenläufig; zu vermerken sind nur Fritz Fleiner (G. Biaggini) und Peter Schneider (E. Denninger). Auch der vom Fachmann13 hier knapp referierte „Fall“ Georg Jellinek ( J. Kersten) wäre hier zu nennen, der nach massiven Diskriminierungen in Wien von der Berliner Fakultät 1889 sozusagen adoptiert und nach einer kurzen Station in Basel alsbald nach Heidelberg berufen wurde. Dabei kommt Österreich nicht zu kurz. Nicht nur Georg Jellinek und Hans Kelsen halten die Stellung, schließlich ist auch Rudolf Laun österreichischer Herkunft. Verzeit richterlichen Kollegen Otto Bachof in Heidelberg, vgl. im hier anzuzeigenden Band D. H. Scheuing, a.a.O., S.  851. 12   Zu diesen A. Kley, Kants republikanisches Erbe, 2013; dazu H. Goerlich, SächsVBl. 2014, S.  151 f. 13  Vgl. J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000.

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handelt sind hier aber unter österreichischer Flagge: Der dem Autor als Vaterfigur nahe, trotz seiner abendländisch orientierten Verstrickungen nach dem „Anschluss“ Österreichs und seinem späteren Schweigen sehr ausgewogen dargestellte Völkerrechtler Alfred Verdross (B. Simma), der wohl integre, nach seiner Pensionierung auf den „Anschluss“ Österreichs hin ab 1941 zeitweilig in Tübingen vertretende, indes 1948 in Wien wieder ernannte und dann bis 1965 dort lehrende Adolf Merkl (H. Schambeck), dann der immer der Rechtsordnung eines selbstständigen Österreichs, sei es der Monarchie oder der Republik, verbundene Wissenschaftler und Verfassungspraktiker Ludwig Adamovich sen. (L. Adamovich jun.), der Schüler von Merkl und Adamovich sen., Professor und Präsident des Verfassungsgerichtshofs Walter Antoniolli (K. Korinek) und in einer sehr umfassenden, deutlichen und – wie es scheint – in keiner Weise verzeichnenden Darstellung der menschenrechtlich engagierte, aber bei aller Bescheidenheit doch auch etwas schillernde Völker- und Verfassungsrechtler Felix Ermacora (C. Schlintner/G. Strejek). Manche Beiträge sind ganz von der starken Persönlichkeit des früheren Lehrers und der Wahrnehmung des Autors sowie von dessen Maßstäben, Sprechweisen und Perspektiven geprägt. Dafür stehen etwa auf deutscher Seite Charaktere, die nach Schicksal und Leistung sowie mit dem Elan derer, die davongekommen sind und teils immer auch gegen die stetig nachwirkenden oder allmählich spürbar werdenden Kriegsfolgen am eigenen Leibe ankämpfen mussten, alsbald die Verfassung zu ihrer Mission gemacht haben – wie Günter Dürig (W. Schmitt Glaeser), wahrscheinlich nicht überzeichnet und daher besonders überzeugend zu Ernst Friesenhahn (H. Meyer), hier vielleicht zu verklärt in Rechtschaffenheit und daher zu nahe einem olympischen Denkmal zu Konrad Hesse (P. Häberle), auch von anderer Seite ähnlich erinnert an Werner Weber (E. Schmidt-Aßmann) oder zum schillernden und weltläufigen Friedrich Berber (A. Randelzhofer). Auch der inzwischen von der jüngsten Generation sozusagen aufgearbeitete14 Ernst Forsthoff (H. H. Klein) sowie – nahezu in Schultradition – Ernst Fraenkel (A. v. Brünneck) werden behandelt. Außerdem zeichnen manche Beiträge Charakterbilder ihrer Gegenstände, etwa als Mann nicht ohne Vergangenheit, indes von grenzenloser Bescheidenheit Ulrich Scheuner (W. Rüfner), als ­gebildet und dennoch verfangen in der eigenen Verstrickung Herbert Krüger (T. Oppermann), als kantigen Großbürger, strengen Dogmatiker und furchtlosen Matador Karl August Bettermann (D. Merten), als in der Erscheinung eher eleganten Stabsoffizier, jedenfalls aber Kommandeur Hans Schneider (R. Mußgnug), als Diplomat und Völkerrechtler Wilhelm G. Grewe ( J. A. Frowein), als in einem das Überleben gestattenden Maß von Widerständigkeit geübten und nach dem Kriege erfahrenen Richter Otto Bachof (D. H. Scheuing), als Mann mit dem Sinn für Wissenschaft und Kunst überhaupt Karl Josef Partsch (R. Wolfrum), dann Lehrer und Schüler ersichtlich als Offiziere unter sich Karl Doehring (T. Stein), als Kämpfer für freies Wort und Wissenschaft Helmut K. J. Ridder (K.-H. Ladeur), als Souveränität und Staat immer standhaft verpflichteten Schmittianer Helmut Quaritsch (B. Grzeszick), aber auch – last, but not least – aus der Schweiz als nicht nur in Vergangenheitsperspektiven denkenden, re­ form­offenen, musischen, der Umwelt und künftigen Generationen verpflichteten Wissenschaftler Peter Saladin (D. Majer).  Vgl. F. Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2011.

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Daneben sind anders geprägte Außenseiter berücksichtigt, so etwa der wohl der jüngeren Generation schon sehr ferne Hugo Preuß (D. Schefold), souverän, verfassungspolitisch und transatlantisch Carl Joachim Friedrich (S. Kirste), nicht nur als homme de lettres und großer, aber auch verhaltener Redner im Hörsaal unvergesslich, zudem sehr bedächtig und immer mit mildem, vielleicht schon auch inszeniertem, aber prüfendem Blick Carlo Schmid (M. Kilian), vielen fern, aber zweifellos von hohem Rang und Exponent einer Tradition Wolfgang Abendroth (U. K. Preuß); und glücklicherweise findet man zudem besondere und manchmal – wenn man näher hinschaut, so wie dieser Beitrag – erstaunlich universale Charaktere wiederbelebt wie Otto Mayer (D. Ehlers), dann in Qualität und Darstellung auch zu den englischen Seiten einer außerordentlichen, auch musischen Lebenskultur Werner v. Simson (W. Graf Vitzthum) oder, weniger vom Schüler als vom Kollegen verfasst, der politische Emigrant und Heimkehrer zwischen griechischer und deutscher Tradition Dimitris Th. Tsatsos (M. Morlok). Dabei sind die Beiträge sehr unterschiedlich ausgereift, unterschiedlich auch in der Sprache und in der Form, sodass sie öfter mindestens ebenso viel über ihre Autoren wie über ihren Gegenstand sagen. Hat man die Reihe dieser älteren Kollegen, eine größere Zahl der Emigranten – manchen gerade auch noch – als akademischen Lehrer, also nicht nur bei Gelegenheit von Gastvorträgen auf Reisen erlebt, so sind die Eindrücke noch stärker, als die Beiträge es vermitteln können, die sicher in der Regel neben dem Getriebe des heutigen akademischen Lebens entstanden sind, es sei denn der Autor – insoweit finden sich gemäß der Altersstrukturen wieder kaum Kolleginnen – hatte Zeit. Schließlich kommt man dank der Altersgrenzen wieder zu mehr eigener Arbeit, die nicht nur plastischere Darstellungen ermöglicht, sondern zudem Zeit für Recherche lässt und so etwas zum Stand der Kenntnisse über Personen und ihre Lebensleistungen beitragen kann.

III.  NS-Regime, Emigration und Krieg im Hintergrund Ein durchgehaltenes Schema liegt den Beiträgen offenbar nicht zu Grunde. Je prominenter der Autor, desto unterschiedlicher gerät die Ausgestaltung. Ältere Autoren sind in der Form befreit zur Wahrung ihres eigenen, die Dinge ohne Verletzungen grandios erfassenden Stils, so etwa, allerdings knapp, zu Theodor Maunz Peter Lerche, wobei auch hier die Verstrickung seit der NS-Zeit unverkennbar ist, indes das Doppelleben gerade dieses Mannes durch die Darstellung nicht verschleiert, wenngleich seitens des Schülers allerdings doch auch schonend eher nur angedeutet wird. Dabei fällt die Lebenszeit auch vieler anderer behandelter deutscher und österreichischer Kollegen in die Jahre nach 1933; in manchen Fällen wird indes zum Verhältnis zu den damaligen Machthabern und ihren Organisationen, zum Verhalten und zu den Erfahrungen der derzeit noch durchweg männlichen, hier behandelten und schon verstorbenen Kollegen nichts ausgeführt. Das verdunkelt manchmal die Verzögerung oder das Ausbleiben von Ehrungen mancher an sich nach dem Kriege hochangesehener Kollegen. Ebenso unerklärt bleibt bei Kriegsteilnehmern dieser Zeit das persönliche Merkmal einer souveränen Distanz zum äußeren Erfolg. Auf den ersten Blick um die besten Jahre betrogene Leute gewinnen jedoch derlei Distanz, abgese-

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hen vom feineren, langfristig heilenden Maßstab des Gewissens. Zur Erklärung trägt nicht bei, wenn fachbezogene Lebensphasen tabuisiert und gänzlich unterdrückt werden, also etwa eine fragwürdige Rolle während des Krieges, der Hintergrund dazu aber in einem anderen Beitrag auftaucht;15 oder zu Kriegserfahrungen von Konrad Hesse, der bedacht schwieg;16 zu Härten des Exils gilt das umso mehr, etwa für Hans Kelsen, Karl Loewenstein oder Gerhard Leibholz.17 Auch andere Erfahrungen können im Einzelfall gehoben werden, wenn der Berichterstatter dazu die Zeit hat, was heute für die auch nur im Betrieb von Wissenschaft, Lehre, Prüfungen und Verwaltung aktiven Kolleginnen und Kollegen wie gesagt ein Problem ist. Nicht immer sind die Lebensläufe von der Blässe und Erfahrungsarmut der wenigen Stationen, die eine akademische vita erwähnen muss.18 Manches lässt sich im Übrigen gerade dann erschließen, wenn man den politischen Lebenslauf eines Wissenschaftlers einbezieht, ihn also mit dem ausstaffiert, was ihn zu seiner Zeit auch ausgemacht hat. Dass da­bei ältere Autoren zurückhaltender sind als jüngere, ist verständlich, geht jedoch zu ­Lasten der Weitergabe von Erfahrungen.

IV.  Adressaten, Märkte und Perspektiven Adressaten des Bandes sind angesichts seines stolzen Preises gewiss nicht regelmäßig Studierende. Sicher sind es aber zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, der Nachwuchs und die weitere Öffentlichkeit am Rande. Würde es zu einer Studienausgabe kommen, so ließe sich der Kreis vielleicht erweitern. Für eine Studienausgabe sind allerdings manche Mängel von größerem Gewicht, weil Studierenden das sie überspielende Hintergrundwissen oft fehlen wird. Ein Markt scheint sich jedenfalls nur im Kreise der Gelehrsamkeit anzubieten – neben den Bibliotheken der Ober- und Bundesgerichte, wenn es gut geht. Auch die Wirkung führt wohl eher nach innen, in die Kreise der Gelehrsamkeit, hat dort vielleicht eine identitätsstiftende Wirkung und vergewissert in Traditionslinien. Ob der Band zu einem weiterführenden Stil der Staatsrechtslehre beitragen kann, scheint ebenso ungewiss wie die Entwicklung des Fachs, der ihm verpflichteten Professionen und seiner Lehrpersonen. Allerdings stellt Wissenschaft im Profil gewisse Anforderungen an ihr Personal; dazu vermittelt 15   Vgl. für H. P. Ipsen im hier angezeigten Band K. Stern, a.a.O., S.  718 und W. Pauly, a.a.O., S.  245 mit Bezug auf Ipsens treuen Lehrer Laun. Was die technische Seite des Vorgangs angeht, so hätten ein Personen- und ein Sachregister den Herausgebern ermöglicht, solche Divergenzen aufzudecken und abzufangen; das gilt etwa für die Annahme von U. Volkmann in seinem Beitrag über Hermann Heller, dass der Band keine Beiträge zu H. Kelsen und C. Schmitt enthalten werde, vgl. U. Volkmann, a.a.O., S.  394, Anm.  12. In seinem Beitrag wird außerdem nicht erwähnt, dass Heller am Kaiser-Wilhelm-Institut im Stadtschloss in Berlin tätig war, während der Beitrag zu Carlo Schmid dies wohl annimmt und auf dieser Basis von einer Beziehung zwischen Schmid und Heller in dieser Zeit ausgeht, vgl. M. Kilian, a.a.O., S.  488. 16  S. P. Häberle, a.a.O., S.  893 ff. und dazu exemplarisch H. Goerlich, SächsVBl. 2005, S.  223 ff. (224); die Erfahrungen des Krieges und der Gewaltherrschaft sind auch deswegen von besonderem Interesse, weil sie die Begegnung von Idealen und Realität erzwangen, also wohl prägend werden mussten, und zwar gerade auch bei Jüngeren, die noch kaum erwachsen waren. 17  Vgl. H. Dreier, a.a.O., S.  222, O. Lepsius, S.  431 f. und C. Starck, S.  582. 18  Dazu Meinel (Anm.  5 ), S.  233.

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dieser Band Anschauung in zahlreichen Facetten. Wissenschaft bedarf auch des Ziels, der Entfaltung und zunächst der Produktion einer gewissen Reputation ihrer Adepten; dazu trägt dieser Band, sozusagen ein Spiegel von Persönlichkeiten und ihrer Erfahrungen, in hohem Maße bei. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob sich damit ein sicherer Boden für die Fortsetzung des Projekts schaffen lässt. Gewiss wird sich die Neigung zur Wissenschaft in jedem Modell des Studiums und der Nachwuchsförderung ihre Bahn brechen. Es hilft dabei das wissenschaftliche Gespräch, die dem früheren Seminar verwandte Vermittlung in Referat und Debatte in kleineren Gruppen sowie die persönliche Beziehung zum akademischen Lehrer. Aber das spezifische Selbstbewusstsein, wie es bisher in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer anzutreffen war und in diesem Band noch zum Ausdruck kommt, mag durchaus, ja wird künftig erhebliche Wandlungen erfahren. Während früher zentraleuropäische Schicksale, Umbrüche und Perspektiven den Hintergrund der geschilderten Persönlichkeiten und ihrer Leistungen prägten, ist heute eine gewisse Eintönigkeit in einer immer noch sehr eigenen, gleichförmigen und saturierten, aber auch ungestörten Welt festzustellen, die vermehrt aufgebrochen werden wird. Dies wird geschehen, wenn sich die Nachwuchspolitik öffnet und sich damit auch derartige berufliche Vereinigungen – allerdings unter Wahrung des Sprach- und des Fachbandes als maßgebliche Kriterien – europäisieren. Diese Richtung scheint eingeschlagen, die Aufnahmepolitik der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer geht dahin. Der Band dokumentiert indes frühere und bisherige Strukturen, Selbstverständnisse und Erfahrungen in hervorragender Weise und ist daher schon mit seinem Erscheinen ein sozusagen geschichtliches Dokument zur Staatsrechtslehre des vorigen Jahrhunderts.

V.  Die Profession, ihr Milieu und ihre Zukunft Wichtiger aber ist es, die Zukunft ins Auge zu fassen: Wird die Entwicklung der Profession, ihres Fachs und ihrer Vereinigung eine Neuauflage oder eine Nachfolge dieses Bandes veranlassen und wie wäre ein solcher Band dann zu gestalten? Hierzu lassen sich heute schon formale und sachliche Kriterien entwickeln. Sie sind zu skizzieren: Formal sollte eine spätere Auflage, etwa nach einem weiteren halben Jahrhundert in sich und zurück zu dem älteren Band Verweisungen durch Register enthalten. Zudem sollten Auf bau und Gliederung einer Neuauflage wenigstens etwas standardisiert werden. Zu diesen Standardisierungen wird es dann auch gehören, dass die politischen Aspekte der Biographien der verhandelten Staatsrechtslehrer nicht mehr durch Tabuisierungen und blasse Formeln übergangen werden. Die jüngere Generation wird sonst in Gefahr gebracht, sie alle ohne nähere Kenntnis als „Nazis“ abzutun und damit die Komplexität des Lebens in einem nach und nach totalitär ausgerichteten politischen System überhaupt nicht wahrzunehmen. Hinzu kommt, dass der jüngeren Generation, die von einer inzwischen im Stile der westlichen Demokratien eingeübten politischen Kultur ausgeht, weithin unbekannt bleibt, in welchem Ausmaß das Bürgertum „national“, „völkisch“, vielleicht auch nur „bündisch“, aber jedenfalls antiwestlich, autoritär und antiparlamentarisch im Sinne der Behauptung einer eigenständigen deutschen Kultur, auch verstanden als politische Kultur, als Ge-

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genbild zur westlichen „Zivilisation“ gesonnen war.19 Man befand sich sehr oft an der Grenze zu nationalen Ideologien, die sich leicht öffnen konnten für nationalsozialistische Lehren darüber hinaus; hinzu kam ein weithin verbreiteter, zumindest latenter bürgerlicher Antisemitismus allerdings in sehr verschiedenen Graden, der sich später fern von Verbrechen verstand und diese verdrängte, als sie näher bekannt wurden. Und es prägten solche Bewusstseinslagen „Lucifer ante portas“ 20 manchmal mindestens auf den ersten Blick nahezu ganze Lehrkörper von Universitäten über alle Fachgrenzen hinweg.21 Junge Gelehrte ohne dauerhafte akademische Stellung, die eine konsequent demokratische Perspektive verfolgten, waren jedenfalls Ausnahmen, so unter den Kollegen bürgerlicher Herkunft vor allem mit einem von Max Weber mitgeprägten Hintergrund Karl Loewenstein aus München,22 Hans Julius Wolff 23 aus Elberfeld und Carlo Schmid in Tübingen.24 Unter den älteren waren es noch weniger, aber etwa Gerhard Anschütz und Richard Thoma. Auch um derlei sichtbar zu machen, würde ein vorgegebenes Konzept für den Auf bau einzelner Beiträge den Weg der Darstellung erleichtern und ermöglichen, von Fall zu Fall ein Netz der Lebenskulturen der jeweiligen Epoche zu entwerfen. Daher wären solche Vorgaben zur Darstellung biographischer und fachlicher Elemente der Beiträge sehr hilfreich. Sicher ist es heute schwer, die Disziplin einzufordern, die ermöglicht, solche Vorgaben zu erfüllen. Mit jedem größeren Zeitabstand über Generationen hinweg wird dies aber leichter. Das hat auch mit der Frage der Autorenschaft und des Stils der Beiträge zu tun. Sind sie vor allem neben ihrer biographischen Funktion wissenschaftsgeschichtlich und rechtsdogmatisch ausgerichtet, so werden sie sachliche Interpretationen enthalten. Fruchtbar werden könnte dann außerdem wissenschaftssoziologisches Feingefühl. Für die Auswahl der Autoren würde dies bedeuten, dass nicht nur die Beiträge zu Staatsrechtslehrern in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, sondern auch diejenigen zur zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Interpretationen von Leben und Leistungen enthalten würden. Die Chance, jeweils ein sachliches Bild zu erhalten, wächst auch mit der zeitlichen Distanz. Bloße Reputation wird nicht mehr ausreichen, um sachliches Gewicht nur vorzutäuschen.25 Nur die jüngeren Beiträge, die eine Generation betreffen, die neu aufgenommen werden würde, wären in Gefahr, 19   Die westliche Demokratie galt nichts, vgl. ähnlich H. Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S.  9 (14); und wirr war das Nachkriegsbewusstsein, vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band 1919–1945, 1999, S.  200; jetzt für die damals vielleicht eher dominante protestantische Seite der Staatsrechtslehre und die evangelische Theologie dieser Zeit H. M. Heinig, Protestantismus und Demokratie, ZevKR 60 (2015), S.  227 ff. (232 ff.). 20   So der Titel des Berichts des konservativen Juristen und preußischen Verwaltungsbeamten, der überlebt hatte: R. Diels, Lucifer ante portas, … es spricht der erste Chef der Gestapo …, 1950. 21   Auch eine unübertreffliche fachorientierte Darstellung der Weimarer Staatsrechtslehre erfasst das nicht; sie liefert aber M. Stolleis (Anm.  19), S.  158 ff. 22  Dazu O. Lepsius im hier angezeigten Band, S.  412 ff.; Loewenstein emigrierte. 23  S. M. Möstl, ebd., S.  508 f.; Wolff wich nach Riga aus. 24   W. Kilian, ebd., S.  488 ff. Schmid nahm im Seminar klar gegen die Anwendung von Rassenlehren auf den Menschen Stellung, was ihm, dem Ulanenleutnant des ersten Weltkriegs, der er blieb, als wohl schon abgemilderte Sanktion die politische Unzuverlässigkeit und damit die Privatdozentur auf Dauer neben der Tätigkeit als Amtsrichter einbrachte, vgl. C. Schmid, Erinnerungen, 1979, S.  169. 25  Zu Bedeutung und Funktion von Reputation H. Goerlich, Die Rolle der Reputation in der Rechtswissenschaft, in: E. Hilgendorf/H. Schulze-Fielitz (Anm.  2 ), S.  173 ff.

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zu bloßen Huldigungen zu geraten, insbesondere wenn Schüler oder Schülerinnen des betreffenden Gelehrten die Autoren oder Autorinnen sein werden. Huldigungen sind zwar ehrenwert, sie liefern aber weniger Orientierung für die Stellung des verhandelten Kollegen in seiner Zeit und in seinem Fach als sie Interpretationen, die auch Distanz wahren, leisten können. Daher könnte man auch insoweit ein alternatives Konzept ins Auge fassen, das Schüler und Schülerinnen von der Bearbeitung ausschließt, sodass gegenläufige Autorenschaften die Regel wären, vielleicht wiederum verbunden mit einem Recht zur Stellungnahme in dem Band selbst, sofern die Herausgeber oder ein von ihnen bestellter Ausschuss meint, das vorgelegte Manuskript bedürfe einer gewissen Ergänzung aus der Perspektive einer „Schule“. „Schulen“, die es ja oft so gar nicht gibt, weil diese „Schüler“ und „Schülerinnen“ untereinander wiederum sehr unterschiedlich ausfallen können, sodass aus ihren Persönlichkeiten heraus schon so etwas wie eine – horribile dictu – „Gefolgschaft“ oder auch bloß gemeinsame „Schülerschaft“ bis hinein in Vermachtungen der Wissenschaft, etwa auf dem Feld der Berufungspolitik,26 gar nicht entstehen konnte und kann. Man könnte auch daran denken, solche Stellungnahmen regelmäßig vorzusehen, so dass solche Ergänzungen nicht nur nach einer kritischen Bewertung durch einen Ausschuss zustande kämen. Den Zuschnitt von Beitrag und Stellungnahme könnten Vorgaben zu Gestaltung und Länge steuern. Angesichts der heute großen Zahl der Vertretern der Staatsrechtslehre wäre dieser Weg auch eine Möglichkeit, eine größere Zahl von Autorinnen und Autoren zu gewinnen.

VI.  Ort einer Neuauflage – jetzt oder später In einer Neuauflage würden dann auch diejenigen Staatsrechtslehrer erscheinen können, die 2015 noch gelebt haben und deshalb nach dem in der gegenwärtigen Auflage umgesetzten formalen Kriterium unberücksichtigt bleiben mussten. Genannt worden sind vor kurzem E.-W. Böckenförde, Dieter Grimm, Peter Lerche, Horst Ehmke, Hans-Heinrich Rupp, Josef Isensee „und andere“.27 Formale Kriterien sind andererseits sicher unverzichtbar, will man den Band nicht ausufern lassen. Auch sollte die Grenze zu einer lexikalischen Erfassung erkennbar bleiben, durch formale ebenso wie durch sachliche Kriterien. Der Ort einer Neuauflage könnte mithin jenseits der Geschichte des öffentlichen Rechts von Michael Stolleis und dem von ihm herausgegebenen Juristenlexikon liegen,28 also eine ADB29 der Staatsrechtslehre vermeiden, aber doch substantiell wer26  Dazu P. Häberle, Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftsgemeinschaften, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S.  159 (167 ff.). 27  Vgl. F. Meinel (Anm.  5 ), S.  235. 28  Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1600–1990 in vier Bänden, erschienen 1988, 1992, 1999, 2012; ders. (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 2001; ähnlich – auch in späteren Auflagen – G. Kleinheyer/J. Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4.  Aufl. 1996, wobei diese lexikalischen Werke dann an Interesse verlieren, wenn im Internet ihrem Niveau entsprechende Informationen zunehmend leicht aufzufinden sind. 29   D. h. Allgemeine Deutsche Biographie, heute ergänzt durch die NDB, d.h. Neue Deutsche Biographie.

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den dort, wo Stolleis in seiner Geschichte nur andeutet oder skizziert und dieses kleine Lexikon nicht mehr als nackte Daten liefert. Im Übrigen hat Stolleis durch seine Beiträge Standards gesetzt, hinter die man nicht mehr zurück kann: Weder lassen sich Vergangenheiten nun noch verschweigen – was die vorliegende Auflage des anzuzeigenden Bandes verkannt hat – noch ist es möglich, den Wandel im Fach zu übergehen. Die biographischen Teile der Beiträge müssen also offenlegen, wie es mit der politischen Biographie des verhandelten Kollegen steht, wozu allerdings auch ein Bericht darüber gehört, wie er sich seiner Vergangenheit gegenüber später verhalten hat. Ebenso wird es dann unmöglich, nationalsozialistische Staatsrechtslehrer schlicht auszuklammern, also insoweit ein idealisierendes Bild von der Gesamtheit des Fachs zu malen, das historisch nicht zutrifft. Dabei mag dieser Effekt ganz unbewusst eingetreten sein; dennoch ist darauf hinzuweisen. Das gilt auch für die Ausblendung der fragwürdigsten Gestalten, also etwa der Höhns und der Ritterbuschs, um zwei Karrieristen des Nationalsozialismus zu nennen.30 Ebenso muss die allmähliche Parlamentarisierung des Staats- und Verfassungsbildes der Staatsrechtslehre seit 1918 und im zweiten Anlauf seit 1949 in die Würdigung einbezogen werden, gleichsam wie der Wandel des Grundrechtsverständnisses und manches mehr, darunter nicht zuletzt die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das würde auch Maßstäbe setzen, wer wohl zu berücksichtigen wäre, also etwa der für Gesetz und Rechtsbindung der Verwaltung einen Schub auslösende, dann aber früh verstorbene Bachof-Schüler Dietrich Jesch, wie schon angemahnt worden ist.31 Das heißt, der Weg zum westlichen Verfassungsstaat im Sinne einer gleitenden Anpassung an die Verfassungslage demokratischer Provenienz müsste Niederschlag finden. Auch wären retardierende Elemente sichtbar zu machen, etwa ein Aufleben von „Staatsverständnissen“, die ja nun schon seit Langem eine Schriftenreihe durch ihren Namen kultiviert – Staatsverständnissen, die den säkularen Charakter des Gemeinwesens in Frage stellen und sozusagen „Heimstatt“ auch derer sind, die sich in einer säkularen Republik nicht ganz „zu Hause“ fühlen.32 Das gilt auch für die rechtliche Durchdringung der Verwaltung, die Gesetzesbindung allen hoheitlichen Handelns und die Verantwortlichkeiten bis hin zum parlamentarischen Regierungssystem. Die Präsenz, jedenfalls aber die Rückkehr eines Staates jenseits der Republik auf die Bühne der Staatsrechtslehre ist ein kennzeichnendes Phänomen. Sie müsste in der Erfassung der wissenschaftlichen Leistung und des politischen Agierens von Staatsrechtslehrern dingfest gemacht werden können. Hinzukommen müsste auch, Inter30   Bei solchen Ausblendungen könnte es auch dazu kommen, dass man die Tabuisierung des Namens mancher Kollegen fortsetzt, die infolge der Konkurrenz und der Intrigen untereinander in jener Epoche tabuisiert wurden, wozu Bachof ein Beispiel vom Verhältnis von Carl Schmitt und Otto Koellreutter berichtet hat. Bachof trat aus dem Schmitt‘schen Seminar nach zwei Sitzungen unter Protest aus, nachdem er Koellreutter nicht zitieren durfte, wiewohl ihm das in seinem studentischen Referat sachlich notwendig erschien, vgl. dazu D. H. Scheuing, a.a.O., S.  849. 31  Vgl. Meinel (Anm.  5 ), S.  232; siehe insbes. D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1.  Aufl. 1961, 2.  Aufl. 1968; auch H. H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1.  Aufl. 1965, ergänzte 2.  Aufl. 1991; zur Einordnung H. Dreier, Zur „Eigenständigkeit der Verwaltung“, in: Die Verwaltung 25 (1992), S.  137 (142 ff.) 32   Vgl. exemplarisch, H. Goerlich, Die Legitimation von Verfassung, Recht und Staat bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: R. Mehring/M. Otto (Hrsg.), Voraussetzungen und Garantien des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Staatsverständnis, Staatsverständnisse Bd. 69, 2014, S.  194 ff.

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essen jenseits der Wissenschaft – Gutachtertätigkeiten und Politikverflechtungen – zu erfassen und zu analysieren, soweit sie Auswirkungen auf die wissenschaftliche Unabhängigkeit haben oder gehabt haben können.

VII.  Integration, Identität und Internationalität als Indikatoren In den Kontext der Staatsverständnisse gehört vielleicht auch die Entstehung dessen, um ein Beispiel zu nennen, was zurzeit Verfassungsidentität genannt wird.33 Gehen noch einige Jahrzehnte ins Land, so wird sich zeigen, was von diesem Element der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Integration34 bleibt; und es wird – exemplarisch – größere Klarheit darüber entstehen, wie sich Kolleginnen und Kollegen dazu gestellt haben. Allgemeiner: Der materielle Ertrag von Wandlungen und Themen im Fach wird sich nach Ansätzen, Herkunft und Entwicklungslinien auf einzelne Akteure beziehen lassen und das wird eine solche Festschrift der Staatsrechtslehrer in neuer Gestalt zugleich zu einer kleinen Geschichte des Fachs in biographischen Kapiteln machen können. Dabei wird sich auch zeigen, ob sich nicht nur die interne Verbandspolitik der zugehörigen wissenschaftlichen Vereinigung verändert hat, sondern darüber hinaus auf breiter Front auch die eigene Orientierung der Wissenschaft und des einzelnen Wissenschaftlers in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung vollzogen ist. Das erscheint inzwischen ja unerlässlich. Es ist kein Zufall, dass die Staatsrechtslehre heute ihren eigenen Gegenstand nicht nur in neuem Kleid, sondern auch in ganz neuer Gestalt sehen muss, weil der Staat, so wie man ihn bisher verstand, nicht mehr besteht. Sucht ein Staat sich im herkömmlichen Sinne zu behaupten, so ist der Preis dafür meist zu hoch. Zudem ist dieser Weg der Selbstbehauptung tatsächlich oft kaum mehr möglich, nachdem die Staaten in einem hohen Maße unlöslich vernetzt sind und in diesem Sinne nicht mehr Staaten des bisher dominanten Souveränitätskonzepts der Neuzeit sind. Sie sind eingebunden und haben weniger Spielraum als je zuvor. Daher wird sich dieser Prozess fortsetzen, unabhängig von Erfolg oder Scheitern einzelner Vorhaben der Europäisierung oder Internationalisierung von Politikfeldern. Dem müssen die Wissenschaft und ihre Vereinigungen begegnen können; sie haben sich also zu wappnen. Es geht dabei nicht mehr um eine fortentwickelte Lehre von Staatenverbindungen,35 sondern vielmehr um eine rechtliche Vernetzung in einer Vielzahl von Regelwerken, 33  Dazu im Ergebnis kritisch A. Ingold, Die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland, in: AöR 140 (2015), S.  1 (27 ff.); international sind solche Identitäten ebenfalls im Schwange, vgl. G. J. Jacobsohn, Constitutional Identity, Cambridge, Mass., u.a. 2010; manchmal schwappen diese Identitätskonzepte auch noch über ins Kulturelle, ja beanspruchen, dass Kultur und Verfassungsidentität zusammengehören; dazu kritisch C. Möllers, Pluralität der Kulturen als Herausforderung an das Verfassungsrecht?, in: H. Dreier/E. Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S.  223 (229). 34   Vgl. BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht – bis BVerfGE 123, 267 ff. – Lissabon; ob die inzwischen beschiedene Vorlage eine Wende einleitet, das ist noch nicht deutlich, vgl. aber die Vorlage BVerfGE 134, 366 (386 ff.) – OMT-Vorlage-Beschluss – mit abw. Meinung von G. Lübbe-Wolff und M. Gerhardt sowie darauf EuGH (Große Kammer), Urt. v. 16.6.2015 – Rs. C-62/14 – EuGRZ 2015, S.  379 ff. – OMT; s. auch BVerfGE 135, 317 (399 ff.) – ESM. 35   Nicht zufällig vor dem Hintergrund der Donaumonarchie G. Jellinek, Die Lehre von den Staaten-

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die die Qualität und die Rollen der Staaten, nicht nur ihrer jeweils punktuell manifesten rechtlichen Bindungen verändern.36 Jedenfalls wird sich am Ende des Tages auch in den Biographien der Zunft die Frage stellen, ob sie ihre Aufgaben wahrgenommen hat, jenseits der bisherigen bloßen Staatlichkeit des Verfassungsstaates rechtliche Fundamente zu finden und zu legen, die weiterführen, oder ob sie sozusagen den Zug der Zeit verpasst und hinter fragwürdigen Rechtsfiguren leichtfertig Schutz gesucht hat. Auch der Wandel der Leistungsfähigkeit von Staaten und der Stärke des Drucks von Populationen, die sie nicht mehr zufriedenstellen können, wird hier von Bedeutung sein. Die Wirkungen der Politiken der Staaten und ihre zunehmend gemeinsamen ökonomischen Strukturen ziehen mehr und mehr nach sich, dass die Staaten selbst die Konsequenzen, die sich in Bürgerkriegen, Zerfall und Migration zeigen, nicht mehr einfangen können. Sie werden selbst wehrlos, können dann aber vielleicht neue Stärke durch gemeinsame Politiken und Rechtsstrukturen gewinnen. Der Rückgriff auf die tradierte Staatlichkeit hilft dann hingegen nicht, es bedarf vielmehr langfristiger Veränderungen, die strukturelle Auswirkungen auf Staat und Verfassung haben. Außen- und Entwicklungspolitik müssen den Veränderungen Rechnung tragen. Das Wohlbefinden anderenorts muss zum eigenen Interesse werden.

VIII.  Zum Wandel der Personalprofile Solche Entwicklungen haben schon heute Konsequenzen für die Anforderungen an die Mobilität und Offenheit des Personals der Staatsrechtslehre. Das müsste auch Auswirkungen auf das Raster eines Schemas für die Beiträge einer zweiten Auflage dieses Bandes haben. Denn schon heute ist zu erkennen, dass diese Entwicklungen deutliche Spuren hinterlassen werden in Arbeiten der Staatsrechtslehrer, die besonders hervortreten. Sie werden mit einem gewissen Anspruch auf nachhaltige Wirkung über das eigene wissenschaftliche Leben hinaus auftreten und sich auch als Gelehrte dabei in Weltläufigkeit und Problemorientierung besonders profilieren. Hinzu kommt vielleicht auch, dass das Verhältnis zwischen Staat und Verfassung, unionalen oder anderen Vertragseinbettungen und internationalen Organisationen jeweils diese Begriffe und Instrumente verändert. Das hat auch dauerhafte Auswirkungen auf das Arbeits- und Forschungsprofil des Staatsrechtslehrers. Es kann so weit gehen, dass er sich vielleicht nicht mehr oder nur noch in Teilen als „Staatsrechtslehrer“, sondern anders versteht.37 Dies wird nicht nur in Lehrstuhlausweisungen zum Tragen kommen können, es kann auch zu derlei dokumentierenden Ergänzungen im verbindungen, 1882, der aus Beziehungen zwischen Staaten auf eine jeweils durch Recht gegründete „Rechtsgemeinschaft“ unter ihnen schließt, vgl. a.a.O., S.  93 (94). 36   Vgl. hierzu die Beiträge in dem Tagungsband R. Geiger (Hrsg.), Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, Leipziger Schriften zum Völkerrecht, Europarecht und ausländischen öffentlichen Recht Bd. 1, 2000; solche Verdichtungen wirken selbst dann, wenn – wie immer noch – effektive Durchsetzungsmechanismen weithin fehlen, vgl. exemplarisch N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, 2.  Aufl. 2007, S.  83 f. 37   Zum Hintergrund C. Schönberger, Der „German Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, auch mit Beiträgen von A. Takada und A. Jakab, FJP 4 (2015), S.  50 ff.

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Namen von wissenschaftlichen Vereinigungen führen, vielleicht auch der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Schließlich wird sich nicht nur die Mitgliedschaft in diesem Licht verändern, was sich schon andeutet; es werden sich auch die Tätigkeits- und Themenfelder der Mitglieder und der Tagungen verändern. Das schlägt sich dann auch in Leistungserwartungen und künftigen Leistungsbildern ­n ieder.

IX.  Vorschläge, Verantwortlichkeit und Wissenschaft Diese Entwicklungen werden von den künftigen Herausgebern viel fordern, nicht nur die angemahnte technische Arbeit im Sinne einer hinreichenden Zugänglichkeit einer zweiten Auflage, die dann ja sozusagen ein neues mindestens halbes Jahrhundert betreut, sondern auch den Mut, ein Konzept zu entwickeln und es dem neuen Band zu unterlegen. Dass es solche Erwägungen schon jetzt für den vorliegenden Band gegeben haben mag, liegt nicht ganz fern. Es scheint der Band ja doch eine gewisse, für das vergangene Jahrhundert vielleicht auch typische integrative Zusammenstellung zur Grundlage zu haben. Schließlich gab es im vergangenen Jahrhundert starke ideologische Gegensätze und so gewaltsame Eingriffe auch in die Wissenschaft, dass es zunächst einmal darauf ankam, überhaupt wieder zusammenzufinden, vielleicht auch nur in einem solchen Band einer Retrospektive. Darin scheint mir die Hauptleistung dieses Bandes ebenso zu liegen wie – für die Nachkriegszeit – in der Rekonstruktion eines Fachs, das seinen Gegenstand in Diktatur und Gewaltherrschaft und gleichsam sich selbst zu verlieren drohte. Dass dieses integrative Konzept dazu geführt hat, sich auch die Schwächen der Rekonstruktionsarbeit bis hinein in die Schönung von Biographien und Bibliographien noch einmal zu leisten, obwohl es dafür eigentlich keine Entschuldigung mehr gibt, steht auf einem anderen Blatt. Ein neuer Band wird das hinter sich lassen; er wird aber, wie gesagt, den Niederschlag der Wandlungen des Gegenstandes, oder besser: der Gegenstände, des Fachs und damit der Karriere- und Leistungsprofile zum Ausgangspunkt machen müssen. Vielleicht sollte eine zweite Auflage nicht nur für derlei in einer Einführung Platz haben, sondern auch für eine knappe Darstellung der unterschiedlichen Kulturen in den drei klassischen Ländern der „Deutschen Staatsrechtslehre“, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dabei wird allerdings mit der Aufnahme deutschsprachiger Mitglieder aus weiteren Ländern in die Vereinigung notwendig, auch die Kulturen dieser Länder mit Rücksicht auf deren Arbeits- und Lebenskontext einzubeziehen, in jüngerer Zeit also vor allem Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien. Schließlich sollte eine solche Einführung sich auch verhalten zum Wandel der Rollen der Staatsrechtslehre, etwa im Verhältnis zur Politik nach Schaffung der Verfassungsgerichtsbarkeiten und der europäischen Gerichtshöfe oder ihrer Rollen in den Universitäten nach dem Wandel des Studiums der Rechtswissenschaft hin zum Massenfach mit sehr hohen Durchfallquoten, jedenfalls aber nach dem drohenden Ende der normativen Kraft bürgerlicher Studienerwartungen in manchen Ländern sowie nach dem Verfall des Niveaus mancher schulischer Zugangsqualifikationen für das Studium. Dies alles sind Umstände, die mancherorts zunehmend für die Einführung eines propädeutischen kurzen Studienabschnitts, etwa im Sinne eines Grund­

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lagenstudiums mit Abschluss als obligatorische Hürde des Zugangs zum Studium der Rechtswissenschaften, sprechen, ohne dass allerdings irgendeine Aussicht dahin besteht. Sicher sollten auch insoweit die realen Rollen der Staatsrechtslehrer die Beiträge etwas stärker prägen, eben auch was die Lehre und die Prüfungen sowie insgesamt die Verantwortung für einen in jeder Hinsicht hinreichend qualifizierten Nachwuchs angeht. Dabei mögen informelle Ebenen der Wahrnehmung solcher Aufgaben von erheblicher Bedeutung sein. Eine aufgabenorientierte Sicht aber sollte die Sonden ermöglichen, die angelegt werden, um unsere Zunft auszuleuchten. In diesem Sinne kann man die vorliegende „Festschrift“ nur als Aufforderung verstehen, im angebrochenen Jahrhundert jedenfalls gegen sein Ende hin eine ähnliche, dann aber etwas ausgereiftere und vertiefte Rückschau zu ermöglichen – und zwar in der künftigen Gestalt, die dann angemessen ist. Dazu gehört sicher auch der Blick auf solche Persönlichkeiten, die ihrem Jahrhundert begegnet sind – was gewiss nicht jeder „Staatsrechtslehrer“ als solcher wird behaupten wollen. Zudem beenden solche Begegnungen die Vergänglichkeit des Ruhms in unserem Fach nicht. Auch solche Bände verwandeln uns nicht in Heroinnen und Heroen einer ewigen Wissenschaft. Dies ist indes immer noch in den Wissenschaften möglich, die sich mathematischer Strukturen nicht nur bedienen, diese vielmehr in der Natur bestätigt finden und daher unverändert ein höheres Wahrheitsprofil beanspruchen können als es selbst Prachtstücke in den höheren Etagen des Handwerks von Verfassung, Recht und Staat bieten. Die Wahrheitsgewissheit, die das rationale Naturrecht der Neuzeit noch meinte abbilden zu können, ja more geometrico zu rechtfertigen suchte, diese Gewissheit bietet heute das säkulare Recht der Staatsrechtslehre, ihrer heutigen und künftigen Gegenstände kaum. Dieser Vergleich veranlasst diesseits der sozusagen unsterblichen Vertreter exakter Wissenschaft vielleicht auch, die Perspektive eines bloßen Jahrhunderts als Maßstab in Frage zu stellen: Die bleibende Bedeutung von Gelehrten der Verfassungs- und Staatslehren lässt sich wohl oft nur über einen größeren Zeitraum als ein Jahrhundert bestimmen, so dass Jahrhundertbände vielleicht nicht ein optimales Format sind – es sei denn, man nimmt einen ephemeren Charakter so zeitnaher Würdigungen ohne Zögern in Kauf. Dennoch gilt: Es lassen sich große Entwicklungslinien ja so oft nur über lange Zeiträume erkennen und damit auch die Relevanz von klassischen und ihren vielleicht das Recht sogar fortbildenden und manchmal nicht ganz gesicherten Werken nachzeichnen. Das gilt etwa – wie mir colorandi causa eine andere Verpflichtung hier heranzuziehen nun ermöglicht – in England jedenfalls nach Ranulf Glanvill, der vielleicht schreiben ließ, Henry Bracton, John Fortescue und William Blackstone besonders oder gerade zum dortigen politischen Recht einer langen und langsam gewachsenen Verfassungstradition.38 Anders liegt es indes, wenn man solche „Festschriften“ wie eingangs hier zeitbedingt und berufsbezogen eher als wissenschaftssoziologische Beiträge zur Charakteristik von bestallter Wissenschaft versteht, die bestimmten Zwecken zu dienen bestimmt ist und manche von ihnen erfüllt, in 38   Vgl. – unbeschadet weiterer Größen der englischen Verfassungspolitik und Rechtsgeschichte dazwischen wie Francis Bacon oder vor allem Edward Coke – die signifikanten Exzerpte aus Werken der im Text genannten, teils schon früh verfassungsrechtlich bedeutsamen Autoren jetzt in dem englischen Band zum Jubiläum „800 Jahre Magna Charta Libertatum“, vgl. A. Arlidge/I. Judge (Hrsg.), Magna Carta Uncovered, 2014, S.  35, 64, 70, 73, 75; 46 ff., 67 f., 71 ff., 103, 122 ff.; 116 ff., 124 ff.; 149, 155 ff.

Die deutsche „Staatsrechtslehre“, ihre „Festschrift“ und ihre Zukunft

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einer überschaubaren Zeit agiert und in die Sterne bleibender „Bedeutung“ damit gar nicht greifen will. Die Beiträge im vorliegenden Band spiegeln diese Perspektive eher selten. Trotzdem ist sie für den vorliegenden Band vielleicht doch angemessen und würde für dieses nun einmal gewählte Format auch in Zukunft gelten müssen. So gesehen kann es ohne weiteres eine zweite Auflage geben, die vielleicht in ihrem Selbstverständnis viel deutlicher als der vorliegende Band ihren Stil und ihren Standort finden kann. Dann lassen sich die Beiträge auch wissenschaftlicher gestalten. Sie werden also über das gegenwärtige Niveau der Darstellung in diesem Sinne hinauswachsen und so zu mehr Distanz und Differenz finden. Das hat allerdings den Preis, der persönlichen Würdigung nicht mehr so viel Raum geben zu können. Die Huldigung würde eher auf andere Foren verwiesen, etwa in das Kolloquium aus dem einen oder anderen Anlass, in den Geburtstagsgruß oder in den Nachruf zum Gedächtnis für den Lehrer, den Förderer und den treuen Ratgeber. Oft wird dieser ja dann später zum distanzierten, aber doch nahen Freund, wobei all diese Rollen zusammen genommen manchmal für Wenige zweite Väter ergeben – dies alles künftig nicht mehr nur in einer auch immer etwas merkwürdigen Männerwelt. Für diese Rollen, die gerade in der Wissenschaft immer unverzichtbar waren und es auch bleiben werden, gilt: Jeder möchte sie in seinem Leben als wissenschaftlichem Leben nicht missen, der solche Förderer in der einen oder anderen Gestalt oder besser sie alle einzeln oder zusammen gekannt hat.

X. Schlussbemerkung Dennoch wird darum die Vereinigung der Staatsrechtslehrer auch künftig kein erweiterter Familienbetrieb sein können, der von Zeit zu Zeit die Firmengründer und andere Gestirne aus verschiedenen Familienzweigen auf Glanzfolie wechselseitig würdigt. Auch für einen besonderen allumfassenden ésprît de corps hat sie die notwendige Homogenität verloren. Der herrschaftliche Glanz arkanen Wissens zur Ordnung von Verfassung und Staat ist in fassbarer Weise und angemessenen Verfahren den Gerichten anvertraut. Vor diesen treten die Staatsrechtslehrer als ordentliche Professoren allerdings öfter auf; zu ihren Richtern zählen sie auch dann und wann. Für die Vereinigung bleibt dennoch letztlich mehr nicht, als das Forum professioneller Verbundenheit, gesellschaftlicher Begleitung und gutbürgerlicher Bildungsausflüge nahe der Tagung als ergänzendes Programm zu sein, aber auch nicht weniger. Das genügt. Es ist etwas, was jede fachspezifisch deutlich abgrenzbare Profession benötigt – als Instrument der Personalpolitik und der Willensbildung für die Schaffung professioneller Standards. Dabei hilft neben den Referaten auf den Tagungen auch diese „Festschrift“, in ihrer jetzigen und sicher auch in ihrer künftigen Gestalt.

Zur Entstehung, Rezeption und Fortgeltung von Konrad Hesses Verfassungslehre* von

Prof. Dr. Ignacio Gutiérrez Gutiérrez, Madrid

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Inhalt I. 1967: Phase der Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 1. Ein Grundgesetz ohne eine ihm gemäße Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 2. Der Ansatz Hesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 II. 1983: Phase der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 1. Der spezifische Bedarf im spanischen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 2. Warum Hesses Ansatz für Spanien ertragreich war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 III. 21. Jahrhundert: Fortgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 1. Der Bedarf nach einer dem neuen Kontext entsprechenden Verfassungslehre . . . . . . . . . . . . . . . 655 2. Bleibende Erträge und Potential von Hesses Ansatz im neuen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . 658

2015 jährt sich der Tod Konrad Hesses zum zehnten, die letzte Auflage seiner berühmten Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland zum zwanzigsten Male.1 Etwas über dreißig Jahre ist es her, dass 1983 in Spanien ein kleiner Band mit vier seiner Escritos de Derecho constitucional (Verfassungsrechtlichen Schriften) erschien, versehen mit einer prägnanten Einleitung des Herausgebers, Pedro Cruz Villalón.2 Dieses Buch wurde 2011 unter demselben Titel neu aufgelegt, allerdings in beträchtlich erweiterter Form. Es enthält sechs weitere Schriften  *  In Zusammenarbeit mit Pablo López Pietsch (LL.M.) überarbeitete Fassung von I. Gutiérrez ­G utiérrez, Gestación, recepción y vigencia: la teoría de la Constitución y el Derecho constitucional de Konrad Hesse, in: Revista Española de Derecho constitucional n.º 100 (2014), S.  4 03–423. **  Professor für Verfassungsrecht. Departamento de Derecho Político – Facultad de Derecho – UNED (Universidad Nacional de Educación a Distancia). C/ Obispo Trejo n.º 2 – E-28040 – Madrid. Privatadresse: C/ Ana de Austria 1, Bl. 6, Bj. B – E-28320 – Pinto (Madrid). E-Mail: ignacio.gutierrez @der.uned.es. 1   Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg: Müller, 1967, 20. (letzte) Auflage, 1995. 2   Konrad Hesse, Escritos de Derecho constitucional, Madrid: Centro de Estudios Constitucionales, 1983, XXVIII+112 Seiten, Introducción y traducción de Pedro Cruz Villalón. In der 2. Auflage (1992)

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Hesses, die zum großen Teil bis dahin noch nicht in spanischer Sprache vorlagen.3 Als Mitherausgeber zeichnet nun Miguel Azpitarte, der fünf dieser Beiträge übersetzt hat und ein umfangreiches Nachwort unter dem Titel „Konrad Hesse im XXI. Jahrhundert“ beifügt. Dies bietet einen willkommenen Anlass, die Bedeutung des Werkes von Konrad Hesse in drei historischen Zeitabschnitten zu untersuchen: dem seines Entstehens während der ersten Jahrzehnte der Bonner Republik, dem seiner Rezeption in Spanien ab 1983 und schließlich dem seiner Fortgeltung in Europa und der Welt in diesem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

I.  1967: Phase der Entstehung Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer entstand 1949 neu aus der nach dem Nationalsozialismus in Trümmern liegenden Rechtswissenschaft.4 Eine gewisse Zeit lang fiel es der Staatsrechtslehre nicht leicht, ihr Verhältnis zum Grundgesetz zu klären, das im selben Jahr in einem außerordentlich schwierigen politischen Kontext verabschiedet worden war. Sie bewegte sich anfänglich zwischen der despektierlichen Distanzierung seitens der nicht besonders großen, dafür aber äußerst einflussreichen Gruppe der Schüler Carl Schmitts (Ernst Forsthoff, Werner Weber, …) und der mehr oder weniger routinemäßigen Rezeption durch die Mehrheit der Verfassungsrechtler. Auch das Bundesverfassungsgericht konnte sich anfänglich in der Lehre keiner breiten Anerkennung erfreuen: Zum einen schien es den Streit zwischen Hans Kelsen und Carl Schmitt über den Hüter der Verfassung in einem nicht der herrschenden Meinung entsprechenden Sinne entschieden zu haben; zum anderen waren die ersten Verfassungsrichter (Leibholz, Friesenhahn, Draht, …) nicht repräsentativ für die in der Lehre vorherrschenden Positionen. Vor allem aber löste sicherlich ein Teil seiner frühen Rechtsprechung Unbehagen aus, so etwa das Urteil von 1953 über das Erlöschen des Beamtenverhältnisses nach dem 2. Weltkrieg.5 Dass sich unter diesen Bedingungen mit der Zeit ein Verfassungspatriotismus etablieren konnte, bedarf einer Erklärung.6 Das Wirtschaftswunder mit der Geltung des Grundgesetzes in Verbindung zu bringen, reicht nicht aus, um die in der Lehre vollzogene Wende verstehen zu können. Vielmehr hängt diese Entwicklung mit dem spezifiwurden die ersten beiden Beiträge, die Kapiteln seines berühmten Lehrbuches entsprechen, gemäß der damals jüngsten 19. Auflage (1991) aktualisiert. 3   Konrad Hesse, Escritos de Derecho Constitucional, Madrid: Fundación Coloquio Jurídico Europeo – Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, 2011 (Neudruck in 2012), 282 Seiten, Auswahl und Übersetzung von Pedro Cruz Villalón y Miguel Azpitarte, Introducción (S.  15–30) von Pedro Cruz Villalón und Epílogo (S.  247–282) von Miguel Azpitarte. 4   Grundlegend hierzu und im Allgemeinen zum gesamten ersten Abschnitt, Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Vierter Band 1945–1990, München: C.H.Beck, 2012, S.  82 ff. zu den ersten Schritten der Vereinigung nach dem Krieg, S.  122 ff. zu den ersten Stellungnahmen der Lehre zum Grundgesetz, S.  145 ff. zu Entstehung, Zusammensetzung und ersten Schritten des Bundesverfassungsgerichts, S.  356 ff. zu Rudolf Smend und seiner Integrationslehre. 5   BVerfGE 3, 58 – Beamtenverhältnisse [1953]. 6  Vgl. Dieter Grimm, Identität und Wandel – das Grundgesetz 1949 und heute, in: Leviathan, 4/37 (2009), S.  603–616; ders., Integration durch Verfassung – Absichten und Aussichten im europäischen Konstitutionalisierungsprozess, in: Leviathan 4/32 (2004), S.  4 48–463.

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schen Bedürfnis nach einer neuen Verfassungstheorie zusammen, wie im folgenden ausgeführt werden soll.

1.  Ein Grundgesetz ohne eine ihm gemäße Verfassungslehre Die erste Phase des deutschen Nachkriegsverfassungsrechts wird allgemein im Lichte der intellektuellen Spannung zwischen Schmitt und Smend betrachtet,7 zwei der großen Weimarer Persönlichkeiten, die während des Nationalsozialismus in Deutschland geblieben waren, allerdings mit sehr unterschiedlichen Positionen, und vielleicht die einzigen, die nach dem Krieg ihren Einfluss nicht eingebüßt hatten. Heller und Kelsen mussten bekanntlich auswandern. Ersterer starb 1933 in Madrid, ohne in Deutschland eine nennenswerte Schule zu hinterlassen, während sich Kelsen in den Vereinigten Staaten niederließ und für lange Zeit in der deutschen Lehre ins Hintertreffen geriet.8 Triepel und Radbruch starben 1946, resp.  1950. Fast alle anderen Juristen, die in jenen Nachkriegsjahren von Bedeutung waren, können auf der Polarisierungslinie Schmitt-Smend angeordnet werden, ohne ihren Positionen damit allzu große Gewalt anzutun. Beide hielten sich allerdings eher im Hintergrund, sowohl was ihre Publikationen angeht, als auch hinsichtlich sonstiger Stellungnahmen, obwohl sie ihre volle Autorität bewahrten: Schmitt als Anziehungspol der berühmten Pilgerfahrten nach Plettenberg und mittels seines umfangreichen Briefverkehrs, der heute gut bekannt ist, Smend durch seine noch berühmteren Göttinger Seminare und durch ebenso seltene, wie bedeutsame öffentliche Auftritte, so etwa, als er beauftragt wurde, den Festvortrag anlässlich des 10. Jubiläums des Verfassungsgerichts zu halten.9 Nichts im Grundgesetz scheint den Schmitt’schen Paradigmen von liberalem Rechtsstaat und plebiszitärem Dezisionismus zu entsprechen. Der liberale Staat bürgerlicher Prägung kehrte nicht wieder, sondern der Sozialstaat setzte sich durch, auch wenn Forsthoff offen seinen verfassungsrechtlichen Status in Frage stellte. Das par­ lamentarische System und die rechtsstaatlichen Garantien entsprachen nicht den ­Schmitt’schen Idealisierungen, aber die Prophezeiung der Krise bewahrheitete sich ebenfalls nicht. Und auch das deutsche Volk, in zwei Staaten geteilt, lässt sich nicht als vorausgesetzte und substanzielle Einheit sehen, ohne dass dadurch existenzielle Konflikte entstünden, die durch eine charismatische Führung und den Ausnahmezustand entschieden werden müssten. Die Verfassungslehre von Schmitt konnte nicht mehr das maßgebliche, der deutschen Verfassungsrealität entsprechende Werk sein. 7   So etwa Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München: R. Oldenbourg, 2004, mit reichhaltiger Information: zu den ersten Stellungnahmen der Lehre zum Grundgesetz (S.  77 ff.) und zum Bundesverfassungsgericht (S.  101 ff.), zu den Gruppen um C. Schmitt (S.  112 ff.) und R. Smend (S.  159 ff.), zu den neuen Entwicklungen in der Lehre in dessen Umkreis (S.  243 ff.). Vgl. ebenfalls Oliver Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden: Nomos, 2003, S.  354–394. 8   Vgl. den Band von Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechslehre, 2013. 9   Rudolf Smend, Das Bundesverfassungsgericht [Festvortrag. 1962], in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 1968, S.  581–593.

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Das klassische Werk Smends mit seiner bewussten Ambiguität und seinem Abstand zum positiven Recht war aber ebenfalls nicht dazu geeignet, einen durch die Geltung des Grundgesetzes völlig veränderten verfassungsrechtlichen Kontext zu interpretieren. Er selbst hatte einige seiner Thesen in den Beiträgen für zwei Fachlexika über Integrationslehre und Integration10 relativiert. Aber zweifellos mussten sie aktualisiert und im Sinne der neuen Verfassungssituation weiterentwickelt werden. Denn die Wertejurisprudenz des Bundesverfassungsgerichts, die den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausdehnte (Elfes)11 und den Grundrechten Drittwirkung zuschrieb (Lüth)12, hatte mittlerweile einem neuen, durch die Geltung der Verfassung geprägten Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft zum Durchbruch verholfen.13 Der demokratische und soziale Rechtsstaat schien sich zu etablieren. In diesem Kontext, der die Möglichkeit der Einigung und der sozialen Integration auf der Grundlage von gemeinsamen Werten, sowie von Verfahren und Verfassungsgarantien, die Verfassungsgerichtsbarkeit selbst inbegriffen, hervorhob, zeigte sich, wie sehr sich der Ansatz Smends in einem offeneren, pluralistischeren und demokratischeren Sinne modulieren ließ. Als sich die Positionen der um Smend geformten Gruppe in diesem Sinne verfestigten, ergab sich die Aufgabe, ein programmatisches Werk zu schreiben, das mit der Verfassungslehre von Carl Schmitt konkurrieren konnte. Denn das Lehrbuch von Theodor Maunz, als solches seit der ersten Auflage von 1951 aufgrund seines rein deskriptiven, ausgewogenen, strikt konventionellen Profils vorherrschend, war nicht geeignet, die juristische Denkweise des Lesers zu prägen. Hinter diesem Werk verbarg sich zudem ein Autor der sich – wie nach seinem Tode bekannt wurde – nach der Niederlage Hitlers nicht gescheut hatte, extremistisches Gedankengut zu verbreiten, sei es auch unter einem Pseudonym14. Ein neues Standardwerk plante als erster Ulrich Scheuner, Kollege von Smend in Göttingen und sicherlich dominierende Figur in der Vereinigung. Aber in seinen Veröffentlichungen bevorzugte er kürzere Formen, weshalb er schließlich auf sein Vorhaben verzichtete. Es wird Konrad Hesse sein, der dieses Projekt verwirklichen sollte.

10   Rudolf Smend, Integrationslehre, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band V, Stuttgart (Gustav Fischer), Tübingen ( J.C.B.Mohr-Paul Siebeck) und Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht), 1956; ders., Integration, in: Hermann Kunst und Siegfried Grundmann (Hrsg.), Evangelisches Staats­ lexikon, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1966. 11   BVerfGE 6, 32 – Elfes [1957]. 12   BVerfGE 7, 198 – Lüth [1958]. 13   Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts sechzig Jahre nach seiner Einrichtung, mit umfassenden Hinweisen auf seinen geschichtlichen Werdegang, vgl. zum einen Michael Stolleis (Hrsg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht, München: C.H.Beck, 2011; zum anderen Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin: Suhrkamp, 2011. Zum Verständnis der Grundrechte aus der Werteperspektive und seiner Entfaltung durch die Verfassungsrechtsprechung, vgl. statt aller Michael Stolleis, op. cit. in Fn.  4, S.  216 ff. 14   Vgl. ebenfalls Michael Stolleis, op. cit. in Fn.  4, S.  63 f. zu Theodor Maunz, S.  142 f. zu seinem Lehrbuch, auf das er in S.  488 ff. zurückkommt, um es Hesses Grundzügen gegenüberzustellen.

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2.  Der Ansatz Hesses Seine Grundzüge, die 1967 zum ersten Mal erschienen, entstanden in enger Zusammenarbeit mit unmittelbaren Schülern, insbesondere Alexander Hollerbach, Peter Häberle und Friedrich Müller, sowie mit seinem Freiburger Kollegen Horst Ehmke, der ebenfalls oft an Smends Seminaren in Göttingen teilnahm. Sie alle hatten sich bereits durch bedeutende Veröffentlichungen hervorgetan, so etwa Hollerbach im Jahr 1960 durch seine Antwort auf die Klage Forsthoffs (und Schmitts) über den Niedergang des Rechtsstaates unter der Karlsruher Wertejurisprudenz;15 Ehmke durch sein Referat über die Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der berühmten Tagung der Vereinigung von 196116 und Häberle durch seine Doktorarbeit über die institutionelle Konzeption der Grundrechte,17 die von einem Schüler Schmitts als der übelste Angriff auf die Positionen des Meisters empfunden wurde: der übelste, weil intelligenteste, wobei Hesse den provokanten Thesen des jungen Autors zu ihrer Schärfe verholfen habe.18 Friedrich Müller hatte seinerseits 1966 seine Habilitationsschrift zum Thema Normstruktur und Normativität19 unter dem Einfluss der Hermeneutik Gadamers abgeschlossen und begann damit einen langen Weg der Weiterentwicklung und Präzisierung, der ihn zu einer wesentlichen Figur der deutschen Rechtsmethodologie werden ließ.20 Hesse selbst hatte ebenfalls grundlegende Beiträge zum Verfassungsrecht geleistet: der Gleichheitsgrundsatz, die normative Kraft der Verfassung und das Notstandsrecht, die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien, der Rechtsstaat und die Bundesstaatlichkeit waren in Hesses charakteristischem Stil behandelt wor  Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, in: AöR 85 (1960), S.  241–270.   Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S.  53–102. 17   Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art.  19 Abs.  2 Grundgesetz, Karlsruhe: C.F. Müller, 1962 (3. erweiterte Auflage, Heidelberg: C.F. Müller, 1983). Nicht weniger entscheidend werden seine späteren Beiträge sein, genannt sei hier nur Die Verfassung des Pluralismus. Studien zur Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, Königstein/Ts.: Athenäum, 1980. Vgl. Miguel Azpitarte, Apuntes sobre el pensamiento de Peter Häberle en el contexto de la dogmática alemana, in: Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada n.º 6 (2003), S.  345–364. Die Rezeption von Peter Häberle in Spanien und Südamerika ist kaum zu überschauen. Vgl. nur die Festschrift F. Balaguer Callejón (Hrsg.), Derecho constitucional y cultura. Estudios en homenaje a Peter Häberle, Madrid: Tecnos, 2004. 18   Schnur an Schmitt, Brief vom 28.3.1963, cit. nach Frieder Günther, op. cit., S.  255: „Das ist die übelste, weil intelligenteste Attacke eines jungen Mannes, die mir bisher zu Gesicht gekommen ist […] Aber wenn ich dann die Besprechung schreibe, wird das die größte Abreibung sein, die bislang ein junger Scharfmacher (und scharf gemachter – Hesse!) bekommen hat, das ist gewiß!“). 19   Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, Berlin: Duncker & Humblot, 1966. 20   Zu seiner Relevanz und bedeutsamen Entwicklung vgl. Hasso Hofmann, Rechtsphilosophie nach 1945. Zur Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot, 2012, S.  4 0 ff. Auf Spanisch sind nur manche seiner ersten Studien verfügbar: Friedrich Müller, Tesis acerca de la estructura de las normas jurídicas, in: Revista Española de Derecho Constitucional n.º 27 (1989), S.  111–126 [= Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Vol. 1970, LVI/4, S.  493–509], und ders., Métodos de trabajo del Derecho constitucional, Madrid/ Barcelona: Marcial Pons, 2006 [= Arbeitsmethoden des Verfassungsrechts, in: Enzyklopädie der geistes­ wissenschaftlichen Arbeitsmethoden, hrsg. v. Manfred Thiel, 11 Lfg.: J. Esser, K. Engisch, Th. Würtenberger, F. Müller, R. Bruns, Methoden der Rechtswissenschaft, Teil 1, München und Wien: Oldenbourg, 1972, S.  123–190]. 15 16

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den, prägnant und stets auf das Wesentliche zielend. Nur wenige, stets zentrale Themen, sind später dieser Interessenliste noch hinzugefügt worden (die Verfassungsgerichtsbarkeit, Bedeutung und Reichweite der Grundrechte, das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Privatrecht). Alles zusammengenommen ergibt sich ein Werk von begrenztem Umfang, aber enormen Einfluss,21 seiner gleichermaßen diskreten wie maßgeblichen Persönlichkeit entsprechend.22 Hesses Grundzüge stellen ein einzigartiges Lehrbuch dar, prägnant und tiefgehend.23 Wie Pedro Cruz in seiner Einleitung feststellt, besteht der Anspruch dieses Werkes nicht darin, dem Leser eine konventionelle Zusammenfassung des Standardwissens über die bestehende Rechtsordnung zu vermitteln, auch wenn deren wesentliche Züge mit maximaler Stringenz wiedergegeben werden und die relevante Information für jede Neuauflage aktualisiert wird. Es geht vielmehr darum, eine Verfassungstheorie zu entwerfen, die dem positiven Verfassungsrecht objektiv angemessen ist. Damit stellt die Verfassung nicht mehr ein beigeordnetes Wissen in Bezug auf eine Welt dar – die des Rechts und des Staates –, die als bestehend vorausgesetzt werden muss, sei es als Fakt oder als Problem. Vielmehr kommt ihr als den Staat begründende Norm („es gibt nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert“, sagen Smend, Arndt und Häberle24) und als die gesamte Rechtsordnung, ja die Rechtsauffassung selbst bestimmende Norm,25 eine neue Zentralität zu. Es liegt auf der Hand, dass sich die Tragweite eines solchen Werkes nicht in seiner Funktion als Fachlehrbuch erschöpft, sondern auf besondere Weise die Grundlagen des Rechtsdenkens ausformt. Deshalb ist auch seine Wirkung in Deutschland viel größer als die eines Nachschlagewerkes: Es hat die Rechtsausbildung von Genera­ tionen von Studenten und Professoren geprägt. Die eigentümliche normative Kraft der Verfassung, die Hesse bereits 1956 vom Willen der ihr Unterstehenden abhängig machte, insbesondere „der für das Verfassungsleben Verantwortlichen“ (die Verfassung „wird zur tätigen Kraft […] wenn also im allgemeinen Bewusstsein und namentlich im Bewusstsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen nicht nur der Wille zur Macht, sondern vor allem der Wille zur Verfassung lebendig ist“),26 wurde in Deutschland von Hesse selber in einem sehr präzisen Sinne beeinflusst, der das Rechtsbewusstsein der Gemeinschaft von Rechtsakteuren bestimmt. H.L.A. Hart wird es später so formulieren, dass die Akzeptanz der Erkenntnisregeln des 21  Vgl. Peter Häberle und Alexander Hollerbach (Hrsg.), Bibliographie – Konrad Hesse, Heidelberg: Müller, 1999. 22   Vgl. seine Charakterisierung bei Peter Häberle, Zum Tod von Konrad Hesse (1919 bis 2005), in: AöR 2005, S.  289–293 [Spanische Fassung in: Revista de Derecho Constitucional Europeo n.º 3], sowie im Nachruf von Antonio López Pina in der Zeitung El País vom 20. April 2005. 23  Vgl. Alfred Rinken, Die „Grundzüge“ von Konrad Hesse als Lehrbuch, in: AöR 57 (2009), S.  527– 530. 24   Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 3. aktualisierte und erweiterte Aufl., Baden-Baden: Nomos, 2005, S.  35, unter Hinweis auf den vorherigen Gebrauch dieser Formel durch Arndt und Smend. 25  Vgl. Rodrigo Fernández-Carvajal, Nota sobre el Derecho Constitucional como nuevo „Derecho común“, in: Anuario de Derecho Constitucional y Parlamentario n.º 1, S.  37–46. 26   Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung Tübingen: Mohr, 1959, sowie in: ders., Ausgewählte Schriften, Hrsg. von Peter Häberle und Alexander Hollerbach, Heidelberg: C.F. Müller, 1984, S.  3 –18, zit. aus S.  9 –10.

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Rechts – die weitgehend in der Verfassung selber Niederschlag finden – seitens dieser Gemeinschaft von Rechtsakteuren notwendige Bedingung für den Fortbestand der Rechtsordnung ist. Deshalb ist die Annahme nicht zutreffend, dass der Übergang vom prekären Grundgesetz des Jahres 1949 zu einer Verfassung, die einen neuen Patriotismus zu begründen vermochte, von der Lehre einfach nur durch routinemäßiges Kommentieren der Verfassungsrechtsprechung begleitet worden wäre. Mag auch diese angepasste Einstellung zu jener Zeit sehr verbreitet gewesen sein, so fehlte es ihr doch am notwendigen Impuls, um maßgebend zu wirken. Auch war dies nicht der eigentliche Sinn der Kritik, die in Deutschland am sogenannten Rechtsprechungspositivismus geübt wurde. In den Anfangsjahren der Bonner Republik war ja der von Anschütz und Thoma geprägte und u.a. von Walter Jellinek vertretene Rechtspositivismus ins Hintertreffen geraten, während die sogenannte Renaissance des Naturrechts sogar einen Hans Nawiasky in ihren Bann zog; eine Bezugnahme auf Kelsen blieb lange Zeit auf Österreich begrenzt. Die Kritik zielte vielmehr auf die Wertejurisprudenz des Bundesverfassungsgerichts, und zwar im Namen einer bestimmten Auffassung des Rechtsstaates – nämlich der von Carl Schmitt verfochtenen –, die vom klassischen Rechtspositivismus nicht zu trennen ist.27 So konvergierten politischer Dezi­ sionismus und Rechtspositivismus in der Kritik am Grundgesetz und an der Karls­ ruher Rechtsprechung, während andere, nämlich die Schüler des Antipositivisten Smend, eine Alternative boten, die dem Bonner Verfassungsprojekt Sinn zu verleihen vermochte.

II.  1983: Phase der Rezeption 1983 befinden sich Hesses Grundzüge, die mittlerweile ihre 13. Auflage erreicht haben, weiterhin auf der Spitze ihrer Anerkennung. Das Lehrbuch von Ekkehard Stein (1968), von Hellerscher Inspiration, hatte einen strikt pädagogischen Anspruch. Aber auch die späteren, anspruchsvolleren und untereinander sehr verschiedenen Werke von Karl Doehring (1976) und Erhard Denninger (1973/1979) sind an Tragweite nicht mit den Grundzügen zu vergleichen. Konrad Hesse ist seit 1975 Richter am ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Auch dort nimmt er eine dominierende Stellung ein, insbesondere als Berichterstatter bei Entscheidungen, die für das demokratische Verfahren und die Theorie der Grundrechte bedeutsam waren, wie etwa zur Meinungsfreiheit und zu den Medien. Es ist daran zu erinnern, dass Hesse und Ehmke zwei der wenigen Staatsrechtslehrer  Vgl. Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S.  161–172, der der positivistischen Orientierung an der Verfassungsrechtsprechung die selbständige Entwicklung der Methodologie und der Dogmatik entgegensetzt, genau in der Linie der herkömmlichen, sich an der Allgemeinheit, der Kohärenz und der Systematik orientierenden positivistischen Rechtswissenschaft. Vgl. ebenfalls Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: Otto Depenheuer et alii (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee, ­Berlin: Duncker & Humblot, 2002, S.  183–228. Vgl. ebenfalls in Spanien, wenngleich in einem ganz anderen Sinn, Pedro de Vega, El tránsito del positivismo jurídico al positivismo jurisprudencial en la doctrina constitucional, in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 1 (1998), S.  65–87. 27

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waren, die sich im berühmten Streit von 1962 zwischen dem Spiegel und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauss und Kanzler Konrad Adenauer öffentlich zur Verteidigung der Pressefreiheit bekannten. Und vielleicht ist es ebenfalls angebracht, daran zu erinnern, dass ihre Nachfolger im Bundesverfassungsgericht, Dieter Grimm und später Wolfgang Hoffmann-Riem, zwei herausragende Staatsrechtslehrer, die sich heute in der deutschen Öffentlichkeit weiterhin eines hohen Ansehens erfreuen, ebenfalls die Verantwortung für jene Sachbereiche übernahmen. Johannes Masing wurde 2008 als ihr Nachfolger gewählt, was sowohl eine Ehre als auch eine ihm angemessene Herausforderung bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt führte Pedro Cruz das Denken Hesses mittels einer klugen Auswahl seiner Werke in Spanien ein. Die damals veröffentlichten Verfassungsrechtlichen Schriften enthalten sehr klare Übersetzungen der ersten beiden Abschnitte des Lehrbuchs von 1982 (13. Auflage): Begriff und Eigenart der Verfassung und Verfassunginterpretation, sowie zwei weitere Schriften, die als dazu komplementär vorgestellt werden, nämlich Die normative Kraft der Verfassung28 und Grenzen der Verfassungswandlung29. Die Einleitung des Herausgebers bietet eine erste Annäherung an den Gegenstand der einzelnen Beiträge, und sie ist in ihrer Diskretion nur vergleichbar mit der objektiven Tragweite dieses Werkes im Kontext der damaligen Debatten in der Lehre.

1.  Der spezifische Bedarf im spanischen Verfassungsrecht Der antiliberale Diskurs des Frankismus, der eine Identifizierung mit der Verfassungstradition ausschloss, führte dazu, dass ein Großteil der spanischen Professoren für politisches Recht die frankistischen Leyes Fundamentales [Grundgesetze] nicht in ihre „verfassungsrechtlichen“ Studien einbezog.30 Sie arbeiteten statt dessen im vergleichenden Verfassungsrecht oder mit nicht-normativen Verfassungskonzeptionen, seien es die traditionellen aus dem 19. Jahrhundert, seien es die in den Weimarer Debatten formulierten, die sich inbesondere mit der Frage beschäftigten, wie sich politische Einheit herstellen und gestalten lässt, und bei denen die rechtliche Normativität nicht notwendig eine entscheidende Rolle spielte. Aber als die Spanische Verfassung in Kraft getreten war, reichte das theoretische Arsenal von Weimar nicht   Siehe Fn.  26.   In: Horst Ehmke u.a (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 1973, S.  123–141. 30   Die wichtigste Ausnahme davon ist wohl Rodrigo Fernández Carvajal, La Constitución española, Madrid: Editora Nacional, 1969, dessen Zweck als „Fürstenspiegel“ in seinem späteren Werk El lugar de la Ciencia Política, Murcia: Secretariado de Publicaciones de la Universidad, 1981, expliziert wird. Von der Art und Weise, wie die Professoren für politisches Recht die juristische Analyse der Grundgesetze betrieben, zeugen zwanzig Jahre nach Inkraftreten der Spanischen Verfassung Jorge de Esteban, in seiner Antwort auf die Encuesta sobre la orientación actual del Derecho constitucional [= Umfrage zur aktuellen Ausrichtung des Verfassungsrechts], in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 1 (1998), S.  19 ff., sowie Francisco Rubio Llorente, in seiner Replik darauf in Form eines Briefes an den Herausgeber der Zeitschrift, wiederabgedruckt als Vorspann zu seiner Antwort auf die Encuesta sobre la dinámica del sistema autonómico [= Umfrage zur Dynamik des Systems autonomer Gebietskörperschaften], in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 3 (1999), S.  21 ff. 28 29

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mehr aus, um deren Bedeutung und Tragweite zu verstehen. Die Schrift des prominentesten spanischen Öffentlichrechtlers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Verwaltungsrechtler Eduardo García de Enterría, über Die Verfassung als Rechtsnorm31 – sieht man hier von ihren expliziten Voraussetzungen und mancherlei Konkretisierungen ab – wirkte in dieser Hinsicht wie ein Weckruf, der auf die normative Ausstrahlungskraft der eben verabschiedeten Verfassung aufmerksam machte. Zeitgleich mit der Verabschiedung der Spanischen Verfassung (1978) und der Einsetzung des Verfassungsgerichts (1981), erscheinen zwei juristische Zeitschriften, die für das neu entstehende spanische Verfassungsrecht richtungsweisend sind. Die Revista de Derecho Político [Zeitschrift für politisches Recht], von Oscar Alzaga an der Nationalen Fernuniversität (UNED) herausgegeben, ist Schauplatz des mittlerweile klassischen methodologischen Streits von Eduardo García de Enterría und Pablo Lucas Verdú32 und ebenfalls der technischeren, aber nicht minder klassischen Debatte, über die Rechtspersonalität des Staates, die gleichfalls die Stellungnahmen von Eduardo García de Enterría zum Gegenstand hatte, mit Beiträgen von Luis López Guerra, Laureano López Rodó, Juan Alfonso Santamaría Pastor, u.a. m.33 Debatten von vergleichbarer Intensität werden fortan in der spanischen Verfassunsrechtslehre eher selten sein (erwähnen könnte man noch den Streit über die Stellung des sogenannten organischen Gesetzes im System der Rechtsquellen, den über die Funktion der Verfassungsbeschwerde, den über die Tragweite der Rechteerklärungen in den Autonomiestatuten, u.ä.m.) und sie werden auch, im Gegensatz zu denen im Bereich des Verwaltungsrechts zu Beginn der 90er Jahre, nicht methodologische Grundlagen zum Gegenstand haben. Zu jenem Zeitpunkt aber hatte die Zeitschrift für politisches Recht Gelegenheit, der Dialektik zwischen Kontinuität und Bruch in der Disziplin Ausdruck zu verleihen. López Guerra hat festgestellt, dass der erwähnte methodologische Streit 1982 bereits entschieden war, fast bevor er überhaupt richtig in Gang gekommen war.34 Doch ist daran zu erinnern, dass noch im Jahre 1984 die Auf­ teilung der bestehenden Lehrstühle für politisches Recht in zwei differenzierte Wissensgebiete, Verfassungsrecht und Politische Wissenschaft, durchaus kontrovers war. Fest steht jedenfalls, dass die Verfassung zumindest auch juristische Normativität impliziert. Und wer Normativität sät, erinnert uns Matthias Jestaedt, der erntet Rechtsprechung, jedenfalls soweit die Entscheidung für eine spezialisierte Gerichtsbarkeit gefallen ist, die die Aufgabe hat, die Verfassung zu interpretieren und anzu  Eduardo García de Enterría, La Constitución como norma jurídica, in: Anuario de Derecho Civil n.º 32 (1979), S.  291–342, wiederabgedruckt in seinem späteren Buch La Constitución como norma y el Tribunal Constitucional, Madrid: Civitas, 1981, 4.  Aufl. 2006. 32   Vgl. die Einschätzung ihrer Tragweite und Aktualität in den Antworten von Manuel Aragón, Carlos de Cabo, Jorge de Esteban, Ángel Garrorena, Luis López Guerra und Isidre Molas auf die erste Frage der Encuesta sobre la orientación actual del Derecho constitucional [= Umfrage über die aktuelle Ausrichtung des Verfassungsrechts], in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 1 (1998), S.  17 ff. 33   Mittlerweile mit einer gewissen zeitlichen Perspektive, vgl. Alfredo Gallego Anabitarte, Constitución y personalidad jurídica del Estado, Madrid: Tecnos, 1992, und die heftige Replik von Eduardo García de Enterría, El concepto de personalidad jurídica en el Derecho Público, in: Revista de Administración Pública n.º 129 (1992), S.  195–210, insbesondere S.  205 ff. 34  Vgl. Luis López Guerra in seiner Antwort auf die erwähnte Encuesta sobre la orientación actual del Derecho constitucional [= Umfrage über die aktuelle Ausrichtung des Verfassungsrechts], in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 1, S.  26 ff. 31

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wenden.35 Diese Rechtsprechung ist unumstritten Bestandteil des Verfassungsrechts. Die Revista Española de Derecho Constitucional (Spanische Zeitschrift für Verfassungsrecht), seit ihrem Erscheinen 1981 bis heute von Francisco Rubio Llorente herausgegeben, bemüht sich seit ihren Anfängen, der Verfassungsrechtsprechung in der Lehre die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen und unterstützt damit die bewusste pädagogische Arbeit des ersten Verfassungsgerichts.

2.  Warum Hesses Ansatz für die Verfassungslehre in Spanien ertragreich war Die neue Situation machte es erforderlich, die Verfassungsnormativität mit ­einem ihrem neuen Anspruch entsprechenden theoretischen Statut zu versehen. Die histori­ schen und ideologischen Ausführungen von García de Enterría waren dafür unzu­ reichend, ebenfalls die Differenzierungen und Nuancierungen, die Rubio ­Llorente, sich bei der Kategorisierung der verfassungsrechtlichen Rechtsnormen auf Scheuner stützend, lieferte,36 oder der Beitrag von Alejandro Nieto, der die juristischen Besonderheiten der Verfassung hervorhob.37 Genau deshalb kann Hesses Verfassungsrechtlichen Schriften in Spanien eine ähnliche Rolle zugeschrieben werden, wie sie seine Grundzüge in Deutschland gespielt haben. Dabei ist erneut die kluge Auswahl der Texte durch Pedro Cruz hervorzuheben, die den Blick genau auf die Verfassungstheorie lenkt. Denn, wie er selber in seiner Einleitung ausführt, bezweckt ­Hesse zuvörderst „das Verständnis des Ganzen der Verfassung“; und die übersetzten Kapitel sind, in diesem Sinne, eine „Verfassungstheorie des demokratischen Rechtsstaats (…), deren Geltungsbereich, wie wir bereits ausführten, den der Verfassungsrechtsordnung der Bundesrepublik übersteigt“. Dem Ansatz Hesses kann in Spanien insofern gefolgt werden, als, in Übereinstimmung mit unserer eigenen Tradition – erneut mit Worten von Pedro Cruz – „er auf besonders relevante Weise die permanente Verzahnung der Probleme von Begriff und Methode, der Verfassungstheorie und der Verfassungsinterpretation aufweist“. Der Begriff Verfassung wird funktionell bestimmt: was „Verfassung“ ist, „kann nur von der Aufgabe und der Funktion der Verfassung in der Wirklichkeit geschichtlich-konkreten Lebens her erfasst werden“ (Hesse, Grundzüge, Rn.  5, 20.  Aufl.). Diese Funktion wird mittels der Normativität erfüllt, was erklärt, warum – wie ebenfalls in der Einleitung zu lesen ist – „ab 1970 Hesse nicht mehr (…) von der normativen Verfassung, sondern schlicht von der Verfassung spricht.“ Im selben Sinne verzichtet er auf die irreführende Gegenüberstellung von „rechtlicher“ und „wirklicher“ Verfassung und spricht nunmehr von der „Verwirklichung“ der Verfassung. 35   Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Matthias Jestaedt et alii, Das entgrenzte Gericht, op. cit., S.  77–157, 79 ff.: „wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten“. 36   Francisco Rubio Llorente, La Constitución como fuente del Derecho, in: La Constitución y las fuentes del Derecho, vol I, Madrid: IEF, 1979, S.  49–74. 37   Alejandro Nieto, Peculiaridades jurídicas de la norma constitucional, in: Revista de Administración Pública n.º 100–102, S.  371–416.

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Der Einbezug der Thesen von Friedrich Müller über die Struktur der Rechtsnorm formalisiert auf plausible Weise die Koordinierung der beiden Pole, die anhand des Interpretationsprozesses stattfindet, in dem die komplementären Postulate der Offenheit und der Stabilisierung realisiert werden. Nur nachgeordnet gegenüber der Verfassungskonkretisierung und -verwirklichung wird die Möglichkeit ihrer Änderung in Betracht gezogen. Wenn auch in Spanien in der unmittelbar darauffolgenden Periode aus verschiedenen Perspektiven die Polarität zwischen Interpretation und Reform hervorgehoben wird 38 oder auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, zwischen der effektiven Anwendung und der Verwirklichung der Ziele der Verfassung zu unterscheiden,39 so bewegen sich diese Erwägungen bereits auf dem Boden eines neuen Ansatzes bezüglich der Verfassungsnormativität. Denn das Werk von Hesse hatte ebenfalls gezeigt, dass die Orientierung an der Verfassungsinterpretation und insbesondere an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Unterschiede zwischen den theoretischen und methodologischen Positionen durchaus nicht auf hebt. Wie Pedro Cruz in seiner Einleitung feststellt, klingt vielmehr in den klassischen Positionen zur Verfassungsinterpretation, wie sie in Deutschland im Gegensatz zu Hesse Ernst-Wolfgang Böckenförde40 vertritt und wie sie Pedro Cruz schon damals in den Thesen von Ignacio de Otto wiederzuerkennen meinte, ein „Grundlagenstreit“ an. Der Verlauf dieses Streites kann jedoch vom Boden der Theorie der normativen Verfassung aus verfolgt werden, ohne dass man daran zu erinnern braucht, dass Böckenförde sich als Schüler Carl Schmitts versteht – auch wenn die Kenntnis dieser Tatsache sicherlich erhellend wirkt. Die Rezeption von Hesse in Spanien, die mit so glücklicher Hand begonnen hatte, ist kontinuierlich fortgesetzt worden, nicht nur durch die Assimilierung seiner Positionen, sondern auch mittels neuer Übersetzungen seiner Schriften41 oder der seines  Vgl. Pedro de Vega García, La reforma de la Constitución y la problemática del poder constituyente, Madrid: Tecnos, 1985, sowie Javier Pérez Royo, La reforma de la Constitución, Madrid: Publicaciones del Congreso de los Diputados, 1987. Dem ist übrigens hinzuzufügen, dass der Widerstand unserer Verfassung, durch Reformen an veränderte Verhältnisse angepasst zu werden, selbst wenn diese an sich notwendig wären (Carlos de Cabo Martín, La reforma constitucional en la perspectiva de las fuentes del Derecho, Madrid: Trotta, 2003), letztendlich die erwähnten Spannungen in kaum haltbarer Weise zugespitzt haben. Doch damit bewegen wir uns bereits auf eine Periode zu, der der nächste Abschnitt gewidmet ist. 39   José Juan González Encinar, La Constitución y su reforma, in: Revista Española de Derecho Constitucional n.º 17 (1986), S.  345–391, 373 ff. 40   Auf Spanisch vgl. Ernst-Wofgang Böckenförde, Escritos sobre derechos fundamentales, Baden-Baden: Nomos, 1993; auf Deutsch s. nur dens., Die Methoden der Verfassungsinterpretation. Bestandaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S.  2089–2099; dens., Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, S.  1529–1538; dens., Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 29 (1990), S.  1–31. 41   Zwei davon wurden aufgenommen in die erweiterte Auflage dieses Buches: P. Cruz Villalón, La Ley Fundamental y la unidad alemana: Una conversación con el profesor Konrad Hesse, in: Anuario de Derecho constitucional y parlamentario n.º 3 (1991), S.  7–30 (= Das Grundgesetz und die deutsche Wiedervereinigung. Ein Interview mit Konrad Hesse – auf Deutsch nicht verfügbar); und Konrad Hesse, El Estado federal unitario, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo n.º 6 (2006), S.  425–456 (= Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe: C.F. Müller, 1962). Vgl. ferner seine Beiträge in: Antonio López Pina (Hrsg.), División de poderes e interpretación. Hacia una teoría de la praxis constitucional, Madrid: Tecnos, 1987, S.  49 ff., 126 ff. y 184 f. (auf Deutsch nicht verfügbar); Konrad Hesse, Derecho constitucional y Derecho privado, Madrid: Civitas, 1995 (= Verfassungsrecht und Privatrecht, Heidel38

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Umfelds. Der sicherlich bedeutendste Meilenstein in dieser Hinsicht in Spanien ist das Erscheinen einer breiten Auswahl von Kapiteln aus dem hervorragenden Handbuch des Verfassungsrechts von Benda, Maihofer und Vogel, herausgegeben von Antonio López Pina.42 Und vielleicht verdient ebenfalls hervorgehoben zu werden, dass die Verfassungsrechtlichen Schriften den Boden bereitet haben für die Neurezeption des unbestreitbaren spanischen Klassikers, Manuel García-Pelayo, der zu jenem Zeitpunkt als Präsident des Verfassungsgerichts amtierte und dessen Derecho Constitu­ cional Comparado (Vergleichendes Verfassungsrecht) ein Jahr darauf – 1984 – neu aufgelegt wurde.43 Denn im ersten Teil dieses Werkes entwickelt er – nachdem er seine bekannte Typologie von Begriffen von Verfassung dargelegt (historisch-traditioneller, soziologischer und rational-normativer Begriff von Verfassung) und sowohl die Tradition des Positivismus aus dem 19. Jahrhundert, als auch die Weimarer Debatte erörtert hat – ein normativ-funktionales Verständnis der Verfassung, das sich als Fortführung von Hesses Werk lesen lässt – was in Anbetracht der Tatsache, dass García Pelayo im Spanien von 1949 schreibt, nicht wenig verblüffend ist. Abschliessend ist zu sagen, dass die Rezeption von Konrad Hesse eine dem rechtlichen und institutionellen Kontext der Spanischen Verfassung adäquate Verfassungstheorie bereitgestellt hat. Nicht umsonst beginnt diese ja ebenfalls mit einer Werte­ erklärung und wird von einer Verfassungsgerichtsbarkeit gewährleistet, deren Kompetenzenarsenal nur mit dem des Karlsruher Gerichts vergleichbar ist. Hesses Escritos de Derecho Constitucional stellen einen Meilenstein der spanischen Verfassungs­ theorie und ‑interpretation dar. berg: C.F. Müller, 1988); ders., Estadios en la historia de la jurisdicción constitucional alemana, in: Teoría y Realidad Constitucional n.º 1 (1998), S.  99–122 (= Stufen der Entwicklung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JöR 46 (1998), S.  1–23); ders., El Tribunal Constitucional Federal en la Ley Fundamental de Bonn, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional n.º 9 (2005), S.  141– 151 (= §  19 Bundesverfassungsgericht, in: ders. Grundzüge, 20.  Aufl., S.  278–287); ders., La jurisprudencia y la jurisdicción constitucional, in: Revista Iberoamericana de Derecho Procesal Constitucional n.º 4 (2005), S.  157–168 (= §  14 III Rechtsprechung, in: ders. Grundzüge, 20.  Aufl., S.  234–244); ders.: Contribución de la doctrina y la jurisprudencia constitucional a la reconstrucción del Estado de Derecho y de la cultura en Alemania, in: Jorge Alguacil González-Aurioles, Ignacio Gutiérrez Gutiérrez (Hrsg.), Constitución: norma y realidad. Teoría constitucional para Antonio López Pina, Madrid/ Barcelona/Buenos Aires: Marcial Pons, 2014, S.  459–467 (= Der Beitrag der deutschen Staatsrechtslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit bei der neuen Gestaltung des Rechtsstaates und der Kultur – auf deutsch nicht verfügbar). 42   Ernst Benda, Werner Maihofer, Hans-Jochen Vogel, Konrad Hesse, Wolfgang Heyde (Hrsg.), Manual de Derecho Constitucional, Madrid: Marcial Pons-IVAP, Herausgegeben, Prolegomena und Übersetzung von Antonio López Pina, 1. Auflage 1996, 2. Auflage (mit Exordio von Antonio López Pina und Vorwort von Miguel Ángel García Herrera) 2001. S. ebenda: Konrad Hesse, Presentación der spanischen Fassung (S. XVII-XIX – auf Deutsch nicht verfügbar) und Kapitel I (Constitución y Derecho constitucional, S.  1–15 = Verfassung und Verfassungsrecht) und III (Significado de los derechos fundamentales, S.  83–115 = Bedeutung der Grundrechte). Die Orientierung des Handbuchs des Verfassungsrechts wird besonders deutlich, wenn man es dem ab 1987 von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts, gegenüberstellt, vgl. die Rezensionen von Michael Kloepfer Durch pluralistische Verfassungswissenschaft zum einseitigen Medienrechtskonzept (Bemerkungen zum Handbuch des Verfassungsrechts der BRD mit dem dortigen Beitrag von Hoffmann-Riem: „Massenmedien“), in: Archiv für Presserecht 1983, S.  4 47–452, und von Helmut Schulze-Fielitz, Grundsatzkontro­ versen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz – in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, in: Die Verwaltung 1999, S.  241–282. 43   Manuel García-Pelayo, Derecho constitucional comparado, Madrid: Alianza, 1984.

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III.  21. Jahrhundert: Fortgeltung In einer Fussnote schlägt Miguel Azpitarte bescheiden vor, die Geschichte des Konstitutionalismus in drei Phasen aufzugliedern, die in Europa jeweils durch den ­Ursprung der Verfassungen („das Verfassungsrecht der Revolutionen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1849“), die vorherrschende politische Form („das monarchisch-­ liberale Verfassungsrecht bis zur Zwischenkriegszeit“) und den errichteten Staats­ typus („das Verfassungsrecht des sozialen und demokratischen Rechtsstaates bis zu den 90er Jahren“) geprägt worden seien, allesamt mit Parallelen in der amerikanischen Verfassungsgeschichte. Anschliessend fragt er sich, „ob wir vor dem Beginn eines neuen Zyklus stehen“, wobei „die schlichte thematische Kontinuität“ in den akademischen Studien nicht hinreichend ist, die Frage zu verneinen, denn sie vollzieht sich in einem von Grund auf gewandelten Kontext. Aber es geht nicht nur um einen Zykluswechsel im Verfassungsrecht, sondern gar um seine Adäquatheit als Orien­tierungspunkt. Es stellt sich also die Frage, „ob das Verfassungsrecht genügt“, um, beispielsweise, „die parastaatlichen Realitäten zu verstehen“, ob die „Begriffe des Verfassungsrechts das angemessene Werkzeug sind, um die neuen juristischen Phänomene zu verstehen“. Hier ist nicht der Ort für eine direkte Antwort darauf, auch wenn die Frage auf einer zumindest plausiblen Formulierung beruht. Belassen wir es dabei, konkret und im Rahmen dieses Aufsatzes zu untersuchen, ob das, was wir von Hesse gelernt haben, unter den neuen Umständen weiterhin nutzbringend ist.

1.  Der Bedarf nach einer dem neuen Kontext entsprechenden Verfassungslehre In dieser Hinsicht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Hesse selbst ab 1995 auf eine Wiederauflage seines Lehrbuchs verzichtet und kaum noch Neues veröffentlicht hat. Dies sollte nicht nur als ein kluger, altersbedingter Rückzug aus der ersten Reihe gewertet werden. Diese Haltung war auch durch das Bewusstsein bestimmt, dass die historische Zeit seines Ansatzes verstrichen war. Der stets auf die heutige, individuell-konkrete Verfassung achtende Denker, ausgestattet mit einer besonderen Sensibilität für die Änderungen, die die neuen Umstände in der Verfassungsrechtsordnung bewirkten, war sich auch bewusst, inwieweit seine Konstruktionen einer wesentlich gewandelten Situation nicht mehr gerecht wurden. Bereits in der Abfolge der einzelnen Auflagen des Lehrbuchs konnte man subtile Verschiebungen in den Positionen des Autors bemerken44 – dies gilt ebenfalls für die Versionen seiner Theorie der Grundrechte, die 1978 gesondert erschien und in dieser Fassung heute in Spanien von Miguel Azpitarte herausgegeben wird, und die dann für die erste (1983) und zweite (1994) Auflage des bereits erwähnten Handbuchs des Verfassungsrechts – letztere ebenfalls auf Spanisch erschienen – umgearbeitet wurden. Aber in seinen letzten Jahren zeigte Hesse größeres Interesse an den Innovationen, die im Bereich des Verwaltungsrechts und des Europarechts stattfanden, als an der Evolution des Verfassungsrechts, und er verfolgte mit großer Aufmerksam44  Vgl. Roland Geitmann, Die „Grundzüge des Verfassungsrechts“ von Konrad Hesse im Wandel ihrer Auflagen, in: AöR 57 (2009), S.  531–535.

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keit die Beiträge von Dieter Grimm, dessen eher skeptische Position hinsichtlich der Zukunft der Verfassung bekannt ist.45 Im Mai 1999, also bei Ausklingen des letzten Jahrhunderts, kommentierte Hesse, die Staatsrechtslehre setze „teils mehr, teils weniger noch die Welt voraus, in der ihre Begriffe, Rechtsinstitute und Methodik entstanden oder später fortgebildet worden sind: die Welt des souveränen Nationalstaats und seiner Ausformungen […]. Wir leben insoweit von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bislang als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen“.46 Um auf die gestellte Frage einzugehen, muss also zunächst Hesses Anspruch berücksichtigt werden, eine bewusst konkrete Konstruktion vorzulegen. Seine „Verfassungstheorie des demokratischen Rechtsstaats“ mag über die Bonner Republik hinaus anwendbar sein (Pedro Cruz Villalón), aber das macht sie nicht zu einer „Allgemeinen Verfassungstheorie, die die Besonderheiten jedes Anwendungsbereiches zu transzendieren“ vermag, „jedenfalls in Bezug auf die dem Verfassungsrecht eigenen Probleme und die begriffliche Methode, mit denen sie angegangen werden“, wie Miguel Azpitarte meint. Es scheint in der Tat plausibel, Gegenstand und Methode des Verfassungsrechts ausgehend von einer bestimmten Art von Problemen und nicht von einer konkreten historischen Situation zu definieren. Nur: Dies stimmt nicht mit Hesses Grundposition überein. Für ihn ist die Verfassung Gegenstand des Verfassungsrechts. Ihre Funktion und Aufgabe können nur „in der Wirklichkeit geschichtlich-konkreten Lebens“ erfasst werden, nämlich im Leben des Gemeinwesens. Dieser Begriff ist im Rahmen der seiner Theorie zugrundeliegenden Debatten entscheidend: „Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“ (Rn 17, 20. Auflage). Pedro Cruz weisst in seiner Einleitung von 1983 darauf hin, dass Hesse „darzulegen versucht, dass das Subjekt und Objekt Staat für die zeitgenössische Verfassungsrechtslehre nicht hinreichend ist, so wie auch die herkömmliche Trennung von Staat und Gesellschaft teilweise nicht mehr gültig ist.“ Hier soll aber noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen werden, und zwar, dass Hesse dabei immer noch auf die politische Einheit zielt: „Aufgegeben ist die politische Einheit des Staates“ (Rn.  6). Was Hesse „wie auch seine Zeitgenossen beschäftigte“ – sagt Azpitarte – „war die Wiedererfindung des Staates auf den Trümmern einer zusammengebrochenen politischen Realität“. Dieser historische Kontext bestimmt zweifellos die Beschaffenheit seiner Theorie, die, wie ebenfalls Azpitarte sagt, „eine bestimmte Staatstheorie und einen Begriff von Freiheit“ implizierte. Azpitarte weist in dieser Hinsicht auf vier große Wandlungsfaktoren hin: „die juristische Globalisierung, die Fragmentation des politischen Prozesses, der Übergang vom Sozialstaat zur Theorie der Regulierung und die präventive Dimension des Staates.“ Seine Ausführungen beziehen sich also zum einen auf die Identität des   Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991.   Konrad Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates. Einleitende Bemerkungen zum Kolloquium, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates. Erträge des wissenschaftlichen Kolloquiums zu Ehren von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle aus Anlab seines 65. Geburtstages, Baden-Baden: Nomos, 2001, S.  11–16, 13. Vgl. bereits das Vorwort von 1995 zur 20. und letzten Auflage seiner Grundzüge, S. V. 45

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Staates und zum anderen auf dessen Funktionen. Was die Funktionen angeht, wird die Vorsorge für die gleiche Freiheit für alle durch die bloße Regulierung der Funktionsbedingungen der vorausgesetzten wirtschaftlichen und sozialen Ordnung ersetzt, sowie durch die Prävention hinsichtlich der Risiken, denen sie ausgesetzt ist. Wenn es richtig ist, dass die immanente Garantie des sozialen und demokratischen Rechtsstaates gerade in ihrem einheitlichen Verständnis besteht,47 dann kann die Krise des Sozialstaates nicht umhin, die Postulate der Demokratie und des Rechtsstaates in Frage zu stellen.48 Die Identität des Staates bricht aufgrund der Multikulturalität und der sozialen Fragmentation, die eine Bezugsinstanz unmöglich machen, die sich als Grundlage öffentlicher Gewalt, geschweige denn als etwas Homogenes artikulieren ließe, auseinander. Im selben Maße, wie die Grenzen an Schärfe verlieren und die Staatsgewalt die ihr eigene Monopolstellung einbüßt, löst sich diese Identität in den politischen und juristischen Globalisierungsprozessen auf. Das Bestehen vor der Herausforderung der Multikulturalität hängt von den Möglichkeiten der Teilhabe aller am demokratischen Prozess und von der Rolle der Grundrechte als permanente Grundlage der sozialen Integration ab, doch wird diese Integration selbst nie gewährleistet sein.49 Die einheitliche Idee des Verfassungsstaates wird schwerlich den Angriffen der Europäisierung und der Globalisierung standhalten können.50 Der Staat, eine politische Form aus zweifellos historischem Stoff,51 löst sich mit der Globalisierung sicher nicht auf, wird aber dadurch kontextabhängig. Und im selben Zug relativiert sich auch die Rolle der vermeintlich allumfassendenden staatlichen Verfassungen, deren „Normativitätsverlust“ Miguel Azpitarte konstatiert. Letzten Endes ist die normative Verfassung der demokratischen Staaten, mit ihrem Anspruch, eine einheitliche und undurchlässige souveräne Gewalt durch einen tendenziell sich selbst genügenden Rechtskodex zu legitimieren, zu artikulieren und zu begrenzen ein seit relativ kurzer Zeit bestehendes und möglicherweise ein vorübergehendes Phänomen. All dies erklärt, warum die normative Verfassung und die Verfassungsrechtsprechung, jedenfalls in der Fassung der deutschen Dogmatik, die die spanische Lehre so stark beeinflusst hat, in Deutschland selber rückblickend als einseitige, womöglich etwas hypertrophierte Entfaltungen eines einzelnen Aspektes des Verfassungsphänomens betrachtet werden,52 warum die jetzt verschwimmende Ver47   Erhard Denninger, Menschenrechte und Staatsaufgaben – ein ‚europäisches‘ Thema, in: JZ 1996, S.  585–590, 587 ff.; ders., Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und staatlicher Souveranität, in: ders., Der gebändigte Leviathan, Baden-Baden: Nomos, 1990, S.  249–265, 255 f., 265. 48   Carlos de Cabo Martín, La crisis del Estado social, Barcelona: PPU, 1986; ders., Democracia y Derecho en la crisis del Estado social, in: Sistema n.º 118/119 (1994), S.  63–77. 49  Vgl. Erhard Denninger, Dieter Grimm, Derecho constitucional para la sociedad multicultural, Madrid: Trotta, 2007. 50  Vgl. Anne Peters, Mariano J. Aznar, Ignacio Gutiérrez (Hrsg.), La constitucionalización de la Comunidad internacional, Valencia: Tirant lo Blanch, 2010 (mit Beiträgen der Herausgebern, sowie von Bardo Fassbender, Christian Tomuschat und Christian Walter). 51   Michael Stolleis, La textura histórica de las formas políticas, Madrid/Barcelona/Buenos Aires: Marcial Pons, 2011. 52  Vgl. Christoph Schönberger, Der Aufstieg der Verfassung: Zweifel an einer geläufigen Triumphgeschichte, sowie Uwe Volkmann, Der Aufstieg der Verfassung: Beobachtungen zum grundlegenden Wandel des Verfassungsbegriffs, beide in: Thomas Vesting und Stefan Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, jeweils S.  7–22 und S.  23–39; sowie Christoph Schön-

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fassung ein Suchbild auf den Plan ruft,53 und warum diese Suche gerade im Bereich des Symbolischen stattfindet.54 Dies scheint Azpitarte selber anzunehmen, wenn er den Verlust an Verfassungsnormativität mit der Verdunklung der „Interpretationsnarrative“ gegenüber der „sozialen Nachfrage nach Verfassungsrechtlichkeit“ verbindet: Die besondere „heutige Funktion der Verfassung“ wäre darin zu sehen, „dass sie, ohne einen sicheren normativen Gehalt gegenüber den sozialen Wandlungen zu bieten, dennoch ihre symbolische Kraft nicht verliert“. All dies führt zu einer Verfassungstheorie, die, jenseits des Rechts, in eine Theorie der Verfassungsgemeinschaft münden könnte. Diese erneuerte Wahrnehmung der Verfassung bietet allerdings keinen festen Gegenstand für das neue Verfassungsrecht. Ein solcher ist ebenfalls nicht zu erzielen, indem man statt auf die normative Verfassung auf die Realität des Staates bezug nimmt.55 Denn, was gerade in Frage steht, ist ja die Verfassung des Staates. Das Verfassungsrecht war bestimmt durch die Verfassung im Singular, verstanden als ein Ideal­ typus, der seinerseits bestimmt war durch die integrierte Einbeziehung all seiner Aspekte und infolgedessen durch die notwendige Korrelation zwischen einheitlicher politischer Ordnung (des Staates) und Verfassung.

2.  Bleibende Erträge und Potential von Hesses Ansatz im neuen Verfassungsrecht Aus einer anderen Perspektive ließe sich allerdings anfügen, dass das Verfassungsrecht sich vom Verfassungskodex verselbständigen kann, in ähnlicher Weise wie ja auch das Zivilrecht seit langer Zeit nicht mehr das Recht des Bürgerlichen Gesetz­ buches ist. Es wären dann primär nicht die Normen und deren formale Besonderheiten, die für die verfassungrechtliche Natur einer Rechtsfrage ausschlaggebend wären, sondern die realen Probleme oder die ideellen Prinzipien. Denn das Entscheidende ist nicht die abstrakte Einheit, sondern dass wirksame Gewährleistungen der Freiheit gegenüber der Macht fortbestehen, sowie dass nachhaltige Institutionen geschaffen werden, die bestimmte Dienstleistungen im Interesse aller zu erbringen vermögen. Das Entscheidende ist nicht einmal der demokratische Staat, sondern die Tatsache, dass die Bürger dazu in der Lage sind, den Inhalt der Politik maßgeblich zu bestimmen. Wenn der Staat und die staatlichen Verfassungen dazu beitragen, so werden sie es nicht in dem Sinne tun, den ihnen die klassische Staats- und Verfassungstheorie zuschrieb, als Ausdruck einer durch ihre Ausschließlichkeit und Vollständigberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, und Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, beide in: Matthias Jestaedt et alii, Das entgrenzte Gericht, op. cit., S.  9 –76 und 159–279. 53   Uwe Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, in: VVDStRL 67 (2008), S.  57–93. 54  Vgl. Thomas Vesting, Ende der Verfassung? Zur Notwendigkeit der Neubewertung der symbolischen Dimension der Verfassung in der Postmoderne, und Rainer Wahl, Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und der Internationalisierung, beide in: Thomas Vesting und Stefan Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, op. cit., S.  71–93 und S.  355–378; s. auch Ulrich Haltern, Internationales Verfassungsrecht? Anmerkungen zu einer kopernikanischen Wende, in: AöR 128 (2003), S.  511–557. 55  Vgl. José Juan González Encinar, Derecho del Estado y Ciencia del Derecho del Estado, in: Revista Española de Derecho Constitucional n.º 41 (1994), S.  333–356.

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keit gekennzeichneten Souveränität, sondern im Rahmen einer pluralen und komplexen Struktur von Mächten und Normen, die nicht ohne weiteres auf eine Einheit zurückzuführen sind. Oliver Lepsius zufolge ist die Hauptachse der sich heute stellenden Probleme, sei es hinsichtlich der europäischen Integration oder der öffentlichen Aufgaben, der Pluralismus.56 Die Theorie muss sich nach seiner Auffassung nicht mit dem Staat, nicht einmal mit der Herstellung von Einheit oder politischer Integration auseinandersetzen, sondern mit der Legitimation der Herrschaft auf der Grundlage der Volkssouveränität und der individuellen Freiheit und Gleichheit, sowie mit deren Organisation durch Bestimmung der betreffenden Subjekte, Objekte und Verfahren, in einer Weise, die der wachsenden Differenzierung Rechnung trägt und somit Konflikte nicht ausschließt.57 Damit wird auch die Möglichkeit eröffnet, dass das Verfassungsrecht, ohne Schwächung der Besonderheiten der in einem konkreten Staat geltenden Verfassungs­ urkunde, diese zu transzendieren vemag. Denn die supra- und internationalen Organisationen, die in einer staatsähnlichen Weise institutionalisierte öffentliche Gewalt ausüben, unterliegen ebenfalls rechtlichen Bindungen, die, jedenfalls teilweise, ähnliche Funktionen wie die einer Verfassungsrechtsordnung erfüllen könnten. Dies ist im Falle der Europäischen Union bereits eingehend untersucht worden, u.a. durch Pedro Cruz Villalón.58 Und ein Teil der Völkerrechtslehre unternimmt bereits den Versuch einer Analyse des Völkerrechts, die der theoretischen Tradition und den spezifischen Methoden des Verfassungsrechts Rechnung trägt59 – auch wenn sicherlich die Prinzipien, die diese internationalen Beziehungen regeln, noch weit davon entfernt sind, den gesamten Postulaten, die historisch den sozialen und demokratischen Rechtsstaat bestimmt haben, hinreichend zu entsprechen.60 Das fragmenthafte und partielle Verfassungsrecht der internationalen Gemeinschaft hat den Anspruch, zum staatlichen komplementär zu sein, das seinerseits auch nur partiell, ja sogar fragmenthaft ist. Das Endergebnis ist eine Welt, die sich, sofern sie sich rechtlich artikuliert, dies durch verschiedene Verfassungselemente mit unterschiedlichem Anwendungsbereich tut, die durch weitgehend ausdifferenzierte Verbindungen zu einem Netz von zunehmender Komplexität verknüpft werden. Die staatlichen Verfassungen 56   Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates?, in: EuGRZ 2004, S.  370– 381, 376 f., 381. Bezeichnenderweise sind die Legitimation der supranationalen Institutionen und der Pluralismus innerhalb des Verfassungsstaates zwei der Herausforderungen, vor denen für Andreas Vobkuhle das, was er weiterhin als „Allgemeine Staatslehre“ oder „neue Staatswissenschaft“ zu nennen vorzieht, stehen. Vgl. Andreas Vobkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, in: JuS 2004, S.  2 –7, 6 f. 57   Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates?, op. cit., S.  380. 58   Pedro Cruz Villlalón, La Constitución inédita, Madrid: Trotta, 2004; sowie ders. (Hrsg.), Hacia la europeización de la Constitución española. La adaptación de la Constitución española al marco constitucional de la Unión Europea, Bilbao: Fundación BBVA, 2006; vgl. ebenfalls Luis María Díez-Picazo, Constitucionalismo de la Unión Europea, Madrid: Civitas, 2002. 59   Vgl. insbesondere Anne Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, in: Leiden Journal of International Law, Vol. 19 (2006), S.  579–610; sowie Jan Klabbers, Anne Peters und Geir Ulfstein, The Constitutionalization of International Law, Oxford: Oxford University Press, 2009. 60  S. Ignacio Gutiérrez Gutiérrez, Legitimität des Krieges kraft internationaler Legalität?, in: G. Orsi/K. Seelmann/S. Smid/U. Steinvorth, Nationale Interessen und internationale Politik, Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 10, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2005, S.  87–99.

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sind nur als Knotenpunkte dieses gespannten und stets instabilen Netzes von staatlichen, supranationalen und internationalen Beziehungen zu verstehen.61 Nach Anne Peters weichen die Ideen der Einheitlichkeit und der Totalität diesen Prozessen der Globalisierung und der Ausdifferenzierung, woraus sich eine Inkongruenz der verfassungsrechtlichen Bereiche und Funktionen ergibt, die in Form von komplementären Teilverfassungen fortbestehen.62 Bei dieser differenzierten Rekonstruktion bewegt sich der Blick vom „Begriff von Verfassung“ zu den „verfassungsrechtlichen Problemen oder dem Verfassungsrecht“,63 die Christoph Möllers im Bereich der demokratischen Legitimation, der Gewährleistung des Vorranges und der Entwicklung von auf die Einschränkung von Herrschaft zielenden rechtlichen Prinzipien sieht. Das Verfassungsrecht wäre somit nicht nur eine Errungenschaft, die dogmatisch zu verarbeiten ist,64 sondern ein Prozess der Akkumulation, Transformation und Ausdifferenzierung, in dem jene Elemente festzustellen sind, die mit in die Zukunft übernommen werden können65 – all dies im Rahmen einer Rechtsordnung, die wir als zunehmend durch internationale Normen und weniger durch die für den klassischen Verfassungsstaat typischen Postulate der Einheitlichkeit, Vollständigkeit und Kohärenz bestimmt wahrnehmen. Denn es ­bestehen, wie Azpitarte ausführt, Zweifel, ob ein politisches System, das zu einer „diffusen Realität“ geworden ist, nicht dazu führen wird, „dass wir akzeptieren müssen, dass diese Einheitlichkeit kein Merkmal unserer Rechtsordnung ist.“ In diesem neuen Kontext müsste die Fortgeltung von Hesses Positionen untersucht und diese dabei teilweise von ihren methologischen Grundlagen getrennt betrachtet werden; zu achten wäre vielmehr auf die konkreten Lösungen. Doch ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass Peter Lerche in jenem schönen Vortrag, den er in der Freiburger Universität am 25. November 2005 zum Andenken Hesses hielt, darauf hinwies, wie sehr dessen methodologisches Wissen gerade im Bereich des Konkreten 61   Rafael Bustos Gisbert, La Constitución red: un estudio sobre supraestatalidad y Constitución, Oñati: IVAP, 2005. 62   Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin: Duncker & Humblot, 2001, S.  165 f. 63   Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin u.a.: Springer, 2003, S.  1–57, 22 ff. 64   Manchen Zweifel an Tragweite und Möglichkeiten der juristischen Dogmatik in: Gregor Kirchhof, Stefan Magen und Karsten Schneider, Was weiβ Dogmatik?, Tübingen, Mohr Siebeck, 2012. 65   Sei es durch Reform des bestehenden Rechts, sei es durch Interpretation. Zu konkreten Vorschlägen zu beiden bezüglich des Rechts der Europäischen Union, vgl. Antonio López Pina, z.B.: Zur verfassungsrechtlichen Bestimmung des Europarechts, in: P. Häberle, M. Morlok, V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für Dimitris Tsatsos, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2003, S.  315–322; ders., EU-Recht und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz. Der europäische Verfassungsvertrag auf dem Prüfstand der gemeinsamen Verfassungstraditionen, in: U. Schödlbauer (Hrsg.), Übersprungene Identität. Von Proto-Nationen und Post-Existenzen, Jahrbuch Iablis, Heidelberg: Mauntius Verlag, 2005 (http://www. iablis.de/iablis_t/2005/lopezpina.htm); ders., Verfassungselemente in der supranationalen Ordnung der Europäischen Union, in: D. Tsatsos (Hrsg.), Die Unionsgrundordnung. Handbuch zur Europäischen Verfassung, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2010, S.  273–318. In dieselbe Richtung zielen Beiträge, bei denen der Verf. die Ehre hatte, mit Antonio López Pina als co-Autor zu zeichnen: Preservación de la Constitución, reforma de los Tratados, in: Civitas Europa n.º 7, Septiembre 2001, S.  71–94; dies., Elementos de Derecho Público, Madrid-Barcelona: Marcial Pons, 2002.

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glänzte.66 Deshalb ist es auch angebracht, heute seine Beiträge zur Analyse der Grundprobleme, die weiterhin das Verfassungsrecht beschäftigen, zusammen mit seinen von Pedro Cruz 1983 eingeführten Schriften der spanischen Leserschaft zugänglich zu machen. Die Kapitel über die Demokratie67, den Bundesstaat68 und die Grundrechte69 gewähren Einblicke von bleibender Gültigkeit in die Legitimation, Organisation und Tätigkeit öffentlicher Gewalt. Die Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft70 unterstreichen den relativen Charakter der großen theoretischen Konstruktionen – vor allem aber betonen sie ihre notwendige Orientierung am Dienste der Freiheit unter den historischen Bedingungen der Gegenwart. Seine Ausführungen zu den funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit71 zeugen von der Weisheit, im klassischen Sinne der iuris prudentia, mit der Hesse Dogmatik betrieb. Das von Pedro Cruz mit ihm geführte Interview von 1991,72 mit dem der Band abschließt, enthält nicht nur seine Stellungnahmen zu verfassungsrechtlichen Aspekten der nur kurze Zeit zurückliegenden Wiedervereinigung Deutschlands, sondern gibt ihm auch Gelegenheit, sich zu konkreten problematischen Aspekten der großen vorher genannten Themenbereiche zu äußern. Diese zusammenzufassen oder zu kommentieren ist allerdings hier nicht der Ort: Unumgänglich wird sich jeglicher Leser dieser Seiten selbst mit Hesses Schriften ausein­ andersetzen und seine eigenen Fragenstellungen darauf projezieren müssen.

66   Peter Lerche, Europäische Staatsrechtslehrer. Der Wissenschaftler Konrad Hesse, in: JöR 55 (2007), S.  455–461. Vgl. ebenfalls Ernst Benda, Konrad Hesse: Bundesverfassungsrichter 1975–1987, in: JöR 55 (2007), S.  509–514. 67   §  6 Demokratie, in: Grundzüge des Verfassungsrechts, 20.  Aufl., S.  58–74 (in der spanischen Fassung ausgenommen Abschnitt II.6 über die politischen Parteien). 68   Siehe Fn.  41. 69  Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, in: EuGRZ 5 (1978) S.  427–438, zugleich in: Ausgewählte Schriften, 283–309 (in der spanischen Fassung ausgenommen Abschnitt A, über die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland). 70   Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: DÖV 1975, S.  437–443, zugleich in: Ausgewählte Schriften, S.  45–57. 71  Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Recht als Prozeß und Gefüge. Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag, Bern 1981, S.  261–272, zugleich in: Ausgewählte Schriften, S.  311–322. 72   Siehe Fn.  41.

Hans F. Zacher und die rechtliche Ordnung des Sozialen* von

Prof. Dr. Ulrich Becker, LL.M. (EHI), München Inhalt I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 II. Aufbau des Instituts und der internationalen und vergleichenden Sozialrechtsforschung . . . . . . . . . 664 III. Emeritus-Arbeitsplatz und die vertiefte Suche nach der Eigenheit des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . 668 IV. Schlußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671

I. Vorbemerkung Wenn wir heute das wissenschaftliche Werk und die großen Verdienste von Hans F. Zacher würdigen, so steht wohl jedem von uns zugleich seine Person vor Augen, der beeindruckende und charismatische Mensch, dem wir begegnen durften. Diese Begegnungen waren sicher von unterschiedlicher Intensität, unsere Perspektiven verschieden. Und so sind es unsere Erinnerungen. Mein erster Kontakt mit Hans Zacher bestand in einem Briefwechsel. Damals zu Beginn der 1990er Jahre, hatte ich sehr vage das Projekt ins Auge gefasst, eine Habilitationsschrift im vergleichenden Sozialrecht anzufertigen. Da war es nicht nur naheliegend, sondern drängte sich geradezu auf, den Doyen der deutschen und internationalen Sozialrechtswissenschaft um Rat zu fragen. Ich schrieb also nach München, in der Hoffnung, aber nicht allzu großer Erwartung, einige Hinweise zu erhalten. Was folgte, hat mich in höchstem Maße beeindruckt. Denn Hans Zacher schrieb mir prompt und sehr ausführlich zurück, und in seinem Brief kam nicht nur ein meinem grundsätzlichen Interesse an seinem Fach geschuldetes Wohlwollen zum Ausdruck, sondern er enthielt zugleich, obwohl ich damals nicht mehr als einige Grundkenntnisse des deutschen Sozialrechts besaß und von den Herausforderungen der Rechtsvergleichung praktisch keine Ahnung hatte, eine ausführliche Beschreibung möglicher Themen – und dazu Ratschläge, wie die*   Um Nachweise ergänzte Rede auf der Gedenkfeier der Max-Planck-Gesellschaft am 14. Juli 2015 in München.

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se in Angriff genommen werden könnten. Das war ein großes und wertvolles Geschenk, an Wissen wie an aufgewendeter Zeit und Mühe. Jahre später hatte ich, nachdem wir nun Zimmer an Zimmer in demselben Institut tätig waren, die Gelegenheit, mich mit Hans Zacher über das Sozialrecht in vielen persönlichen Gesprächen auszutauschen. Meine Bewunderung für sein Engagement und seine nie endende Neugier an der Wissenschaft im Allgemeinen und der Sozialrechtswissenschaft im Besonderen sind dabei weiter gewachsen. Nach wie vor nahm er sich die Zeit, mit Mitarbeitern, Doktoranden und Gästen des Instituts über deren Projekte zu sprechen und ihnen sein über Jahre angesammeltes Wissen zu vermitteln. Hans Zacher war ein wunderbarer Gesprächspartner, seine schöne Sprache und Stimme hallen nach, auch die Unter- und Zwischentöne waren wichtig, und ich kann mich kaum an ein Gespräch erinnern, in dem wir nicht mindestens einmal herzhaft gelacht hätten. Das ist kurz umrissen meine Erinnerung und der Hintergrund, vor dem ich Ihnen über zwei Stationen des wissenschaftlichen Lebens von Hans Zacher berichten möchte: erstens der Phase des Auf baus des Instituts und der internationalen und vergleichenden Sozialrechtsforschung, auf die ich nur durch Nachvollziehen des Verschriftlichten aus der Ferne blicken kann; sowie zweitens der Phase der Forschung als Emeritus und der erneuten Suche nach der rechtlichen Ordnung des Sozialen, die zugleich eine gemeinsame Strecke unserer Lebenswege war.

II.  Auf bau des Instituts und der internationalen und vergleichenden Sozialrechtsforschung Hans Zacher hatte, neben seiner Tätigkeit als Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht in München, im Jahr 1976 die Projektgruppe der Max-Planck-Gesellschaft für internationales und vergleichendes Sozialrecht übernommen. Seine Tätigkeit war schnell von Erfolg gekrönt. Aus der Projektgruppe wurde 1980 das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht. Ein langjähriger Wegbegleiter, der Soziologe Franz Xaver Kaufmann, merkte zur Entscheidung der Max-Planck-Gesellschaft, die Sozialrechtsforschung in ihre breit angelegte Wissenslandschaft aufzunehmen, an: „Das bescherte Hans F. Zacher die Chance seines Lebens“.1 Zugleich aber war Hans Zacher ein Glücksfall für die Max-Planck-Gesellschaft und insbesondere für das Projekt der Gründung eines Sozialrechtsinstituts. Denn niemand hatte wie er je zuvor das Dickicht des Sozialrechts gelichtet, das wild wachsende Gesetzesrecht analysiert und in eine Ordnung gebracht.2 Die Hans Zacher eigene Fähigkeit zur systemischen Betrachtung und zur Systematisierung eines Stoffs nach allen denkbar relevanten Kriterien kommt in seinen Schriften durchgängig zum Ausdruck, sie durchzieht und prägt seine Werke, zusammen mit einer bildlichen und wortmächtigen Sprache. Sie bildete zugleich den fruchtbaren Boden für die nun vor allem rechtsvergleichend ausgerichtete Forschung. Denn wer fremdes Recht erfassen und verstehen will – wie Hans Zacher immer wieder die ersten Schritte der Rechts1 2

  Kaufmann, Denker des Sozialstaats: Hans F. Zacher 80 Jahre, ZSR 2008, 419, 421.   Stolleis, Hans F. Zacher und die Begründung des Sozialrechts, unten S.  673.

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vergleichung benannt hat – muss sich verlässlich orientieren können. Er muss erkennen, welche Funktionen das Recht erfüllen soll. Er muss vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung zwar, aber zugleich mit der Bereitschaft, diese Erfahrung zu hinterfragen, einen Zugriff auf die sich darbietende Masse des in jeder Rechtsordnung vorhandenen positiven Rechts gewinnen, eines Rechts, das eigenen Entwicklungsprozessen folgt und sich ständig in seiner Anwendung weiterentwickelt, eines Rechts, das, wie es Ernst Rabel so schön beschrieben hat, „tausendfältig schillert und zittert unter Sonne und Wind“3. Hans Zacher war dafür der ideale Forscher. Seine Grundlagenorientierung und sein Methodenbewusstsein halfen, in kurzer Zeit ein Forschungsprogramm zu entwerfen und durchzuführen, das den Eigenheiten des Sozialrechts nun unter vergleichender Perspektive nachging.4 Dabei war es für Zacher, der wie kein anderer Sozialrechtler den Blick auf das Ganze gerichtet und das Sozialrecht immer in seiner Bezogenheit auf die sozialstaatlich zu korrigierenden Lebensverhältnisse betrachtet hat, klar, dass die Anschlüsse zu anderen Disziplinen und der Austausch mit Wissenschaftlern, die Sozialpolitik aus anderen Perspektiven erforschten, notwendig war. So kam es zu engen Kooperationen mit Soziologen, Politikwissenschaftlern, Ökonomen und Historikern. Von Beginn an wurden in der Projektgruppe und dann am Institut Grundlagenfragen mit sachthematischen Fragen verbunden.5 Dieser Ansatz brachte allgemeine theoretische Überlegungen mit exemplarisch ausgesuchten Problembereichen zusammen. Er erwies sich als fruchtbar und ermöglichte dem Institut, die Forschung in einem weit gesteckten thematischen Rahmen anzulegen. Das ließ das Institut zugleich schnell zu einem Ort werden, an dem sich auch Forscher aus anderen Ländern trafen, um sich auszutauschen und sich zu informieren,6 zu einem Ort, an dem die vergleichende Sozialrechtsforschung etabliert wurde7. Noch heute ist das MaxPlanck-Insti­tut, nun das Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, eine auf der ganzen Welt einmalige Einrichtung für die internationale Forschung auf seinen Gebieten. Aber gerade seine schnelle Entwicklung unter dem Gründungsdirektor bleibt bemerkenswert, insbesondere, wenn man sich den Entstehungshintergrund vor Augen hält, den Zacher folgendermaßen beschrieben hat: „Nicht die Wissenschaft vom internationalen und vergleichenden Sozialrecht provozierte die Gründung zunächst

3   Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924), in: Zweigert/Puttfarken (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1978, 85, 89. 4   Zu den Anfängen Zacher, Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht, VSSR 1975, 388, 389. 5   Zu den dabei gewählten „Urthemen“ Zacher, Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, in: FS für Werner Lorenz, 1991, 847, 858 ff. 6   Berghman, The Max Planck Institute as seen by External Academics, in: Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.), Berichte und Mitteilungen 2/1995, 54, 55: „… the matrix approach of the Institute – combining a profound knowledge of foreign and international law systems with expertise in general research topics – has been inspiring scholars in other countries to plunge into issues of comparative and international social law …“. 7   Kaufmann, ZSR 2008 (Fn.  1), 419, 421: „Vor allem aber hat die Tätigkeit des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht maßgeblich zur systematischen Rekonstruktion ausländischer Sozialrechtsordnungen als Vorstufe zur vergleichenden Sozialrechtsforschung und damit auch zur internationalen Etablierung der Disziplin beigetragen.“

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der Projektgruppe und dann des Instituts. Vielmehr war es das Defizit an Forschung, das nicht länger verantwortet werden konnte.“8 Aus den vielen am Institut in der Ära Zacher entstandenen Werken kann ich hier nur wenige herausgreifen.9 Um einen kleinen Einblick in die Erträge dieser Forschungsperiode zu geben, müssen zwei Beispiele, eines methodischer, ein anderes inhaltlicher Art genügen. Zu dem ersten Punkt gehören die Arbeiten an der rechtsvergleichenden Methodik. Dieser Methodik hat sich Hans Zacher ganz zu Beginn der Projektgruppe angenommen.10 Er hat die wesentlichen Ausgangs- und Ordnungspunkte entfaltet, die in späteren Arbeiten weiter verfeinert worden sind. Dazu gehört die Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Vergleichen.11 Horizontale Vergleiche können insbesondere dazu dienen, den Vorrat an Lösungen zu klären, die das Recht verschiedener Rechtsordnungen als Antworten auf die Fragen gibt, die das Leben stellt. Dieser Blick ins Ausland lässt andere, dort jeweils eingeschlagene Lösungswege erkennen. Er macht Alternativen sichtbar. Das ist insbesondere sozialrechtspolitisch wichtig. Die Besonderheit entsprechender Sozialrechtsvergleiche liegt zum einen in der Schwierigkeit, das „Soziale“, d.h. „was als Lösung eines ‚sozialen‘ Problems erfahren wird“12 bzw. die sozialen Lebenssituationen, die durch Recht verändert werden sollen,13 zu erkennen. Zum anderen liegt sie in der Notwendigkeit, die in anderen Rechtsordnungen vorhandenen Leistungssysteme in ihrer Anlage und ihren Wirkungsmöglichkeiten systematisch zu erfassen. Denn Sozialrecht in seinem Kern als Sozialleistungsrecht bezieht sich nicht unmittelbar, wie es das Privatrecht tut, auf menschliche Interaktionen. Es schafft Behörden, es regelt Verfahren und es bemisst Leistungen, um auf die als soziale Probleme erkannten Verhältnisse einzuwirken.14 Diese „zwischengeschalteten“ Institutionen wiederum folgen nicht einfach und zwangsläufig bestimmten Funktionalitäten, sondern sind Ergebnis historischer Prozesse und politischer Setzungen. Wer Sozialrecht verstehen will, muss sich deshalb sowohl mit seinen Entstehungsbedingungen wie seinem sozialpolitischen Hintergrund und den Wirkungsmechanismen der zur Umsetzung geschaffenen Einrichtungen beschäftigen. Der von Zacher verfolgte Forschungsansatz lässt sich inhaltlich sehr schön an dem Buch zur „Alterssicherung im Rechtsvergleich“15 nachvollziehen. Bei der Alters­ sicherung denken wir zunächst an die Rente und stellen uns ein öffentliches sowie   Zacher, in: FS Lorenz (Fn.  5 ), 848.   Vgl. zu ersten Ansätzen des Vergleichs von und mit Entwicklungsländern Zacher, Die Entwicklungsländer-Forschung in den ersten Jahrzehnten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, ZIAS 2008, 1 ff.; als Studie aus dem Institut etwa Fuchs, Soziale Sicherheit in der Dritten Welt, 1985. 10   Zacher (Hrsg.), Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs, 1977. 11   Zacher, Vorfragen zu den Methoden der Sozialrechtsvergleichung, in: ders. (Hrsg.), Methodische Probleme des Sozialrechtsvergleichs (Fn.  10), 21, 24 f.; relativierend dazu Becker, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung im Sozialrecht, in: ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung im Sozialrecht I, 2010, 11, 22. 12   Zacher, §  26: Sozialstaat, in: FS für P. Kirchhof, 2013, 285, 293. 13   Dazu und weiteren Bedeutungen Zacher, Das „Soziale“ als Begriff des deutschen und europäischen Rechts, in: DRV-Schriften Bd. 66, Das Soziale in der Alterssicherung, 2006, 11 ff. 14  Dazu Becker, in: ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung im Sozialrecht I (Fn.  11), 11, 26 ff. 15   Zacher (Hrsg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich, 1991. 8 9

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ein oder mehrere private Systeme vor, die deshalb denkbar einfach sind, weil sie nach einer bestimmten Zeit der Beitragszahlung eine mehr oder wenig leicht berechenbare, nach einer bestimmten Formel festgelegte Geldleistung im Ruhestand zur Verfügung stellen. Dass aber die Dinge viel komplizierter liegen, erschließt sich, wenn man den von Zacher im genannten Buch verfassten Grundlagenteil liest. In ihm wird insbesondere das Zusammenspiel verschiedener Sozialleistungen, die auf unterschiedliche, aber miteinander verbundene Bedarfslagen reagieren, erkennbar. Und in ihm werden die Baupläne einzelner Leistungssysteme im Detail erklärt und wird vor allem gezeigt, wie verschieden die Sicherungszwecke von scheinbar auf den ersten Blick ähnlichen Systemen sein können.16 Das erscheint durchaus mühevoll, ist aber notwendig. Einen Beleg dafür bietet etwa auch die derzeitige Debatte um die EuroRettungs­politik. Wer weiß, dass in den südeuropäischen Ländern die staatlichen Rentensysteme zugleich die Funktion der Armutsvermeidung übernehmen und ­neben ihnen keine allgemeinen Sozialhilfesysteme existieren,17 wird vielleicht die Brisanz von Rentenkürzungen in diesen Ländern besser verstehen können. Zu den rechtsvergleichenden und internationalrechtlichen Arbeiten des Instituts zählen aber nicht nur die hier zumindest zum Teil angesprochenen Veröffentlichungen im Rahmen großer Institutsprojekte. Natürlich zählen dazu auch die Doktor­ arbeiten, die unter der Leitung von Hans Zacher am Institut geschrieben worden sind und ganz unverkennbar auf dessen Ideen und Vorstellungen auf bauen. Sie umspannen ein breites Spektrum an Themen, etwa die sozialrechtliche Tätigkeit internationaler Organisationen18, das internationale Sozialrecht Deutschlands19, die Aufarbeitung bestimmter Sicherungssysteme im Rechtsvergleich 20 oder querliegende Fragen wie die Bedeutung von Selbstverantwortung und Solidarverantwortung 21 oder des Verfahrens im Sozialrecht22. Nimmt man die Arbeiten in die Hand, dann ist unverkennbar, dass Hans Zacher auch an seine Doktoranden hohe Ansprüche gestellt hat. Die Arbeiten sind, in mehrfachem Sinn, gewichtig. Dem Vernehmen nach wurden die von ihm akzeptierten Dissertationen in einem eigenen Maß gemessen, das sie ein bis zweimal erfüllen sollten, wobei der sogenannte „Zach“, der am Institut kursierte, bei ungefähr 500 Seiten gelegen haben muss.

16   Zacher, Einleitung und: Ziele der Alterssicherung und Formen ihrer Verwirklichung, in: ders. (Hrsg.), Alterssicherung im Rechtsvergleich (Fn.  15), S.  7 ff., 25 ff. 17   Vgl. zu den Vorkehrungen zur Mindestsicherung im Alter nur Becker, Leistungen für langjährig Rentenversicherte in Südeuropa – eine rechtsvergleichende Analyse, ZIAS 2012, 1, 13 ff. 18   Köhler, Sozialpolitische und sozialrechtliche Aktivitäten in den Vereinten Nationen, 1987. 19   Schuler, Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988. 20  Etwa Igl, Pflegebedürftigkeit und Behinderung im Recht der sozialen Sicherheit, 1987; Pflüger-­ Demann, Soziale Sicherung bei Invalidität in rechtsvergleichender und europarechtlicher Sicht, 1991. 21   Faude, Selbstverantwortung und Solidarverantwortung im Sozialrecht, 1983. 22   Simonis, Verfahren und verfahrensäquivalente Rechtsreformen im Sozialrecht, 1985.

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III.  Emeritus-Arbeitsplatz und die vertiefte Suche nach der Eigenheit des Sozialrechts Nach seiner Präsidentenzeit kehrte Hans Zacher an das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht zurück. Er forschte als Emeritus weiter, in seinem Austragsstüberl im 5. Stock. Dort – wie im Übrigen auch an der päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften in Rom 23 – stellte er sich Fragen nach der Demokratie, dem Rechts- und dem Sozialstaat. Er begab sich, und auch das zeichnete ihn als Forscher aus, erneut und weit ausgreifend auf die Suche nach der rechtlichen Ordnung des Sozialen. Das hatte verschiedene, sich gegenseitig beeinflussende Auslöser: erstens die Feststellung, dass der Sozialstaat, indem er sich aus sich selbst heraus entwickelt, indem die von ihm geschaffenen Institutionen ihre eigenen Rationalitäten verfolgen und die Pfadabhängigkeit zunimmt, Gefahr läuft, seine normativen Grundlagen aus dem Blick zu verlieren; zweitens die Wahrnehmung neuer Verhältnisse bzw. die Veränderungen der lebensweltlichen Bezugspunkte des Rechts, die den Sozialstaat insgesamt vor neue Herausforderungen stellen und zugleich das So­ zialrecht vor auch rechtsdogmatisch zu bewältigende Schwierigkeiten; und drittens wohl auch die zwischenzeitliche Distanz zu dem Forschungsgegenstand, die ein ­H inaustreten aus der Enge des positiven Rechts erlaubte und, um ein Bild von ­Tocqueville zur Vergleichung zu bemühen,24 einen neuen Blick von einem außerhalb gelegenen Hügel auf das schon einmal aus der Nähe untersuchte, in allen Niederungen durchschrittene Sozialrecht eröffnete. So beschäftigte sich Hans Zacher mit der Europäisierung im Sinne der Einwirkung einer neuen Schicht des Rechts, die ihm, weil sie nur ausnahmsweise sozialstaatlich gestaltet, wie ein „schräg auf das Sozialrecht fallendes Licht“ erschien.25 Er beschäftigte sich mit der Globalisierung, die durch Tatsachen, insbesondere die Veränderung des Wirtschaftslebens, die Voraussetzungen, die dem nationalen Sozialstaat zugrunde liegen, berührt.26 Und er beschäftigte sich mit dem „Einschluss“ ausländischer Personen in eine pluralistischer werdende Gesellschaft27 sowie den demographischen Veränderungen.28 Dabei betonte er zugleich (und soweit ersichtlich erstmals ausdrücklich) die Notwendigkeit rechtsdogmatischen Arbeitens.29 Ob das eine Reaktion auf die in den 23  Vgl. Zacher (ed.), Democracy – Reality and Responsibility, 2001; Glendon/Zacher (eds.), Universal Rights in a World of Diversity – The Case of Religious Freedom, 2012. 24   Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835–1840), zitiert nach der Reclam-Ausgabe 1985, 209: „Ich werde nicht jedes Detail ins Auge fassen, dafür aber mit größerer Sicherheit die allgemeinen Tatsachen. Wie der Reisende, der die Mauern einer großen Stadt hinter sich lässt und einen nahen Hügel erklimmt.“ 25   Zacher, Sozialrecht und Rechtsdogmatik, in: FS für Mestmäcker, 2006, 529, 550 f. 26  A.a.O. 27  Vgl. Zacher, Die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat: eine Geschichte des sozialen Einschlusses in Zeichen von Nationalisierung und Internationalisierung, ZIAS 2002, 193 ff.; ders., Deutschland den Deutschen? Die wechselvolle Geschichte des sozialen Einschlusses im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, ZIAS 2004, 639 ff. 28   Zacher, Kinder und Zukunft, in: FS für Heldrich, 2005, 1211 ff.; ders., Kinderrechte: Ein Beispiel für die globale Herausforderung des Rechts, in: FS für Scholz, 2007, 413 ff. 29   So vor allem zuerst in Zacher, Entwicklung einer Dogmatik des Sozialrechts, in: FS für Krause, 2006, 3 ff.

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letzten Jahren innerhalb der Rechtswissenschaft zunehmende Diskussion über ihre Methoden war, ist nicht zu erkennen. Allerdings verfolgte Zacher auch hier einen eigenen und weit gefassten Ansatz. Es ging ihm weniger um die Auslegung einzelner gesetzlicher Vorschriften, sondern um die Erfassung des Sozialrechts insgesamt. „Was fehlt“, so meinte er, sei „eine Darstellung der Gesamtheit, eine flächendeckende, systematische Darstellung des Allgemeinen, ein systematisches Programm, das es erlaubt, das Allgemeine vom Besonderen zu unterscheiden und das Besondere einzuordnen …“30. Bei dieser umfassenden Analyse sollte auf die Einbeziehung funktionaler Äquivalenzen nicht verzichtet werden.31 Für diese große Aufgabe wollte er weiter an den überkommenen Funktionen des Sozialstaats ansetzen.32 Auch blieb er auf dem Boden einer bestimmten Verfasstheit der Gesellschaft. Als „Grundregel“33 bzw. „elementare Formel“34 galt ihm weiterhin die Eigenverantwortung des Einzelnen und des Familienverbands, ohne jemals auf die katholische Soziallehre, die ihm als im christlichen Glauben verwurzelter Mensch nahe gelegen haben muss, direkt Bezug zu nehmen. Eine auf dem Markt basierende Wirtschaftsordnung und eine Sozialordnung erscheinen als komplementär, was Zachers Beschäftigung mit der sozialen Marktwirtschaft erklärt.35 Der Sozialstaat greift ein, wo in diesem Umfeld – das Zacher als „Normalität“ auffaßte – Korrekturen erforderlich sind, wobei aber die Korrekturen die Normalität verändern und deshalb beide zusammen erst die Wirklichkeit ergeben, an die das Maß des „Sozialen“ angelegt werden soll36. Zur Verklammerung und umfassenden Erklärung dieses Sozialstaats dient Zacher jetzt eine Grundnorm, nämlich „mehr Gleichheit“, die als Idee hinter allem Sozialen stehen soll.37 Das meint nicht völlige Gleichheit, die nicht herstellbar ist,38 sondern eine relative. Ohne von „sozialer Gleichheit“39 zu sprechen, sah Zacher den spezifischen Bezug der Grundnorm zum Sozialen darin, dass sich die Gleichheitsanforderungen auf Lebensverhältnisse beziehen und eine Ungleichheit ausgleichen sollen, die „entweder wirtschaftliche Ursachen oder wirtschaftliche Wirkungen hat“.40 Man könnte demgegenüber einwenden, dass der Sozialstaat gerade auch Freiheit ermögli  Zacher, in: FS Mestmäcker (Fn.  25), 556.   Zacher, in: FS Mestmäcker (Fn.  25), 559. 32  Grundl. zur Systematisierung Zacher, Grundtypen des Sozialrechts, in: FS für Zeidler, 1987, 571 ff. 33   Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR Bd. II, 3.  Aufl. 2004, §  28, 659 ff., Rn.  27. 34   Zacher, Die Dilemmata des Wohlfahrtsstaats, in: Stimmen der Zeit, 2001, 363, 367. 35   Zacher, Geburt, Entwicklung und Krise der Marktwirtschaft, und: Freiburger Kreise – ihr Ort in der europäischen Geschichte, jeweils in: Hans Maier (Hrsg.), Die Freiburger Kreise, Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, 2014, 195 ff. und 245 ff.; früher schon ders., Soziale Sicherung in der Sozialen Marktwirtschaft, VSSR, 1973, S.  97 ff. 36   Zacher, Globale Sozialpolitik – Einige Zugänge, in: FS für Herzog, 2009, 537, 548; konkreter dann 549. 37   Zacher, Annäherungen an eine Phänomenologie des Sozialrechts, in: FS für Papier, 2013, 435, 440. 38   Zacher, in: FS P. Kirchhof (Fn.  12), 285, 287. 39   Vgl. dazu auch Nußberger, Soziale Gleichheit – Voraussetzung oder Aufgabe des Staates?, DVBl. 2008, 1082, 1084, 1086. 40   Zacher, in: FS Papier (Fn.  37), 448. 30 31

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chen soll,41 wie es Lorenz von Stein schon zu Beginn der deutschen Staatlichkeit hervorgehoben hat42. Aber das liegt auf einer anderen Ebene. Die von Zacher gemeinte Gleichheit dient ihrerseits der Realisierung von Freiheit, wobei ihr die Freiheit aber als „Normalität“, einem zumindest gedanklichen Ausgangspunkt, vorausliegt. Die Begründung der Forderung nach Gleichheit ist nach Zacher denkbar grundsätzlich: „Das Gelingen einer Gesellschaft oder eines Gemeinwesens hängt davon ab, wie die Gesellschaft und ihr Gemeinwesen mit der Gleichheit und der Verschiedenheit der Menschen umgehen.“43 Der Vorteil des in den letzten Jahren von Zacher herausgearbeiteten Ansatzes liegt darin, dass er das Verhältnis zwischen Sozialrecht einerseits, verstanden als „Nebenund Ineinander von externalisierendem Sozialleistungsrecht und internalisierend sozial gestalteten sonstigem Recht“44, und den „allgemeinen Lebensvollzügen der Produktion, Bereitstellung und Verteilung von Gütern“ andererseits, in die Betrachtung einbezieht.45 In gewisser Weise wird damit das Sozialrecht funktional in eine Gesamtgestaltung der Lebensordnung eingebettet. Das führt vor allem dann weiter, wenn der Ort des Sozialrechts nicht von vornherein festliegt, weil es an einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Festschreibung fehlt oder sich diese Festschreibung verändert. Veranschaulichen lässt sich damit etwa die Eigenheit der Supranationalisierung, die nach Zacher darin besteht, dass die „allgemeinen Lebensvollzüge“ immer stärker von überstaatlichen Gemeinschaften wahrgenommen werden, die Verantwortung für die Sozialleistungen aber „wesentlich nationaler Natur“ bleibt.46 Und ebenso werden die Schwierigkeiten einer sozialen Globalpolitik sichtbar, die sich nicht auf Korrekturen beschränken darf, sondern auch „Wege finden muss, auf die Normalität Einfluss zu nehmen“47. Allerdings blieb Zacher skeptisch, ob für die Ordnung der hier nur angedeuteten komplizierten Verhältnisse ein „richtig oder falsch“ angegeben werden kann. Die Forderung nach Gleichheit ist zu abstrakt, und auch die dem Sozialrecht zugrundliegenden normativen Leitlinien, die Zacher als vorrechtliche Grundsätze qualifiziert hat – Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität, Teilhabe – sind zu unbestimmt, um über die Richtigkeit von sozialstaatlichen Interventionen verlässliche Aussagen treffen zu können. Besteht über diese Richtigkeit aber kein allgemeiner Konsens mehr, so bedarf es der „Verständigung und Befriedung“, und das bezieht sich nach Ansicht Zachers nicht nur auf die hinter dem Sozialrecht stehenden allgemeinen Diskurse und

41   Wenn auch nicht nur, vgl. aber auch Heinig, Der Sozialstaat im Dienste der Freiheit. Zur Formel vom sozialen Staat in Art.  20 Abs.  1 GG, 2008. 42  Vgl. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 3, Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848, 3.  Aufl. 1921, 104. 43   Zacher, in: FS Herzog (Fn.  36), 539. 44   Zacher, in: FS Herzog (Fn.  36), 546. 45   Zacher, in: FS Papier (Fn.  37), 450 f. 46   Zacher, in: FS Papier (Fn.  37), 457. Vgl. auch Zacher, Wird es einen europäischen Sozialstaat geben?, EuR 2002, 147 ff. Zu den Überlagerungen aber etwa Becker, Sozialstaatlichkeit in der Europäischen Union, in: Verfassungszustand und Verfassungsentwicklung der Europäischen Union, EuR Beih. 2/2015, 19, 27 ff. 47   Zacher, in: FS Herzog (Fn.  36), 567.

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politische Aushandlungsprozesse, sondern auch auf dessen konkrete Ausgestaltung.48 Um diese Ausgestaltung nicht partikularen Interessen zu überlassen, folgt daraus die schon früher erhobene Forderung nach einer Institution49 bzw. nach einem „eigenen Überbau des Denkens und der Institutionen“50, womit zugleich dem Umstand begegnet werden sollte, dass die Sozialordnung bis heute nicht ähnlich breit ausgebaut erforscht wird wie die Wirtschaftsordnung.51

IV. Schlußwort In diesen Gedanken kommt zugleich der hohe ethische Anspruch zum Ausdruck, den Hans Zacher Zeit seines Lebens verfolgt hat. Er betonte die Verantwortung der Grundlagenforschung im Sozialrecht, die Verantwortung dafür, „die Normenbestände und Regelungsmöglichkeiten unabhängig von der politischen Nachfrage aufzudecken“52, und er betonte die Verantwortung der Rechtswissenschaft im Allgemeinen „für die Richtigkeit des Rechts“53. Aufgabe des Wissenschaftlers sei es, für die „Vielfalt der Entwürfe … bereit zu sein, sich nach ihr auszustrecken“54. Dann spüre man „die Anstrengung, die darin liegen kann, und die Freude, die es bereitet“55. Diese Anstrengung und Freude haben Hans Zacher geprägt und bis zuletzt geleitet. So hinterlässt er nicht nur der Rechtswissenschaft tiefreichende Erkenntnisse, auf denen sie weiter auf bauen kann. Er hinterlässt auch ein Vermächtnis für die weitere sozialrechtliche Forschung. Und er spornt uns an, den Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis weiter zu gehen, indem er uns durch sein Leben und sein Werk gezeigt hat, dass sich das Ausstrecken nach dieser Erkenntnis lohnt.

  Zacher, in: FS Papier (Fn.  37), 460.   Zacher, in: FS Papier (Fn.  37), 462 f.; vgl. zum Vorschlag für die Schaffung eines neuen Sachverständigenrats auch Zacher, Der deutsche Sozialstaat am Ende des Jahrhunderts, in: Leibfried/Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat, 2000, 53, 79 ff. 50   Zacher, in: FS Kirchhof (Fn.  38), 295. 51   Zacher, in: Stimmen der Zeit (Fn.  34), 363. 52   Zacher, in: FS Lorenz (Fn.  5 ), 870. 53   Zacher, Mein 20. Jahrhundert im Recht, Rechtshistorisches Journal 19 (2000), 682, 688. 54   Auf der Suche nach dem Sinn, SZ-Umfrage unter Wissenschaftlern und Politikern, Süddeutsche Zeitung v. 2.1.1992. 55  A.a.O. 48 49

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Prof. Dr. Michael Stolleis, Frankfurt/Main Das Sozialrecht ist als wissenschaftliches Fach erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, genauer: zwischen 1960 und 1980. Erst damals setzte sich die umfassende Bezeichnung „Sozialrecht“ für den heterogenen Normenkomplex durch. Was einmal seit 1883 und dann ab etwa 1900 ein Nebeneinander von Arbeiter- und Angestelltenversicherung, Kriegsopferversorgung, Fürsorge, Jugendwohlfahrtsrecht und vieles andere gewesen war, trat nun erst in den fünfziger und sechziger Jahren als „Einheit in der Vielheit“ ins Bewusstsein. Ab 1953 arbeitete das neue Bundessozialgericht, die Krankenversicherung wurde neu geordnet (1955/56), 1957 gelang die große „Adenauersche“ Rentenreform. All dies machte deutlich, dass im Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes mehr stecke als eine wohlklingende aber nichtssagende Formel, nämlich ein genuiner Gestaltungsauftrag, dessen Legitimation vor allem darin lag, einen gewissen, für das Funktionieren der Demokratie unverzichtbaren so­zialen Ausgleich herzustellen. Mit der Festigung des jungen Gemeinwesens verdichtete sich auch die Überzeugung, hinter den sozialrechtlichen Teilgebieten sei ein systemischfunktionaler Kern verborgen. 1966 wurde erstmals eine Sozialenquete erstellt, um eine Zusammenschau aller Leistungen zu ermöglichen. Es folgte das Sozialbudget, mit dem erstmals die materiellen Ausmaße dieses riesigen Subsystems der Demokratie sichtbar wurden. Schließlich entstand das Vorhaben eines Sozialgesetzbuchs, das ab 1970 von einer Expertengruppe unter Vorsitz von Zacher vorbereitet wurde. Als es dann ab 1976 erschien, war den meisten schon selbstverständlich geworden, dass es ein „Sozialrecht“ als Rechtsgebiet und als Wissenschaftsdisziplin gab. Aber nochmals zurück in die fünfziger Jahre. Es war der junge Hans Zacher mit seiner 1960/61 abgeschlossenen legendären Habilitationsschrift, der das Sozialrecht der frühen Bundesrepublik sowohl in seinen Entwicklungsstufen historisierte als auch neu strukturierte1. Die Münchner Fakultät hatte zwar eine Venia legendi für Sozialrecht noch abgelehnt, aber Zacher, rasch nach Saarbrücken berufen und dann wieder in München, setzte sich durch. Unermüdlich warb er, in dem von ihm 1965 1   H. F. Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1980, mit einer Einleitung (XXXIX–CII), die über Entstehung und Motive des Buchs ausführlich berichtet.

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mitgegründeten Sozialgerichtsverband 2 (1982 signifikant in „Sozialrechtsverband“ umbenannt!), auf dem Deutschen Juristentag, in zahllosen Vorträgen, im Hörsaal, in der Fakultät, in der Max Planck-Gesellschaft mit der Projektgruppe für „sein“ Institut 3. Stets postulierte er für eine umfassende Sicht, begründete sie historisch, sozial­ ethisch und dogmatisch, vor allem aus dem Verfassungsrecht, und entwarf Grund­ züge einer Dogmatik „mittlerer Reichweite“, die der Funktionalität der Teilgebiete entsprach. Dazu rezipierte er in aller Breite die politologische und soziologische Lite­ ra­t ur zur Analyse des modernen Wohlfahrtsstaats und suchte dort Kontakte. Die „Geburt“ eines Faches ist gewiss nie die Leistung einer einzelnen Persönlichkeit. Die Zeitumstände müssen danach sein, ein kollektiv empfundenes Bedürfnis nach einer neuen Orientierung, eine Verdichtung der Publikationen und der Zeitschriften4. Aber letztlich sind es doch wieder starke Einzelne. Was man in der wissenschaftlichen Durchsetzung des Europarechts dem Hamburger Hans Peter Ipsen zuschreibt, das war für das Sozialrecht eben Hans Zacher. Die Verdienste der Älteren5, von allem von Walter Bogs und Georg Wannagat sollen gewiss nicht geschmälert werden, aber es war wirklich Hans Zachers starker Wille, seine Kunst der Überredung, seine nur ihm als Öffentlichrechtler mögliche Verbindung von Verfassungsrecht und einer Vision der Neukonzeption des „Rechts der sozialen Sicherheit“, die den Durchbruch bewirkte. Vergleichbare Verdienste im Bereich der Soziologie des Wohlfahrtsstaates hat der mit ihm eng zusammenarbeitende Franz-Xaver Kaufmann6. Nachdem die Einheit des Sozialrechts zunächst durch die Kompetenzen der neuen Sozialgerichtsbarkeit konstituiert worden war, löste Zacher das Sozialrecht von diesem Kompetenzkatalog ab und begründete die Einheit des Sozialrechts aus dem Geist des Verfassungsrechts. Das hatte den großen Vorteil, dass sozialrechtliche Materien einbezogen werden konnten, die nicht zur Sozialgerichtsbarkeit, wohl aber funktional zum Sozialrecht gehörten. Von Anfang an warb Zacher auch erfolgreich um die Einbeziehung der wenigen, isoliert arbeitenden Hochschullehrer des Sozialrechts. Die „Sozialrechtslehrertagungen“ gehen auf ihn zurück. Erstmals hatte das Sozialrecht ein Forum. Nach aller Erfahrung sind es solche institutionellen Kerne, die der Selbstverständigung eines 2   H. F. Zacher, 25 Jahre Deutscher Sozialrechtsverband e. V., in: Selbstverwaltung in der Sozial­ versicherung. Bundestagung des Deutschen Sozialrechtsverbandes e. V. 11. und 12. Oktober 1990 in München, Wiesbaden 1991, 7–16. 3   B. Schulte – H. F. Zacher, Der Auf bau des Max Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht Bd. 9 (1981) 165–196. 4   Siehe etwa M. Stolleis, Wie entsteht ein Wissenschaftszweig? Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht nach dem Ersten Weltkrieg, in: H. Bauer – D. Czybulka – W. Kahl – A. Vosskuhle (Hg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht. Symposion für Reiner Schmidt, Tübingen 2002, 1–13; speziell zum Sozialrecht I. Mikešic, Sozialrecht als wissenschaftliche Disziplin. Die Anfänge 1918–1933, Tübingen 2002. 5   Zacher nennt (Anm.  1) 9 f. Gerhard Mackenroth, Walter Auerbach, Walter Bogs, Hans Achinger, Josef Höffner, Hans Muthesius, Ludwig Neundörfer, Wilfried Schreiber, Walter Rohrbach, Erich Roehrbein, Carl Meyrich und Ludwig Preller, gefolgt von Elisabeth Liefmann-Keil, Viola Gräfin von Bethusy-Huc, Helmut Meinhold und Wilfried Schreiber. 6   Siehe das Gespräch Kaufmanns mit Stephan Lessenich „Die Moderne ist das fortgesetzte Stolpern von Krise zu Krise“, in: Zeitschrift für Sozialreform 61 (2015) 129–146, in dem mehrmals auf Zacher Bezug genommen wird.

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Fachs dienen, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit stiften und wenn man will, auch zu nützlichen Netzwerken führen. Dass hinter dieser Vision sozialer, vom Recht vermittelter Gerechtigkeit Zachers feste Glaubenswelt, seine Erfahrungen des Kriegs und sehr bescheidener materieller Anfänge und dann auch der Optimismus der Wiederauf bau-Generation standen, ist in vielen Würdigungen seiner Person und seines Werks betont worden7. Die damaligen Münchner Assistenten (Günter Dürig, Martin Heckel, Roman Herzog, Peter Lerche, Reinhold Zippelius, Klaus Stern) fühlten sich insoweit untereinander sehr verbunden. Zur historischen Seite der Vision nur so viel: Sowohl in der Habilitationsschrift als auch in den Begründungskolloquien der Projektgruppe der MPG sowie immer wieder in kleineren Arbeiten betonte Zacher einerseits die elementare überzeitliche Angewiesenheit des Menschen als habituell schwaches Einzelwesen auf die Hilfe anderer – das war gewissermaßen die aristotelische Linie. Andererseits sah er aber deut­ licher als andere die historischen Wachstumsringe des Sozialrechts der Neuzeit: Kirchliche, staatliche und freie bürgerliche Armenfürsorge, Soldatenversorgung, Gemeindekassen und erste betriebliche Hilfen, die sich aber allesamt in der bedrohlich wachsenden „Sozialen Frage“ als unzureichend erwiesen. So kam es zu der Idee, staatlichen Zwang mit der genossenschaftlichen Selbstverwaltung zu verbinden, die Kranken-, Unfall- und Alters- und Invaliditätsversicherung zu schaffen, sozusagen zum genialischen Sprung in die Moderne. Er wird letztlich Bismarck zugeschrieben, und ich meine, zu Recht. Von da an galt Erweiterung, Ausbau, Krisenmanagement im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in zwei Geldentwertungen, aber die Architektur des Gebäudes stand, festgeschrieben in der „Reichsversicherungsordnung“ von 19118. Zacher hatte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt, wie dieses Gebäude ­restauriert wurde, wie es Um- und Anbauten gab, etwa mit der Fürsorge für Flüchtlinge und Vertriebene sowie mit Lastenausgleich und der sog. Wiedergutmachung für die jüdischen Opfer. Das Sozialrecht war also eine teils feste oder jedenfalls zähe Materie (so das Sozialversicherungsrecht), teils eine durch die Politik flüssig gestaltbare, die aber deshalb auch unsystematisch und ungeordnet geriet. Jede Legislaturperiode brachte neues Material. Dieses Konglomerat von Zwecken, Finanzierungsmodellen, Adressatenkreisen, verflochten insbesondere mit Arbeits- und Steuerrecht, bedurfte einer ordnenden Hand. Zacher unterschied mit seinem Blick für die Synthese zunächst die Lebens­ risiken im typischen Verlauf von Biographien, dann die vom allgemeinen Recht entwickelten Lösungen (Arbeit, Erwerb, Vermögen, Markt der Bedarfsgüter). Er nannte sie internalisierende Lösungen, weil sie in den Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung gehörten. Ihnen stehen die genuin sozialrechtlichen Lösungen gegenüber. Sie werden trotz unterschiedlicher Finanzierung und Struktur durch den „sozialen Zweck“ zusammengehalten, also letztlich vom Verfassungsgebot des So­ zialstaats. Das waren für Zacher die so genannten externalisierenden Lösungen, ver  Siehe etwa B. Baron v. Maydell – E. Eichenhofer, Einleitung, in: H. F.- Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht, Heidelberg 1993, VII–XIII; U. Becker – F. Ruland, Einleitung, in: H. F. Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II, Heidelberg 2008, VII–XII. 8   M. Stolleis, History of Social Law in Germany, Berlin Heidelberg 2014, 29–74. 7

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eint durch ihren „sozialen Zweck“. Letztere wiederum wurden nun gedanklich neu sortiert, und zwar im Lichte ihrer spezifischen Funktionen. Am Ende sah man viel klarer: (1)  Vorsorgesysteme, die vor allem Sicherheit durch Gruppensolidarität gewähren sollen, (2)  Entschädigungssysteme für Fälle, in denen das Gemeinwesen für den Schaden eintreten will oder muss, etwa bei Kriegs-, Regime-, Verbrechensopfern, schließlich (3)  Systeme staatlicher Hilfen für spezielle Not- oder Bedarfslagen9. Das war die Grundlage für die sozialrechtliche Dogmatik, die jedenfalls bei den genannten Teilsystemen eine immanente Logik voraussetzte, von der ausgehend man „Systemgerechtigkeit“ verlangen konnte. Gerechtigkeit im Kontext der Sozialver­ sicherung bedeutet (nichtnumerische!) Äquivalenz zwischen Leistung und Gegenleistung, eingerechnet den unschätzbaren Vorteil des Schutzes vor typischen Risiken. Gerechtigkeit bei Versorgungsleistungen bedeutet „angemessenen“ Ausgleich für Verluste, die nicht auszugleichen sind. Gerechtigkeit bei der Gewährleistung des Existenzminimums heißt Wahrung der Menschenwürde. Daneben soll Gerechtigkeit zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern, zwischen Versicherten und Nichtversicherten sowie generell zwischen Leistenden und Leistungsempfängern herrschen. Es gilt also, Operationalisierbarkeit der Gerechtigkeit auf allen Ebenen zu erreichen, und zwar durch Beobachtung sozialer Indikatoren und durch Abwägung konfligierender Ziele. Dies alles soll umsetzbar sein in jene zugleich juristisch genaue und gemeinverständliche Sprache, die auch das Recht des Sozialstaats auszeichnen muss, wenn er denn zugleich transparenter Rechtsstaat sein will. Was an Dogmatik entwickelt wird, ist nur verdichtete und konsentierte Sprachform, um das Recht berechenbar zu machen. Hans Zacher hatte die dazu nötige Sprachbegabung. Immer wieder überraschte er mit griffigen Formeln, die sich alsbald in den Köpfen festsetzten, oder er umschrieb Sachverhalte so plastisch, dass sie als Ausgangspunkt für Begriffsbildung dienen konnten. Diese Eigenschaften – von Zachers herausragender Stellung im deutschen Sozialrecht ganz abgesehen – waren es auch, die ihn, wie gesagt, nach 1970 zum Gründungsvorsitzenden der Sachverständigenkommission für das Sozialgesetzbuch machten. So abgeschliffen Gesetzestexte auch sein mögen, zahllose Hände und Köpfe sind da tätig, so klingt es doch nach „Zacher“, wenn es in §  1 Abs.  1 S.  2 SGB I heißt, das Recht des Sozialgesetzbuchs (Sozialrecht) solle dazu beitragen „ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und insbesondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zu Selbsthilfe, abzuwenden und auszugleichen“. Das juristisch geschulte Ohr hört hinter diesen Worten primär den Text des Grundgesetzes, die Garantie der Menschenwürde, das Grundrecht auf freie Selbstentfaltung, den Schutz der Familie und mit dem „Recht zur Selbsthilfe“ auch das Leitprinzip der Subsidiarität. Aber es ist auch Zachers „Ton“ und es waren seine wichtigsten Anliegen, eine den Kernbereichen des 9   Besonders prägnant in: Grundtypen des Sozialrechts (FS Zeidler, 1984), in: Abhandlungen zum Sozialrecht, Heidelberg 1993, 257 ff.

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Sozialrechts immanente Struktur ans Licht zu heben und zugleich das Sozialrecht auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beziehen. Die Engführung von Verfassungsrecht und Sozialrecht bedeutete auf der einen Seite, die äußerst knappen Textstellen des Grundgesetzes, die sich für das Sozialrecht nutzen ließen, angemessen zu interpretieren, auf der anderen Seite aber auch, das Sozialrecht selbst so zu gestalten, dass es den Vorgaben der Verfassung entsprach und entspricht. Das Grundgesetz selbst gab nicht viel her. Aus Gründen, die teils in der Unsicherheit der Zukunft, teils in parteitaktischem Kalkül lagen, formte es den Sozialstaat nicht aus, sondern sagte nur das Allernötigste. So sehr man dies bedauern mochte, für jemanden wie Hans Zacher war es eine Herausforderung. Er sah und formte das Sozialrecht nach Maßgabe des Grundgesetzes, der von ihm genau beobachteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozial­ gerichts. Zugleich nahm er die „Strukturen“ des Sozialrechts zu Hilfe, um sie in Verfassungsrecht zu überführen. Das gab ihm auch die Freiheit, den Gesetzgeber auf gleicher Augenhöhe anzutreiben oder zu kritisieren, etwa bei den immer wieder zu beobachtenden Verstößen gegen tragende Systemgedanken. Zacher hat die deutsche Wissenschaftslandschaft verändert, fast möchte man sagen umgepflügt. Man vergleiche nur: Nachdem ihm, fast kurioserweise, um 1960 die Venia für Sozialrecht nicht gegeben wurde, ist Sozialrecht heute ein völlig anerkanntes Fach. Dieses Fach hat gewiss auch seine politischen Konjunkturen, aber es ist heute so fest etabliert, dass es zum Kanon dessen gehört, was an der Universität über die Grundzüge der sozialen Sicherung vermittelt werden soll und was später vertiefend ausgebaut werden kann, etwa in Dissertationen. Zahllose junge Leute sind seitdem, auf diese Weise ausgestattet, in die Sozialverwaltungen und an die Sozial­ gerichte gegangen. Zachers Schüler sind als Hochschullehrer hinausgegangen und haben dort auf je eigene Weise gewirkt und den Impuls weitergetragen. Eine spätere Wissenschaftsgeschichte des Sozialrechts wird das dabei entstandene Netzwerk nachzeichnen. Unzweifelhaft wird Hans Zacher dabei als Gründungsfigur des Sozialrechts der Bundesrepublik bestätigt werden10. Wer je mit ihm in nähere Berührung gekommen ist, wird diese zugleich kraftvolle und sensible, dynamische und immer wieder über die Grundlagen nachsinnende große Persönlichkeit nicht vergessen.

10   In diesem Sinn durchweg etwa H.-J. Papier, Hans F. Zacher zum 65. Geburtstag, AöR 118 (1993) 321–324; P. Lerche, Hans F. Zacher zum 75. Geburtstag, in: NJW 2003, 1853; E. Eichenhofer, Hans F. Zacher zum 80. Geburtstag, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 2008, 347–348; ders., Nachruf auf Hans Zacher, in: VSSR 2/2015, 111–117; F. Ruland, Nachruf für die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (unveröff.); H. Hofmann, Hans F. Zacher, Nachruf für die Bayerische Akademie der Wissenschaften (unveröff.); H. Prantl, Der Erfinder des Sozialrechts, in: Süddeutsche Zeitung v. 21.2.2015; A. Nußberger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. Juli 2015.

Staatsrecht des Sozialen: Hans F. Zachers wissenschaftliches Lebensthema Eine Würdigung anhand der Diskussionsbeiträge auf den Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung von

Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth Inhalt I. Hans F. Zachers Werk verstehen – ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 II. Hans F. Zachers Werk: Kristallisationspunkte des Sozialen im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 1. Sozialrecht und Soziales im Rahmen des Grundgesetzes: Mehr Gleichheit ohne Freiheitsverluste . . 681 a) Das „Soziale“ als offener Suchbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 b) Soziales: Balance zwischen nachrangiger Gleichheit und vorrangiger Freiheit . . . . . . . . . . . . 682 2. Weitere Berührungsflächen zum öffentlichen Recht, u.a. zum Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . 684 a) Grundrechte und Grundrechtsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684 b) Vom Sozialrecht inspiriertes (allgemeines) Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 3. Ius semper reformandum: Sozialpolitik, Grenzen des Machbaren, Internationalität . . . . . . . . . . 687 a) Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 b) Gespür für die (Überwindung der) Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 c) Internationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 III. Was bleibt? Hans F. Zacher – Vorbild und Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689

I.  Hans F. Zachers Werk verstehen – ein Versuch „Mein wissenschaftliches Leben gehörte – ich weiß nicht, ob Sie das wissen – dem Sozialrecht.“1 Einige Jahre vor seinem Tod hielt Hans F. Zacher einer Kollegin, die auf einer Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung zu einem Thema mit sozialrechtlichem Bezug vorgetragen hatte, nicht nur die „Leidenschaft Ihrer Einseitigkeiten“2 1   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  369; direkt im Anschluss heißt es: „Nicht nur, aber doch weitgehend. Und damit auch der Sozialpolitik.“ 2   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  369.

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vor. Mit der Frage, ob sie wisse, was ihn als Wissenschaftler ausmache, zog er wenig verklausuliert in Zweifel, dass sie wisse, was sie sage. Hans F. Zacher hat sich – mit sehr selbstbewusstem 3 Sinn für Kritik,4 viel Realitätssinn5 und robustem Witz6 – über mehr als ein halbes Jahrhundert7 als Personifizierung sozialrechtlicher Relevanz im Diskursraum der Wissenschaft vom öffentlichen Recht verstanden. Ihn nicht zu kennen, konnte für ihn nur bedeuten, das Sozialrecht nicht zu kennen, und umgekehrt: Zu wissen, wer er war, schien ihm die beste Voraussetzung dafür, „das Soziale“ wissenschaftlich angemessen zu reflektieren. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie Hans F. Zacher sein „wissenschaftliche[s] Lebensthema“8 – „mein zentrales Lebensfach“9 – verstanden hat. Was war für ihn „das Soziale“, das er im Sozialrecht einschließlich seiner unvermeidbaren Verbindungen zur Sozialpolitik abgebildet sah? Was machte das Sozialrecht für ihn zu einem relevanten Bestandteil von Verfassungs- und Verwaltungsrecht einschließlich der europäischen, inter-, trans- und supranationalen Dimensionen? Bei all diesen Bemühungen, Hans F. Zachers Denken zu erschließen, wirken seine Diskussionsbei3   Zacher, VVDStRL 27 (1969), S.  102: „Ich habe den Eindruck, Sie haben die Mühlen der Gerechtigkeit überhaupt weitgehend lahmgelegt.“ Zacher, VVDStRL 39 (1981), S.  176 f.: „Ich möchte gar nichts zur Sache sagen, sondern allen Beteiligten der vorausgehenden Diskussion meine Bewunderung zurufen, wie man in so wenigen Minuten eine Sache so gründlich durcheinander bringen kann, wie das jetzt eben geschah.“ Zacher, VVDStRL 46 (1988), S.  299: „Damit haben wir Sie offenbar überfordert.“ 4   Wie nicht zuletzt seine zahlreichen (und mitunter einem Ko-Referat sich annähernden) Diskus­ sionsbeiträge belegen, s. etwa Zacher, VVDStRL 42 (1984), S.  98: „Ich werde heute – entgegen allem, was mir hier als Gewohnheit unterstellt wird –, nicht sagen, daß ich alles anders gemacht hätte und daß ich finde, daß man alles hätte anders anlegen sollen.“ Ähnl. Zacher, VVDStRL 43 (1985), S.  224; Zacher, VVDStRL 24 (1966), S.  234–238, hier: S.  234: „Ich möchte es nicht den Referenten zum Vorwurf machen, daß sie das nicht gebracht haben; aber ich glaube, es muß doch kurz konstatiert werden.“ Zacher, VVDStRL 33 (1975), S.  273: „Ich habe auch ganz wenig frontal gegen die Referate zu sagen.“ Zacher, VVDStRL 39 (1981), S.  415: „Was er […] gesagt hat, kann nicht stehen bleiben.“ Zacher, VVDStRL 40 (1982), S.  297: „Dazu zwei Bemerkungen, zu Fragen, zu denen ich in den Referaten […] nichts gefunden habe.“ S. bspw. auch – als Anmerkung zum Vortragsthema „Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht“ (Staatsrechtslehrertagung 1969) – Zacher, VVDStRL 28 (1970), S.  233–238; ders., VVDStRL 37 (1979), S.  289–294; ferner Zacher, VVDStRL 29 (1971), S.  134: „Für mich war unter all dem Bedeutsamen, was heute gesagt worden ist, der bewegendste Satz der von […].“ Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 (338): „Das ist eine Bemerkung, die uns nichts nützt; die natürlich wahr ist, aber auch Wahrheiten können unnütz sein.“ 5   Zacher, VVDStRL 25 (1967), S.  431: „Es wird immer gemauschelt.“ (Zu informellen Absprachen zwischen Verwaltung und Unternehmen im Subventionswesen). Zacher war einer der Berichterstatter auf der Staatsrechtslehrertagung 1966 zum Thema „Verwaltung durch Subventionen“ gewesen. – Zur „Scheinrationalität“, die der Politikberatung durch Sachverständige zumindest auch anhafte, Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151 (153). 6   S. nur Zachers Zwischenruf, VVDStRL 33 (1975), S.  178: „Zum Schluß kommen wir zum bremsenlosen Fesselballon!“ Ferner Zacher, VVDStRL 38 (1980), S.  153: „[F]ür mich ist das nicht nur eine Binsenweisheit; sondern für mich ist das die Butter aufs Brot.“ Zacher, VVDStRL 42 (1984), S.  300: „Aber wenn wir Bayern einmal an der Spitze des Fortschritts stehen, dann hört das ja niemand.“ 7  Der erste Diskussionsbeitrag Zachers erfolgte auf der Tagung 1962 (vgl. VVDStRL 21 [1964], S.  130), der letzte auf der Tagung 2013 (vgl. VVDStRL 73 [2014], S.  4 47). 8   Zacher, VVDStRL 69 (2010), S.  127: „Lassen Sie mich an Hand meines wissenschaftlichen Lebensthemas, des Sozialen, deutlich machen, wie ich das sehe.“ S. auch Zacher, VVDStRL 48 (1990), S.  271: „Sie wissen, daß ich viel investiert habe in meinem Leben – ob etwas herausgekommen ist, ist eine andere Frage – im Sozialrecht.“ 9   Zacher, VVDStRL 73 (2014), S.  4 47 (447 a.E.).

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träge auf den Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung wie Detektoren, die helfen, dem, was ihn angetrieben und geprägt hat, auf die Spur zu kommen. Zacher war mehr als fünfzig Jahre ein regelmäßiger, meinungsstarker Diskutant, dem es wichtig war, als Sozialrechtler in der institutionellen Mitte der Staatsrechtslehre präsent zu sein.10

II.  Hans F. Zachers Werk: Kristallisationspunkte des Sozialen im Kontext 1.  Sozialrecht und Soziales im Rahmen des Grundgesetzes: Mehr Gleichheit ohne Freiheitsverluste a)  Das „Soziale“ als offener Suchbegriff In Zachers Werk spielt das Sozialrecht fraglos die zentrale Rolle. Es dominieren weniger Miniaturen, die er ohne Zweifel beherrscht,11 die ihn aber nicht in erster Linie interessieren. Es geht ihm um die großen Linien, die Grundfragen, die das Verständnis der Details fundieren, wie seine meist sehr umfangreichen Beiträge in Hand­ büchern, etwa dem Handbuch des Staatsrechts, belegen.12 Sozialrecht ist für ihn immer die andere Seite des öffentlichen Rechts – des Verfassungs- und (sonstigen) Verwaltungsrechts –, weniger ein Einflussfeld für aktuelle rechtsphilosophische oder sozialtheoretische Debatten, die ihm letztlich fremd bleiben und die er deshalb nur streift.13 Er bevorzugt Erklärungsansätze mittlerer Reichweite, er denkt eher deskriptiv-reproduktiv als produktiv-kritisch-neukonzeptionierend, ihm geht es mehr um die kreative Systematisierung vorhandener Denkbestände,14 und zugleich ist sein Denkstil heuristisch-fordernd, nicht durchweg darauf bedacht, Lösungen und Ergebnisse zu erzielen. Das Soziale umschreibt er mit manchmal sehr eigentümlichen, fast blumigen, eher vagen Worten, die „das Soziale“ zu einem Platzhalter für etwas ma  Das schloss mahnende Kritik an der Institution nicht aus, s. etwa Zacher, VVDStRL 60 (2001), S.  131 (132): „Die Staatsrechtslehre muß aus all den Erfahrungen“ in der NS-Zeit „die Lehre ziehen, daß sie das Richtige aus sich heraus sucht.“ Zur Staatsrechtslehrervereinigung Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 2013, S.  37 ff., 145 ff., 187 ff. 11   Man vgl. die Publikationslisten in Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993, S.  619 ff. (i.F. zit. als Abhandlungen zum Sozialrecht I); ders., Abhandlungen zum Sozialrecht II, 2008, S.  709 ff. 12   S. etwa Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht I (Fn.  11), S.  3 ff., 73 ff. und passim; ders., Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  3 ff., S.  241 ff. und passim; eine monumentale Summe präsentiert Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, 2001, S.  333–684. 13   Zacher, VVDStRL 41 (1983), S.  89: „Aber nun bin ich eben keine philosophische Natur; und darum kann ich das nicht nachvollziehen.“ (Zu einem, wie Zacher vermutet, rechtsphilosophischen Argument); vgl. Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht I (Fn.  11), S.  311 mit den dortigen Fn.  26 f., S.  324 (zu John Rawls), S.  325 mit dortiger Fn.  75 (Verweis auf Otfried Höffe). 14   Hierzu gehört etwa die „Grundformel von Arbeit, Einkommen, Bedarfsdeckung und Unterhalt“, Zacher, Grundlagen (Fn.  12), S.  349, oder die Unterscheidung zwischen „internalisierenden und […] externalisierenden Lösungen“ im (Sozial-)Recht, Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht I (Fn.  11), S.  261. 10

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chen, das Zacher schwer beschreibbar erscheint15 – trotz aller Versuche nach konkreten Ortbestimmungen, die er selbstverständlich auch gibt (dazu sogleich b.). Ihm geht es mit diesem offen-assoziativen Begriff des Sozialen darum, das Terrain der Denkwürdigkeiten abzustecken und Denkbedarfe zu signalisieren, tentativ-tastend Spannungslagen, Phänomenen und Syndromen auf die Spur zu kommen.16 Er will Grauzonen nicht ausweichen.17 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Zacher ein Problementdecker ist, der dafür sorgt, dass Themen des Sozialen nicht nur im Forum der Staatsrechtslehre auf Aufmerksamkeit rechnen können. Die besondere Situation von Menschen, die benachteiligt bzw. nicht beachtet werden – Frauen,18 Kinder,19 Menschen mit Behinderungen 20 – sowie Themen der intergenerationellen Gerechtigkeit21 bzw. der demographischen Alterung22 nimmt er schon zu einer Zeit wahr, als das Nachdenken darüber noch nicht selbstverständlich gewesen ist. Auch den Gedanken der (Um-) Verteilung, einen klassischen Topos der Sozialpolitik, variiert er mit Blick auf das Umweltrecht, wenn es um die Verteilung von Umweltbelastungen geht.23 Außerdem verwendet er ihn, um die Verteilung von durch wissenschaftliche Innovationen abhängigen Lebensbedingungen besser zu verstehen.24

b)  Soziales: Balance zwischen nachrangiger Gleichheit und vorrangiger Freiheit Zacher folgt bei all dem einem aufgeklärt-verfassungspositivistischen Ansatz, der die gewordene Menge an Auslegungsangeboten und Lesarten nur behutsam erweitern will. Zacher will verstehen, was das Soziale im Rahmen des juristisch administrierten Grundgesetzes bedeutet. Ihn begleitet dabei ein Unbehagen, den Verfassungstext zu sehr für innovative bzw. avantgardistisch erscheinende Zugriffe zu öffnen. Es ist der Sinn für die Sozialpolitikgeschichte,25 der ihn den Zusammenhang von sozialer und innerer Sicherheit thematisieren und den Beitrag, den Sozialpolitik zur Gewähr­ 15   Zacher, Grundlagen (Fn.  12), S.  345 („Unbestimmtheit des Sozialen“, „extrem unbestimmter Begriff “), S.  375 („spezifische Offenheit des Sozialen“), S.  396 („das Bild des Sozialen“), S.  417 („[d]er Stoff des Sozialen“); s. auch Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  702 zur „normativen Illusion des Sozialen“ (hier ohne kursive Hervorhebung). 16   Zacher, VVDStRL 29 (1971), S.  276: „[…] daß damit eine Spannung angedeutet wird, daß damit Phänomene angedeutet sind, Problembereiche oder, wie ich es nennen möchte, Syndrome bezeichnet sind.“ 17   Zacher, VVDStRL 29 (1971), S.  276 zur Aufgabe, „die Probleme in dieser grauen Zone weiter aufzuarbeiten“. 18   Zacher, Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages, Bd. II/Teil O, 1968, S.  7 ff.; ders., Die neue Ordnung 1971, S.  1 ff.; ders., DRV (Deutsche Rentenversicherung) 1977, S.  197 ff. 19   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  635 ff. 20   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht I (Fn.  11), S.  533 ff.; ders., Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  175 ff. 21   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  281 ff. 22   Zacher, in: Baltes/Mittelstraß (Hrsg.), Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, 1992, S.  305 ff. 23  Vgl. Zacher, VVDStRL 38 (1980), S.  348 (349). 24  Vgl. Zacher, VVDStRL 48 (1990), S.  271. 25   Pars pro toto Zacher, Grundlagen (Fn.  12), S.  345 ff., S.  676 ff. u.ö.

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leistung der „Homogenität der Gesellschaft“ – ein gewiss nicht unproblematischer Begriff –26 erbringt, erkennen lässt.27 Das Soziale dechiffriert er vor allem als Gleichheitsstreben. Das Soziale, dem das Sozialrecht sich widmet, war für ihn ein „Mehr an Gleichheit“28. „,Sozial‘ heißt, ‚mehr Gleichheit‘ erstreben.“29 ,Sozial‘ bezieht sich auf ökonomisch bedingte oder ökonomisch relevante Ungleichheiten und Gleichheiten.“30 Dieses Gleichheitsstreben situiert er in einem staats- und gesellschaftstheoretischen Rahmen, der ihm selbstverständlich erscheint, der Normalität bedeutet,31 der alle sozialpolitische Intervention dienen muss. Zacher ist insofern Vertreter eines staatsrechtlichen Mainstreams, der bis heute wirkmächtig ist und der von den meisten Fachvertretern seiner Generation unhinterfragt akzeptiert wurde. Dieser Mainstream basiert auf der im späten 19. Jahrhundert des Konstitutionalismus begründeten Staat-Gesellschaft-­ Dichotomie und verbindet sich mit der nach dem Zweiten Weltkrieg einflussreich gewordenen ordoliberalen Rekonstruktion des Kapitalismus als sozialer Marktwirtschaft, die das Modell freien Wirtschaftens an starke ordnungspolitische Interven­ tionen bindet, die Rahmenbedingungen freien Wirtschaftens markieren. Der Begriff der Intervention spielt so auch seit den wissenschaftlichen Anfängen eine große Rolle in Zachers Denken.32 Zachers Interventionsbegriff geht aber weiter. Ihm ist ein über die Gewährleistung von Rahmenbedingungen hinaus intervenierender Sozialstaat wichtig, der die Irrun­ gen und Wirrungen marktwirtschaftlichen Tuns zu korrigieren und zu kompensieren hat. Der im Ordoliberalismus, der von landläufigem (Neo-)Liberalismus unterschieden werden muss,33 angelegte starke Staat ist auch der starke Staat, der sich den Schwachen, Benachteiligten, Unterstützungsbedürftigen an die Seite stellen muss. Das erklärt z.B. auch Zachers Empörung über manche Übergriffigkeiten der HartzIV-Gesetzgebung.34 Der Sozialstaat Zachers zeichnet sich durch einen fürsorglichen Paternalismus aus, der im Einzelnen allerdings weniger durch das Grundgesetz vorgegeben als der Sozialpolitik aufgegeben ist. Die neueren Bestrebungen, das Sozialstaatsprinzip über eine Vergrundrechtlichung – genauer: durch eine grundrechtlich 26   S. hierzu – unabhängig vom Sozialrecht – die treffende Kritik von Lübbe-Wolff, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, ZAR 2007, S.  121 ff. 27  Vgl. Zacher, VVDStRL 63 (2004), S.  199 (dort auch das Zitat). 28   Zacher, VVDStRL 69 (2010), S.  127. 29   Zacher, VVDStRL 69 (2010), S.  127. 30   Zacher, Grundlagen (Fn.  12), S.  346 (hier ohne kursive Hervorhebungen); s. auch S.  650 (hier ohne kursive Hervorhebungen): Sozial bedeutet „mehr Gleichheit der ökonomisch bedingten oder ökonomisch relevanten Lebensverhältnisse herzustellen.“ 31   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  143 ff. 32   Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S.  45 ff. und passim; ebd., S. VI, auch der Hinweis auf die um den Begriff der „sozialen Intervention“ kreisenden Anregungen Hans Nawiaskys; dazu auch Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  689. 33   Vgl. etwa die – allerdings nicht unbestritten gebliebene Kritik von – Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, 2004. 34   Vgl. am Beispiel der Debatte, ob Hartz IV-Beziehern Geld für Alkohol- und Tabakkonsum zustehen solle, Zacher, VVDStRL 70 (2011), S.  217 (218), dort auch: „ […] ein Skandal. Und ich bringe es nicht übers Herz, das zu verschweigen.“

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angetriebene Prozeduralisierung – zu stärken,35 greift Zacher zwar nicht mehr auf. Sie dürften aber letztlich seiner Sichtweise widersprechen, dass das Mehr an Gleichheit im Wege sozialpolitischer Reform und frei von allzu starken juristischen Restrik­ tionen realisiert werden müsse. „Gesellschaft“ steht für Wirtschaft, „Staat“ für staatlich produziertes Sozialrecht, das insofern (auch) eine wirtschaftslenkende Funktion hat,36 die aber im Schwerpunkt als Korrektur und Kompensation einer als eigenständig gedachten Wirtschaftswelt funktioniert. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, wieso er zwar unentwegt – auch eingedenk der internationalrechtlich gebotenen Differenzierung des Gleichheitssatzes37 – für die Förderung der Gleichheit wirbt, aber in Sorge ist, all dies könne auf Kosten der Freiheit gehen. Dass der Gleichheitssatz durch das Sozialstaats­ prinzip38 zu ergänzen sei, betont er; die Ausweitung des Gleichheitssatzes zu Diskriminierungsverboten sieht er kritisch.39 Hier erkennt er eine „ganz neue Front der Auseinandersetzung von Freiheit und Gleichheit“40. Der herkömmlichen Staat-Gesellschaft-Dichotomie folgend, sieht er die Gefahr, dass im Ursprung gegen den Staat gerichtete Gleichheitsforderungen in die Gesellschaft hineingetragen würden, also sozusagen private Maßstäbe unter dem Deckmantel staatsgerichteter Rechtspositionen „radikal soziale Gleichheit“41 anstreben. Das wird nur verständlich, wenn man der traditionellen Trennung von Staat und Gesellschaft folgt und mit Zacher meint, der die Gleichheitsfrage lösende Staat integriere die Gesellschaft.42 Dass der Staat eine mediatisierende Funktion der Gesellschaft – diese also ungeteilte Staatsgesellschaft – ist, ist Zachers Sichtweise gerade nicht. Der Staat gilt als einheitsbildender Faktor einer interessenpluralen Gesellschaft, nicht als Vermittler dieser Interessenpluralität auch in der Gleichheitsfrage.

2.  Weitere Berührungsflächen zum öffentlichen Recht, u.a. zum Verwaltungsrecht a) Grundrechte und Grundrechtsinterpretation Gerade mit Blick auf den für ihn zentralen Antagonismus von Freiheit und Gleichheit ordnet Zacher die Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes ein. Er spricht vom „polemische[n] Auftrag“43 der Grundrechte, „ein[em] polemische[n] Auftrag, unter dem die Grundrechtsinterpretation immer steht“44. Er betont die Aufgabe der  Zusf. Kempny/Krüger, Prozeduralisierung des (Grund-)Rechtsschutzes – eine Analyse der jüngeren Rechtsprechung, SächsVBl. 2014, S.  153 ff. 36  Vgl. Zacher, VVDStRL 28 (1970), S.  233 (236 f.). 37  Vgl. Zacher, VVDStRL 47 (1989), S.  104. 38  Vgl. Zacher, VVDStRL 47 (1989), S.  104. 39  Vgl. Zacher, VVDStRL 47 (1989), S.  104 (105). 40   Zacher, VVDStRL 47 (1989), S.  104 (105). 41   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  224. 42   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  224: „Indem dem Staat die Antwort auf die Gleichheitsfrage gelingt, integriert er die Gesellschaft und legitimiert er sich der Gesellschaft gegenüber. Indem ihm die Antwort misslingt, delegitimiert sich der Staat.“ 43   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151. 44   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151; dort auch: „die polemische Aufgabe der Grundrechtsinterpretation“. 35

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Grundrechtsinterpretation, „Räume der Differenzierung aufrecht zu erhalten und Räume der autonomen Differenzierung zu bewahren.“45 „Ich bin ein Skeptiker der Emanzipation, kein Feind derselben.“46 „Die Humanität läßt sich nicht mit rein egalitären Modellen realisieren.“ 47 Es geht um „human emanzipierte Freiheit“48. Für ihn steht fest: Überbordendes Gleichheitsstreben ist die Freiheitsgefahr schlechthin. Dazu passt es, dass Zacher für „Interpretationshygiene“ eintritt, die sicherstellen müsse, dass der soziale Wandel Grundrechte (hier: Art.  6 Abs.  1 GG) nicht fundamental verändere.49 Zu dieser eher traditionellen Sichtweise passt auch die von ihm favorisierte Verkopplung von Ehe und Familie.50 Dass er eine gewisse Sympathie für vollziehbare, nicht vage Grundpflichten hegt,51 verwundert nicht, ebenso wenig seine Skepsis gegenüber der Justiziabilität der sozialen Grundrechte.52 Aber der Befund ist nicht einheitlich. Abgesehen von seiner Sicht auf Art.  6 Abs.  1 GG, betont Zacher durchaus die Notwendigkeit einer dauernden dynamischen Weiterentwicklung der Grundrechte.53 „Grundrechte sind die Schwielen der menschlichen Würde. Wo die Staatsgewalt sich an der Menschenwürde reibt, entstehen neue Grundrechte“54. Er sieht, als er schon älter ist – und ohne die zu den Prämissen seines Denkens gehörende Staat-Gesellschaft-Dichotomie prinzipiell in Frage zu stellen –, dass Staat und Gesellschaft sich mehr und mehr vermengen, was Folgen für die Grundrechtsverpflichtung Privater haben muss, denen „strukturelle Gewalt im Verhältnis zu anderen Privaten gegeben wird.“55 Es gibt offenbar bereichsspezifische Ungleichzeitigkeiten der grundrechtlichen Dynamik, Art.   6 Abs.   1 GG versteht Zacher eher statisch.

b)  Vom Sozialrecht inspiriertes (allgemeines) Verwaltungsrecht Die Realien des Sozialrechts nutzt Zacher, um die Operationalisierung der Grundrechte im Rahmen des Verwaltungsrechts zu thematisieren.56 Er weist auf die Pro­ blematik der „Grundrechte im personalen Leistungsverhältnis“57 – „vom pädago­   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151.   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151. 47   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151. 48   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151. 49  Vgl. Zacher, VVDStRL 45 (1987), S.  111 f. (auf S.  111 das Zitat, im Original kursiv). 50  Vgl. Zacher, VVDStRL 45 (1987), S.  111 (112 f.). 51  Vgl. Zacher, VVDStRL 41 (1983), S.  104 (105). 52  Vgl. Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151 (153); zur Forderung nach „wirklicher Verbindlichkeit“ von Verfassungsnormen und dem Petitum, „nicht unmittelbar vollziehbare Inhalte aus der Verfassung möglichst fern zu halten“ Zacher, VVDStRL 41 (1983), S.  104 (105). 53  Vgl. Zacher, VVDStRL 37 (1979), S.  124 (125). 54   Zacher, VVDStRL 37 (1979), S.  124 (125 f.). 55   Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 (338). – Ob Zacher das Assoziationsfeld, das er mit dem Begriff „strukturelle Gewalt“ schafft, bewusst eröffnet hat, lässt sich nur vermuten. 56  Andere Materien des besonderen Verwaltungsrechts spielen selten eine Rolle, s. etwa Zacher, VVDStRL 36 (1978), S.  349 (350 – im Original teilweise kursiv gesetzt): ihm fehle die „Vision einer richtigen Ordnung der Gemeinde“. 57   Zacher, VVDStRL 30 (1972), 151 (154). 45

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gischen Dienstleistungsverhältnis bis […] zur Irrenanstalt“58 – hin. Das Effektiv­ werden der Grundrechte sei hier vor allem eine Konkretisierungsaufgabe der Verwaltungsrechtsdogmatik,59 deren Zustand er allerdings phasenweise nur als „quälend“60 einordnen kann. Es sei zu bedenken, dass die Erbringung personaler Dienstleistungen, etwa in der Sozialarbeit, nur begrenzt rechtlich steuerbar sei; sie lasse sich erklären, aber nicht anordnen: „Hier endet die Macht des Rechts.“61 Im „Dienstleistungsstaat“62 müsse – mit Sinn für die Eigenlogik personaler Dienstleistungen – die Steuerungskraft des Gesetzes neu vermessen werden, wie es überhaupt nötig sei, die „Vielfalt der Steuerungsmechanismen“ systematisch wiederzuentdecken und aufzubereiten.63 Es ist bemerkenswert, dass Zacher dies zu einer Zeit sagt, als die inzwischen schon zum dogmatischen Traditionsgut zählende sog. „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ noch nicht einmal schemenhaft zu erkennen war. Zacher ist es bei allen allgemein-verwaltungsrechtlichen Themen, etwa der Beteiligung Privater an der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben, wichtig darauf hinzuweisen, dass das Sozialrecht häufig übersehen wird, „denn nirgendwo ist der moderne Staat und sein Verwaltungsrecht so sehr mit der Beteiligung Privater aufgewachsen wie im Sozialrecht.“64 Vom sozialrechtlichen Vorbild inspiriert, wirbt Zacher für das Denken in Rechtsverhältnissen (konkret: in der Leistungsverwaltung) anstelle einer Fixierung auf den Verwaltungsakt.65 Dementsprechend sind ihm auch das Sozialrechtsverhältnis und die Kooperation wichtig.66 Hierbei sei die Qualität des Verwaltungspersonals entscheidend.67 Generell mahnt er gegenüber der Staatsrechtslehre an, „sich der Versuchung hin[zu]geben, mehr Sozialrecht als bisher zu betreiben“68, um vom Instrumentenfundus des Sozialrechts zu lernen. Erst die genaue Befassung mit den Quisquilien bestimmter sozialrechtlicher Referenzgebiete garantiere auch, dass staatsrechtliche Expertise in diesem Feld überzeugen könne.69

  Zacher, VVDStRL 30 (1972), 151 (154).  Vgl. Zacher, VVDStRL 30 (1972), 151 (154). 60   Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  363. 61  Vgl. Zacher, VVDStRL 40 (1982), 139 (140), dort auch das Zitat. 62   Zacher, VVDStRL 40 (1982), 139 (140). 63  Vgl. Zacher, VVDStRL 40 (1982), 139 f. (das Zitat „Vielfalt der Steuerungsmechanismen“ auf S.  139). 64   Zacher, VVDStRL 62 (2003), S.  349. 65  Vgl. Zacher, VVDStRL 45 (1987), S.  287 f.; s. auch S.  303; dazu auch Zacher, VVDStRL 64 (2005), S.  285 (286): „Der Verwaltungsakt hängt irgendwo im Abstrakten und das wirkliche Leistungsgeschehen im Heim oder in der Jugendbetreuung oder gerade auch in der ärztlichen Behandlung, ist ein reales.“ 66  Vgl. Zacher, VVDStRL 64 (2005), S.  285 (286), dort auch: „Das Sozialrecht ist kooperatives Recht.“ Zur Kooperation im Subventionswesen aus grundrechtsdogmatischer Sicht Zacher, VVDStRL 25 (1967), S.  4 42 f. 67  Vgl. Zacher, VVDStRL 34 (1976), S.  284–286. 68   Zacher, VVDStRL 64 (2005), S.  285 (286 a.E.). 69   Am Beispiel des wesentlich durch Sozialrecht geprägten Gesundheitswesens Zacher, VVDStRL 70 (2011), S.  217 (219): „Ich glaube, die Verantwortung liegt darin, dass wir, gerade auch wir Staatsrechtler, dazu beitragen, die Gesamtheit dieses Funktionskomplexes, ja dieses Funktionsuniversums Gesundheitswesen, richtig [zu] analysieren und gute Vorschläge für jeweils adäquate Funktionsordnungen, Entscheidungskompetenzen und -prozesse machen.“ 58 59

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3.  Ius semper reformandum: Sozialpolitik, Grenzen des Machbaren, Internationalität a) Sozialpolitik Der Auftrag zu sozialer Gestaltung ist im Lichte des Sozialstaatsprinzips (Art.  20 Abs.  1, Art.  28 Abs.  1 S.  1 GG) umfassend: „Ich würde sagen, das ganze Recht, auch das materielle Recht, muß rechts- und sozialstaatlich – vor allem auch sozialstaatlich – ausgestaltet werden.“70 Als Kenner der Sozialrechtsgeschichte weiß Zacher, dass das, was für das positive Recht generell gilt, nämlich nur von vorläufiger Endgültigkeit zu sein, für das Sozialrecht zugespitzt zutrifft. Die Reformperspektive auf das Sozialrecht – Sozialpolitik – ist daher für ihn unerlässlich. Dazu gehört es, die „Rolle des Sozialrechts“ im Problemkontext zu sehen,71 der nie nur ein rein juristisch definierbarer ist. Er weiß, wie die Rechtsprechung an der „Ausweitung der Umverteilungsmechanismen“72 mitwirkt und wie sehr auch die höchstrichterliche Judikatur durch Einzelfälle geprägt wird.73 Er sieht die fiskalische Bedingtheit des Sozialrechts und dessen enge Verknüpfung mit dem bzw. Determinierung durch das Haushaltsrecht.74 Er sieht die Gestaltungschancen und vor allem die -gefahren einer von der EU durch Förderprogramme ermöglichten Sozialpolitik.75 Er verkennt nicht, dass der Sozialstaat stark von (durch makroökonomische Bedingungen geprägten) Normalitätsunterstellungen abhängt, die Zacher als „soziale Ambiance mittlerer Herausforderung“ bezeichnet und die den „recht hübschen sozialen Zustand“ der parlamentarischen Demokratie bedinge.76 Er fragt sich angesichts absehbarer Knappheitsprobleme und daraus resultierender Verteilungskonflikte, ob es gelinge, Institutionen zu schaffen, mit denen sich Krisen „kommender Knappheit“ bewältigen ließen.77 Hier tritt er nachdrücklich für die klassischen Formen repräsentativer, parlamentarischer Demokratie ein; Weiterungen demokratischer Partizipation seien nicht nötig.78 So sensibel Zacher für die Realisierungsrestriktionen ist, denen jede Sozialpolitik unterliegt, so deutlich wendet er sich gegen alarmistische Zustandsbeschreibungen einer absoluten Belastungsgrenze des Sozialstaats, was durch genaue Detailanalysen der Problemlagen vermieden werden könne.79 Gleichzeitig wendet er sich gegen aus seiner Sicht einseitige und problemverkennende sozialpolitische Ansätze.80 Überhaupt betont   Zacher, VVDStRL 26 (1968), S.  144.  Vgl. Zacher, VVDStRL 43 (1985), S.  91 (dort auch das Zitat). 72  Vgl. Zacher, VVDStRL 50 (1991), S.  159 (mit Blick auf BSG, BVerfG und EuGH). 73  Vgl. Zacher, VVDStRL 32 (1974), S.  254 zu einer frühen BVerwG-Entscheidung zum Vertrauensschutz im sog. Witwenfall, den Zacher als „Mitleidsfall“ bezeichnet, für den „‘Gebrechlichkeitspflege‘“ gelte. 74  Vgl. Zacher, VVDStRL 42 (1984), S.  300 mit einem Hinweis auf die „dramatischen Inkonsequenzen“ bei der Umsetzung von Leistungsgesetzen. 75  Vgl. Zacher, VVDStRL 64 (2005), S.  285 (287). 76  Vgl. Zacher, VVDStRL 33 (1975), S.  138 (dort auch die Zitate). 77  Vgl. Zacher, VVDStRL 33 (1975), S.  138 (139, dort auch das Zitat); s. auch den Hinweis auf „adäquate Institutionen“ bei Zacher, VVDStRL 30 (1972), S.  151 (153). 78  Vgl. Zacher, VVDStRL 33 (1975), S.  138 (140) zur (von ihm abgelehnten) Idee eines Wirtschaftsund Sozialrats. 79  Vgl. Zacher, VVDStRL 39 (1981), S.  393. 80  Vgl. Zacher, VVDStRL 64 (2006), S.  89 f., wo er zur Differenzierung im Umgang mit dem Argu70 71

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­ acher die Bedeutung der sorgfältigen Realanalyse.81 Gerade angesichts der DynaZ mik der Veränderungen in tatsächlicher Hinsicht sei eine durchweg realitätsangepasste Normkonkretisierung und Normgestaltung geboten.82

b)  Gespür für die (Überwindung der) Grenze Bei der Frage, was Sozialpolitik als Sozialrecht von morgen leisten könne, ist Zacher ambivalent. Er zweifelt immer wieder an den Möglichkeiten des Rechts, er sieht die „Grenze des normativ Machbaren“83. Die Metapher der Grenze ist ubiquitär: „Grenzfrage“84, „Grenzprobleme“85 „Grenzziehungsproblematik“86 „Wir stehen also an Grenzen“87. Der Sinn für Aporien, etwa die Aporien der Rechtsanwendung,88 ist ausgeprägt. Es gebe „nie endgültige Zufriedenheit“89. Das verbindet sich – scheinbar widersprüchlich – mit einem Steuerungsoptimismus, der sich gegen jede „Resignation des Rechts“ wendet; das Recht dürfe nicht vor den Phänomenen kapitulieren,90 sondern müsse unentwegt nach „kreative[n] Lösungen“91 suchen, die die „notwendige[n] Flexibilitäten“92 im Umgang mit den „Erfahrungen und […] Betroffenheiten“93 der Menschen aufwiesen.

c) Internationalität Gerade die Inter-, Supra- und Transnationalität94 als Gegenstand und Methode trägt dazu bei, dass eine angemessene Balance zwischen Steuerungsskepsis und -optimismus möglich wird. „Internationalität im Verfassungsstaat als Ganzem“95 sei „etwas Allgegenwärtiges, etwas Alltägliches“96. Was angesichts der „Ohnmacht des nationalen Rechts“97 bei der Problemlösung machbar ist, lässt sich im Spiegel komparativer Erfahrungen u.U. leichter ermitteln. Das EU-Europa, namentlich den „europäischen ment rät, Zuwanderung sichere die sozialen Sicherungssysteme; zum Migrationsrecht s. auch Zacher, VVDStRL 32 (1974), S.  118 (120), S.  256 (257). 81  Vgl. Zacher, VVDStRL 37 (1979), S.  289 f.; ders., VVDStRL 43 (1985), S.  91 f. 82  Vgl. Zacher, VVDStRL 73 (2014), S.  4 47 f., dort (S.  4 48) auch: „Die Wirklichkeit wuchert immer wieder um die Normen.“ 83   Zacher, VVDStRL 37 (1979), S.  289 (294). 84   Zacher, VVDStRL 37 (1979), S. 124 (125). 85   Zacher, VVDStRL 39 (1981), S.  169 (171). 86   Zacher, VVDStRL 43 (1985), S.  224 (225). 87   Zacher, VVDStRL 40 (1982), S.  139 (140). 88  Vgl. Zacher, VVDStRL 34 (1976), S.  103. 89   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  224, hier bezogen auf das Finden der „Kompromisslinie zwischen Gleichheit und Ungleichheit“. 90  Vgl. Zacher, VVDStRL 25 (1967), S.  410 (dort auch das Zitat). 91   Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 (338). 92   Zacher, VVDStRL 42 (1984), S.  300. 93   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  689. 94  Vgl. Zacher, VVDStRL 36 (1978), S.  134 (135) zur Bedeutung transnationaler Beziehungen. 95   Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  133. 96   Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  133 (134). 97   Zacher, VVDStRL 48 (1990), S.  271 – bezogen auf das Umweltrecht.

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Sozialstaat“98, empfindet er als Chance und Menetekel. Eine (unaufdringlich-patriotisch getönte) 99 Skepsis bricht hier durch, wie sich die Vielfalt Europas mit der Eigenheit mitgliedstaatlicher Traditionen ausbalancieren lässt.100 Dass die supra-, trans- und internationale Perspektive den Blick und das Denken weitet, hält er für unzweifelhaft und deshalb Rechtsvergleichung – oder eher: Betrachtungen des nationalen Rechts im Kaleidoskop des Inter-, Supra-, Transnationalen – für unerlässlich. Er fordert die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht ein,101 und zwar nicht nur im Sozialrecht, sondern bspw. auch in den Kernbereichen des „klassischen“ Verwaltungsrechts, etwa beim Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht102, aber z.B. auch im Verfassungsprozessrecht.103

III.  Was bleibt? Hans F. Zacher – Vorbild und Vermächtnis Nichts ist riskanter als Prognosen darüber abzugeben, was vom Werk eines Wissenschaftlers bleibt. Wissenschaftliche Produktivität gehört zu jenen Unsterblichkeitsprojekten, die Menschen in Angriff nehmen, um die eigene Endlichkeit symbolisch zu überwinden. Publikationen sind der Versuch, der endlichen Biographie eine unendliche Bibliographie entgegenzusetzen, also die unvermeidlich nahende, wenn auch bis zuletzt kaum begreifliche Sterblichkeit kompensatorisch ins Unendliche ­h inein zu überwinden. Diese Hoffnung, sich im Werk Unsterblichkeit zu verschaffen, basiert auf einigen brüchigen Annahmen darüber, dass und wie die kulturellen Tradierungstechniken und -systeme funktionieren (was angesichts der etwa durch Krieg oder andere Katastrophen bewirkten Vernichtung von Datenträgern keineswegs gewiss ist), und dazu gehört vor allem auch, dass an den Fragestellungen, Themen und Perspektiven, für die jemand wissenschaftlich stand, nachfolgende Generationen ein Interesse entwickeln werden. Dazu können signifikante Theorien, Erklärungsansätze, Begriffsprägungen beitragen, aber ob bzw. inwieweit und wie lange diese tradiert und erinnert werden, hängt von vielen kaum antizipierbaren Entwicklungen, Wendungen, Zufällen ab. Das Unsterblichkeitsversprechen kraft eigener wissenschaftlicher Produktivität ist eine brüchige Angelegenheit. Hans F. Zacher wusste, dass sein Seelenheil nicht davon abhängt, dass und wie und vor allem wie lange sein Werk rezipiert wird. Er ist ein gläubiger Mensch gewesen, ein in der Tradition des römischen Katholizismus104 niederbayerischer Prägung105   Zacher, VVDStRL 50 (1991), S.  159.   Zacher, VVDStRL 32 (1974), S.  118 (119 a.E.): „Alles in allem hat mir das Wort ‚Vaterland‘ in der ganzen Diskussion bisher gefehlt.“ 100  Vgl. Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 (338) zur Gefahr, dass Europa zum Verlust des Eigenen führt; s. ferner Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 mit dem Hinweis auf „unsere deutschen Wertvorstellungen und deren rechtstechnische Ausprägung“. 101   Zacher, VVDStRL 56 (1997), S.  337 (338): „[…] wir brauchen […] entschieden mehr ein Denken im Sinne der Rechtsvergleichung“. 102  Vgl. Zacher, VVDStRL 32 (1974), S.  256 f. 103  Vgl. Zacher, VVDStRL 39 (1981), S.  169 zum Vergleich der Verfassungsgerichtsbarkeiten. 104   Becker, Nachruf: Zum Tod von Hans F. Zacher, JZ 2015, S.  460. 105  Vgl. Zachers Hinweise zur Herkunft aus Niederbayern, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  675 f. 98

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verwurzelter Christ, der mit geistiger Großzügigkeit, weil seines Glaubens gewiss, nicht missionarisch unterwegs war, sondern aus der Freiheit eines Christenmenschen heraus sich frei fühlte, seinen Beruf als Wissenschaftler zu leben. Zachers religiöse Prägung kommt explizit im Werk nicht vor,106 aber sie wird seine skeptische Sicht auf manche Entwicklungen insbesondere im Bereich von Ehe und Familie beeinflusst haben. Die problematischen Seiten religiöser Macht hat er nicht ausgeblendet, wie seine arbeitnehmerschützende Sicht auf das kirchliche Arbeitsrecht belegt.107 Den hierarchischen und priesterzentrierten Charakter der römisch-katholischen Kirche hat er mit dem Wort „Härte“ in Verbindung gebracht.108 Zu seinem Glaubensverständnis passte „Härte“ offenbar nicht. Es verwundert daher nicht, dass er das Fragmentarische einer jeden Biographie – auch und gerade einer, seiner Wissenschaftlerbiographie – klar gesehen hat, etwa wenn er der versammelten Staatsrechtslehrervereinigung bekundete, „dass jedenfalls ich es nicht fertig bringe“, die künftige Gestalt des Sozialstaats auf den Begriff zu bringen.109 Das war nicht Koketterie, sondern nüchterne Einsicht eines alten Menschen, der um seine Grenzen weiß und der schon sehr früh wusste, dass Vorläufigkeit und Fragment zum (wissenschaftlichen) Leben gehören und doch nicht von wissenschaftlicher Produktivität abhalten dürfen, weil sie unvermeidbar jede geistig-kulturelle Aktivität prägen. Das Ringen um die Grenze – der Traum vom perfekten Werk und die Einsicht ins Imperfekte, das doch seinen Sinn hat – lässt sich am Schicksal von Zachers Habilitationsschrift gut nachvollziehen. Nur wer ein entspanntes Verhältnis zu seiner Begrenztheit und den Möglichkeiten hat, sie zu überwinden, bringt es fertig, gut zwanzig Jahre nach Vorlage der Habilitationsschrift diese unverändert abzudrucken.110 Hier liegt der Schlüssel zu Zachers Persönlichkeit als Wissenschaftler. Zachers Denken ist eine complexio oppositorum: in Vielem traditionell und bewahrend, und doch voller Offenheit für das Unbekannte, angetrieben von der Bereitschaft, neue Probleme zu erkennen, zu verstehen, zu lösen; kein wildes Denken, sondern ein Denken, das in Denkstil und Sprache auf jeden Scharfsinnsdaueralarm verzichtet, der Rechtswissenschaft für ein intellektualistisches Spiel hält und nur um denkerische Raffinesse und rhetorischen Glanz bemüht ist; ein nüchternes Denken voller Leidenschaft. Aber für was? Hans F. Zacher steht für ein Rechtsverständnis, das mit großem Mitgefühl, ja – im Wortsinn – Herzlichkeit die Sache des Menschen in der Pluralität seiner Existenz­nöte ernst nimmt, das Rechtsverständnis des Grundgesetzes. Es ist die Summe eines alten, weisen Mannes, der – sein Lebensende vor Augen – sagt: „Mein wissenschaftliches Leben gehörte – ich weiß nicht, ob Sie das wissen – dem Sozialrecht.“111 Er wusste, dass der Grad der Humanität eines Gemeinwesens davon abhängt, dass Bedingungen 106  Man vgl. nur seinen Diskussionsbeitrag zum Thema Ehe und Familie, Zacher, VVDStRL 45 (1987), S.  111 f., ferner etwa Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht I (Fn.  11), S.  555 ff., s. insb. Zacher, Elternrecht, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, §  134; vgl. außerdem Zacher, VVDStRL 21 (1964), S.  130 f. (zu Subsidiarität und Föderalismus). 107  Vgl. Zacher, VVDStRL 26 (1968), S.  234 (235). 108   Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht II (Fn.  11), S.  684 zum Verhalten des früheren Papstes Johannes Paul II. 109  Vgl. Zacher, VVDStRL 64 (2005), S.  185 (dort auch das Zitat). 110  Näher Zacher (Fn.  32), S. V ff. 111   Zacher, VVDStRL 68 (2009), S.  369.

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effektiver – d.h.: rechtlich abgesicherter – Zugehörigkeit112 eingreifend und grundgreifend vorgedacht werden müssen, wenn sie eines Tages kleinteilig Realität werden sollen. Wer sich Hans F. Zacher, dem Wissenschaftler und seinem Werk, widmet, versteht, was eine Rechtswissenschaft vom öffentlichen Recht dauerhaft leisten muss, um nicht im Labyrinth theoretischer Selbstverliebtheit irrelevant zu werden. Hans F. Zachers Vermächtnis ist ein Rechtsdenken von existenzieller Relevanz. „Das ist mein Standort.“113 Ob die Wissenschaft vom öffentlichen Recht in der Lage ist, diesem Vermächtnis gerecht zu werden?

  Rixen, VVDStRL 74 (2015), S.  293 (303 ff.).   Zacher, VVDStRL 41 (1983), S.  104 (105).

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Mein wissenschaftliches Leben – Wichtige Personen und Institutionen von

Prof. Dr. Hans D. Jarass, LL.M., Universität Münster * Inhalt 1. Meine Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 2. Schule und Wahl des Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 3. Mein wissenschaftlicher Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 4. Das Studium in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 5. Die Entscheidung für die Wissenschaft und die Wahl der Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 6. Forschungsaufenthalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 7. Kollegen und Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 8. Fakultät und andere wissenschaftliche Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 9. Verlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 10. Mitarbeiter und Studenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 11. Rechtsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703

Als mich Martin Kment vor mehr als zwei Jahren fragte, ob ich mich über eine Festschrift zu meinem 70. Geburtstag freuen würde, zögerte ich etwas. Einerseits halte ich das Institut einer wissenschaftlichen Festschrift für einen schönen Teil des Universitätslebens, den es zu erhalten gilt, jedenfalls wenn die Festschrift nicht in einen Wettbewerb um den größtmöglichen Umfang ausartet. Einem Kollegen wird ein Geschenk gemacht, das auf eigener Arbeit beruht und zugleich den wissenschaft­ lichen Erkenntnisprozess befördern soll. Das finde ich sehr positiv, vielleicht auch deshalb, weil meine Eltern gerne festhielten, dass die besten Geschenke die selbst gemachten sind. Andererseits ist die Übergabe einer Festschrift traditionell mit einer *  Diese Erinnerungen basieren auf einer Ansprache, die ich anlässlich der Feierlichen Übergabe der Festschrift zu meinem 70. Geburtstag „Das Zusammenwirken von deutschen und europäischem Öffentlichen Recht“ (herausgegeben von Martin Kment, Beck Verlag München, 2015) am 29. September 2015 im Erbdrostenhof in Münster gehalten habe. Die Vortragsform wurde beibehalten.

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Laudatio auf den Beschenkten verbunden. Das aber passt nicht zu meinem Selbstverständnis. Auch wollte ich keinem Kollegen zumuten, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. So ist mir die Idee gekommen, statt der üblichen Laudatio ein Lob- und Danklied auf die Personen und Institutionen zu präsentieren, die mich bei meinem wissenschaftlichen Werdegang unterstützt haben, ja die ihn in seiner konkreten Form erst ermöglicht haben. Und diese Aufgabe obliegt naturgemäß mir selbst. So ist die für eine Festschriftübergabe ungewöhnliche Programmfolge der Einladung zustande gekommen. Ich werde dazu elf Punkte ansprechen und auch diverse persönliche Facetten berücksichtigen, um das Ganze etwas aufzulockern.

1.  Meine Mutter Wo liegen die Wurzeln für meine spätere wissenschaftliche Tätigkeit? Ich denke, da muss ich meine Mutter erwähnen, trotz des Umstands, dass sie nur die Volksschule besuchen konnte. Sie wurde als Tochter kleiner Bauern in einem Dorf im Altmühl­tal geboren. Ihre Eltern, also meine Großeltern, hätten es sicher mit großer Skepsis betrachtet, wenn sie von meiner Tätigkeit an der Universität erfahren hätten (sie waren bereits während meiner Schulzeit verstorben). Wer sich bei seiner Arbeit nur mit Papier befasste, war für sie ein „Schreiber“, eine aus ihrer Sicht recht abwertende Bezeichnung. Wieso hat nun meine Mutter meinen Werdegang so sehr beeinflusst? Da könnte ich Verschiedenes anführen. Ein Punkt erscheint mir besonders bedeutsam: Trotz ihrer Herkunft war für meine Mutter das Lesen ein tiefes Bedürfnis und zwar das Lesen von allem, was ihr, so muss man es nennen, „zwischen die Finger kam“. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in meiner Kindheit in der Küche die Einkäufe auspackte, die damals noch vielfach in Zeitungspapier eingewickelt wurden. Als erstes strich sie die Zeitung glatt und las, was da zu finden war. In ihrer Schulzeit besuchte sie die Volksschule im Dorf, in der alle Jahrgänge zusammen in einer Klasse unterrichtet wurden. Ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber irgendwann wurde der Schule eine größere Kollektion Bücher geschenkt, klassische Romane aus mehreren Jahrhunderten. Die Sammlung interessierte niemanden, bis meine Mutter sie entdeckte. Sie nahm sich nacheinander die Bücher vor, was nicht so einfach war, da mein Großvater Lesen als absolute Zeitverschwendung ansah. Meine Mutter ließ sich dadurch aber nicht beirren und wurde durch die Bücher in eine ganz andere Welt als die des kleinen Dorfes geführt. Noch einen dritten Beleg für die Lesefreude meiner Mutter will ich erwähnen. Als ihre drei Söhne das Gymnasium besuchten, las sie fast alle Bücher, die wir aus der Schule mitbrachten, jedenfalls solche literarischer Art. Einmal „bat“ sie mich ins Wohnzimmer, da sie mit mir ein ernstes Wort reden müsse. Ich fühlte mich gleich unwohl, obwohl ich mir keiner Schandtat bewusst war. Sie hatte ein Buch in der Hand und fragte mich, wie ich dazu käme, so was Fragwürdiges zu lesen. Ich selbst hatte noch keinen Blick in das Buch geworfen. Es handelte sich um einen Suhrkamp-Spectaculum-Band mit Stücken von Bert Brecht. Das erste Stück im Buch war „Baal“, in dem es sexuell äußerst freizügig zugeht. Meine Mutter hatte es gelesen und war entsetzt. Nun konnte ich zu meiner Rechtfertigung darauf verweisen, dass

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ich das Buch in der Schulbibliothek entliehen und von dem Inhalt keine Ahnung hatte. Wie auch immer, sie hatte das Buch bereits gelesen, als ich es noch gar nicht näher angesehen hatte. Lesen, auch von anspruchsvoller Literatur, war für sie ein unwiderstehliches Bedürfnis. – Und wie sie, ergriff ich früh jede Gelegenheit des Lesens, um hinter den Buchstaben neue und unbekannte Welten zu entdecken.

2.  Schule und Wahl des Studiums Aus meiner Schulzeit in Deggendorf an der Donau ist mir vor allem ein Ereignis in Erinnerung, das etwas auf meine spätere Ausrichtung hindeutete. In der Oberstufe hatte ich einen ausgezeichneten Deutsch- und Geschichtslehrer, Heribert Arnold, der uns zu selbständigem Denken anleitete. Bei ihm hatte ich einen Vortrag zu halten; es ging um das „Widerstandsrecht aus rechtlicher, religiöser und philosophischer Sicht“. Die Arbeit an diesem Thema hat bei mir Interessen geweckt, die in meiner Herkunftsfamilie unbekannt waren. Juristen gab es da nicht und sie waren auch nicht besonders angesehen; jedenfalls stellten sie eine unbekannte Größe dar. Das lag natürlich daran, dass meine Eltern von der Welt des Rechts kaum Kenntnis hatten. Ich erinnere mich noch an die Zeit vor dem Abitur, als es darum ging, was ich studieren sollte. Ich war mir völlig unschlüssig. In der Berufsberatung wurde mir nach einigen Tests empfohlen, Rechtswissenschaft, Mathematik oder Kybernetik zu studieren. Um meine Entscheidungsfindung zu erleichtern, entlieh mein Vater, er war Beamter im höheren Dienst der Stadtverwaltung Deggendorf, vom Rechtsrat der Stadt eine Gesetzessammlung (es war ein Schönfelder) und brachte ihn mit nach Hause. „Da lies mal“, meinte er, „und schau, ob dich das interessiert“. Ich sah mir die Sammlung näher an und meine Entscheidung war klar: Rechtswissenschaften studiere ich nicht. Stattdessen begann ich mit dem Studium der Mathematik in München. Schon im ersten Semester nahm mich aber ein Freund zu einer juristischen Vorlesung mit. Es war eine Vorlesung zum Allgemeinen Teil des Strafrechts von dem großartigen Lehrer Karl Engisch. Da ging es um komplizierte Theorien und gleichzeitig um das pralle Leben, mit Straftaten aller Couleur. Ich hatte Feuer gefangen und von da an waren das Recht und die Rechtswissenschaft für mich eine höchst spannende Angelegenheit, obgleich mich später ganz andere Gebiete als das Strafrecht interessierten. Nur konsequent war, dass ich nach einem Semester zum Jura-Studium wechselte.

3.  Mein wissenschaftlicher Lehrer Unter den Hochschullehrern gibt es immer wieder vorzügliche Wissenschaftler, die sich aber in menschlicher Hinsicht gelegentlich als weniger erfreulich erweisen. Ein Hochschullehrer, der nicht nur über eine herausragende Fachkompetenz verfügt, sondern auch eine große persönliche Liebenswürdigkeit besitzt, sollte mein späterer wissenschaftlicher Lehrer werden, Peter Lerche. Er hat mich, entgegen meiner eigenen Absicht, der Wissenschaft zugeführt. Begonnen hat es mit einem Kolloquium zum Verfassungsrecht, das er regelmäßig anbot. Ich habe es mehrfach besucht. Er präsentierte dabei die Sachverhalte großer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

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und suchte mit der sokratischen Methode aus uns die „richtigen“ Resultate herauszulocken, wobei er jedes gut begründete Resultat als richtig einstufte, auch wenn er zu einer anderen Entscheidung neigte oder das Gericht zu einem anderen Ergebnis gekommen war. Das war, jedenfalls damals, ein eher ungewöhnliches Vorgehen in Deutschland; in den USA stellte ich später fest, dass das auch der Regelfall sein kann. Darüber hinaus machte uns Peter Lerche durch seine bescheidene Art deutlich, dass gute Wissenschaft nur wachsen kann, wenn man mit dem eigenen Urteil vorsichtig ist, wenn man davon ausgeht, dass jede Erkenntnis vorläufig ist. Kurz vor dem Ersten Staatsexamen fragte er mich, ob ich nicht nach dem Examen bei ihm wissenschaftlicher Assistent werden wollte. Meine Berufsziele gingen in keiner Weise in die wissenschaftliche Richtung. In Betracht kam etwa, Landrat zu werden oder in ein Ministerium nach München zu gehen. So sagte ich ihm, dass ich während meiner Referendarzeit gerne bei ihm arbeiten wolle (als Referendar hatte man damals nicht sehr viel zu tun). Danach werde ich aber die Universität verlassen. Er meinte, das gehe in Ordnung, ich sollte ruhig anfangen. Und das tat ich dann auch.

4.  Das Studium in den USA Schon bald nach meinem Staatsexamen tat sich für mich ein ganz neuer Horizont auf. Neu war dieser Horizont, weil meine Eltern nie die Chance bekommen hatten, eine Fremdsprache zu lernen. Und für mich bildeten die Fremdsprachen in der Schule meine Achillesferse. Ich war durchaus selbstbewusst und traute mir eine ganze Menge zu, aber nur im deutschen Sprachraum. Der neue Horizont ergab sich durch die Berichte meines engen Freundes Jürgen Voigt, der Mathematik studierte und für ein Jahr an die New York University ging, weil dort ganz hervorragende Mathematiker anzutreffen waren. Er ist übrigens später Professor geworden und hatte einen Lehrstuhl für Funktionsanalysis inne. Er berichtete, welch tolles Erlebnis es ist, in eine ganz andere Welt einzutauchen und dort neue Perspektiven zu entdecken. Das führte dazu, dass ich nachdenklich wurde und überlegte, ob ich nicht auch für ein Jahr in die USA gehen könnte. Die Finanzierung wurde mir vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ermöglicht. Nur die Sprache war das Problem. Also ging ich für ein Jahr jede Woche zur Berlitz-School in München, um mein Englisch zu verbessern. Übrigens nur mit begrenztem Erfolg, wie mir schnell deutlich wurde, als ich das Studium in den USA begann. Meinen Lehrern aber an der Harvard Law School, darunter Stephen Breyer, dem späteren Richter am U.S. Supreme Court, muss ich ein großes Kompliment zollen: Sie haben bei meinen unverständlichen Beiträgen in den Lehrveranstaltungen geduldig so lange nachgefragt, bis sie in etwa verstanden, was ich sagen wollte. Günstig hat sich dabei sicher auch ausgewirkt, dass ich Kurse wählte, in denen ich vielfach der einzige ausländische Student war, etwa „Administrative Law“, „Economic Regulation“, „Decision Making“ oder „Law and Social Research“. Wie auch immer, für mich war das ein doppelter Gewinn: Ich lernte zunehmend die Sprache und gleichzeitig arbeitete ich mich langsam in das amerikanische Rechtssystem und Rechtsdenken ein.

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Während der Zeit in den USA stellte ich fest, dass man vieles auch ganz anders als in Deutschland machen kann, und es dafür auch gute Gründe gibt, ebenso wie für die Ansätze in Deutschland. Das zeigte sich schon an Äußerlichkeiten. Als ich in der Law School zum ersten Mal einen Professor aufsuchte, es war Philip Heymann, erwarte ich zunächst eine Sekretärin, die prüfte, ob man vorgelassen werden kann. Eine Sekretärin gab es aber nicht. Und Heymann saß bei geöffneter Tür an seinem Schreibtisch. Ich war mir unsicher, was ich tun sollte. Der Professor bemerkte mich und fragte, was ich wolle. Ich berichtete ihm von meiner Unsicherheit und fragte ihn meinerseits, wie man damit in den USA umgeht. Er meinte: Einfach in das Zimmer gehen, „hey Philip“ sagen und sein Anliegen vortragen. Auch in der Sache gab es große Unterschiede: So spielten an der Harvard Law School Nachbarwissenschaften eine erhebliche Rolle: ich erinnere mich an eine wirk­lich faszinierende Vorlesung zur Entscheidungstheorie, in der uns vorgestellt wur­de, welche Entscheidungskonzepte sich in der Politikwissenschaft, in der Soziologie und in der Mathematik finden. Im Bereich der Rechtswissenschaft wurde mir deutlich, dass man Rechtsprobleme generell auch von den konkreten Fällen und Sachverhalten her angehen kann. Gleichzeitig war mir aber der dogmatische Ansatz des deutschen Rechts bei der Bewältigung auch des amerikanischen Rechts sehr von Nutzen; entgegen meiner Befürchtungen kam ich an der Law School sehr gut zu Recht. Die Erfahrung, dass eine gute Dogmatik den Umgang mit Rechtsproblemen sehr erleichtern kann, sollte sich in meinem späteren Werdegang noch auswirken. Im Laufe des Jahres wuchs meine Begeisterung, sodass ich am Ende ernsthaft überlegte, noch länger zu bleiben. Dazu kam es nicht. Mir wurde zwar eine Stelle an einer Law School in San Diego in Aussicht gestellt; wirklich zu Hause fühlte ich mich aber in Deutschland. Doch ich nahm eine wichtige Einsicht mit nach Deutschland: Ich war und bin immer skeptisch, wenn irgendwo jemand das allein Richtige präsentieren will. Und der Blick über die Grenze ist auch für die Rechtswissenschaft höchst bedeutsam und ertragreich, trotz der engen Einbindung des Rechts in eine nationale Kultur. So lernt man, dass man auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlichen Ansätzen zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen kann, dass also die Besonderheiten der eigenen Rechtskultur weniger wichtig sind, als man denkt.

5.  Die Entscheidung für die Wissenschaft und die Wahl der Themen Nach meiner Rückkehr aus den USA begann ich meine Doktorarbeit, erfüllte die Aufgaben eines wissenschaftlichen Assistenten und setzte die Referendarzeit fort. Die angenehme Atmosphäre am Lehrstuhl von Peter Lerche, die Faszination des Umgangs mit komplizierten Problemen, wie sie sich bei der Arbeit an meiner Disserta­ tion „Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung“ ergaben, und der Umstand, dass die Wissenschaft auch die Tür zu anderen Rechtssystemen eröffnete, hat in mir den Gedanken reifen lassen, entgegen meiner ursprünglichen Pläne, an der Universität zu bleiben. Wenn ich heute auf meine wissenschaftlichen Interessen und die Wahl der Themen zurückblicke, lässt sich eine klare Entwicklung ausmachen. Während meiner ersten Jahre fand ich vor allem die Grundlagenwissenschaften interessant. Ich be-

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schäftigte mich mit Rechtssoziologie und mit der Politikwissenschaft. Meine von Niklas Luhmann geprägte Dissertation belegt das. Als ich sie an der Juristischen Fakultät der Universität München eingereicht hatte, meinte einer der Professoren der Fakultät, dass die Arbeit besser bei den Politologen eingereicht worden wäre. Niklas Luhmann habe ich übrigens bei einer mehrtätigen Veranstaltung auch persönlich kennen gelernt. Optisch hatte man bei ihm den Eindruck eines subalternen Finanzbeamten. So scheute er sich nicht, Ärmelschoner auch bei einer öffentlichen Veranstaltung zu tragen. Sobald er aber den Mund aufmachte, stellte man sofort fest, welch brillanter Kopf er war. Faszinierend fand ich auch die Rechtsprobleme der Informationstechnologie. Schon während meines Studiums bin ich ein Semester lang jede Woche nach Regensburg gefahren, weil dort Wilhelm Steinmüller, übrigens ein Professor für Kirchenrecht, das erste Seminar in Deutschland zur Rechtsinformatik abhielt (er hatte den Begriff der Rechtsinformatik nach eigenen Angaben „erfunden“). Das Thema meiner Master-Arbeit in den USA „Executive Information Systems and Congress“ wurde durch dieses Seminar inspiriert. In dieser Zeit fand ich die Beschäftigung mit Einzelfragen der Rechtsanwendung und das Studium von Kommentaren höchst langweilig. Das sollte sich noch ändern. Das Thema meiner Habilitationsschrift „Die Freiheit massenkommunikativer Vermittlung“ wurde naturgemäß durch die medienrechtlichen Arbeiten von Peter Lerche angeregt. Zusätzliche Impulse kamen vom Zeitungswissenschaftlichen Institut der Universität München. Darüber hinaus zeigte sich etwas, was für meine spätere Arbeit prägend werden sollte: Der Versuch einer systematischen und konsistenten Ordnung eines ganzen Rechtsgebiets durch die Herausarbeitung und Entwicklung von Grundstrukturen sowie die Verknüpfung unterschiedlicher Elemente. Hinzu kam das Bemühen um eine eher kurze und übersichtliche Darstellung, ein eher ungewöhnlicher Ansatz für eine Habilitationsschrift. Nach meiner Berufung an die Freie Universität Berlin hatte ich mehrere Jahre lang die Vorlesung zum Wirtschaftsverwaltungsrecht abzuhalten. Aus meinem Vorlesungsmanuskript entwickelte sich ein Lehrbuch zu diesem Gebiet und ich stellte mit einiger Verblüffung fest, dass mir die dogmatische Arbeit an einem Rechtsgebiet richtig Spaß machte. Nach dieser Erfahrung wurde ich für meine Verhältnisse richtig kühn und nahm mir vor, ein Gesetz zu kommentieren. Es handelte sich um das Bundes-Immissionsschutzgesetz, das vor allem für größere Industrieanlagen von Bedeutung ist und meinem Interesse für Technik entgegenkam (als Schüler wollte ich lange Jahre Ingenieur werden). Zu dieser Zeit gab es zu diesem Gesetz mehrere Großkommentare, vielbändige Loseblatt-Werke, an denen jeweils viele Autoren mitwirkten. Sie zu verwenden war nicht einfach. Und mir schien, dass die Kommentare, wohl auch wegen der vielen Autoren, die Dinge noch komplizierter machten, als sie ohnehin waren. So kam mir die Idee, einen Kommentar für das gesamte Gesetz aus einem Guss zu fertigen und das Ganze in einer knappen und übersichtlichen Form zu präsentieren. Das sollte die Rechtsanwendung erleichtern und damit die praktische Relevanz des Gesetzes erhöhen, eine Zielsetzung, die ich auch bei meinen anderen Kommentaren verfolgt habe. Dabei erwies es sich als erforderlich, in der Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur neue Figuren zu entwickeln und für ähnliche Probleme einheitliche Lösungen herauszuarbeiten.

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Die Entscheidung, ein Gesetz bzw. ein Rechtsgebiet mit dieser Zielsetzung zu erläutern, erwies sich als folgenreich. Auf den Grundgesetz-Kommentar werde ich später noch zu sprechen kommen. Erwähnen will ich hier nur mein jüngstes Kind, den Kommentar zur „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, der mir besonders am Herzen liegt. Dieses Buch verbindet meine frühen Interessen für das Recht anderer Länder mit meinen später gewachsenen Interessen an der systematischen Darstellung eines Gesetzes. Zudem kann ich bei der Arbeit an diesem Buch ein Interessenfeld pflegen, das ich seit meiner Habilitationsschrift faszinierend fand, die allgemeine Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik. Hier ein konsistentes System zu entwickeln, stellt eine besondere und sich immer wieder neu stellende Herausforderung dar.

6. Forschungsaufenthalte Zu den schönsten Seiten des Hochschullehrerberufs gehört es, sich von Zeit zu Zeit an die Universitäten anderer Länder zu begeben, nicht selten für mehrere Monate, und dort zu erfahren, wie man in anderen Ländern mit den gleichen oder auch mit anderen Problemen umgeht. Ein solcher Forschungsaufenthalt eröffnete einen hochinteressanten Einblick in die gesellschaftlichen Strukturen und die kulturellen Bedingungen eines Landes. Man entdeckt die Vielfalt des menschlichen Lebens auf unserem Globus, den großen kulturellen Reichtum der Länder und Gesellschaften unserer Erde und gleichzeitig die enormen Gemeinsamkeiten der Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Kulturen und weltanschaulicher Vorstellungen. Von einer solchen Reise bin ich immer sehr bereichert zurückgekehrt, selbst wenn ich vom Recht des betreffenden Landes eher wenig verstanden habe. Beim Bemühen dieses Recht zu begreifen, habe ich mich immer wieder dabei ertappt, vertieft über das deutsche Recht nachzudenken und entdeckte dabei vieles, worauf ich sonst nicht gestoßen wäre. Derartige Forschungsaufenthalte führten mich häufig in die USA (Berkeley, Los Angeles, Pittsburgh, Charlottesville), nicht zuletzt deshalb, weil dort die Gesellschaft und die Wissen­schaft, entgegen mancher europäischen Vorurteile, für Neues und für Fremdes besonders aufgeschlossen sind. Aber auch längere Aufenthalte in Frankreich (Dijon), Großbritannien (London), Japan (Niigata, Tokyo), China (Shanghai), Taiwan (Taipeh) und Indonesien ( Jakarta) ergaben sich. Dazu kamen zahlreiche Kurz-Aufenthalte in vielen anderen Ländern.

7.  Kollegen und Vorbilder Wissenschaftliches Arbeiten kann besondere Freude bereiten, wenn es im Austausch mit Fachkollegen geschieht. Dabei meine ich den persönlichen Austausch im Gespräch über bestimmte Fragen, vielleicht auch anhand eines Textes, den man verfasst hat. Für mich hat insoweit ein Kollege einen besonderen Stellenwert gewonnen, mein Freund Bodo Pieroth. Wir waren beide zusammen viele Jahre an der Ruhr Universität Bochum tätig und gingen häufig gemeinsam zum Mittagessen. Dabei

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war es unvermeidlich, dass wir über unsere Arbeit sprachen und dabei feststellten, dass wir einerseits viele Probleme ganz ähnlich angingen und in unserem wissenschaftlichen Grundverständnis übereinstimmten. Andererseits gab es auch Unterschiede, die unsere Diskussionen bereicherten. Ich war als „Effektivo“, wie er mich einmal (mit durchaus kritischem Unterton) nannte, für das zielgerichtete Vorgehen zuständig, während er sich etwa um die Ästhetik der Sprache kümmerte. Später waren wir dann wieder Kollegen an der Universität Münster, was unseren fachlichen Austausch zusätzlich förderte. Auch heute noch greife ich häufig zum Telefon, wenn ich mir den Kopf über ein Rechtsproblem zerbreche, um meinen Freund Bodo ­Pieroth zu fragen, was er meint. Das ist für mich immer hilfreich und nützlich, und sei es auch nur die Einsicht, dass ich nicht der Einzige bin, der da ein Problem hat. Mit Bodo Pieroth habe ich seit fast 30 Jahren ein für uns beide wichtiges Projekt geteilt: Nachdem mein Kommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz sehr freundlich aufgenommen worden war und ich mich zudem immer wieder, meinen Anfängen entsprechend, mit verfassungsrechtlichen Fragen befasste, kam mir die Gedanke, einen ähnlichen Kommentar zum Grundgesetz zu verfassen. Von Seiten des Beck-Verlags wurde ich allerdings darauf hingewiesen, dass der Verlag schon lange einen solchen Kommentar in der sogenannten Gelben Reihe (die eigentlich orange Reihe heißen müsste) plante und bereits mit mehreren Kollegen entsprechende Verträge geschlossen hatte, die aber nicht umgesetzt wurden. Zu groß war die Aufgabe für einen Verfasser. Daher lag es nahe, angesichts des guten persönlichen und wissenschaftlichen Kontakts mit Bodo Pieroth, mit ihm zusammen den Kommentar zu schreiben. Wie Sie wissen, ist das auch so geschehen, auch deshalb, weil ich die an mich herangetragenen Überlegungen, einen anderen Kollegen einzuschalten, (wie sich zeigte: glück­licher Weise) ablehnte. Das Werk belegt, wie ertragreich und zugleich angenehm die fachliche Zusammenarbeit zwischen Kollegen sich gestalten kann. Zum Teil ist meine Arbeit auch durch Personen befruchtet worden, mit denen ich eher selten zusammen kam, die mich aber durch ihre Fachkompetenz wie durch ihre Persönlichkeit beeindruckt haben und von denen ich etwas gelernt habe, ja die ich in mancherlei Hinsicht als Vorbild ansah. So habe ich bereits in meiner Berliner Zeit einen großartigen Richter kennen gelernt, Horst Sendler. Er war damals schon Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und hat mich bei meinen Arbeiten zum Bundes-Immissionsschutzgesetz bestärkt, was für mich wichtig war, war er doch ein anerkannter Kenner des Immissionsschutzrechts. Auch als ich nicht mehr in Berlin lebte, blieb ich weiter mit ihm in Kontakt. So haben wir an einigen Projekten zusammengearbeitet. Dabei ergaben sich viele interessante und bereichernde Gespräche, in denen er mich durch seine profunden rechtswissenschaftlichen Kenntnisse ebenso beeindruckte wie durch seine charmante Art, die übrigens auch meine Frau und meine beiden Töchter begeisterte, wenn sie das Telefon abgenommen hatten. Von Horst Sendler habe ich schließlich gelernt, dass man durchaus wagen sollte, sich in ganz unterschiedlichen Rechtsbereichen wissenschaftlich zu betätigen. In der Rechtswissenschaft ist eine hohe Spezialisierung, anders als in machem anderen Bereich, nicht zwingend; im Gegenteil, die Beschäftigung mit unterschiedlichen Rechtsbereichen kann sich sehr fruchtbar auswirken.

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8.  Fakultät und andere wissenschaftliche Einrichtungen Wissenschaftliche Arbeit kann nur gelingen, wenn man dabei Freude hat, wenn man die Arbeit gerne tut (zumindest meistens). Dazu trägt wesentlich ein Umstand bei: die sachliche Unabhängigkeit und Freiheit des Hochschullehrers. Er kann darüber entscheiden, welchen Themen er sich zuwendet und auf welche Weise er das tut. Eine solche Unabhängigkeit setzt aber einen geeigneten organisatorischen Rahmen voraus. Den bietet die Universität. Und für die tägliche Arbeit des einzelnen Hochschullehrers ist vor allem die Fakultät von Bedeutung, in der die Hochschullehrer (zusammen mit den Mitarbeitern und Studenten) in Eigeninitiative und Selbstverwaltung den Rahmen für die Tätigkeit jedes Hochschullehrers setzen. Ich halte eine solche Organisation für ein fast unverzichtbares Element erfolgreicher Wissenschaft. Wenn man allerdings Pech hat, kann eine Fakultät die eigene wissenschaftliche Arbeit auch behindern. Insoweit habe ich es an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Münster besonders gut angetroffen, die für meine Arbeit immer einen hilfreichen Rahmen abgab. Ich werde nun nicht das Lob auf meine Kollegen singen, was durchaus berechtigt wäre, sondern auf etwas hinweisen, woran man zu selten denkt. Meine wissenschaftliche Arbeit in den letzten 20 Jahren ist durch die vorzüglichen Forschungsbibliotheken und die hervorragende Unterstützung bei der Nutzung elektronischer Informationssysteme durch die Fakultät sehr gefördert worden. Es macht mir auch heute noch Spaß, in den schönen Räumen des Rechtswissenschaftlichen Seminars zu sitzen und in den umfangreichen Beständen der Bibliothek zu „wühlen“. Sehr hilfreich ist auch die sogenannte IV-Versorgungseinheit der Fakultät. Gerade seit mir die Ressourcen des Lehrstuhls (sprich die Mitarbeiter) nicht mehr zu Verfügung stehen, ist für mich die EDV-Unterstützung bei meiner wissenschaftlichen Arbeit noch unverzichtbarer geworden. Auf eine ganz andere Art wurden und werden meine wissenschaftlichen Tätig­ keiten durch das Zentralinstitut für Raumordnung gefördert, das ich seit vielen Jahren leiten darf. Das Institut befasst sich als reines Forschungsinstitut – unterhalten vor allem vom zuständigen Bundesministerium und der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen – mit Problemen im Grenzbereich zwischen Bau- und Raumordnungsrecht einerseits und Verfassungsrecht, Europarecht und Umweltrecht andererseits. Die Betreuung der Dissertationen und anderer Arbeiten, die an diesem Institut entstehen, regt meine eigene Arbeit in vielfältiger Weise an. Das gilt umso mehr, als mir Susan Grotefels, die Geschäftsführerin des Instituts alle organisatorischen Probleme abnimmt und auch fachlich meine Überlegungen immer wieder befruchtet. Um das Bild abzurunden, will ich noch einige andere wissenschaftliche Einrichtungen erwähnen, die für mich eine Rolle spielten. Zum einen gehöre ich seit vielen Jahren dem Vorstand der Gesellschaft für Umweltrecht an, die sich die wissenschaftliche Bearbeitung des Umweltrechts zum Ziel gesetzt hat. Die mehrfach im Jahr stattfindenden Sitzungen des Vorstands und die Tagungen der Gesellschaft erweiterten immer wieder mein Denken. Ähnliches galt auch für meine Mitgliedschaft im Fachkollegium „Rechtswissenschaft“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem ich mehrere Jahre angehörte und das Anträge von Kollegen zu beurteilen hatte. Ge-

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legentlich war mir dabei auch unwohl, weil ich mir nicht sicher war, ob unsere Beurteilung immer den Nagel auf den Kopf traf. Es hat eben auch seine Schattenseiten, wenn man alle Erkenntnis als vorläufig einstuft.

9. Verlage Jede Wissenschaft lebt von der öffentlichen Diskussion der Ergebnisse. Daher ist die Publikation wissenschaftlicher Arbeiten essentiell und unverzichtbar. Eine Geheimwissenschaft ist keine Wissenschaft. Das bringt die Verlage ins Spiel, die die Veröffentlichung der Arbeiten professionell oder auch weniger professionell vornehmen können. Ich bin schon früh auf einen Verlag gestoßen, der zuverlässig für die Publikation meiner Arbeiten sorgte, der Verlag C.H.Beck. Allein bei meinen Kommentaren waren über 25 Drucklegungen erforderlich. Diese wurden von meinen Lektoren mit großer Sorgfalt betreut. Und auf meine Sonderwünsche sind sie mit Freundlichkeit und Geduld eingegangen. Darüber hinaus ergaben sich auch mit anderen Verlagen immer wieder angenehme und gute Kontakte.

10.  Mitarbeiter und Studenten Die Arbeit eines Hochschullehrers hängt wesentlich auch von seinen Mitarbeitern ab, das ist ganz selbstverständlich. Das heißt aber auch, dass gute Mitarbeiter hilfreich sind, schlechte sehr viel weniger. In besonderem Maß gilt das für die Sekretärin eines Hochschullehrers. Ich bin meinem Schicksal (und der betreffende Dame) außerordentlich dankbar, dass ich während aller Jahre an meinem Lehrstuhl in Münster über eine wirklich herausragende Kraft verfügte, Beate Ashölter. Auch die anderen Mitarbeiter des Lehrstuhls und des Zentralinstituts standen mir hilfreich zur Seite. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Mit ihnen ergaben sich vielfach intensive Fachdiskussionen. Ich hatte praktisch von Anfang an die Gewohnheit, gestützt auf das von Mitarbeitern gefundene Rechtsprechungs- und Literaturmaterial zunächst selbst einen vollständigen Text eines Beitrags zu verfassen und diesen dann einem Mitarbeiter zu kritischer Durchsicht zu übergeben, mit dem Hinweis, umso mehr Kritik, desto besser. Das war immer nützlich, auch wenn der Ertrag naturgemäß unterschiedlich ausfiel. Es kam aber immer wieder vor, dass ich erstaunt war, wie fachkompetent, klug und einfallsreich ein Mitarbeiter mit meinem Text umging und es daher zu bedeutsamen Verbesserungen kam. Dann entwickelten sich fruchtbare Gespräche, die meine Arbeiten inhaltlich bereicherten und gleichzeitig die Freude an der Arbeit förderten. Solche Mitarbeiter verfügten über die Fähigkeiten, die für einen Hochschullehrer Voraussetzung sind. Leider haben sie sich alle anderen attraktiven Berufen zugewandt. Einer machte mir allerdings die Freude, sich zu habilitieren, Martin Kment, der heute einen Lehrstuhl an der Universität Augsburg innehat.

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11. Rechtsberatung Meine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität wurde von Beginn an durch Tätigkeiten der Rechtsberatung ergänzt und befruchtet. Über viele Jahre waren das rechtswissenschaftliche Gutachten. Die Zahl hielt ich immer in Grenzen. Auch nahm und nehme ich Aufträge nur an, wenn der Umfang und die zu Verfügung stehende Zeit tatsächlich eine gründliche wissenschaftliche Prüfung ermöglichen. Die Arbeit an den Gutachten ist nicht nur spannend. Es zeigte sich auch, dass meine eigentliche wissenschaftliche Arbeit davon profitiert. Ein Gutachten ermöglicht es, die zugrunde liegenden Sachverhalte näher zu studieren; ich erinnere mich insbesondere an eindrucksvolle Besichtigungen von Industrieanlagen. Die Befassung mit der Tatsachenbasis eines Rechtsproblems befruchtet das Denken über die einschlägigen Rechts­ figuren und führt auch auf der Rechtsebene zu neuen Ideen. Zudem entdecke ich bei einem Gutachten häufig Rechtsprobleme, an die ich vorher nicht gedacht hatte und die nach einem Platz in meinem systematischen Gebäude verlangen. Im Rahmen eines solchen Gutachtens traf ich vor vielen Jahren auf einen eindrucksvollen Anwalt, Gernot Lehr. Er verband und verbindet, ähnlich wie mein Lehrer Peter Lerche, persönliche Liebenswürdigkeit und höchste Fachkompetenz. Und noch eine weitere positive Eigenschaft besitzt er: Er kümmert sich uneigennützig um das Wohl seiner Sozietät Redeker Sellner Dahs. Vielleicht war das der Grund, dass er mich einige Jahre vor meiner Pensionierung ansprach, ob ich nicht Lust hätte, in der Sozietät mitzuwirken. Da ich in der Sozietät bereits eine Reihe interessanter Kollegen kennen gelernt hatte und zudem einige der Kollegen der Sozietät frühere Mitarbeiter von mir waren, fiel mir die Entscheidung leicht. Ich habe allerdings Gernot Lehr sogleich darauf hingewiesen, dass das für mich nur eine Nebentätigkeit sein kann. Meine überwiegende Zeit wollte ich, auch nach meiner Pensionierung, weiter in meine eigentliche wissenschaftliche Tätigkeit stecken, vor allem das Fortschreiben der Kommentare. Und so fungiere ich in der Kanzlei nicht als Rechtsanwalt, sondern als sogenannter Off-Counsel, also als Berater in schwierigen Fällen, in Konstella­ tionen, die in meine Fachkompetenz fallen und die eine intensivere Befassung ermöglichen. Es geht somit um eine wissenschaftliche Rechtsberatung und gehört daher zum Thema meines wissenschaftlichen Lebens.

Schluss Eine Person habe ich mir für den Schluss aufgehoben, meine Frau. Sie hat fast meinen gesamten wissenschaftlichen Werdegang hilfreich begleitet. Sie hat dafür gesorgt, dass ich mich in einem angenehmen Zuhause erholen und unsere beiden lieben Töchter bei ihrem Heranwachsen begleiten durfte, auch deshalb, weil sie sich als engagierte Rechtsanwältin nicht immer den Kindern widmen konnte und daher ich gefordert war. Generell hat sie mir immer wieder deutlich gemacht, dass die Wissenschaft nicht alles ist, dass es im Leben noch andere schöne Dinge gibt.

Entwicklungen des Verfassungsrechts im europäischen Raum

Relationship between the Constitutional Court and Ordinary Courts in Kosovo An Outside Perspective von

Prof. Dr. Ulrich Karpen, Universität Hamburg Content Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 A. Constitutional Court – Institution, Methods of Interpretation, Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 1. The Constitutional Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 2. Interpretation of the Constitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 3. General principles of CC-procedures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 4. Types of procedures . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 B. Referral of Cases by Courts to the CC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 1. Admissibility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 2. Uncertainty concerning the constitutionality of a norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 3. The validity of the norm essential for decision of the case . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 4. The judgment of the CC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 C. Individual Referrals of Violations of Constitutional Rights by Supreme Court Decisions (Art.  113 para. 7 Const.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 1. The structure of the individual referral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 2. Subsidiarity of the CC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 3. Admissability . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 4. Assessment of the merits - procedural . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 5. Assessment of the merits - substantial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 D. Temptations of Overstretching Constitutional Adjudication and Cooperation of the CC and SC . . . 722 1. The CC as an element of State functions and organs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 2. Examining legality by the CC – open doors? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 3. Judicial restraint, coordination, cooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 And finally . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 Some results . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 Coordination and Cooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732

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Introduction This paper aims at presenting some observations concerning the practical adjudication of the Constitutional Court (hereinafter: the CC) of the Republic of Kosovo from 2008 through June 2014. Its focus is on the procedures of courts’ referral of compatibility of laws with the Constitution (Art.  113, paragraph 8 of the Constitution) and individual referral of violation of rights and freedoms by court rulings (Art.  113, paragraph 7). The paper intends to look at law and practice of the CC from an outside and comparative perspective, taken from other European Constitutional Courts, namely the German Federal Constitutional Court. The paper will do this in four parts: – Firstly (A) it describes the CC: institution, methods of constitutional interpretation, procedural principles; – Secondly (B) referrals of ordinary courts, concerning compatibility of norms with the Constitution, are dealt with in detail; –  Thirdly (C) individual referrals vs. court rulings are presented; and – Fourthly (D) the paper examines some temptations of overstretching the mandate of constitutional adjudication and cooperation of the CC and Supreme Court (SC). There are some specific observations. Firstly, the overwhelming majority of cases submitted to the CC concern individual referrals. Most of them are alleging a violation of the right to a fair trial by the SC, and most of them are inadmissible. Although judicial protection against any act of any public authority is comprehensive (Art.  54 of the Constitution), the exceptional remedy of individual referral against rulings of the SC is dominating the work of the CC both in quality and quantity. There are two reasons for this development. The first is a very positive, namely democratic and participatory one: citizens understand that the CC is the last resort in the country, if all other instruments to control effectiveness of fundamental freedoms and rights fail. Consequently, access to the CC is sought very often as if it were the “fourth instance”. One is faced with the paradoxical situation that legal relief is looked for not by the courts, but against the courts! The second reason for the quantity of inadmissible individual referrals is quite natural: the CC is a young institution, and the Kosovarian “law family”, including namely lawyers, have to learn and to be trained by practice, how elaborate the procedure in the CC is and that the threshold of successful referrals is relatively high. And as a second observation, the quantity and practical importance of courts’ referrals to the CC (Art.  113 para. 8 Constitution) don’t seem to meet the expectations of the Constitution. The type of procedure, however, is of greatest impact for an effective constitutional order. Divergent rulings on how to understand the Constitution and its terms impede clarity and foster uncertainty of the law. Namely, the hesitation of the SC to refer questions to the CC is noticeable. One might suspect that the SC does not want to let the decisions out of its hands. There are few referrals to solve conflicts among constitutional competencies (Art.  113 para. 3 No. 1) or referrals to contest the constitutionality of a law (in abstracto) (Art.  113 para. 5). As in most countries with constitutional courts, the former procedures are of higher political importance and attract interest in the matter.

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This paper, in looking at the relation of the CC and SC, has practical purposes. Citations are limited to references to some decisions of the CC.

A.  Constitutional Court – Institution, Methods of Interpretation, Procedure 1.  The Constitutional Court The CC is a court, and thus it is a part of the judiciary, although “fully independent in the performance of its responsibility” (Art.  112 para. 2 Constitution). Its mandate is to interpret and to apply the Constitution. It is the final authority for the interpretation of the Constitution, but it is not competent for an “authentic interpretation” of the Constitution in the sense of constitutional legislation. In other words: the CC is not participating in the “pouvoir constituant”. In fact, it is jurisdiction on the basis of the Constitution as in force. If the CC declares a law void, it is erroneous to call that judgment “negative legislation”. However, since it has the power to declare an election of the Assembly or of a President or a law (as enacted by the Assembly) unconstitutional, one may address the CC as a “constitutional organ in the structure of the state functions”, an “element of the constitutional balance of power”. As part of the judiciary, the CC has a special relationship with other courts, the Basic Courts, the Court of Appeal and the SC. It is its mandate to review whether laws or governmental acts or court decisions are in compliance with the Constitution. The CC applies “specific constitutional law”. The CC is not a “fourth instance”; no instance of “super-revision”: “However, it is not the task of the CC to assess the legality and accurateness of decisions made by competent judicial institutions, unless there is evidence that such decisions have been rendered in an obviously unfair and inaccurate manner. The CC is not a fourth instance of appeal and has no jurisdiction to reopen court proceedings or to substitute decisions of regular courts with its own findings”.1

The CC is not a fact-verifying and legality-controlling institution. This falls fully within the jurisdiction of regular courts and administrative authorities.2 Its competence is the control of constitutionality. The CC reviews parliamentary laws, delegated legislation (regulations of the government), municipal statutes (Art.  113 para. 2 Constitution) and international agreements (Art.  113 para. 4 Constitution). Subject to CC review is post-constitutional law and pre-constitutional law, if, and insofar as, the legislator incorporated it into its intent and will.

1   KI 54/09, Applicant Ahmet Fetiu, Resolution on Inadmissibility of 15 October 2010; further KI 58/09 and others, Case of Gani Prokshi and 15 other former employees of Kosovo Energy Corporation, Judgment of 18 October 2010; KI 70/11, Faik Hima, Magbule Hima, Bestar Hima, Resolution on Inadmissibility of 16 December 2011. 2   KI 86/11, Applicant Milaim Berisha, Resolution on Inadmissibility of 5 April 2012.

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According to Article 22 of the Constitution, international agreements and instruments are – guaranteed by the Constitution – directly applicable and, in case of conflict, have priority over provisions of laws and other acts of public institutions.3

2.  Interpretation of the Constitution The Constitution is the supreme and fundamental law of the country. It provides order of the state, has a stabilizing function and covers principles and value standards. The Constitution is an integrating factor, limits powers by checks and balances and by control of functions, and it guarantees the central position of citizens in the state, namely by awarding them fundamental rights and freedoms: freedom, equality, autonomy of the individual and protection by law and courts. It is the basis of the unity of the people. The Constitution is political law, the frame of state policies. The Constitution as law for organisation and procedure of state organs is precise. As a yardstick for values the Constitution contains many open, sometimes even vague, dynamic, flexible, and broad terms, which require, in particular, interpretation and concretisation in a given case (human dignity, equality, rule of law, democracy, social state, rights to labour etc.). Sometimes it is difficult to understand these terms in a “strict juridical sense”; their meaning needs to be shaped to the factual and political situation in question. To do this … is the mandate of the CC. This fact is what US Supreme Court Judge Charles E. Hughes meant, when he said – in a very pointed manner – that, “[T]he Constitution is what the judges say it is.”4 The modern methods to interpret the Constitution are manifold. One can differentiate three layers: the traditional toolkit of law interpretation (a), or the new orientation of constitutional norms (b), and both types of interpretation flowing together in a plurality of methods (c). (a) As the Constitution is statutory law (vs. case law), the general principles of law interpretation are applicable. As a starting point, the word and grammar interpretation is to be applied with “letter and spirit”,5 –  historical interpretation follows,6 – purposive interpretation (teleology) (“letter and spirit” 7): “a reasonable explanation of the legitimate aim of the disputed legislation … any explanation or justification concerning the fiscal or economic implications of the enactment”,8 –  comparative interpretation.9   KO 01/09, Qemajl Kurtishi vs. Municipal Assembly Prizren, Judgment of 18 March 2010, para 33.   Charles E. Hughes, Addresses and Papers, 1906–1916, New York 1916, p.  185. 5   KO 103/14, Applicant the President of the Republic of Kosovo, Concerning the assessment of the compatibility of Article 84 (14) [Competencies of the President] with Article 95 [Election of the Government] of the Constitution of the Republic of Kosovo, Judgment of 1 July 2014. 6   Use of Traveaux Preparatoires: KO 103/14. 7   KO 113/14. 8  KO 119/10, Applicant Ombudsperson of the Republic of Kosovo, Constitutional Review of Article 14, paragraph 1.6, Article 22, Article 24, Article 25 and Article 27 of the Law on Rights and Responsibilities of the Deputy, No. 03/L-111, of 4 June 2010, Judgment of 8 December 2011. 9   KO 119/10, concerning responsibilities of deputees. 3 4

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(b) What might be called a “new orientation” of constitutional interpretation is a sample of approaches to understand the Constitution as a political and value-loaded text. – A n example is the system-oriented interpretation. Interpretation aims at finding the right balance of powers (president, parliament, government) in judging on disputes, concerning conflicts among constitutional competencies of state organs (Art.  113 para. 3 (1)). Another example would be to apply the principle of subsidiarity between state and local government matters (Art.  123 and 124). – An orientation towards political reality is particularly needed, in relation to issues of “equal protection of ethnic groups”, namely as far as legislation on “vital interests” is concerned (Art.  81). – Topical interpretation means trying to solve a problem by analysing it in the perspective on the topos at stake in the structure and functions of the whole Constitution, e.g.in the light of separation of powers or distribution of appreciation-responsibility. This problem-oriented approach may be looked at as an important case of “constitutional interpretation” of norms (Constitution as “unity”). One example is the assessment of the compatibility of Art.  84 (14) with Art.  95 in KO 103/14 and the dissenting vote in KO 97/12:10   “In analysing this issue at least three separate articles of the Constitution must be read and interpreted in such a manner as to make all three provisions of the Constitution compatible, if at all possible.”

– Particularly elaborated in modern constitutional theory and practice is the interpretation of fundamental rights and freedoms. Most common is the liberal approach – fundamental rights as defensive rights of the individual vs. the State (freedom, freedom of press, gathering etc.) (status negativus). – Fundamental rights can also be understood as sharing rights entitling the individual to share state offerings: right to education, right to work (status positivus). – They can be participatory rights: rights to participate in state’s and society’s activities (status activus). –  Fundamental rights may be understood as institutions: family, academic freedom. – Fundamental rights as objective value positions (Article 7 of the Constitution): freedom of speech in a democratic society, education and freedom of work as essentials for freely developing one’s personality. As values they are guidelines for interpretation of all law. As imprinting all law, fundamental rights have an impact on legal relations under private law: law of contracts, damages, family law, property law etc. (effect not only in relations of the individual vs. the state, but also a “third party effect” in between members of civil society: against discrimination, for dignity and equality.) – Interpretation must balance fundamental rights according to the proportionality principle, e.g. right to parental education and freedom and free development of children. 10   Applicant the Ombudsperson, Constitutional Review of Articles 90, 95 (1.6), 110, 111 and 116 of the Law on Banks, Microfinance Institutions and Non-Bank Financial Institutions, No. 04/L-093, of 12 April 2012, Judgment of 12 April 2013.

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– And finally, interpretation must try to find a practical concordance of fundamental rights. In case of a collision of fundamental rights no right may be absolutely preferred to others. For example, interpretation can’t give absolute priority either to the right of peaceful demonstration or to the right of free passage of others, but must, however, try to find settlements which preserve the essence of both rights. – And as a guiding standard for interpretation: in dubio pro libertate! (c) In interpretation, the CC should apply a plurality of methods. There is no single standard interpretation. Constitutional law is – although strictly bound to the Constitution – political law. In cases of conflict, which must be adjudicated, often questions have to be answered which are embedded in a network of different interests. This has to be unravelled by nine judges. They represent different views and priorities of state and society, which is typical and advantageous for modern pluralistic and heterogeneous societies. The plurality of this collegium of nine personalities, who are each capable to reach his/her own opinion and to express it, have to find a solution of practical concordance, if possible by consensus, , but with the chance to cast dissenting votes, and taking into account the impacts of their decision. It is vital that they try to find a solution which is ultimately compatible with the Constitution.

3.  General principles of CC procedures (a) The principles of court proceedings are regulated in detail by the “Rules of Procedure” (hereinafter: the RoP). To obey them is a requirement of the primordial principle of fair trial and due process. This is an essential element of the rule of law, which is meant to avoid arbitrariness and provide for legal certainty, as guaranteed through the clarity, comprehensibility and sustainability of the normative system. The procedure covers hearings, collecting evidence, deliberations and voting of the judges, issuing the judgment, and its enforcement. (b) Standards of examination of the case are the (non-)conformity of laws, acts or court decisions with the Constitution. It covers formal and substantive conformity, without being limited to the allegations presented in the referral. The subject matter of the case is limited by the referral, not the extent of examination; it seems to be a question of economy of the procedure to render further examination as superfluous, if one article of the Constitution is violated. Procedures have to start with admissibility criteria, as listed in Rule 36 of the RoP. If the referral is inadmissible, the CC does not enter into an examination of the merits. The decision-making process of the court may be concluded by a unanimous or a split decision, with majority- and minority-votes.11 The possibility of dissenting votes is typical for constitutional courts.12 A unanimous judgment confirms that the opinion of the court is stable, whereas dissenting opinions may signify different views on constitutional provisions or even a fundamental difference of opinion.

  KI 78/12, Applicant Bajrush Xhemajli, Judgment of 24 January 2013.   KI 89/13, Applicant Arbresha Januzi, Judgment of 15 May 2014, with dissenting opinion of Judge Robert Carolan. 11

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(c) Types of decisions are regulated on in Rule 56 of the RoP. Possible contents of decisions may be reinstatement in the status quo ante, a decision of striking out, or orders for the execution of the judgment. As to advisory opinions: “… the Court considers that it is questionable whether such a request … can be raised by the Applicant as an individual party filing his referral pursuant to Art.  113.7 of the Constitution”.13 As to judgments on CC’s decisions and Rule 74, paragraph 1, Rules of Procedure, the concurring opinion of Judge Almiro Rodrigues held:14 “… the court went beyond its jurisdiction when concluding … to repeat the proceedings … and to invite the Applicant to participate in these proceedings”. The CC should have confined itself to “declare such decision invalid and remand the decision to the issuing Court for reconsideration in conformity with the Judgment of the (Constitutional) Court” (Rule 74 Rules of Procedure). If the CC establishes that a norm is not in compliance with the Constitution, according to Rule 65 of the RoP, “it shall declare the respective provisions to be invalid”. From similar provisions as in the RoP other constitutional courts in Europe developed a variety of proportional types of judgments. The court may declare the norm as void, or as void with some transitionary frame, or simply as “not in conformity with the Constitution”, giving the legislator the chance to amend, or just a call to the legislator to amend, or just a statement that the norm is in conflict with the Constitution. These forms of judgment – if an interpretation in conformity with the Constitution is not possible – give the legislator some more time and flexibility and save the certainty of the law until the legislator can react. These instruments protect the separation of powers. And finally: “The reasoning of the judgment is a key component of the fair trial; it is essential to the delivery of justice and it is the best indicator which proves that the courts’ statements in their decisions are well-founded. Reasons show the parties that they have been heard”.15 (d) The effectivity and enforcement of the CC’s decisions are the very basis of trust in the Court (see Art.  31 Constitution and Art.  6 and 13 of the European Convention on Human Rights (ECHR)). “The right to a fair and effective trial as guaranteed by the Constitution and ECHR has been violated, because the appropriate authorities have failed for a long period of time to enforce the judgment …”.

The Court is not obliged to decide exactly how its decision is to be executed: “As to … the question whether the Judgment of this Court forces the dissolution of the Assembly, and holding of new elections, the answer is no”.

“Decisions of the CC are binding on the judiciary and all persons and institutions of the Republic of Kosovo” (Art.  116 para. 1 Constitution). Indeed, the CC lacks execution authorities. The effectivity of its decisions means that all state organs and persons follow. This is no automatism, but rather the essence of understanding and   KI 51/12, Applicant, Sahit Sylejmani, Resolution on Inadmissibility of 8 July 2013.   In case KI 52/12, Applicant Adije Iliri, Judgment of 5 July 2013. 15   KI 89/13, Applicant Arbresha Januzi, Judgment of 15 May 2014. 13 14

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accepting that the Constitution is the supreme law of the land and the interpretation of the CC explaining what the Constitution is in the case at stake. This is the double effect of a judgment on individual referrals declaring a violation of fundamental rights and freedoms: the judgment guarantees the applicant’s protection by the courts (Art.  54 Constitution) (casuistic cassation of public acts) and deepens the impact of the Constitution in state and society (general effect: guiding citizens and state organs to understand the law).

4.  Types of procedures The jurisdiction of the CC is listed in Art.  113, and, in more detail, in chapter VIII of the Constitution. Focuses of this paper are in light of the relation of the CC and the SC two types of procedures: referrals of courts to the CC (Art.  113 para. 8) and individual referrals of violations of the Constitution, namely violations by SC decisions (Art.  113 para. 7). In cases, where the individual referral challenges (directly or indirectly) the unconstitutionality of a norm, which the SC based its decision on, both types of procedures – court and individual referrals – are sub-forms in the category of constitutional control of norm. Norm control covers three types: the “abstract norm control”, the “concrete norm control” (referral of courts) and individual referrals vs. Supreme Court decisions. The abstract norm control (Art.  113 para. 2 (1) and para. 5 Constitution) – first – is independent of a concrete case and independent also of alleged violations of rights of individuals. The effect of the CC’s decision is abstract of a case, is directed erga omnes.16 This paper focuses on the second and third procedures: Court and individual referrals. Referrals of Courts (Art.  113 para. 8 Constitution) (concrete norm control) – second – are caused by a case to be decided on. The effect of the CC’s decision, however, is dissociated from the case (in other words: is abstract). If – third – in case of an individual referral against an SC decision, concerning the constitutional validity of a law, the CC holds the norm, which is the legal basis of the SC’s decision, as unconstitutional, it does not merely repeal the decision, but declares – insofar as applied in the case – the norm as unconstitutional. This part of the judgment is as much dissociated from the case as in “abstract” and “concrete” norm-control cases.

B.  Referral of Cases by Courts to the CC 1. Admissibility (a) “Any court of the Republic of Kosovo may submit a referral to the CC, pursuant to article 113, paragraph 8, of the Constitution, ex officio, or upon the request of one of the parties to the case” (Rule 75 para. 1 RoP). Every judge, be it in a Basic Court or Court of Appeal, or in the Supreme Court, has the mandate of incidental control, but not the competence to declare a law not in conformity with the Constitution and consequently invalid. The latter decision is the monopoly of the CC. This procedure has the essential function to clarify – by a decision which is binding on all authorities   KO 38/12; KO 45/12; KO 57/12; KO 63/12; KO 131/12; KO 95/13; KO 09/13.

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and people Laws – constitutional questions and to prevent divergent rulings of courts, maintain certainty as to what the Constitution is and avoid splintering of legal opinions: altogether a peace-making function. (b) The admissibility of the referral depends – next to a legitimate appellant and a proper subject matter – on two special grounds for appealing to the CC. The court must be uncertain as to the compatibility of the contested law with the Constitution and the referring court’s decision on the case must depend on the compatibility of the case at issue (Art.  113 para. 8 Constitution). Consequently, the subject matter of the procedure before the CC depends completely on the case pending in the referring court. The CC is called upon to examine the norm insofar and to the extent that the decision of the (first instance or appellate or revision) decision is dependent on that norm. The referral initiates just an intermediate procedure in the frame of the pending case. The limitation of admissibility and range of the concrete norm control procedure is sharply in contrast to the inter omnes effect of the CC’s decision, which is general and abstract. (c) As to the admissibility of the court’s referral, every judge sitting alone may launch the referral, or the panel of judges sitting as collective. Not just questions concerning the final judgment may be referred, but rather any decision during the procedure. In proceedings concerning interim measures, the referral is possible at least in such cases when the interim decision anticipates the final ruling to a large extent. The CC usually accepts the statement of facts and the interpretation of law by the referring court, except when they are “evidently wrong”. (d) The subject matter usually is a law.17 It may also be the budget-law, because it is a formal law, as passed by the assembly. This sort of referral is rare, since the budget has effect only between parliament and government, namely as administration, no “external effect” vs. citizens. Laws on ratification of international agreements can be subject of a courts’s referral .The examination covers formal issues.

2.  Uncertainty concerning the constitutionality of a norm The first additional requirement for admissibility of “judges’ referrals” is that the court must be uncertain as to the compatibility of the contested law with the Constitution. This requires the court, before initiating the referral, to have tried to interpret the law in a manner and with a result which is in conformity with the Constitution and renders a referral as superfluous. If there is more than just one possible outcome of interpretation, the court clearly has to give priority to that understanding of a norm which is compatible with the Constitution (Constitution- and legislator-friendly interpretation). The referral is inadmissible if it presents an evidently erroneous interpretation. For the referring court, Constitution-friendly interpretation prevails. It is not sufficient for the court simply to refer its doubts of constitutionality to the CC. In the reasons the court must state with which provision of the Constitution the norm is possibly incompatible. The court has to present its doubts and its own opinion. 17  KI 158/11, Municipal Court in Ferizaj, Branch in Shterpce, Resolution on Inadmissibility of 30 August 2012.

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3.  The validity of the norm is essential for the decision of the case The second additional requirement for admissibility is that the referring court has to show that the referred norm is essential for its decision of the case. It has to demonstrate in what respect its decision depends on the validity of the referred norm. The referral must indicate precisely, and with good reasons, why the court, in case of incompatibility of the norm, would have to decide differently from if the norm were compatible with the Constitution. As long as there is a possibility that the referring court can decide the case in its preferred sense, without applying the norm in question, the decision is not dependent on the norm and hence the referral inadmissible. The referring court must determine and present all facts of the case. It is inadmissible to refer the question of constitutionality before all this usual procedural work is completed, and to leave it to the CC. What the court has to do is to process a sort of “hypothetical examination” of the full case. How would it have to decide in case the norm would be constitutional? And what if it were to be in violation of the Constitution? Only when the decisions are clearly different, can it be said that the decision is dependent on the CC’s ruling.

4.  The judgment of the CC The judgment of the CC would examine the admissibility criteria of the referral and write that the norm is constitutional (or unconstitutional) “insofar” as there was good reason to examine it. The judgment is effective erga omnes in this frame. The referring court must take two important perspectives. On the one hand, it is vital for transparency, clarity and effectivity of the legal order of the country, that the CC effectively makes use of its monopoly to expound the Constitution. If there are severe doubts on the constitutionality of a norm, a court must refer to the CC. On the other hand, parties have a right to pursue legal remedies (Art.  32 Constitution) to be processed in an effective and speedy way. In this perspective a referral causes delay of the judgment and has to be avoided. This is an argument in case of an ex officio referral or in case of a request of one party. The CC in this perspective is a subsidiary court.

C.  Individual Referrals of Violations of Constitutional Rights by Supreme Court Decisions (Art.  113, paragraph 7 of the Constitution) 1.  The structure of the individual referral Individuals are authorized to refer violations of their individual rights by public authorities to the CC, but only after exhaustion of all legal remedies provided by law. Since remedies usually end up in the SC, this paper focuses on decisions of the SC. The referral is directed directly to the decision of the last instance court. In many cases the reason of the referral indirectly concerns the alleged violation of the Constitution by the norm, which was applied in the last instance court, because it held the norm as constitutional. If the CC follows the allegation, it repeals the court judg-

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ment. This declaration dissociates from the case, which caused it, and becomes as valid inter omnes, in other words as “abstract” like CC decisions in procedures of “abstract” and “concrete” norm control.

2.  Subsidiarity of the CC It has to be observed that there is a sort of tension between Article 54 and Article 113, paragraph 7 of the Constitution Article 54 guarantees protection of any right including fundamental rights against any violation of public authorities in a perfect manner. Direct access to the CC is one of the strongest pillars of the rule of law state, and by using this instrument individuals strengthen the integration of the Constitutional state. This effect adds to the protection of the individual vs. violation of his/her fundamental rights. It is a special remedy of objective constitutional law, with a general effect inter omnes, next to cassation of the case decision. The individual referral vs. court decision is just one case of the individual referral vs. public authorities’ actions. Direct access to the CC is one of the strongest pillars of the rule of law-state, and by using this instruments, individuals strengthen the integration of the Constitutional State. This effect adds to the individual protection vs. violations of fundamental rights. That the individual referral is an exceptional instrument of judicial protection is underlined by three facts: Firstly, it is subsidiary, admissible only after exhaustion of all other remedies. Secondly, it may be launched only if a possible violation of fundamental rights is at stake. Although, thirdly, these barriers are high, and it is a strictly exceptional tool, this procedure of Art.  113 para. 7 dominates in quantity and quality the work of the CC and the largest segment of it are individual referrals vs. court decisions. Again, this “popularity” shows that citizens understand this important element of a democratic rule of law-state and make use of it. Despite the large number of individual referrals, namely court judgment-directed, the CC fully examines the admissibility. It has to examine and decide on the merits of the referral, both procedural and substantive. The CC tests the fair procedure/ due-process requirements of the procedure. Statement and assessment of the facts and the interpretation of the law – except constitutional issues – and the application to the case are the jurisdiction of the ordinary courts.

3. Admissibility The CC has to examine the admissibility of individual referrals vs. court adjudication: (a) According to Article 15 of the Constitution everyone enjoys the right to judicial protection. The applicant may be a natural person. According to Article 21, paragraph 4, of the Constitution, fundamental rights and freedoms are also valid for legal persons to the extent possible. This is the case if by establishing of the legal person of private law and its activities the free development of natural persons is strengthened. This is the fact e.g. by establishing associations. Legal persons of public law, in principle, do not enjoy a right of party, since they are public authorities themselves.

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The right of party is moreover, granted to legal persons like universities, faculties, research institutions, (public) broadcasting corporations, since they belong – in spite of public law construction – to the sectors of life which are especially protected by the fundamental rights and freedoms. Another corporation admitted ratione personae is the municipality to the extent described in Art.  113 para. 4 Constitution. Local self-government is a vital factor of devolution of public power and hence important for government organisation. (b) The subject matter in individual referrals vs. the SC is the challenged decision. It may be the final judgment. The last instance-decision on interim measures may be subject matter. The applicant must clarify, what rights have been violated and what concrete act or decision is subject to challenge. (c) The legal basis must be clarified. This must be a violation of fundamental rights, be it in the Constitution of Kosovo or in international agreements and instruments (Art.  22 of the Constitution). “Human rights and fundamental freedoms guaranteed by this Constitution shall be interpreted consistent with the court decision of the European Court of Human Rights” (Article 53 of the Constitution).

(d) The individual referral is admissible only if the applicant has standing in the court. He/she must demonstrate that the allegation is soundly founded in his/her person directly and actually, that it is not an actio popularis, that he/she is a victim of an unconstitutional act of a public authority: This concept was expressed by the Court in the following terms, when it issued the decision to grant interim measures on 16 October 2009: “In line with this, the case law of the ECHR says that the party may ask for such a measure and be granted as such if … the party bring prima facie evidence of such a practice and of his being a victim of it” (see Birink v. Lithuania …)18. “In substance, the Court considers that the applicant is asking for an advisory opinion or an abstract review on the constitutionality of the provision contained in Art.  25 (8) of the annex … In these circumstances the court finds, that, under Article 113, paragraph 8) of the Constitution in conjunction with Rule 36 (3) (c) of the RoP the Applicant is not an authorized party to request a review of the Constitutionality of a legal provision”.19

An individual referral is not admissible ratione personae, if the applicant alleges violation of his/her rights in a case, which is res judicata, in other words: if there is “an identity of persons, of claims and factual grounds”. Such a request “for constitutional review of UNMIK Regulation no. 200/47, and the Law 2008/03-033, is an abstract challenge to the abovementioned Regulation and the Law. If this is the intention of the Applicant as an individual, he cannot be considered as an authorized party.”20 For having standing, therefore, it is required: an allegation to be violated in one´s rights and freedoms be it by action or by inactivity, if a duty for protection or special action requires action, and the demonstration that the encroachment of the rights is directed at the actual individual submitting the referral.   KI 11/09, Applicant Tome Krasniqi, Decision on Interim Measure of 16 October 2009.   KI 63/13, Applicant Safet Voca, Resolution on Inadmissibility of 15 July 2013. 20   KI 82/12, Applicant Milorad Rajovic, Resolution on Inadmissibility of 25 January 2013. 18 19

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(e) Furthermore, the applicant must substantiate the claim: “Furthermore, the Court determines that the Applicant has fulfilled Article 48 of the Law ( Law on Constitutional Court ): ‘In his/her referral the claimant should accurately clarify what rights and freedoms he/she claims to have been violated and what concrete act of public authority is subject to challenge’. In this respect …”.21 “The Court may reject a referral as being manifestly ill-founded when it is satisfied that a.) the referral is not prima facie justified, or b.) when the presented facts do not in any way justify the allegation of the violation of constitutional rights or c.) when the court is satisfied that the Applicant is not a victim of a violation of rights guaranteed by the Constitution, or d.) when the Applicant does not sufficiently substantiate the claim” (Rule 36 (2), a), b), c) and d)).22

(f ) The referral should be submitted within a period of four (4) months from the final decision or the act against which the referral is directed (Art.  49 Law on Constitutional Court). If this deadline is not met, the referral is inadmissible ratione temporis. (g) The referral is admissible only after exhaustion of all legal remedies (Art.  113, paragraph 7 of the Constitution). “Under the Constitution, the Constitutional Court is not to act as a Court of Appeal when considering the decisions rendered by Lower Courts. It is the role of lower courts to interpret and apply the pertinent rules of both procedural and substantive law”.23 “The Court wishes to emphasize that the rationale for the exhaustion rule is to afford the authorities concerned, including the Courts, the opportunity to prevent or put right the alleged violation of the Constitution: The rule is based on the assumption that the Kosovo legal order will provide an effective remedy for the violation of constitutional rights … However, it is not necessary for the constitutional rights to be explicitly raised in the proceedings concerned. As long as the issue was raised implicitly or in substance, the exhaustion of remedies is satisfied.”24

One may say that the referral to the Constitutional Court is subsidiary. The rule of exhaustion concerns only remedies that are available effectively. Discretionary and extraordinary remedies are not effective in this sense:25

4.  Assessment of the merits – procedural (a) Fair trial/due process is the basic principle of processing public agenda in a democratic rule-of-law state, be it in government, administration or judiciary. Some elements to be described here in more detail, next to the basic principle itself, are full hearing, equal protection before the courts, equality of arms, enforcing decisions and adequate reasoning of decisions.   KI 47/12, Applicant Islam Thaci, Judgment of 16 July 2012.   More arguments in: KI 46/10, Applicant Sebahate Shala on behalf of the Organizational Council “Justice for the Kiqina case”, Resolution on Inadmissibility of 11 June 2012; KI 97/11, Applicant Mon Nushi, Resolution on Inadmissibility of 17 January 2013; KI 124/13, Applicant NLB Prishtina (j.s.c.) with seat in Prishtina, Resolution on Inadmissibility of 7 October 2013. 23   KI 53/09, Applicant Avdi Kastrati, Resolution on Inadmissibility of 29 July 2010. 24   KI 68/09, Applicant Emrush Kastrati, Resolution on Inadmissibility of 21 June 2010. 25   KI 23/09, Applicant Ahmet Arifaj, Resolution on Inadmissibility of 20 April 2010, par.  14. 21

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Fair trial/due process is based in Rule of Law, namely in Human rights and Freedoms, namely in Art.  6 of the ECHR, and for court procedures in Art.  31 of the Constitution. Fair and impartial trial (Art.  31) next to the rights listed in Arts. 30, 31 paragraphs 1–7, 32, 54 of the Constitution), covers protection of dignity, personality and freedom (including data protection), guarantees not to be subject to retroactive law, the right to legal aid (if needed and wanted), right to understand and participate in all stages of proceedings, right to receive and present all available information in the case, exclusion of all public officials who are suspect of own interests and prejudice, right to get a decision within a reasonable time frame. Referrals vs. court judgments are remedies not by judges but against judges. The litigation of the CC is comprehensive and de facto the most important and actual “legislation” in procedure-law-matters. The principle of fair trial is violated, if the court decision is partial, unlawful or arbitrary: “Having examined proceedings before the ordinary courts as a whole, the CC does not find that the relevant proceedings were in any way unfair or tainted by arbitrariness”.26 “The court can only consider whether the evidence has been presented in such a manner and whether the proceedings in general, viewed in their entirety, have been conducted in such a way that the applicant has had a fair trial”.27 “Not inviting the applicant to the proceedings before the Supreme Court … infringed the applicant’s right to a fair trial …”.28 “The Applicant failed to show and prove that the challenged Judgment of the Supreme Court was ‘absolutely unfair’ …”.29

The replacement of a judge during the course of hearings is not a case of unfair trial,30 as well as replacement of the international Judge.31 It is, however, unfair if the Presiding Judge of the District Court that decided the case also took part in the decision of the Supreme Court 32 and if the decision of the Supreme Court did not include the legal instruction on the applicant’s right to appeal.33 (b) A full, fair and impartial hearing (Rule 39 of the Rules of Procedure) is a basic principle of procedure before all courts. Violation may lead to “procedural injustice”: “… that the applicant has never received a copy of the judgment from the Supreme Court … did not provide the applicant a copy of the judgment”. The court notes that it is a violation of the right to full hearing, “if the interested party did not have an opportunity to participate in the procedure”.34   KI 19/09, Applicant Mehmet Llapashtica, Resolution on Inadmissibility of 30 January 2012, para

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27  KI 106/11, KI 110/11, KI 115/11 and KI 116/11, Applicants Neki Myha and Nijazi Xharavina, Resolution on Inadmissibility of 20 March 2012, para 35. 28   KI 103/10, Applicant Shaban Mustafa, Judgment of 12 April 2012, para 46. 29   KI 56/11, Applicant NP Media Print, Resolution on Inadmissibility of 24 April 2012, para 35. 30   KI 43/11, Applicant Jeton Sefer Kiqina, Resolution on Inadmissibility of 11 June 2012. 31   KI 81/1, Applicant Burim Ramadani and Arsim Ramadani, Resolution on Inadmissibility of 11 June 2012. 32   KI 06/12, Applicant Bajrush Gashi, Judgment of 27 June 2012. 33   KI 02/10, Applicant Roland Bartezsko, Resolution on Inadmissibility of 1 March 2011, para 29. 34   Law on Administrative Disputes) (KI 108/10, Applicant Fadil Selmanaj, Judgment of 5 December 2011.

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“However, the Supreme Court made no attempt to analyse the applicant’s claim from his standpoint, despite the explicit reference before every other judicial instance … The Supreme Court, by neglecting the assessment of this point altogether, even though it was specific, pertinent and important, fell short of its obligation under Art.  6, para. 1, of the ECHR”.35

(c) Equal protection by law and, specifically, equality of arms is an element of fair trial (Arts. 24 and 31 of the Constitution): “The right to fair trial is a general reference to a complex of the rights and principles including the equality of arms”.36 “… one of the aspects of the right to fair trial is the principle of equality of arms, implying that each party must be afforded a reasonable opportunity to present his/her case under conditions which do not place him/her at a substantial disadvantage vis-à-vis his/her opponent”.37

Equal cases require an equal procedure and judgment. “Equal cases” must be identical cases.38 In KI 89/13 the Judges Almiro Rodrigues and Arta Rama-Hajrizi ( with dissenting opinions) disagreed with the majority, whether two cases of dismissing persons from work were identical or not: “Therefore, we cannot agree with the majority judgment finding a violation of the right to fair trial and a violation of the right to equality before the law and we conclude that the CC acted as a fourth instance court”.

(d) Another principle of due process is the effective execution of court decisions (Article 31 of the Constitution and Article 6 ECHR): “… the CC finds, that the non-implementation of the judicial decisions by the Municipal authority and the failure of the competent authorities … to ensure effective mechanisms in terms of the enforcement of decisions of the relevant authorities and court decisions constitutes a violation of Arts. 31, 32 and 54 Const. …”.39

A case that has become Res judicata must be executed.40 The same applies to decisions of the Independent Oversight Board41 and the Kosovo Property Agency.42 (e) Finally, under fair trial principles the courts are obliged to give reasons for their judgments: “… but (the ECHR) cannot be understood as requiring a detailed answer to every argument. The extent to which the duty to give reasons applies may vary according to the nature of the decision”.43

35   KI 76/10 a.o., Applicants Ilaz Halili and 20 other former employees of Kosovo Energy Corporation Constitutional Review of 21 Individual Judgments of the Supreme Court of the Republic of Kosovo, Judgment of 27 December 2011. 36   Concurring opinion KI 52/12, Applicant Adije Iliri, Judgment of 5 July 2013. 37   KI 52/12. 38   Furthermore, see for equality of parties (KI 78/12) and for equality of arms (KI 108/12). 39   KI 50/12. 40   KI 51/11, Applicant Sylë Shlivova, Resolution on Inadmissibility of 1 November 2011. 41   KI 47/12. 42   KI 187/14. 43   KI 120/10.

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In case KI 72/1244 the CC gives examples for what it wants to incorporate into the reasons and what is a matter of regular courts. However, the obligation of the courts to provide reasons for their ruling with reasonable grounds based on both procedural and substantive law is needed for clarifying and making understandable the judgment to the jurists and parties and to clarify any grounds for appeal.

5.  Assessment of the merits – substantial (a) The examination of the facts – establishment and assessment of them – the interpretation and application of statutory and constitutional law and the procedure is a matter of general courts. The examination of interpretation and application of law in “specific” constitutional law perspective is a matter for the CC. The decision of the CC can be threefold: Firstly, the CC can hold that the norm, as applied in the referred case, is not constitutional and void or not valid. Secondly, the CC may find an “abstract” interpretation of the norm in conformity with the Constitution. And thirdly, the CC may find a constitution-conform (“concrete”) application of the norm on the case. For instance, the CC may constitute a (better) balance of freedom of speech and the law-protected rights of others, which are infringed by the expressed opinion (See competence of the CC under Article 113, paragraph 8 of the Constitution) There are some established criteria for examination of “specific constitutional law” in deciding on cases by general courts, as being referred to the CC. The court may have committed mistakes in interpretation and application of statutory law, which are relevant in the light of fundamental rights and freedoms, be it that he did not notice their relevance (deficit) or he misunderstood, in principle, the impact of fundamental rights, for instance the extent of protection. Furthermore, the judgment itself may violate fundamental freedoms. This may be the case if the decision is objectively unacceptable, hence arbitrary. The court may – in developing the law – have trespassed the border of the Constitution. And finally, it may have transcended the “fluent” border of proportional intensity of encroaching into a fundamental right. The court a quo will have to take notice that fundamental rights and freedoms are not only yardsticks for constitutionality of norms of public law. Since they are the supreme law of the land, they (“letter and spirit of the constitutional order” [KO 29/12 and KO 48/12]) influence interpretation and application of other fields of the law, e.g., civil law, family law, labour law etc. (b) Since the CC had to decide on a great number of referrals vs. SC Judgments, there are some established standards of interpretation and application of the main fundamental rights and freedoms. This applies to the right to work and exercise a profession (Art.  49), the right to property (Art.  46, KI 117/09), the right of family and children (Arts. 37 and 50, KI 36/12). As to the right of work (Art.  49) and to property rights, the CC held: “In the Court’s view, while the right to work is guaranteed by international law, it should not be understood as an absolute and unconditional right to obtain employment. However, there is a strong presumption that retroactive measures taken in relation to the right to work are not 44

 Applicants, Veton Berisha and Ilfete Haziri, Judgment of 7 December 2012.

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permissible. Furthermore, when the ECHR does not explicitly protect the right to work, according to the case law of the ECHR certain aspects of this right are indeed protected by the ECHR, including, in specific cases, the right to property as guaranteed by Art.  1 of Protocol 1 to the ECHR”.

Also, the proposed constitutional amendments had to be considered in the light of the fundamental rights of the citizens.45 (c) When a law limits constitutional rights and freedoms, such a limitation is constitutional if it is proportional. The proportionality test is prescribed by Art.  55. This Article is twofold: on the one hand it provides a justification for the limitations of human rights, and on the other it determines the boundaries of such limitation.46 Article 55 para. 4 reads as follows: “In cases of limitation of human rights or the interpretation of such limitations, all public authorities, and in particular courts, shall pay special attention to the essence of the right limited, the importance of the purpose of limitation, the nature and extent of the limitation, the relation between the limitation and the purpose to be achieved and the review of the possibility of achieving the purpose with a lesser limitation”.

The final borderline of limitation is set in Art.  55, paragraph 5: “The limitation of fundamental rights and freedoms guaranteed by the constitution shall in no way deny the essence of the guaranteed right.”

In other words: the extent of limitation must be appropriate to reach the public purpose, necessary and proportionate in a narrower sense. The balance between the purpose of encroachment and the weight of the limited right must be kept. In economic terms: one has to check, how to get the product with less expenditure. An excellent and detailed formulation of the proportionality principle can be found in the most recent decision of the European Court of Justice (C-293/12 of 08.04.2014) concerning the storing of internet data for prosecution purposes. Similarly to Art.  55 of the Constitution, Art.  2 para. 3 of Protocol No. 4 ECHR provides as follows: “No restrictions shall be placed on the exercise of these rights other than such as are in accordance with law and are necessary in a democratic society in the interest of national security or public safety … or for the protection of the rights and freedoms of others.”47

The proportionality principle is vested in human rights and congruently in the rule of law: government may interfere into rights and freedoms only to the extent necessary to fulfil its tasks. For the courts and other public authorities, there is a certain but not unlimited margin of appreciation in the matter of imposing restrictions. A norm

  KO 29/12 and KO 48/12.   KO 131/12, Applicants Dr. Shaip Muja and 11 Deputies of the Assembly of the Republic of Kosovo, Constitutional Review of Articles 18, 19, 41 and 60 of the Law on Health, NO. 04/L-125, adopted by the Assembly on 13 December 2012, Judgment of 15 April 2013. 47   See also KI 06/10 Applicant Valon Bislimi, Judgment of 30 October 2010, and case KO 131/12, Applicants Shaip Muja and eleven other deputies, Constitutional Review of the 18, 19, 41 and 60 of the Law on Health, No.04/L-125, adopted by the Assembly on 13 December 2012, Judgment of 15 April 2013. 45

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or decision is unconstitutional, if it is objectively, which means factual and plainly disproportionate, in relation to the factual situation which it is to regulate on.48 (d) The judgment of the CC concludes, whether the referred decision of the regular court on the grounds is unfounded or founded. If there is no violation of constitutional rights, the referral is unfounded without merits. – In fact, the applicant by the referral vs. a court’s decision can make up for a referral (“concrete norm-control”), which in the preceding procedure in the general court did not take place because the court did not hold the norm as unconstitutional and did not refer to the CC.

D.  Temptations of Overstretching Constitutional Adjudication and Cooperation between CC and SC 1.  The CC as an element of State functions and organs (a) The far-reaching jurisdiction of the CC, its wide possibilities to decide on frame and limits of jurisdiction of other state organs, causes questions of its position within the context of the separation of powers and the distribution of state functions. Within the frame of the Constitution the CC has wide flexibility in interpreting the text, meaning and purpose of constitutional norms, in defining the reach of its decisions and the choice of legal consequences, as well as in enlarging the binding effect of its decisions. To repeat what has been observed before: this is not authentic interpretation of the Constitution, as being a constituent act, but in fact, not in a strict juridical sense, “the Constitution is what the Judges say it is” (Hughes) (sub A2). The CC says what is pre-decided in the Constitution and how wide the field of application of the case is. The CC has the jurisdiction to repeal non-applicable decisions of all courts. The CC cannot avoid the reproach, to intervene too much into the jurisdiction of the courts. The relation between the CC and the other state organs – legislation, government – may be of more weight. The CC may face the reproach of shifting the borderlines for the legislator in the CC´s direction. One may be of the opinion that the CC is the only “governing power” in the Republic, deciding on foreign policy and treaties, laws, administrative acts and court rulings. In other words: all other bodies have to follow “instructions” of the CC. (b) This is, however, not true. The CC is a court. The control of constitutionality of legal norms is, in what form ever, part of the three main functions of the judiciary: solving disputes, guaranteeing of judicial remedies and monitoring of law. Particularly in the procedure of individual referral, two of these functions are clearly visible: guarantee of individual protection by decision of the case and general clarification of what the (constitutional) law is. The individual referral is a special remedy by means of objective constitutional law. The CC, in relation to other courts a reasonable burden-sharing of cases is needed – as well as competition in the court system could be helpful, the former and the latter in the interest of an optimal effectiveness of the Constitution. This is a functional sharing of the burden. The CC is not – and does not want to be – a court of “super revision”. It just has to monitor whether the courts,   See KI 36/11, Applicant Arjeta Halimi, Resolution on Inadmissibility of 30 September 2011.

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in applying human rights, “in principle” were doing right. It should not be overlooked that incidental control of all legal norms, including constitutional ones, is a mandate of every court. Only quashing a norm or decision as being not in concordance with the Constitution is a monopoly of the CC, and the CC does so in a politically pre-eminent, dominant and procedurally conclusive manner. Adjudication by the CC should have the effect that it is guaranteeing protection of human rights by all courts and – emphasizing this point – the referral to the CC might possibly be a detour. The appeal to the CC is legitimated only if it is indispensable. To reach these goals, it is necessary that the CC can concentrate on issues of principal importance. It should not deal with petty law suits. It needs sufficient equipment to give quality priority over quantity.

2.  Examining legality by the CC – open doors? (a) The traditional distribution of jurisdictions between the CC and the general courts – mainly the Supreme Court – is drawn along the line that the former’s mandate is to examine court decisions only in view of “specific constitutional law”. The formula, as applied, is that the procedure, the examination and the assessment of facts, the interpretation of statutory law and its application on the case are within the jurisdiction of general courts and not within the control competence of the CC. Only when specific constitutional law is violated by the courts, the CC, on an individual referral, may intervene. Specific constitutional law is not violated, if the court’s decision, measured against the ordinary law, is objectively erroneous. The error must, however, be the lack of observation of human rights. The CC does not monitor, whether decisions according to general law, not constitutional law (i.e. statutory law, delegated legislation/sublegal regulations), are “correct”. That is the mandate of the ordinary courts. The CC is legitimized only to point out whether wrong interpretations occur, which are based on principal erroneous assumptions of fundamental rights, in particular the scope of their protection, and also their relevance to the case. The CC puts the delimitations of its competence in two recent rulings as follows: “When assessing the referral, the court must take into account that, in general, the entire legislation is assumed to be constitutional until the opposite is proven. The mandate of the Court is only to review the constitutionality of a decision or of a legislative act and not to review its legality or whether it is supported by good public policy”.49 “The CC reiterates that it is not a court of facts, and it is the regular courts’ competences, at this stage, to collect and assess the evidences, and to decide whether the acts and decisions taken by the applicant fall within the scope of the Minister of Health, which is protected by immunity and to adjudicate accordingly”.50

49   KO 131/12, Applicant Shaip Muja and eleven other deputies, Constitutional Review of the 18, 19, 41 and 60 of the Law on Health, NO.04/L-125, adopted by the Assembly on 13 December 2012, Judgment of 15 April 2013, para 106. 50   KI 17/13, Applicant Bujar Bukoshi, Decision to reject the Interim Measure, 14 March 2013, para 28.

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To summarize: the CC may intervene, firstly, when a constitutional provision has been erroneously applied or not at all, secondly, when a court’s decision assumes a consequence of a norm, which the statutory legislator – under the Constitution – could not have approved, and, thirdly, if the interference with a fundamental right or freedom is – like in criminal law decisions – of particular intensity for the applicant, or – like in civil law cases – the protection of the fundamental right is of eminent importance for a democratic society, e.g., freedom of speech. (b) Although these formulas point in the right direction, it seems not easy to define without a doubt, to which extent the CC may control decisions of ordinary courts concerning their constitutionality. This is a consequence, particularly, of the understanding that fundamental rights are the main pillars of the constitutional value system and thus have a deep impact on interpretation and application of any statutory law. In fact, the border between “specific constitutional law” and statutory law becomes “fluid” and vague, and constitutional problems occur in the guise of interpretation of statutory law. The following fields or provisions of the Constitution indicate situations where the CC may be tempted to overstretch its competences and make inroads into the jurisdiction of the general courts. (c) Article 29 of the Constitution guarantees the right to liberty and security. Liberty is a very basic, wide and flexible term. The field of protection of possible individual activities or non-activities is non-perceivable. It seems that the Constitution understands Art.  29 as a sort of “reserve or collecting fundamental right” in cases where the following typical and detailed rights are not precisely applicable. It seems that Art.  29 is not meant to be a super-fundamental right, covering every possible activity. The latter misunderstanding may possibly banalize Art.  29, like creating fundamental rights “to horse-riding in the woods” or “feeding doves” in municipalities, which then may be regulated only by statutory law (Art.  55 of the Constitution) and produce large numbers of individual referrals. Similar developments of extended areas of application may be foreseeable for the right to life (Art.  25 [Right to Life] of the Constitution). Certainly, the right to protection and an emergency order, to effectuate it, is flowing from right to life.51 It is discussed, however, whether this is a right of the child only or indirectly a right of his/her parents as well (dissenting opinion of Judge Robert Carolan). However, the scope of Article 25 is so broad, that it is imaginable that many issues of medical treatment, right of shelter and the whole social law may be subsumed under Art.  25. The equality principle is another field of detecting, or even “inventing”, innumerable differences and sorting them out in legitimate and illegitimate ones, under the umbrella of Article 24, paragraph 2 of the Constitution. It is the mandate of the CC only, to control whether the grounds for the legal differentiation under the equality principle are reasonable. According to Article 46, the right to property is guaranteed. The use of property, however, is regulated by law in accordance with the public interest. It is the competence of the legislator to establish the public interest. Concretizing the public interest is indeed a political issue, and hence the margin of appreciation is large. The CC is expected to fill in the margin of appreciation – by applying, e.g., the proportionality principle – and to interfere with 51   KI 41/12, Applicant Gezim and Makfire Kastrati, Resolution on Inadmissibility of 26 February 2013.

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the legislator. It is just its jurisdiction, to control, whether the shape of “public interest” is constitutional and whether the limitation of property rights in the case under the given formulation of public interest is free of errors. The CC, in relation to the legislator, is not a co-producer, but just a controller. Monitoring materials is not production! Finally, another possible “open door” for “self-authorization” of the CC are the value-loaded “broad terms” of the Constitution, like the fundamental freedoms section of the Constitution in general, rule of law, democratic participation, proportionality, “third party-effect” of fundamental freedoms in civil, labour-, social law and others. Indeed, these values imprint the whole legal order and, using them as keys, the CC may open the legal order to interpretation. The right to work (Art.  49) may design the whole labour law. The general principles of economy (Art.  119) are the gateway to set the frame of diverse laws for economy.52 Rights and obligations in private law, if disputed, require a court’s ruling. The third party-effect imprints relations under private law by fundamental rights and freedoms. To decide on their meaning and application is the mandate of the CC. And it is difficult to monitor the application of the proportionality principle. As a norm for action by the legislator and other organs, it requires appropriate, effective decisions that further in an optimal way all interests at stake. As norms for controlling a decision, of the law or the general court, the decision may just be declared unproportional, if it is evidently insufficient and inacceptable. (d) These examples demonstrate that, namely, far-reaching interpretation of fundamental rights as values and gatekeepers to statutory laws, may open the door for controlling not only “specific constitutional law”, but also statutory law, i.e. not only the constitutionality, but the legality of a court’s or other decision by the CC. According to Article 55, paragraph 1 of the Constitution, fundamental rights may only be limited by law. Of course, “law” can only be law as in concordance with the constitutional law. If interpreted in this broad sense, every law which is in contradiction with the Constitution – and every court ruling which is based on that law – violates at least the right to liberty (Art.  29), and gives access to courts (Art.  54). This is obviously the case, since fundamental rights and rule of law, which includes protection of human rights, may be limited only by a law which is in procedure and substance constitutional. Consequently, fundamental rights may be a lifting gear to bring every illegal curtailment of fundamental rights before the court, finally before the CC. Moreover, every erroneous application of a law, which is constitutional, may violate fundamental rights and succinctly may be limited only by legal application of a constitutional law. In this way, the CC may not only act as a fourth instance, but as an appellate court and revision instance as well. (e) Admittedly, the litigation of the CC of Kosovo until now does not provide examples of such a “constitutionalisation of the legal order”. Other European CCs, however, have embarked on this way. Therefore, these comments intend to be a “caveat”. There is, however, another field of broad interpretation of fundamental rights which leads to a disproportional activity of the CC, namely fair trial/due process. And in Kosovo, the temptation for the CC to enlarge its mandate seems to be visible already: a major portion of its rulings deal with the inadmissibility of referral on the 52

  KI 44/11, Applicant Rufki Suma, Resolution on Inadmissibility of 18 January 2013.

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grounds of alleged violations of fair trial. Consequently, very often the CC reacts as a fourth appellate court to the procedure – namely of the SC. This attributes to the fact that Art.  31 Const., as a “judicial fundamental right”, regulates in detail the procedural elements of fair trial. Of course, the laws for the branches of the judiciary – Law on Administrative Procedure, Law on Contested Procedure etc. – intensify the rules even deeper, digging on the same issues: initiating procedure, evidence, hearings, and rulings. Consequently, statutory law and sublegal provisions are directly (or indirectly) relevant for the constitutionality of court procedures in the light of Art.  31 of the Constitution, Constitution and under-constitutional law work together intensively. Every detail of procedure may end up before the CC. We are faced with judicial protection against courts instead of judicial protection by courts! The CC is – very often – the “last aid in breakdowns” and is obliged to examine details of facts and to look for a better interpretation of statutory law.53 (f ) A Constitutional Court may be tempted to encroach on other powers of the rule of law/separation of powers-system by various methods of constitutionalisation of the legal system. This could mean, in effect, an enlargement of its authority by self-authorisation, causing legal problems, in substance and function-sharing. This affects primarily the legislative branch of government. The denser the Constitutional Court is interpreting the Constitution (and the more detailed it reads contents of fundamental rights), the more the courts receive the law they are obliged to apply from the hands of that Constitutional Court and not from the hands of the legislature. The distribution of functions between all three powers is endangered also with regard to the executive: the expansion of the law by judge-made law limits the flexibility of appreciation of facts and legal provisions by administrative bodies. Administrative law becomes more and more “concretised constitutional law”. And finally: the finetuned balance of a Constitutional Court and ordinary courts is affected. A Constitutional Court becomes a court of fourth instance, namely in procedural matters. It may well happen that disputes over private law matters are no longer decided by the legislator, but rather by directly activating fundamental rights.

3.  Judicial restraint, coordination, cooperation (a) These problems, which are not – or only partly – realized yet, but may occur, are not helpful for the relationship between the CC, the SC and other state organs. The CC will strive to avoid them, as far as they occur in its sphere of influence. Indeed, there may be ways and means to prevent too many referrals to the CC, mainly to defend it against a large amount of cases. Various formulations, namely in inadmissibility-rulings of the CC, indicate that the CC intends to concentrate its procedures and judgments in individual referrals on cases which include violations of fundamental freedoms of particularly heavy impact. The CC restricts itself to evidence- and 53   KI 108/10, Applicant Fadil Selmanaj, Judgment of 8 December 2011 – serving with a copy; KI 106/11, KI 110/11, KI 115/11 and KI 116/11, Applicants Neki Myha and Nijazi Xharavina, Resolution on Inadmissibility of 20 March 2012 – collecting and presenting evidence; KI 120/11, Applicant Ministry of Health, Resolution on Inadmissibility of 4 December 2012 – equality of arms; KI 89/13, Applicant Arbresha Januzi, Judgement of 15 May 2014 – right to a reasoned judgment.

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acceptability of interpretation-control. The intensified control of procedure and substance of the referred cases seems more and more to be the exception. For instance, the CC is of the opinion that hearing – on the basis of rules of procedure – is basically an issue of the ordinary courts and its mandate is restricted to encroachment into the constitutionally guaranteed core of fair procedure. The CC often encourages the courts to take care thoroughly of keeping full hearings. The “political question doctrine” is not available to the CC. It may, however, cultivate “judicial restraint”, the essence of which is to maintain an adequate margin of appreciation of political decisions of the firstly legitimized state organs. This means, in effect, to refrain from “making politics”. The CC held, for instance: “The CC should not lightly interfere in the sphere of decision-making of the Assembly when it decides on these challenged provisions”.54 “(The CC) declares, by seven votes in favour and two votes against, that the Decision of the Assembly …, concerning the election of the President of the Republic … is unconstitutional – and shall no longer be in force …”.55

Whereas the dissenting opinions of Judges Robert Carolan and Almiro Rodrigues hold: “Since the Court also does not have the power to declare the election unconstitutional without a remedy, the decision of the Majority forces the dissolution of the Assembly and new national elections.”

(b) Ordinary courts, namely the SC, follow in general the decisions of the CC, whereas one could have expected a rivalry of the specialised courts vs. the adjudication of the CC, which – since 2009 – became their “superior”, which has the mandate finally to decide cases in all fields of law. This may, particularly, be true in issues of procedure of the decision, where the monitoring impact of the CC is particularly heavy. “The SC does not describe what were the claims, what was the evidence they have presented”, “what kind of ‘impact on taking another decision’, nor what was the ‘legal matter’ at stake. These are general statements without legal reasoning and logical foundations.” “Thus, the CC considers that the failure of the SC to provide clear and complete answers …” “The Court notes that … the reasoning of the SC is not sufficiently expressed and elaborated …”.56

It is the legitimized interest of ordinary courts, to preserve some flexibility and independence without pressure of justifying their decisions. Finally, it is the ordinary court system which can effectuate the Constitution. The ordinary courts are concretising fundamental rights by interpreting and applying statutory law in the light of human rights. The incidental interpretation of the Constitution in deciding cases in private, penal, social security and other cases by far exceeds (in number) the rulings of the CC. Fundamental rights are omnipresent. Every norm has to be measured by 54   KO 04/11, Supreme Court of Kosovo, Constitutional Review of Articles 35, 36, 37 and 38 of the Law on Expropriation of Immovable Property, No. 03/L-139, Judgment of 1 March 2012, paragraph 51. 55   KO 29/11, Sabri Hamiti and other deputies, Constitutional Review of, Decision of the Assembly of the Republic of Kosovo, No. 04-V-04, concerning the election of the President of the Republic of Kosovo, dated 22 February 2011, Judgment of 30 March 2011. 56   KI 72/12, Applicant Veton Berisha dhe Ilfete Haziri, Judgment of 7 December 2012.

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ordinary courts against fundamental rights: be it “good faith” as a principle of private law, be it protection of freedoms of speech and against defamation at the same time, in penal law, or principles of administrative law as coagulated constitutional law. Only the binding rejection of a norm as unconstitutional is the mandate of the CC. Finally, one should speak of parallel mandates of CC and general courts and subsidiarity of the CC. (c) It is pertinent to see CC and ordinary courts in a relation of coordination rather than superiority and obedience. This perspective requires cooperation. This relation may be described in five points. First, one has to keep in mind that the binding of the CC to the Constitution is precarious. The Constitution contains open, political norms of weight and of particular reach. Second, the same is – in principle – true for ordinary courts, namely administrative courts. “Security and order” is a general clause in police law, with a large field of appreciation; the same is true for “reliability of a person” in commercial law or “state of science and technology” in environmental and nuclear materials legislation. Third, all courts have to apply the Constitution; sometimes the referral of a norm to the CC may be a prolonging path. Fourth, CC and ordinary courts share the appeal to the legislator to legislate on principles, guidelines, limitations of law as precisely as possible. And fifth, a day-to-day cooperation and mutual trust between the CC and ordinary courts is essential to solve possible problems of understanding.

And finally The CC decides, with “mandated power”, constitutional, namely dogmatic, questions of preeminent importance. The judiciary and the legisprudence follow regularly, so that one can obey a new “CC-positivism”. And more and more constitutional adjudication has a “pre-effect” on legislation and administration as well. The more constitutional adjudication grows over time, the more interpretation is adapted to a changing reality, the more constitutional amendments – if necessary – are replaced by judge-made law. Constitutional litigation supports stability by compromise and proportionality. It is rarely “revolutionary”. In the field of human rights, the influence of the ECHR-litigation leads towards an adaptation to and unitarisation of European law, which seems to be a positive development. In future times, the same will happen in all fields of law by the litigation of the European Court of Justice. All this illustrates the importance of the CC. It creates unity of national law and adds to the unification of European law. Trust of the people in the adjudication of the CC indicates the functioning of the democratic rule of law-state.

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Some results Constitutional Court

Ordinary Courts, Supreme Court

The CC faces a growing number of individual referrals. Most of them are alleging violation by unfair procedure of the SC and other regular courts, and most of them are inadmissible. Frequency of courts’ referrals to the CC (Art.  113, paragraph 8 of the Constitution) does not seem to meet the expectations of the Constitution. The type of procedure, however, is of greatest impact for an effective constitutional order. The CC is a court, and thus it is a part of the judiciary. Its mandate is to interpret and to apply the Constitution. As part of the judiciary, the CC has a special relationship with other courts, the Basic Courts, the Court of Appeal and the Supreme Court “[T]he Constitution is what the judges say it is” (Charles E. Hughes, Addresses and Papers, 1906–1916, New York 1916, p.  185). The Court is not obliged to exactly decide how its decision is executed: “As to … the question whether the Judgment of this Court forces the dissolution of the Assembly, and holding of new elections, the answer is no” (KO 29/11). Indeed, the CC lacks execution and enforcement organs. The effectivity of its decisions means that all state organs and all individuals follow. The decision of the CC is binding on them.(Art.  116) This is no automatism, but rather the essence of understanding and accepting that the Constitution is the Supreme law of the land and the interpretation of the CC explaining what the Constitution is in the case at stake. The judgment of the CC would resume the admissibility criteria of the referral and write that the norm is constitutional (or unconstitutional) “insofar” as there was good reason to examine it. In this case, the judg-

A hesitation of the SC to refer questions to the CC is noticeable. One might suspect that the SC does not want to let the decisions out of its hands.

ment is effective erga omnes.

Consequently, the individual referral to the CC vs. all alleged violations by public authorities – not only judgments of courts – could only be an exceptional remedy.

Every court, has the mandate of incidental control, but not the competence to declare a

law not in conformity with the Constitution and consequently invalid. This requires the court, before initiating the referral, to have tried to interpret the law in a manner and with a result which is in conformity with the Constitution and renders a referral as superfluous. For the referring court, Constitutionfriend­ly interpretation prevails. The court, however, is not bound to accept under all circumstances the adjudication of higher courts.

The referral must indicate precisely and with good reasons, why the court in case of incompatibility of the norm with the Constitution would have to decide differently from as if the norm were compatible with the Constitution.

It is inadmissible to refer the question of constitutionality before all this usual procedural work is completed, and to leave it to the CC. What the court has to do is to process a sort of “hypothetical examination” of the full case. On the other hand, parties have a right to pursue legal remedies (Art.  32) to be processed in an effective and speedy way. In this perspective a referral causes delay of the judgment and has to be avoided. The CC in this perspective is a subsidiary court.

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The individual referral, alleging violation of fundamental rights, underlines the elemental importance of human rights in constitutional and state life. This effect adds to the individual protection vs. violations of fundamental rights. “The court can only consider whether the evidence has been presented in such a manner and whether the proceedings in general, viewed in their entirety, have been conducted in such a way that the applicant has had a fair trial” (KI 106/11, KI 110/11, KI 115/11 and KI 116/11 Applicants, Neki Myha and Njazi Xharavina, Resolution on Inadmissibility of 20 March 2012). The far-reaching jurisdiction of the CC, its wide possibilities to decide within the limits of jurisdiction of other state organs, causes questions of its position in separation of powers and distribution of state functions. The CC has the jurisdiction to repeal non-applicable decisions of all courts. The CC cannot avoid the reproach, to intervene too much into the jurisdiction of the courts. The CC may face the reproach to shift the borderlines to the legislator in the CC´s direction. One may be of the opinion that the CC is the only “governing power” in the Republic, deciding on foreign policy and treaties, laws, administrative acts and court rulings. In other words: all other bodies have to follow “instructions” of the CC. The CC, in relation to other courts a reasonable distribution of labour, is needed – as well as competition in the court system could be helpful, the former and the latter in the interest of an optimal effectiveness of the Constitution. Only quashing a norm or decision as being not in concordance with the Constitution is a monopoly of the CC, and the CC does so in a politically preeminent, dominant and procedural finalizing manner. The CC may intervene, first, when a constitutional provision has not at all – or erroneously – been applied, secondly, when a court’s decision assumes a consequence of a norm, which the statutory legislator – under

Although these barriers are high, and it is a strictly exceptional tool, this procedure of Art.  113 para. 7 dominates in quantity and quality the work of the CC and the largest segment of it are individual referrals vs. court decisions. The CC tests the fair procedure/due-process requirements of the procedure. Statement and assessment of the facts interpretation of the law – except constitutional issues – and application to the case are the jurisdiction of the ordinary courts.

Using remedies is inadmissible, if legal questions are identical.

The examination of the facts – establishment and assessment of them – the interpretation and application of statutory and constitutional law and the formation of the procedure is a matter of general courts. The court a quo will have to take notice that fundamental rights and freedoms are not only yardsticks for constitutionality of norms of public law. Since they are the supreme law of the land, they influence interpretation and application of other fields of the law, e.g., civil law, family law, labour law etc. It just has to monitor whether the courts, in applying human rights, “in principle” were doing right. It should not be overlooked that incidental control of all legal norms, including constitutional ones, is a mandate of every court. Adjudication of the CC should have the effect that it is guaranteeing protection of human rights by all courts and – emphasizing this point- the referral to the CC might possibly be a detour. The appeal to the CC is legitimated only if it is indispensable. The CC does not monitor, whether decisions according to general, not constitutional law (statutory law, delegated legislation/sublegal regulations) are “correct”. That is the mandate of ordinary courts.

Relationship between the Constitutional Court and Ordinary Courts in Kosovo

the Constitution – could not have approved, and, third, if the interference with a fundamental right or freedom is – like in criminal law decisions – of particular intensity for the applicant, or – like in civil law cases – the protection of the fundamental law is of eminent importance for a democratic society, e.g., freedom of speech. In fact, the border between “specific constitutional law” and statutory law becomes “fluid” and vague, and constitutional problems occur in the coat of interpretation of statutory law. It seems that Art.  29 [Right to Liberty and

Security] is not meant to be a super-fundamental right, covering every possible activity.

The latter misunderstanding may possibly lead to “banalizing” Art.  29.

However, the scope of Art.  25 [Right to Life] is so broad, that it is imaginable that many issues of medical treatment, right of shelter and the whole social law may be subsumed under Art.  25. The equality principle is another field of detecting, or even “inventing”, innumerable differences and sorting them out in legitimate and illegitimate ones, under the umbrella of Art.  24 para. 2 Const. The CC, in relation to the legislator, is not a co-producer, but just a controller. Monitor-

ing materials is not production!

Finally, another possible “open door” for “self-authorization” of the CC is the value-loaded “broad terms” of the Constitution. Far-reaching interpretation of fundamental rights as values and gatekeepers to statutory laws, may open the door for controlling not only “specific constitutional law”, but also statutory law, i.e. not only the constitutionality, but the legality of a court’s or other decision by the CC. Admittedly, the litigation of the CC of Kosovo until now does not provide examples of such a “constitutionalisation of the legal order”.

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Every detail of procedure may end up before the CC. We are faced with judicial protection against courts instead of judicial protection by courts! The denser the CC is interpreting the Constitution (and the more detailed it reads contents of fundamental rights), the more the courts receive the law they are obliged to apply from the hands of the CC and not from the hands of the legislator. Administrative law becomes more and more “concretised constitutional law”.

Ordinary courts, namely the SC, follow in general the decisions of the CC, whereas one could have expected a rivalry of the specialised courts vs. the adjudication of the CC, which – since 2008 – became their “superior”, which has the mandate finally to decide cases in all fields of law. It is the legitimized interest of ordinary courts, to preserve some flexibility and independence without pressure of justifying their decisions. Finally, it is the ordinary court system which can effectuate the Constitution. The ordinary courts are concretising fundamental rights by interpreting and applying statutory law in the light of human rights. The incidental interpretation of the Constitution in deciding cases in private, penal, social security and other cases by far exceeds (in number) the rulings of the CC.

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Ulrich Karpen

Another field of broad interpretation of fundamental rights which leads to a disproportional activity of the CC is fair trial/due process. The temptation for the CC to enlarge its mandate seems to be visible already: a major portion of its rulings deal with inadmissibility of referral on the grounds of alleged violations of fair trial. The CC restricts itself to evidence- and acceptability of interpretation-control. For instance, the CC is of the opinion that hearing – on the basis of rules of procedure – is basically an issue of the ordinary courts and its mandate is restricted to encroachment into the constitutionally guaranteed core of fair procedure. The CC often encourages the courts to take care thoroughly of keeping full hearings. And the CC indicates that it is primarily a matter of the legislator to concretize regulations of fair hearing, if required. The “political question doctrine” is not available to the CC. It may, however, cultivate “judicial restraint”, the essence of which is to maintain an adequate margin of appreciation of political decisions of the firstly legitimized state organs. This means, in effect, to refrain from “making politics”.

Coordination and Cooperation The problems, which have been listed, are not helpful for the relationship between the CC, the SC and other state organs. The CC will strive to avoid them, as far as they occur in its sphere of influence. Finally, one should speak of parallel mandates of CC and general courts and subsidiarity of the CC. It is pertinent to see CC and ordinary courts in a relation of coordination rather than superiority and obedience. This perspective requires cooperation. CC and ordinary courts share the call, to the legislator to legislate on principles, guidelines, limitations of law as precisely as possible. And fifth, a day-to-day cooperation and mutual trust between the CC and ordinary courts is essential to solve possible problems of understanding. The CC decides, with “mandated power”, constitutional, namely dogmatic, questions of preeminent importance. The judiciary and legisprudence follow regularly, so that one can obey a new “CC-positivism”. And more and more constitutional adjudication has a “pre-effect” on legislation and administration as well.

Ursachen und Probleme ethnokratischer Staats- und Bürgerschaftsmodelle – am Beispiel der Levante von

Rechtsanwalt Dr. Șükrü Uslucan, LL.M. (Columbia), Berlin1 Inhalt I. Einleitung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 II. Historischer Hintergrund: Ende des Osmanischen Reichs („Millet-Systems“) . . . . . . . . . . . . . . . . 737 III. Einzelne Länder der Levante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 1. Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 a) Israelisches Staats(bürgerschafts)- und Nationsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 b) Einbeziehung der nicht orthodoxen Juden seit 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 c) Ausschluss der arabischen Minderheit von der israelischen Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . 745 d) Unterschiedlicher Rechts- und Gesellschaftsstatus innerhalb der Staatsbürger Israels . . . . . . . . 747 e) Exkurs: Rechtslage in den besetzten Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 f) Einbürgerungsrecht und Arbeitsmigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 750 g) Fazit: Kennzeichen des israelischen Bürgerschaftsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 2. Mandatsgebiet Palästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 3. Jordanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 4. Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 5. Syrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764

1   Der Autor ist selbständiger Rechtsanwalt in einer Berliner Kanzlei und lehrt nebenher Rechts­ wissenschaften an der „BAU International University of Applied Sciences“ in Berlin. Er hat u. a. die türkische Regierung in Staats-/Bürgerschaftsfragen beraten, nachdem er bereits zuvor als Experte für den Sachverständigenrat für Zuwanderung tätig war. Seine Dissertation verfasste er zum Thema: „Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit. Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?“, 2012.

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Șükrü Uslucan

Ethnokratische Staats- und Bürgerschaftsregelungen sind stets im historischen und politischen Kontext der jeweiligen politischen Region bzw. Gemeinde zu sehen, sind sie doch Ausdruck der dazugehörigen kollektiven bzw. nationalen Identität eines Staates. Die damit verbundene Exklusivität führt aber oftmals zu nachhaltigen wie auch nachwirkenden Diskriminierungs- und sogar Ausschlussmechanismen gegenüber den „nicht-Dazugehörigen“, d. h. lang ansässigen „inländischen Fremden“ – um nicht den Begriff „Ausländer“ zu verwenden. Die damit einhergehenden Anerkennungsmängel im sozialen und gesellschaftlichen Alltag münden nicht selten in eine gesellschaftliche Missachtung und (be)fördern bisweilen sogar feindselige Einstellungen gegenüber jenen Fremden. Letzteres wiederum erschwert deren gesellschaftliche Integration und auch Identifikation mit dem dazugehörigen (nationalen) Kollektiv, wenn es diese nicht gar verunmöglicht. Zumeist verlaufen derartige Mitgliedschaftskonzeptionen entlang ethnischer, aber eben auch religiöser Grenzziehungen. Deren Ursachen und nachteilige Folgen werden in diesem Beitrag näher beleuchtet, wobei das Augenmerk auf den levantinischen Raum gerichtet wird, worunter nachfolgend die Staaten Israel, Libanon, Syrien, Jordanien und „Palästina“ gefasst werden, wenngleich Letzterer bislang noch kein eigener souveräner Staat ist.2

I.  Einleitung in die Problematik Die Besonderheiten in der hier untersuchten Region haben eine ganze eigene Form der sog. „ethnokratischen Staatsbürgerschaft“3 hervorgebracht, die den geläufigen demokratischen und republikanischen Verständnissen widersprechen. Als eine der zen­tralen Ursachen für derartige Bürgerschaftsmodelle sind – unter anderem – territoriale Grenzstreitigkeiten auszumachen. Die damit verbundenen Exklusionsmechanismen hängen bisweilen auch mit der kolonialen Befreiung zusammen, in deren Folge es zu andauernden Rivalitäten unter den unterschiedlichen Volksgruppen kam. Diese wurden z. T. schon während der Kolonialzeit geschürt, gelegentlich reichen sie sogar bis in die Zeit davor hinein, wie das recht prominent auch andernorts sichtbar ist, nämlich auf dem afrikanischen Kontinent: Dort ist dieses Bezugsverhältnis zwischen Staat und staatlicher sowie gesellschaftlicher Zu- bzw. Zusammengehörigkeit noch stärker mit Aspekten der politischen Gewalt und Herrschaft sowie sozio­   Bislang haben rund 135 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen den von der PLO am 15. November 1988 in Algier ausgerufenen Staat „Palästina“ als unabhängigen Staat anerkannt. Anzumerken ist, dass es von einigen inzwischen nicht mehr bestehenden oder umbenannten Staaten (wie z. B. Nordund Südjemen, Jugoslawien, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Zaire) bereits anerkannt war; teilweise erkennen die entsprechenden Nachfolgestaaten den Staat ebenso an wie etwa Russland, anders dagegen die baltischen Staaten. Auch die DDR hatte noch am 18. November 1988 ihre Anerkennung ausgesprochen. Vor kurzem haben einige westliche Parlamente ihre Anerkennung ausgesprochen wie etwa das Vereinigte Königreich und Spanien sowie jüngst der Vatikan. Indes sind die jeweiligen Regierungen dem bislang noch nicht immer gefolgt, vgl. näher Permanent Oberserver Mission of The State of Palestine to the United Nations, www.palestineun.org. 3  Aufschlussreich Uri Davis, Citizenship and the State, A Comparative Study of Citizenship Legislation in Israel, Jordan, Palestine, Syria and Lebanon, Ithaca 1997, Einleitung; Oren Yiftachel, The Shrinking Space of Citizenship, Ethnocratic Politics in Israel, Middle East Research and Information Project, Beer-Sheva 2002, www.merip.org. 2

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ökonomischen Faktoren verbunden, und zwar als Trabant der kolonialen Ereignisse.4 Hier zeigten diese ihre wohl drastischsten Folgen, schon allein wegen der Rücksichtslosigkeit in Bezug auf die Kolonial- wie auch späteren Staatsgrenzen. Trotz oder gerade wegen der vielfach multiethnischen und multikulturellen Gesellschaften kam es gerade auf dem „schwarzen Kontinent“ immer wieder zu exkludierenden Staatsangehörigkeitsregelungen und -konzeptionen. Die Ausgrenzungsmuster ähneln sich: Bevölkerungsgruppen, die im Rahmen der Erschaffung oder Erhaltung einer (neuen) nationalen Identität als Hindernis auftauchten, wurden auf vielfältige Weise ausgeschlossen. Das hat im Laufe der Zeit nicht nur zu unfreiwilligen Wanderungs­ bewegungen geführt, sondern auch zu einer hohen Zahl Staatenloser. Eine weitere Hauptursache für das Entstehen solcher Bürgerschaftsmodelle ist, dass weder die Achtung der Allgemeinen Menschenrechte noch der Demokratiestandard „westlichen“5 bzw. westeuropäischen Migrationsgesellschaften genügt; das gilt insbesondere gegenüber der Einbeziehung jener inländischen Fremden. Zudem haben die dortigen Zuwanderungsgeschehen in aller Regel andere Motive und Ursachen als die in Europa bekannte Gastarbeitermigration der 1960er und 1970er Jahre, die auf zahl­ reiche Anwerbeabkommen mit den Herkunftsstaaten beruhten: Statt dieser auf Freiwilligkeit basierenden Migration, mussten jene Personen fliehen bzw. wurden aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben. Dieser Beitrag will zeigen, wie die arteigene Verquickung von Religion, Ethnie bzw. Nation mit der Staatsbürgerschaft ein Bürgerschaftsmodell geschaffen hat, das jedenfalls aus Sicht einer westlich-abendländischen und vor allem modernen Staatsund Verfassungskultur ungewöhnlich oder doch unzeitgemäß erscheint – gilt die staatliche Zugehörigkeit in Form der Staatsangehörigkeit doch als ein Testfall für die demokratische Gleichheit der Mitgliedschaft in einem bestimmten politischen Gemeinwesen. Denn eine Dominanz der konfessionellen oder ethnischen Identitätskomponente im Verhältnis zur demokratischen Idee der egalitären Staatsbürgerschaft führt unweigerlich dazu, dieses Spannungsverhältnis auf Kosten eines „Rechts auf Staatsangehörigkeit“ (im Weiteren Sinne, d. h. Möglichkeit der Einbürgerung) aufzulösen, mithin das Recht auf Teilhabe und Teilnahme an der Gestaltung des politischen Gemeinwesens zu verunmöglichen. Mit anderen Worten: Die jeweilige Zugehörigkeit zur Ethnie oder Religion spielt eine noch größere Rolle für die kollektive Identitätsbildung als die zum jeweiligen Staat in Form einer einheitlichen nationalen Identität. Nahezu zwangsläufige Folge ist die Verletzung des menschenrechtlichen Aspekts der Gleichheit aller Bürger im Gemeinwesen, einem zentralen Schlüssel beim Zugang zu den verschiedenen staatlichen Ressourcen und daneben elementar für einen (gesamt-)nationalen Zusammenhalt. Der egalitäre Aspekt der Staatsbürgerschaft wird zusätzlich untergraben, wenn eine vollständige Gleichstellung mitunter erst nach Ablauf einer langen Wartefrist 4   Darüber hinaus Georges Nzongola-Ntalaja, Global Insights: Citizenship, Political Violence, and Democratization in Africa, in: Global Governance, 2004, S.  4 03 ff.; ders., The Politics of Citizenship in the DRC: States, Borders and Nations: Negotiating Citizenship in Africa, Annual International Conference, 19.–20.5.2004, Centre of African Studies, University of Edinburgh 2004. 5   Die Bezeichnung „westlich“ wird zivilisatorisch und nicht geographisch verstanden, so dass darunter Räume gehören wie in erster Linie Europa und Nordamerika sowie die ehemaligen britischen Kolonien Australien und Neuseeland.

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bei Eingebürgerten erfolgt und in dieser Zeit diverse Einschränkungen wie bei der Berufswahl sowie Belegung wichtiger (v. a. politischer) Ämter und Posten bestehen wie etwa im Libanon oder Jordanien. Ein weiteres Erkennungszeichen – in Form eines zusätzlichen demokratischen Mangels – ist die geschlechtliche Ungleichheit: In weiten Teilen der „arabischen Region“ wird die Staatsbürgerschaft patrilineal vermittelt, dagegen matrilineal nur, wenn die Staatsangehörigkeit des Vaters ungeklärt ist.6 Vergleichbares gilt im Zusammenhang mit der Heirat, bei der ebenfalls die (Ehe-)Männer privilegiert werden.7 Diese und andere Ungleichbehandlungen hängen letztlich mit der mangelnden Säkularisierung des Staates und seiner Institutionen zusammen – quasi als Nachlass des Osmanischen Reiches. Diese defizitäre Etablierung des verrechtlichten Nebeneinanders von Staat und Religionsgemeinschaften hat zu einem bedrohlichen Ineinander der beiden Bereiche geführt.8 Denn dieses Zusammenspiel ist allzu oft zum Nachteil der menschenrechtlichen Gleichheit ausgetragen worden. Letzteres lässt sich vor allem im Einbürgerungsrecht levantinischer Staaten nachweisen, die eine wechselseitige Diskriminierung von „Juden“ und „Arabern“ praktizieren. Diese Einleitung soll mit der – nicht ausschließlich staatsangehörigkeitsrechtlich – prekären Situation der Palästinenser abgerundet werden, die in besonderer Weise die These Hannah Arendts bestätigt, wonach die Staatsbürgerschaft als das „Recht, Rechte zu haben“ sowie „als das einzig wirkliche Menschenrecht“ gilt.9 Die staatbürgerschaftliche Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft bildet ihr zufolge eine der wesentlichen Grundlagen für die Verwirklichung des eigenen Lebenskonzeptes. Dementsprechend hat sie den Zugang zur Staatsbürgerschaft als die große „Gleichmacherin“ im „Kampf um Gleichheit“ aufgefasst: „Gleichheit ist uns nicht gegeben, sondern wird durch eine vom Prinzip der Gerechtigkeit geleitete menschliche Organisation produziert. Als Gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren.“10 Denn wo kein funktionsfähiger Staat bereit steht, alle seine ethni6   Zur geschlechtlichen Ungleichbehandlung in der gesamten arabischen Region siehe genauer Suad Joseph, Gender and Citizenship in the Middle East, Syracuse 2000. Daneben Nadia Hijab, Women Are Citizens Too: The Laws of the State, the Lives of Women, Regional Bureau for Arab States – United Nations Development Programme, 2002, www.undp-aciac.org, S.  4 ff. Weiterführender ist die Untersuchung des Collective for Research and Training on Development (CRTD), „Gender, Citizenship and Natio­ nality Program“ – Denial of Nationality: The Case of Arab Women, www.policylebanon.org, insbesondere S.  13 ff. m. w. N. speziell zum Libanon und zu Marokko sowie zur Vereinbarkeit mit entsprechenden internationalen Menschenrechtsverträgen. 7   Hier hatte zwar der seinerzeitige ägyptische Präsident Mubarak verlautbaren lassen, die Möglichkeit der Vermittlung auch über die Frauen in die Wege zu leiten, was theoretisch mehr als 250.000 Frauen und über eine Million Kinder betreffen würde. Die rechtlichen Voraussetzungen sind aber sehr hoch; ähnliches soll auch in Jordanien eingeführt werden, vgl. Paul Schemm, Egypt May soon Permit Women to Confer Citizenship, in: „Women’s eNews“ v. 3.11.2003, www.womensenews.org. 8   Dieses vielfältige Wechselspiel behandelt umfassender z. B. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, 2.  Aufl. 1996. 9   Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 1986, S.  60 ff. Siehe für den EU-Kontext Robert Bellamy, The Right to Have Rights, in: ders./Alex Warleigh (Hrsg.), Citizenship and Governance in the European Union, 2001, S.  41 ff. Weiterführend sind die Beiträge in Hauke Brunkhorst/Wolfgang R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte: Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik, 1999. 10   Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, Die Wandlung 4 (1949), S.  754 ff. (764);

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schen oder religiösen Mitglieder in eine politische Gemeinschaft qua „Staats-Angehörigkeit“ zu inkorporieren, ihnen anschließend bestimmte Rechte zu gewähren, bleibt der Menschenrechtsschutz erfahrungsgemäß unvollkommen. Das gleiche gilt, wenn Staaten nicht gewillt sind, allen Personen, die auf ihrem Territorium leben oder anderweitig unter ihrer Kontrolle stehen, einen annähernd gleichen rechtlichen wie tatsächlichen Schutz zuteil werden zu lassen – und zwar als menschenrechtlicher Ausdruck ihrer Anerkennung.

II.  Historischer Hintergrund: Ende des Osmanischen Reichs („Millet-Systems“) Für die historische Betrachtung macht es Sinn, kurz an das Ende des Osmanischen Reiches anzuknüpfen bzw. damit zu beginnen, reichte es doch bis nach Palästina. Sodann wäre schon auf eines der zentralen historischen Versäumnisse hinzuweisen, die im Rahmen der territorialen Neuordnung seitens der Mandatsmächte nicht ausreichend beachtetet wurden: die ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten. Spätere Flüchtlingswellen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren Folgen der zionistischen Bestrebungen, die in der Gründung des Staates Israel (1948) mündeten, aber die Palästina-Frage unbeantwortet ließen: Bekanntlich sah die britische Mandatsmacht seinerzeit keine Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung und entschloss sich kurzerhand zur Übergabe des Mandats an die Vereinten Nationen.11 Einen Tag vor Beginn des Rückzugs wurde – gegen den erklärten Widerstand der arabischen UN-Mitgliedstaaten und der Palästinenser – der Staat Israel proklamiert. Im Verlauf des noch im gleichen Jahr von fünf Mitgliedsländern der Arabischen Liga ausgelösten Palästina-Krieges, in der israelischen Terminologie „Unabhängigkeitskrieg“, eroberten israelische Truppen ein 6.700 quadratgroßes Gebiet, das ursprünglich für den zu Günther Maluschke, Die Entwicklung des modernen Menschenrechtsverständnisses, in: Eichholzbrief. Beiträge zur politischen Bildung und Information Nr.  2 (1986), Menschenrechte – Geschichte, Argumente, Dokumente, S.  1 ff. 11   Der Bericht der sog. „Peel-Kommission“ (1937), abruf bar unter: www.jewishvirtuallibrary.org, der eine Teilung Palästinas und die Errichtung eines arabischen und eines jüdischen Staates vorsah, empfahl, dass die bisher verfolgten bi-nationalen Überlegungen zurückgestellt werden sollten, vgl. dazu wie auch zum Folgenden z. B. Weiß, Die Entwicklung der Palästina-Frage seit dem Peel-Bericht, in: ZaöRV 9 (1939), S.  382 ff. Die im folgenden Jahr einberufene „Woodhead-Kommission“ sollte entsprechende Teilungsalternativen unter der Prämisse der Schaffung homogener Siedlungsräume und der gleichzeitigen Vermeidung von Bevölkerungsverschiebungen erarbeiten. Eine Teilung scheiterte indes am entschiedenen arabischen Widerstand. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich Großbritannien – durch den Verlust seiner bisherigen Vormachtstellung – mit einer neuen politischen Konstellation konfrontiert. Eine potentielle Aufteilung Palästinas war nur noch mit Zustimmung der Vereinigten Staaten möglich. Versuche, mittels eines anglo-amerikanischen Untersuchungsausschusses, eine gemeinsame Linie zu erarbeiten, scheiterten ebenso wie bi-laterale Gespräche, so dass Großbritannien sich 1947 gezwungen sah, die Vereinten Nationen einzuschalten, die ihrerseits einen Teilungsplan erarbeiteten, der eine Teilung Palästinas in einen arabischen und jüdischen Staat vorsah, wobei Jerusalem als Corpus separatum unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte. Der UN-Teilungsplan für Palästina wurde am 29.11.1947 von der UN-Generalversammlung als Resolution 181 (II) angenommen. Der Text ist abrufbar unter: www.un.org. Dieser Plan wurde von den Großmächten USA und Sowjetunion begrüßt, stieß aber auf heftigen Protest im arabischen Lager.

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bildenden arabisch-palästinensischen Staat vorgesehen war. Es entstanden drei separate Gebiete: Israel, der Gazastreifen (unter ägyptischer Verwaltung) und das Westjordanland (unter jordanischer Verwaltung). Wie soeben angedeutet, sind vor allem die Palästinenser von der staats-/bürgerschaftlichen Exklusion – zumeist in Form der Staatenlosigkeit – betroffen. Der histo­ rische Hintergrund hängt nicht zuletzt mit der Ansiedlung des ehemaligen Mandatsgebietes „Palästina“ mit jüdischen Siedlungen sowie die anschließende Errichtung eines Staates mit jüdischem Charakter zusammen, und zwar inmitten von vorwiegend islamisch geprägten Bevölkerungsstrukturen, die lange Zeit von zumeist autokratischen Herrschaftsgebilden regiert wurden.12 Zudem stellt die ungelöste „Palästi­ na-Frage“13 einen bis heute noch sichtbaren Faktor dar, weshalb es immer wieder zu Spannungen kam, die sich bereits mehrfach in kriegerischen Auseinandersetzungen entluden. Die Auswirkungen reichen bis in die Einbürgerungspraxis der betroffenen Staaten hinein. Deren Kennzeichen ist eine ausgeprägte Verweigerungshaltung gegenüber den unzähligen und weitverstreuten Palästinensern: Fast drei Viertel von ihnen – von rund sieben Millionen – leben laut Angaben des UNO-Flüchtlingswerks UNRWA jenseits ihrer Heimat; die meisten (ca. vier bis fünf Mio.) sind Flüchtlinge, im gesamten Nahen Osten verstreut. Die Palästinenser selber sprechen hier von mehr als 5,2 Mio.14 Das Fehlen eines souveränen Staates „Palästina“ einschließlich seiner endgültigen Grenzverläufe erschwert das Ganze. Infolgedessen können die unzähligen und weitverstreuten (staatenlosen) Palästinenser ihren Anspruch auf ihre (palästinensische) Staatsangehörigkeit nicht einlösen. Letzteres hängt nicht zuletzt mit dem ursprünglichen Nations- und Nationalitätsverständnis zusammen, dessen Wurzeln im Osmanischen Reich angelegt waren.15 Die Spuren lassen sich noch heute nachweisen: Den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet das sog. „Millet-System“ (Türkisch: Volk oder Nation), das für die verlangsamte Trennung politischer, nationaler, religiöser und ethnischer Sphären mitverantwortlich ist. Deswegen wurde bei der Bestimmung der jeweiligen Volkszugehörigkeit nicht bloß vorrangig auf das Kriterium der gemeinsamen Sprache und Kultur abgestellt, sondern gleichermaßen auf die Religion. Neben dem Osmanischen Reich wurde dieses Modell auch in den meisten britischen Kolonien, in traditionellen islamischen Königtümern und dem post-unabhängigen Libanon angewandt.16 Einige Elemente finden sich auch in Indien.17 Vergleichbares gilt auch andernorts wie etwa in Libyen, wo ein Abfall vom Islam (Apostasie) mit dem sofortigen Verlust der Staats12   Ausführlicher zu den verschiedenen Phasen des Exodus der Palästinenser z. B. Lex Takkenberg, The Status of Palestinian Refugees in International Law, Oxford 1998, S.  8 ff.; Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, 2nd Edition, Cambridge 2004, S.  598 ff. 13   Generalversammlung – Resolution 3236 (XXIX), v. 22.11.1974. 14   Siehe zu den variierenden Flüchtlingszahlen die „United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugess in the Near East“ (kurz UNRWA) unter: www.un.org/unrwa. 15   Die unterschiedlichen Nationalitätsverständnisse erläutert U. Davis (Anm.  3 ), Einleitung. 16   Rania Maktabi, State Formation and Citizenship in Lebanon, The Politics of Membership and Exclusion in a Sectarian State, in: Nils Butenschon/Uri Davis/Manuel Hassassian (Hrsg.), Citizenship and the State in the Middle East: Approaches and Applications, New York 2000, S.  146 ff. 17   Parekh Bhikhu, Integrating Minorities in a Multicultural Society, in: Ulrich K. Preuß/Ferran Requejo (Hrsg.), European Citizenship, Multiculturalism, and the State, 1998, S.  67 ff.

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bürgerschaft sanktioniert wird.18 Erwähnenswert wäre zudem die Verfassung Malaysias, wonach alle ethnischen Malaien entsprechend der islamischen Theologie von Geburt an automatisch als Muslime gelten. Folgenreich an diesem osmanischen System ist oder war, dass es die sinngebende Kraft betont(e), die Individuen von ihrer jeweiligen Kultur erhalten: Der osmanische Staat kümmerte sich seinerzeit vornehmlich um rechtliche und administrative Aufgaben. Er wurde aber weniger als moralische Instanz angesehen, d. h. sein Zweck blieb anfangs auf die Kulturerhaltung beschränkt, wenngleich er für die Förderung der ihn tragenden Kulturen sorgte, er also sich nicht in bloß formaler Zurückhaltung übte. Das Modell verstand sich nicht als „Gemeinschaft von Gemeinschaften“, die eine unabhängige „moralische Basis“ besitzt, sondern eher als eine „Union von Gemeinschaften“, die einen Rahmen zur Verfügung stellt, in der jede Kultur für sich leben und miteinander in Interaktionen treten kann. Daher schuldeten die Mitglieder in erster Linie ihrer jeweiligen Kultur oder Religion eine Loyalitätspflicht – erst derivativ und damit nachrangig dem Staat. Infolgedessen entwickelte sich das Osmanische Reich im Laufe der Zeit, die anfangs zugleich eine Phase der Ausdehnung war, zu einem multikonfessionellen Gemeinwesen. Anders als in weiten Teilen Europas folgte es aber nicht dem Grundsatz eines „cuius regio, eius religio“, stattdessen gewährte es den Muslimen insgesamt eine bevorzugte Rechtsstellung. Überhaupt war für den rechtlichen Status und die politische Identitätsfindung die Zugehörigkeit zu einer anerkannten und autonomen Religionsgemeinschaft ausschlaggebend – hier endete die Toleranz der Osmanen. Das Auf kommen der Territorialstaaten wie auch das neue Konzept des Nationalstaates hat dann aber auch das Millet-System zunehmend in Frage gestellt: Im Spannungsfeld konkurrierender Mächte und Interessen, ethnisch-kultureller Assimilation sowie (nationaler) Identitätsfindung wurden die ehemaligen Grundlagen der politischen Loyalität immer stärker ausgehöhlt. Die Bedingungen des Zusammenlebens veränderten sich nachhaltig. Die im Gefolge entstehende Uneindeutigkeit der ehemaligen Zuordnungskriterien führte langfristig zum verstärkten Rekurs auf die Abstammung, womit eine schrittweise Ethnisierung des Nations- bzw. Nationalverständnisses einherging, die zuweilen nur pseudohistorisch begründet war, also auch einem Mythos entsprang.19 Staatsbürgerschaftsrechtlich war das späte Osmanische Reich zunächst noch vom Französischen inspiriert: Das Gesetz aus dem Jahre 1851 folgte in erster Linie dem Geburtsortsprinzip; es wurde aber 1869 weitgehend vom Abstammungsprinzip er18   Vergleichbares gilt auch im Senegal, wo für die ersten zehn Jahre diese Personen sich nicht für politische Ämter zur Wahl stellen können, kein Ministeramt übernehmen und nicht im öffentlichen Dienst angestellt werden dürfen. Des Weiteren sind sie für fünf Jahre für die Ausübung einer Reihe freier Berufe gesperrt. Zudem ist die Einbürgerungspraxis restriktiv. Lediglich 592 Personen wurden in 30 Jahren auf einen Antrag hin eingebürgert, wobei es sich um finanzkräftige Franzosen und Libanesen gehandelt habe. Der Senegal erkennt im Übrigen vier Prinzipien des Erwerbs an: Abstammung, zehnjähriger-Mindestaufenthalt, Dekret des Staatspräsidenten. Die „Einheirat“ gilt nur bei Frauen, die automatisch eingebürgert werden – mit einem Ausschlagungsrecht; ausländische Männer müssen hin­ gegen einen fünfjährigen Mindest-Aufenthalt vorweisen, vgl. dazu www.focus-migration.de/Senegal. 2636.0.html. 19   Holm Sundhaussen, Unerwünschte Staatsbürger, Grundzüge Staatsangehörigkeitsrechts in den Balkanländern und Rumänien, in: Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, 2001, a. a. O., S.  193 ff.

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setzt, obgleich es weiterhin die Einbürgerung bei Geburt im Reich durch ein vereinfachtes Registrierungsverfahren zuließ.20 Der absehbare Untergang des Reiches verlangte auch eine Neuordnung der jeweiligen Staatsangehörigkeiten. Drei Topoi standen dabei im Vordergrund: Fragen der In- bzw. Exklusion der Bürger, Umgang mit Bevölkerungsgruppen fremder Ethnizität bei Gebietsveränderungen sowie die Behandlung von Einwanderern. Insoweit setzten sich am Ende nicht immer die Forderungen des Völkerrechts bzw. der damaligen Großmächte durch.21 Kennzeichen dieser Umgestaltung war, dass bei den Staatsneugründungen nicht bloß auf Zu- und Zusammengehörigkeitskriterien abgestellt wurde, die im Rahmen der europäischen Nationalstaatsbildungsprozesse zentrale Anknüpfungspunkte bildeten. Vielmehr kam es auch zu Entlehnungen aus dem Millet-System, weshalb die Religion einen bestimmenden Faktor einnahm.

III.  Einzelne Länder der Levante 1. Israel Das jüdische Volk stellte lange Zeit eine zerstreute Glaubensgemeinschaft ohne gemeinsames Territorium dar. Das erklärt, warum im Rahmen der Gründung des Staates Israel der Gesichtspunkt der Einwanderung einen zentralen Stellenwert einnahm, also geradezu darauf aufgebaut ist. Seit der Staatsgründung 1948 sind in toto mehr als drei Mio. zumeist jüdische Immigranten eingewandert. Bereits dem Aufruf des Zionismus nach Palästina auszuwandern, folgten bis 1920 rund 85.000 Juden.22 Noch vor dem Beginn der großen jüdischen Einwanderung um 1880 lebten dort etwa 450.000 Araber und nur ca. 25.000 Juden auf 26.320 qkm, wobei die Araber knapp ein Drittel des gesamten Landes besaßen und dies nahezu komplett in Privatbesitz.23 Bei der Staatsgründung befanden sich lediglich 10 % in jüdischer Hand. Der Rest gehörte – nach osmanischem Recht – dem Staat. Es war also kein „menschenleeres Gebiet“, wie Israel Zangwills geläufiger Slogan vom „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ suggerieren wollte.24 Der Anteil der Araber am Landbesitz ist heute auf rund 3,5 % gesunken. Bekanntlich hat die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland die größte vorstaatliche Einwanderungswelle eingeleitet, die sog. „fünfte Alija“ (hebr. Rück- bzw. Heimkehr): zwischen 1932 bis 1939 flohen 200.000 Juden in das Gebiet des heutigen Israels. Insgesamt erfolgte die Einwanderung in das vorstaatliche Palästi­ 20   U. Davis (Anm.  3 ), Einleitung; Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, 2012. 21   H. Sundhaussen (Anm.  19), S.  193 ff. (204). 22   Eingehender zur Struktur der Einwanderung Yinon Cohen, From Haven to Heaven: Changing Patterns of Immigration to Israel, in: Daniel Levy/dies. (Hrsg.), Challenging Ethnic Citizenship: German and Israeli Perspectives on Immigration, Oxford/New York 2002, S.  36 ff.; Jan Schneider, in: „focusMigration“, Länderprofil Israel, www.bpb.de; Ayelet Shachar, Israel Integration Policies, in: Research Perspectives on Migration, Vol. 2, Nr.  2 (1999), S.  6 ff., www.migrationpolicy.org. 23   L. Takkenberg (Anm.  12), S.  8 ff. 24  Vgl. Ludwig Watzal, Frieden ohne Gerechtigkeit? Israel und die Menschenrechte der Palästinenser, Köln 1994. S.  16.

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na in fünf großen Wellen.25 Kurz nach der Staatsgründung setzte die Massenzuwanderung orientalischer (v. a. aus Marokko, Iran und Irak) sowie europäischer Juden (vorwiegend aus Rumänien und Tschechoslowakei) ein. Allein in den ersten Jahren nach 1948 lag die Zahl bei 600.000. Mitte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre dominierten Einwanderer aus afrikanischen Staaten. Jedoch sank die Einwanderung in den Jahren 1960 bis 1989 auf durchschnittlich 15.000 Personen pro Jahr, wobei der größte Teil aus Europa sowie aus Nord- und Mittelamerika stammte. Danach setzte die bis dato größte Immigrationswelle von rund 1,2 Mio. Personen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein, wovon 90 % aus Russland und der Ukraine stammten. Die Zuwanderungszahlen sind seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 jedoch stark rückläufig. Die Zahl betrug im Jahr 2003 lediglich 25.000. In den Jahren 1992 bis 1999 waren es noch ca. 73.000 pro Jahr. Jährlich verlassen zudem über 20.000 Israelis ihr Land.

a)  Israelisches Staats(bürgerschafts)- und Nationsverständnis Das der Einwanderung zugrundeliegende Niederlassungs- als auch Staatsbürgerschafts- bzw. Einbürgerungsrecht Israels prägen ganz entscheidend das staatliche bzw. nationale Selbstverständnis.26 Insofern hat der Nationsbildungsprozess „europäische Wurzeln“. Denn zur Staatsgründung verstand sich die „Heimstatt der Juden“ stets als ein Staat mit europäisch-westlichen politischen Grundsätzen und Verfassungsnormen. Auch in Israel war es der moderne Staat, ohne dessen Institutionen die Nation nicht hätte gelingen können: beide sind gleichzeitig entstanden. Israels eigentümliches Nationenverständnis kommt bereits in der Verfassung zum Ausdruck, die sich aus verschiedenen Dokumenten zusammensetzt und noch als „vorläufige“ betrachtet wird, in der Erwartung einer künftigen „endgültigen“.27 Anfänglich bestand noch Streit darüber, ob eine „menschliche“ oder „göttlich-religiöse“ Staatsverfassung installiert werden sollte. Man einigte sich schließlich darauf, verschiedene verfassungsähnliche Dokumente zu schaffen, die im Ergebnis den „Rechtswert“ der Personen unterschiedlich bemessen.28 Wichtigstes Schriftstück ist dabei die Unabhängigkeitserklärung von 1948, die zwar die Gleichheit aller Bürger unabhängig von Religion, Rasse oder Geschlecht verkündet, gleichwohl enthält das israelische Verfassungsmodell insgesamt viele religiöse, präziser: jüdische, Elemente und Werte. Daneben haben die Präzedenzurteile des Obersten Gerichts sowie eine Reihe von sog. „Basic Laws“ einen verfassungsähnlichen Charakter. Mit diesem Selbstverständnis als jüdischer Staat ist letztlich eine speziell zionistische Staatskonzeption verbunden, die den jüdischen Glauben besonders hervorhebt und Nicht-Juden anders behandelt. Aufschlussreich ist der Ausspruch (der zuweilen aber nur als Anspruch ge  Siehe dazu im Einzelnen J. Schneider (Anm.  22).   Siehe zum israelischen Nationsverständnis und -bildungsprozess, bei dem die Integrations-, Eingliederungs- und Einwanderungspolitik eine zentrale Rolle spielt A. Shachar (Anm.  22), S.  6 ff. 27  Vgl. Asher Maoz, Can Judaism Serve as a Source of Human Rights, ZaöRV 64 (2004), S.  677 ff. 28   Emilio Mikunda-Franco, Gemeinislamisches Verfassungsrecht: eine Untersuchung der Verfassungstexte islamischer Staaten in rechtsphilosophisch vergleichender Perspektive, JöR 51 (2003), S.  21 ff. (S.  28 ff. m. w. N.). 25

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deutet wird) des seinerzeitigen Richters am israelischen Supreme Court Menachem Elon: „Israel is Jewish in essence and democratic in character“.29 Im November 2014 hat dann auch die seinerzeitige Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ein umstrittenes Gesetz beschlossen, das den jüdischen Charakter Israels weiter stärken soll.30 Als Vorläuferin der israelischen Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitskonzeption fungierte schon die sog. „Balfour-Erklärung“ von 1917.31 Denn darin wurde die Einwanderung zur Schaffung einer „jüdisch-nationalen Heimstätte“ befürwortet und hierfür eine „Schutzgarantie“ ausgesprochen, so dass religiöse Kriterien später jene Nationalbewegung formten, die im Anschluss seither die Staatsraison bildet. Schließlich hatten sie als zerstreute Glaubensgemeinschaft keine gemeinsame (Alltags-)Sprache und jenseits des Kultes eine bisweilen gegensätzliche Geschichte. Die Einwanderung und das damit verbundene Recht eines legalen dauerhaften Niederlassungsrechts waren mithin (über-)lebenswichtig. Indessen war die Balfour-Erklärung völkerrechtlich nicht verbindlich. Anlass war vielmehr der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands, so dass Palästina für Großbritannien eine wichtige (geo-)strategische Bedeutung erlangte. Erst durch die Aufnahme der Erklärung in die 1922 erlassenen Mandatsbestimmungen wurde sie Teil der rechtlich verbindlichen Grundlage.32 Dieses bereits mit der Staatsgründung geschaffene enge Verweben von Nationalität, Einwanderung und Einbürgerung sowie Religion hat im Ergebnis zu einer Präferenz der matrilinearen Abstammung geführt, wenn auch mittelbar über ein jüdisch-orthodoxes Verständnis.33 Dieses ethnokratische Bürgerschaftsverständnis wurde gleich nach der Staatsgründung 1948 mit dem Rückkehrgesetz, dem sog. „Law of Return“34 (1950) installiert. Es räumt allen Juden ein Einwanderungsrecht ein und gewährt anschließend jedem einen Anspruch auf die Staatsangehörigkeit – ohne die Aufgabe der bisherigen zu 29   Kritisch hierzu der arabischstämmige Knessetabgeordnete Azmi Bishara, The Dilemma of Israeli Arabs, Los Angeles Times v. 8.1.2003, www.globalpolicy.org. 30  Der Entwurf für ein sog. „Nationalitätsgesetz“ will den jüdischen Charakter Israels juristisch stärker verankern. Kritiker bemängeln, der Vorstoß schränke die Rechte der arabischen Minderheit in Israel ein. Angesichts der gegenwärtigen Spannungen in der Region könne es auch den Konflikt mit den Palästinensern verschärfen. Der seinerzeitige Generalstaatsanwalt Jehuda Weinstein hat den Ge­ setzesentwurf scharf kritisiert und die Regierung dazu aufgefordert, ihn nicht zu unterstützen. Der neue Gesetzentwurf folgt einer Tendenz, die sich seit den frühen neunziger Jahren durch die israelische Politik zieht. Seit 1992 gibt es Gesetze, die Israel explizit als „jüdisch-demokratischen“ Staat definieren, siehe hierzu zuletzt z. B. den Beitrag in: „Zeit-online“ vom 23.11.2015. 31   Günter Seufert, Die Türkei, der Libanon und Israel. Staatsbürgerschaft bei den drei „europäischen“ Erben des Osmanischen Reiches im muslimischen Vorderen Orient, in: Christoph Conrad/Jürgen Kocka (Hrsg.), Staatsbürgerschaft in Europa, Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, 2001, S.  216 ff. (232). 32  Siehe näher G. Seufert (Anm.  31), S.  232 ff.; Albert Hourani, Geschichte der arabischen Völker, 1992, S.  390. 33   Yehoshua Freudenheim, Die Staatsordnung Israels. Ihre Vorgeschichte und ihre rechtlichen Grundlagen, 1963, S.  250; Jehuda Gera-Grünbaum/Ahron Zwergbaum, Das Staatsangehörigkeitsrecht von Israel, 1974, S.  29; Shmuel Noah Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, 1992; Hans Pagener, Das Staatsangehörigkeitsrecht des Staates Israel und des ehemaligen Mandatsgebietes Palästina, 1954, S.  7 ff. 34   The Law of Return 5710–1950, LSI 114 (1950), abruf bar unter: www.knesset.gov.il. Zum Staatsangehörigkeitsrecht siehe Homepage des israelischen Außenministeriums: www.mfa.gov.il.

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verlangen. Dieses Rückkehrgesetz ist bedeutsamer als das israelische „Staatsangehörigkeitsrecht von 1952“, das als entscheidendstes Element das Rückkehrgesetz inkorporierte.35 Um die Zuwanderung speziell nach dem „Sechstagekrieg“ im Juni 1967 zu erhöhen, wurden seit 1970 auch Nicht-Juden einbezogen, sofern deren Eltern oder Großeltern Juden waren. Letztlich knüpfen die meisten Rechte oder Privilegien wie vor allem die speziellen Integrationsleistungen für Zuwanderer an den Juden­ status an, so dass die Ablehnung der Staatsangehörigkeit bei Juden keinen so großen Verlust im Alltagsleben bedeutet.

b)  Einbeziehung der nicht orthodoxen Juden seit 2005 Die Präferenz der matrilinearen Abstammung hat sich jedoch vor kurzem geändert: Hintergrund ist, dass zunehmend auch in Israel demographische Erwägungen die Einwanderungs- und damit zugleich Einbürgerungs-, die stets auch Bevölkerungspolitik war, bestimmen. Denn mit dem Urteil des Obersten Gerichts vom März 2005 ist eine weitreichende Lockerung bei der Zuwanderung eingetreten: Entschieden wurde, künftig nichtorthodox konvertierten Juden ebenfalls das Einwanderungsrecht bzw. die israelische Staatsbürgerschaft zuzuerkennen.36 Bislang war dieses Einwanderungsrecht nur den Orthodoxen vorbehalten. Das Urteil gilt als richtungs­ weisend, weil hiernach auch konservative und liberale Übertritte akzeptiert werden. Das Ober-Rabbinat – die höchste religiöse Instanz mit Einflussmöglichkeiten nicht bloß im religiösen, sondern auch personenrechtlichen Bereich wie Statusfragen, d. h. Adoption und Eheschließung bzw. Scheidung – wurde aufgefordert, das Urteil umzusetzen.37 Insofern haben die unterschiedlichen religiösen Strömungen eigene Gerichte, wobei die Orthodoxen die Entscheidungen der Nicht-Orthodoxen nicht anerkennen, umgekehrt aber schon. Auch das Innenministerium wurde angewiesen, Konvertiten, die durch ein nicht-orthodoxes „Beth Din“ (hebräisch: Gerichtshof, genauer: Rabbinatsgericht) in oder außerhalb Israels zum Judentum übergetreten sind, in ihren israelischen Personalausweisen als „jüdisch“ zu registrieren.38 Darüber hinaus hat diese Entscheidung nicht nur Auswirkungen auf die Einbürgerung bzw. Einwanderung, sondern greift wegen der zuvor angedeuteten Verbindungen auch in den religiösen Bereich hinein. Denn auf der religiösen Ebene werden bzw. wurden   Abruf bar unter: www.mfa.gov.il.   Die Beratung hatte sich über sechs Jahre hingezogen. Dann entschied das Gericht mit sieben zu vier Stimmen, das Recht auf Heimkehr all denjenigen zu gewähren, die – auf welche Art auch immer – im Ausland zum Judentum konvertierten. Abruf bar unter www.court.gov.il. 37   Der seinerzeitige Innenminister Ophir Pines-Paz von der Arbeiterpartei Israels (Avoda) begrüßte das Urteil und versprach, die Regierung werde sich daran orientieren. Der Vorsitzende der Nationalen Union Benny Eilon kommentiert dagegen scharf: „Nun kommt doch alle nach Israel, aus der Dritten Welt oder von anderswo, streicht die Vergünstigungen für Einwanderer ein und bemüht euch nur vorher um irgendeine fiktive Konversion.“ Der frühere Vorsitzende der nationalreligiösen Partei NRP, Effi Eitam, sprach von einer „feindliche[n] Übernahme des Staates“. Der Knesset-Abgeordnete Eti Livni von der säkularen Schinui-Fraktion dagegen von einem „historischen Durchbruch“. Nun seien die Reform­ juden nicht länger Stief kinder der jüdischen Nation, vgl. www.court.gov.il bzw. www.jpppi.org.il. 38  Im Folgenden Jehonatan Grünfeld, Eine bahnbrechende Entscheidung traf das Höchste Gericht Israels am 21. Februar 2002, vgl. www.talmud.de. 35

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nur orthodoxe Eheschließungen und Glaubensübertritte vom Ober-Rabbinat anerkannt. Nicht-orthodoxe Konvertiten befanden sich in einer recht widersprüchlichen Situation: Einerseits durften sie einwandern, andererseits werden bzw. wurden sie durch den Staat bzw. das orthodoxe Oberrabbinat nicht als „jüdisch“ anerkannt. Praktisch bedeutet(e) dies, dass sich in den Personalausweisen unter der Rubrik „Religion“ kein Vermerk und unter „Nationalität“ die des Ursprungslandes befand (d. h. russisch, deutsch etc.). Auf dieser Linie ist nämlich zu sehen, dass bis heute zentrale zivilrechtliche Bereiche zum ausschließlichen Aufgabenbereich des Oberrabbinats zählen wie die erwähn­ te Eheschließung: Da es in Israel keine Zivilehe gibt und Eheschließungen nur durch orthodoxe Rabbiner durchgeführt werden dürfen, werden heiratswillige nicht-orthodoxe Konvertiten praktisch gezwungen, die Ehe außerhalb Israels einzugehen (wie oftmals in Zypern) und später anerkennen zu lassen.39 Eine weitere Schwierigkeit stellen Beerdigungen auf öffentlichen jüdischen Friedhöfen dar. Bislang wich man in diesen Fällen auf Kibbutz-eigene Friedhöfe aus. Dem orthodoxen Oberrabbinat wird gerade in Fragen von Übertritten eine Unflexibilität nachgesagt, die auf Übertrittswillige abschreckend wirkt(e). Nicht ganz unwichtig für die Entscheidung war und ist sicherlich, dass die amerikanischen Juden in Israel, in ihrer absoluten Mehrheit nicht-orthodox und nahezu kritiklose Befürworter der israelischen Politik, zunehmend auf ihre Anerkennung bzw. Gleichstellung mit den Orthodoxen durch den israelischen Staat drängte. Erste Auswirkungen zeigten sich auch schon: Laut israelischen Pressemeldungen verzeichnen nicht-orthodoxe Bewegungen einen Anstieg an Anfragen nicht-jüdischer Neu-Einwanderer zu Übertrittsmöglichkeiten.40 Daher beschloss die israelische Regierung einstimmig per Dekret am 03.11.2014 den erleichterten Übertritt zum Judentum, so dass künftig der Chefrabbiner jeder israelischen Gemeinde eine Konversions-Jury bilden kann.41 Bisher gab es nur vier vom Jerusalemer Oberrabbinat eingesetzte regionale Religionsgerichte, die äußerst streng über Anträge von Bürgern entschieden. Das Regierungsdekret kommt v. a. den rund 364.000 israelischen Staatsbürgern zugute, die als konfessionslos eingestuft waren. Anzumerken ist, dass Familien, die seit der Staatsgründung in Israel leben, als „orthodox“ gelten, selbst wenn sie säkular leben. Wer aber nach vorheriger Rechtsprechung konvertieren wollte, musste die strengen Regeln der „Halacha“ einhalten. Nach jüdisch-orthodoxem Recht ist nur derjenige Jude, der eine jüdische Mutter hat. Diese Auffassung teilt(e) die Mehrheit der israelischen Bevölkerung jedoch nicht. Aron Barak, der seinerzeitige Präsident des Obersten Gerichts, begründete die Entscheidung wie folgt: „Alijah bedeutet, sich dem jüdischen Volk im Staat Israel anzuschließen. Dafür ist es unwesentlich, wann die Person Jude geworden ist. Alijah ist kein technischer Begriff, sondern ein gesellschaftlicher und nationaler“. Ein weiteres Motiv für diese Änderung ist, dass nicht nur die Zahl der Ehen zwischen Juden und Nicht-Jüdinnen kontinuierlich zunimmt, sondern dass das jüdische Volk insgesamt schrumpft – jedenfalls nach bisherigem Verständnis, und zwar welt  Zu diesem Problemfeld ausführlicher z. B. Angelika Günzel, Religionsgemeinschaften in Israel: Rechtliche Grundstrukturen des Verhältnisses von Staat und Religion, 2006. S.  19 ff. 40   J. Grünfeld (Anm.  38). 41   APA/AFP-Meldung vom 3.11.2014. 39

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weit. Eine Studie des „Jewish People Policy Planning Institute“ in Jerusalem zeigte, dass allein in den Jahren 1995 bis 2005 die Zahl der Juden weltweit um 300.000 zurückgegangen ist.42 Dieser Rückgang zeigt sich umso mehr, wenn man den gesamten „israelisch kontrollierten Raum“ betrachtet, weil dann sichtbarer wird, dass sich die ethnische und religiöse Zusammensetzung langfristig zu Gunsten der Palästinenser bzw. Muslime zu verschieben droht, die kontinuierlich höhere Fertilitätsraten aufweisen, weshalb etwaige Rückzugspläne nicht zuletzt auch als „Maßnahme zur Erhaltung der israelischen Identität“43 in Form einer jüdischen Mehrheit gedeutet werden.44 Denn nur so lässt sich die jüdische Bevölkerungsmehrheit auf Dauer und der spezifische Charakter als jüdischer Staat aufrechterhalten bzw. bewahren: Von den rund 7,1 Mio. Einwohnern Israels sind ca. 20 % arabischer Abstammung – Tendenz stark steigend.45 Das unterstreicht noch einmal, warum die israelische Staatsangehörigkeit nahezu ausschließlich über die Abstammung vermittelt wird, Einbürgerungen sind sehr selten (s. u.).

c)  Ausschluss der arabischen Minderheit von der israelischen Staatsangehörigkeit Nicht nur ethnokratische Erwägungen, sondern auch demographische Veränderungen, genauer: das Verhältnis von jüdischen und arabischen Israelis, veranlassten dazu – unter anderen Ausschlussmechanismen –, seit 1995 nicht-jüdische Ehepartner israelischer Staatsbürger von Einwanderungs- und damit Einbürgerungsrechten auszunehmen.46 Im Juli 2003 beschloss die Knesset ferner eine Regelung, wonach Palästinenser, die einen israelischen Staatsangehörigen heiraten, von einbürgerungs- und aufenthaltsrechtlich üblichen Statusverbesserungen ausgeschlossen bleiben.47 Diese Regelung war ursprünglich nur für ein Jahr vorgesehen, wurde aber erneut verlängert, um „terroristische Angriffe” aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen abzuwehren. Diese Verweigerungshaltung gegenüber Palästinensern – zumeist gegenüber den muslimischen – lassen sich bis in die Gründerjahre verfolgen. Was dazu führt geführt hat, dass die arabisch-israelische Minderheit von der nationalen Identität und den nationalen Zielen des jüdischen Staates ausgeschlossen bleibt. Zwar ver42   Siehe dazu „Migration & Bevölkerung“: Das Online-Portal zur Migrationsgesellschaft, Ausgabe 4/2005, www.migration-info.de. 43  Aufschlussreich Aluf Benn, Israel‘s Identity Crisis, Salon v. 16.5.2005, www.globalpolicy.org. 44  In den besetzten und (teil-)autonomen Gebieten im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem leben über 2,5 Mio. Palästinenser, vgl. „Migration und Bevölkerung“ (Anm.  42), Ausgabe 1/2004. Die näheren Hintergründe und Motive benennt etwa A. Benn (Anm.  43). 45   Inkl. jüdische Siedler im Westjordanland, Ostjerusalem und den Golanhöhen. Zu aktuellen Daten siehe „Central Bureau of Statistics“: www1.cbs.gov.il; sowie „Ministry of Immigrant Absorption“: www.moia.gov.il. 46  Siehe Y. Freudenheim (Anm.  33), S.  250; J. Gera-Grünbaum/A. Zwergbaum (Anm.  33), S.  29; S. N. Eisenstadt (Anm.  33). 47   Sprecher israelischer Menschenrechtsorganisationen wie Yael Stein („B’tselem“) bezeichnen diese Regelung indessen als „rassistisch“. Siehe hierzu den Zeitungsartikel von Gavin Rabinowitz, New Law for Israeli-Palestinian Couples, Associated Press, v. 31.7.2003; sowie vorher schon Ali Abunimah, Israel Takes Another Leap towards Institutionalized Apartheid, Electronic Intifada, v. 26.6.2003; ähnlich die Kritik bei Barbara Plett, Anger at Israeli Citizenship Law, BBC v. 2.8.2004, alle Artikel abruf bar unter: www.globalpolicy.org.

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suchte Israel in letzter Zeit eine spezifische Identität der in Israel lebenden Araber herauszubilden – allerdings vergeblich, weil diese Gruppe sich vielmehr als integraler Bestandteil des palästinensisch-arabischen Volkes begreift.48 Daher galt lange Zeit die Einbürgerung in Israel als „Verrat an der palästinensische[n] Befreiungsbewegung“, weswegen die Motivation gering war. Indes hat sich das inzwischen z. T. geändert, wie die ansteigenden Bewerbungen bezeugen.49 Auf dieser Linie soll kurz gezeigt werden, dass die arabische Bevölkerung (muslimisch, christlich und drusisch) die israelische Staatsangehörigkeit schon in den Gründerjahren mit dem „Nationalitätsgesetz von 1949“ nur erhielt, wenn sie während des Unabhängigkeitskrieges ununterbrochen im Land anwesend waren. Dieser „Erwerb kraft Wohnsitz“ verlangte, dass der Bewerber am Tag der Staatsgründung palästinensischer Staatsbürger im Sinne der in der britischen Mandatszeit erlassenen „Palestinian Citizenship Order“ vom 24. Juli 1925 war: eine Mandatszugehörigkeit, die mit Rückgabe des Mandats eigentlich erloschen ist.50 Darüber hinaus musste die Person ordnungsgemäß als Einwohner registriert und im Zeitraum zwischen der Staatsgründung und dem Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Israel ansässig oder rechtmäßig nach Israel gekommen sein. Damit wurde die Einbürgerung von Arabern ausgeschlossen, die das Land aufgrund der Kriegshandlungen von 1948 verlassen hatten und ohne Erlaubnis zurückkehrten – entgegen der Forderungen des Art.  13 AEMR, wonach „everybody has the right to leave any country, including his own, and to return to his country“. Infolge des Nationalitätsgesetzes wurde jenen palästinensischen Flüchtlingen, die das Land vor dem 1. September 1948 verlassen hatten, der Status „intern abwesend“ verliehen. Diese gesetzlich paradoxe Formulierung erfolge durch das sog. „Absentee Property Law“ vom Juli 1950. Anschließend wurden sie sogar enteignet, und zwar auch ungeachtet ihrer Präsenz vor Ort.51 Mithin wurde nicht bloß die Rückkehr verunmöglicht, sondern gleichzeitig dafür gesorgt, dass deren Eigentum an Grund und Boden an den israelischen Staat fiel. Tatsächlich erhielten am Ende nur ca. 160.000 Araber automatisch und ungefragt die Staatsangehörigkeit. Rund 726.000 flohen und wurden später dem „UNRWA-Mandat“52 unterstellt, das deren völkerrechtlichen Status regelt. Nach Ende des Unabhängigkeitskrieges brachte Israel dann mehr als 75 % der Gesamtfläche des Mandatsgebietes sowie Westjerusalem unter seine Kontrolle und konterkarierte damit faktisch den „UN-Teilungsplan“.53 Dieser sah vor, allen Personen, die in „Palästina“ (mit Ausnahme von Jerusalem) auf hältig waren, die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Kurz vor der Staatsgründung lebten dort schätzungsweise 1,365 Mio. Araber und ca. 610.000 Juden, der Teilungsplan sprach den Arabern indes nur 43 % und den Juden dagegen 57 % des Territoriums zu – obwohl den ansäs48  Die „Rekonzeptionalisierung des israelischen Staatsbürgerschaftsverständnisses“ behandelt O. Yiftachel (Anm.  3 ). 49   Dazu „Migration & Bevölkerung“ (Anm.  42), Ausgabe 7/2003. 50   Meinhard Hilf, Die Staatsangehörigkeit der Palästina-Flüchtlinge, StAZ 1987, S.  354 ff. 51   U. Davis (Anm.  3 ), S.  39 ff.; Rebecca Kook, Citizenship and its Discontents: Palestinians in Israel, in: Nils Butenschon/Uri Davis/Manuel Hassassian (Hrsg.), Citizenship and the State in the Middle East: Approaches and Applications, New York 2000, S.  263 ff. 52   UN-Resolution 302 (IV) 1949; siehe zum Hintergrund umfassender die UNRWA unter: www. un.org/unrwa. 53   UN-Res. 181 (II) v. 29.11.1947, C: Declaration Chapter 3, (1).

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sigen Juden allenfalls rund 7 % des Landes gehörte.54 Inzwischen sind es über vier Mio. palästinensische Flüchtlinge, die zumeist staatenlos sind, weil sie später in den Aufnahmeländern selten in den Genuss der jeweiligen Staatsangehörigkeit gelangten. Die Situation der Flüchtlinge verschärfte sich nach dem Sechstagekrieg und der anschließenden Besetzung des Westjordanlandes sowie des Gaza-Streifens, in dem seinerzeit rund 1,2 Mio. Palästinenser lebten: Während sie allerdings im Westjordanland zumeist die jordanische Staatsbürgerschaft erhalten konnten, blieb ein entsprechendes Angebot Ägyptens im Gazastreifen aus. Schlussendlich wurde den arabischen Rückkehrern als auch den in Israel während des Krieges verbliebenen rund 800.000 Palästinensern die Staatsangehörigkeit jahrzehntelang vorenthalten – und erst 1980 größtenteils korrigiert.55

d)  Unterschiedlicher Rechts- und Gesellschaftsstatus innerhalb der Staatsbürger Israels In Israel wird also offiziell zwischen der Staatsangehörigkeit und der jüdischen bzw. arabischen Nationalität unterschieden. Zugleich ist durch die spätere „Auferlegung“ der Staatsangehörigkeit auf eine kleine Gruppe von Arabern eher deren „Entrechtung verschleiert“ worden als einem menschenrechtlichen oder demokratischen Anliegen zu folgen.56 Zwar verfügen beide Ethnien dieselben Rechte politischer Partizipation, jedoch standen die arabischen Siedlungen bis 1966 unter militärischer Aufsicht. Zudem akzeptieren die zionistischen Parteien keine arabischen Mitglieder. 1964 und 1965 wurden arabische politische Gruppierungen zu den Parlamentswahlen mit der Begründung ausgeschlossen, dass sie auf die Zerstörung Israels abzielten. Erst 1985 konnte der Ausschlussgrund auf den Tatbestand der „Gewaltanwendung“ begrenzt werden, also wenn das Existenzrecht Israels abgesprochen wurde. Nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung verfügen zwar auch die israelischen Araber über dieselben Rechte. De facto zeigt sich indes in vielen Rechts- und Gesellschaftsbereichen, dass die jüdische Mehrheit – als „democratic citizens“ gegenüber den arabischen als „passport citizens“57 – immer wieder bevorzugt bzw. die arabische Minderheit benachteiligt wird. Im Hinblick auf die politische Partizipation hat das selbst das Oberste Gericht im Juli 2001 in seinem Urteil zu einer Petition der „Gesellschaft für Bürgerrechte in Israel“ festgestellt und dort eine dem Bevölkerungsanteil entsprechende Vertretung in den staatlichen Institutionen gefordert.58 Das Gericht bestätigte indes den Grundsatz der positiven Diskriminierung in Bezug auf die Zusammensetzung des „Rates für Ländereien“, der für die Überwachung der israeli­ schen „Verwaltung für Ländereien“ zuständig ist. Zurzeit ist nur eines der 24 Mit  Vgl. zu den Zahlen im Einzelnen Walter Lehn, The Jewish National Fund, London 1988, S.  93 f.   Und zwar per Erlass – als 4. Zusatz zum Staatsangehörigkeitsrecht. Bereits vorher schon (1967, 1971 und 1980) kam es zu einer eher kleinen Anzahl von Einbürgerungen dieser Gruppe; siehe U. Davis (Anm.  3 ), S.  4 4 f. 56   R. Kook (Anm.  51), S.  265. 57   Zur (bürgerschafts-)rechtlichen Unterscheidung zwischen „passport“ und „democratic citizenship“ siehe U. Davis (Anm.  3 ), S.  46 f. 58   Siehe dazu sowie ganz allgemein zur schlechten Lage der arabischen Minderheit den „Länder­ bericht Israel“ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europäische Nachbarschaftspolitik, COM(2004) 373 final, v. 12.5.2004, SEC(2004) 568, insbesondere S.  11 ff. 54 55

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glieder Angehöriger der arabischen Minderheit. Das Oberste Gericht hat wiederholt den Grundsatz bestätigt, wonach zur Meinungsfreiheit nicht nur das Recht auf Vertretung der Mehrheitsmeinung gehört, sondern auch das Recht, die israelische Regierung zu kritisieren. Die weitläufige Diskriminierung von Arabern, nicht nur Palästinenser, sondern etwa auch die rund 100.000 Beduinen in der Wüste Negev, zeigt sich besonders im Zusammenhang mit sozialen Rechten und Förderungen, weil diese zumeist über jüdische Organisationen vermittelt werden, die „quasi-staatliche Funktionen“ übernehmen.59 Für diesen ungleichen Zugang zu den sozialen Ressourcen sorgte vor allem die Verknüpfung mit der Wehrpflicht wovon die arabischen Staatsbürger – mit Ausnahme der männlichen Drusen und der Beduinen – ausgenommen sind. Zwar erhalten seit Anfang 1994 auch Palästinenser bestimmte soziale Unterstützungen wie Kindergeld, Bildungsbeihilfen, Baudarlehen (etc.), die bisher zumeist an die Erfüllung des Wehrdienstes geknüpft waren. Allerdings sind damit andere Benachteiligungen im Alltag wie etwa bei der Suche nach einem Arbeitsplatz nicht aufgehoben. Diesbezüglich hat die UNHRC in einem Bericht über die Umsetzung des Zivilpaktes die Sorge geäußert, dass die Verabschiedung des Gesetzes aus dem Jahr 2003 die arabische Minderheit besonders im Rahmen der Familienzusammenführung diskriminiere, indem sie in diesen Fällen noch nicht einmal zu einem dauerhaften Aufenthaltstatus führe. Trotz des Widerspruchs gegen die internationale Praxis und völkerrechtlichen Verpflichtungen hat der Oberste Gerichtshof dieses Gesetz in einer knappen (6:5) Mehrheitsentscheidung gebilligt, mit einschränkenden Auflagen an den Gesetzgeber.60 2005 und 2007 wurden dann auch kleinere Änderungen vorgenommen: Einerseits kann nunmehr seitens des Innenministeriums Frauen über 25 und Männern über 35 Jahren sowie Kindern unter 14 Jahren in Einzelfällen ein befristeter Aufenthalt gestattet werden. Andererseits wurde der Geltungsbereich des Gesetzes dahingehend ausgeweitet, dass neuerdings auch Familienangehörige aus „feind­ lichen Staaten“ (d. h. Syrien, Iran, Irak und Libanon) von Aufenthalts- und Einbürgerungsrechten komplett ausgeschlossen sind. Schon 2003 hatte die israelische sog. „Or-Kommission“ kritisiert, dass diese Gruppe vor allem in Bezug auf Haushaltszuweisungen, staatliche Planungen, Beschäftigung, Bildung und Gesundheit stark ausgegrenzt werde. In den letzten Jahren wurde ferner der Zugang zu den Gerichten weiter erschwert.61 Schließlich dürfen Palästinenser sich vor dem Obersten Gericht nur von israelischen Rechtsanwälten vertreten lassen.

59   Wie etwa die Zionistische Weltorganisation, die Jewish Agency sowie der Jewish National Fund, vgl. L. Watzal (Anm.  24), S.  305 ff. 60   Ent. des HCJ v. 14.5.2006, 7052/03, Adalah v. The Minister of Interior. Siehe dazu den Bericht und die dazugehörige Petition des „Adalah-The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel“ unter: www.adalah.org. Israel hat insoweit die menschenrechtlichen Kernkonventionen ratifiziert, mit Ausnahme der zwei Fakultativprotokolle zum Zivilpakt, des Fakultativprotokolls zur Frauenrechtskonvention und des Fakultativprotokolls zur Folterkonvention sowie die meisten grundlegenden Konventionen der ILO. Einschränkungen sind allerdings durch die Notstandsgesetzgebung vorgesehen. 61   Erhellend zur Lage der arabischen Minderheit der „Länderbericht Israel“ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften COM(2004) 373 final, v. 12.5.2004, SEC(2004) 568, insbesondere S.  11 f.

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e)  Exkurs: Rechtslage in den besetzten Gebieten Dass im Übrigen viele Palästinenser weder die israelische noch die jordanische Staatsangehörigkeit besitzen, wenngleich in diesen beiden Staaten bislang die meisten Einbürgerungen vorgenommen wurden, hängt ferner mit der recht komplexen wie umstrittenen Rechtslage in den von Israel besetzten Gebieten zusammen.62 Diese ist durch palästinensische Regelungen der Autonomiebehörde (PNA) zusätzlich verkompliziert worden: Nach israelischer Lesart gilt noch das Recht, das am 7. Juni 1967 in diesem Gebiet in Kraft war, sprich jordanisches Recht. Das wiederum wird vor allem von Jordanien und den Palästinensern bestritten. Denn alle vormaligen Ansprüche auf das Westjordanland sind spätestens im Juli 1988 an die PLO abgetreten worden, mithin hat Jordanien auf seine Souveränität über die Westbank verzichtet. Die PLO hat dann im November 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausgerufen, der das Westjordanland mit Ostjerusalem als Hauptstadt und den Gazastreifen einschließt. Dessen ungeachtet betrachtet Israel sich selbst nicht als „Besatzungsmacht“ im Sinne des Völkerrechts und behauptet daher, dass seine Maßnahmen im Westjordanland und im Gazastreifen nicht dem Vierten Genfer Abkommen63 unterliegen, sondern den sog. „Defence (Emergency) Regulations“ (Notstandsgesetzgebung) der britischen Mandatsverwaltung aus dem Jahr 1945 sowie vor allem den eigenen Militärverordnungen (Militärerlasse: über 1400 für die Westbank und mehr als 1100 für den Gaza-Streifen); hinzukommt eine Vielzahl von nicht nummerierten Regularien und zeitlich begrenzten Instruktionen.64 Die israelische Militärregierung behauptet, ihre Militärverordnung sei das bestimmende Recht in der Westbank und habe das jorda­ nische Recht außer Kraft gesetzt, soweit es den Verordnungen widerspricht.65 Eigens als Militärerlass hervorzuheben sind Nr.  297 und 1208. Sie definieren nämlich den Status der Palästinenser in der Westbank und dem Gaza-Streifen, und zwar als „An  Zum Folgenden L. Watzal (Anm.  24), S.  49 ff.; U. Davis (Anm.  3 ), S.  103 ff.   Unter gewissen Umständen kann zwar nach dem humanitären Völkerrecht (Art.  64 Abs.  2 der IV. Genfer Konvention) die Besatzungsmacht weitere Verordnungen erlassen, aber nur wenn sie „zur Erfüllung der ihr durch das vorliegende Abkommen auferlegten Verpflichtungen, zur Aufrechterhaltung einer ordentlichen Verwaltung des Gebietes und zur Gewährleistung der Sicherheit sowohl der Besatzungsmacht wie auch der Mitglieder und des Eigentums der Besatzungsstreitkräfte oder -verwaltung sowie der von der Besatzungsmacht benutzten Anlagen und Verbindungslinien“ unerlässlich erscheinen. 64   Die Militärerlasse sind zwar alle nummeriert; doch es gibt bis heute keine effektive und gesicherte Möglichkeit für die Palästinenser, sich über den Inhalt der Militärerlasse und deren Änderungen zu informieren. 65   Der Gebietskommandeur ist formal die höchste Autorität in seinem Gebiet: Er ist sowohl der Gesetzgeber als auch der Chef der Exekutive; ferner ernennt er die lokalen Richter und die anderen Offiziellen. Die wichtigste Veränderung innerhalb der Militärverwaltung gab es 1981, als durch eine Militärverordnung eine sog. „Zivilverwaltung“ eingerichtet worden ist, die aber in Wahrheit eine Militärverwaltung war. Hierdurch sollte die bereits bestehende Trennung zwischen zivilen und militärischen Funktionen in der Militärverwaltung formal vollzogen werden. Dann sollten die vielen Militärverordnungen vom Status zeitlich begrenzter Sicherheitsverfügungen zum permanenten Gesetz gemacht werden. Es gibt aber de facto keinen Unterschied, weil die Zivilverwaltung durch den Militärkommandeur der Westbank eingerichtet wurde. Sie ist durch eine Militärverordnung geschaffen worden, der Gebietskommandeur ernennt den Leiter, mithin arbeiten beide sehr eng zusammen, vgl. L. Watzal (Anm.  24), S.  49 ff. 62

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sässige oder Bewohner“, d. h. ohne Nationalität oder Staatsangehörigkeit, wodurch die enge Verbindung zwischen dem palästinensischen Volk und seinem Land erschwert wird oder werden soll. Weitere 30 Militärerlasse vervollständigen diese Abtrennung durch die willkürliche Registrierung von Neugeborenen nach wechselnden Kriterien, so dass durch Verwaltungsvorschriften der Verlust des gesetzlichen Wohnortes erleichtert wird. Durch unpräzise und teilweise widersprüchliche Erlasse wird also die Erlangung eines permanenten Wohnsitzes fast unmöglich gemacht. Sein Wohnrecht verliert im Übrigen auch, wer eine andere Staatsbürgerschaft annimmt. Alle Palästinenser, die sich – aus welchem Grund auch immer – am Tag der Volkszählung im Ausland auf hielten, haben jedenfalls nach israelischer Lesart ihr Wohnrecht verloren. Diese Militärverordnungen erleichterte es Israel zudem wesent­ lich, auf „legale“ Weise arabisches Land in Besitz zu nehmen. Denn nach jordanischem Recht ist es verboten, Land an Juden zu verkaufen. Anzumerken ist, dass mit Blick auf die dort lebenden jüdischen Siedler Israel gleichwohl einige Gesetze als exterritorial anwendbar erklärt hat und ihnen, den Siedlern, einen anderen legalen Status gab als den dort lebenden Palästinensern, um dadurch zu vermeiden, dass jordanisches Recht (v. a. das Staatsbürgerschaftsrecht) auf die Siedler angewandt wird. Israel meint schließlich, seine Verpflichtungen aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte seien auf das Westjordanland und den Gazastreifen nicht anwendbar. Anders hingegen ist die Rechtsauffassung der Vereinten Nationen, die Israel als eine Besatzungsmacht im Westjordanland und im Gazastreifen betrachten: Der UN-Ausschuss für Menschenrechte hat die Anwendung des Zivilpakts in den besetzten Gebieten bestätigt. Ungeachtet dessen erließ Israel eine Vielzahl von Ausnahmen zu den allgemeinen Rechtsvorschriften, wie etwa die Verwaltungshaft, die Beschränkung des Zugangs zu einem Rechtsanwalt und die Möglichkeit der Nichtoffenlegung sämtlicher Gründe für die Inhaftierung. Diese sind größtenteils in den Gesetzen und sonstigen Vorschriften zur „Bekämpfung des Terrorismus“ verankert. Als Begründung für die Aufrechterhaltung des angeblichen „Notstands“, wird von offizieller Seite aus die weiterhin bestehende bedrohliche Sicherheitslage angeführt: Obwohl seit 1996 das Grundgesetz über die Regierung die jährliche Überprüfung und auch Genehmigung des Notstands vorsieht, erfolgt in der Praxis die Verlängerung des Notstands automatisch. Versuche, die Notstandgesetzgebung endlich aufzuheben, sind bislang gescheitert.

f)  Einbürgerungsrecht und Arbeitsmigration Wie zuvor angedeutet, besteht zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer Einbürgerung in Israel. Diese steht allerdings im weitgehenden Ermessen des Innenministeriums, wobei eine Ablehnung nicht eigens begründet werden muss.66 In der Praxis wird eine Einbürgerung aber sehr selten vorgenommen; oft nur, wenn sie im Interesse des Staates ist. Unbeschadet dessen gelten als Mindest-Voraussetzungen: ein Auf66  Die einzelnen Voraussetzungen sind abruf bar unter: www.mfa.gov.il. Siehe neben U. Davis (Anm.  3 ), S.  47 ff., aktueller das dortige Außenministerium unter: www.mfa.gov.il – Index: Acquisition of Israeli Nationality.

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enthalt von fünf Jahren sowie die Absicht, sich dauerhaft niederlassen zu wollen. Neben Kenntnissen der hebräischen Sprache wird hier – anders als beim Rückkehrgesetz – die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit eingefordert. Der Bewerber muss ferner zum einen mit seinem Verhalten zeigen, dass er „aufgehört hat, eine andere Nationalität zu haben“ und zum anderen eine „Treue und Loyalität“ ablegen. Gerade hier zeigt sich auch die Unterschiedlichkeit zwischen jüdischen Israelis und Eingebürgerten. Denn im Rahmen der Verlustregelungen verlieren Letztere einschließlich ihrer minderjährigen Kinder automatisch die israelische Staatsangehörigkeit, wenn sie „illegal“ (d. h. ohne Genehmigung) das Land in Richtung Syrien, Jordanien, Irak sowie Yemen (und bis 1982 auch Ägypten) verlassen oder die Staatsangehörigkeit eines dieser Staaten erwerben. Lange Zeit war die Zuwanderung von ausländischen Arbeitsmigranten eine vernachlässigte Kategorie. Hohe Geburtenraten, ein vergleichsweise gutes Bildungs­ system sowie ein permanenter Wanderungsüberschuss sicherten ein stets ausreichendes Kontingent an Arbeitskräften für fast alle Bereiche des Arbeitsmarktes. Unter­ bezahlte Tätigkeiten mit geringem Sozialprestige, vor allem in der Landwirtschaft und im Baugewerbe, wurden u. a. durch eine Reserve, bestehend aus palästinensischen Arbei­tern aus den besetzten Gebieten, verrichtet, die täglich oder wöchentlich ins israelische Kernland pendelten. Nach den offiziellen Arbeitsmarktstatistiken betraf dies in den 1980er Jahren zeitweise über 110.000 Palästinenser, d. h. rund 7 % aller Beschäftigten.67 Inzwischen ist aber die Bedeutung der Arbeitsmigration einschließlich der damit verbundenen Familienzusammenführungen stark gestiegen: Im Zusammenhang mit der „Abriegelung Israels“ infolge der sich häufenden Terroranschläge kam es oft zu einem Arbeitskräftemangel, so dass man ab 1993 begann, diese Lücke mit angeworbenen Arbeitskräften aus Übersee zu schließen. Fortan werden die zeitlich befristeten Arbeitsgenehmigungen primär an Arbeitnehmer aus Rumänien, Thailand, den Philippinen, aber auch aus Bulgarien, Russland, der Türkei und China vergeben. Derzeit leben über 100.000 Gastarbeiter mit einer Arbeitsgenehmigung im Land, die allerdings fest an ihren Erstarbeitgeber gebunden sind, was oftmals die Gerichte auf den Plan gerufen hat, und zwar wegen des damit vielfach verbundenen Lohndumpings und offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen. Man rechnet jedoch mit weiteren 150.000 bis 200.000 Menschen, die sich ohne Genehmigungen auf halten. Die Wirtschaftskrise während der zweiten Intifada sowie steigenden Arbeitslosenzahlen unter Israelis führte schließlich dazu, dass die seinerzeitige Regierung von Ariel Scharon 2002 in diesem Punkt einen radikalen Umschwung einleitete. Fortan wird die irreguläre Migration deutlich stärker adressiert, insbesondere auch durch ein rigoroseres Vorgehen gegen die Arbeitgeber.68 Parallel dazu erarbeitete eine interministerielle Kommission Vorschläge für eine zukünftige Politik gegenüber Arbeitsmigranten und die Einrichtung einer zentralen Regierungsbehörde zur Regelung der Einwanderung. Die Verwaltung der jüdischen   J. Schneider (Anm.  22).   Hier erarbeitet derzeit eine interministerielle Kommission Vorschläge für eine zukünftige Politik gegenüber Arbeitsmigranten und die Einrichtung einer zentralen Regierungsbehörde zur Regelung der Einwanderung. Die Verwaltung der jüdischen Immigration obliegt aber weiterhin einem gesonderten Eingliederungsministerium, vgl. „Migration & Bevölkerung“ (Anm.  42), Ausgabe 1/2004. 67

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Immigration obliegt aber weiterhin einem gesonderten Eingliederungsministerium.69 Insoweit regelt seit 1991 ein Gesetz zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer die Einzelheiten. Darauf hin wuchs ihre Zahl kontinuierlich auf über eine viertel Million im Jahr 2002 an. Nach deutlichen Rückgängen in den Jahren 2003 bis 2005 ist seit 2006 wieder eine leichte Steigerung zu verzeichnen. Das Ziel der israelischen Regierung, die Beschäftigung von Palästinensern aus Sicherheitsgründen bis 2008 auf null zu reduzieren, wurde allerdings nicht erreicht. Allerdings ist eine Tendenz zum Ersatz der lokalen bzw. regionalen Arbeitskräfte durch überseeische Gastarbeiter deutlich erkennbar. Sie dürfen jedoch nur in fünf Wirtschaftsbereichen beschäftigt werden: und zwar in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, im großtechnischen Industriegewerbe, in der häuslichen Pflege sowie im Gaststättengewerbe. Mit Ausnahme der Kranken- und Altenpflege werden für alle Bereiche feste Jahreskontingente bestimmt. Im Verhältnis zur israelischen Gesamtbevölkerung kann man die Dimension der Ausländerbeschäftigung durchaus mit der Gastarbeitermigration europäischer Staaten bis Anfang der 1970er Jahre vergleichen. Last not least ist auch Israel mit den aktuellen Flüchtlingsproblemen aus Afrika konfrontiert, wenngleich Israel recht konsequente Deportationskampagnen durchführt, weil vor allem die Konservativen und Rechten den „Verlust der jüdischen Identität“ befürchten; jedenfalls sind diese Flüchtlinge dort besonders unwillkommen.70 Diese werden in Internierungslager unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Und auf ein dauerhaftes Bleiberecht zu hoffen, ist angesichts der strengen Einwanderungsregeln nahezu ausgeschlossen. Inzwischen hat sich ein verbreiteter Fremdenhass in weiten Teilen der israelischen Bevölkerung etabliert.

g)  Fazit: Kennzeichen des israelischen Bürgerschaftsmodells Zusammenfassend drückt sich die religiös gespaltene Gesellschaft Israels in erster Linie in ihrem ethnokratischen Staatsbürgerschaftsverständnis aus, das auf die Kombination zwischen religiösen, ethnischen und politischen Elementen im Rahmen des Staats- wie auch Nationsverständnisses zurückzuführen ist. Jede Kategorie, insbesondere unter den religiösen Gruppen, könnte zusätzlich nach Geschlechtern unterteilt werden, weil das männliche – gesellschaftlich betrachtet – stets eine höhere Position erfährt: Insoweit zählen zu den „angesehensten“ Bevölkerungsgruppen vorneweg die Juden und zwar zunächst die sog. „mainstream Jewish citizens“, dann die „ultra-Orthodox Jews“ sowie schließlich die „pseudo-Jews“.71 Letztere sind hauptsächlich russische Immigranten, die zwar als Juden nach dem Rückkehrgesetz anerkannt sind, nicht aber bei den religiösen Institutionen.Als nächste nicht-jüdische Gruppen folgen die Drusen, die aus der ismaelitischen Schia um die erste Jahrtausendwende herum hervorgegangen sind, erst dann kommen palästinensische Israelis, denen die Beduinen sich anschließen. Als nächstes wären die Ostjerusalem- und   Siehe vorh. Anm.   Zum Folgenden z. B. Christian Wagner, „Israel – Flüchtlinge frieren abgeschoben in der Wüste“, in: Deutschlandfunkbeitrag vom 17.01.2015. 71  So O. Yiftachel (Anm.  3 ). 69

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Golan-Araber zu nennen und ganz zum Schluss die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Als Nebenkategorie wären sicherlich noch die Arbeitsmigranten zu erwähnen. An dieser Stelle ist auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen, der zunehmend zu einem Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird: die Integrationsdefizite bei den russischen Einwandererkindern. Sie weisen nicht nur deutlich erhöhte Drogen- und Alkoholabhängigkeitsraten auf, sondern die Verhaftung von russischstämmigen Mitgliedern rechtsradikaler bzw. neo­ nazistischer Gruppen hat ein erhebliches Aufsehen in Israel erregt.72 Gerade durch die Zuwanderung aus der GUS sieht sich Israel existentiellen Fragen gegenübergestellt: Wie geht der jüdische Staat mit einer Einwanderung um, die zu einem beträchtlichen Teil laut jüdischem Gesetz als nicht-jüdisch gilt? Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass der prozentuale Anteil von Nichtjuden an der Einwanderung aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 90er Jahren zu etwa 30 %, und in den letzten Jahren sogar zu etwa 50 % aus Nichtjuden bestanden habe. In Rechnung gestellt werden muss, dass diese Einwanderungsgruppe mit insgesamt über eine Million Personen inzwischen gut ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmacht und somit ein gewichtiges politisches Potential darstellt.73 Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren der Anteil der Immigranten, die sich selbst als religiös bezeichnet, stark gesunken ist. Zudem haben heute viele derjenigen, die als Angehörige von Juden eingewandert sind, geringe oder keine religiös-kulturelle Bindung zum Judentum. Das sind Anzeichen einer mangelnden kulturellen bzw. religiösen Identifikation mit dem Staat. Auch dort zeigt sich also, dass mit der Zuwanderung von Personen aus den verschiedensten Regionen der Erde, der plurale Charakter einer auf Zuwanderung angelegten Gesellschaft weiter verstärkt wird – trotz eines religiösen Gemeinsamkeitsmerkmals. Inzwischen ist in Israel eine multikulturelle Gesellschaft entstanden, die anders als in den christlich-abendländischen Gesellschaften Europas vor dem Hintergrund ihrer jüdisch-orientalischen Entstehungsgeschichte zu sehen ist.74 Beide Gesellschaften stehen seit einiger Zeit vor der großen Herausforderung, ihre zunehmende islamische Bevölkerungsgruppe an der jeweiligen nationalen Identität teil­ haben zu lassen: „Jede Weiterentwicklung der staatsbürgerlichen Theorie muss sich“ – um es mit den Worten Bryan Turners auszudrücken – „viel tiefgreifender mit den Bedingungen auseinandersetzen, unter denen sich das Staatsbürgerrecht in Gesellschaften herausbildet, die mit den Problemen ethnischer Komplexität konfrontiert sind.“75 Das könnte auf den ersten Blick dafür sprechen, dass Israel sein spezielles Einwanderungs- und Einbürgerungsverständnis auf Dauer wohl nicht halten kann, d. h. seine religiöse Determinante zu Gunsten der demokratischen bzw. menschenrechtlichen wird verschieben müssen – ohne dabei zwingend seinen sui generis Charakter vollständig aufgeben zu müssen: ein schwieriges Unterfangen! Maßnahmen in dieser Richtung sind bislang singuläre Ereignisse geblieben. Ein dahingehendes   Siehe dazu z. B. den Bericht in: „Spiegel Online“ v. 9.9.2007.   Im Folgenden J. Grünfeld (Anm.  38). 74   Weiterführend ist das von Daniel Levy/Yfaat Weiss (Hrsg.), Challenging Ethnic Citizenship: German and Israeli Perspectives on Immigration, Oxford/New York 2002, insbesondere der Beitrag von Y. Weiss, The Golem and Its Creator or How the Jewish Nation State Became Multiethnic, S.  82 ff. 75   Bryan S. Turner, Outline of a Theory of Citizenship, Sociology 24 (1990), S.  189 ff. (212). 72 73

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Daueraufenthaltsrecht mit Einbürgerungsoption wurde nämlich nur einigen „irregulären“ Migrantenkindern eingeräumt, die das zehnte Lebensjahr vollendet hatten und sich bis zu einem Stichtag registrieren ließen.76 Dazu mussten sie bereits in Israel geboren und in das israelische Bildungssystem integriert sein sowie Hebräisch sprechen. Auch der Status ihrer Eltern und Geschwister konnte im Zuge dessen regularisiert werden. Insgesamt profitierten bis Ende 2005 allerdings nur 2.000 Personen von der Regelung. Zugegebenermaßen blieb diese Legalisierung für Gastarbeiterkinder vorerst eine Episode in einem ansonsten sehr restriktiven Einbürgerungsrecht. Die Chance einer Abkehr vom dominanten ethno-nationalen Verständnis der staatliche Zugehörigkeit scheint – realistisch betrachtet – indes sehr gering: zum einen aufgrund des ungelösten arabisch-israelischen Konfliktes, zum anderen, weil sich eine Mehrheit im Land auch in absehbarer Zukunft für die ethnisch-religiöse Prägung Israels durch das Judentum aussprechen wird.77 Eine zunehmende Herausforderung für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt stellt der Umgang mit den äthiopischen Juden dar, die seit Jahrzehnten mit Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen haben, weshalb sie Anfang Mai 2015 zu Tausenden auf den Straßen Tel Avivs demonstrierten, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.78 Es kam infolge dessen zu gewaltsamen Ausschreitungen. Konkreter Anlass war ein polizeilicher Übergriff auf einen jungen Äthiopier. Der Vorfall wurde gefilmt, gelangte so in die sozialen Netzwerke und sorgte dort für großes Aufsehen. In Israel leben nach Angaben des Statistikbüros mehr als 135.000 Juden mit äthiopischen Wurzeln. Viele von ihnen beklagen eine Benachteiligung in Beruf, Alltag sowie ständige Übergriffe durch die Polizei. Nach Angaben der Organisation „Ethiopian National Project“ (ENP), die sich um soziale und bildungspolitische Belange äthiopischer Juden in Israel kümmert, leben 49 % in Armut. Die Mehrheit lebt in dicht besiedelten Wohngegenden, in denen es häufig zu Konflikten kommt. 45 % der Frauen unter ihnen haben keinen Abschluss – im Vergleich zu zwei Prozent aller jüdischen Frauen. Zudem können es sich die meisten nicht leisten, ihre Kinder nach der Schule bei der Ausbildung oder dem Studium finanziell zu unterstützen. Der israelische Präsident Reuven Rivlin räumte Fehler im Umgang mit den äthiopischstämmigen Juden in Israel ein. Die gewaltsamen Proteste der zurückliegenden Tage hätten gezeigt, dass es „im Herzen der israelischen Gesellschaft eine offene Wunde“ gebe. Der wiedergewählte Präsident Netanjahu hat nach den Protesten ein spezielles Hilfsprogramm für diese Gruppe angekündigt. Kennzeichen des israelischen Bürgerschaftsmodells ist demnach eine Kombination von religiösen, ethnischen und politischen Elementen, die mit der religiös gespaltenen Gesellschaft Israels zusammenhängt.79 Die Einbeziehungs-, Anerkennungs- und Einbürgerungskultur wird dabei von drei konstitutionellen Prinzipien bestimmt: Ethno-Nationalismus, Liberalismus und Republikanismus, wobei das letzte Element zwar noch dominiert, aber zusehends von den anderen beiden herausgefordert wird.80   Relly Sa’ar, Haaretz v. 4.12.2005, Pines-Paz Ease citizenship laws for foreign workers’ children.   J. Schneider (Anm.  22). 78   Zum Folgenden „Der Aufschrei äthiopischer Juden in Israel“, in: Deutsche Welle vom 04.05.2015. 79  Ausführlicher Gershon Shafir/Yoav Peled, The Dynamics of Citizenship in Israel and the Israeli-Palestinian Peace Proces, in: Gershon Shafir (Hrsg.), The Citizenship Debates, Minnesota 1998, S.  251 ff. 80   Yoav Peled, Ethnische Demokratie und die rechtliche Konstruktion der Staatsbürgerschaft: Die 76

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Das Zusammenwirken dieser drei Legitimationsprinzipien hat zwei Arten von Staatsbürgerschaften hervorgebracht: die republikanische für die Juden und die liberale für die Araber. Obgleich beide Gruppen „formell“ über gleiche Rechte verfügen, gelten faktisch nur die Juden als die „echten Bürger“ im mitgliedschaftlichen Sinne – als Ausdruck des Ethno-Republikanismus. Während der Beitrag zum Prozess der nationalen Wiedergeburt des Judentums eher als ein Maßstab der individuellen bürgerlichen Tugend gesehen wird, gilt die „jüdische Ethnizität“ als eine notwendige Vorbedingung für die Zugehörigkeit zur politischen Schicksalsgemeinschaft, wenngleich es auch innerhalb der Juden unterschiedliche Anerkennungsgrade gibt, wie dieser Abschnitt kurz erhellen sollte.81

2.  Mandatsgebiet Palästina Im britischen Mandatsgebiet „Palästina“ sollten nach der rechtlichen Grundlage der sog. „Palestine-Order-in-Council“ zunächst alle osmanischen Gesetze weiterhin grundsätzlich ihre Gültigkeit behalten.82 Mit der 1925 erlassenen „Palestinian Citizenship Order“ vom 24. Juli 1925 und den zugehörigen Durchführungsbestimmungen, deren Ausarbeitung durch die Mandatsbestimmungen notwendig geworden war, wurden all jene Bewohner zu palästinensischen Staatsangehörigen erklärt, die in Palästina geboren worden waren, dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den letzten drei Jahren hatten, keine andere Staatsbürgerschaft angenommen hatten und entsprechende Kenntnisse der hebräischen, arabischen oder englischen Sprache nachweisen konnten – sofern sie diese, die palästinensische Staatsangehörigkeit, nicht ausschlugen und sich für die türkische Staatsbürgerschaft entschieden.83 Ausländische Ehefrauen mussten indes einen gesonderten Antrag auf Einbürgerung stellen.84 Andererseits bestand kein Rechtsanspruch auf die Erteilung, sie lag vielmehr im Ermessen des Hohen Kommissars gegen dessen Entscheidung kein Rechtsmittel zulässig war. Mangels eines souveränen Nationalstaates war diese Staatsangehörigkeit völkerrechtlich nicht anerkannt. Im Prinzip beschrieb sie nur eine Form der Mandatszugehörigkeit zu Palästina. Diese Personen galten als britische Schutzangehörige, die zwar im Ausland und im internationalen Recht Briten weitestgehend gleichgestellt waren, aber innerhalb des Britischen Empires einen minderen Status besaßen, der dem eines privilegierten Ausländers gleichkam.85 Durch die Mandatsrückgabe im Mai 1948 gilt diese Zugehörigkeit als erloschen oder untergegangen – jedenfalls hierzulande.86 Staatenlosigkeit war die Folge, sofern nicht später eine andere erworben wurde, was arabischen Bürger des jüdischen Staates, in: Heinz Kleger (Hrsg.), Transnationale Staatsbürgerschaft, 1997, S.  160 ff. 81   Y. Peled (vorh. Anm.), S.  165. 82   U. Davis (Anm.  3 ), S.  83 ff. m. w. N. Ausführlicher zu den verschiedenen Phasen des Exodus der Palästinenser z. B. L. Takkenberg (Anm.  12), S.  8 ff. 83   Siehe zum Ganzen ausführlicher H. Pagener (Anm.  33), S.  7 ff. 84  Zur staatsangehörigkeitsrechtlichen Stellung der Frauen im Übrigen siehe aufschlussreich „CRTD“ (Anm.  6 ), S.  14 ff. 85   J. Gera-Grünbaum/A. Zwergbaum (Anm.  33), S.  12. 86   So die einhellige Ansicht in der Rechtsprechung und Literatur, vgl. näher z. B. M. Hilf (Anm.  50), S.  354 ff.

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wiederum vom jeweiligen Staatsangehörigkeitsrecht des Aufenthaltsortes abhängt (siehe unten). Indessen ist zu vergegenwärtigen, dass die Zugehörigkeit zum „palästinensischen Volk“ eine wichtige Rolle bei arabischen Staaten spielt(e). Sie tendieren nämlich aus politischen bzw. ideologischen Gründen dazu, diese Personengruppe eben nicht einzubürgern, um vorgeblich deren palästinensische Identität zu bewahren, d. h. etwaige Rückkehransprüche und -wünsche nicht zu vereiteln. So lautet zumindest die offizielle Leseart der jeweiligen Regelungen wie etwa in Saudi-Arabien, wo rund eine halbe Million Palästinenser leben.87 Selbst die PLO sanktioniert den Erwerb der israelischen Staatsangehörigkeit bei der Definition der „Palästinenser-Eigenschaft“ als Verlustgrund, woran wiederum bestimmte politische Mitsprachemöglichkeiten bei Wahlen einer palästinensischen Führung (Präsident und Rat der „PNA“) verknüpft sind.88 Dieser Ausschluss sorgt zusätzlich für die zögerliche Einbürgerungshaltung der über eine Million Palästinenser in den jeweiligen Aufnahmeländern. Mit Blick auf Jordanien (siehe dazu sogleich) ist bereits an dieser Stelle kurz zu erwähnen, dass nach dem Rückzug aus dem Westjordanland all jene automatisch ihr Wohnrecht dort verloren, wenn sie eine andere Staatsbürgerschaft annahmen. Ferner dürfen dort Familienmitglieder, deren Einreiseantrag abgelehnt worden war, seit 1984 nur noch mit einem Besuchervisum einreisen, das nur für einen Monat gilt und maximal zweimal einen Monat verlängert werden kann, weshalb viele keine „Berechtigung“ besitzen. Schätzungen sprechen von 120.000 Personen, meistens Frauen und Kinder. Sie haben keinen Anspruch auf medizinische Versorgung und Ausbildung. Der Besitz von Eigentum ist ihnen nicht gestattet. Die Kinder sind nicht erbberechtigt und wenn sie über 16 Jahre alt sind, erhalten sie keinen Anspruch auf eine Identitätskarte, was v. a. mit Einbußen bei Sozialleistungen verbunden ist. Im September 1987 erließ Israel dort einen restriktiveren Militärerlass, wodurch Kinder nur noch dann eine Wohnberechtigung im Westjordanland erhalten, wenn beide Eltern im Besitz einer solchen sind, oder wenn die Mutter als Bewohnerin registriert war. Infolge dieser Änderung erhalten viele dort geborene Kinder kein Wohnrecht mehr. Seit März 1989 muss jeder Palästinenser eine Identitätskarte besitzen, vorher waren dazu nur die Männer verpflichtet. Und nach dem Verzicht bzw. Rückzug Jordaniens, stellte das Land nur noch Geburtsurkunden für neugeborene Kinder aus, ohne ihnen seine Staatsbürgerschaft zu verleihen – selbst wenn die Mutter eine Jordanierin ist, weshalb (auch) diese Kinder staatenlos sind. Sie erhalten auch keine israelische Identitätskarte. Bedingt durch den Golf krieg mussten sodann viele Palästinenser Kuwait verlassen und in die palästinensischen Gebiete zurückkehren; hinzu kamen mit Palästinensern verheiratete Personen aus anderen arabischen Staa-

  U. Davis (Anm.  3 ), S.  74 f. bzw. S.  132 f.   So ausdrücklich die „Additional Guidelines and Instructions for Members of the Election Committees and Election Offices (Vol. I. C. October 1995)“, die auf dem israelisch-palästinensischen Zwischenabkommen bzgl. des Westjordanlandes und des Gazastreifens („Oslo II“), Annex II (Protocol Concerning Elections) v. 28.9.1995, basieren. Zu weiteren rechtlich allerdings (noch) nicht verbindlichen Regelungen wie z. B. die „Palestine National Charter“ (1964) oder „Palestine Declaration of Independence“ (1988) im Kontext der palästinensischen Staatsbürgerschaft siehe U. Davis (Anm.  3 ), S.  94 ff. sowie 170 f. 87

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ten. All jene mussten dann einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen, um überhaupt eine Wohnberechtigung zu erhalten.

3. Jordanien Nur wenige Länder haben im 20. Jahrhundert derart große Einwanderungsströme in Relation zu ihrer Bevölkerung erlebt wie das heutige Jordanien – als konstitutionelle Monarchie. Die späteren Wanderungsbewegungen in Gestalt von drei großen Flüchtlingswellen (1948, 1967, 1989/90) hatten im Israel-Palästina-Konflikt ihre Ursache, in den dieses Land ebenso verwickelt war. Nimmt man die Migrationsströme aus dem 19. Jahrhundert hinzu, so besteht die Mehrheit der jordanischen Bevölkerung inzwischen aus Einwanderern. Dementsprechend gibt es drei große MigrantenGruppen, die jeweils unterschiedliche Privilegien besitzen und ungleiche staatliche und soziale Anerkennung finden: Als bestintegrierte gelten die Tscherkessen und Tschetschenen, die zugleich sehr loyal dem Königshaus gegenüber sind und besondere Minderheitenrechte genießen. Besondere Integrationsprobleme bereitet die weitaus größte Minderheitengruppe der Palästinenser. Deren auf keimender Nationalismus sowie der daraus resultierende Widerstand gegen die haschemitische Herrschaft haben immer wieder zu großen innen- wie auch außenpolitischen Spannungen geführt. Mehr noch: diese haben sich bereits mehrfach entladen wie z. B. im Attentat auf König Abdallah im Jahr 1951 oder dem fehlgeschlagenen auf König Hussein, der als sog. „Schwarzer September“ 1970 Eintrag in die Geschichtsbücher gefunden hat und schließlich in einen von der PLO angezettelten Bürgerkrieg mündete. Daher versucht die Regierung wie aber auch das UNHCR diese Flüchtlinge so schnell wie möglich in Drittländer umzusiedeln.89 Auch hier sorgte die Balfour-Erklärung dafür, dass Jordanien als Mandat „Palästina“ 1920 zunächst an Großbritannien übertragen wurde, nachdem zuvor im 1. Weltkrieg britische und arabische Truppen in der sog. „Großen Arabischen Revolution“ von 1916 die Osmanen vertrieben hatten. Demgegenüber sprach sich die arabische Bevölkerung für einen gemeinsamen groß-arabischen Staat aus, bestehend aus Groß-Syrien, Jordanien, Palästina, Irak und dem sog. „Hijaz“, also jener heiligen Orte, die sich im heutigen Saudi-Arabien befinden. Mehrere kriegerische Auseinandersetzungen führten zur Teilung des Landes in Palästina (westlich des Jordans) und Transjordanien (östlich des Jordan).In Transjordanien wurde 1921 ein Emirat errichtet und nach Aufgabe des britischen Mandats 1946 dann schließlich das Haschemitische Königreich ausgerufen. Das erstmals 1928 erlassene Staatsangehörigkeitsgesetz knüpfte daher an dasjenige Transjordaniens an; es hing zudem noch mit der „Palestinian Citizenship Order“ der britischen Mandatsverwaltung zusammen.90 Wer Staatsangehöriger ist, legt nunmehr Art.  5 der Verfassung aus dem Jahre 1992 fest. Es übernimmt im Wesentlichen den damaligen Passus, wonach alle osmanischen Untertanen, die ihren gewöhnlichen 89  Vgl. Wolfgang Gieler/Robert Schulz, Jordanien, in: Wolfgang Gieler (Hrsg.), Handbuch der Ausländer- und Zuwanderungspolitik, Von Afghanistan bis Zypern, 2003, S.  250 ff. 90   Im Folgenden U. Davis (Anm.  3 ), S.  67 ff.

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Aufenthalt (mindestens 12 Monate) am Stichtag des 6.8.1924 in Transjordanien hatten, automatisch die transjordanische Staatsbürgerschaft erhalten (so gleichermaßen Art.  1 des jordan. StAG [von 1954 bzw. 1986]). Bis vor kurzem galt dort das Abstammungsprinzip nur a patre. Erst auf eine Initiative der jordanischen Königin hin, eine geborene Palästinenserin, hat der geschlechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz Einzug in das Staatsangehörigkeitsrecht erhalten, wodurch u. a. den unzähligen staatenlosen Kindern gemischt-nationaler Ehen ein Erwerb ermöglicht werden sollte.91 Das wiederum brachte viele Jordanier auf, nicht nur Nationalisten, die allesamt befürchteten, dass Jordanien dann zu einem „quasi-Palästinensischen Staat“ werde.92 Das Dekret wurde darauf hin verändert: es erfolgt keine automatische Vermittlung, sondern stets ist eine Einzelfall-Entscheidung vorzunehmen. Die „nicht-jüdischen Palästinenser“ gelten nach Art.  3b StAG als Jordanier, wenn sie zwischen dem 20.12.1939 und dem 16.2.1954 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatten. Diese Regelung wurde im Zuge der Annektion Ostjerusalems sowie des Westjordanlandes zunächst ausgeweitet; dann aber nach dem Verzicht darauf (am 31.5.1980) durch königliche Verfügung automatisch annulliert. Damit wurde zugleich die vormalige Einbürgerung von rund 750.000 Palästinensern rückgängig gemacht und ihnen lediglich ein sog. „Jordanien Passport“ ausgestellt. Selbst wenn in jüngster Zeit eine gewisse Liberalisierung dieser „Passpolitik“ eingetreten ist, weil seit 1996 in aller Regel diese Pässe mit nunmehr fünf- statt wie bisher zweijähriger Laufzeit ausgestellt werden, ist mit diesem Akt die Staatsbürgerschaft gegen einen Reisepass – in der ausschließ­ lichen Funktion eines Reisdokumentes – ausgetauscht worden. Mit anderen Worten: eine Degradierung zur Staatenlosigkeit. Anders hingegen die offiziellen (jordanischen) Verlautbarungen, die darin eine Maßnahme zur Stärkung der palästinensischen nationalen Identität sahen, womit deren Bestrebungen nach einer Selbstverwaltung wie auch nach einem eigenen unabhängigen Staat nur gefördert werde.93 Entsprechend restriktiv sind die Einbürgerungsaussichten. Wichtig ist, dass sich auch hier das ethnokratische Element das Bürgerschaftsrecht durchzieht: Die Geburt im Inland, genauer gesagt auf „arabischem Territorium“, ermöglicht arabischen Kindern eine vereinfachte Einbürgerung, wenn sie „im Königreich oder in den besetzten Gebieten Palästinas geboren und dann von dort vertrieben oder ausgewandert sind, es verlassen haben bzw. Kind einer solchen Person sind.“ Auf dieser Linie erhält die arabische Ethnie, wozu die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Arabischen Liga zählen, einen besonderen Stellenwert – allerdings nicht durchweg im Sinne einer Privilegierung: Denn während bei „nicht-arabischen Ausländern“ lediglich ein vierjähriger Mindestaufenthalt einschließlich der gewöhnlichen Standardvoraussetzungen verlangt wird, ohne einen Anspruch zu statuieren (vgl. Art.  12 jordan. StAG), können Araber erst aufgrund einer Empfehlung des Innenministeriums durch Beschluss des Kabinetts eingebürgert werden, und 91   Siehe zu einer geschlechtsspezifischen Kritik am jordanischen Staatsangehörigkeitsrecht „CRTD“ (Anm.  6 ), S.  11 ff. Auch das jordanische Recht erkennt keine interreligiöse Heirat im Inland an, so dass Paare oft in Zypern heiraten und sich dort registrieren lassen, weil diese Form wiederum anerkannt wird. 92   Nicolas Pelham, Nicolas, Jordan Queen’s Decree Stirs Tempest Over Citizenship Rights, in: Christian Science Monitor vom 17.12.2002, www.globalpolicy.org. 93   U. Davis (Anm.  3 ), S.  74 f. und 132 f. et passim.

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zwar erst nach 15 Jahren ununterbrochenem Aufenthalt – dann aber als Anspruchseinbürgerung (Art.  4 jordan. StAG). Die Mehrstaatigkeit wird seit der Ergänzung aus dem Jahre 1986 grundsätzlich nur im Verhältnis zu arabischen Staaten erlaubt – entgegen dem „Staatsbürgerschafts-Abkommen der Mitgliedstaaten der Arabischen Liga v. 5.5.1954“.94 Bemerkenswert ist ferner, dass die Einbürgerung nicht sogleich alle staatsbürgerlichen Rechte verleiht, sondern für bestimmte öffentliche Ämter gilt eine Art Bewährungsfrist von 12 Jahren (Art.  14 StAG). Im Ergebnis ist die Möglichkeit die jordanische Staatsangehörigkeit zu erwerben – zumindest im Verhältnis zu den Bedingungen Israels – vergleichsweise liberal.

4. Libanon Ähnliche Mechanismen wie Israel ergriff auch das von Frankreich gegründete und von Syrien getrennte „Groß-Libanon“ (1920), wo Mitgliedschaftsrechte ebenfalls stark konfessionsabhängig sind. Die konfessionelle Zugehörigkeit bildet daher ein allgemeines Strukturprinzip des gesamten politischen Systems. Um den jahrhundertealten Wunsch der mit Rom unierten Maroniten zu erfüllen und Heimstatt der orientalischen Christen zu werden, wurde stets versucht, die ursprüngliche Bevölkerungsmehrheit der Christen im Land mit allen Mitteln zu sichern: In der voraus­ gegangen politischen Einheit, der unter osmanischer Hoheit stehenden autonomen Region Sanschak im Libanon-Gebirge, befanden sich fast 80 % Christen, davon rund 58 % Maroniten. Durch den Zusammenschluss mit den Gebieten um die Bekaa-­ Ebene, Beirut und Tripoli, sank die Zahl der Christen auf 55 % und der Anteil der Maroniten auf unter 33 %, so dass die Idee als „Staat der Christen“ gefährdet schien.95 Abweichend von dem im „Vertrag von Lausanne“ (1923) vereinbarten Territorialprinzip (Art.  30) gewährte das libanesische Staatsangehörigkeitsgesetz vom 19.1.1925 den vielen Christen, die das Land gen Europa und USA verließen und auswanderten, die Staatsangehörigkeit auch weiterhin nach dem Abstammungsprinzip.96 Nur so konnte eine knappe christliche Mehrheit – infolge einer fehlerhaften – Volkszählung aus dem Jahre 1932 gesichert werden, die das politische Zusammenspiel der verschiedenen religiösen Kräfte in den kommenden Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht zementierte.97 Denn bei der Zählung wurden die Emigranten ausdrücklich miteinbezogen, weil sie überwiegend Christen waren; deren Privilegierung setzte sich schließlich bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit fort. Auf dieser Linie war auch die Einwanderungspolitik stets von jenem Wunsch geprägt, vornehmlich Christen armenischer, chaldäischer, syrischer und griechischer Konfessionen aufzunehmen, nicht jedoch die

94   Vom Rat auf seiner 21. ordentlichen Sitzung beschlossen. Signatarstaaten sind Jordanien, Syrien, Irak, Saudi-Arabien, Libanon, Libyen, Ägypten und Jemen. Die entsprechenden Bestimmungen sind abgedruckt z. B. bei U. Davis (Anm.  3 ), S.  132. 95   Siehe dazu G. Seufert (Anm.  31), S.  235 f. 96   Zum Ganzen ausführlicher erneut U. Davis (Anm.  3 ), S.  137 ff., insbesondere S.  144 ff., dort mit zahlreichen Nachweisen zum Ursprung des libanesischen Staatsbürgerschaftsmodells. 97   Siehe zur Kritik und zu den Fehlern im Rahmen der grundlegenden Volkszählung von 1932 R. Maktabi (Anm.  16), S.  146 ff.

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Angehörigen der verschiedenen muslimischen Konfessionen.98 Der aus der ersten Zählung resultierende Proporz wurde 1943 erneut bestätigt – allerdings nur auf poli­ tischer Ebene und zwar als „undokumentierter Nationaler Pakt“.99 Diesem so festgelegten Ergebnis entsprechend wurde anschließend eine parlamentarische „Konfes­ sions- bzw. Proporzdemokratie“ installiert, die nach wie vor besteht.100 Anders als in Israel wurden die staatlichen Einrichtungen zunächst nicht von den jeweiligen religiösen Gruppen selbst gestaltet, sondern blieben noch der externen französischen Mandatsmacht vorbehalten (1920–1941). Sie sorgte letztlich für eine Festigung der inneren Struktur. Der Staat Libanon übernahm später von der politischen Vorläufereinheit zwar ein Modell einer anteilsmäßigen Repräsentation konfessioneller Gruppen; anfangs noch in rein beratender Funktion.101 Diese Situation führte dazu, dass die beteiligten Gruppen die öffentliche Sphäre nicht gemeinsam auf bauten und nutzten, sie also keine gemeinsame innere Einigung verfolgten, weswegen sich eine wie auch immer geartete nationale Identität kaum ausbilden konnte. Fortwährend bestimmte die jeweilige Zugehörigkeit und das Bekenntnis zu einer der konfessionellen Gruppen die Stellung in der Öffentlichkeit, wie allen voran bei der Vergabe von staatlichen Ämtern und Posten. Die staatsbürgerliche Partizipationsmöglichkeit hängt daher zuallererst von der Konfession ab und wird über diese mediatisiert: der Einzelne wird weniger als Individuum, sondern zumeist als Mitglied (s)einer konfessionellen Gruppe gesehen. Das aktuelle Staatsbürgerschaftsrecht v. 9.10.1969 stellt die Einbürgerung weitgehend in das Ermessen des Innenministeriums: Es setzt u. a. einen fünfjährigen Aufenthalt voraus, wobei die Mehrstaatigkeit zugelassen wird. Praktisch steht aber auch das Einbürgerungsverfahren unter dem ursprünglichen Konfessionsproporz, der im Wesentlichen auf der Volkszählung von 1932 basiert, aber seit Längerem in eine deutlich sichtbare Schieflage geratenen ist. Inzwischen hat die muslimische Bevölkerung überproportional zugenommen und nimmt auch weiterhin stark zu: Bereits 1986 überwog das Verhältnis zu Gunsten der Muslime mit rund zwei Drittel.102 Lediglich christliche Politiker pochen noch auf die Einhaltung des alten Proporzes und verschließen sich der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung in Gestalt der Konfessionszusammensetzung. Seit einiger Zeit (1991 bzw. 1993) wird – dem syrischen Beispiel folgend (s. u.) – eine erleichterte Einbürgerung und Rückkehr von ehemaligen Staatsangehörigen, hauptsächlich Christen, betrieben.   Siehe dazu weiterhin R. Maktabi (Anm.  16), S.  146 ff.   Rania Maktabi, The Lebanese Census of 1932 Revisited: Who are the Lebanese?, in: British Journal of Middle Eastern Studies, Vol. 26 (1999), S.  219 ff. 100   Regierung und Parlament sind seit dem gleichwertig von Christen und Muslimen besetzt: Damals (1932) waren 51,2 % der Bevölkerung im Libanon Christen und 48,2 % Muslime. Die Sitze im Parlament wurden im Verhältnis von sechs Christen zu fünf Muslimen besetzt. Später im Friedensvertrag von Taif 1989, der den 15 Jahre währenden Bürgerkrieg beendete, wurde das Verhältnis auf 50:50 reduziert und im Anschluss bekam jede der 19 offiziellen Konfessionen im Parlament einen entsprechenden Proporz, so dass wichtige Posten an die größten Konfessionen gingen. Traditionell ist der Präsident ein christlich-katholischer Maronit, der Premierminister ein sunnitscher Moslem und der Parlamentssprecher ein schiitischer Moslem. Drusen und Griechisch-Orthodoxe erhalten wichtige Ministerien. Vergleichbares gilt für die 128 Abgeordnetensitze, vgl. näher R. Maktabi (Anm.  99), S.  221 f. 101   G. Seufert (Anm.  31), S.  235. 102   R. Maktabi (Anm.  99), S.  221 f. 98

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Im Hinblick auf die dorthin vertriebenen rund 400.000 vorwiegend muslimischen palästinensischen Flüchtlinge, die in drei großen Wellen, meist im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ins Land kamen (1947/48 und 1956 bzw. 1967 sowie 1970, der Vertreibung aus Jordanien nach dem „Schwarzen September“), verweigerte Libanon stets einen den internationalen Abmachungen sowie Empfehlungen der Arabischen Liga entsprechenden Rechts- und Sozialstatus.103 Daher wurde regelmäßig eine Einbürgerung abgelehnt – vorgeblich um deren (nationale) palästinensische Identität weiterhin aufrechtzuerhalten. Tatsächlich war dies dem Proporzargument geschuldet, wie sich an der Einbürgerung von mehr als 50.000 christlichen Palästinensern in den 1950er und 1960er Jahren ablesen lässt.Zwar kam es 1994 zu einer großen Einbürgerungsaktion von bislang übergangenen Staatenlosen. Mehr als 100.000 Personen wurden so per Dekret eingebürgert. Jedoch ließ 2003 der Innenminister verlautbaren, diese Einbürgerungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu entziehen, weil sie womöglich aufgrund falscher Dokumente erfolgt seien.104 Das Innenministerium hat daher mit der Durchsicht von ca. 87.000 Akten begonnen: bei rund zwei Drittel handelt es sich vermutlich um Muslime und beim Rest um Christen. Schon zuvor hatten Vertreter christlicher Maroniten für die Annullierung gestritten, weil das damalige Dekret gegen die (nach dem Bürgerkrieg erlassene) Verfassung verstoße und diese wiederum die Einbürgerung (wie auch gesellschaftliche Integration) dieser Gruppe verbiete – unabhängig von der Aufenthaltsdauer. Eine Entziehung hat speziell für diese Gruppe weitreichende Konsequenzen: so ist u. a. der Zugang zu bestimmten Berufen wie auch Rechten (Eigentumserwerb) von der Staatsangehörigkeit abhängig.105 Hintergrund für die „verspätete Korrektur“ ist, dass nach libanesischem Recht (ähnlich wie in Jordanien) Eingebürgerte erst nach einer Frist von zehn Jahren alle staatsbürgerlichen Rechte erhalten. Proporzgründe haben auch maßgeblichen Anteil an der nahezu ausschließlichen Weitervermittlung der Staatsangehörigkeit über den Abstammungsgrundsatz – aber nur bei einem libanesischen Vater, es sei denn, dieser stirbt und die Kinder sind noch minderjährig.106 Vergleichbares gilt bei der Heirat, die ebenfalls die Geschlechter ungleich behandelt und den Frauen automatisch die Staatsangehörigkeit überträgt. Charakteristisch sind abschließend diverse Verlustregelungen bei Loyalitätskonflikten, wozu bereits ein Auslandsaufenthalt von fünf Jahren gezählt wird oder die Annahme eines öffentlichen Amtes in einem fremden Staat ohne vorherige Genehmigung sowie andere „landesverräterische Sicherheitsbedenken“ (so Art.  1 liban.StAG). Eine „Annullierung“ setzt die Empfehlung des Innenministers sowie die anschließende Bestätigung durch das Kabinett voraus. 103   Im Folgenden U. Davis (Anm.  3 ), S.  158 ff. et passim, mit Ausführungen zur Rechtsstellung der Palästinenser im Allgemeinen. 104   Ironischerweise war der Innenminister der Sohn des damaligen Innenministers, der jene Einbürgerungen vorgenommen hatte. 105   Siehe dazu z. B. den Pressebericht der „Palestinian Human Rights Organization“ v. 25.3.2003, abruf bar beim „European Country of Origin Information Network“: www.ecoi.net – Libanon. 106   Kritisch – wegen der daraus entstehenden Gefahr einer Staatenlosigkeit – die Concluding Oberservation des CERD-Committes auf seiner 1639. Sitzung v. 11.3.2004, State report CERD/C/383/ Add.2, CERD/C/475/Add.1, und zwar dort Nr.  13. Siehe hierzu ausführlicher bereits oben „CRTD“ (Anm.  6 ), S.  12 ff.

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5. Syrien Zu guter Letzt hat auch Syrien, genauer: die „Syrische Arabische Republik“, osmanische Wurzeln.107 Sie wurde zwar 1943 gegründet, jedoch erst drei Jahre später unabhängig, weil seit 1941 die Alliierten Großmächte (Großbritannien und Frankreich) das Land besetzten. Bereits mit dem „Sykes-Picot-Abkommen“ (1916) wurde zwischen ihnen die Einflusssphären ausgehandelt. Unter anderem einigte man sich auf die Etablierung eines arabischen Staates „Syrien“ unter französischem Mandat. Allerdings wurden die Grenzen endgültig erst nach der San Remo Konferenz im April 1920 festgelegt. Hier unterstützten die Briten anfangs noch arabisch-nationalistische Ambitionen, die im Juli 1920 durch die Besetzung Damaskus seitens der Franzosen aber vorerst zunichte gemacht wurden. Im Mai 1945 brach dann eine arabische Revolte aus, in die Großbritannien zugunsten Syriens eingriff. In Folge dieser Ereignisse zog sich Frankreich im Frühjahr 1946 vollständig aus Syrien zurück. Trotzdem kam es im Anschluss dort zu mehreren z. T. kurzzeitig aufeinander folgenden Militärputschen. Damit einhergehend waren stete Bestrebungen zur Schaffung eines homogenen arabisch-muslimischen Staates sichtbar. Dieser arabische Nationalismus war in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auch vom Aufstieg Nassers in Ägypten sowie dem Sturz der Haschemitischen Monarchie im Irak inspiriert und mündete in die „Vereinigte Arabische Republik“, einem Zusammenschluss Ägyptens und Syriens aus dem Jahr 1958. Wegen der ägyptischen Vormachtstellung zerbrach diese Vereinigung schon nach drei Jahren infolge eines syrischen Militärputsches. Dem folgte die (Wieder-)Errichtung der „Syrischen Arabischen Republik“. Dieser historische Abriss bildet den Hintergrund für staatsangehörigkeitsrechtliche Reminiszenzen.108 Denn das heutige Recht knüpft zum einen an das osmanische Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahre 1869 an und zum anderen an den Lausanner Vertrag, der überdies die staatsangehörigkeitsrechtlichen Folgen der Auflösung des vormaligen Reiches regelte.109 Damals korrelierte die Nationalität mit dem jeweiligen Aufenthaltsort bzw. -staat. Einige der dort verankerten staatsbürgerschaftlichen Grundsätze finden sich in der syrischen Verfassung aus dem Jahre 1973 wieder (vgl. Art.  43). Sie proklamiert die Gesellschaftsform als eine „republikanisch-sozialistische Volksdemokratie“ und betrachtet Syrien als Teil der arabischen Heimat oder Nation („Umma“), womit ebenso die „Arabische Einheit“ beschworen wird. Das geltende Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahre 1961, das 1969 reformiert und 1972 erneut ergänzt wurde, erklärt zunächst alle Bürger der Syrisch Arabischen Republik zu seinen Staatsangehörigen. Im Rahmen der Einbürgerung gilt auch hier eine besondere Privilegierung von „syrisch arabischen Emigranten“ (einschließlich Kinder) sowie allgemein für Bürger der „arabischen Heimat“, wie sich das z. B. durch 107   Zum Folgenden Uri Davis, Citizenship legislation in the Syrian Arab Republic, ASQ 1996, Volume 18, S.  29 ff. 108   Das syrische Staatsangehörigkeitsgesetz, Gesetz Nr.  276 v. 20.11.1969, ist abgedruckt im „Official Gazette“ von 1969, S.  9 03, und ist ergänzt worden durch das Gesetz Nr.  17 v. 13.12.1972, abgedruckt im „Official Gazette“ von 1972, S.  351. Es ist z. T. auch abruf bar auf der Website der „Damascus Bar Association“, www.damascusbar.org. 109   Gemäß Section II, Nationality, Art.  30 Lausanner Vertrag sowie Verfügung Nr.  2825 in Verbindung mit 16 des Französischen Hochkommissariats, vgl. U. Davis (Anm.  3 ), S.  118 m. w. N.

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den Verzicht auf bestimmte Aufenthaltsfristen auszeichnet. Vergleichbares gilt für Araber, die dem Staat oder der „Arabischen Nation“ besondere Dienste geleistet haben. Anders als in Israel bzw. der „Alija“ ist das hier aber nur eine Ermessensentscheidung. Im Übrigen wird neben den gängigen Einbürgerungsvoraussetzungen ein fünfjähriger Aufenthalt verlangt, wobei das Innenministerium als erteilende Behörde nur auf Empfehlung tätig wird. Die Vermittlung erfolgt auch hier weitgehend patrilineal. Auffallend sind die vielfachen Verlustregelungen: Neben geläufigen Gründen wie dem Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit, dem Eintritt in einen ausländischen Militärverband oder die Übernahme eines öffentlichen Amtes (allesamt ohne Genehmigung bzw. „Rückmeldung“) kennt das Recht den Verlusttatbestand „der Verwicklung in Aktivitäten, die sich gegen die staatlichen Interessen richten“; selbst das nicht genehmigte, „heimliche Verlassen in ein anderes Land, das sich im Kriegszustand mit Syrien befindet“, d. h. Israel, führt zum Verlust. Das gleiche gilt beim längerfristigen Fortgehen in einen „nicht-arabischen Staat“, was bereits nach drei Jahren angenommen wird. Obzwar diese Formulierung konfessionell indifferent klingt, weil sie im Prinzip auf alle Personen zutrifft, die ins „nicht-arabische Ausland“ emigrieren, ist hingegen die Zielrichtung erklärtermaßen der Entzug bei jüdischen Staatsangehörigen, die auswandern, um in den von Israel besetzten Gebieten zu leben.110 Im Anschluss daran ist sogar die Konfiskation von Eigentum und Besitz erlaubt. Im Gegensatz zu den meisten anderen arabischen Staaten, genießen Palästinenser weitgehend einen ähnlichen Rechtsstatus wie die eigenen Staatsangehörigen einschließlich der Pflichten wie die des Militärdienstes. Ausgenommen sind allerdings politische Rechte sowie verwaltungsrechtliche Hürden beim Grundstückserwerb.111 Damit soll der temporäre Charakter des Aufenthalts ausgedrückt werden, sprich bis ein eigener Staat gegründet ist, mithin ist auch ihre Einbürgerung weitestgehend ausgeschlossen. Eine unrühmliche (Staatsbürgerschafts-)Politik hat Syrien gegenüber den dort lebenden Kurden gezeigt: So wurden im Rahmen der allgemeinen Arabisierungsbestrebungen in der Provinz Hasaka 1962 rund 120.000 Kurden ausgebürgert und anschließend enteignet. Nach dem Sturz des Staatschefs Shishakli (1954) setzte nämlich eine vor allem anti-kurdisch ausgerichtete Politik ein.112 Arabisch-nationalistische Gefühle und pan-arabische Ideen ließen immer weniger Platz für ethnische Minderheiten. Die Zahl dieser staatenlosen Kurden beläuft sich heute laut UNHCR auf rund 200.000, da auch ihre Nachkommen zumeist nicht die Staatsangehörigkeit ihres jeweiligen Aufenthaltsstaats erhalten. Hintergrund der Ausbürgerungskampagne war die Behauptung, Kurden aus der Türkei würden Syrien illegal infiltrieren und so den „arabischen Charakter“ des Landes gefährden. Insofern kamen nämlich in den 1920er Jahren vermehrt kurdische Stämme, die auf der Flucht vor der türkischen 110   Zu dieser Gesetzesnovelle aus dem Jahre 1969 ausführlicher Fuad Shibat, Comparative Studies in Citizenship and Residence of Foreigners in Syria and Lebanon, Kairo 1970, S.  75; sowie U. Davis (Anm.  3 ), S.  126 m. w. N. 111   Aufgrund des Gesetzes Nr.  260 v. 10.7.1957. Siehe hierzu umfassender Aziz Shukri, The Syrian Arab Citizenship, Damaskus 1970, S.  69 ff. 112   Siehe ausführlicher Eva Savelsberg/Hajo Siamend, Die Situation staatenloser Kurden in Syrien, in: Internationales Zentrum für Menschenrechte der Kurden, Ausländer im eigenen Land, 2003, S.  2 ff.

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Armee waren, nach Syrien ( Jazira). Zusätzlich wechselten etwa 30.000 Christen, vornehmlich Armenier, aus der Türkei auf französisches Mandatsgebiet. Ende 1923 war ihre Zahl auf etwa 120.000 angestiegen.113 Während der Mandatszeit war die Stimmung gegenüber den Kurden noch relativ positiv: viele erhielten syrische Identitätspapiere, einigen Stammesführern wurden Ländereien zuerkannt. Ihr Anteil wird derzeit auf acht bis dreizehn Prozent geschätzt, was circa 1,5 bis 2,4 Millionen Kurden ausmacht, die in drei Hauptsiedlungsgebieten im Norden Syriens leben. Seit Ende 2002 wird nunmehr über eine Einbürgerung jener Kurden beraten, um die „nationale syrische Einheit“ zu stärken. Hintergrund ist die unklare Situation im Irak, deren mögliche Folgen für diesen Raum nicht abschätzbar sind. Nicht zuletzt wird in Folge der „türkischen Kurdenpolitik“ eine neue Dynamik in der „Kurdenfrage“ befürchtet. Alles in allem ist das syrische Einbürgerungsrecht – im Verhältnis zum jordanischen oder israelischen – weniger streng, weil es keine so lange Wartefristen statuiert und sogleich den vollen Bürgerstatus gewährt.

IV. Ergebnis Diese ethnisch und religiös geprägten Staats-/Bürgerschaftsverständnisse in der Levante haben zu den eingangs erwähnten wechselseitigen Ausschlussmechanismen geführt, mit weitreichenden Nachteilen für die jeweiligen „inländischen Fremden“. Hauptleidtragende dieser Politik sind vor allem die Palästinenser, schon allein, weil sie bislang noch immer keinen anerkannten souveränen Staat installieren konnten. Deren mitunter jahrzehntelanger Aufenthalt in den jeweiligen Aufnahmestaaten wurde zumeist als temporär beschrieben, so dass sie sich in Folge dessen in einem fortdauernden staatsangehörigkeitlichen Limbo befinden. Der Verdacht kommt rasch auf, dass die Verweigerungshaltung auch dazu dient, sich damit zugleich der finanziellen Lasten zu entledigen, die bei der Gewährung eines umfassenderen Bürgerschaftsstatus entstehen.114 Gewiss ist das in bestimmten Konstellationen wie im Fall Jordaniens verständlich. Schließlich weist diese Minderheit dort nicht nur besondere Integrationsdefizite auf, sondern deren auf keimender Nationalismus sowie der daraus resultierende Widerstand gegen die haschemitische Herrschaft hat immer wieder zu großen innen- wie auch außenpolitischen Spannungen geführt. Menschen- und staatsangehörigkeitsrechtlich betrachtet ist die Levante, was im Übrigen für weite Teile des arabischen Raumes gilt, von einer Scheinargumentation geprägt, sofern man das an der Position der unzähligen staatenlosen Palästinenser festmacht. Denn es ist verwunderlich, warum die näher beschriebene Verweigerungshaltung die vielbeschworene „Arabische Einheit“ nicht trüben soll, wenn man berücksichtigt, dass – angesichts der staatlichen und ethnischen Rivalitäten – gerade der Besitz einer Staatsangehörigkeit sich als ein elementares (Menschen-)Recht darstellt. Die angebliche Rücksichtnahme auf die „palästinensische Identität“ ließe sich bei der Staatsgründung und der vermutlichen Anknüpfung an die vorbezeichnete „Palästinenser-Eigenschaft“ im Rahmen der Verleihung der dortigen Staatsangehö  E. Savelsberg/H. Siamend (vorh. Anm.) S.  3 f.   So im Ergebnis U. Davis (Anm.  3 ), S.  196 bzw. 202 ff. et passim.

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rigkeit ohne weiteres über das Institut der Mehrstaatigkeit realisieren, womit indes eine Revision der gegenteiligen Abmachung innerhalb der Arabischen Liga verbunden wäre. Dabei haben die Betroffenen noch nicht einmal „echte Staatsangehörigkeit“, sondern nur eine ehem. Mandatszugehörigkeit. Mithin würde der Einwand der Vermeidung von Mehrstaatigkeit gem. Art.  6 und 8 des „Staatsbürgerschafts-­ Abkommens der Mitgliedstaaten der Arabischen Liga v. 5.5.1954“115, der eigentlich nur ein Vorwand darstellt, solange nicht greifen, bis ein palästinensischer Staat tatsächlich gegründet, als solcher international anerkannt und anschließend vollkommen souverän wird, also die israelische Besatzung auf hört. Die dahinter stehende Strategie widerspricht dem begrifflichen Verständnis einer „Arabischen Einheit“ insoweit, als dass man in ihr keine politisch-kulturelle bzw. religiöse Gemeinschaft sehen kann, in der die verschiedenen Ethnien und islamischen Nationen sich solidarisch und loyal untereinander verhalten – im Gegenteil. Denn dann bestünden keine Konflikte, wenn Gruppen mehreren „Subeinheiten“ gleichzeitig angehörten wie im Fall der EU, in der die Mehrstaatigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten weit reichend zugelassen wird. Sieht man von diesem Punkt ab, wäre auch die Einräumung eines entsprechenden staatsangehörigkeitsrechtlichen Optionsrechts – für diesen bis dato noch ungewissen Fall der Staatsgründung – denkbar. Das hätte den Vorteil, die rechtliche und tatsächliche Integration im jeweiligen Aufenthaltsstaat voranzutreiben und es letztlich den Betroffenen selbst zu überlassen, ob sie gegebenenfalls wirklich in den Staat Palästina „heimkehren“ wollen. Sie wären zumindest von ihrer jetzigen Zwickmühlensituation befreit: sich für die nach wie vor unsichere Erwartung auf den gemeinsamen Staat zu entscheiden, aber dafür weiterhin im Status eines Staatenlosen zu verbleiben – oder aber sich einbürgern zu lassen und damit etwaige Ansprüche bei Realisierung jener Hoffnung zu verlieren. Aus dieser Warte heraus, stellt sich gleichermaßen das Verhalten der PLO als kontraproduktiv dar, sanktioniert sie doch den Erwerb der israelischen Staatsangehörigkeit als Verlustgrund bei der Definition der Zugehörigkeit zum „palästinensischen Volk“. Ein Umstand, der nicht wenige Palästinenser von der möglichen Einbürgerung im jeweiligen Aufenthaltsstaat abhält. Ferner ist zu beachten wie auch zu erwarten, dass bei Gründung eines palästinensischen Staates, die jetzigen Aufenthaltsstaaten wohl beginnen werden, jene (dann ehemaligen) Flüchtlinge dorthin „zurückzuführen“, die jahrzehntelang woanders „verwurzelt“ waren oder eher „verpflanzt“ wurden, wenn auch nicht so „tief “. Letztlich deutet auch mit Blick auf das Eingangsbeispiel Israel, als dem wohl wichtigsten Akteur dieser Region, vieles darauf hin, dass angesichts der jüngsten Ereignisse wie dem neuerlichen Gaza-Einmarsch 2014, verbunden mit einem deutlichen Rechtsruck innerhalb der Bevölkerung, die Chance einer Abkehr vom beherrschenden ethno-nationalen Verständnis noch geringer geworden ist: zum einen aufgrund des ungelösten arabisch-israelischen Konfliktes, der sich aktuell wieder deutlich verschärft hat, zum anderen, weil sich eine Mehrheit im Land auch in absehbarer Zu-

115   Vom Rat auf seiner 21. ordentlichen Sitzung beschlossen. Signatarstaaten sind Jordanien, Syrien, Irak, Saudi-Arabien, Libanon, Libyen, Ägypten und Jemen. Die entsprechenden Bestimmungen sind abgedruckt z. B. bei U. Davis (Anm.  3 ), S.  132.

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kunft wohl für die ethnisch-religiöse Prägung durch das Judentum ausspricht.116 Eine echte und weiterführende zivilgesellschaftliche Diskussion auf breiter Basis findet nur vereinzelt statt. Dabei gilt gerade die gesellschaftliche wie auch staatsangehörigkeitsrechtliche Anerkennung der zahlreichen staatenlosen Palästinenser als ein friedensstiftender, die tiefen Kluften einer frakturierten Gesellschaft überbrückender Gesichtspunkt.117 Nicht zuletzt wegen der demographischen Umbrüche wird Israel sich aber langfristig nolens volens entscheiden müssen, welchen der beiden Komponenten aus „jüdisch“ und „demokratisch“, die sich nicht immer vertragen, es den Vorzug geben will: Rückzug aus den besetzten Gebieten im Interesse einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit oder Gewährung des vollen Staatsbürgerschaftsstatus auch an die dortigen Palästinenser. Freilich besteht hier das Dilemma, dass die in Palästina ansässigen (v. a. muslimischen) Araber erst durch die Konfrontation mit dem Staat Israel und der ihn tragenden jüdischen Nation die Vorstellung von eigener nationaler Identität, verbunden mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat entwickelt(e).118 Das erklärt, warum dieser Konflikt so schwierig zu lösen ist.

116   So die Einschätzung von Yuval Diskin, dem ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, der schon 2012 in der Haaretz gesagt hat: „In den letzten 10 bis 15 Jahren ist Israel immer rassistischer geworden. Alle Studien zeigen das.“ Ähnlich auch das „Israel Democracy Institute“, das jährlich einen Demokratie-Index erhebt. Laut der Ausgabe von 2013 sind demnach die jungen Israelis patriotischer als die älteren. Die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung findet demnach, dass wichtige Regierungsentscheidungen, nicht nur in Sicherheits-, sondern auch in sozialen und ökonomischen Angelegenheiten, von einer jüdischen Mehrheit getroffen werden sollten. 48 % der jüdischen Israelis kann sich nicht vorstellen, neben arabischen Nachbarn zu wohnen und 43 % wollen, dass die Regierung Araber antreibt, das Land zu verlassen. Dann gibt auch die demographische Entwicklung der israelischen Bevölkerung den Rechten Auftrieb: Der Anteil der Ultraorthodoxen wächst. Russische Einwanderer machen mittlerweile einen großen Teil der Bevölkerung aus und wählen hauptsächlich die ultrarechte Partei des Außenministers Avigdor Liebermann, Jisra’el Beitenu („Unser Haus Israel“). Am stärksten wuchs in den letzten Jahren jedoch die national-religiöse Partei von Naftali Bennett, der kürzlich in einem Gastbeitrag für die New York Times beschrieb, dass die Zwei-Staaten-Lösung für Israel keine Lösung sei, vgl. Zeit-online v. 26.11.2014. 117   Kritisch vor allem aus liberaltheoretischer Sicht argumentierend Reaf Zraik, Notes on the Value of Theory: Readings in the Law of Return – A Polemic, in: Law & Ethics of Human Rights, Vol. 2 (2008), Iss. 1, Artikel 13, mit zahlreichen Nach- und Hinweisen zur Lage der Palästinenser sowie zur liberal-demokratischen Argumentationsweise. Siehe an gleicher Stelle dagegen die Rechtfertigung von Sammy Smooha, Comparative Citizenship: A Restrictive Turn in Europe and a Restrictive Regime in Israel: Response to Joppke, Artikel 7, insbesondere S.  9 ff. Eingehender zum Ganzen ferner Saad Eddin Ibrahim, Civil Society and Prospects of Democratization in the Arab World, in: Norton, Civil Society in the Middle East, Bd. 1, S.  27 ff. Darüber hinaus erhellend auch Carsten Jürgensen, Demokratie und Menschenrechte in der arabischen Welt. Positionen arabischer Menschenrechtsaktivisten, 1994, insbesondere S.  155 ff. 118   G. Seufert (Anm.  31), S.  220.

Entwicklungen des Verfassungsrechts im außereuropäischen Raum I. Amerika

Unausweichliche Gleichheit Obergefell und die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare von

Prof. Dr. Nora Markard, MA, Universität Hamburg1 Inhalt I. Die Bedeutung der Ehe und der Preis der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 1. Würdeverleihende Identität für das Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 2. Stabilität und Würde für die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 3. Grundstein der Gesellschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 4. Das Inklusions-Exklusions-Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 II. Rationale Gründe „mit Biss“: Der Zweck der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 1. Ehe als Lösung eines biologischen Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 2. Intuition als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 III. Der Kern der Ehe: Tradition und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 1. Eine Institution, die Raum und Zeit transzendiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 2. Eine Institution im steten Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 3. Plus ça change: Säkulare Zwecke und rationale Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 4. Change Waits for No One . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 IV. Die Unausweichlichkeit der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 1. Schutz des Privatlebens: Ein Recht auf minimale Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 2. Fall für Fall entlang der Einbahnstraße: Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 3. Nennen wir es Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 4. Die Einbahn als Rutschbahn? Die Gespenster der Polygamie und des Inzest . . . . . . . . . . . . . . 790 V. Wohin die Reise geht: Strategien der Selbst-Marginalisierung und Desintegration . . . . . . . . . . . . . 792

Die Unsicherheit war groß, als der Supreme Court sich mit Obergefell v Hodges der Frage annahm, ob die US-amerikanische Bundesverfassung die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare erfordert. 1972 hatte er eine negative Entscheidung aus Minnesota bestehen lassen,2 im Fall der kalifornischen „Proposition 8“ hatte er sich   Ich danke Dr. Anna Katharina Mangold für intensive Gespräche und wichtige Einsichten.   Baker v Nelson, 291 Minn. 310, 191 N.W.2d 185 (1971), 409 U.S.  810 (1972): Ablehnung der Berufung mangels materieller bundesrechtlicher Frage („for want of a substantial federal question“). 1 2

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über Zulässigkeitsfragen aus der Affäre gezogen.3 Nun aber ging es ums Ganze, und manche fürchteten eine negative Entscheidung, die die zwischenzeitlich entstandene Dynamik hätte zunichte machen können.4 Doch wie von Justice Scalia vorausgesehen, setzte der Supreme Court in Obergefell die Rechtsprechungslinie aus dem Anti­ diskriminierungsfall Romer,5 der Entkriminalisierungsentscheidung Lawrence6 und dem DOMA-Fall Windsor 7 fort. In Windsor hatte der Supreme Court versprochen, dass die Verfassungswidrigkeit des Defense of Marriage Act (DOMA) keine Auswirkungen auf Ebene der Bundesstaaten haben würde; der Bundesgesetzgeber dürfe nur einfach nicht zwei Arten bundesstaatlich erlaubter Ehen ungleich behandeln: heterosexuelle und homosexuelle. Justice Scalia bemerkte dazu, dass das Gericht bereits in Lawrence versprochen habe, das „Recht auf homosexuelle Sodomie“ habe nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob Beziehungen homosexueller Personen formell anerkannt werden müssten – und nun stütze es sich gerade auf diese Entscheidung, um DOMA aufzuheben.8 Auch dies hatte er vorausgesehen; denn wenn moralische Missbilligung kein legitimes Regelungsinteresse darstelle und Intimität als Teil einer dauerhafteren persön­ lichen Verbindung geschützt sei, welche Rechtfertigung gebe es dann noch für den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe? 9 Das dicke Ende bzw. der „andere Schuh“,10 so Scalia in Windsor, komme noch; die Argumentation des Gerichts mache auch die Auf hebung von bundesstaatlichen Eheverboten unausweichlich.11 Und tatsächlich: In Obergefell v Hodges verpflichtete der Supreme Court die Bundesstaaten nicht nur dazu, ihre Ehen gegenseitig anzuerkennen, sondern auch dazu, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. 12 Wie in Romer, Lawrence und Windsor stammt das Urteil aus der Feder von Justice Kennedy, und so ist es alles andere als überraschend, dass es gerade einmal drei Seiten dauert, bis die Menschenwürde ihren Auftritt hat. Dennoch ist Obergefell vor allem ein Beispiel für die Unausweichlichkeit der Gleichheitsdynamik.

  Hollingsworth v Perry, 570 U.S. _ (2013).   S. etwa Margaret Talbot, A Risky Proposal: Is it too Soon to Petition the Supreme Court on Gay Marriage?, The New Yorker (18. Januar 2010). 2012 votierte North Carolina zwar für ein verfassungsrechtliches Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe; in Minnesota dagegen scheiterte ein solches Referendum, während in Maine, Maryland und Washington per Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt wurde. Seit Citizens for Equal Protection v Bruning, 455 F. 3d 859 (CA8 2006) hatten bis DeBoer v Snyder, 772 F. 3d 338 (CA6 2014) alle Berufungsgerichte des Bundes zugunsten gleichgeschlechtlicher Paare entschieden. 5   Romer v Evans, 517 U.S.  620 (1996). 6   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558 (2003). 7   U.S. v Windsor, 580 U.S. _ (2013). 8   U.S. v Windsor, slip op., Scalia J., diss., 22. 9   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 604–5 (2003), Scalia J., diss., mit Bezug auf die Mehrheitsmeinung, ebd., 567. 10   Die amerikanische Redewendung „waiting for the other shoe to drop“ stammt aus dem frühen 20. Jh. und spielt an auf „a person awakened by a neighbor [upstairs] who loudly dropped one shoe on the floor and is waiting for the second shoe to be dropped.“ The American Heritage Idioms Dictionary (2002). 11   U.S. v Windsor, slip op., Scalia J., diss., 16, 22–23. 12   Obergefell v Hodges, 576 U.S. _ (2015), slip op., 6. 3 4

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I.  Die Bedeutung der Ehe und der Preis der Würde Kennedy stützt sich in seinem Urteil zentral auf die Bedeutung der Ehe. Indem er diese in der für ihn charakteristischen pathetischen Sprache auf individueller, fa­ miliärer und gesellschaftlicher Ebene herausarbeitet, formuliert er gleichzeitig den Rechtfertigungshorizont: Je bedeutsamer die Institution, desto schwerer wiegt der Ausschluss davon. Doch diese Strategie hat einen Preis, denn die Inklusionsstrategie entfaltet gleichzeitig Exklusionswirkung.

1.  Würdeverleihende Identität für das Individuum Im ersten Schritt bekräftigt Kennedy die erhebende, würdeverleihende Bedeutung der Ehe für Individuen, die sich auf Lebenszeit verbinden.13 Auf den ersten Blick mag die Freiheit der Eheschließung sich in ihrer Selbstverwirklichungsdimension nicht von anderen Freiheiten unterscheiden. Und auch Kennedy hebt ihre Bedeutung für die persönliche Autonomie hervor, die durch die Ehe sogar noch gefördert werde, da durch ihren dauerhaften Bund zwei Menschen zusammen weitere Freiheiten finden können, „such as expression, intimacy, and spirituality.“14 Doch gehe die Ehe über die bloße Selbstverwirklichung hinaus, indem sie eine gegenseitige Verantwortungsbeziehung stifte. Schon in früheren Entscheidungen hatte das Gericht betont, dass die Ehe ebenso wie die Fortpflanzung (oder umgekehrt) auf besonders intimen Entscheidungen basiert, in die der Staat sich nicht ohne gute Gründe einmischen darf.15 Doch bei der Ehe, so Kennedy nun, genieße diese Entscheidung wegen ihres hohen moralischen Wertes besonderen Schutz, „for a marriage becomes greater than just the two persons. Rising from the most basic human needs, marriage is essential to our most profound hopes and aspirations.“16 Sie sei die Antwort auf die universelle Angst „that a lonely person might call out only to find no one there,“ sie biete Hoffnung auf ­Gemeinschaft und Verständnis.17 Das Edle der Ehe, und hier zitiert Kennedy die Griswold-Entscheidung zur ehelichen Verhütung von 1965, liege darin, dass sie ein Zusammenkommen für gute und schlechte Zeiten sei, eine Verbindung, die eine Lebensweise verfolge, keine Zwecke; Harmonie im Leben, keine politischen Ansichten; gegenseitige Loyalität, keine kommerziellen oder sozialen Projekte.18 In dieser Perspektive ist die Ehe nicht nur etwas, was man tut, sondern wird zu etwas, das man ist: Sie verwandelt das eigennützige, autonome Individuum in eine Hälfte einer Solidaritätsgemeinschaft. Das Recht zur Ehe, so Kennedy, „dignifies

 Ebd.   Ebd., 13. 15   Siehe insb. Griswold v Connecticut, 381 U.S.  485–86 (1965); Loving v Virginia, 388 U.S.  1, 12 (1967); Roe v Wade, 410 U.S.  152, 152–53 (1973); Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S.  833, 851 (1992). 16   Obergefell v Hodges, slip op., 3. 17   Ebd., 14. 18   Griswold v Connecticut, 381 U.S.  479, 486 (1965); zitiert ebd., 13–14. 13 14

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couples who ,wish to define themselves by their commitment to each other.‘“19 Die Ehe ist bei Kennedy geradezu eine Berufung; sie einzugehen beweist ein fortgeschrittenes Stadium des Menschseins, die Bereitschaft, die eigene individuelle Autonomie durch freie Entscheidung für lebenslange Verantwortung für einen anderen Menschen gegen etwas nobleres, würdigeres einzutauschen.

2.  Stabilität und Würde für die Familie Doch die Ehe bedeute auch Stabilität für Familien: Die rechtliche Anerkennung und Struktur, die sie vermittle, ermögliche es Kindern, die Integrität und Nähe ihrer eigenen Familie zu begreifen, im Einklang mit anderen Familien in der Gemeinschaft und ihrem Alltag.20 Die Ehe signalisiere, dass diese Familie genauso viel wert sei wie andere Familien, während der Ausschluss von der Ehe Kinder dem Stigma aussetze zu wissen, dass ihre Familien irgendwie weniger wert seien, und sie mit den erheblichen materiellen Kosten eines Aufwachsens bei unverheirateten Eltern belaste, einem schwierigeren und unsichereren Familienleben.21 Die Ehe ist damit nicht nur für die Selbstverwirklichung und die Verfolgung höherer Werte in einer Zweiergemeinschaft bedeutsam, sondern auch für die größere Einheit der Familie, und zwar nicht nur in Form von Leistungen für Ehepaare, von denen auch ihre Kinder profitieren. Die Ehe ist insbesondere auf Stabilität angelegt, oft in Form feierlicher Ewigkeitsversprechen und in jedem Fall durch die Erschwerung der Trennung im Scheidungsverfahren. Für Kennedy verleiht die Ehe durch die Erhebung der Zweiergemeinschaft der Eltern auch der Familie Würde; sie signalisiert, dass die Familie auf Dauer Bestand haben wird. Nur eine verheiratete Familie könne als gleiche Familie anerkannt werden.

3.  Grundstein der Gesellschaftsordnung Schließlich, so Kennedy, sei die Ehe ein „Grundstein unserer sozialen Ordnung“.22 Bereits im 19. Jahrhundert habe der Gerichtshof erklärt, die Ehe sei „the foundation of the family and of society, without which there would be neither civilization nor progress …, giving character to our whole civil polity.“23 Als Zeugen zitiert Kennedy zudem Tocqueville, der nach einem Besuch in den USA 1831 berichtete: „[W]hen the American retires from the turmoil of public life to the bosom of his family, he finds in it the image of order and of peace …. [H]e afterwards carries [that image] with him into public affairs.“24   U.S. v Windsor, slip op., 13, zitiert in Obergefell v Hodges, slip op., 14.   Obergefell v Hodges, slip op., 15, mit Referenz auf U.S. v Windsor, slip op., 23. 21   Obergefell v Hodges, ebd. 22   Ebd., 16. Sämtliche Übersetzungen aus US-amerikanischen Entscheidungen sind solche d. Verf. 23   Maynard v Hill, 125 U.S.  190, 211 and 213 (1888), zitiert ebd., 16. 24   Alexis de Tocqueville, Democracy in America, vol.  1, 309 (Übers. H. Reeve, rev. Ausg. 1990, orig. 1835), zitiert ebd., 16. 19

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Auch das ungeübte Auge erkennt schnell, dass das Geschlecht bei Tocqueville nicht zufällig gewählt ist. Im Einklang mit den patriarchalen Strukturen seiner Zeit stellte sich Tocqueville unter dem Amerikaner, der täglich die Grenze zwischen der aufwühlenden, politischen öffentlichen Sphäre und der ruhigen, häuslichen Privatsphäre überschreitet, einen Mann vor, während die Häuslichkeit von einer (seiner) Frau aufrechterhalten wird. Kennedy selbst mag eine aktualisierte Version im Sinn gehabt haben, in der auch Frauen ins Häusliche der Ehe zurückziehen können, doch dies macht sein Bild nicht weniger ideologisch und die Trennung zwischen Öffentlich und Privat nicht weniger vergeschlechtlicht.25

4.  Das Inklusions-Exklusions-Dilemma Kennedys Vision von der Ehe als erhebender und würdeverleihender Institution kann als strategischer Zug gelesen werden; die Ehe wird so sehr aufgewertet, dass der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare unhaltbar erscheint, da ihnen nicht nur ein Bündel von Rechten, Pflichten und Leistungen vorenthalten wird, sondern Zugang zur Würde selbst. Doch diese Argumentation, strategisch oder nicht, hat ihren Preis. Das Bild der Ehe als Hort der Werte, der Sicherheit, Freiheit und Erholung, das Kennedy zeichnet, ist hoch idealistisch. Bekanntermaßen ist die Realität oft weit weniger inspirierend. Viele Ehen werden geschieden, oft findet sich ein Teil dann in großer v.a. finanzieller Unsicherheit wieder – in heterosexuellen Ehen oft die Frau, doch das Alleinverdienerideal ist auch in gleichgeschlechtlichen Ehen ein Risiko. Allerdings ist es nicht immer besser wenn Ehen halten, wenn die Ehegatten die Freiheiten des anderen eher beschneiden als mehren, oder wenn die Ehe vom Rückzugsort zur Kampfzone in häuslicher Gewalt wird.26 Auch dies betrifft vor allem, aber nicht nur Frauen – und auch gleichgeschlechtliche Beziehungen.27 Wenn es soweit kommt, kann es für Kinder sogar besser sein, wenn die Eltern sich trennen. Doch auch jenseits solcher Extremfälle ist es riskant, die Ehe als höchste menschliche Errungenschaft darzustellen, ohne die Kinder einem „schwierigeren und unsichereren Familienleben“28 ausgesetzt sind. In seinem Bemühen zu zeigen, dass „auch gleichgeschlechtliche Paare nach den transzendenten Zielen der Ehe streben und Erfüllung in ihrer höchsten Bedeutung suchen können“29 und ihre Kinder vor dem Stigma des Wissens um ihre Abwertung schützen wollen,30 geht Kennedy in die Falle des Affirmierungs-Stigmatisierungs-Dilemmas. Die Überhöhung der Ehe zur 25   Siehe z.B. die Analyse in Catharine MacKinnon, Disputing Male Sovereignty: On United States v. Morrison, 114 Harvard Law Review 135 (2000). 26  Siehe etwa zur Zustimmung des Ehegatten das Abtreibungsurteil Planned Parenthood of Southeastern Pa. v Casey, 505 U.S.  833, 892–93 (1992): „In well-functioning marriages, spouses discuss important intimate decisions such as whether to bear a child. But there are millions of women in this country who are the victims of regular physical and psychological abuse at the hands of their husbands.“ (O’Connor, Kennedy und Souter, JJ.) 27   Siehe z.B. Phyllis Goldfarb, Describing Without Circumscribing: Questioning the Construction of Gender in the Discourse of Intimate Violence, 64 George Washington Law Review 582 (1996). 28   Obergefell v Hodges, slip op., 15. 29   Ebd., 17. 30   Ebd., 15.

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Verdeutlichung der Schwere der Exklusion von ihr signalisiert gleichzeitig, dass, wer nicht heiratet, nicht die Reife hat, nach den transzendenten Zielen dieser einzigartigen Union zu streben; unverheiratetes Zusammenleben erscheint geradezu als egoistisch, Singles gar zu einem „Leben in Einsamkeit verdammt“.31 Die Betonung der Bedeutung der Ehe für Kinder suggeriert, dass unverheiratete oder alleinerziehende Eltern ihren Kindern ein sicheres Heim verwehren und sie einem Stigma aussetzen – auch wenn Kennedy hinzufügt, dass die Eheschließungsfreiheit natürlich auch für die Kinderlosen bedeutsam sei.32 Insgesamt erscheint es als gleichsam moralisch unhaltbar, geradezu unverantwortlich, nicht zu heiraten. Die Hervorhebung der außerordentlichen Tugenden der Ehe, besonders für Familien, mit dem Ziel der Inklusion bewirkt damit eine indirekte Stigmatisierung unverheirateter Einzelpersonen, Paare und Familien. Dieser Effekt wird noch verstärkt dadurch, dass Kennedy in einem zweiten Schritt zeigen muss, dass auch schwule und lesbische Paare es wert sind, an dieser würde­ vollen Institution teilzuhaben, und die Anerkennung verdienen, die sie vermittelt. Katherine Franke zeigt in ihrer Auseinandersetzung mit Jeremy Waldrons Konzep­ tion von Verantwortungs-Rechten,33 wie die gerichtlichen Rechtskämpfe Homo­ sexueller rasch zu einem „Erlösungsprojekt“ wurden, zu einem Bemühen um den Beweis der Anerkennungsfähigkeit, um Anerkennung zu erhalten – Anerkennung nicht als Menschen, die als solche gleichen Respekt verdienen, sondern einer Respektabilität als Paare oder Familien.34 Dies lässt sich auch in Obergefell beobachten. Die Heiligung gleichgeschlechtlicher Paare begann mit Lawrence v. Texas.35 Nachdem er in Bowers noch ein „Grundrecht auf Beteiligung an homosexueller Sodomie“ abgelehnt hatte,36 stellte der Supreme Court unter Kennedys Führung nun auf das Recht ab, dauerhafte persönliche Verbindungen einzugehen.37 Die Reduktion der Rechtsfrage auf bestimmte sexuelle Handlungen sei ebenso erniedrigend, wie sie es für ein Ehepaar wäre, wenn man behauptete, bei der Ehe gehe es lediglich um das Recht auf Geschlechtsverkehr.38 Während der Gerichtshof in Bowers noch „keine Verbindung zwischen Familie, Ehe oder Fortpflanzung auf der einen Seite und homosexueller Betätigung auf der anderen“ erkennen konnte,39 übertrug er in Lawrence explizit die Argumentation der Fälle zu diesen Fragen auf „Personen in einer homosexuellen Beziehung“.40 Es mag überraschen, dass der Gerichtshof diesen Fall, in dem   Ebd., 28.   Ebd., 15. 33   Jeremy Waldron, Dignity, Rank, and Rights: The 2009 Tanner Lectures at UC Berkeley, NYU School of Law Public Law & Legal Theory Research Paper Series, Working Paper no. 09-50 (2009); Waldron, Dignity, Rights, and Responsibilities, 43 Ariz. St. L.J. 1107 (2012). 34   Katherine Franke, Dignifying Rights: A Comment on Jeremy Waldron’s Dignity, Rights, and Responsibilities, 43 Ariz. St. L.J. 1177, 1183 und 1189–90 (2012). 35   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558 (2003). 36   Bowers v Hardwick, 478 U.S.  186, 191 (1986). 37   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 567: „When sexuality finds overt expression in intimate conduct with another person, the conduct can be but one element in a personal bond that is more enduring. The liberty protected by the Constitution allows homosexual persons the right to make this choice.“ 38  Ebd. 39   Bowers v Hardwick, 478 U.S.  186, 191. 40   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 574, mit Zitat aus Planned Parenthood v Casey, 505 U.S.  833, 851: „choices central to personal dignity and autonomy.“ 31

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es – wenn überhaupt – um unverbindlichen Sex ging,41 zu einem Fall über Liebes­ beziehungen und Intimität verwandelte und Verbindungen zu Ehe und Familie herstellte. Die Antwort ist Menschenwürde: Ein Würdefall erforderte würdige Subjekte und ein respektables Projekt, nicht schnellen Sex und eifersüchtige Liebhaber. Denn mit Kennedy als Autor stützte sich der Supreme Court Lawrence nicht nur auf Freiheitsrecht und Privatsphäre, sondern auch auf die Menschenwürde.42 In Obergefell hat Kennedy die „rechtliche Doppelhelix“43 aus Due Process Clause und Equal Protection Clause44 aus Loving45 und Lawrence46 weiter gedreht.47 Doch statt die Menschenwürde als Querstrebe zu nutzen – oder als Teil eines Dreiecks48 zu verstehen – isoliert er sie aus dieser Beziehung und verleiht ihr dadurch eine andere Bedeutung. So isoliert, wird die Menschenwürde nicht durch Freiheit und Gleichheit verteidigt, sondern heiligt ihrerseits Entscheidungen und Verhaltensweisen und reguliert den Zugang zur Gleichheit. Dies ist der Preis der Würde: Sie erhebt diejenigen, zu deren Inklusion sie dient, um den Preis der Exklusion und der Stigmatisierung jener, die weniger würdig sind.49

II.  Rationale Gründe „mit Biss“: Der Zweck der Ehe Angesichts der Vehemenz, mit der die konservative Opposition auf die Heiligkeit der Ehe und ihre einzigartige transzendentale Bedeutung gepocht hatte, hätte man einen ähnlichen Ansatz wie bei Kennedy erwarten können, doch ein religiös fundiertes Argument verbot sich schon wegen der Establishment Clause, die die Einrichtung einer Staatsreligion untersagt.50 Stattdessen verschob sich die Religion auf eine ande41  Siehe Dale Carpenter, Flagrant Conduct: The Story of Lawrence v. Texas, 61–74 (2012), der zeigt dass dies höchst unwahrscheinlich ist. Dennoch bestritten die Angeklagten die Vorwürfe nicht, sondern beschränkten sich auf die Verfassungsmäßigkeit des Verbots. Ebd., 113–120. 42   Justice O’Connor betont dagegen die Gleichheit und hebt die stigmatisierende Wirkung der Kriminalisierung einer sexuellen Praxis hervor, die allgemein mit Homosexuellen assoziiert wird: Law­ rence v Texas, 539 U.S.  558, 581–83. 43   Laurence H. Tribe, Lawrence v. Texas: The “Fundamental Right” that Dare not Speak its Name, 117 Harvard Law Review 1893, 1989 (2004). 44   Enthalten im 14. Zusatzartikel zur Bundesverfassung in Abs.  1 Satz  2 : „No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges or immunities of citizens of the United States; nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ (Herv. d. Verf.). 45   Loving v Virginia, 388 U.S.  1, 12 (1967). 46   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 575. 47   Obergefell v Hodges, slip op., 19–22. 48   Susanne Baer, Dignity, Liberty, Equality: A Fundamental Rights Triangle of Constitutionalism, 59 University of Toronto Law Journal 417 (2009). 49   Für eine ähnliche Würdekritik im Bereich des Rechts der sexuellen Belästigung siehe Susanne Baer, Würde oder Gleichheit? Zur angemessenen grundrechtlichen Konzeption von Recht gegen Diskriminierung am Beispiel sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, 214–20 (1995). 50   Enthalten im 1. Zusatzartikel der Bundesverfassung: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof …“ Diese Klausel gilt auch für die Bundesstaaten im Wege der Inkorporation in der Due Process Clause des 14. Zusatzartikels; Everson v Board of Education, 330 U.S.  1 (1947).

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re Ebene, und im Ergebnis scheint es fast, als ob die Klagegegner die Bedeutung der Ehe herunterzuspielen suchten; denn ohne den Glanz der Würde oder Heiligkeit wird die Ehe eine recht prosaische Angelegenheit.

1.  Ehe als Lösung eines biologischen Problems Für die konservativen Richter ist die Ehe nur Mittel zum Zweck: In den Worten von Chief Justice Roberts wurde sie geschaffen „to meet a vital need: ensuring that children are conceived by a mother and father committed to raising them in the stable conditions of a lifelong relationship.“51 Kurz gesagt: „Marriage is a socially arranged solution for the problem of getting people to stay together and care for children …“52 Aus dieser nüchternen Vision leiteten die Klagegegner ihr zentrales Argument ab: Die Ehe müsse an die „natürliche Fortpflanzung“ geknüpft bleiben, da diese mit der Ehe verknüpft bleiben müsse. Eine Entkoppelung von Ehe und natürlicher Fortpflanzung durch die Öffnung für Paare, die regelmäßig nicht ohne Unterstützung Kinder bekommen könnten, würde die Verknüpfung zwischen Kindern und Ehe schwächen. Die Ehe diene „Zwecken, die nach ihrer Natur aus der Biologie entstehen.“53 Seit 1970 sei Zahl der unehelich geborenen Kindern in den USA bereits von zehn auf über vierzig Prozent gestiegen; 54 eine Beschleunigung dieses Trend durch die Öffnung der Ehe würde eine Situation verschärfen, die bereits „kein gutes Ergebnis für Kinder“ sei.55 Die Begriffe „Biologie“ und „natürliche Fortpflanzung“ sollen offensichtlich nicht nur durch ärztliche Intervention (z.B. In-vitro-Fertilisation) herbeigeführte Schwangerschaften ausschließen, sondern auch die Samenspende – obwohl dort die biologischen Prozesse vollkommen naturgemäß verlaufen und die Prozedur nicht mehr Technik erfordert als einen Behälter und eine Plastikspritze. „Natürliche“ Fortpflanzung meint vielmehr, dass populäre Formen des verschiedengeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs bei beiderseitiger Fruchtbarkeit und mangelnder Verhütung zur Schwangerschaft führen können, anders als beim gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr.56 Es geht daher nicht so sehr um Kinder als solche, sondern um ungeplante Schwangerschaften, die auf die Ehe beschränkt bleiben sollen.

2.  Intuition als Argument Das Frage ist jedoch nicht, warum die Ehe als Institution ursprünglich entwickelt wurde; dies wäre lediglich eine Version des „Das war schon immer so“-Arguments.57   Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 5.   Ebd., Zitat aus James Q. Wilson, The Marriage Problem: How our Culture has Weakened Families 41 (2002). 53   Obergefell v Hodges, Transkript der mündlichen Verhandlung, Frage 1, 43 (Mr. Bursch). 54   Obergefell v Hodges, slip op., Alito J., diss., 4. 55   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 64 (Mr. Bursch). 56   Paare, die ohne externe Unterstützung gemeinsam Kinder zeugen können, können jedoch auch dasselbe rechtliche Geschlecht haben, etwa wenn ein_e Trans*-Partner_in die reproduktiven Fähigkeiten des Ausgangsgeschlechts behalten hat. 57   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 42–43 (Kennedy J.). 51

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Das Problem ist vielmehr die These, dass die Öffnung der Ehe negative Auswirkungen auf das gesellschaftliche (und staatliche) Interesse hätte, „Männer und Frauen dazu zu bewegen, sexuelle Beziehungen innerhalb statt außerhalb der Ehe zu führen.“58 Dieses Argument verknüpft mehrere Annahmen: (1.) Die Ehe ist in ihrer bis­ herigen Definition mit der Fähigkeit des Paares verknüpft, sich ohne äußere Unterstützung fortzupflanzen; (2.) dies fördert die Fortpflanzung innerhalb der Ehe; (3.) es ist normalerweise besser für Kinder in einer Ehe aufzuwachsen; (4.) die Öffnung der Ehe für Paare, die sich nicht ohne Hilfe fortpflanzen können, signalisiert, dass Familie und Ehe nicht notwendig verknüpft sind; (5.) dies wird den Trend zu unehelichen Geburten verstärken, mit negativen Effekten für Kinder. Diese Behauptungen sind allerdings in mehrerlei Hinsicht problematisch, wie z.T. bereits in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde. So konfligiert schon die erste Annahme mit dem Umstand, dass die Ehe auch unfruchtbaren Paaren offensteht, solange sie verschiedengeschlechtlich sind.59 Beklagtenvertreter Mr. Bursch musste sich denn fragen lassen, ob es verfassungsmäßig wäre, heiratswillige Paare nach ihrem Kinderwunsch zu fragen. Er gestand zu, dass dies die Privatsphäre verletzen würde,60 doch legte Richterin Ginsburg mit dem Beispiel eines 70jährigen Paares nach: „You don’t have to ask them any questions. You know they are not going to have children.“61 Bursch tat dies als Typisierungsproblem ab („tailoring“); die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Paare signalisiere dennoch, dass Fortpflanzung innerhalb einer Ehe stattfinden solle.62 Für diese zweite Annahme führten die Beklagten keine Studien an, obwohl sie die Basis der vierten und fünften Annahme ist, nämlich dass die Öffnung der Ehe diese Signalwirkung beeinträchtige. Die dritte Annahme ist wohl die am wenigsten problematische, da Kinder erwiesenermaßen von stabilen Verhältnissen profitieren.63 Man mag auch vertretbarer­ weise davon auszugehen, dass verheiratete Paare tendenziell länger zusammenbleiben als unverheiratete, wenngleich Ursache und Wirkung unklar sein dürften; Paare die heiraten, weil sie ihr Zusammenbleiben für sehr wahrscheinlich und wünschenswert halten, blieben möglicherweise auch ohne Ehe zusammen. Allerdings ist die Scheidung – im Unterschied etwa zum bloßen Ausziehen – ein ernstzunehmendes Hindernis bei der Trennung, so dass die Ehe grundsätzlich als stabilitätsfördernd und damit förderlich für Kinder gelten kann.64 Obwohl umgekehrt nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass außereheliche Kinder in instabilen Verhältnissen aufwachsen, sei es bei gemeinsam oder alleinerziehenden Eltern,65 stützen Unter-

  Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 5.   S.a. Obergefell v Hodges, slip op., 15. 60   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 54–55. 61   Ebd., 55. 62  Ebd. 63   Brief of Amicus Curiae of the American Psychological Association et al., 15, 26, m.w.N. 64   Ebd., 16, m.w.N. 65   Z.B. konnte Michael J. Rosenfeld, Nontraditional Families & Childhood Progress Through School, 47 Demography 755 (2010), keine statistisch relevanten Unterschiede beim Sitzenbleiben zwischen Kindern verheirateter heterosexueller und unverheirateter gleichgeschlechtlicher Paare mit vergleichbarem sozio-ökonomischem Status feststellen. 58 59

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suchungen die Annahme, dass die Ehe für Kinder förderlich ist66 – wenngleich dies eher ein Argument für ihre Ausweitung ist als für ihre Begrenzung. Die vierte Annahme – die Öffnung der Ehe schwächt ihre Verknüpfung zur Reproduktion – ist schon schwerer haltbar; denn auch gleichgeschlechtliche Paare ­haben Kinder von Samenspendern, Leihmüttern oder durch Adoption, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass dies in Staaten mit gleichgeschlechtlicher Ehe seltener der Fall ist. Wenn die Ehe für Kinder förderlich ist, erscheint es widersprüchlich, sie all diesen existierenden Kindern vorzuenthalten. Die fünfte Annahme betrifft die Kausalität. Die Klagegegner gehen davon aus, dass der symbolische Anreiz der Hauptgrund für die Ehe ist, wenn ein Paar ein Kind wünscht oder erwartet: „[I]n people’s minds, if marriage and creating children don’t have anything to do with each other, then what do you expect? You expect more children outside of marriage.“67 Umgekehrt würden sich verheiratete Eltern bei einer Fokussierung der Ehe auf das Paar eher trennen, statt wegen der Kinder zusammenzubleiben.68 Unangesprochen bleibt, ob Paare nicht auch wegen der mit der Ehe verbundenen Vorteile, Rechte und gegenseitigen Pflichten heiraten oder verheiratet bleiben würden, oder wegen der würdeverleihenden Funktion der Ehe, wie Kennedy sie nennt. Die Eheraten in Massachusetts jedenfalls sind konstant geblieben, seit die Ehe vor über zehn Jahren mit Goodridge geöffnet wurde69 – Zahlen, die die Klage­ gegner nicht bestreiten, sondern lediglich für verfrüht halten.70 Das Hauptproblem ist, dass diese Kette von Annahmen, aus der sich eine restrik­ tive Ehedefinition herleiten soll, im Wesentlichen auf Intuition beruht, nicht auf Empirie. Aus diesem Grund suchten die Klagegegner auch das fundamentale Recht auf Ehe zu begrenzen und damit den bei fundamental rights verschärften Rechtfertigungsmaßstab71 auf die rational basis zu reduzieren – obwohl Gegner der Eheöffnung selbst im Rahmen dieser Plausibilitätskontrolle bereits gescheitert sind.72 66   Brief of Amicus Curiae of the American Sociological Association, 17–18, mit Nachweisen aus Kristin Anderson Moore/Suzanne Jekielek/Carol Emig, Marriage from a Child’s Perspective: How Does Family Structure Affect Children, and What Can We Do About It?, 2 (2002), verfügbar unter: http:// www.childtrends.org/wp-content/uploads/2013/03/MarriageRB602.pdf: Ehe vs. nichteheliche Lebensgemeinschaft; Wendy D. Manning/Kathleen A. Lamb, Adolescent Well-Being in Cohabiting, Married, and Single-Parent Families, 65 J. Marriage & Fam. 876 (Nov. 2003): Ehe fördert sozioökonomische Ressourcen für Familien; Pamela J. Smock/Wendy D. Manning, Living Together Unmarried in the United States: Demographic Perspectives and Implications for Family Policy, 26 Law & Policy 87, 94 (2004): Rolle der Ehe für Familienstabilität. 67   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 47. 68   Ebd., 66. 69   Ebd., 64–65 (Sotomayor J.). Die Gegenbehauptung im Brief of Amicus Curiae of 100 Scholars of Marriage in Support of Respondents, 18 und 20, stützt sich auf eine recht tendenziöse Interpretation von Mircea Trendafir, The Effect of Same-Sex Marriage Laws on Different-Sex Marriage: Evidence From the Netherlands, 51 Demography 317, und von Alexis Dinno/Chelsea White, Same Sex Marriage and the Perceived Assault on Opposite Sex Marriage, 8 PloS ONE, no. 6 (11 June 2013), verfügbar unter: http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0065730. See also Brief of Massachusetts et al., 22–23. 70   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 65. 71   Erforderlich ist nicht nur eine rationale Verbindung (rational relation) zu einem legitimen staatlichen Interesse, sondern ein enger Zuschnitt (narrowly tailored) auf ein zwingendes staatliches Interesse (compelling state interest); Carolene Products v U.S., 304 U.S.  144, 153 Fn.  4 (1938). 72   Siehe z.B. Perry v Brown, 671 F3d 1052, 1091 (9th Cir. 2012): „Proposition 8 is ,so far removed

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Wie Suzanne Goldberg zeigt, eröffnet jedoch das Erfordernis beweisbarer Fakten als Rechtfertigung für Diskriminierung einen Raum für die empirische Kontesta­ tion, den die vorurteilsgeneigte Intuition verschließt.73 Zwar erfordert der Rationalbasis-Test an sich keine empirischen Beweise,74 doch dies ist kein Blankoscheck; die Frage ist, ob „the legislative facts on which the classification is apparently based could not reasonably be conceived to be true by the governmental decisionmaker.“75 Der Supreme Court befand diesen Standard für nicht erfüllt; Kennedy nannte das Argument der Klagegegner gar „counterintuitive“. Es sei „unrealistic to conclude that an opposite-sex couple would choose not to marry simply because same-sex couples may do so.“ Die Klagegegner hätten keine Grundlage für ihren Schluss geliefert, dass die gleichgeschlechtliche Ehe die von ihnen angeführten schädlichen Folgen hätte.76 Hierdurch verschiebt sich die Beweislast leicht, aber in relevanter Hinsicht: Nicht die Kläger müssen zeigen, dass es keine rational basis gibt, sondern die Klagegegner, dass es eine gibt; der notorisch weiche Plausibilitätstest entwickelt damit einen neuen „Biss“.77

III.  Der Kern der Ehe: Tradition und Vernunft Die Rechtfertigungsfrage stellt sich jedoch nur, wenn die Ehe prinzipiell auf gleichgeschlechtliche Paare erweitert werden kann. Wenn sie dagegen per definitionem eine verschiedengeschlechtliche Institution ist, können auch Gleichheitsansprüche keinen Zugang vermitteln.78 Was also ist die Ehe im Kern: ein Bündel an Rechten und Pflichten, die auf Dauer angelegten Beziehungen Anerkennung und Sicherheit vermitteln? Oder, enger, eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau? Je nachdem ist das von den Klägern eingeforderte Recht ein Recht zu heiraten wie andere auch, oder ein Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe – sie fordern entweder Zugang zur oder eine Neudefinition der Ehe,79 stützen sich entweder auf ein fundamentales Abwehrrecht oder fordern staatliches Handeln und damit ein Leistungsrecht ein.80 Mangels einer textlichen Basis in der Bundesverfassung stützten sich die Klage­ gegner für eine enge Definition der Ehe auf historische Argumente. from these particular justifications that we find it impossible to credit them.‘ Romer, 517 U.S. at 635.“ Aufgehoben mangels Klagebefugnis: Hollingsworth v Perry, 570 U.S. _ (2013). 73   Suzanne Goldberg, Intuition and Feminist Constitutionalism, in: Beverly Baines/Daphne BarakErez/Tsvi Kahana (Hrsg.), Feminist Constitutionalism (2012), 98, 99–100, die auch vor der Anfälligkeit von Intuition für Vorurteile und Stereotypen warnt. Zu implizitem bias s. Christine Jolls/Cass R. Sunstein, The Law of Implicit Bias, 94 California Law Review 969 (2006). 74   FCC v Beach Communications, Inc., 508 U.S.  307, 315 (1993); Vance v Bradley, 440 U.S.  93, 110–11 (1979). 75   Vance v Bradley, ebd., 111 (Herv. d. Verf.). 76   Obergefell v Hodges, slip op., 26–27. 77   Zu diskriminierender Motivation (animus) als „Biss“ s. Kenji Yoshino, The New Equal Protection, 24 Harvard Law Review 747, 759–60 (2011). 78   Siehe EGMR, Schalk und Kopf /Österreich, Urt. v. 24. Juni 2010, ECHR 2010-IV, NJW 2011, 1421; s.u., Text zu Fn.  143. 79   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 5 (Roberts CJ.). 80   Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 18; Thomas J., diss., 10, 13.

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1.  Eine Institution, die Raum und Zeit transzendiert Sowohl Kennedy als auch die abweichenden Richter heben die lange Tradition der Ehe hervor. Kennedy zufolge existiert diese Institution seit Jahrtausenden und zivili­ sationsübergreifend, gar seit Anbeginn der Geschichte.81 Für Chief Justice Roberts bildet sie seit Jahrtausenden die Grundlage menschlicher Gesellschaft, „for the Kalahari Bushmen and the Han Chinese, the Carthaginians and the Aztecs.“82 Scalia stellt lediglich fest, dass bei der Ratifikation des 14. Zusatzartikels jeder US-Bundesstaat die Ehe auf verschiedengeschlechtliche Paare beschränkte: „That resolves these ­cases.“83 Alito wird dagegen konkreter: „For millennia, marriage was inextricably linked to the one thing that only an opposite-sex couple can do: procreate.“84 Tatsächlich existiert die gleichgeschlechtliche Ehe – soweit wir wissen – erst seit 2000, sogar in Gesellschaften, die gleichgeschlechtliche Sexualität nicht verdammten.85 Die Klagegegner leiteten hieraus ab, dass die Ehe per definitionem verschiedengeschlechtlich sei. Allerdings hat sich diese Institution in den USA (und nicht nur dort) über die letzten Jahrhunderte dramatisch verändert; viele ihrer einst für essenziell geltenden Merkmale wurden gar für mit der Equal Protection Clause unvereinbar erklärt.86 Tradition kann eine zivile Institution nicht von verfassungsrechtlicher Prüfung isolieren – und es gehört zum Wesen von Gleichheitsansprüchen, dass sie die traditionelle Ordnung der Dinge angreifen. Doch gibt es einen Punkt, an dem die Ehe keine Ehe mehr ist? Das fundamentale Recht auf Ehe (mit seinem verschärften Rechtfertigungsmaßstab) bezieht sich somit auf eine Institution, deren Definition die Frage beantwortet, wer sich auf das Recht berufen kann. Insofern ähnelt die US-Verfassung den Systemen anderer Länder. Der Ehebegriff ist selten auf Verfassungsebene definiert, selbst wenn die Verfassung die Ehe explizit schützt – natürlich abgesehen von den Verfassungen der US-Bundesstaaten, die nach der ersten erfolgreichen Zugangsklage in Hawaii 199387 entsprechend reformiert wurden. Vielmehr obliegt in den meisten Fällen die genaue Definition der Institution hinsichtlich Zugang, Rechten, Pflichten und Leistungen dem Gesetzgeber. So stellt auch Art.  6 Abs.  1 GG ein normgeprägtes Grundrecht dar, das dem Grundsatz nach das schützt, was der Gesetzgeber als Ehe definiert.88 Allerdings ist diese Definitionsgewalt beschränkt: Die Institution kann nicht ihres Wesensgehalts beraubt oder abgeschafft werden.89 Die Ehe hat damit einen verfassungsrechtlichen Kern, der gegen Veränderungen geschützt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat erst 2013 bestätigt, dass der verschiedengeschlechtliche   Obergefell v Hodges, slip op., 3.   Ebd., Roberts CJ., diss., 3. 83   Ebd., Scalia J., diss., 4. 84   Ebd., Alito J., diss., 4. 85   See Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 14–15 (Alito J.). S.a. U.S. v Windsor, slip op., Alito diss., 8. 86   Hierzu sogleich; s.u. Text zu Fn.  97. 87   Baehr v Lewin, 74 Haw. 530, 852 P. 2d 44 (1993): Verweigerung des Zugangs zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist Geschlechtsdiskriminierung und verletzt die Verfassung des Bundesstaates. 88  Maunz/Dürig-Badura, GG, Art.  6 Abs.  1 Rn.  4. 89   Ebd., Rn.  8. 81

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Charakter der Ehe essenziell sei90 – obwohl sich die Ehe in Deutschland ebenso stark verändert hat wie in den USA, und obwohl es eher der überdauernde Zweck als die formale Definition der Ehe zu sein scheint, der die Karlsruher Rechtsprechung prägt.

2.  Eine Institution im steten Wandel Die Behauptung der Klagegegner (und Alitos), dass verantwortliche Fortpflanzung stets Kern der Ehe in den USA war, ist keineswegs unbestritten. In ihrer Amicus-curiaeStellungnahme,91 die auch in der Mehrheitsmeinung zitiert wird, argumentieren Ehehistoriker und -historikerinnen sowie die American Historical Association vielmehr, dass die Bundesstaaten erkannten, dass die Ehe die staatliche Regulierung der Bevölkerung vereinfacht, dass sie stabile Haushalte und soziale Ordnung fördert, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sichert und öffentliche Leistungen für Bedürftige minimiert, Kinder legitimiert und Verpflichtungen zur Versorgung Angehöriger beinhaltet, Eigentum und seine Übertragung erleichtert und das politische Gemein­ wesen strukturiert92 – Interessen, die unabhängig von Kindern seien.93 Sie beschreiben, wie die westeuropäischen Herrscher die zivile von der religiösen Ehe schieden, um regierbare und wirtschaftlich tragfähige Untereinheiten der Gesellschaft zu schaffen, in denen der Ehemann den Haushalt nach außen repräsentierte und nach innen zur Versorgung sowohl der Ehefrau und seiner biologischen Kinder, aber auch von Waisen, Lehrlingen, Bediensteten und Sklaven und Sklavinnen verpflichtet war.94 Die Fähigkeit oder der Wunsch zur Reproduktion sei in keinem Bundesstaat je für die Eingehung oder Aufrechterhaltung einer Ehe maßgeblich gewesen,95 vielmehr förderten staatliche Gesetze seit langem die Einbindung nicht-biologischer Kinder in die Familienstruktur verheirateter Paare.96 Zwar gewährte die Ehe daher Stabilität für Kinder, doch standen die Entschlussfreiheit und die ökonomische Integration im Zentrum. Der Ehestand (coverture) galt lange als bestimmendes Merkmal der Ehe, gar als ihre „Essenz“,97 da er den Haushalt zu einer politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit verband und die radikale Ungleichbehandlung von Männern und Frauen rechtfertigte – bis ihn der Supreme Court in einer Reihe von Urteilen zur Geschlechtergleichheit kippte.98 Ähnlich verhielt es sich mit den Rassentrennungsgesetzen, die er 1967 in Loving für verfassungswidrig erklärte.99 Die Abschaffung des Verschuldensprinzips bei der Eheschei90   BVerfGE 105, 313 (345) – Lebenspartnerschaftsgesetz (2002); BVerfGE 133, 377 (409) – Ehegattensplitting (2013). 91   „Freunde des Gerichts“ können dem Supreme Court besonderes Fachwissen oder auch rechtliche Argumente nahelegen. 92   Brief of Amici Curiae of Historians of Marriage and the American Historical Association, 6–7. 93   Ebd., 7. 94   Ebd., 7–10, m.w.N. 95   Ebd., 12–13. 96   Ebd., 14. 97   Ebd., 18. 98  Frontiero v Richardson, 411 U.S.  677 (1973); Weinberger v Wiesenfeld, 420 U.S.  636 (1975); Califano v Goldfarb, 430 U.S.  199 (1977). 99   Brief of Historians of Marriage (Fn.  91), 20–21, m.w.N.; Loving v Virginia, 388 U.S.  1.

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dung ab 1969100 folgte der Einsicht, dass die Ehe nicht lebenslang halten muss, wenn es die Liebe nicht tut. Dabei blieb die Eltern-Kind-Beziehung unberührt: Auch geschiedene Eltern bleiben grundsätzlich für das Kindeswohl verantwortlich und behalten ihr Sorgerecht. Diese Entwicklungen waren, wie Kennedy richtig bemerkt, nicht bloß oberflächlicher Art, sondern bewirkten tiefgreifende strukturelle Veränderungen in Aspekten, die seit längerem als essenziell galten.101 Trotz ihrer langen Tradition hat sich die zivile Ehe daher wohl stärker verändert als sie sich treu geblieben ist. Ursprünglich von den Eltern strategisch arrangiert, hat sie sich zu einem durch freie Willenserklärung eingegangenen Vertrag entwickelt, der alle Haushaltsmitglieder zu einer rechtlichen und wirtschaftlichen Einheit unter dem Vorstand des Mannes verband, und schließlich zu einer Verbindung zweier gleicher Partner in guten wie in schlechten Zeiten – wenn sie ihre Meinung nicht ändern. Diese Transformation ist nicht nur in den Vereinigten Staaten zu beobachten, sondern etwa auch in Deutschland, wo Art.  6 Abs.  1 GG 1949 mit dem Schutz von „Ehe und Familie“ die traditionelle Einheit von Ehe, Sexualität und Fortpflanzung bekräftigte.102 Doch unterliegt, wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigt, das Bild der Ehe dem Wandel gesellschaftlicher Anschauungen, da die Ehe gerade „nicht abstrakt gewährleistet [ist], sondern in der verfassungsgeleiteten Ausgestaltung, wie sie den herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht.“103 1966 ging der Bundesgerichtshof noch davon aus, dass die Ehefrau ihre sexuellen Pflichten nicht durch die bloße Duldung des Beischlafs ohne Anzeichen des Interesses oder der Freude erfüllt,104 und erst 1997 wurde die Vergewaltigung in der Ehe straf bar.105 Heute gilt der Beischlaf nicht mehr als einklagbare Ehepflicht,106 und mit Abschaffung der Schuldscheidung hat auch die eheliche Treue ihre rechtliche Bedeutung verloren.107 Die Ehe genießt verfassungsrechtlichen Schutz unabhängig von der gemeinsamen Fortpflanzungsfähigkeit der Ehegatten,108 und außereheliche Kinder sind gemäß Art.  6 Abs.  5 GG ehelichen gleichgestellt. Während daher der Gesetzgeber in Rechnung stellen darf, dass die Ehe die wesentliche Grundlage für ein „geschütztes“ Aufwachsen von 100   Überblick bei Herma Hill Kay, Equality and Difference: A Perspective on No-Fault Divorce and Its Aftermath, 56 University of Cincinnati Law Review 1, 1 (1987). 101   Obergefell v Hodges, slip op., 6–7. 102  S. hierzu Nora Markard, Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen, in: Ulrike Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, i.E. 103   BVerfGE 15, 328 (332) – Hypothekengewinnabgabe (1963); BVerfGE 31, 58 (82–83) – SpanierEntscheidung (1971); BVerfGE 53, 224 (245) – Ehescheidung (1980). 104   BGH, NJW 1967, 1078. 105   Bis 1997 sah §  177 Abs.  1 StGB: „Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf mit ihm oder einem Dritten nötigt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.“ (Herv. d. Verf.) 106  §  1353 Abs.  1 BGB i.V.m. §  120 Abs.  3 FamFG; s. dazu Bettina Heiderhoff, Eheliche (Rechts-) Pflichten: Ein verborgener Diskurs, in: Ulrike Lembke (Hrsg.), Regulierungen des Intimen, i.E. Es fällt auf, dass eine Verpflichtung zur Gemeinschaft in §  2 LPartG fehlt und in §  120 Abs.  3 FamFG nicht erwähnt wird. 107   §  1565 BGB, Reform 1977. Allerdings steht die Ehe engen Verwandten nicht offen, §  1307 BGB; s.u. Text zu Fn.  207. 108   BVerfGE 124, 199, Rn.  112–113 – Hinterbliebenenversorgung (2009).

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Kindern bleibt,109 können familienunabhängige Leistungen an Ehepaare nicht als Familienförderung gerechtfertigt werden.110 Im Zuge der Entkopplung der Ehe von Sexualität und Fortpflanzung ist damit die gegenseitige Verantwortung der Ehegatten zu ihrem Kern geworden. Dem verfassungsrechtlichen Ehebegriff liegt „die Vorstellung zugrunde, daß die Ehegatten einander in ehelicher Lebensgemeinschaft verbunden sind“;111 ihnen obliegt eine nicht nur moralische, sondern eine Rechtspflicht112 zum „wechselseitigen Beistand in Zeiten der Bedrängnis und insbesondere in Zeiten besonderer körperlicher und seelischer Belastungen“.113 Während emotional oder religiös (und damit für die Selbstverwirklichung) bedeutsame Beziehungen auch außerhalb der Ehe existieren können, ist es gerade dieses Versprechen interpersoneller Solidarität, diese Entlastung des Sozialstaats, die Anerkennung, Schutz und Förderung verdient.114 Die Ehe schützt damit eine unterstaatliche Solidargemeinschaft, unabhängig davon ob sie die Basis einer Familie ist.

3.  Plus ça change: Säkulare Zwecke und rationale Gründe Kann man also sagen, dass die Kläger und Klägerinnen in Obergefell „nicht den Schutz eines tief verwurzelten Rechts sondern die Anerkennung eines ganz neuen Rechts“ suchten?115 Wie soeben ausgeführt, wurde die Ehe in der Tat traditionell als exklusiv heterosexuelle Institution verstanden, zweifellos solange gleichgeschlechtliche Sexualität unter Strafe stand.116 Es trifft aber auch zu, dass die Ehe sich im Laufe der Zeit stärker verändert hat, als sie gleich geblieben ist. Kann sie sich erneut wandeln und sich dabei dennoch treu bleiben? Forderten die Kläger und Klägerinnen lediglich Zugang zum Recht auf Ehe oder forderten sie eine neue Freiheit, gar eine Leistung, nämlich ein Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe? Diese Schutzbereichsfrage spielte bereits bei der gleichgeschlechtlichen Intimität eine Rolle; während Bowers ein „Recht auf homosexuelle Sodomie“ abgelehnt hatte,117 bestätigte Lawrence ein breites und universelles „Recht auf Intimität“ als Teil des 109   BVerfGE 131, 239, Rn.  66 – Familienzuschlag (2012); BVerfGE 133, 377, Rn.  83 – Ehegatten­ splitting (2013). 110   BVerfGE 133, 377, Rn.  97 (2013). Das BVerfG fügte hinzu dass, wenn eine solche Leistung es einem Partner erleichtern soll, zuhause zu bleiben und für die Kinder zu sorgen, sie gleichgeschlechtlichen Paaren in derselben Situation nicht vorenthalten werden kann, selbst wenn sie seltener Kinder haben als verheiratete Paare; ebd., Rn.  99–102. 111   BVerfGE 76, 1 (43) – Familiennachzug (1987). 112   Deren Inhalt hängt von den Umständen ab; BVerfGE 117, 316 (327) – künstliche Befruchtung (2007). 113   BVerfG-K, 2 BvR 1413/10, NVwZ 2011, 870, Rn.  20. 114   Anne Röthel, Regelungsaufgabe Paarbeziehung und die Instrumente des Rechts, in: dies./Bettina Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Paarbeziehung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 2012, 17, 22 und 26–29; Susanne Baer, Regelungsaufgabe Paarbeziehung: Was darf der Staat?, ibid., 35, 37; Nina Dethloff, Familienrecht: Ein Studienbuch 2–3, 30.  Aufl. 2012. 115   U.S. v Windsor, slip op., Alito J., diss., 8. 116   Obergefell v Hodges, slip op., 8. 117   Bowers v Hardwick, 478 U.S.  186.

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geschützten Privatlebens.118 Auch die Ehefälle des Gerichtshofs können in dieser Wei­se gelesen werden. Wie Kennedy erklärt, „Loving did not ask about a ,right to inter-racial marriage‘; Turner did not ask about a ,right of inmates to marry‘; and Zablocki did not ask about a ,right of fathers with unpaid child support duties to marry.‘“119 All diese Fälle betrafen lediglich das Recht auf Ehe und Hindernisse bei seiner Ausübung. Dies soll auch für Obergefell gelten. Die abweichenden Richter sehen dies naturgemäß anders. Für Chief Justice Roberts hat die „universelle Definition der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau“ in den Vereinigten Staaten „throughout history“ vorgeherrscht.120 Die Väter der Verfassung hätten diesen Ehebegriff als Faktum angesehen, seine Bedeutung habe sich von selbst verstanden.121 Seine Entwicklung habe die Kernstruktur der Ehe als verschiedengeschlechtlich nicht angetastet.122 Die Ehefälle hätten lediglich den Zugang zur Ehe „as traditionally defined“123 gewährt – keines der angegriffenen Hindernisse sei Teil der Ehedefinition gewesen. So sei die Ehe nicht definiert gewesen als „the union of a man and a woman, where neither party owes child support or is in prison,“ oder „a man and a woman of the same race.“124 Den Lovings, einem schwarz-weißen Paar, Zugang zur Ehe zu gewähren habe daher die Ehe ebenso wenig verändert wie die Abschaffung der Segregation von Schulen das Wesen der Schule.125 Die Grenzen einer Institution in sie hineinzudefinieren, bedeutet, sie gegen Veränderungen zu isolieren. Doch wie Kennedy richtig bemerkt: Wenn Rechte dadurch definiert wären, wer in der Vergangenheit Zugang zu ihnen hatte, könnten diskrimi­ nierende Praktiken sich selbst rechtfertigen; „neue Gruppen könnten sich nicht auf einmal verweigerte Rechte berufen.“126 Gleichheitsgarantien verändern immer existierende gesellschaftliche Strukturen. Es liegt gerade in ihrer Natur, dass sie ein kontra­faktisches Gleichheitsversprechen enthalten. Soziale Gleichheitsbewegungen haben schon immer gerade die Bedeutungen angegriffen, die sich „von selbst verstehen,“127 indem sie explizite Gründe für ihren Ausschluss fordern, die über Vorurteile und Diskriminierung hinausreichen.128 Wenn eine Institution wie die Ehe durch Zweck und Funktionen statt durch Tradition definiert ist, verändert eine Öffnung für neue Gruppen das Wesen der Ehe ebenso wenig wie die Entsegregierung das Wesen von Schulen: Plus ça change, plus c’est la même chose. Der fundamentale Charakter eines Rechts, schreibt Kennedy, möge mit Geschichte und Tradition zusammenhängen,129 doch selbst ernste traditionelle oder religiöse Überzeugungen könnten keine Gesetze und Politiken rechtfertigen, die eine gesell  Lawrence v Texas, 539 U.S.  558.   Obergefell v Hodges, slip op., 18. 120  Ebd., Roberts CJ., diss., 4–5. 121   Ebd., 6. 122   Ebd., 8. 123   Ebd., 16, Herv. i. Orig. 124   Ebd., Herv. i. Orig. 125  Ebd. 126   Obergefell v Hodges, slip op., 18. 127   Ebd., Roberts CJ., diss., 6. 128   Anna Katharina Mangold, Ehe für alle: Der Kampf um die Gleichberechtigung, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015, S.  111–120 (112). 129   Obergefell v Hodges, slip op., 18–19. 118 119

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schaftliche Gruppe herabsetzen oder stigmatisieren.130 Die Ehe als rechtliche Institu­ tion, ein Bündel an staatlich bereitgestellten Rechten und Pflichten, ist nicht identisch mit der Ehe als gesellschaftlicher oder religiöser Institution mit ihren eigenen Traditionen (z.B. Heterosexualität, Heiligkeit) und nicht einklagbaren Regeln (z.B. sexuelle Monogamie). Die rechtliche Institution der Ehe bietet Paaren, die die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllen, bestimmte staatlich sanktionierte Privilegien; der Ausschluss von diesen Privilegien erfordert eine Rechtfertigung aufgrund intersubjektiv anerkennungsfähiger, rationaler Gründe, nicht Tradition oder Religion.131 Lediglich auf die traditionelle Definition der Ehe zu verweisen geht daher fehl; sie hat sich stets mit den sich verändernden verfassungsrechtlichen Standards entwickelt. In Glucksberg verlangte der Supreme Court, dass fundamentale Rechte „objectively, deeply rooted in this Nation’s history and tradition“ sein müssen und „implicit in the concept of ordered liberty, [such that] neither liberty nor justice would exist if they were sacrificed.“132 Das Recht auf Ehe erfüllt diese Definition unstreitig. Doch sein Anwendungsbereich kann nicht dadurch definiert werden, was unsere Urahnen für richtig hielten. In den Worten Kennedys, „[a]s the Constitution endures, persons in every generation can invoke its principles in their own search for greater freedom.“133

4.  Change Waits for No One Die öffentliche Meinung zu den Rechten Homosexueller in den USA entwickelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Mehrere Bundesstaaten haben Lebenspartnerschaften eingeführt, elf haben die Ehe geöffnet, einige gar per Referendum; in anderen Bundesstaaten haben Wähler und Wählerinnen Gegenprojekte verhindert.134 Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich in Europa, wo das katholische Irland 2015 mit einem Referendum für die Öffnung der Ehe viele überrascht hat. In den Worten von Chief Justice Roberts: „Supporters of same-sex marriage have achieved considerable success persuading their fellow citizens – through the democratic process – to adopt their view. That ends today.“135 Die Klagegegner hatten einen freien Lauf für die Demokratie gefordert, und dabei sogar das Grundrechteargument auf den Kopf gestellt; es gehe nicht um die Definition der Ehe, sondern darum, ob dies die Gerichte oder das Volk entscheiden könne: „And we’re asking you to affirm every individual’s fundamental liberty interest in deciding the meaning of marriage.“136 Diese Abwarten-Strategie beruft sich unter anderem auf die Abtreibungsentscheidung Roe v Wade, deren grundsätzlicher Charakter Kontroversen verschärfte, den damaligen Liberalisierungstrend jäh beendete

  Ebd., 19.   Ebd., 17. 132   Washington v Glucksberg, 521 U.S.  702 (1997), Zitate aus Moore v East Cleveland, 431 U.S.  494, 503 (1977) und Palko v Connecticut, 302 U.S.  319, 325, 326 (1937). 133   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 579. 134   S. o. Fn.  3 ; Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 9. 135   Ebd., 2. 136   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 41 (Mr. Bursch). 130 131

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und das Land spaltete.137 Roberts fürchtete, dass auch Obergefell für viele Jahre einen Schatten über die gleichgeschlechtliche Ehe werfen und einen dramatischen gesellschaftlichen Wandel umso weniger akzeptabel machen werde.138 In einem deliberativen Prozess wüssten selbst die, die unterlägen, wenigstens „that they have had their say, and accordingly are – in the tradition of our political culture – reconciled to the result of a fair and honest debate.“ Die Debatte zu beenden verschließe dagegen die Gemüter.139 Dieses Argument kann jedoch nicht überzeugen, wenn es sich um ein Grundrechteproblem handelt. Wie Richterin Kagan in der mündlichen Verhandlung richtig einwandte, ist eine Verfassungsdemokratie gerade dadurch gekennzeichnet, dass dem demokratischen Prozess Grenzen gesetzt sind,140 die auch gerichtlich durchgesetzt werden können. Ob eine soziale Bewegung gerade Rückenwind verspürt, hat auf den Gehalt der Grundrechte keinen Einfluss.141 Wie schon bei Bowers ist Abwarten gerade nicht neutral, es verwehrt in der Zwischenzeit Rechte142 – ein Nachteil, zu dessen Duldung die KlägerInnen verfassungsrechtlich nicht verpflichtet sind.

IV.  Die Unausweichlichkeit der Gleichheit Sobald die Ehe durch säkulare Zwecke statt durch ihre traditionelle Gestalt definiert ist, steht der Weg zur Gleichheit weit offen. Sind rationale Gründe erforderlich, gibt es keinen Weg zurück zum heterosexuellen Privileg; Gleichheit ist eine Einbahnstraße, wie die Entwicklung hin zu Obergefell, aber auch in anderen Ländern zeigt,143 selbst wenn der direkte Zugang zur Ehegleichheit versperrt ist.

1.  Schutz des Privatlebens: Ein Recht auf minimale Institutionalisierung Art.  12 EMRK gewährt das Recht auf Eheschließung nicht „jeder Person“, wie andere Konventionsrechte, sondern „Männern und Frauen“. Mangels eines neuen 137  Siehe Ruth Bader Ginsburg, Speaking in a Judicial Voice, 67 New York University Law Review 1185, 1199–1205 (1992), die Roe von Brown unterscheidet. S.a. Bader Ginsburg, Some Thoughts on Autonomy and Equality in Relation to Roe v. Wade, 63 North Carolina Law Review 375, 385–86 (1985), zit. in Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 27. 138   Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 2; ebd., Alito J., diss., 7: „bitter and lasting wounds.“ 139   Ebd., Roberts diss., 26–27. 140   Obergefell v Hodges, Transcript, Question 1, 74; s.a. slip op., 24. 141   Obergefell v Hodges, slip op., 25. S.a. Maximilian Steinbeis, Ehe für alle: Warum Mehrheitsentscheid auch bei Minderheitsrechten nichts Schlechtes sein muss, Verf Blog v. 27.05.2015, abruf bar unter: http://www.verfassungsblog.de/ehe-fuer-alle-warum-mehrheitsentscheid-auch-bei-minderheitsrechtennichts-schlechtes-sein-muss/. 142   Obergefell v Hodges, ebd., 25 f. 143   Dies gilt jedenfalls dann wenn eine Niveauabsenkung ausscheidet. Detaillierte rechtsvergleichen­ de Diskussion in Nora Markard, Private but Equal? Why the right to privacy will not bring full equality for same-sex couples, in: Günter Frankenberg (Hrsg.), Order from Transfer. Projects and Problems of Comparative Constitutional Studies 2013, 86, 102–115.

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Konsenses zwischen den Vertragsstaaten bestätigte der EGMR in Schalk und Kopf144 die Ansicht des österreichischen Verfassungsgerichtshofs,145 dass Art.  12 lediglich ein Recht für Männer enthalte, Frauen zu heiraten und umgekehrt.146 Das Diskriminierungsverbot des Art.   14 EMRK, das lediglich im Anwendungsbereich anderer Konventionsrechte gilt, könne ebenfalls keinen Zugang vermitteln.147 Auch das ­ BVerfG148 befand 1993, dass Art.  6 Abs.  1 GG mangels eines grundlegenden Wandels im Ehebegriff gleichgeschlechtliche Paare nicht erfasse; dies könne daher auch nicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder dem Gleichheitsrecht hergeleitet werden.149 Sowohl in Österreich als auch in Deutschland entschied sich der Gesetzgeber statt der Eheöffnung für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft.150 Seitdem jedoch wurde die Ehediskriminierung gerichtlich in einem Maße zurückgedrängt, dass sich inzwischen die Frage stellt, wie lange die Unterscheidung zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft noch aufrechtzuerhalten ist. Diese Frage ist umso drängender, seit der EGMR – wie schon das BVerfG151 – ein Recht auf eine rechtliche Mindestanerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften aus dem Schutz des Privatlebens nach Art.  8 EMRK abgeleitet hat. Bereits in Schalk und Kopf hatte er die „Notwendigkeit der rechtlichen Anerkennung und den Schutz ihrer Beziehungen“ bekräftigt152 und den Konventionsstaaten lediglich „bei der Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem sie Gesetzesänderungen einführen wollen, einen Ermessensspielraum“ eingeräumt.153 2015 war es dann soweit: Anders als gleichgeschlechtliche Adoptionen,154 so der Gerichtshof in Oliari/Italien, betreffe das Anerkennungsbegehren eines Paares nicht „certain specific ,supplementary‘ (as opposed to core) rights which may or may not arise from such a union and which may be subject to fierce controversy in the light of their sensitive dimension.“ 155 Ange  Schalk und Kopf (Fn.  78).   VerfGH, Urt. v. 12.12.2003, B 777/03-5. 146   Schalk und Kopf (Fn.  78), Rn.  55, 58, 60. Anders als eine Verfassung setzt die EMRK Standards für 47 Staaten, eine Herausforderung, die der EGMR durch flexible Handhabung seines Beurteilungsspielraums löst: Je größer der Konsens zwischen den Konventionsstaaten, desto enger der Beurteilungsspielraum. 147   Ebd., Rn.  101. 148   Ausf. Diskussion dieser Rspr. in Markard (Fn.  143), 114–115. 149   BVerfG-K, NJW 1993, 3058; Nichtannahmebeschluss zur „Aktion Standesamt“, bei der lesbische und schwule Paare das Aufgebot bestellten und gegen ihre Abweisung klagten. 150   Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft – LPartG, BGBl. 2001 I, 266; Eingetragene Partnerschaft-Gesetz – EPG, BGBl. 2009 I 135. 151   BVerfGE 115, 1, Rn.  55 ff. – Transsexualität V (2005). Der Fall betraf ein Paar, das wegen problematischer Anforderungen des Transsexuellengesetzes zwischen Ehe und Lebenspartnerschaft gefangen war; das BVerfG forderte Zugang zur einen oder anderen Institution. Vgl. Laura Adamietz, Transgender ante portas? Anmerkungen zur fünften Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Transsexualität, Kritische Justiz 2006, 368. 152   Schalk und Kopf (Fn.  78), Rn.  99; bestätigt in Vallianatos u.a./Griechenland, Gr. Kammer, Urt. v. 07.11.2013, Nr.  29381/09 und 32684/09, Rep.  2013-VI, Rn.  78. 153   Schalk und Kopf, ebd., Rn.  104–106 (Herv. d. Verf.). 154   EGMR (Gr. Kammer), X u.a./Österreich, Urt. v. 19.02.2013, Nr.  19010/07, Rep.  2013-II, NJW 2013, 2173: Diskriminierung gegenüber unverheirateten verschiedengeschlechtlichen Paaren (Entscheidung 10:7); s.u. Fn.  160. 155   EGMR, Oliari u.a./Italien, Urt. v. 21.07.2015, Nr.  18766/11 und 36030/11, Rn.  177. S.a. das zustimmende Sondervotum einiger abweichender RichterInnen aus X in Vallianatos (Fn.  152). 144 145

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sichts der Entwicklung des Konsenses auch innerhalb Italiens156 und mangels eines überwiegenden gesellschaftlichen Interesses habe Italien durch die Verweigerung jeglicher rechtlicher Anerkennungsmöglichkeit seinen Beurteilungsspielraum überschritten.157 Der Gerichtshof macht deutlich, dass es nur um „core rights“ geht,158 und bestätigt seine Haltung zu Art.  12 EMRK.159 Doch er hat bereits einige Gleichheitsbegehren gleichgeschlechtlicher Paare bestätigt, und er wird weiter zu entscheiden haben, welche Unterschiede zu Ehepaaren gerechtfertigt werden können.160 Das deutsche und das österreichische Beispiel zeigen, dass – da die Absenkung des Gesamtschutz­n iveaus nicht in Betracht kommt – Gleichheitsbegehren Fall für Fall zu einer immer weiteren Annäherung an die Ehe führen werden.161

2.  Fall für Fall entlang der Einbahnstraße: Deutschland und Österreich Als Deutschland 2001 die eingetragene Lebenspartnerschaft einführte, befand der Erste Senat des BVerfG die Trennung für nicht geschlechtsdiskriminierend, da sowohl Männer als auch Frauen eine Person des anderen Geschlechts heiraten oder mit einer Person desselben Geschlechts eine Lebenspartnerschaft eingehen könnten;162 es sei auch gerechtfertigt, verschiedengeschlechtliche Paare auf die Ehe zu verweisen, da nur sie Kinder bekommen könnten.163 Der Senat prüfte nicht, ob das niedrigere Rechteniveau der Partnerschaft eine Gleichheitsproblem ist, doch eine Kammer des Zweiten Senat befand in einer Serie von Nichtannahmebeschlüssen, dass der besondere Schutz der Ehe Ungleichbehandlungen rechtfertige164 und der Zugang zur Ehe nicht mit der sexuellen Orientierung zusammenhänge.165 Der Rechtsrahmen änderte sich, als der EuGH in Maruko forderte, dass Lebens­ gemeinschaften in allen Bereichen mit der Ehe gleichbehandelt werden müssen, in

  Ebd., Rn.  178–181.   Ebd., Rn.  185. 158   Ebd., Rn.  172, 174, 177. 159   Ebd., Rn.  192. 160   X u.a. (Fn.  154): Ausschluss unverheirateter gleichgeschlechtlicher Eltern von der Stief kindadoption diskriminierend gegenüber unverheirateten verschiedengeschlechtlichen Eltern; Vallianatos (Fn.  152), Rn.  92: Schutz unehelicher Kinder und Förderung der Entscheidung für die Ehe als „purely on the basis of a mutual commitment entered into by two individuals, independently of outside con­ straints or of the prospect of having children“ durch die Einführung von Lebenspartnerschaften kann den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare davon nicht rechtfertigen. 161   Yoshino (Fn.  77), 787, 800. 162   BVerfGE 105, 313, Rn.  104–6 – Lebenspartnerschaftsgesetz (2002), Entscheidung 5:3. Zu Geschlechtsdiskriminierung vgl. Suzanne Goldberg, Risky Arguments in Social-Justice Litigation: The Case of Sex Discrimination and Marriage Equality, 114 Columbia Law Review 2087 (2014). 163   BVerfG, ebd., Rn.  109. 164   BVerfG-K, NJW 2008, 209 – Verheiratetenzuschlag I (2007); FamRZ 2008, 487 – Familienzuschlag (2008); NJW 2008, 2325 – Verheiratetenzuschlag II (2008). 165  BVerfG-K, FamRZ 2008, 487. Die Kammer begründet dies damit, dass auch Homosexuelle andersgeschlechtliche Personen heiraten können – eine mehr als fadenscheinige Argumentation. 156 157

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denen sie ihr vergleichbar sind.166 Ein bloßer Verweis auf den Schutz der Ehe konnte nun nicht mehr genügen,167 es brauchte rationale Gründe, die an die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Institutionen anknüpfen. Die Kammer des Zweiten Senates focht dies nicht an,168 doch als die Fälle zurück zum Grundrechtesenat kamen, änderte das Gericht den Kurs. Der Erste Senat bestätigte, dass der besondere Schutz der Ehe allein keine Ungleichbehandlung rechtfertigen könne und dass die Unfähigkeit zur „natürlichen“ Fortpflanzung irrelevant sei, da auch kinderlose Ehen geschützt seien und auch in gleichgeschlechtlichen Haushalten Kinder aufwüchsen. Stattdessen nahm er den Zweck der begehrten Leistung in den Blick – hier die Würdigung des Beitrags des sorgenden Ehegatten zur Arbeitsleistung des anderen – und befand, dass dieser genauso für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gelte.169 Er wandte sogar einen verschärften Prüfungsmaßstab an, da sexuelle Orientierung den in Art.  3 Abs.  3 GG aufgeführten Gründen vergleichbar sei. In den folgenden Jahren übertrugen dann beide Senate diese Rechtsprechung auf Ungleichbehandlungen hinsichtlich der Erbschaft- und Schenkungsteuer,170 des beamtenrechtlichen Familienzuschlags,171 der Grunderwerbsteuer172 und des Ehegattensplittings.173 Das Gericht erklärte sogar den Ausschluss von der Sukzessivadoption für verfassungswidrig,174 mit Argumenten, die auch auf die gemeinsame Adoption zutreffen. In Österreich, wo die Eingetragene Partnerschaft 2010 eingeführt wurde, ist diese Dynamik sogar noch deutlicher.175 „Wenn er auch nicht an der Spitze des Fortschritts steht,“ so der EGMR, „kann dem österreichischen Gesetzgeber doch nicht vorgeworfen werden, dass er das […] Gesetz nicht früher eingebracht hat.“176 Bald gestattete der Verfassungsgerichtshof eingetragenen PartnerInnen den Bindestrich im Doppelnamen177 und dessen nachträgliche Wahl,178 doch glich die Eintragung weiterhin der Registrierung eines Kfz: In den Räumen der Bezirksverwaltung nimmt ein Beamter oder eine Beamte die persönlichen Angaben auf, und beide PartnerInnen unterschreiben. Keine Trauzeugen oder -zeuginnen, kein feierliches „Ja“, keine feierliche Bekräftigung der eingegangenen Partnerschaft – und keine Zeremonie im Standesamt oder an anderen, romantischen Orten. 2012 duldete der VerfGH die

166   EuGH, Rs. C-267/06, Tadao Maruko v Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen, Slg. 2008 I-01757, ECLI:EU:C:2008:179, Rn.  73 (Hinterbliebenenversorgung). 167  Maruko bezieht sich nur auf den Anwendungsbereich der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG. 168   BVerfG-K, NJW 2008, 2325. 169   BVerfGE 124, 199 – Hinterbliebenenversorgung (2009). 170   BVerfGE 126, 400 (2010). 171   BVerfGE 131, 239 (2012). 172   BVerfGE 132, 179 (2012). 173   BVerfGE 133, 377 (2013). 174   BVerfGE 133, 59 (2013). 175   S. o. Fn.  145. 176   Schalk und Kopf (Fn.  78), Rn.  106 (o. Nw.). 177   VerfGH, Urt. v. 22.09.2011, B/518/11 – Bindestrich: Fehlinterpretation des EPG. 178   VerfGH, Urt. v. 03.03.2012, G 131/11 – Nachträglicher Doppelname: „einfache Abwicklung“ nicht überzeugend.

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Segregation,179 die nun in Straßburg anhängig ist,180 doch 2013 prägte er die Formel, die seitdem seine Rechtsprechung bestimmt: keine Ungleichbehandlung „quasi aus Prinzip“.181 Auf dieser Basis erlaubte der Gerichtshof nicht nur eine Anlehnung der Eintragungszeremonie an die Ehe,182 sondern eröffnete auch Zugang zu Reproduktionstechnologien183 und gemeinsamer Adoption.184 Da gleichgeschlechtliche Partnerschaften kein Ersatz seien, gefährdeten weder sie noch ein Kinderwunsch die Ehe oder verschiedengeschlechtliche Partnerschaften.185 Eingetragene Partnerschaften dienten wie die Ehe der Institutionalisierung langfristiger stabiler Verbindungen186 und böten keine relevant anderen Bedingungen für Kinder; zudem sei es mit dem Wohl des Kindes unvereinbar, ihm einen zweiten Elternteil zu verweigern.187 Wo gleichgeschlechtliche Paare daher nicht über das Gleichheitsrecht direkten Zugang zur Ehefreiheit erlangen können, können sie über das Recht auf Schutz des Privatlebens zumindest einen Minimalschutz einfordern. Eine solche Absicherung ist zwar ungenügend;188 doch wie das deutsche und österreichische Beispiel zeigen, verlangt das Gleichheitsrecht, sobald es zwei verschiedene, über die sexuelle Orientierung regulierte Institutionen gibt, rationale Gründe für Differenzierungen. Da sowohl die Ehe als auch die Partnerschaft auf langfristiger gegenseitiger Verantwortung basieren und Kindern einen stabilen Rahmen bieten, ist jedoch eine unterschiedliche Behandlung kaum zu rechtfertigen,189 zumal bei einem verschärften Prüfungsmaßstab.190 Gleichheitsklagen schließen somit Fall für Fall die Lücke zwischen Ehe und Partnerschaft. 179   VerfGH, Urt. v. 12.12.2012, B 125/11, 138/11 – Standesamtverbot. Michael Spindelegger, damaliger Präsident der Nationalversammlung und späterer Außenminister, hatte dies befürwortet: „Und es ist ja so, dass am Standesamt zur schönen Jahreszeit besonders gerne geheiratet wird – das führt automatisch zum Kontakt zwischen heterosexuellen und homosexuellen Paaren. Ob das so gut ist, sei dahingestellt.“ Die Presse v. 29.04.2008, abruf bar unter: http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/ 380504/Spindelegger_ Josef-Proll-ist-eine-geniale-Figur. 180   EGMR, Dietz und Suttasom/Österreich, Nr.  31185/13, Beschwerde zugestellt am 29.05.2015. 181   VerfGH, Urteil v. 19.06.2013, G 18/13 und 19/13 – Amtsraumzwang. 182   In einer früheren Entscheidung im selben Fall (12.12.2012, B 125/11 und 138/11) hatte der Verf­ GH klargestellt dass das EPG die Anwesenheit zweier ZeugInnen und die rituelle Abfolge von Frage, Antwort und Bestätigung nicht vorsehen müsse, aber dem auch nicht entgegenstehe; s. VerfGH, Urt. v. 19.06.2013, G 18/13 und 19/13, Rn.  15–17. 183   VerfGH, Urt. v. 12.12.2013, G 16/13 und 44/13 – Medizinisch assistierte Reproduktion. 184   VerfGH, Urt. v. 11.12.2014, G 119/14 und 120/14 – Gemeinsame Adoption. Zur Stief kindadoption für gleichgeschlechtliche Eltern s. EGMR, X u.a. (Fn.  154). 185   VerfGH, Urt. v. 12.12.2013, G 16/13 und 44/13, Rn.  54. 186   VerfGH, Urt. v. 11.12.2014, G 119/14 und 120/14, Rn.  48. 187   Ebd., Rn.  39, 44–47. 188   Markard (Fn.  143). 189   Verbleibende Ungleichbehandlungen betreffen z.B. die Nichtanerkennung der Lebenspartnerin einer Kindsmutter als zweites Elternteil, zumal die Stief kindadoption schwierig sein kann; vgl. Nora Markard, Supreme Court strengthens rights of private sperm donors at the expense of lesbian couples, 2015, abruf bar unter: http://www.sexualorientationlaw.eu/120-supreme-court-strengthens-rightsof-private-sperm-donors-at-the-expense-of-lesbian-couples-germany. Gesamtaufstellung für Österreich: Rechtskomitee Lambda, Ungleichbehandlungen zur Ehe (Stand: Mai 2015), abruf bar unter: http://www.rklambda.at/images/publikationen/2015RKL_EPG_AbweichungenvomEherecht_V9_ Mai2015.pdf. 190   EGMR, Karner/Österreich, Urt. v. 24.07.2003, ECHR 2003-IX, Rn.  41; Kozak/Polen, Urt. v.

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Dieser Zugriff verändert die Perspektive und die Beweislast: Statt von den Kläger­ Innen Gründe für die Aufwertung zu verlangen (Freiheitsperspektive), muss nun der Staat Gründe für die Abwertung liefern (Gleichheitsperspektive). Daher ist es auch nicht überzeugend, wenn die Klagegegner argumentieren, dass die KlägerInnen in Obergefell, anders als in Lawrence, nicht Freiheit sondern Leistungen einforderten, wie sie im US-amerikanischen Verfassungsrecht kaum bekannt sind;191 es geht nicht um Leistungen, sondern um Gleichbehandlung im Bereich der Leistungsgewährung. Der Ausschluss von gewährten Vorteilen schafft einen Nachteil, der rechtfertigungsbedürftig ist.

3.  Nennen wir es Ehe Je weiter sich Partnerschaften an die Ehe annähern, desto dringender stellt sich die Frage, was eigentlich passiert, wenn eine Unterscheidung nur noch dem Namen nach möglich ist. Welche rationale Begründung gibt es dafür, die Bezeichnung „Ehe“, ihre Tradition und ihr Prestige verschiedengeschlechtlichen Paaren vorzubehalten? Wie das US-Berufungsgericht für den Ninth Circuit – der auch Kalifornien umfasst – herausarbeitete, lässt sich die enorme kulturelle Bedeutung der Ehe an dem Gewicht von Sätzen wie „Willst du mich heiraten?“ oder berühmten Filmtiteln und Zitaten, der Unterscheidung von Zweckehe und Liebesheirat ablesen, die einfach nicht denselben Klang haben, wenn „Heirat“ durch „Eingehung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft“ ersetzt wird.192 Es sei dieser Kontext, in dem der Begriff „Ehe“ die „einzigartige Anerkennung bezeichnet, die die Gesellschaft harmonischen, loyalen, dauerhaften und intimen Beziehungen zukommen lässt.“193 „Gleichgeschlecht­ liche Partnerschaft“ gewährt keine gleiche Anerkennung, sie betont den Unterschied zur „richtigen“ Ehe. Die Parallelen zu Brown v Board of Education, wo der Supreme Court getrennte Bildungseinrichtungen für „inherently unequal“ befand,194 liegen auf der Hand. Das Gericht erkannte, dass Rassendifferenzierung auf rassistischer Hierarchisierung beruht, dass „separate but equal“ in Wahrheit „separate, because unequal“ meinte. Bei gleichgeschlechtlichen Paaren ist die Segregation (in der Regel195) nur rechtlicher Art, doch die Hierarchisierung ist nicht weniger greif bar: Sowohl der Ninth Circuit

02.03.2010, [2010] ECHR 280, Rn.  99; Vallianatos (Fn.  152), Rn.  85; BVerfGE 124, 199 (220); 126, 400 (419); 131, 239, para. 57; 133, 59, para. 104; 133, 377, para. 77. 191   Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 18, unter Verweis auf DeShaney v Winnebago County Dept. of Social Services, 489 U.S.  189, 196 (1989) und San Antonio Independent School District v Rodriguez, 411 U.S.  1, 35–37 (1973); s.a. Obergefell, ebd., Thomas J., diss., 9–13. 192   Perry v Brown, 671 F3d 1052 (9th Cir. 2012), aufgehoben mangels Klagebefugnis: Hollingsworth v Perry, 570 U.S. _ (2013). 193   Perry v Brown, ebd. So hat auch Schweden zusätzlich zur weitgehend angeglichenen Lebenspartnerschaft 2009 die Ehe geöffnet; s. Maarit Jänterä-Jareborg, Sweden: The Same-Sex Marriage Reform with Special Regard to Concerns of Religion, FamRZ 2010, 1505. Dank an Valérie Suhr für diesen Hinweis. 194   Brown v Board of Education, 347 U.S.  483, 495 (1954). 195   S. o., Fn.  182.

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Court of Appeal196 als auch der mexikanische Oberste Gerichtshof 197 machten Anleihen bei Brown, um eine Gleichbehandlung auch bei der Bezeichnung zu verlangen. Auch Gerichte, die Ehegleichheit bisher verweigert haben, werden sich hiermit früher oder später auseinandersetzen müssen; vielleicht indem sie einen zwischenzeit­ lichen Verfassungswandel feststellen. Aus der Gleichheitsperspektive streben gleichgeschlechtliche Paare nicht durch die Ehe nach Würde, wie Kennedy nahelegt.198 Sie kämpfen gegen die Missachtung der Würde, die sie bereits haben, ihres Anerkennungsanspruchs als freie und gleiche Bürger und Bürgerinnen. In dieser Perspektive liegt die Würdeverletzung nicht im Ausschluss von einer Institution der Selbstlosigkeit und des transzendentalen Werts, sondern in der Unterstellung, dass die ausgeschlossene Gruppe es nicht wert ist, daran teilzuhaben; dass sie die damit verbundene Anerkennung und die Leistungen nicht verdient. Diskriminierung wegen der Rasse, wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung subsumiert ein Individuum unter ein (vermeintliches) Kollektiv, dessen (vermeintliche) Eigenschaften systematisch abgewertet werden, und verweigert damit auch die Anerkennung als Individuum. Gerade in dieser Anerkennungsverweigerung liegt eine Würdeverletzung, die über die Benachteiligung an sich hinausgeht; aus diesem Grund sind bestimmte Formen der Ungleichbehandlung als besonders verwerflich anzusehen und verschärften Rechtfertigungsmaßstäben unterworfen. In Verbindung mit der Gleichheit verliert die Menschenwürde die exkludierende Wirkung; und im Kampf gegen entwürdigende Exklusion fördert sie nicht Pluralismusängste, sondern betont Gemeinsamkeiten.199

4.  Die Einbahn als Rutschbahn? Die Gespenster der Polygamie und des Inzest Unter Verweis auf die tiefen Wurzeln der Polygamie „in einigen Kulturen der Welt“ gab Chief Justice Roberts zu bedenken, dass die Mehrheitsmeinung auch auf ein fundamentales Recht auf „plurale Ehe“ anwendbar sei.200 Wenn die Ehegleichheit wirklich unausweichlich ist, warten wir dann auf einen dritten Schuh? In der mündlichen Verhandlung hatte die Klagevertreterin zwei Antworten. Poly­ gamie mit Polygynie gleichsetzend, einer Praxis die regelmäßig mit stark patriarchal strukturierten Gemeinschaften verbunden wird,201 nannte Ms. Bonauto zunächst   Perry v Brown, 671 F3d 1052, 1063–64.   Mexikanischer Oberster Gerichtshof, Amparo en revisión 704/2014, Rn.  169 (2015). Als fünftes Urteil zu dieser Frage ist dies nun eine bindende Präzedenzentscheidung, s. Tesis Jurisprudencial 46/2015 (10a.): Matrimonio entre personas del mismo sexo. No existe razón de índole constitucional para no reconocerlo. Vgl. José María Serna de la Garza, The Concept of Jurisprudencia in Mexican Law, 1 Mexican Law Review 131 (2009). 198   S. o., Abschnitt A. IV. 199  So Yoshino (Fn.  77), der freiheitsbasierte Würde befürwortet, allerdings nicht in Rechnung stellt, dass das Schutzniveau des Freiheitsrechts unter dem des Gleichheitsanspruchs liegen darf, wie es bei den hier diskutierten europäischen Fällen liegt. 200   Obergefell v Hodges, slip op., Roberts CJ., diss., 20. 201   Der Begriff Polygamie umfasst sehr unterschiedliche Praktiken, darunter auch Polyandrie und sogar gleichgeschlechtliche Polygynie; zudem zeigen anthropologische Studien, dass die Machtverhältnisse komplex sein können, vgl. Miriam Koktvedgaard Zeitzen, Polygamy: A Cross-Cultural Analysis, 196 197

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Sorge um die freie Einwilligung.202 Das Beispiel, das Richter Alito gebildet hatte, betraf jedoch eine hypothetische Viererunion von zwei Männern und zwei Frauen, alle erwachsen und hoch gebildet (scherzhaft hinzufügend: „They’re all lawyers.“).203 Autonomie ist für das fundamentale Recht zu heiraten essenziell, und die Verhinderung von Zwang und Geschlechtsdiskriminierung stellen zweifellos zwingende staatliche Interessen dar.204 Doch kann ein Blankoverbot sicherlich nicht als „narrow­ ly tailored“ gelten.205 Damit bleibt Bonautos zweites Argument, dass das gegenwärtige Rechtssystem auf Zweierehen zugeschnitten ist; anders als mit der gleichgeschlechtlichen Ehe ist es damit mit einer geschlechtsneutralen Formulierung nicht getan, ein vollkommen neues System für Scheidung und Sorgerecht müsste geschaffen werden – es geht also um gesetzgeberisches Handeln. Hier müssen tatsächlich Freiheitsrechte die Führung übernehmen, um möglicherweise einen Mindestschutz im Sinne von Oliari zu erreichen.206 Die Sorge um die Freiheit der Einwilligung ist deutlich relevanter bei inzestuösen Ehen, da solche Beziehungen typischerweise hochproblematische Abhängigkeitsverhältnisse oder Missbrauch umfassen. In Deutschland sind sie verboten,207 und der inzestuöse Geschlechtsverkehr steht sogar zwischen erwachsenen Geschwistern unter Strafe; 208 das BVerfG führte hierfür u.a. dessen schädliche psychologische Wirkungen und Nähe zum sexuellen Missbrauch an.209 Allerdings scheinen die Abhängigkeitsbeziehung und häusliche Gewalt im nämlichen Fall 210 für Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern eher untypisch zu sein.211 Sollte aber ein strafrechtliches und eine Eheverbot auch gelten, wenn beide Teile volljährig sind, frei ein­w illigen 2008. Aus feministischer Perspektive Beverly Baines, Polygamy and Feminist Constitutionalism, in: dies./Daphne Barak-Erez/Tsvi Kahana (Hrsg.), Feminist Constitutionalism. Global Perspectives, 2012, 452. 202   Obergefell v Hodges, Transkript, Frage 1, 18. 203   Ebd., 17. 204  Kramer v Union Free School District, 395 U.S.  621, 627 (1969); Shapiro v Thompson, 394 U.S.  618, 634 (1969), Sherbert v Verner, 374 U.S.  398, 406 (1963). 205   Griswold v Connecticut, 381 U.S.  479, 485; Aptheker v Secretary of State, 378 U.S.  500, 508 (1964); Cantwell v Connecticut, 310 U.S.  296, 307–8 (1940). 206  Oliari (Fn.  155). 207   §  1307 BGB verbietet die Ehe zwischen in direkter Linie Verwandten oder zwischen Blutsgeschwistern. 208   §  173 StGB sanktioniert den (vaginalen) Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten in aufbzw. absteigender Linie sowie zwischen blutsverwandten Geschwistern; straf bar sind jedoch nur Erwachsene. Die Vorschrift ist Teil des Abschnittes zu Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie; Kindesmissbrauch, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind im folgenden Abschnitt zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung enthalten. 209   BVerfGE 120, 224, Rn.  4 4–49 – Geschwisterinzest (2008), abw. Meinung Hassemer. Bestätigt in EGMR, Stübing/Deutschland, Urt. v. 12.04.2012, Nr.  43547/08, NJW 2013, 215: weiter Beurteilungsspielraum beim Schutz der Moral, kein Konsens zu sensibler Frage. S. aber Deutscher Ethikrat, Inzestverbot. Stellungnahme, 2014, 40, demzufolge konsensueller Inzest regelmäßig Folge, nicht Ursache zerbrochener Familien ist. 210   Die Geschwister kamen aus sehr schwierigen Familienverhältnissen und wuchsen getrennt auf, der Bruder wusste nichts von seiner Schwester. Sie trafen sich als er 24, sie 16 Jahre alt waren, und zeugten vier gemeinsame Kinder. Das Fachgericht stellte fest, dass die Schwester leicht geistig behindert und von ihrem Bruder in hohem Maße abhängig war, der wegen häuslicher Gewalt gegen sie strafrechtlich verurteilt wurde; vgl. BVerfGE 120, 224. 211   Deutscher Ethikrat (Fn.  209), 10–13.

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und keine Familienstruktur bedrohen? Im US-amerikanischen Recht kann nach Lawr­ence im Bereich der Intimität ein Verbot nicht auf bloße moralische Verachtung gestützt werden; 212 hinsichtlich der Autonomie­wahrung jedoch stellt sich wiederum die Frage des hinreichend engen Zuschnitts.213 Wie bei der gleichgeschlechtlichen Ehe müsste in beiden Fällen eine moralische Abscheu dem Schutz von Autonomie und Privatsphäre weichen. Doch sind sowohl Polygamie als auch Inzest klar von der gleichgeschlechtlichen Ehe unterscheidbar. Zum einen belasten die Verbote keine geschützte Gruppe und sind nicht Teil einer gesellschaftlichen Diskriminierungsstruktur.214 Zum anderen gibt es in beiden Fällen Anlass, Zwang, Diskriminierung und Missbrauch zu befürchten, wenn auch nicht zwingend in allen Fällen. Die Frage wird daher sein, ob die Verbote eng genug ­zugeschnitten sind um unproblematische Fälle auszunehmen, ohne ineffektiv zu werden. Die angeführten Beispiele deuten darauf hin, dass Generalverbote wohl unverhältnismäßig sind, doch die „slippery slope“ ist weit weniger rutschig als Chief Justice Roberts meint.

V.  Wohin die Reise geht: Strategien der Selbst-Marginalisierung und Desintegration Ich habe argumentiert, dass das Erfordernis rationaler Gründe und empirischer Beweise statt metaphysischer Gründe und Intuition bedeutet, die Ehe entweder sofort zu öffnen oder eine fallweise Annäherung zu erlauben. Es scheint aber, dass zumindest in den USA die Zeichen nicht nur auf Integration stehen, sondern auch auf Desintegration. In Obergefell argumentierten die abweichenden Richter, in einem demokratischen Prozess hätten für die religiöse Opposition Ausnahme- und Anpassungsklauseln gefunden werden können. Stattdessen, so Alito, werde Obergefell dazu dienen, „to vilify Americans who are unwilling to assent to the new orthodoxy“; sie könnten ihre Gedanken noch in den Nischen ihrer Häuser flüstern, doch wenn sie diese Ansichten in der Öffentlichkeit äußerten, riskierten sie, als Eiferer gelabelt und behandelt zu werden, durch Regierungen, Arbeitgeber und Schulen.215 Chief Justice Roberts beklagte das Ausmaß, in dem die Mehrheit sich veranlasst gesehen habe, die Gegen­seite zu „besudeln“ mit dem Vorwurf, sie würde gleichgeschlechtliche Paare erniedrigen, stigmatisieren, geringschätzen, unterwerfen und in ihrer Würde verletzen.216 Es ist atemberaubend, wie sehr Alitos Formulierungen an den von Kennedy umschriebe212   Lawrence v Texas, 539 U.S.  558, 578–79, zustimmendes Zitat aus der abw. Meinung von Stevens J., in Bowers v Hardwick. 213   Vgl. etwa die Kritik an §  173 StGB, die sich auch auf §  1307 BGB übertragen ließe: Tatjana Hörnle, Das Verbot des Geschwisterinzests – Verfassungsgerichtliche Bestätigung und verfassungsrechtliche Kritik, NJW 2008, 2085; John Philipp Thurn, Eugenik und Moralschutz durch Strafrecht? Verfassungsrechtliche Anmerkungen zur Inzestverbotsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Kritische Justiz 2009, 74; Ali Al-Zand/Jan Siebenhüner, §  173 StGB – Eine kritische Betrachtung des strafrechtlichen Inzestverbots, KritV 2006, 68; Deutscher Ethikrat (Fn.  209), 72–74. 214   Tribe (Fn.  43), 1944. 215   Obergefell v Hodges, slip op., Alito J., diss., 6–7. 216   Ebd., Roberts CJ., diss. 28–29.

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nen closet erinnern, das metaphorische Versteck der heimlichen Schwulen und Lesben: „A truthful declaration by same-sex couples of what was in their hearts had to remain unspoken.“217 Alito macht sehr klar, wen er als die neue Minderheit sieht: „By imposing its own views on the entire country, the majority facilitates the marginalization of the many Americans who have traditional ideas.“218 Sie seien es, stimmt Roberts zu, die nun stigmatisiert und geächtet würden, indem die negativen Auswirkungen der von ihnen propagierten Diskriminierung benannt werden – eine Strategie der Selbstmarginalisierung, die auch in Deutschland Anhänger hat.219 Die religiösen Konservativen suchen bereits Ausnahmen von öffentlichen Regelun­ gen, verweigern Individuen den gleichen Zugang zu öffentlich geregelten Leistungen oder zivilen Einrichtungen, einschließlich der gleichgeschlechtlichen Ehe.220 Der Supreme Court hat bereits einem Arbeitgeber erlaubt, seinen Angestellten den versicherungsfinanzierten Zugang zur Pille zu verweigern,221 statt ihn als Treuhänder ihrer Gesundheitsrechte zu verstehen.222 Den Fall eines Hochzeitsphotographen, der die Teilnahme an einer gleichgeschlechtlichen Paarzeremonie verweigert hatte, hat er nicht zur Entscheidung angenommen; 223 doch wird er sich hoffentlich in der Zukunft an Kennedys Worte erinnern: „Many who deem same-sex marriage to be wrong reach that conclusion based on decent and honorable religious or philosophical premises, and neither they nor their beliefs are disparaged here. But when that sincere, personal opposition becomes enacted law and public policy, the necessary consequence is to put the imprimatur of the State itself on an exclusion that soon demeans or stigmatizes those whose own liberty is then denied.“224

  Obergefell v Hodges, slip op., 7.   Ebd., Alito J., diss., 7. 219   Christian Hillgruber, Wo bleibt die Freiheit der anderen? Es ist jedem freigestellt, wie er Homo­sexu­ alität bewertet. Ein Plädoyer für den Schutz einer neuen Minderheit, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.02.2014, abruf bar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/homosexualitaetschutz-und-freiheit-einer-neuen-minderheit-12812195.html; Matthias Matussek, Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so, Die Welt v. 12.02.2014. Krit. Diskussion in Anna Katharina Mangold, Die verfolgte Unschuld vom Lande oder: Warum es keines „Grundrechts auf Diskriminierung“ bedarf, Verf Blog v. 22.02.2014, abruf bar unter: http://www.verfassungsblog.de/verfolgte-unschuld-vom-landeoder-warum-es-keines-grundrechts-auf-diskriminierung-bedarf/. S.a. Ute Sacksofsky, Das Märchen vom Untergang der Ehe, Merkur 68 (2014), 143, 145. 220  Kentucky Clerk Defies Court on Marriage Licenses for Gay Couples, New York Times v. 13.08.2015. 221   Burwell v Hobby Lobby, 573 U.S. _ (2014): Religious Freedom Restoration Act. 222   Margaux J. Hall, A Fiduciary Theory of Health Entitlements, 35 Cardozo Law Review 1729 (2014). 223   Elane Photography, LLC v. Willock, nicht zur Entscheidung angenommen am 07.04.2014. 224   Obergefell v Hodges, slip op., 19. 217

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II. Asien

Die Rolle von Verfassungsrecht – bei Rawls, Habermas und in Japan* von

Prof. Dr. Toru Mori, Universität Kyoto Inhalt I. Verfassungsverständnis und die Offenheit der Verfassung zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 2. Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 II. Das statische Verfassungskonzept von John Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 1. Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 2. Constitutional Essentials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 3. Verfassung als solide Basis der legitimen Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 4. Kann eine Verfassung so sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 III. Die prozeduralistische und projekthafte Verfassung von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 1. Gleichursprünglichkeit von politischer und privater Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 2. Verfassung als Garant der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 3. Verfassung auch als Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 4. Darf die Verfassung so sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 IV. Substantielle und prozedurale Verfassungsverständnisse in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 1. Verfassung als Ausdruck des Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 2. Verfassung als Garant des offenen demokratischen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 3. Neuere Tendenzen in den Entscheidungen des OGH: Die Stärkung politischer Rechte . . . . . . . 810 4. Neuere Tendenzen in den Entscheidungen des OGH: Die Achtung der Würde der Einzelperson und die Überzeugung des Volkes davon . . . . . . . . . . 811 V. Zusammenfassende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812

*   Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung meines Referats beim „1. Deutsch-Japanischen Verfassungsgespräch: Verfassungsentwicklung – Auslegung, Wandlung und Änderung der Verfassung“ am 14.–15.9.2015 an der Keio Universität in Tokio. Uwe Volkmann hat zu meinem Referat einen lehrreichen und anregenden Kommentar gegeben, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich danke auch den Organisatoren des Symposiums, Matthias Jestaedt, Ralf Poscher, Hidemi Suzuki und Go Koyama, für die Einladung zu dieser Tagung. Ein Tagungsband mit einer erweiterten Fassung dieses Beitrags ist in Vorbereitung.

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I. Verfassungsverständnis und die Offenheit der Verfassung zur Wirklichkeit 1. Einführung Das Recht regelt als Norm die Wirklichkeit. Dazu muss die Rechtsnorm von der Tatsache unabhängig sein. In der realen Welt aber kann sich die normative Kraft des Rechts dem Einfluss von Wandlungen der tatsächlichen Umwelt nicht entziehen. Um seinen Gegenstand gut zu regeln, muss das Recht auf dessen Veränderungen reagieren. Der Gesetzgeber soll die Gesetze stets der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen. Wie sich die Interpretation des Rechts zum Wandel der Realität verhalten soll, stellt eines der wichtigsten Probleme der juristischen Methodenlehre dar. Besonderer Untersuchung bedarf allerdings die Frage, ob und inwiefern diese allgemeine Darstellung auf die Verfassung zutrifft. Das Verfassungsrecht steht an der Spitze des Systems des positiven Rechts. Als Grundlage der Geltung aller übrigen Rechtsnormen sollten seine Norminhalte vielleicht eher stabil bleiben. Man könnte sagen, dass gerade die Verfassung gegen die Veränderungen der Wirklichkeit widerstandsfähig sein sollte, um die Normativität des Rechts zu bewahren. Andererseits gibt es jedoch die Meinung, dass gerade die Verfassung oder zumindest die Aus­ legung der Verfassung für die tatsächliche Umwelt offen bleiben sollte. Das hängt davon ab, wie die Rolle des Verfassungsrechts im Rechtssystem bestimmt wird.

2.  Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung Die Eigenart der Verfassung im Sinne des modernen Verfassungsstaats ist exemplarisch ausgedrückt in Art.  16 der französischen Menschenrechtserklärung 1789, „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewalten­ teilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung“. Nach Horst Dreier gewinnt hier der „konstruktiv-analytische Individualismus des rationalen Naturrechts“ „staatskonstitu­ tive Funktion“.1 Wir brauchen die Verfassung, um die staatliche Herrschaft um der Freiheit des Einzelnen willen zu disziplinieren. Gleichzeitig begründet und legitimiert aber die Verfassung die staatliche Herrschaft selbst als „von gleichberechtigten Einzelnen ausgehendes … Herrschaftssystem“. Das Volk hat keine verschiedenen Stände, sondern besteht aus gleichen und freien Individuen. Es ist als solches der Souverän im Staat. Nach Hasso Hofmann suggeriert der Begriff der Verfassung „die ursprüngliche Koinzidenz von individueller und kollektiver Selbstbestimmung“.2 Die modernen Verfassungen könnten danach klassifiziert werden, auf welche Form der Selbstbestimmung sie das größere Gewicht legen: Verschiedene Grundrechte als substantielle Rechtsgüter zu schützen oder den demokratischen Prozess durch politische Teilhaberechte offenzuhalten.   Horst Dreier, Verfassung, in: ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, 2014, S.  3, 5–7. Die Übersetzung der französischen Menschenrechtserklärung im Text ist diejenige von Dreier. 2   Hasso Hofmann, Zu Entstehung, Entwicklung und Krise des Verfassungsbegriffs, in: Verfassung im Diskurs der Welt – Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S.  157, 159 f. 1

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Mit Blick auf die Diskussion über die Europäische Verfassung hat Christoph Möllers im historischen Ländervergleich zwei Verfassungstypen unterschieden. Die französisch-amerikanische Tradition zeigt den herrschaftsbegründenden Typ, der revolu­ tionär eine neue Ordnung mit der neuen Idee der individuellen Freiheit begründet. Dieser Verfassungstyp legt auf die demokratische Teilhabe der Individuen großen Wert. England und Deutschland haben demgegenüber eine Verfassungstradition, welche die bestehende Herrschaft rechtlich begrenzt. Sie hat „keine verfassungseigene Demokratietheorie“, stattdessen spielt der gerichtliche Rechtsschutz eine wichtigere Rolle.3 Diese Typisierung weist zwar Bezüge zu meinem Erkenntnisinteresse auf. Sie entspricht aber nicht genau der Aufgabe, die heute überzeugenden Alternativen des ­Inhalts einer modernen Verfassung herauszustellen.4 Zunächst gibt es in den Ver­ fassungstraditionen Frankreichs und der USA große Unterschiede, wie etwa die ­Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt. Vor allem aber können wir in der Gegenwart keine Legitimation politischer Herrschaft außerhalb der Verfassung anerkennen. Auch die Grundrechte in der Verfassung müssen auf die moderne Idee der individuellen Menschenrechte gestützt werden. Die englische und deutsche Tradi­ tion im oben erwähnten beschränkten Sinn ist deshalb keine überzeugende Option für unser Verfassungsverständnis.5 Deutschland ist schon mit der Weimarer Verfassung vom „deutschen“ Typ abgewichen, wenngleich der Respekt vor Gerichten in Deutschland eine Spur dieser Tradition sein dürfte. Wir müssen also voraussetzen, dass die Verfassung die Herrschaft zugleich begründet und begrenzt. In diesem Aufsatz möchte ich zwei Typen der Verfassung unterscheiden: (1) ein liberales Verständnis, das den Schutz der Freiheit des Einzelnen betont und das ich im politischen Liberalismus von John Rawls repräsentiert sehe, sowie (2) ein Verständnis, das auf den demokratischen Meinungs- und Willens­ bildungsprozess aufmerksam macht und das ich am Beispiel der Theorie des demokratischen Rechtsstaats von Jürgen Habermas erläutern werde. Rawls und Habermas schreiben in ihrer Rechts- und politischen Philosophie der Verfassung bestimmte Aufgaben zu. Welche Implikation haben sie für unser Thema, also für die Rolle der Verfassung im Spannungsverhältnis mit der Realität? Wie Habermas in der Debatte mit Rawls bemerkte, bleiben zwar die Unterschiede zwischen beiden „in den engen Grenzen eines Familienstreits“.6 Der Rahmen der möglichen Inhalte der Verfassung hat sich ohnehin verengt, was wir als glückliches Ergebnis der Evolution des Rechts 3   Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. Bogdandy und J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2.Aufl. 2009, S.  227, 229–238. Vgl. zur Trennung herrschaftsbegrenzender und -begründender Verfassungen auch Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, 1988, S.  36–42; Oliver Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates? Von der Staatstheorie zur Theorie der Herrschaftsformen, EuGRZ 2004, S.  370, 375–380. 4   Möllers vergisst nicht zu bemerken, dass die zwei Typen „in keinem systematischen Widerspruch zueinander“ stehen und dass die reale Verfassungen der europäischen Länder stets beide Tradition enthalten. Überdies können „Rechtsform und demokratische Rechtserzeugung sich wechselseitig verstärken“, ebd. 238 f. 5  Vgl. Uwe Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, 2013, S.  18. 6   Jürgen Habermas, Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, 1996, S.  65 f.

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hinnehmen sollten. Ich erwarte trotzdem einige nützliche Ergebnisse aus dem Vergleich der beiden berühmten Denker. Auf dieser Grundlage sollen dann die Verfassungsverständnisse in Japan analysiert werden. Hier können wir sowohl in der Verfassungslehre als auch in den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (OGH) beide Momente finden. Ich werde über neue Tendenzen in der Rechtsprechung berichten und Vermutungen über ihre Implikationen für die Offenheit der Verfassungsinterpretation für den Wirklichkeitswandel anstellen.

II.  Das statische Verfassungskonzept von John Rawls 1. Grundfreiheiten John Rawls leitet aus dem Gedankenexperiment des Urzustands (original position) zwei Prinzipien der Gerechtigkeit ab. Die letztendlich in dem Buch Political Liberalism formulierte Version lautet: „(a) Each person has an equal right to a fully adequate scheme of equal basic liberties which is compatible with a similar scheme of liberties for all. (b) Social and economic inequalities are to satisfy two conditions. First, they must be attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality of opportunity; and second, they must be to the greatest benefit of the least advantaged members of society.“7

Die beiden Prinzipien werden einander nach der lexical order zugeordnet, d.h. das Erfordernis der Erfüllung des ersten Prinzips hat absoluten Vorrang vor dem zweiten.8 Ich untersuche hier nicht die Angemessenheit dieser Prinzipien als Gerechtigkeitskriterien. Vielmehr interessiere ich mich für die Elemente der Grundfreiheiten (basic liberties), die nach dem ersten Prinzip für alle garantiert werden sollen, und dafür, wie die Prinzipien der Gerechtigkeit rechtlich institutionalisiert werden sollen. Merkwürdigerweise begründet Rawls in A Theory of Justice den ersten Punkt nicht systematisch,9 obwohl er die Bedeutung einiger wichtiger Freiheitsrechte ausführlich darstellt.10 Um auf solche Kritik zu reagieren, beruft er sich in Political Liberalism auf zwei moralische Kräfte (two moral powers) der Person, nämlich einerseits auf die Fähig­ keit zu einem Gerechtigkeitssinn und andererseits auf die Fähigkeit zu einer eigenen Konzeption des Guten. Rawls setzt also ein Konzept der Person voraus, das beinhaltet, sich die Bedingungen des gerechten Zusammenlebens überlegen und eine eigene Konzeption des guten Lebens entwickeln zu können.11 Der ersten Kraft entsprechen   John Rawls, Political Liberalism, paperback ed. 1996, S.  291 (unten bezeichnet als PL). Ich habe die deutsche Ausgabe „Politischer Liberalismus“ (übersetzt von Wilfried Hinsch, 1998) verglichen, folge ihr aber nicht immer. 8   John Rawls, A Theory of Justice, 1971, revised ed. 1999, S.  37–39, 220 (unten bezeichnet als TJ). Ich habe die deutsche Ausgabe „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (übersetzt von Hermann Vetter, 1975) verglichen, folge ihr aber nicht immer. 9   Vgl. ebd., S.  54 für die Liste der Grundfreiheiten ohne Begründung. 10   Ebd., S.  180 ff. 11   Rawls, PL, S.  310 ff. 7

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„some form of representative democratic regime and the requisite protections for the freedom of political speech and press, freedom of assembly, and the like“. Die zweite Kraft sichert die Gewissens- und die Vereinigungsfreiheit. Als diese Freiheiten unterstützende Rechte führt Rawls auch die Integrität der Person und die „rule of law“ (hauptsächlich den Schutz des fairen Gerichtsverfahrens) ein.12 Außerdem erkennt er das Recht auf persönliches Eigentum als materielle Basis für die Ausübung der beiden moralischen Kräfte an, obwohl er das Eigentumsrecht an Produktionsmitteln als Grundfreiheit klar verweigert.13 Das erste Prinzip der Gerechtigkeit enthält also die meisten klassischen Freiheiten, aber auch nur solche.

2.  Constitutional Essentials Der Vorrang des ersten Prinzips spiegelt sich bei der rechtlichen Institutionalisierung der beiden Prinzipien der Gerechtigkeit darin wider, dass es in der Verfassung konkretisiert werden muss, um die gerechte politische Ordnung zu stabilisieren. Dagegen soll das zweite Prinzip, das hauptsächlich die Wirtschafts- und Sozialpolitik betrifft, auf der Ebene der Gesetzgebung realisiert werden.14 Diese klare Rollenverteilung zwischen Verfassung und einfachem Gesetz wird allerdings in Political Liberalism mit dem neuen Begriff der constitutional essentials etwas verwischt. Nach Rawls erschöpfen sich die constitutional essentials, d.h. die wesent­ lichen und notwendigen Elemente einer Verfassung, nicht in der rechtlichen Institutionalisierung des ersten Prinzips. Außer den Grundfreiheiten gehören die Frei­ zügigkeit und die freie Berufswahl sowie „a social minimum providing for the basic needs of all citizens“ zu den constitutional essentials. Sie müssen also in der Verfassung garantiert werden.15 Die Verfassung muss danach mindestens ein soziales Grundrecht auf Sicherung des Existenzminimums beinhalten. Ich vermute, dass diese Erweiterung der Rolle der Verfassung durch Rawls’ Perspektivwechsel von der Gerechtigkeit als solcher zur Frage der Legitimität der politischen Herrschaft verursacht ist. Zunächst lag sein Interesse daran, wie die Gerechtigkeitsprinzipien rechtlich institutionalisiert werden sollen. In Political Liberalism behandelt er jedoch davon unabhängig das Problem, unter welchen Bedingungen die Ausübung der staatlichen Zwangsmacht gerechtfertigt ist. Er sagt, „(O)ur exercise of political power is fully proper only when it is exercised in accordance with a constitution the essentials of which all citizens as free and equal may reasonably be expected to endorse in the light of principles and ideals acceptable to their common human reason. This is the liberal principle of legitimacy.“16   Ebd., S.  334 f. Beachtenswert ist die Zuordnung der Vereinigungsfreiheit zur zweiten Kategorie. Vielleicht denkt Rawls mit diesem Begriff religiöse und weltanschauliche Gesellschaften. 13   Ebd., S.  298, 338 f. 14   Rawls, TJ, S.  174 f. 15   Rawls, PL, S.  228 f. Alexy wundert sich über die Diskrepanz zwischen den Grundfreiheiten und constitutional essentials und fordert eine Erweiterung der Inhalte des ersten Prinzips selbst. Robert Alexy, John Rawls’ Theorie der Grundfreiheiten, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg und Wilfried Hinsch (Hrsg.), Zur Idee des politischen Liberalismus, 1997, S.  263, 302 f.(Anm.  158). 16   Rawls, PL, S.  137. Noch in Political Liberalism bleibt die Darstellungsweise in A Theory of Justice, 12

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Die Gesetze, die das zweite Prinzip der Gerechtigkeit nicht erfüllen und deswegen nicht gerecht sind, sind trotzdem legitim anwendbar, wenn sie verfassungsgemäß sind und die Verfassung die notwendigen essentials enthält.17 Rawls denkt jedoch, dass dazu das erste Prinzip der Gerechtigkeit nicht ausreicht und die notwendigen Inhalte der Verfassung ergänzt werden müssen. Er erwartet auch, dass diese inhaltliche Anreicherung der Verfassung aus Legitimitätsgründen von allen akzeptiert wird. Andererseits verzichtet er auf eine noch größere Erweiterung, weil sich auch vernünftige Personen fast nie darüber einigen können, ob im Bereich der Wirtschaftsund Sozialpolitik die Anforderungen der Gerechtigkeit erfüllt sind. Die unlösbaren Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit würden eher zu einem Legitimitäts­ verlust führen.18 Die inhaltliche Beschränkung der constitutional essentials schließt letztlich andere normative Ansprüche von der Verfassungsebene aus.

3.  Verfassung als solide Basis der legitimen Herrschaft Gegen die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie wird oft auf ihr „Demokratiedefizit“ hingewiesen. Rawls verteidigt zwar den demokratischen Prozess als ein Element des ersten Prinzips. Er stellt ihn jedoch als Instrument für die Verwirklichung der Gerechtigkeit vor. Rawls lässt keinen Zweifel daran, dass die Gesetzgebung eigentlich seinen Gerechtigkeitsprinzipien folgen müsste. Die konstitutionelle Demokratie sei „one of imperfect procedural justice“, d.h. sie sei gerechtfertigt, weil sie nicht immer, aber meistens die von ihr unabhängig definierten Kriterien erfülle.19 Der Wert der Demokratie als solcher erscheint hier vernachlässigt. Habermas sagt, „Die Art von politischer Autonomie, der im Urzustand, also auf der ersten Stufe der Theoriebildung ein virtuelles Leben beschieden ist, kann sich im Herzen der rechtlich konstituierten Gesellschaft nicht verstetigen. … So nimmt die Theorie den Bürgern zu viele von jenen Einsichten ab, die sie sich doch in jeder Generation von neuem zu eigen machen müßten“.20 Gerade in diesem Sinne können wir Rawls einen Liberalisten nennen. Er legt Wert auf die Begrenzung der Staatsgewalt. Nach ihm liegt die Aufgabe der Verfassung hauptsächlich darin, mit der inhaltlichen Beschränkung der Staatsgewalt deren Legitimität zu sichern.21 Dazu erstrebt er einen möglichst weiten Konsens sowohl über die normativen Anforderungen der Verfassung als auch über die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Handelns. Die Verfassung soll als solide Basis wenn Rawls aus dem Gesichtspunkt der rechtlichen Institutionalisierung der Gerechtigkeit die Rolle der Verfassung erzählt, siehe dort S.  336–339. 17   Genau gesagt, müssen auch die grundlegende Gerechtigkeitsfrage betreffenden Gesetze selbst mit public reason gerechtfertigt werden, Rawls, PL, S.  137 f. 18   Ebd., S.  229 f. Vgl. Frank I. Michelman, Rawls on Constitutionalism and Constitutional Law, in: Samuel Freeman (ed.), The Cambridge Companion to Rawls, 2004, 394, 403–407; Lawrence G. Sager, The Why of Constitutional Essentials, 72 Fordham L.Rev. 1421, 1430–32 (2004). 19   Rawls, TJ, S.  173 f. 20   Habermas (Anm.  6 ), S.  89. Vgl. auch Jeremy Waldron, Dignity of Legislation, 1999, S.  70–73; Hauke Brunkhorst, Rawls and Habermas, in: R. von Schomberg and K. Baynes (eds.), Discourse and Democracy, 2002, S.  153, 155–158; Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität, 2011, S.  178–186. 21  Vgl. Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 1994, S.  156 f.

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einer legitimen Herrschaft funktionieren. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen wir immer wieder eine Vielzahl neuer Informationen verarbeiten und können uns über ihre Implikationen für die Gerechtigkeit nicht einigen. Nach Rawls ist das der Grund der Disqualifikation wirtschafts- und sozialrechtlicher Regelungen als Verfassungsinhalte. Rawls räumt zwar auch das Recht auf Gewährleistung des Existenzminimums als Element der constitutional essentials ein. Er setzt jedoch voraus, dass der Eingriff in dieses Recht leicht identifizierbar ist.22 Wenn er außerdem gleiche Grundfreiheiten für alle fordert, meint er eine nicht nur formell, sondern auch materiell gleiche Verteilung der Rechte. Die Möglichkeit ihrer Wahrnehmung soll also für alle fair und gleichwertig gewährleistet werden. Dazu soll auch ein unverhältnismäßig großer ­politischer Einfluss wirtschaftlich starker Finanzkräfte durch eine Reihe von Maßnahmen verhindert werden.23 Man kann bezweifeln, ob die Frage der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen klar zu entscheiden ist. Rawls selbst mag dies nicht schwierig erscheinen, wenn wir mit dem Gerechtigkeitssinn die Wirklichkeit beurteilen.24

4.  Kann eine Verfassung so sein? Man kann die Verfassung in der Vorstellung von Rawls als resistent gegen Veränderungen der Wirklichkeit charakterisieren. Die Rawlssche Verfassung scheut die Diskussionen über sich selbst.25 Wenn die Verfassung mit der inhaltlichen Begrenzung der Staatsgewalt ihre Funktion erfüllen soll, muss ihr Gehalt stabil erhalten bleiben. Ich befürchte aber, wie schon angedeutet, dass diese Hoffnung der Klarheit und Stabilität in der Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit illusionär ist. Wir wissen, dass sich selbst bei der Anwendung der liberalen Grundrechte auch zwischen prominenten Juristen die Meinungen sehr oft scharf scheiden. Diese Wirklichkeit zeigt jedoch zugleich, dass die Legitimität der Verfassung und der verfassungsmäßig entstandenen Gesetze auch dann nicht so schwer erschüttert wird, wenn es über die Bedeutung der konkreten Sätze in der Verfassung heftige Debatten gibt. Wenn wir zumindest grundsätzlich über den Inhalt der modernen Verfassung übereinstimmen, erweist sich die starke Forderung Rawls’ nach der Konsensfähigkeit der Verfassung als übertrieben. Wenn die Verfassung als Gewährleistung der substantiellen Prinzipien verstanden wird, gerät ihre Umsetzung meines Erachtens immer mit den Bedingungen der   John Rawls, Justice as Fairness: A Restatement, 2001, S.  162.   Rawls, TJ, S.  197–199; PL, S.  324–331. 24   Michelman vertritt einerseits die Möglichkeit einer solchen Erklärung für den Einschluss der Ansprüche des Existenzminimums und des fairen Werts der Freiheiten in constitutional essentials (Anm.  18, S.  4 06 f.), trotzdem vermutet er andererseits, dass dieses Urteil von Rawls aus der Abwägung zwischen ihrer Unbestimmtheit und ihrer dringenden Notwendigkeit für die Legitimität der Herrschaft folgt. Frank I. Michelman, Justice as Fairness, Legitimacy, and the Question of Judicial Review, 72 Fordham L.Rev. 1407, 1418 (2004). 25   Rawls erkennt natürlich die politischen Tätigkeiten der Bürger für Verfassungsänderung an. Er betont allerdings zugleich die Bedeutung der bestehenden ihre Freiheit schützenden Verfassung für ihre politische Autonomie. Rawls, PL, S.  4 01 f. 22

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Wirklichkeit in Konflikt. Außerdem deutet die eher willkürliche Wahl der Elemente der constitutional essentials darauf hin, dass es keinen klaren und stabilen Maßstab dafür gibt, welche normativen Mindestinhalte die Legitimität politischer Herrschaft gewährleisten können. Die Verfassung müsste dann aber stärker von den Überzeugungen der Bürger abhängen und sich für deren Wandlungen öffnen. Rawls versucht zwar mit der Begrenzung der Verfassungsinhalte gerade diese Konsequenz zu vermeiden. Allerdings ist fragwürdig, ob das gelingt und ob das notwendig ist. Wir können Diskussionen über die Bedeutung der Verfassung in ziemlich weitem Umfang ertragen.

III.  Die prozeduralistische und projekthafte Verfassung von Jürgen Habermas 1.  Gleichursprünglichkeit von politischer und privater Autonomie Jürgen Habermas erläutert die Grundstruktur des demokratischen Rechtsstaats mit der „Verschränkung von Diskursprinzip und Rechtsform“.26 Eine der Hauptthesen seiner Theorie ist „die Gleichursprünglichkeit von politischer und privater Autonomie“.27 Die Freiheit der Selbstbestimmung der Einzelnen und die demokratische Herrschaft seien im Rechtssystem auf einander angewiesen. Während Rawls aus den beiden moralischen Kräften der Person jeweils getrennt entsprechende Grundfreiheiten ableitet, verbindet Habermas die zwei Ansprüche moderner Rechtsgenossen und vermeidet damit, wie ich im Folgenden darstelle, eine eigene Auflistung von Grundrechten. Wenn die Bürger ihr Zusammenleben mit den Mitteln des positiven Rechts legitim regeln wollen, sollte das Rechtssystem subjektive Rechte der Einzelnen enthalten, die sie sich gegenseitig einräumen müssen. Was diese Rechte konkret bedeuten, können allerding nur die Einzelnen in einem rechtlich institutionalisierten demokratischen Willensbildungsprozess entscheiden. Dieser Prozess setzt seinerseits die subjektive Freiheit seiner Teilnehmer voraus, ohne die die Demokratie ihre Legitimität verlieren würde. Den Inhalt dieser Freiheit darf jedoch kein Theoretiker festsetzen. Die Bürger können nur Rechtssubjekte sein, wenn sie sich zugleich als Autoren ihrer Rechte verstehen mit „politischen Grundrechte(n) auf Teilnahme an den Meinungsund Willensbildungsprozessen des Gesetzgebers“.28 In diesem „Kreisprozeß“, mit dem nach Habermas „das Paradox der Entstehung von Legitimität aus Legalität auf(zu)lösen“ ist,29 genießt aber als positives Recht die Praxis der politischen Autonomie den Vorrang. Die Freiheitsrechte, die die Ein­ richtung des Rechtskodes notwendig impliziert, bleiben „bloße Rechtsprinzipien“.30 Habermas selbst sagt, „diese Rechte sind notwendige Bedingungen, die die Ausübung politischer Autonomie erst ermöglichen; als ermöglichende Bedingungen können sie   Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 4.Aufl. 1994, S.  154 (unten als FuG bezeichnet).   Ebd., S.  161. 28   Ebd., S.  151–160. 29   Ebd., S.  155, 157. Vgl. auch S.  492 f. 30   Maus (Anm.  20), S.  228. Vgl. Joshua Cohen, Reflections on Habermas on Democracy, 12 Ratio Juris 385, 393–395 (1999). 26 27

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die Souveränität des Gesetzgebers, obwohl sie diesem nicht zur Disposition stehen, nicht einschränken.“31 Außerdem versteht Habermas die private Autonomie wesentlich als „Ausstieg aus dem kommunikativen Handeln“ und „Verweigerung illokutionärer Verpflichtungen“.32 Natürlich braucht jeder diese Freiheit, jedoch ist sie von Anfang an in einer defensiven Position gegenüber der politischen Autonomie. Die kommunikative Freiheit als solche muss als ihre negative Seite die Möglichkeit des freien Austritts aus dem öffentlichen Bereich enthalten, um die Legitimität der demokra­ tischen Herrschaft zu erhalten. Könnte die private Autonomie dann nicht unter die politische subsumiert werden? 33

2.  Verfassung als Garant der Demokratie Welche Rolle wird in diesem theoretischen Rahmen der Verfassung zugeordnet? Sie muss „dem Diskursprinzip die rechtliche Gestalt eines Demokratieprinzips geben“ und dazu insbesondere „die kommunikative Freiheit eines jeden“ gewährleisten. Das gilt, obwohl die Grundrechte auf politische Teilhabe in den konkreten Verfassungen je nach den unterschiedlichen Umständen in verschiedenen Gestaltungen auftreten.34 Der Vorrang der politischen Autonomie auf der Ebene des positiven Rechts spiegelt sich darin wider, dass seine rechtliche Konkretisierung in der Verfassung gewähr­ leistet wird. Habermas wünscht allerdings auch die Konkretisierung der Rechtsprinzipien der subjektiven Freiheit in der Verfassung, die die Gestalt der „klassischen liberalen Grundrechte“ annehmen soll.35 Wir können aber keine theoretische Erklärung dafür finden, wie aus privater Autonomie diese Grundrechte abgeleitet werden sollen. Die liberalen Grundrechte sind als solche das Ergebnis einer historischen Praxis der Verfassunggebung, während die Garantie des demokratischen Prozesses einschließlich kommunikativer Freiheit das notwendige Element der Verfassung bildet. Habermas betont sogar, dass „die Staatsbürger in Wahrnehmung ihrer öffentlichen Autonomie die Grenzen der privaten Autonomie so ziehen (müssen), daß diese die Privatleute für ihre Rolle als Staatsbürger hinnehmend qualifiziert.“ „(G)egen die freiheitseinschränkenden Nebenfolgen faktischer Ungleichheiten“ sollen sozialstaatliche Maß-

  Habermas, FuG, S.  162.   Ebd., S.  152 f. Vgl. Klaus Günther, Diskurstheorie des Rechts oder liberales Naturrecht in diskurstheoretischem Gewand?, KJ 1994, S.  470, 474–476. 33   Günther betont ebd. trotzdem den „intrinsischen Wert“ privater Autonomie. Sicher fängt der „Kreisprozess“ erst an, wenn die Leute sich gegenseitig als Rechtsgenossen, also Subjekte der eigenen Rechte, anerkennen. Es ist aber fraglich, wieviel normatives Gewicht die private Autonomie im Sinne von Habermas im positiven Recht haben kann. Alexy weist darauf hin, dass in der Theorie von Habermas der Wert der privaten Autonomie als „an end in itself “ nicht genug in Betracht gezogen ist: Robert Alexy, Basic Rights and Democracy in Jürgen Habermas’s Procedural Paradigm of the Law, 7 Ratio Juris 227, 236 f. (1994). Vgl. auch Michael Becker, Verständigungsorientierte Kommunikation und rechtliche Ordnung, 2003, S.  144–147. 34   Habermas, FuG, S.  161 f. Habermas führt auch „Glaubens- Gewissens- und Bekenntnisfreiheiten“ als „politische Grundrechte“ an. 35   Ebd., S.  159 f. 31

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nahmen getroffen werden, die aber nicht paternalistisch, sondern durch politische Selbstbestimmung verabschiedet werden müssen.36 Demokratie bestimmt also mit ihrer herrschaftslegitimierenden Kraft die konkreten Rechte der Einzelnen. Im Zusammenhang mit der Kompetenz des Verfassungsgerichts stellt Habermas fest, dass die Verfassung nicht als „Rahmenordnung“ verstanden werden soll, die mit den liberalen Abwehrrechten „primär das Verhältnis des Staates zu den Bürgern reguliert“. Er schlägt ein „prozeduralistisches Verfassungsverständ­ nis“ vor, nach dem das Verfassungsgericht „die Inhalte strittiger Normen vor allem im Zusammenhang mit den Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahrens­ bedingungen des demokratischen Gesetzgebungsprozesses überprüfen“ muss.37 Die constitutional essentials à la Habermas werden also auf den Schutz des offenen demokratischen Prozesses begrenzt. Kenneth Baynes bedauert, dass Habermas’ Theorie der Gleichursprünglichkeit privater und politischer Autonomie zu abstrakt ist, um daraus Beiträge zu wirklichen Verfassungsdebatten, z.B. „the more specific scope and content of the right to privacy“, zu folgern.38 Habermas verzichtet jedoch bewusst darauf, eine solche Theorie mit substan­ tiellem Gehalt zu bilden, weil es die Aufgabe der Theoretiker überschreite.39 Rawls teilt diese Meinung natürlich nicht. Er moniert, die Bürger bräuchten in politischen Debatten „substantive guidelines“, um sich gerechten Ergebnissen anzunähern.40 Habermas nennt diese Stellungnahme „philosophischen Paternalismus“ und wählt demgegenüber den Standpunkt „(e)ine(r) praktische(n) Vernunft, die sich in Prozessen, nicht in Inhalten verkörpert“. „(F)ormale Eigenschaften von Prozessen“ würden die Beteiligten dazu nötigen, „den Gesichtspunkt unparteilicher Urteilsbildung einzunehmen“, und damit „autorisierende Kraft“ gewinnen.41 Die Geister scheiden sich je nachdem, ob man nicht nur in der idealen Sprachsituation, sondern auch in der wirklichen Welt glauben kann, dass durch diskursive Meinungs- und Willensbildung „Vernunft und Willen zusammenzuführen“ sind und dass „alle form- und verfahrensgerecht erzielten Ergebnisse die Vermutung der Legitimität für sich haben“.42 Habermas entwickelt ausführlich das Modell der deliberativen Demokratie, das diese Vermutung erfüllen kann. An der Überzeugungskraft seiner Argumente kann man allerdings nach wie vor zweifeln.43 Jedenfalls ordnet 36   Ebd., S.  503. Habermas unterstützt soziale Grundrechte ihrerseits nur als situationsbedingt erzeugte Rechte: Jürgen Habermas, Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Cardozo Law School, in: ders., Einbeziehung des Anderen, 1996, S.  309, 382–385. 37   Habermas, FuG, S.  319–321. Vgl. auch S.  215. Die konkrete Reichweite der Verfassungsgerichtbarkeit hängt doch von der jeweiligen Vorstellung der Demokratie ab. Vgl. Christopher F. Zurn, Deliberative Democracy and the Institutions of Judicial Review, 2007, 236–243. 38   Kenneth Baynes, Deliberative Democracy and the Limits of Liberalism, in: R. von Schomberg and K. Baynes (eds.), Discourse and Democracy, 2002, S.  15, 23. 39   Alexy bemerkt ganz korrekt diesen Punkt (Anm.  33, S.  237 f.). 40   Rawls, PL, S.  431. 41   Jürgen Habermas, „Vernünftig“ versus „wahr“, in: ders., Einbeziehung des Anderen, 1996, S.  95, 119 f. Vgl. auch Habermas, FuG, S.  492. Vgl. James Gledhill, Procedure in Substance and Substance in Procedure, in: J. G. Finlayson and F. Freyenhagen (eds.), Habermas and Rawls, 2011, S.  181; Toru Mori, Freedom in the Public Sphere and Democracy, Kyoto Journal of Law and Politics, 2005, vol.2(1), S.  55, 63–66. 42   Habermas, FuG, S.  134, 161. 43   Ich selbst halte seine Demokratietheorie für ziemlich überzeugend, obwohl sie der Verbesserung

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Habermas in der festen Überzeugung von diesen Prämissen der Verfassung den Schutz der demokratischen Meinungs- und Willensbildung zu.

3.  Verfassung auch als Projekt Wie offen ist dieses „prozeduralistische Verfassungsverständnis“ für Wandlungen der Wirklichkeit? Man könnte schließen, dass für eine solche substanzarme Norm nur wenig Bedürfnis nach Anpassung an reale Gegebenheiten besteht und dass sie vielmehr stabil bleiben soll, um die Legitimität der konkreten Ergebnisse der Politik nicht zu erschüttern. Habermas denkt trotzdem anders. Er betrachtet die Verfassung selbst als „ein Projekt, das nur im Modus einer fortgesetzten, auf allen Ebenen der Rechtsetzung kontinuierlich vorangetriebenen Verfassungsinterpretation Bestand haben kann“. Damit relativiert er die Bedeutung des Verfassungsgesetzes.44 Die Verfassunggebung legt den Inhalt der Verfassung nicht fest, sondern er ist von der Praxis der Interpretation abhängig. Ich vermute zwei Gründe für diese eigentümliche Charakterisierung der Verfassung bei Habermas, einen eher konkreten und einen theoretischen. Zuerst betont er insbesondere im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams die Projekthaftigkeit der Verfassung. Die Akteure zivilen Ungehorsams erkennen die Legitimität des Gegenstands ihres Widerstandes nicht an, auch wenn er in einem legalen Verfahren zustande kommt. Habermas will dieser politischen Betätigung weder die Legitimität noch die Legalität absprechen. Während die Staatsgewalt die Legitimität der Ergebnisse des demokratischen Prozesses akzeptieren müsse, dürften die Bürger sie in Frage stellen und „mit ungewöhnlichen Mitteln“ an die Öffentlichkeit appellieren. Er erstrebt die möglichst weitgehende Zulässigkeit der schwer vorhersehbaren Arten von Widerstand. Dazu ist aber ein statisches Verfassungsverständnis ungeeignet. Er stellt deswegen die Verfassung dar als ein Unternehmen, „das darauf angelegt ist, das System der Rechte unter wechselnden Umständen von neuem zu realisieren“. Der Umfang des Schutzes der politischen Grundrechte solle „performativ“ gestaltet werden.45 Auch Rawls geht auf das Thema des zivilen Ungehorsams ein und entfaltet ausführlich seine Erwägung, wie weit er gerechtfertigt ist. Sie erhebt den Anspruch auf allgemeine Geltung.46 Hier wird noch einmal der Kontrast zwischen beiden Theoreti­ kern deutlich: Habermas versucht die rechtlichen Möglichkeiten für politische Aktivisten zu eröffnen. Wie die Rechtslage tatsächlich gestaltet wird, wird nur performativ geklärt. Um diese Entwicklungen erfassen zu können, muss der Begriff der Verfassung großzügig genug bestimmt werden. Die Zulässigkeit des zivilen Ungehorsams ist auch deshalb theoretisch wichtig, weil in ihm ein spontanes Engagement der Bürger zum Ausdruck kommt. Dies ist für bedarf. Vgl. Toru Mori, Die staatliche Willensbildung in der differenzierten Gesellschaft, ARSP 86 (2000), S.  185, 195 ff. Vgl. auch Tiina Rättilä, Deliberation as Public Use of Reason, in: Michael Saward (ed.), Democratic Innovation, 2000, S.  4 0, 48–51. 44   Habermas, FuG, S.  163. 45   Ebd., S.  462–465. 46   Rawls, TJ. S.  319 f., 326 ff.

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den Legitimitätsgewinn durch Demokratie notwendig, darf aber um des Schutzes privater Autonomie willen nicht durch Recht erzwungen werden. Um das Paradox der Entstehung von Legitimität aus Legalität endlich aufzulösen, bedarf es einer politischen Kultur, die die Bürger an die Teilnahme an der Politik gewöhnt. Habermas scheint, dass sie nur lebendig erhalten werden kann, wenn die Bürger jeder Generation an Diskussionen über Verfassungsinterpretationen teilnehmen können. Mit der Idee der Verfassung als Projekt möchte er diese politische Kultur anregen.47 Anstelle der inhaltlichen verfassungsrechtlichen Begrenzungen ist er auf eine rechtlich nicht durchsetzbare Bedingung angewiesen, um die Legitimität der Herrschaft zu gewährleisten. Das führt ihn zu einem weichen Begriff der Verfassung, den alle Bürger mitgestalten können.

4.  Darf die Verfassung so sein? Diese Dynamisierung des Verfassungsbegriffs fordert jedoch ein großes Opfer. Tobias Lieber kritisiert, dass sich damit der institutionelle Rahmen der Demokratie ver­ flüssigt und dass „der infinite Regress einer Rechtfertigung von rechtsförmigen Verfahrensregeln“ entsteht. Dadurch geht die Diskrepanz zwischen Argumenten und Rechtsnormen, die sich, sofern sie gelten, eigentlich gegen bloß überzeugende Behauptungen durchsetzen sollen, verloren. Habermas vernachlässigt zugleich die Bedeutung des Unterschieds von Verfassung und einfachem Recht. Er übersieht schließlich den eigenen Sinn des Verfassungsrechts als stabile Verfahrensregel und kann zur Legitimität des Rechts nichts beitragen.48 Als Jurist neige ich zur Ansicht von Lieber. Demokratie mag zwar eine politische Kultur voraussetzen, aber es ist fraglich, ob dazu die Dynamisierung des Verfassungsbegriffs nötig ist. Politische Aktivisten bemühen sich meistens um bestimmte Ziele, sie betätigen sich nicht für die Gestaltung der Verfassung. Von dem grundsätzlich offenen politischen Prozess dürfen wir eine stetige Erneuerung der Kultur erwarten, und auch die Verfassung als Rechtsnorm soll in dieser Erwartung die Spannung mit der Realität ertragen. Das projekthafte Verständnis der Verfassung scheint vielmehr kontraproduktiv für die Erzeugung von Legitimität, wenn Legitima­t ion prozeduralistisch verstanden wird und doch die Prozessregeln immer in Frage gestellt werden. Politische Handlungsweisen, die die Legitimität von Staatsakten verneinen, sollten überdies nicht immer zulässig sein. Ohne Normativität kann die Verfassung nichts legitimieren. Die Grenzen der Freiheit müssen rechtlich bestimmt werden, auch wenn dabei der Sinn der kommunikativen Freiheit stets berücksichtigt werden muss. Ich meine, dass die Vorstellung der Verfassung als Schutz des demokratischen Prozesses nicht unbedingt zu einem projekthaften, ihre Normativität vernachlässigenden Verständnis passt. Sollen wir dann im Gegensatz dazu die Verfassung eher als schon 47   Habermas, FuG, S.  163–65. Habermas’ Behauptung des Verfassungspatriotismus bezieht sich gerade auf dasselbe Bedürfnis der politischen Kultur, S.  642. Die Ansicht Beckers, dass die Vernachlässigung des Verfassungsgesetzes dem Verfassungspatriotismus widerspreche (Anm.  33, S.  146 f.), teile ich nicht. 48   Tobias Lieber, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, 2007, S.  110–119. Habermas relativiert ausdrücklich den Unterschied zwischen Verfassung und einfachem Recht: Jürgen Habermas, Der demokratische Rechtsstaat, in: ders., Zeit der Übergänge, 2001, S.  133, 144.

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geschlossenes Projektergebnis betrachten? Die Spielregeln müssen zwar im Spiel stabil bleiben. Wir müssen aber auch beachten, dass das Spiel hier kein Sport, sondern Demokratie ist. Das Parlament braucht als Staatsorgan sicher klare Verfahrensregeln. In der „schwachen“ Öffentlichkeit spielen die Bürger jedoch ganz freiwillig und vielgestaltig.49 Da muss es keine starren Regeln geben, die Gewinner und Verlierer klar unterscheiden. Die Spontaneität der politischen Meinungsäußerungen soll vielmehr neben der Stabilität der Rechtsnormen respektiert werden. Wir sollten daher die Entwicklungsmöglichkeit der Verfassung nicht ablehnen, auch wenn das Habermassche Konzept der Verfassung als Projekt im Vergleich zur stabilen Verfassung bei Rawls eine Übertreibung in die entgegengesetzte Richtung darstellt. Wenn trotz heftiger Protestbewegungen der öffentliche Frieden nicht ernsthaft gestört wird, dürfte die Toleranz der Bürger gegenüber dem Protest wachsen. Langfristig wird dies vermutlich auch auf das Verständnis der Juristen von Demokratie und kommunikativen Freiheiten Einfluss haben. Erneuerungen könnten hier auch von Veränderungen der objektiven sozialen Bedingungen durch technische Innovationen ausgehen. Weil Habermas aber zugleich mit der Dynamisierung des Verfassungsbegriffs den Unterschied zwischen Verfassung und einfachem Recht relativiert, würde er sich nicht gegen jene Theorie der „Verfassung als Gerechtigkeitsordnung“ aussprechen.50 Anders als Rawls versucht Habermas nicht, die Praxis der inhaltlichen Anreicherung der Verfassung auf einem bestimmten Niveau zu stoppen.51

IV.  Substantielle und prozedurale Verfassungsverständnisse in Japan 1.  Verfassung als Ausdruck des Individualismus Wie stellt sich das Verfassungsverständnis in Japan dar? Interessanterweise sind hier beide theoretischen Alternativen vertreten worden, also sowohl das Verständnis der Verfassung als Versuch, die Staatsgewalt durch Grundrechte und Gewaltenteilung zu limitieren, als auch die Lesart der Verfassung als Gewährleistung des offenen politischen Prozesses mit Regeln der demokratischen Meinungs- und Willensbildung.

49   Habermas, FuG, 373 f. Die kommunikative Kombination von Parlament und „nicht-vermachteter“ Öffentlichkeit bildet eine Hauptthese der Habermasschen Theorie der deliberativen Demokratie. Vgl. Mori (Anm.  43), S.  195 ff. 50   Wie sie etwa Uwe Volkmann vertritt, vgl. oben Anm.  5, S.  41 ff. 51   Engländer behauptet, Habermas müsste, wenn konsequent durchgedacht würde, eigentlich die subjektiven Freiheitsrechte nur „auf ein notwendiges Minimum“ einräumen, weil sie bloß ein Zugeständnis der Diskurstheorie an die Wirklichkeit bedeuteten, vgl. Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S.  102–108. Engländer vernachlässigt jedoch den Sinn der individuellen Freiheit in der Rechtstheorie von Habermas. Die wechselseitige Anerkennung der Einzelnen als autonomer Rechtssubjekte ist danach der Ausgangspunkt der Bildung einer Rechtsgemeinschaft. Obwohl er die Freiheitsrechte als positives Recht sicher von demokratischem Prozess abhängig macht, nimmt Habermas außerdem zugleich die Entwicklungen der modernen Verfassungen, die gemeinsam bestimmte Freiheitsrechte garantieren, als etablierte Konkretisierung der Rechtsprinzipien an. Vgl. Anm.  35. Er überlässt genau nach seiner eigenen Theorie jeweiligen Verfassunggebern die Entscheidung über den Umfang der subjektiven liberalen Grundrechte, was zu keinem schlechten Ergebnis führt.

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Die japanische Verfassung enthält neben geistigen Freiheitrechten, wie der Rede(Art.  21) und der Religionsfreiheit (Art.  20), wirtschaftliche Freiheitsrechte wie das Recht der freien Berufswahl (Art.  22, Abs.  1) und die Eigentumsgarantie (Art.  29) sowie viele Justizgrundrechte, wie das absolute Folterverbot (Art.  36) und den Richtervorbehalt bei Festnahme und Durchsuchung (Art.  33, 35). Sie schützt also die meisten klassischen liberalen Grundrechte. Sie garantiert auch einige soziale Grundrechte wie das Recht auf das Existenzminimum (Art.  25, Abs.  1) und auf Erziehung (Art.  26). Außerdem wird Art.  13, Satz  1 „Jeder Bürger wird als Einzelperson geachtet.“52 im Allgemeinen als Ausdruck des wichtigsten Grundsatzes der Verfassung betrachtet. Diese Verfassung scheint individualistisch geprägt und, wie die Rawlssche Verfassung, auf die freie Entfaltung der Einzelpersonen hin geordnet. Nobuyoshi Ashibe (1923–1999), der als Professor an der Universität Tokio die Verfassungslehre in Japan lange entscheidend geprägt hat, erklärt den Schutz der Freiheit zur wichtigsten Funktion der modernen Verfassung. Die Staatsorganisation diene diesem Zwecke. Die verfassungsrechtlich festgelegten Grundrechte sollten sich aus dem Gedanken des Naturrechts ableiten. Ihr wesentlicher Wert liege in der Würde des Individuums. Die Hauptaufgabe der Verfassung sei es, um der Freiheit des Einzelnen willen die Staatsgewalt zu begrenzen. Er nennt diesen Gedanken, im Gegensatz zum formellen Begriff der Verfassung als des ranghöchsten Gesetzes, die Theorie der „substantiellen Verfassung“ und lässt sie als Grundlage der Verfassung von Japan gelten. Um seine Position zu stützen, beruft sich Ashibe auf die Renaissance des Naturrechts im Nachkriegsdeutschland. Dies verdeutlicht noch die Substan­t ialität seiner Theorie.53 Seine Lehre erscheint jedenfalls geeignet, die Gesamtstruktur der Verfassung zu erfassen.

2.  Verfassung als Garant des offenen demokratischen Prozesses Gerade Ashibe hat jedoch auch von den USA die Doktrin der so genannten double standards [Niju no Kijun] oder der prefered position of freedom of expression als Maßstab der gerichtlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit übernommen. Die Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg gibt den Gerichten nach dem amerikanischen Modell die Kompetenz zur inzidenten Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit aller Staats­ akte (Art.  81). Die frühen Entscheidungen vor allem des Obersten Gerichtshofs (OGH) bejahten jedoch meist nur unter einfacher Berufung auf die Erfordernisse des Gemeinwohls die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Gesetze und Verwaltungs­ akte. Der OGH räumte dem Gesetzgeber im Allgemeinen einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Die Juristen suchten deshalb eine theoretische Strategie, um sich der Großzügigkeit des OGH entgegenzustellen und Grundrechtsverletzungen begegnen zu können.

  Ich benutze hier die Übersetzung der Verfassung von Japan in U. Eisenhardt u.a. (Hrsg.), Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache, 1998, S.  533 ff. 53   Nobuyoshi Ashibe (fortgesetzt von Kazuyuki Takahashi), Kenpo (Verfassungsrecht), 6.  Aufl. 2015, S.  10 f.; ders., Kenpo-gaku I (Verfassungslehre I), 1992, S.  22–24, 46–50. 52

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Ashibe, der zu Beginn der 1960er Jahre an der Harvard Law School gearbeitet und in den USA den Warren Court erlebt hatte, erfüllte diese Aufgabe mit der oben genannten Doktrin. Danach soll die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, die geistige Freiheiten, vor allem die Redefreiheit, beschränken, strikter geprüft werden als diejenige gesetzlicher Eingriffe in wirtschaftliche Freiheitsrechte. Bei der Überprüfung jener Gesetze muss sorgfältig festgestellt werden, dass der Zweck des Eingriffs bedeutend genug ist und seine Mittel hinreichend begrenzt sind, um die Beschränkung der Freiheit zu rechtfertigen.54 Die double standards Doktrin hat sich unter japanischen Verfassungsrechtlern rasch verbreitet und Ashibe galt auch als Symbol der Amerikanisierung der Verfassungslehre in Japan.55 Ist die double standards Doktrin als Maßstab der Verfassungsinterpretation überzeugend? Ashibe führt hauptsächlich zwei Gründe an. Erstens sind die geistigen Freiheiten für die Erhaltung des demokratischen Prozesses notwendig. Wenn sie verletzt werden, wird der Verlauf der demokratischen Willensbildung selbst verzerrt. Man wird dann die Behebung der Rechtsverletzung durch die Politik kaum erwarten können. Die Gerichte müssen deswegen aktiv eingreifen und die ordnungsgemäße Funktion der Demokratie wiederherstellen. Zweitens sind die Gerichte bei sozialen und wirtschaftlichen Problemen zu einer eigenständigen Interessenabwägung nicht ausreichend befähigt. Sie sollen deshalb die Einschätzungen der politischen Organe respektieren, während es bei geistigen Freiheiten einer solchen Zurückhaltung nicht bedarf.56 Man ahnt schon, dass in dieser Begründung die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit in erster Linie in der Erhaltung des demokratischen Prozesses gesehen wird. Ashibe lehnt eine substantielle Wertehierarchie innerhalb der Grundrechte ab57 und erklärt die unterschiedlichen Prüfungsstandards mit der jeweiligen Funktion der Freiheitsrechte in der Demokratie. Auch wenn die allgemeine Theorie der Verfassung schlechthin und die konkrete Bestimmung der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht unbedingt übereinstimmen müssen, dürfte man sich fragen, ob diese funktionelle Betrachtung der Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Lehre von der „substantiellen Verfassung“ vereinbar ist.58 Jedenfalls kennt die japanische Verfassungs­ 54   Nobuyoshi Ashibe, Kenpo-gaku II (Verfassungslehre II), 1994, S.  213 ff. Vgl. Shigenori Matsui, The Constitution of Japan, 2011, S.  169 f. 55   Der Ausdruck double standards ist in den USA nicht verbreitet, obwohl gerade da die Redefreiheit besonders hoch eingeschätzt wird. Diese Phrase hat sicher in englischer Umgangssprache keine gute Implikation. In Japan wurde sie als technical term der Verfassungslehre eingeführt. 56   Ashibe (Anm.  54), S.  218 f. 57   Ebd., S.  220; Nobuyoshi Ashibe, Kenpo-sosho no Gendaiteki-tenkai (Gegenwärtige Entwicklungen der Verfassungsgerichtsbarkeit), 1981, S.  80. 58   Shigenori Matsui stellt ausdrücklich diese Frage in Niju no Kijun Ron (Theorie von double standards), 1994, S.  275. Er selbst wagt die Verfassung zur Rechtsnorm für Garantie des demokratischen Prozesses zu reinigen. Dieser Versuch ruft aber sofort die Kritik hervor, dass ein solches Verständnis der Gesamtstruktur der Verfassung von Japan nicht entspricht. Vgl. Yasuo Hasebe, Seiji-torihiki no Bazaar to Shiho-shinsa (Basar des politischen Handels und Verfassungsgerichtsbarkeit), 67 Horitsu Jiho 62 (1995). Ashibe selbst erklärt, dass die Demokratie die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Einzelpersonen voraussetzt und dass seine eigene Theorie von double standards, die den Bereich der sorgsamen Überprüfung nicht auf politische Reden begrenzt, auch dem Individualismus als substantiellem Wert dient: Ashibe (Anm.  54), S.  221–224.

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lehre sowohl die naturrechtliche Vorstellung der Menschenrechte als auch den prozeduralistischen Gedanken. Wie sich jedes Verfassungsverständnis zu Veränderungen der Wirklichkeit verhält, ist in Japan allerdings nicht thematisiert worden. Ein Grund dafür liegt vielleicht in der passiven Einstellung der Gerichte zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit. Wenn sich die Entscheidungen der Gerichte nicht dynamisch bewegen, braucht die Rechtswissenschaft nicht darüber zu diskutieren.

3.  Neuere Tendenzen in den Entscheidungen des OGH: Die Stärkung politischer Rechte Inzwischen hat der OGH aber die double standards Doktrin zumindest als abstrakte Richtlinie übernommen. Er betont, die geistigen Freiheiten, vor allem die Redefreiheit, seien ein notwendiges Element der Demokratie. In der Demokratie müssten die Bürger alle Arten von Meinungen äußern und sich über sie informieren können. Dadurch werde eine politisch entscheidende Mehrheitsmeinung gebildet. Vor allem in öffentlichen Angelegenheiten müsse die Freiheit der Rede deswegen als besonders wichtiges Grundrecht respektiert werden.59 Allerdings ist diese Rechtsprechung des OGH schon lange als bloßes Lippenbekenntnis kritisiert worden. Im bekannten Sarufutsu-Fall, in dem über die Verfassungsmäßigkeit eines umfassenden Verbots der politischen Tätigkeit von Beamten gestritten wurde, erklärte der OGH zunächst die Redefreiheit für besonders wichtig, weil sie die Basis der Demokratie bilde. Daraus folgerte er aber keinen strikten Prüfungsstandard. Er hob die gravierenden Folgen einer politischen Betätigung von Beamten für die Neutralität der Verwaltung hervor und vernachlässigte im Verhältnis dazu die Schwere des Eingriffs in die Freiheitsrechte. Im Ergebnis hielt er eine sehr weitgehende Beschränkung in vollem Umfang für verfassungsgemäß.60 Neuerdings können wir jedoch eine Tendenzwende beobachten. In einem Fall, in dem erneut die Verfassungsmäßigkeit des gleichen Verbots behandelt wurde, wiederholt der OGH, die Freiheit politischer Betätigung sei ein für die Demokratie notwendiges, die demokratische Gesellschaft untermauerndes wichtiges Grundrecht. Jetzt allerdings blieb dieses Bekenntnis nicht nur eine schöne Floskel. Das Verbot politischer Betätigung für Beamte soll nach dem OGH nur zulässig sein, wenn ihre Betätigungen die politische Neutralität der Amtsausübung nicht nur spekulativ, sondern realistisch und substantiell bedrohen würden. Das höchste Gericht bestätigte mit dieser verfassungskonformen Auslegung die Unschuld eines Angeklagten.61 Schon etwas früher zeigte der OGH eine harte Haltung bei Wahlrechtsbeschränkungen. Das Wahlrecht bilde die Basis der parlamentarischen Demokratie und dürfe nur begrenzt werden, sofern die Durchführung fairer Wahlen tatsächlich notwendigerweise gestört werde. Der OGH fand bei Wahlen im Ausland keine solchen Hindernisse mehr und erklärte den Ausschluss der im Ausland wohnenden Japaner von   Urteil des OGH am 11.6.1986 (Hoppo Journal), 40 Minshu 872.   Urteil des OGH am 6.11.1974 (Sarufutsu), 28 Keishu 393. 61   Urteil des OGH am 7.12.2012 (Horikoshi), 66 Keishu 1337. 59

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den Wahlen zum Nationalparlament für verfassungswidrig.62 Die Forderung nach Gleichheit des Stimmwerts zwischen den Wahlkreisen ist überdies immer strikter geworden.63 Auch aus diesen Entscheidungen können wir die Neigung des OGH ablesen, den Schutz des demokratischen Willensbildungsprozesses als seine Hauptaufgabe zu betrachten. Diese neuen Tendenzen sollten jedoch meines Erachtens nicht als Dynamisierung des Verfassungsinhalts interpretiert werden. Der Wandel der Wirklichkeit hat hier keinen nennenswerten Einfluss, obwohl das Beharren der Verfassungslehre auf der double standards Doktrin etwas zur Entwicklung der Rechtsprechung beitragen dürfte. Die Gerichte haben vielleicht eher begonnen, diesen als abstrakte Richtlinie schon lange akzeptierten Maßstab auch wirklich anzuwenden.

4.  Neuere Tendenzen in den Entscheidungen des OGH: Die Achtung der Würde der Einzelperson und die Überzeugung des Volkes davon Wir können beim OGH noch eine andere theoretische Neigung finden. Es geht um die Ungleichbehandlung der nichtehelichen Kinder im Erbrecht. §  900, Nr.  4 BGB von Japan a.F. bestimmte als Erbteil der nichtehelichen Kinder die Hälfte des Erbteils der ehelichen Kinder. 1995 bestätigte der OGH die Verfassungsmäßigkeit dieser Ungleichbehandlung. Er hob hervor, dass der Gesetzgeber im Erbrecht einen weiten Gestaltungsspielraum habe und dass die gesetzlichen Erbteile kein zwingendes Recht darstellen. Er ließ dann diese Ungleichheit als unvermeidliche Folge des Instituts der rechtlichen Ehe zu. Eine abweichende Meinung kritisierte, die Ungleichbehandlung der nichtehelichen Kinder basiere auf ihrer Geburt, für die sie selbst gar keine Verantwortung trügen. Eine solche Maßnahme widerspreche dem Respekt vor der Würde des Individuums. Die Mehrheitsmeinung ignorierte diesen Angriff.64 Im Jahr 2008 hat der OGH jedoch eine Ungleichbehandlung der nichtehelichen Kinder bei der Regelung der Staatsangehörigkeit für verfassungswidrig erklärt. In seiner Entscheidung macht er darauf aufmerksam, dass für Bewohner Japans die Staatsangehörigkeit ein wichtiger rechtlicher Status sei und dass die Ungleichbehandlung von einem Grund abhänge, auf den der Betroffenen keinen Einfluss habe. Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Ungleichbehandlung solle sorgsam überprüft werden.65 Der Hinweis auf die Fragwürdigkeit eines Diskriminierungsgrundes war in den Entscheidungen des OGH ziemlich neuartig und zog wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich. Schließlich hat der OGH 2013 die Ungleichbehandlung des Erbteils der nichtehelichen Kinder für verfassungswidrig erklärt. Er setzte sich dabei aber nicht in Widerspruch zur Entscheidung von 1995, sondern berief sich auf eine nachträgliche Ver­ änderung des Bewusstseins des Volkes. Die Notwendigkeit der Achtung der Einzelperson sei auch in der Familie immer klarer anerkannt worden, meinte der OGH.   Urteil des OGH am 14.9.2005, 59 Minshu 2087.   Urteil des OGH am 23.3.2011, 65 Minshu 755 (Unterhaus); Urteil des OGH am 17.10.2012, 66 Minshu 3357 (Oberhaus). 64   Beschluss des OGH am 5.7.1995, 49 Minshu 1789. 65   Urteil des OGH am 4.6.2008, 62 Minshu 1367. 62

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Toru Mori

Danach müsse jedes Kind als Individuum respektiert werden und solle keinesfalls aus einem Grund, auf den es selbst keinen Einfluss nehmen kann, diskriminiert werden. Diese Überzeugung sei inzwischen im Volke verwurzelt. Damit entfiel der rechtfertigende Grund der Ungleichbehandlung.66 Diese Entscheidung ist deswegen beachtenswert, weil sie nicht unmittelbar auf dem Grundsatz der Gleichheit, dass niemand wegen seiner Geburt diskriminiert werden soll, beruht, sondern sich auf den Wandel der normativen Vorstellung des Volkes über die Forderung der Gleichheit beruft. Das hat japanische Verfassungsrechtler verwundert.67 Vielleicht mag diese Logik nur eine Strategie sein, um einen offenen Widerspruch zu dem früheren Beschluss desselben Gerichts, der die Verfassungsmäßigkeit desselben Paragraphen bejahte, zu vermeiden. Sie dürfte aber doch suggerieren, dass der OGH den Inhalt des normativen Individualismus, den er bei der Verfassungsinterpretation mehr denn je heranziehen möchte, nicht für starr hält, sondern für offen für den Wandel der Wirklichkeit, insbesondere für die gewandelten normativen Überzeugungen der Bürger.

V.  Zusammenfassende Bemerkung Diese vielleicht neue Tendenz des OGH birgt sicher eine Gefahr in sich. Sie verflüssigt und schwächt einerseits die normativen Forderungen der Verfassung, indem sie sie von Volksmeinungen abhängig macht. Das dürfte zu einer Unsicherheit der Rechtslage führen. Andererseits ist es das Gericht selbst, das die angeblichen Veränderungen der Überzeugungen der Bürger festsetzt. Seine Interpretationsmacht dürfte mit stetiger Berufung auf die Überzeugungen des Volkes von der Bindung an den Verfassungstext befreit werden. In Wahrheit können dann seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit prägen. Der Schluss, dass der OGH in Japan in die gleiche Richtung tendiert wie das Bundesverfassungsgericht68 wäre natürlich völlig verfrüht. Ich meine nur, dass der OGH bei seiner Interpretation der Verfassung auf die Gewährleistung des demokratischen Prozesses großen Wert legt, obwohl er zugleich dazu neigt, die Achtung vor Einzelperson als selbständige normative Forderung aufzufassen. Die erste Funktion der Verfassung wird hier eher starr verstanden als möglichst breite Garantie der politischen Teilhaberechte. Im Verhältnis dazu öffnet sich die zweite Funktion der Verfassung als Durchsetzung der substantiellen Vorstellung vom Individualismus dem Wandel der Wirklichkeit. Wenn diese Tendenz künftig steigen sollte, müssten wir die Eigenart eines solchen Verständnisses der Verfassung ausführlicher untersuchen. Zum Schluss fasse ich zusammen, dass die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Verfassung als Rechtsnorm und der sich immer bewegenden Wirklichkeit ­sowohl bei Rawls als auch bei Habermas keine logisch notwendigen Folgen ihrer Legitima­ tionstheorien sind. Die Rawlssche Verfassung, die die Staatsgewalt durch inhaltliche   Beschluss des OGH am 4.9.2013, 67 Minshu 1320.  Vgl. z.B. Yasue Nukatsuka, Anmerkung, 400 Hogaku Kyoshitsu 81(2014); Yasuyuki Watanabe, Anmerkung, 14 Shin Hanrei Kaisetsu Watch 23 (2014). 68  Vgl. Uwe Volkmann, Rechts-Produktion oder: Wie die Theorie der Verfassung ihren Inhalt bestimmt, in: Der Staat 54 (2015), S.  35. 66 67

Die Rolle von Verfassungsrecht – bei Rawls, Habermas und in Japan

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Beschränkung zu legitimieren versucht, kann für graduellen Bedeutungswandel der Verfassungsnormen offener und flexibler sein als Rawls selbst sich das vorstellt. Auch wenn man andererseits die wesentliche Rolle der Verfassung in der rechtlichen Garantie des offenen demokratischen Prozesses sieht, braucht man die Verfassung selbst nicht als Projekt zu betrachten wie Habermas. Obwohl er davon einen Beitrag der Verfassung zur Aktivierung und Erhaltung der politischen Kultur erwartet, läuft seine Auffassung Gefahr, die Bedeutung der Verfassung als rechtlicher Rahmenordnung der Demokratie zu vernachlässigen. Die japanische Verfassungslehre und die grundsätzliche Haltung des OGH von Japan enthalten sowohl substantielle als auch prozedurale Verfassungsverständnisse. Mindestens in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit spielt seit langem das prozedurale Verständnis die Hauptrolle. Die neueren Entscheidungen über die politischen Grundrechte sollten nicht als Wandel der Norminhalte, sondern vielmehr als verspätete Umsetzung dieses Gedankens betrachtet werden.69 Andererseits ist die Aufmerksamkeit auf die Würde der Einzelperson in den Entscheidungen des OGH gestiegen. Man könnte hier sogar den Ansatz einer dynamischen Interpretation der Verfassung finden. Ob er sich künftig weiter entwickeln wird, ist allerdings unsicher.

69   Im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz des Bundesverfassungsgerichts plädiert Lepsius für die „Stärkung der Verfahrenskontrolle“ und Beachtung der parlamentarischen Gestaltungsspielräume: Oliver Lepsius, Rechtswissenschaft in der Demokratie, in: Der Staat 52 (2013), S.  157, 178–184. Das japanische prozedurale und funktionelle Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit dürfte ihm gefallen, obwohl ihn die nüchterne Wirklichkeit in Japan, also die vielen zurückhaltenden Entscheidungen vom OGH gegen kommunikative Freiheiten erstaunen würden. Vgl. Shigenori Matsui, Why Is the Japanese Supreme Court so Conservative?, 88 Wash.U.L.Rev. 1375 (2011).

Zwischen Staatsabhängigkeit und Repräsentationsdefizit* Warum akzeptieren viele Japaner die anti-freiheitliche Verfassungsreform der LDP? von

Prof. Dr. Hiroshi Nishihara, Waseda-Universität, Tokio Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 II. Der Streit um die Pazifismus-Klausel (Art.  9 JV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 1. Die Entstehung des Art.  9 JV und der Selbstverteidigungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 2. Die Kritik des „Heimatfriedens“ und der „Beitrag zur internationalen Friedenssicherung“ . . . . . 820 III. Der Versuch der Totalrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 1. Die Sehnsucht nach kaiserlicher Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 2. Die konservative Trias in der Gegenwart und die kollektivistische Staatsauffassung . . . . . . . . . . 825 3. Verbreitung der Reformbefürworter und die Selbstzensur der Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . 827 IV. Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber der Revision und ihre Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 1. Vergleich mit dem Untergang der Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 2. Defizite bei der Demokratisierung in Japan und ihre Nachwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 3. Debatte um die Verfassungsstaatlichkeit im Sommer 2015 – eine Trendwende? . . . . . . . . . . . . 833 V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836

*   Dieser Aufsatz basiert auf meinem Vortrag, gehalten am 28. April 2015 im Rahmen der UFSP Asien und Europa der Universität Zürich, und dem Symposiumsbeitrag im Rahmen des Ersten Deutsch-Japanischen Verfassungsgesprächs, gehalten am 14. September 2015. Ich bedanke mich bei den Organisatoren, Kommentatoren und Diskussionsteilnehmern der beiden Veranstaltungen, insbesondere Prof. Dr. D. Chiavacci und Prof. Dr. M. Mahlmann für die erste, Prof. Dr. M. Jestaedt, Prof. Dr. Ch. Waldhoff und Prof. Dr. H. Suzuki für die letztere. Das Manuskript ist gänzlich überarbeitet und stark erweitert um die Darstellung der Ereignisse im Sommer 2015. Für sprachliche Korrektur danke ich Frau A. Demgen.

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I. Einleitung Aus Sicht der vergleichenden Verfassungsdogmatik zeichnet sich Japan durch eine merkwürdige Mischung aus entwickelter Rechtsstaatlichkeit und politisch-bürokratischer Halbherzigkeit bei der Grundrechtsgewährleistung aus. In dieser Konstellation nimmt die Japanische Verfassung von 1946 ( JV) eine besondere Position ein. Formal gilt sie als Grundlage des gesamten Staatslebens, aber dies besagt nicht unbedingt, dass sie als Spielregel der politischen Auseinandersetzung verinnerlicht ist. Vielmehr steht sie selbst inmitten einer politischen Auseinandersetzung. Dass sie seit ihres Inkrafttretens in keinem Artikel verändert wurde, drückt eher ihr instabiles – um nicht zu sagen tabuisiertes – politisches Dasein aus als ihre Stabilität. Ungefähr seit der Jahrtausendwende wird die Kritik an der Verfassung in der politischen Arena lauter, geleitet durch die konservative Liberaldemokratische Partei (LDP), die, seitdem die JV gilt, meistens an der Macht war. Im Jahr 2000 richtete die LDP gemeinsam mit der Demokratischen Partei Japans (DPJ), der damals größten Oppositionspartei, eine Kommission in den beiden Häusern des Parlaments ein, die die Verfassung untersuchen sollte.1 Die LDP beschloss zuerst im Jahr 2005,2 dann im Jahr 20123 einen Reformentwurf und forderte eine vollständige Revision, die die etablierte Struktur der freiheitlichen Demokratie in ihrer Gesamtheit infrage stellte.4 Die Schwerpunktverlagerung in der japanischen Politik geschah vor dem Hintergrund einer Rezession, unter der die japanische Wirtschaft seit Anfang der 1990erJah­re litt. Sicherlich spiegelt sich auch der Strukturwandel mancher westlicher Staaten nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und dem darauffolgenden „Krieg gegen den Terrorismus“ in der Entwicklung in Japan wider. Vielleicht handelt es sich bei dem Reformvorhaben der LDP aber auch nur um das letzte Aufflackern von etwas Asiatischem, das in einem globalisierten Japan eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Sollten die demokratischen Kräfte in Japan jedoch nicht bewirken, dass sich die Pläne der LDP auflösen, dann lassen sich die Vorgänge

  Änderung des Parlamentsgesetzes, erlassen am 4. August 1999, tritt in Kraft am 20. Januar 2000.   LDP [Liberaldemokratische Partei], Shin-Kenpô Sôan [Entwurf der Neuen Verfassung], 22. November 2005. 3   LDP, Nihonkoku-Kenpô Kaisei-Sôan [Entwurf der Veränderten Verfassung von Japan], 27. April 2012, in: Jiyû-Minshu, Nr.  2508 (15. Mai 2012), S.  5–12, auch unter https://www.jimin.jp/policy/ policy_topics/pdf/seisaku-109.pdf (abgerufen am 31.5.2015). 4   So zielt die LDP darauf ab, das Staat-Bürger-Verhältnis dahingehend zu ändern, dass das Volk nicht nur als Subjekt der Grundrechte die Staatsgewalt beschränkt, sondern sich ebenso zur Aufgabe macht, gemäß der vorgeschriebenen Handlungsnormen zur Erfüllung der nationalen Interessen beizutragen. Kritisch dazu H. Nishihara, Das staatlich aufgezwungene Nationalbewusstsein als Verfassungsproblem im Zeitalter der Globalisierung ( Japan), Waseda Studies in Social Sciences, 9 (1) (2008), 17–24 m. w. N. Es ist zu bemerken, dass die DPJ-Opposition damals eine ähnliche Haltung zum Bedeutungswandel der Verfassung zeigte (DPJ [Demokratische Partei Japans], Kenpô-Teigen [Vorschläge über die Verfassung], 31. Oktober 2005, http://www.dpj.or.jp/article/102276 (abgerufen am 31.5.2015). Zu den hier nicht erwähnten Einzelvorschlägen im LDP-Entwurf 2005 vgl. T. Môri, Ein rechtsvergleichender Kommentar über Verfassungsänderung – Japan aus der Sicht der deutschen Staatsrechtslehre, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, Berlin 2008, 183–198; M. Shiyake, Zur Diskussion über die Verfassungsänderung in Japan, in: ders., Verfassung und Religion in Japan, Baden-Baden 2011, 18–21. 1 2

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in Japan als sinnbildlich für die Entwicklung der gesamten Welt im 21. Jahrhundert interpretieren. Im Folgenden werden zuerst die Entstehung und der Interpretationswandel des Art.  9 JV dargestellt, der die Wiederbewaffnung Japans verbietet (Abschnitt II). Art.  9 JV ist die Hauptursache des Unbehagens aufseiten der Verfassungskritiker und gleichzeitig der symbolische Kern der Verfassungsstaatlichkeit für die Verteidiger der Konstitution. Durch die Schilderung der historischen Entwicklung soll ein Überblick über die Konstellation des Verfassungsstreites gewonnen werden. Sodann gehe ich auf die Tragweite der Reform- bzw. Restaurationsvorschläge seitens der LDP (Abschnitt III) ein. Darauffolgend werden die Akzeptanz seitens der Bevölkerung und deren Gründe näher analysiert, es wird auf die strukturellen Bedingungen im historischen Vergleich eingegangen, und darüber hinaus werden einige japanspezifische Eigenheiten näher beleuchtet; in diesem Zusammenhang wird auch die im Sommer 2015 laut gewordene Kritik vonseiten der Bevölkerung an der administrativen Neuinterpretation der Verfassung erörtert, die während der Vorbereitung der sogenannten Sicherheitsgesetze (Anzen hoshô kanren hôan) auf keimte (Abschnitt IV). Zum Schluss wird die Bedeutung dieser Entwicklung im heutigen Zeitalter der Globalisierung, d. h. im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Funktionsverlust des nationalen Verfassungsstaates, kurz erörtert (Abschnitt V).

II.  Der Streit um die Pazifismus-Klausel (Art.  9 JV) 1.  Die Entstehung des Art.  9 JV und der Selbstverteidigungskräfte5 Im Zentrum der Verfassungsdebatte stand und steht auch heute Art.  9 JV – die Pazifismus-Klausel. Art.  9 JV „(1) In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten. (2) Zur Erreichung des Zwecks des Absatz 1 werden Land, See und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt6“.

Ursprünglich entstand die Idee des Waffenverzichtes als Folge eines Kompromisses zwischen der damaligen japanischen Regierung und der US-amerikanischen Besatzungsmacht: Japan kaufte sozusagen die Beibehaltung des Kaisertums – nunmehr aufs politisch neutrale Symbol reduziert – mit der Abschaffung der Streitkräfte.7 Die 5   Um juristische Genauigkeit zu gewährleisten, habe ich für Jieitai auf die verbreitete Übersetzung „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ (z. B. K. Igarashi, Einführung in das japanische Recht, Darmstadt 1990, 22) verzichtet, weil die Organisation aufgrund des Art.  9 JV nicht „Streitkraft“ genannt werden darf. 6  Text nach der Übersetzung des Instituts des Japanischen Rechts der Fernuniversität in Hagen. http://www.fernuni-hagen.de/japanrecht/verfassung/ (abgerufen am 31.5.2015). 7   Wer der ideelle Urheber des Waffenverzichtes war, ist noch umstritten. K. Shidehara, zuständiger Premierminister (Oktober 1945 bis Mai 1946) für den Regierungsentwurf der JV, vertritt seine Urhe-

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kriegsverdrossene Bevölkerung hieß den Entwurf des Art.  9 JV willkommen, sodass der Grundsatz des Pazifismus seitdem immer als wesensentscheidendes Struktur­ element der JV erachtet wurde. Anfänglich erklärte auch die Regierung, dass Streitkräfte in jeglicher Form Art.  9 Abs.  2 JV verletzten und verfassungswidrig seien.8 Durch die Institutionalisierung der Waffenlosigkeit erhoffte sich Japan die notwendige Legitimation, bei Konflikten friedensstiftend zu vermitteln und dadurch eine „ehrenvolle Stellung im Verband einer internationalen Gemeinschaft ein[zu]nehmen, die sich dafür einsetzt, den Frieden zu erhalten …“, wie es im 2. Abschnitt der Präambel der Verfassung heißt. Diese friedensvolle Zeit dauerte jedoch nicht lange, weil schon bald der Eiserne Vorhang fiel. Die Besatzungsmacht wurde auf die geopolitische Bedeutung Japans aufmerksam und veränderte ihre Haltung dahingehend, dass sie nun die Wieder­ bewaffnung verlangte. So änderte auch die japanische Regierung ihre Verfassungsinterpretation und behauptete, dass minimal bewaffnete Kräfte für die Selbstver­ teidigung nicht gegen Art.  9 Abs.  2 JV verstoßen würden.9 Damit wollte sie die Gründung der 75.000 Mann starken Nationalen Polizeireserve (Keisatsu-Yobitai: 10. August 1950), ihre Umorganisation in die Sicherheitskräfte (Hoantai: 15. Oktober 1952) und schließlich in die gegenwärtigen Selbstverteidigungskräfte ( Jieitai: 1. Juli 1954) rechtfertigen, trotz der heftigen, aber wirkungslosen Kritik seitens der herrschenden Meinung in der Verfassungslehre.10 Im Laufe des Kalten Krieges etablierte sich diese Interpretation. Der Oberste Gerichtshof übte Zurückhaltung und vermied es, die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Selbstverteidigungskräfte zu stellen, geschweige denn zu beantworten.11 berschaft, (K. Shidehara, Gaikô Gojûnen [50 Jahre Außenpolitik], Tokio 1951, 210) und auch der Oberkommandierende der Besatzungsmacht D. MacArthur unterstützt diese Position (MacArthur, Makkâsâ Kaisôki [Momoire MacArthurs], Tokio 1964, 164). Die Beteiligung von MacArthur selbst lässt sich aber genauso nachweisen. Vgl. S. Koseki, Shin-Kenpô no Tanjô [Geburt der neuen Verfassung], Tokio 1995, 131–136. 8   In der Parlamentsdebatte über den Verfassungsentwurf erklärte Premierminister Shigeru Yoshida, dass der Verteidigungskrieg zwar nicht in Art.  9 Abs.  1 des Entwurfs verboten, aber durch die Abschaffung der Streitkräfte in Abs.  2 unmöglich gemacht würde (Antwort von Yoshida in Plenarsitzung des Unterhauses in der 90. Reichsparlamentstagung am 26. Juni 1946). 9  Die Yoshida-Regierung versuchte am Anfang, die Nationale Polizeireserve als Organisation zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit zu rechtfertigen (z. B. Antwort von Yoshida in Plenarsitzung des Unterhauses am 29. Juli 1950). Später, als nach der Umorganisierung die Sicherheitskräfte entstanden, veröffentlichte sie eine neue Interpretation. Nach dieser gilt als „Kriegsmittel“ im Sinne des Art.  9 Abs.  2 JV eine Organisation mit der „sachlichen und personellen Ausstattung notwendig für die Führung eines modernen Kriegs“, jedoch sei es „nicht verfassungswidrig, minimal bewaffnete Kräfte zu besitzen und diese zur Verteidigung gegen einen unmittelbaren Angriff einzusetzen“ (Meinung vom Legislativbüro des Kabinettes, 25. November 1952, zitiert in: Asahi Shinbun, 26.11.1952, S.  1). Bei der Umorganisierung der Sicherheitskräfte zur Jieitai wurde die Interpretation nochmals verfeinert. Nach dieser sind „Kriegsmittel“ alle Kräfte, „die über das notwendige Minimum für die Selbstverteidigung hinausgehen“ (Einheitliche Regierungsmeinung, vorgetragen am 22. Dezember 1954 im Haushaltausschuss des Unterhauses, zitiert in: Asahi Shinbun, Abendausgabe, 22.12.1954, S.  1). 10  Z.B. T. Miyazawa, Verfassungsrecht (Kempô), übersetzt und herausgegeben von R. Heuser und K. Yamazaki, Köln 1986, S.  53 f. 11   Der Antrag zur abstrakten Normenkontrolle durch mehrere Parlamentsabgeordnete gegen die Errichtung und Beibehaltung der Nationale Polizeireserve wurde vom Obersten Gerichtshof abgelehnt aufgrund des Fehlens der gesetzesmäßigen Klagebefugnis: OGH, Urteil vom 8. Oktober 1952, Minshû 6 (9), 783. Ein weiterer Fall: In Hokkaidô wurde der Waldschutz in einem Gebiet aufgehoben, damit

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Die nunmehr an Bündnispolitik orientierte Besatzungsmacht hob das Berufsverbot für ehemalige Mitglieder des militärisch-totalitären Regimes auf (mit dem Inkrafttreten des US-japanischen Friedensvertrags am 28. April 1952), wodurch der konservative Flügel wieder an Einfluss gewann. Die wiederbelebten Konservativen gründeten die LDP im Jahre 1955, die sich in ihrem Programm die Verfassungsrevision (in den Worten der Partei: den Entwurf einer eigenen, d. h. ohne ausländische Bevormundung entworfenen Verfassung) zum Ziel setzte.12 Die erste politische Welle der Verfassungsrevision gab es also Ende der 1950er-Jahre. Die Regierung rief eine Untersuchungskommission zur „Überprüfung der Japanischen Verfassung“ als Beratungsorgan des Kabinetts ins Leben ( Juni 1956).13 Dieser Schritt wurde von der Bevölkerung heftig kritisiert, und auch die Konservativen waren sich nicht einig, weil die wirtschaftlich-liberalen Gruppierungen in der LDP mehr Wert auf das Wirtschaftswachstum legten und eine Spaltung der Bevölkerung durch die Verfassungsfrage vermeiden wollten. Für sie war Art.  9 JV deswegen von Bedeutung, weil sie die Begrenzung der Verteidigungskosten rechtfertigte und ermöglichte, mehr Ressourcen auf die Wirtschaftsförderung zu konzentrieren14. Als der wirtschaftlich-liberal eingestellte Hayato Ikeda das Amt des Premierministers nach dem zurückgetretenen militaristischen Reaktionär Nobusuke Kishi übernahm (14. Juli 1960) und den „Plan zur Verdoppelung des Volkseinkommens“ kundgab (27. Dezember 1960), fand eine politische Wende statt. Der Abschlussbericht der Verfassungsuntersuchungskommission15 enthielt daher Argumente sowohl für als auch gegen eine Revision. Einen politischen Widerhall fand die Publikation jedoch nicht, sodass die erste Welle der Verfassungsrevisionsbewegung damit endete. Die damaligen Entwicklungen führten eine sonderbare Stellung der Verfassung in der japanischen Politik herbei. Die populäre Zustimmung zum ursprünglichen Art.  9 JV war immer sehr groß, dabei existiert er nur auf Papier. Politisch lebt hingegen ausschließlich der umgedeutete Art.  9 JV, der das Vorhandensein der Selbstverteidigungskräfte mit nunmehr 225.000 Mann (darunter mehr als 180.000 Unteroffiziere und Offiziere) und einem Jahresbudget von 4,8 Billionen Yen zulässt. Darüber hinaus ist die Tatsache nicht zu leugnen, dass sich Japan in der internationalen Politik unter dem Schirm der US-amerikanischen Atomwaffen versteckt. Die praktische dort Flugabwehrraketen stationiert werden konnten. Eine Verfechtungsklage gegen diese Auf hebung wurde ebenfalls abgelehnt aufgrund des fehlenden Klagerechts: OGH, Urteil vom 9. September 1982, Minshû 36 (9), 1679. Insgesamt gibt es keine einzige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die die Verfassungsmäßigkeit der Selbstverteidigungskräfte zum Gegenstand hätte. Über die Verfassungsmäßig­ keit der Stationierung von US-amerikanischen Truppen in Japan wurde einmalig in dem Sinne entschieden, dass die Stationierung nicht evident verfassungswidrig ist und deswegen außerhalb der gerichtlichen Prüfungsbefugnis liegt: OGH, Urteil vom 16. Dezember 1959, Minshû 13 (13), 3225. 12   Seitdem blieb die LDP – entweder allein oder in Koalition mit einer oder mehreren kleineren Parteien – immer an der politischen Führung, mit Ausnahme von kurzen Perioden zwischen 1993 und 1994 sowie 2009 und 2012. 13   Gegründet durch das Gesetz für die Kommission zur Untersuchung der Verfassung, erlassen am 11. Juni 1956. 14   Diese wirtschaftsorientierte Haltung wird „Yoshida-Doktrin“ genannt. Zu ihrer ideellen Struktur vgl. H. Ôtake, Adenauâ to Yoshida Shigeru [Adenauer und Shigeru Yoshida], Tokio 1986. 15   Kenpô-Chôsakai [Untersuchungskommission über die Verfassung: Kabinett], Hôkokusho [Abschlussbericht], Hôritsu-Jihô 36 (9) (1964), 1.

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Bedeutung des Art.  9 JV und die ursprünglich intendierte „ehrenhafte Stellung“ sind nur ideell, aber nicht in der Wirklichkeit existent.

2.  Die Kritik des „Heimatfriedens“ und der „Beitrag zur internationalen Friedenssicherung“ Es waren die besonderen Umstände des Kalten Krieges, die diese Stellung der Selbstverteidigungskräfte rechtfertigten. Darüber hinaus versuchte man in den 1990er-Jahren, die Jieitai mit neuen friedensstiftenden Aufgaben auszustatten, um ihre Rechtfertigungsgrundlage zu festigen. Am Golf krieg 1991 konnte sich Japan nur finanziell (mit neun Milliarden US-Dollar), aber keineswegs militärisch beteiligen, was die Konservativen in Japan als Schande betrachteten. Darauf hin entzündete sich eine Diskussion über die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Entsendung der Selbstverteidigungskräfte ins Ausland. Die LDP sah es als Notwendigkeit an, dass Japan zur Erhaltung des internationalen Friedens aktiv beitragen solle (Argumentation des internationalen Beitrags), und kritisierte die bisherige Situation als „Position, die sich mit dem Frieden im eigenen Land zufriedengibt (Argumentation des Heimatfriedens)“16. Dagegen argumentierten die Opposition und die herrschende Meinung der Verfassungslehre, dass ein internationaler Beitrag nicht durch militärische, sondern besser und effektiver durch friedliche Mittel geleistet werden solle.17 Da die erste Position parlamentarische Mehrheit besaß, wurden mehrere Kompromisse beschlossen, die es einerseits vermieden, die etablierte Verfassungsinterpretation in ihrem Kern anzutasten, die jedoch andererseits das stark eingeschränkte Tätigkeitsfeld der Selbstverteidigungskräfte, der Argumentation des internationalen Beitrags folgend, erweiterte. So wurde am 19. Juni 1992 das Gesetz zur Mitwirkung an den „Peace Keeping Operations“ der Vereinten Nationen erlassen. Zum ersten Mal wurde der Jieitai erlaubt, im Ausland zu agieren, wo sie zum Beispiel die Räumung von Land- und Seeminen vornahm. Nach wie vor gab es jedoch verschiedene Beschränkungen. So durften die Tätigkeiten der Truppen nur außerhalb der Kampfzonen stattfinden, ihre Ausrüstung durfte nicht über Handfeuerwaffen hinausgehen (§  22) und die Benutzung der Waffen nur bei Notwehr erfolgen (§  24 VI). An der Schwelle zur Jahrtausendwende wurde das Tätigkeitsfeld der Jieitai nochmals erweitert. Im Jahre 2001 unterstützten die Selbstverteidigungskräfte die USamerikanischen Truppen beim Krieg in Afghanistan, im Jahre 2003 war die Jieitai beim Irakkrieg dabei – jedes Mal ermöglicht durch neue Gesetze mit zeitlich beschränkter Geltung.18 Dabei galten ähnliche Beschränkungen des Waffengebrauchs. 16  Hauptfigur dieser Argumentation war der Generalsekretär der LDP während des Golf kriegs, Ichirô Ozawa (Ozawa, Nippon-Kaizô-Keikaku [Ein Umbauplan Japans], Tokio 1993), der später als Oppositionspolitiker eine große Rolle spielte. 17   Y. Higuchi, ,Kaikaku-ha‘-teki, ‚Kokusai-ha‘-teki Kaikenron to Sengo-Kenpôgaku [‚Reformistische‘ und ‚Internationalistische‘ Verfassungrevisionsargumente und Nachkriegsverfassungsdogmatik], Kenpô-mondai 5 (1994), 7; T. Yamauchi, Heiwa-Kenpo no Riron [Theorie der pazifistischen Verfassung], Tokio 1992, 311, 388–420. 18   Das Besondere Maßnahmengesetz zur Reaktion auf den Terrorismus, erlassen am 2. November 2001 und abgelaufen am 1. November 2007, und das Besondere Maßnahmengesetz für Sicherheitserhaltungsaktivitäten im Irak, erlassen am 1. August 2003 und abgelaufen am 31. Juli 2009.

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Die Tätigkeiten der Truppe mussten weiterhin außerhalb der Kampfzonen erfolgen und wurden auf den Lebensmitteltransport und vergleichbare logistische Aufgaben beschränkt. Dies führte zu abstrusen Situationen. Ob auf dem Indischen Ozean oder im Irak, immer musste sich die Jieitai zurückziehen, wenn Gefechte in ihrer Nähe ausbrachen. Rettungsaktionen für alliierte Truppen beispielsweise waren ausgeschlossen. Dabei handelte es sich immer um Kompromisslösungen. Ausschlaggebend war nicht die politische Entscheidung darüber, wie Japan in der Zukunft zur Friedens­ sicherung beitragen soll, sondern die Verfassungsinterpretation. Die etablierte Interpretation von Art.  9 JV lässt nur Kräfte zu, die im Rahmen des „notwendigen Minimums für die Selbstverteidigung“ liegen. Wenn die Jieitai jedoch im Ausland Waffengewalt anwendet, übersteigt sie dieses Wesensmerkmal. Unter Beibehaltung der erwähnten Beschränkungen lässt sich wiederum die Politik des internationalen Beitrags nicht ausreichend verfolgen. Bei jedem neuen Gesetz setzte sich die LDP mit dem Legislativbüro des Kabinetts auseinander. Und dieser wies stets darauf hin, dass die Beseitigung der Beschränkungen angesichts der etablierten Interpretation von Art.  9 JV auf die Verfassungswidrigkeit hinausläuft. Als die LDP nach dreijähriger Pause im Dezember 2012 die Macht zurückerlangte, bereitete sie einen neuen Anlauf darauf vor, die etablierte Interpretation von Art.  9 JV zu beseitigen. Die Schlüsselphrase dabei war das internationale Recht zur kollektiven Selbstverteidigung.19 Premierminister Shinzô Abe, nicht zufällig Enkel von Kishi, bezeichnete seine Sicherheitspolitik als proaktiven Beitrag zum Frieden 20 und wollte sie in enger Zusammenarbeit mit den USA durchführen.21 Kardinalpunkt für diese und andere internationale Kooperationen war die Nutzung von Waffen bei Operationen. So begründete die Abe-Regierung den „Kongress für die Rekonstruierung der rechtlichen Sicherheitsgrundlage“ als privates Beratungsorgan und ließ diesen im Abschlussbericht vorschlagen, dass die gängige Verfassungsinterpretation dahingehend verändert werden solle, dass die Ausübung des internationalen Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung auch im System der japanischen Verfassung akzeptiert wird.22 Die gegenwärtige Strategie der LDP hat zwei Seiten. Einerseits arbeitet sie an einem eigenen Verfassungsentwurf und will eine komplette Revision verwirklichen. Andererseits versucht sie, die etablierten Verfassungsnormen zu untergraben. Durch Gesetzgebungen und Verwaltungspraktiken verwischt sie absichtlich die Grenze 19  Art.  51 UN-Charta gewährleistet das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Mit Letzterem wird die „Nothilfe durch Drittstaaten zugunsten des angegriffenen Staates“ legitimiert (T. Stein und Ch. von Buttlar, Völkerrecht, 12.  Aufl., Köln 2009, 277). 20   Die Politik des „proaktiven Beitrags zum Frieden“ wurde zuerst auf der internationalen Bühne bekannt gemacht (Abe, Rede in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 26. September 2013, http://japan.kantei.go.jp/96_abe/statement/201309/26generaldebate_e.html (abgerufen am 31.5.2015)). 21   Kokka-anzenhoshô-kaigi [Rat für die Staatssicherheit], Beschluss: Kokka-anzenhoshô-senryaku ni tsuite [Über die Strategie für die Staatssicherheit], Kabinettsentscheidung vom 17. Dezember 2013, http://www.cn.emb-japan.go.jp/fpolicy_ j/nss_ j.pdf (abgerufen am 31.5.2015). 22   Anzenhoshô no Hôteki-kiban no Saikôchiku ni kansuru Kondankai [Kongress für die Restrukturierung der rechtlichen Grundlagen der Sicherheit], Hôkokusho [Abschlussbericht] (2014), http:// www.kantei.go.jp/jp/singi/anzenhosyou2/dai7/houkoku.pdf (abgerufen am 31.5.2015).

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zwischen Verfassungskonformität und Verfassungswidrigkeit. Diese zweischneidige Strategie ist an sich widersprüchlich. Je wirkungsvoller die Auf hebung der Grenze gelingt, desto mehr nimmt die Notwendigkeit ab, die Verfassung zu ändern. Dennoch ist die Restrukturierung des Verfassungsstaats im Gang. Die LDP will die geglückte Neuinterpretation von Art.  9 JV mit einer neuen Verfassung feiern. So gab es am 1. Juli 2014 eine Kabinettsentscheidung, die die Ausübung des Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung betrifft. Dort heißt es: „Nicht nur im Fall eines bewaffneten Angriffs auf unseren Staat, sondern auch in dem Fall, dass ein militärischer Angriff auf einen anderen Staat stattfindet, mit dem Japan in einer engen Allianz steht, ist Waffengewalt im Sinne der traditionellen Verfassungsinterpretation zulässig; vorausgesetzt durch den Angriff ist das Bestehen unseres Staates bedroht und es besteht eine offensichtliche Gefahr für Leben, Freiheit und Glück der Bevölkerung und es existieren keine anderen Mittel zur Sicherung unseres Staates und des Schutzes der Bevölkerung.“

Mit dieser Entscheidung wollte die Regierung von Premierminister Abe die Gesetzentwürfe vorbereiten, die die Verwendung der Waffengewalt durch die Jieitai in den oben genannten Fällen ermöglicht.23 Als sogenannte „Sicherheitsgesetze“ (Anzen hoshô kanren hôan) wurden sie schließlich am 14. Mai 2015 dem Parlament vorgelegt, was zu einer heftigen Diskussion innerhalb und außerhalb dieses politischen Raumes führte. Die Debatte wird im Abschnitt IV, 3. genauer dargestellt. Neben der Erweiterung des Tätigkeitsfelds der Selbstverteidigungskräfte lockerte die Abe-Regierung die Beschränkungen für Waffenexporte und versuchte, die japanische Wirtschaft durch Produktion und Export von Hightech-Waffen anzukurbeln. Auf dieser Basis ist die Regierung bestrebt, das Verhältnis zu den USA zu stärken und sich gleichzeitig als militärisch ausgestattete Wirtschaftsmacht darzustellen. Offiziell heißt es, dass Japan dadurch zur Sicherung des Weltfriedens beiträgt, aber tatsächlich ist nicht mehr der Weltfrieden gemeint, den Art.  9 JV ursprünglich durch Abschaffung des Militärs gewährleisten sollte.

III.  Der Versuch der Totalrevision Die Revision der JV war für die LDP viele Jahre ein nicht zu Ende geträumter Traum. In den 1990er-Jahren, als die japanische Gesellschaft nach der Periode der sogenannten Bubble Economy in einer langen Rezession stand und von depressiver Stimmung beherrscht wurde, fing die LDP wieder an, den Nationalstolz durch die Verfassungsfrage zu stärken.24 23   Während der Gesetzesvorbereitung innerhalb der Koalition verlangen Kômeitô (ursprünglich ein friedensorientierter Koalitionspartner der LDP) und das Verteidigungsministerium das Einbauen von klar definierten Begriffen in den Gesetzestext, während die LDP-Führung und das Außenministerium die Definition dem Ermessen des Premierministers überlassen wollten. Kritisiert wurde auch, dass der Entwurf Leib und Leben der Soldaten als bloßes Instrument der außenpolitischen Verhandlung ­betrachtete (Asahi Shinbun, 12.5.2015, S.  4 ). Trotz dieser Kritik entschied sich die Abe-Regierung am 14. Mai 2015 für Gesetzestexte, die nur den Text der genannten Kabinettsentscheidung wiederholen und kaum Beschränkungen für den Waffeneinsatz beinhalten, und legte dem Parlament insgesamt 11 Gesetzesentwürfe vor. 24   Der erste Schritt war das Gesetz über die Nationalflagge und -hymne im Juni 1999, das den Weg

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1. Die Sehnsucht nach kaiserlicher Ordnung In den 1950er-Jahren wurde die Revisionsbewegung von den Leuten getragen, die unter dem alten Regime aufwuchsen und führende Positionen erlangten. Insoweit waren sie nicht frei von der „göttlichen Daseinskraft“ des Tennô, die die Legitimität der Verfassung des Kaiserreichs Großjapan von 1889 begründete. Gemäß dem kaiserlichen Erziehungsedikt von 1890 wurde jeder Bürger systematisch indoktriniert im Sinne des pflichtbewussten Untertans, der sich vor allen anderen privaten Belangen die Erhaltung und Weiterentwicklung des Kaiserreichs zum Ziel setzte. In dieser Lage wundert es nicht, dass die damaligen Eliten, die den Krieg und dann das nachkriegszeitliche Berufsverbot überlebten, das neue demokratische Regime als Unordnung empfanden. Sie stellten daher nicht nur Art.  9 JV, sondern das gesamte System der freiheitlichen Demokratie infrage. Befürworter der Revision in der Untersuchungskommission zur Überprüfung der Japanischen Verfassung traten auch für die Stellung des Tennô als Staatsoberhaupt ein 25. Der Tennô ist nach dem japanischen Mythos Nachkomme der Schöpfungsgötter, die vor etwa 2.600 Jahren auf die Erde hinabstiegen. Die Göttlichkeit wird in männlicher Linie vererbt. Historisch belegbar ist der Tennô spätestens seit dem 7. Jahrhundert an der Spitze der Macht des vereinigten Japans, aber dies bedeutet nicht unbedingt, dass er immer die Herrschaft ausübte. Oft galt er den herrschenden SamuraiFamilien lediglich als geistige Legitimationsgrundlage. Deswegen ist seine jetzige Position als Symbol eigentlich nicht neu. Art.  1 JV: Der Kaiser ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes. Seine Stellung ist auf den Willen des japanischen Volkes gegründet, bei dem die Souveränität ruht.26

Die Beibehaltung des Kaisertums war der Wunsch der japanischen Regierung am Anfang der Besatzung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und die Besatzungsmacht wollte die Unruhe vermeiden, die bei der Abschaffung des Kaisertums befürchtet wurde.27 Für den oben genannten Kompromiss, die Kombination von Kaisertum und Waffenverzicht, wurden die Weichen relativ früh gestellt. Dies machte es jedoch unmöglich, innerhalb der japanischen Bevölkerung die Frage nach der Kriegsverantwortung konsequent zu Ende zu denken. Schon am fünften Tag nach für die patriotische Einflussnahme in den Schulen ebnen sollte. Dem folgt die Errichtung der Untersuchungkommission für die Verfassung im Parlament im Jahr 2000 und die Revision des Erziehungsgrundgesetzes im Dezember 2006 mit demselben Zweck. Dazu Nishihara, Nationalhymne als Problem des Rechts auf eine tolerante Schule in Japan, in: C.-D. Classen/A. Dittmann/F. Fechner/U.M. Gassner/M. Kilian (Hrsg.), ‚In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …‘: Liber amicorum Thomas Oppermann, Berlin 2001, 795–814; Nishihara, Die Tragweite der Gewissensfreiheit angesichts der Nationalhymne und Nationalflagge, in: B. Schuenemann/J.P. Müller/L. Philipps (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin 2002, 99–115; Nishi­hara (Fn.  4 ). 25   Kenpô-Chôsakai (Fn.  15), 146–148. 26   Modifizierte Wiedergabe der Übersetzung durch das Institut des Japanischen Rechts der Fernuniversität in Hagen. http://www.fernuni-hagen.de/japanrecht/verfassung/ (abgerufen am 31.5.2015). Für „die Souveränität“ steht in der Originalübersetzung „die oberste Gewalt“. 27   MacArthur war sich der Nützlichkeit des Tennô für die Besatzung und Demokratisierung Japans bewusst und widersetzte sich der Anklage des Kaisers als Kriegsverbrecher spätestens im Januar 1946. Vgl. Koseki (Fn.  7 ), 112.

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der Kriegsniederlage schlug der erste Nachkriegspremier Prinz Naruhiko Higashikunino-miya in seiner Regierungserklärung die Haltung von der „Buße durch die gesamte Bevölkerung“ vor.28 Sie relativierte die Verantwortung der beteiligten Individuen und des Systems, eventuell sogar vom Tennô selbst. Die Legitimität der Tokioter Prozesse stand sowieso in der japanischen Gesellschaft auf wackligen Beinen, aber auch unabhängig davon wurde die Frage nach der kaiserlichen Verantwortung für den Krieg systematisch tabuisiert. Als die alten konservativen Eliten vom Berufsverbot befreit wurden, gaben sie sich nicht mit dem Kompromiss zufrieden und betrachteten das Symbolkaisertum als eine von der Besatzungsmacht aufgezwungene Fessel für den Tennô. Daher verlangten sie die Stellung des Kaisers als Staatsoberhaupt, um damit seine Position als rechtliche Autorität sichtbar zu machen.29 Es kam also nicht auf die politische Funktion des Tennô als solche an, sondern auf seine Überlegenheit gegenüber dem gesamten Volk. Die verfassungsrechtliche Position des Bürgers hing eng damit zusammen. Die hierarchische Ordnung unter der Kaiserreichsverfassung war für die damaligen Eliten so natürlich, dass sie das gleichwertige Beteiligungsrecht jedes Bürgers nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren konnten. Die Gewährleistung der Grundrechte des Einzelnen wurde dahingehend kritisiert, dass sie zu viel Wert auf den Freiheitsgedanken des 19. Jahrhunderts lege und die Bedeutung der sozialen Solidarität und des daraus folgenden Pflichtbewusstseins vernachlässige.30 Bemerkenswert ist, dass die Konservativen in der Untersuchungskommission die Position des Einzelnen innerhalb der Reichsverfassung im Sinne eines Idealtypus verstanden. In dieser Wunschvorstellung galt die kaiserliche Souveränität als politisch neutrales Machtzentrum, das den Wohlstand der gesamten Bevölkerung sicherte. Innerhalb dieses Schutzauftrags galt der Einzelne nicht als mündiges Subjekt, das der Selbstbestimmung fähig war; der Einzelne wurde hingegen als „Kleinkind des Tennô“ konzipiert.31 Aufgrund dieses Modells wurde auch in den 1950er-Jahren noch behauptet, dass das Individuum im neuen Wohlfahrtsstaat des späten 20. Jahrhunderts nicht einseitig im Sinne des unabhängigen Freiheitssubjekts zu verstehen sei, sondern gemeinschaftsbezogen auch als Träger der gemeinschaftlichen Pflichten.32 Im Endeffekt war die Trias von Wiederbewaffnung, dem Kaiser als Staatsoberhaupt und dem Bürger als Träger der gemeinschaftlichen Pflichten nicht besonders populär in der Bevölkerung, wie das Scheitern der Verfassungsrevision Anfang der 1960er-Jahre zum Ausdruck brachte. Ob sich das japanische Volk damit als politisch mündiger Träger der Souveränität bewiesen hat, kann jedoch bezweifelt werden. Wie dargestellt, hat der „Plan zur Verdoppelung des Volkseinkommens“ die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von der Verfassungsdebatte abgelenkt; damals galt das

  Rede von Higashikuni-no-miya in der Plenarsitzung des Unterhauses am 5. September 1945.   Kenpô-Chôsakai (Fn.  15), 150 f. 30   Kenpô-Chôsakai (Fn.  15), 170 f. 31   Monbushô [Ministry of Education, Science and Culture], Kokutai no Hongi [Wesen des Staatswesens], Tokio 1937, 29. 32  Kritisch Higuchi, Kindai-kenpô ni totte no Ronri to Kachi [Die Logik und der Wert für die moderne Verfassung], Tokio 1994, 123–129; Nishihara, Funktion der sozialen Grundrechte im japanischen Verfassungssystem, ZaöRV 57 (1997), 856–867. 28 29

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Motto „Reis ist wichtiger als die Verfassung“33. Vielleicht hat die Bevölkerung dadurch wieder einmal die Gelegenheit verloren, die freiheitlich-demokratische Ordnung für sich zu erkämpfen.

2.  Die konservative Trias in der Gegenwart und die kollektivistische Staatsauffassung Geht es der LDP selbst im 21. Jahrhundert wirklich noch um die reaktionäre Trias? Die Antwort auf diese Frage fällt eindeutig positiv aus. Der LDP-Entwurf der Japanischen Verfassung vom 27. April 2012 bringt deutlich zum Ausdruck, dass es keine grundlegende Änderung in ihrer Zielsetzung gibt. Repräsentativ ist schon die Präambel: „Der japanische Staat ist ein Staat, der eine lange Geschichte und einzigartige Kultur besitzt und über dem der Tennô als Symbol der Einigkeit des Volkes thront. Er wird gemäß der Volkssouveränität und auf Basis der Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung regiert. Unser Staat überstand die Verwüstung durch den letzten großen Krieg und mehrere Naturkatastrophen und entwickelte sich so, dass er nun eine wichtige Stellung innerhalb der internationalen Gemeinschaft einnimmt. Dem Pazifismus folgend vertiefen wir unsere freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten und tragen zu Frieden und Prosperität in der Welt bei. Das japanische Volk verteidigt seinen Staat und seine Heimat mit Stolz und Rückgrat, achtet fundamentale Menschenrechte, respektiert die Harmonie und gestaltet den Staat durch gegenseitige Hilfe innerhalb der Familie und der Gesellschaft. Wir legen Wert auf Freiheit und Ordnung, schützen unser schönes Land und die Natur, fördern Bildung und Technologie und verfolgen das Wachstum des Staates durch aktive Wirtschaftstätigkeiten. Das japanische Volk gibt sich diese Verfassung, um seinen Nachkommen unsere wunderbare Tradition und diesen Staat zu erhalten.“

Nimmt man diese Sätze ernst, erkennt man eine Staatsphilosophie, die im Staat einen über das Leben des Bürgers hinausgehenden Organismus versteht. Es zählt nur das Ganze als Substanz. Der jeweilige Bürger hat nur insoweit Bedeutung, als er das Staatsleben zur nächsten Generation weiterträgt und kulturell zum Gedeihen des Ganzen beiträgt. Diese Vorstellung erinnert an das genannte kaiserliche Erziehungsedikt von 1890, durch das alle Untertanen von der kaiserlichen Familie als Repräsentanten des ewigen Ganzen in den Dienst genommen wurden34. Angesichts dieser Grundhaltung des Kollektivismus wundert es nicht, dass der LDP-Verfassungsentwurf exzessive Beschränkungen von allen Grundrechten vorsieht. Art.  13 JV garantiert gegenwärtig das Recht auf Leben, Freiheit und Glück „soweit es nicht dem öffentlichen Wohl zuwiderläuft“. Die LDP und ihre Sympathi33   Dieser Ausdruck stammt von einem Plakat auf dem Maitag-Marsch im Jahr 1946, Asahi Shinbun, 9.5.1946, S.  3. 34   Klassisch wird „überindividuelle Auffassung“, d. h. totaler Staat in der Rechtsphilosophie Radbruchs mit einem japanischen Beispiel aus den 1940er-Jahren veranschaulicht. In diesem hat ein japanischer Offizier die Wahl zwischen dem Gehorsam gegenüber einem kaiserlichen Befehl und dem Leben eines Kindes. Seine Antwort: „Kinder werden neu geboren, aber ein nicht ausgeführter Befehl des Kaisers bringt unauslöschliche Schande“. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8.  Aufl., Hrsg. v. E. Wolf und H.-P. Schneider, Stuttgart 1950, 147 Fn.  1.

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santen kritisieren diese Formulierung und wünschen sich konkretere Begriffe wie „dem öffentlichen Interesse“ oder „der öffentlichen Sicherheit“35, was im LDP-Entwurf auch verwirklicht wurde (Art.  13 des Entwurfs). Dieser geringfügige Unterschied kann riesige Veränderungen mit sich bringen, weil bei der Definition des „öffentlichen Interesses“ dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber absolute Prärogative, mindestens Überlegenheit gegenüber der gerichtlichen Verfassungsauslegung zustehen könnte. Schrankenlos gewährleistete Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung stehen im LDP-Entwurf unter dem Vorbehalt „des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Ordnung“. Damit ist zu befürchten, dass Kritik gegen getroffene Mehrheitsentscheidungen als Störung der öffentlichen Ordnung erachtet und verboten wird. Art.  21 LDP-Entwurf: „Die Freiheit der Versammlung und der Vereinsbildung sowie die Freiheit der Rede, der Veröffentlichung und anderer Gedankenäußerungen werden gewährleistet. (unverändert) (2) Ungeachtet des oben stehenden Absatzes werden Tätigkeiten nicht erlaubt, die sich das Verletzen des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Ordnung zum Ziel setzen, genauso wie das Gründen eines Vereins zu demselben Zweck. (3) Eine Zensur darf nicht ausgeübt werden. Das Geheimnis der Nachrichtenübermittlung ist unverletzlich.“ (Detailkorrektur vom geltenden Art.  21 Abs.  2 JV ohne Sinnveränderung)

Durch Beibehaltung mancher geltender Bestimmungen versucht der Entwurf, einen harmlosen Eindruck zu erwecken. Es ist jedoch bei der genauen Lektüre sofort erkennbar, dass er wichtige Grundsätze der Verfassungsstaatlichkeit einfach aus den Angeln hebt. Im Ausnahmezustand werden Grundrechte durch Anordnungen mit Gesetzeskraft eingeschränkt (Art.  99 Abs.  1 LDP-Entwurf ), und der Bürger ist verpflichtet, administrativen Anweisungen zu gehorchen, die im Ausnahmezustand das Leben, den Körper oder das Eigentum des Volkes schützen (Art.  99 Abs.  3 LDP-Entwurf ). In Bezug auf Art.  9 JV werden im neuen Art.  9 –2 die Landesverteidigungstruppen gegründet: Art.  9 –2 LDP-Entwurf: „(1) Um Friede und Unabhängigkeit unseres Staates sowie seine Sicherheit und die des Volkes sicherzustellen, werden die Landesverteidigungstruppen gegründet, deren oberster Befehlshaber der Premierminister ist. (2) Der Einsatz der Landesverteidigungstruppen bedarf gemäß der gesetzlichen Bestimmungen der Zustimmung des Parlaments und muss dessen Anordnungen folgen. (3) Die Landesverteidigungstruppen können sich, neben den in Absatz 1 bestimmten Aufgaben, mit Tätigkeiten beschäftigen, die in einer internationalen Zusammenarbeit wahrgenommen werden, um Frieden und Sicherheit der internationalen Gemeinschaft zu gewährleisten sowie die öffentliche Ordnung oder das Leben und die Freiheit des Volkes zu schützen…“

Zwar werden Bestimmungen über den Friedensgrundsatz in Art.  9 Abs.  1 JV formell aufrechterhalten, aber die materiellen Beschränkungen zu den nun aufgestellten Landesverteidigungstruppen werden fast völlig beseitigt, sodass ihr Tätigkeitsfeld praktisch keinen verfassungsrechtlichen Einschränkungen unterworfen ist.   Kenpô-Chôsakai (Fn.  15), 174 f.

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3.  Verbreitung der Reformbefürworter und die Selbstzensur der Massenmedien Es ist klar, dass der LDP-Entwurf Japans Verfassungsstaat völlig auf den Kopf stellen will. Umso erstaunlicher scheint es, dass der Coup d’Etat in einer entwickelten Demokratie von einer etablierten Partei angestrebt wird, die die absolute Mehrheit im Unterhaus (291 von 475 Sitzen) und beinahe die Mehrheit im Oberhaus (115 von 242 Sitzen) besitzt. Mit der Zweidrittelmehrheit im Unter- und Oberhaus gewinnt sie die Befugnis, einen Entwurf zur Volksabstimmung vorzulegen. Es ist aber nicht nur die LDP, die gegenwärtig die Verfassungsrevision fordert.36 Der Koalitionspartner Kômeitô steht zwar grundsätzlich hinter der JV, schließt aber ihre Ergänzungsbedürftigkeit nicht aus, wie etwa durch die Einführung einer Bestimmung, die das Recht auf die angemessene natürliche Lebensgrundlage gewährleistet.37 Die führende Oppositionspartei, die DPJ, ist sich in der Verfassungsfrage nicht einig. Die Mehrheit der DPJ-Abgeordneten befürwortet die Teilnahme der japanischen Truppen an Aktionen der Vereinten Nationen, die die kollektive Sicherheit gewährleisten sollen, und die Änderung des Art.  9 JV zu diesem Zweck.38 Auch in Bezug auf das Staat-Bürger-Verhältnis vertritt die Partei die Position, nach der die Verfassung auch eine „Erklärung des Volksgeistes oder Volkswillens“ beinhalten soll. Auch die DPJ will also die Indienstnahme des Einzelnen durch verfassungsrechtlich erklärte Zielformeln ins Spiel bringen.39 Ob sie damit wirklich etwas anderes verfolgt als die konservative Trias der LDP, kann mit Recht bezweifelt werden. Im Parlament werden die Verfassungsverteidiger nur durch die Sozialdemokra­ tische Partei Japans (SPJ), die Kommunistische Partei Japans (KPJ) und eine kleine Gruppierung repräsentiert, deren Sitze zusammengerechnet zwei Prozent im Unterhaus (10 von 475 Sitzen) und fünf Prozent (14 von 242 Sitzen) im Oberhaus betragen. Diese Zahl entspricht jedoch nicht den Verhältnissen innerhalb der gesamten Bevölkerung. Diese zeigt sich gespalten. Nach Meinungsumfragen sind Stimmen für und gegen die Verfassungsrevision fast gleich stark: 51 zu 46 Prozent in der Befragung der Yomiuri Shinbun,40 43 zu 48 Prozent in der Befragung der Asahi Shinbun.41 Auf jeden Fall gibt es viele Reformgegner, aber sie halten sich eher zurück und vermeiden es, ihr politisches Ziel in Form eines Reformvorschlags auszudrücken, weil sie so die Legitimationsgrundlage der JV aushöhlen und dadurch der Argumentation der LDP eine Grundlage bieten könnten. Entsprechend wurde in den letzten 60 Jahren – und auch heute noch – einseitig gekämpft: Die LDP und ähnliche konservative Gruppierungen greifen an, und alle anderen Kräfte verteidigen. So kann es natürlich keinen Gewinn für den pazifistisch-demokratischen Flügel geben; der Kampf endet im besten Fall unentschieden. Über diese zahlenmäßigen Verhältnisse, insbesondere im Parlament, hinaus gibt es Umstände, die die Verwirklichung der Verfassungsrevision realistisch erscheinen lassen: Kritik an den Reformplänen wird in letzter Zeit immer schwieriger innerhalb   Zu den hier nicht behandelten Entwürfen und Vorschlägen vgl. Shiyake (Fn.  4 ), 16–17, 22.   Mainichi Shinbun 20.5.2015. 38   DPJ (Fn.  4 ), 15. 39   DPJ (Fn.  4 ), 1. 40   Yomiuri Shinbun, 22.3.2015. 41   Asahi Shinbun, 1.5.2015. 36 37

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der Massenmedien. Zwar ist von einer Unterdrückung der Meinungsäußerung durch den Staat noch keine Spur, aber Zeitungsverlage sowie öffentliche und private Fernsehanstalten stellen freiwillig den kritischen Stimmen immer weniger Platz zur Verfügung, sodass Nachrichtenkonsumenten einseitig von den Befürwortern der Verfassungsrevision beeinflusst werden. Zum Teil ist dies eine Folge von der oben genannten Verwischung der Grenzen durch die Abe-Regierung. Ein Beispiel dafür ist die politische Haltung von NHK (Nippon Hôsô Kyôkai), der öffentlichen Rundfunkgesellschaft. Dieser Sender ist nicht staatlich, sondern eine durch die Rundfunkgebühr finanzierte, relativ staatsunabhängige öffentliche Anstalt.42 Dennoch versucht Abe durch die Personalpolitik bei der Besetzung des Betriebsausschusses von NHK, Einfluss zu nehmen, und schickte einen Parteifreund in den Vorstand.43 Da es bereits Fälle gab, bei denen der Vorsitzende in den Programminhalt eingriff,44 verbreitete sich Vorsicht und Zurückhaltung unter den Programmdirektoren von NHK. Obwohl die Regierung überhaupt keine Kontrollmöglichkeiten gegenüber Zeitungen und nur wenige gegenüber Privatsendern besitzt, kommt Ähnliches auch bei diesen Unternehmen vor. Privatsender sind gesetzlich zur politischen Neutralität und Meinungsvielfalt verpflichtet.45 Es sind keine gesetzlichen Sanktionen vorgesehen, aber die Nachrichtenproduzenten sind anfällig für politischen Druck, weil die Regierung bei gesetzeswidriger Programmgestaltung im schlimmsten Fall dem Unternehmen die Lizenz entziehen kann. Neutralität bedeutet natürlich im korrekten Wortsinn, dass Befürwortern und Kritikern die gleiche Präsenz zugesichert wird. Jedoch wird der Begriff des Politischen in der japanischen Gesellschaft dahingehend 42   NHK zeigt jedoch manchmal wenig Widerstandskraft gegenüber politischem Druck, weil der Sender parlamentarische Zustimmung für sein Programmbudget braucht. Es gab zudem einen Fall, in dem ein Dokumentarfilm nach einer gemeinsamen Sitzung vom Programmdirektor mit Abe, damals stellvertretender Kabinettsgeneralsekretär, vor der Ausstrahlung inhaltlich modifiziert wurde (beide Parteien verneinen politischen Druck). Angesichts der Tatsache, dass die Finanz- und Führungsabteilungen von NHK viel in Kontakt mit der Regierung und Regierungspartei kommen, veröffentlichte die Kommission für rundfunkethische Überprüfung der BPO (Broadcasting Ethics & Program Improvement Organization) einen Beschluss und warnte, dass innerhalb NHKs die Unabhängigkeit der Programmdirektoren von den Finanz- und Führungsabteilungen sichergestellt werden solle (BPO [Broadcasting Ethics & Program Improvement Organization], Kommission für rundfunkethische Über­ prüfung von BPO, Beschluss: Meinungen zu NHK Erziehungskanal, ‚ETV 2001 Serie: Wie wird Krieg verurteilt?‘, getroffen am 28. April 2009, http://www.bpo.gr.jp/wordpress/wp-content/themes/codex/ pdf/kensyo/determination/2009/05/dec/0.pdf (abgerufen am 31.5.2015), 25 f.). 43   Der NHK-Vorsitzende K. Momii erklärte in seiner Antrittsrede am 25. Januar 2014, dass der öffentliche Sender „Japans Position klar ausdrücken muss“ und „nicht ‚links‘ sagen darf, wenn die Regierung ‚rechts‘ sagt“ (Asahi Shinbun, 26.1.2014, S.  1, 3). Nach drei Tagen entschuldigte er sich vor dem Parlament, dass er seine private Meinung zu diesem und anderen Punkten in der Eigenschaft des NHK-Vorsitzenden öffentlich geäußert hatte (Asahi Shinbun, 1.2.2014, S.  1). Der Betriebsrat von NHK hat ihm wiederholt eine schriftliche Verwarnung erteilt (Asahi Shinbun, 26.2.2014, S.  1). 44   BPO (Fn.  42), 16. 45   §  4 (1) Rundfunkgesetz: „Der Rundfunkbetrieb muss bei der Gestaltung der Rundfunkprogramme folgende Bestimmungen beachten: 1. dass sie der öffentlichen Sicherheit und den guten Sitten nicht zuwiderlaufen; 2. dass sie politisch neutral sind; 3. dass Nachrichten sachgemäß sind; und 4. dass bei Meinungsverschiedenheiten Streitpunkte aus möglichst vielen Perspektiven dargestellt werden.“

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neu definiert, dass die Durchführung der Regierungsarbeit nicht als Politik verstanden wird, sodass ausschließlich die Opposition politische Meinung äußert, wohin­ gegen die Regierung immer authentische Informationen vermittelt.46 Im Zeitalter des Internets, in dem die Bedeutung der Fernsehanstalten abnimmt, beharren die Privatsender auf staatlich gewährten Privilegien und leisten Gehorsam. In der Armut begeht man Dummheiten, wie es in einer japanischen Redewendung heißt (hin sureba don suru). Für große Zeitungsfirmen gilt Ähnliches. Sie sind eigentlich vom staatlichen Einfluss unabhängig, aber die Marktsituation ist für sie so kritisch, dass sie vor einem Boykottaufruf durch die LDP und ihre Freunde große Angst haben. Darüber hinaus bemühen sie sich um ein gutes Verhältnis zur Regierung, um wichtige Informationsquellen sicherzustellen: In Armut begeht man Dummheiten.

IV.  Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber der Revision und ihre Gründe Mit dem Hinweis auf die Marktsituation kommen wir schließlich der Einstellung der Nachrichtenkonsumenten näher. Die Selbstzensur der Massenmedien ist nur dann marktökonomisch naheliegend, wenn sich die Bevölkerung mehr auf die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung verlässt als auf die kritische Analyse durch die Medien. Trifft dies auf Japan zu, liegt dies sicherlich daran, dass die Medien selbst inhaltsarme Aussagen von führenden Politikern unkritisch verbreiten. Dennoch muss es für die Tatsache, dass sich kritische Bemerkungen gegenüber der Regierung und der Politik insgesamt schlechter verkaufen, eine Ursache in der Haltung der Konsumenten geben. Warum lässt sich die Bevölkerung von den konservativen Kräften ohne sicht­ baren Widerstand manipulieren? Die Abe-Regierung verwischt zwar einige Grenzen, führt jedoch keine konkrete Grundrechtsverletzung herbei. Es wurde bisher noch keiner wegen seiner Kritik an der Regierung verhaftet.47 Die Wiederstandlosigkeit beruht also größtenteils auf freiwilligem Unterlassen. Ohne Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung kann die Zurückhaltung der Massenmedien dieses Niveau nicht erreichen.

1.  Vergleich mit dem Untergang der Weimarer Reichsverfassung Diese Aktionslosigkeit beim Untergang der Demokratie erinnert an einen historischen Vorläufer: den Zerfall der Weimarer Republik. Es war die deutsche Bevölkerung selbst, die letztlich Adolf Hitler zum Reichspräsidenten wählte und ihm den Weg 46  Dieses Verständnis der politischen Neutralität stammt aus der beamtenrechtlichen Praxis und Rechtsprechung, z. B. gilt die Teilnahme eines Richters an einer regierungskritischen Versammlung als eine verbotene politische Tätigkeit, die in der Vergangenheit auch schon sanktioniert wurde. OGH, Beschluss vom 1. Dezember 1998, Minshû 52 (9), 1761. 47   Abgesehen von einem Jugendlichen, der auf der Außenwand einer öffentlichen Toilette mit dicker Farbe die Worte „Nie wieder Krieg!“ schrieb und wegen Sachbeschädigung zu 14 Monaten Gefängnis auf Bewährung – überraschend streng – verurteilt wurde. OGH, Urteil vom 17. Januar 2006, Keishû 60 (1), 29.

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zum Ermächtigungsgesetz frei machte. Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen Japan heute und Deutschland damals. Die NSDAP war lange eine kleine Opposi­ tionspartei, wodurch die Verwendung von gewalttätigen Mitteln wie dem Einsatz der SA leichter fiel. Dennoch sind bedeutungsvolle Gemeinsamkeiten festzustellen. (1) Sowohl die Weimarer Reichsverfassung (WRV) als auch die JV basieren auf dem autoritären System des Scheinkonstitutionalismus preußischer Prägung. Beim Entwurf der kaiserlichen Verfassung nahm Japan die Preußische Verfassung von 1850 zum Vorbild. Dies gründete sich auf die ähnliche Einstellung zur Verfassung. Als verspätete Nationen in der imperialistischen Ära brauchten sowohl Preußen als auch Japan erstens eine formelle Verfassung, zweitens ein gewisses Maß an Machtkonzentration, um zügig Reformen von oben durchzuführen.48 Dies führte zur Etablierung von Kaiser- bzw. Königtum mit autoritärem Charakter. (2) Sowohl Deutschland im Jahre 1919 als auch Japan im Jahre 1946 mussten ihre gesamte Struktur als Folge der Kriegsniederlage verändern. In Deutschland spielte die Revolution eine gewisse Rolle, aber wegen der Kriegsreparationen blieb die Niederlage im Ersten Weltkrieg für das zeitgeschichtliche Bewusstsein des deutschen Volkes ausschlaggebend. (3) Bei der Konzipierung des Grundrechtssystems hoben beide Staaten die Bedeutung der sozialen Grundrechte hervor. Freiheitsrechte waren zwar wichtige Komponenten, aber sie wurden als Ideal der alten Zeiten betrachtet und durch sozialstaat­ liche Rechte ergänzt und relativiert. Zur Relativierung trug zudem auch die Verfassungsinterpretation bei. In Japan wurde beispielsweise die Einklagbarkeit des Rechts auf Leben abgelehnt und stattdessen im Sinne eines Programmsatzes ausgelegt, der alle Staatsorgane zur effektiven Wirtschafts- und Sozialpolitik politisch und moralisch, aber nicht rechtlich verpflichtete.49 Dadurch verlor der Not leidende Einzelne die Subjektstellung gegenüber dem Staat und verwandelte sich zu einem Gegenstand der staatlichen Fürsorge,50 was an die Struktur in der alten Reichsverfassung erinnert. (4) Damit eng zusammenhängend zielten die Grundrechte nicht unmittelbar auf die Verstärkung der Demokratie im Sinne der freien Willensbildung des Volkes ab, sondern trugen zur Gründung eines Systems bei, in dem Grundrechte in erster Linie ein Mittel zur Erfüllung der Privatinteressen waren. Diese Ausrichtung auf das Privatinteresse war gemeinsamer Nenner von allen sozialen Schichten. Franz Neumann berichtet in seiner Untersuchung über die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur in seinem Buch „Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933– 1944“, wie das Industriebürgertum der parlamentarischen Demokratie ohne Engagement begegnete und nur sein imperialistisches Interesse verfolgte.51 Neumann stellt außerdem dar, dass die führende Schicht im Staatsapparat und insbesondere in der 48   S.-S. Kim und Nishihara, Vom paternalistischen zum Partnerschaftlichen Rechtsstaat: Entwicklungen im öffentlichen Recht Koreas und Japans an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2000, 15–16. 49   Miyazawa (Fn.  10), 110; T. Abe und M. Shiyake, Die Entwicklung des japanischen Verfassungsrechts von 1965–1976, JöR n. F. 26 (1977), 626. 50   Nishihara (Fn.  32), 862. 51   F. Neumann, Behemoth: the Structure and Practice of National Socialism, 1933–1944, New York 1966, 169.

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Verwaltung und Rechtsprechung, die Weimarer Verfassung verachtete und im Sinne einer autoritären Herrschaftsstruktur dem Volk gegenüberstand.52 Dasselbe Phänomen lässt sich auch in Japan feststellen, wie z. B. die gerichtliche Zurückhaltung gegenüber der Klärung politisch bedeutungsvoller Fragen53 nachweist. (5) Demokratie konnte beide Male nicht oder nur teilweise die gewünschte Inte­ g­rationswirkung entfalten. Die Erscheinungsformen waren in den beiden Ländern völlig anders. Die Betonung des Privatinteresses führte im Weimarer Reich zum kompromisslosen Gegensatz von partikulären Interessen, was die Bildung einer entscheidungsfähigen Regierung hemmte. In dieser Situation untersuchte Carl Schmitt die „geistesgeschichtliche Lage“ des damaligen Parlamentarismus und erklärte, dass das Parlament „seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren hat“54. Im Gegensatz dazu konnte die LDP durch ihre Kombination von Wachstumspolitik und agrarpolitischem Ausgleich die große Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite ziehen und so eine allzu stabile Regierung bilden.55 Jedoch haben Weimar und Japan gemeinsam, dass es der Bevölkerung nicht gelungen ist, einen politischen Prozess ins Spiel zu bringen, der die Einbeziehung eines engagierten basisdemokratischen Diskurses in die politische Entscheidungsfindung ermöglicht.

2.  Defizite bei der Demokratisierung in Japan und ihre Nachwirkungen Warum hat man in Japan von den Erfahrungen der Deutschen nichts gelernt? Was hätte Japan richtig machen können, um den gleichen Fehler zu vermeiden? Am Ende der Weimarer Republik hat die Mehrheit der Bevölkerung die freiheitliche Demokratie mit ihren eigenen Händen zerstört. Erich Fromm, ein jüdischer Psychologe aus Frankfurt, bezeichnet diesen Vorgang als „Furcht vor der Freiheit“ und analysiert, dass eine einzelne Person ihre Freiheit eher als Belastung empfand und Rettung in einem autoritären System suchte.56 Vielleicht ist dies auch heute in Japan der Fall. Warum empfanden die Deutschen damals und die Japaner heute die Freiheit als Belastung? Ein Grund für diese Einstellung liegt m. E. im Prozess der Demokratisierung in der japanischen Nachkriegszeit, der den weiteren Ablauf schicksalhaft belastete. Es war eine Demokratisierung von oben, die nur halbwegs ihr Ziel erreichte. Im Jahr 1947 wurde das Erziehungsgrundgesetz als Grundlage des demokratischen Unterrichtswesens erlassen. Das Ziel war, die Wirkung des kaiserlichen Erziehungsedikts von 1890 zu vernichten und die Neuorientierung der demokratischen Bildung zu verwirklichen. So bestimmte §  1 EGG, dass das Ziel der Erziehung Vervollkommnung der Persönlichkeit ist, und wollte zum Ausdruck bringen, dass die Erziehung unter dem alten Edikt insoweit falsch war, als dort Kinder nicht als zu achtende Persönlichkeiten, sondern ausschließlich in ihrer Brauchbarkeit als Diener und In­ strumente für die kaiserliche Familie betrachtet wurden. Das EGG versuchte, der   Neumann (Fn.  51), 27.   Vgl. die in Fn.  11 angeführte Rechtsprechung. 54   C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1923, 63. 55   Kim und Nishihara (Fn.  48), 25–27. 56   E. Fromm, Escape from Freedom, New York 1941. 52

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traditionellen und zentral gesteuerten Planung der Unterrichtsinhalte entgegenzuwirken. Dabei verzichtete es jedoch darauf, das Erziehungsrecht der Eltern anzuerkennen, weil es damals für die „Umorientierung des Geistes der Japaner zur Demokratie“ als wichtiger galt, den Einfluss der zur Kaisertreue erzogenen Eltern zu reduzieren. Dadurch wurde den Kindern das Verständnis der Demokratie und für demokratisches Verhalten im Klassenzimmer vom Lehrer, also praktisch von der sozialen Elite, vermittelt. Dieses Verständnis zu hinterfragen und ein eigenes Konzept der demokratischen Struktur zu entwerfen war Schülern nicht erlaubt. Kein Wunder, dass so die autoritäre Gesellschaftsstruktur die Nachkriegsreform überlebte und freie politische Willensbildung unterdrückte. Da die LDP im 21. Jahrhundert die Indoktrination der Schüler auf die gemeinschaftsbezogene Moralität hin verstärken wollte, wurde das EGG im Jahre 2006 unter der ersten Abe-Regierung geändert. Jetzt enthält es Bestimmungen, die beispielsweise die Herbeiführung des Patriotismus als verbindliches Ziel aller Erziehungsprozesse begreifen.57 Dieses Gesetz, das die Grenze der Gedanken- und Gewissensfreiheit (Art.  19 JV) der Schüler verwischt, wurde bisher kaum umgesetzt, zumal nach der Einführung des neuen EGG ein Machtwechsel zur DPJ stattfand. Seit Abe erneut an der Macht ist, versucht die LDP jedoch, die gesetzlichen Grundsätze mit Leben zu füllen. Eine Entwicklung, die die Dominanz der Regierungsmeinung im Unterricht verstärken könnte. Wenn die freiheitliche Demokratie der japanischen Bevölkerung nicht die Möglichkeit bietet, am kollektiven Prozess der Problemlösung teilzunehmen, ist die Flucht ins Private fast eine zwangsläufige Folge. Daraus entwickelt sich keine innere Verbindung zum Staat, die auch nicht ersatzweise durch die Indoktrination von Patriotismus hergestellt werden kann. Stattdessen entsteht die sogenannte „Die-daoben-sollen-sich-kümmern-Demokratie“ (omakase minshushugi), in der der Bürger von der Schwierigkeit der Problemlösung befreit wird und sich nur darüber Gedanken machen muss, wem die Problemlösung anvertraut werden kann.58 Diese Einstellung zur Demokratie setzt jedoch voraus, dass Entscheidungen im politischen Raum eine gewisse Qualität aufweisen, die durch internalisierte Mechanismen der Kontrolle „von denen da oben“ sichergestellt wird. Die intensive Beteiligung der Ministerien und ihrer beratenden Organe an der Entstehung von Gesetzentwürfen sorgte bis vor Kurzem für einen gewissen Grad an legislativer Rationalität. Wenn Parlamentsmitglieder bei der Gesetzgebung die Initiative ergreifen, ist diese jedoch nicht immer garantiert.59 Die emotional geprägte Argumentationsweise der Abgeordnetengesetze nimmt nun Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren, wie   Nishihara (Fn.  4 ), 18–20.   M. Sataka, Saraba Omakase-Minshushugi [Tschüss mit der Die-da-oben-sollen-sich-kümmernDemokratie], Tokio 1997. 59   Gesetzentwürfe werden dem Parlament vom Kabinett oder von Parlamentsabgeordneten vorgelegt. Bei den Erstgenannten prüft das Legislativbüro des Kabinetts die Systemkonformität des Gesetzentwurfs ganz streng vor der Vorlage, während bei den Letzteren die Legislativbüros des Ober- und Unterhauses, die personell schwächer ausgestattet sind, die Prüfung übernehmen. Zur Tatsache, dass die Gesetze auf Initiativen der Parlamentsmitglieder in der letzten Zeit stark zunehmen und einige davon systemwidrig und daher problematisch sind vgl. S. Kawaseki, Rippô ni okeru Hô, Seisaku, Seiji no Kôsaku to sono ‚Shitsu‘ o meguru Taiô no Arikata [Die Verschneidung vom Recht, der Politik und dem Politischen sowie der Weg zur ‚Qualität‘ derselben]“, in: M. Ida und Y. Matsubara (Hrsg.), Rippô-Jissen no Henkaku [Die Reform der Gesetzgebungspraxis], Kyoto 2014, 42–43. 57

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beispielsweise die erzwungene Meinungsänderung des Legislativbüros des Kabinetts auf Druck des Parteipräsidiums in der Frage des kollektiven Selbstverteidigungsrechts zeigt.60 Die gegenwärtige Krise entstammt daraus, dass nach dem Scheitern des Machtwechsels von 2009 bis 2012 und der Zersplitterung der DPJ keine wirkungsvolle Qualitätskontrolle innerhalb des politischen Raums existiert. Der Verfassungsentwurf der LDP ist eine Folge davon, dass die zahlenmäßig stärkere Partei ihre Ressentiments einfach aussprechen kann.

3.  Debatte um die Verfassungsstaatlichkeit im Sommer 2015 – eine Trendwende? Obwohl sich seit Dezember 2012 die Verfassungskrise verschärft und die DPJ funktionsunfähig in sicherheits- und verfassungspolitischen Fragen zersplittert ist, hat sich im Sommer 2015 etwas verändert. In der letzten Phase der Parlamentsdebatte um die erwähnten Sicherheitsgesetze nahm die Kritik aus der Bevölkerung plötzlich zu. Es sammelten sich täglich Hunderte und Tausende Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude – ein Phänomen, das zum letzten Mal in der Studenten- und Friedensbewegung um 1968 zu sehen war und seitdem von der politischen Szene in Japan so gut wie verschwunden ist. Die Demonstrationen und Proteste ergaben sich eher spontan und unorganisiert,61 sodass es fraglich bleibt, ob eine alternative politische Kraft daraus erwachsen wird. Dennoch bedeutet diese Entwicklung, dass Protestpotenzial in der Bevölkerung vorhanden ist und unter bestimmten Bedingungen – trotz der vorherrschenden Apathie – erwacht. Im Fokus der Kritik standen die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Sicherheitsgesetze. Am 4. Juni wurden drei Verfassungsrechtler von der Verfassungskommission des Unterhauses (Shûgiin Kenpô-Shinsakai) eingeladen. Dabei erklärten alle drei Gutachter einstimmig die Entwürfe als verfassungswidrig, selbst Yasuo Hasebe, der von der LDP einbestellt wurde. Die Einstimmigkeit brachte zum Ausdruck, dass es sich bei der Beurteilung als verfassungswidrig nicht um eine politisch motivierte Entscheidung handelte, sondern um eine Analyse, die auf wissenschaftlicher Fachkenntnis fußte.62 60   Noch vor der politisch motivierten Ernennung des NHK-Präsidenten wurde der Leiter des Legislativbüros des Kabinetts durch einen Diplomaten ersetzt. Zum ersten Mal seit 70 Jahren kam eine Person ohne Amtserfahrung auf diesen Posten. 61   Im Zentrum stand eine kleine Gruppe von christlichen Studenten SEALDs (Students Emergency Action for Liberal Democracy -s), die sich nicht um eine feste Organisation oder Hegemonie bemüht. Darin liegt der größte Unterschied zur Studentenbewegung in den 1960er-Jahren. 62   Darauf hin erwiderte der Chefsekretär des Kabinetts, Y. Suga, dass viele Verfassungsrechtler zu finden seien, die die Entwürfe als verfassungsgemäß erachten. Trotzdem konnte er in den darauffolgenden Tagen, als er in der Parlamentsdebatte nach den Namen der „vielen“ gefragt wurde, nur drei davon nennen (Antwort von Suga in Sitzung des Ausschusses des Unterhauses für nationale und internationale Sicherheit am 10. Juni 2015). TV Asahi, eine private Fernsehanstalt, befragte 198 Fachspezialisten (Autoren des Sammelbands Kenpô Hanrei Hyakusen, Bd. I und II, 6.  Aufl., Yuhikaku 2013) nach ihrer Meinung zu den Gesetzentwürfen. Das Ergebnis: 127 Befragte hielten die Sicherheitsgesetze für verfassungswidrig, 19 weitere stuften die Verfassungsmäßigkeit als zweifelhaft ein, und nur drei Personen erachteten das Vorhaben als verfassungsgemäß. TV-Asahi, Meinungsumfrage durchgeführt zwischen dem 6. und 12. Juni 2015. http://www.tv-asahi.co.jp/hst/info/enquete/ (abgerufen am 31.8.2015).

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Weite Teile der Öffentlichkeit thematisierten darauf hin, dass die Regierungspartei die verfassungsändernde Gewalt usurpieren will. Art.  96 Abs.  1 JV bestimmt, dass die Verfassung nur durch eine Volksabstimmung geändert werden kann, die dem vom Parlament aufgrund einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Ober- und Unterhaus vorgeschlagenen Änderungsvorschlag zustimmt.63 Wenn jedoch ein Gesetz, das nach bestehender juristischer Interpretation einem tragenden Grundprinzip der Verfassung zuwiderläuft, einfach durch eine Neuauslegung als verfassungsrechtlich unbedenklich gelten kann, bedeutet dies, dass der Inhalt der Verfassung durch den politischen Willen der Parlamentsmehrheit beliebig bestimmt werden kann. Die Verfassung wird dadurch bedeutungslos, da sie politische Willkür nicht verhindern kann.64 Es geht bei der Debatte um die Sicherheitsgesetze im Kern also um die Verfassungsstaatlichkeit Japans. Das haben auch die Demonstranten verstanden, die durch ihre Proteste versuchen, Druck gegenüber der Regierungspartei aufzubauen, um einen leichtfertigen Umgang mit der Verfassung zu verhindern. Eine solche Diskussion um eine „Verfassungsänderung durch Neuinterpretation“ erlebte die japanische Gesellschaft schon einmal, nämlich als die Regierung bei der Gründung der Nationalen Polizeireserve (1950) und der Sicherheitskräfte (1952) ihre bisherige Auslegung von Art.  9 Abs.  2 JV veränderte. Damals behielt ein großer Teil der Verfassungslehre die ursprüngliche Auslegung bei und erachtete die neu gegründeten Organisationen als verfassungswidrig. Inzwischen ist die Regierungsinterpretation in der Bevölkerung jedoch weit verbreitet. Sicherlich auch aufgrund der fleißigen Öffentlichkeitsarbeit der Regierung, die hervorhob, dass ein Angriff auf Japan von einem Nachbarland jederzeit denkbar und Waffenverzicht im wörtlichen Sinne unrealistisch sei. In dieser Hinsicht liegt die herrschende Meinung in der Verfassungslehre weit entfernt von der der Öffentlichkeit. Aus diesem Grund verzichteten viele Verfassungsrechtler im Sommer 2015 darauf, die Bevölkerung von ihrer traditionellen, pazifistischen Verfassungsinterpretation zu überzeugen. Stattdessen kritisierten sie die Gesetzentwürfe in ihrer Verfassungswidrigkeit, die „auch aufgrund der feststehenden Regierungsinterpretation“ erkennbar  Art.  96 Abs.  1 JV: „Eine Änderung dieser Verfassung bedarf der Initiative des Parlaments mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln aller Mitglieder in jedem Hause; die Änderung ist dem Volk vorzuschlagen und bedarf dessen Zustimmung. Für die Zustimmung des Volkes ist erforderlich, dass bei einer besonderen Volksabstimmung oder bei einer vom Parlament bestimmten Wahl mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen die Verfassungsänderung befürworten.“ 64   Dieser Gedankengang setzt voraus, dass die gerichtliche Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nicht richtig funktioniert. Solch eine Situation ist in Deutschland unrealistisch angesichts der aktiven Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts. In Japan jedoch ist dies möglich, weil der Oberste Gerichtshof seine Prüfungsbefugnis sehr zurückhaltend ausübt und unter Umständen verfassungsrechtliche Fragen in einem Rechtsstreit wegen aktuellem Politikbezug dem gesetzgeberischen und administrativen Ermessen überlässt. Eine Spielart der „political-question Doktrin“ (OGH, Urteil vom 16. Dezember 1959, oben Fn.  11). Freilich zog die japanische Höchstinstanz diese Doktrin schon lange nicht mehr heran. Dennoch ist es nicht zu erwarten, dass der Oberste Gerichtshof die Grundlage seiner Prüfungsbefugnis extensiv interpretiert und so etwas wie eine Populärklage für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Sicherheitsgesetze akzeptiert. Dies bedeutet, dass die Verfassungsmäßigkeit erst dann Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung wird, wenn durch ihre Anwendung jemand in seinem Recht verletzt wird – z. B. wenn ein Mitglied der Selbstverteidigungskraft gegen seinen Willen zum Waffeneinsatz gezwungen wird, d. h. zu einem Zeitpunkt, in dem die Notlage eine vernünftige Entscheidung eventuell erschwert. 63

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ist.65 Auf diese Weise wurde versucht, die Bevölkerung auf die Verfassungswidrigkeit aufmerksam zu machen, ohne dabei das Konfliktthema der grundsätzlichen Nicht-Anerkennung der Selbstverteidigungskräfte seitens der Rechtswissenschaft zur Sprache zu bringen. Genau genommen enthielt diese Strategie jedoch einen Widerspruch in sich, weil sie sich auf die Autorität der Regierungsinterpretation stützte, die seit der Kabinettsentscheidung vom 1. Juli 2014 eine andere Auslegung verfolgte. Eine jüngere Strömung in der Verfassungslehre geht davon aus, dass Art.  9 JV grundsätzlich militärische Mittel für die Selbstverteidigung zulässt und nur die darüber hinausgehende Ausübung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts verbietet. Seit 1990er-Jahre versuchten Wissenschaftler, die dieser Auffassung waren, die Regierungsinterpretation seit der Wiederbewaffnung Japans verfassungstheoretisch zu legitimieren und weitere Erweiterungen der militärischen Aktivitäten unter verfassungsrechtliche Kontrolle zu stellen. Repräsentativ für diese Position vertrat und vertritt Hasebe die These, dass gänzlicher Waffenverzicht unter den heutigen Bedingungen in einem Verfassungssystem nicht denkbar sei, in dem der Staat zum Schutz von Leben, Körper und Eigentum der Bevölkerung verpflichtet ist.66 Die Kardinalfrage bestand für diese Strömung im Sommer 2015 in der Unterscheidung zwischen dem individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrecht. Nach Hasebe und seinen Anhängern ist die Ausübung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung verfassungswidrig. Da die Regierung militärische Aktionen nicht im gesamten Umfang des kollektiven Selbstverteidigungsrechts legitimiert, sondern nur im Falle einer schweren Gefährdung der nationalen Sicherheit, ist die Position Hasebes Kritik anfällig. Das so definierte Tätigkeitsfeld der Selbstverteidigungskräfte könnte nämlich durchaus noch unter die Definition der von Hasebe anerkannten staatlichen Schutzpflicht fallen. Es ist also immer wieder von Verfassungswidrigkeit die Rede, aber es gibt noch keinen Konsens darüber, inwiefern und aus welchem Grund die Gesetzentwürfe verfassungswidrig sind. Nach der politisch motivierten und außergewöhnlich langen Ausweitung der Sitzungsperiode bis Ende September67 stimmte die Plenarsitzung des Oberhauses gegen zwei Uhr nachts am 19. September den Entwürfen der Sicher65   Neben repäsentative Beiträge wie I. Urata, Shûdanteki-Jieiken Yônin no Konkyo-ron to Jieitai­hô/ Buryokukôgekijitaihô-Kaiseian [Wie die Anerkennung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts begründet wird und Reformentwürfe von Selbstverteidigungskräftegesetz und Waffenangrifffallgesetz], in: H. Mori (Hrsg.), Anpo-kanrenho Sôhihan [Kritik der gesamten Sicherheitsgesetze], Tokio 2015, 23 ff.; A. Mizushima, Shûdanteki Jieiken [Das kollektive Selbstverteidigungsrecht], Tokio 2015, 51 ff. ist vor allem den Mahnruf von Verfassungsrechtlern gegen die Entwürfe der Sicherheitsgesetze von 2. Juni 2015 „Anpo-kanren-hôan ni hantai shi sono haian o motomeru seimei“ zu nennen, den 235 Fachleute unter­schrieben. http://anpohousei.blog.fc2.com/blog-entry-1.html (abgerufen am 31.8.2015), auch zitiert in: Tokyo shinbun, 11. Juni 2015. 66   Y. Hasebe, Kenpô [Verfassung], 1.  Aufl., Tokio 1996, 66–69, 72–74; Hasebe, Kenpô to heiwa o toinaosu [Revision der Frage nach der Verfassung und dem Frieden], Tokio 2004, 171–174. 67   Die planmäßige Sitzung wird in jedem Januar einberufen (§  2 Parlamentsgesetz). Die Sitzungsperiode beträgt 150 Tage (§  10 Parlamentsgesetz). Normalerweise wird die planmäßige Sitzung von 150 auf 200 Tage, d. h. bis Mitte Juni oder bis Anfang August, verlängert, je nach der vorgesehenen Tagesordnung. Im Jahr 2015 wurde die planmäßige Sitzung um 245 Tage bis Ende September verlängert – ein neuer Rekord. Dafür verzichtete die Regierung auf die Einberufung der außerplanmäßigen Sitzung, die normalerweise im Herbst stattfindet, obwohl die Opposition die Einberufung verlangte und Art.  53 der Verfassung die Regierung dazu verpflichtet, wenn mehr als ein Viertel der Abgeordneten

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heitsgesetze zu. Wie die Ereignisse im Sommer 2015 den weiteren Gang der von der LDP verfolgten Verfassungsrevision beeinflussen, ist schwerlich vorherzusagen. Vielleicht ist sich die Bevölkerung erneut der Bedeutung der Verfassung bewusst geworden. Vielleicht hat die Mehrheit das Vertrauen in die Verfassung verloren. In der letzten Phase der parlamentarischen Debatte bat ein Repräsentant der Opposition die Bevölkerung um Entschuldigung, dass er einen scheinbar legalen Verfassungsbruch trotz seines Amts nicht verhindern konnte.68 Diese Rede brachte nochmals zum Ausdruck, dass im Endeffekt nur der Wille der Bevölkerung die bestehende Interpretation einer Verfassung verbindlich aufrechterhalten beziehungsweise wiederherstellen kann.

V. Ausblick Bei der Begründung der Sicherheitsgesetze wies die Regierung wiederholt auf die veränderte Sicherheitslage (gemeint sind u. a. die militärische Expansion Chinas und die Situation des Kriegs gegen den Terrorismus) hin. Ob die Situation ein echtes Risiko darstellt oder nur vorgeschoben wird, muss sicherheitspolitisch diskutiert werden. Vor allem ist es notwendig, über die weitere Richtung der Sicherheits- bzw. Friedenspolitik zu sprechen. Abgesehen davon ist es jedoch insgesamt schwierig, eine Zukunftsperspektive in der Verfassungspolitik der LDP zu erkennen. Die Berufung der LDP auf den Nationalstolz trägt wenig zur Verbesserung des Lebensstandards bei und verdeckt eher die eigentlichen Probleme. In der Tat liegen viele davon vor der Tür. Die Ursache der 30-jährigen Rezession der japanischen Wirtschaft ist die Steuerungsunfähigkeit der japanischen Wirtschaftsbürokratie, die ihrerseits durch die Globalisierung bedingt ist.69 Die Bevölkerung ist den grenzüberschreitenden Einflüssen des weltwirtschaftlichen Prozesses ausgeliefert, was sich inländisch als Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich darstellt. In einem Zeitalter, in dem sogenannte Trickle-Down-Effekte nicht mehr funktionieren, d. h. die Unterstützung der wirtschaftlich Stärkeren nicht zur Verbesserung der inländischen Arbeitsmarktsituation führt, ist es schwierig für den Staatsapparat, die Vormundschaftsrolle gegenüber der Bevölkerung einzunehmen. In der Krise steckt also die Problemlösungskapazität der staatlichen Organe und des Parlamentarismus; also der souveräne Nationalstaat an sich. Dennoch kann gegenwärtig nur der Staat zur Verwirklichung des demokratischen Willens der Bevölkerung beitragen. Da die Globalisierung eine Vergrößerung des Betroffenenkreises mit sich bringt und dies die Vermittlung des demokratischen Willens schwieriger macht, ist die allgemeine Verbreitung der „Die-da-oben-sollensich-kümmern-Demokratie“ zu befürchten. Dabei zeigt sich am Beispiel Japans, dass diese Entwicklung sehr leicht auf den Qualitätsverlust der Politik hinausläuft. von einem der beiden Häuser dies verlangt. Die Regierung wies zur Begründung auf diplomatische Pläne des Premierministers hin, aber es ist fraglich, ob dies die Verfassungswidrigkeit rechtfertigt. 68   Rede zur Begründung des Misstrauensantrags gegen Premierminister Abe von Y. Edano (DPJ) in Plenarsitzung des Oberhauses am 18. September 2015. 69   Kim und Nishihara (Fn.  48), 27

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Die japanische Bevölkerung ist stolz darauf, dass sie durch Art.  9 JV einen möglichen Weg zum ewigen Frieden gezeigt, in den letzten 70 Jahren keinen Bürger im Krieg verloren und keinen Menschen im Krieg ermordet hat. Auch im Zeitalter der Globalisierung braucht die Weltgesellschaft Mechanismen, durch die die Meinung der Bevölkerung in die Entscheidungsfindung einfließen kann. Die Bürger müssen sich an der Diskussion darüber beteiligen können, welche Normen und Rechte die weitere Entwicklung der Globalisierung entscheidend prägen sollen. Ob Japan in der nahen Zukunft die Verfassungskrise übersteht und wieder zur Diskussion mit der Allgemeinheit zurückkehrt oder doch als verlorene Demokratie ins Abseits der Weltgeschichte gerät, bleibt abzuwarten. Um dieser gefährlichen Tendenz weltweit entgegenzuwirken, kann man nur vor Ort, auf der nationalen und lokalen Ebene, die Effizienz der demokratischen Willensbildung steigern und ihre Qualität verbessern.